Steffen Kühnel · Oskar Niedermayer Bettina Westle (Hrsg.)
Wähler in Deutschland Sozialer und politischer Wandel, Gender...
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Steffen Kühnel · Oskar Niedermayer Bettina Westle (Hrsg.)
Wähler in Deutschland Sozialer und politischer Wandel, Gender und Wahlverhalten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16886-9
Inhalt
Inhalt
5
Vorwort
7
Sozialer und politischer Wandel Orientierungen gegenüber der Demokratie Bettina Westle und Oskar Niedermayer
11
Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien Oskar Niedermayer
30
Beeinflusst Anomia politische Orientierungen? Steffen Kühnel, Anja Mays und Esther Ochoa Fernández
68
Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger Oskar Niedermayer
82
Gender und Politik Immer noch in der Steinzeit? Gesellschaftliche und politische Gender-Orientierungen Bettina Westle
137
Wahlkampf der Geschlechter? Inhaltsanalyse von Printmedien im Bundestagswahlkampf 2005 Bettina Westle und Ina Bieber
166
Macht – Mehrheit – Merkel? Wahrnehmung des Meinungsklimas zu Frauen in politischen Führungspositionen und zur Kanzler/in-Präferenz Bettina Westle und Thomas Schübel
198
Warum sollen wir Sie wählen, Frau Merkel? Analyse zum „feministischen Wahldilemma“ Bettina Westle
228
Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap Richard Stöss
261
6
Inhalt
Wahlverhalten Das Michigan-Modell des Wahlverhaltens und die subjektive Sicht der Wähler. Zur Korrespondenz der Effekte von Parteineigung, Kandidatenbewertungen und Urteilen zu politischen Sachthemen mit der subjektiven Begründung von Wahlentscheidungen Steffen Kühnel und Anja Mays Die Spitzenkandidatin Angela Merkel (CDU/CSU) und der Spitzenkandidat Gerhard Schröder (SPD) in der Wahrnehmung der Bevölkerung bei der Bundestagswahl 2005 Bettina Westle
313
329
Politisches Wissen als Grundlage der Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005 Bettina Westle
366
Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005 David Johann
399
Eine Betrachtung der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005 auf Basis von Rational-Choice- Konzepten David Johann Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten Anja Mays und Jürgen Leibold
424
450
Vorwort
Der vorliegende Band umfasst Analysen zum sozialen und politischen Wandel, zu Genderorientierungen und zum Wahlverhalten im Umfeld der Bundestagswahl 2005. Grundlage und Ausgangspunkt der in diesem Band vorgestellten Analysen sind die Ergebnisse des von den drei Herausgebern geleiteten und von der DFG finanzierten Forschungsprojekts „Bürger und Parteien“, in dessen Rahmen u.a. kurz nach der Bundestagswahl 2005 eine allgemeine Bevölkerungsumfrage durchgeführt wurde. In dem Forschungsprojekt wurden klassische Fragestellungen der empirischen Wahlforschung, der allgemeinen Einstellungsforschung und der Parteienforschung wie Wahlbeteiligung und Wahlverhalten, Stimmensplitting, Kandidatenorientierungen, Konfliktlinien, parteipolitisches Engagement, gesellschaftliche und politische Orientierungen und Demokratieunterstützung thematisiert. Darüber hinaus wurde eine Reihe von empirisch bisher noch zu wenig untersuchten Themen aufgegriffen. So wurden u.a. sehr ausführlich Daten zum politischen Wissen der Befragten erhoben, da die Beschäftigung mit kognitiven Orientierungen der Bevölkerung in der Forschung noch ein Schattendasein fristet. Da bei der Bundestagswahl 2005 mit Angela Merkel zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Kanzlerkandidatin aufgestellt wurde, die – da von einer der großen Parteien kommend – eine echte und dann ja auch realisierte Chance hatte, Kanzlerin der Bundesrepublik zu werden, wurde zudem sehr ausführlich die Bedeutung des Geschlechts von Politikerinnen und Politikern in den Augen der Befragten erfasst. Dies schuf auch die Gelegenheit, die Zusammenhänge zwischen Genderorientierungen und anderen Orientierungsmustern wie z.B. dem Rechtsextremismus zu untersuchen. Schließlich erhielten Fragen des sozialen und politischen Wandels und seiner Auswirkungen auf Orientierungen und Verhaltensweisen der Bürger ein besonderes Gewicht. Diesen Schwerpunkten des Forschungsprojekts folgend, sind die Beiträge in diesem Band in drei Bereiche gegliedert. Zunächst werden in vier Beiträgen Aspekte des sozialen und politischen Wandels und seiner Folgen diskutiert. Hier geht es um die Veränderungen der Orientierungen gegenüber der Demokratie, den Wandel der gesellschaftlichen und parteipolitischen Konfliktlinien, den Einfluss der Anomia auf politische Orientierungen und schließlich den Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger. Im zweiten Teil werden fünf Beiträge vorgestellt, die sich mit Gender und Politik beschäftigen. In diesen Beiträgen stellt sich aus verschiedenen Perspektiven die Frage, inwieweit das Geschlecht von Akteuren sowohl der Angebots- als auch der Nachfrageseite von Politik eine Rolle für die Wahrnehmung und Bewertung von Politik und für politisches Verhalten spielt. Schließlich werden im dritten Teil des Bandes die eher klassischen Themen der empirischen Wahlforschung, d.h. die Fragen nach den Determinanten der Wahlbeteiligung und der Parteienwahl, angesprochen, aber auch hier mit einem eigenen Akzent, wenn etwa die Korrespondenz der Wahlverhaltensdeterminanten des Michigan-Modells mit der subjektiven Begründung von Wahlentscheidungen analysiert oder die Bedeutung des politischen Wissens auf die Entscheidung bei der Bundestagswahl 2005 untersucht wird.
8
Vorwort
In der im Rahmen des Projekts „Bürger und Parteien“ durchgeführten Nachwahlbefragung zur Bundestagswahl 2005 wurden durch Infratest dimap, Berlin, bereits kurz nach der Wahl beginnend in der Zeit vom 23.9. bis zum 13.10.2005 insgesamt 2540 Personen befragt. Die im Mittel gut einstündigen computerunterstützten Interviews wurden in den Haushalten der Befragten geführt. Die Auswahl erfolgte auf der Basis einer geschichteten mehrstufigen Zufallsauswahl aus der deutschen Wohnbevölkerung ab 18 Jahren. Da es insbesondere beim Wahlverhalten deutliche Unterschiede zwischen den alten Bundesländern und den neuen Bundesländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gibt, wurde für Ost-West-Vergleiche eine disproportionale Schichtung vorgenommen, so dass etwa 1/3 der Befragten aus den neuen Bundesländern kommt. Wird diese Überrepräsentativität berücksichtigt, erlaubt der Stichprobenplan repräsentative Aussagen für die gesamte Bundesrepublik. Ein Teil der Befragten wurde zudem im Herbst 2007 bzw. Frühjahr 2008 telefonisch wiederbefragt1. Steffen Kühnel, Oskar Niedermayer und Bettina Westle
1
Die Daten der Studie sind in der Kölner Abteilung „Datenarchiv und Datenanalyse“ (dem ehemaligen Zentralarchiv für empirische Sozialforschung) des GESIS Leibnitz-Institut für Sozialwissenschaften (http://www.gesis.org) archiviert und können von dort für Sekundäranalysen bezogen werden.
Sozialer und politischer Wandel
Orientierungen gegenüber der Demokratie Bettina Westle und Oskar Niedermayer
1.
Orientierungen gegenüber der Demokratie als Thema der empirischen Forschung
„Diebstahl an Demokratie“ titelte Spiegel-Online am 3. Nov. 2006 und in der Schlagzeile: „Über Jahre zollten die Machthaber der Demokratie wenig Respekt. Nun rächt sich der lieblose Umgang. Das Volk will von der wichtigsten gesellschaftlichen Errungenschaft der Neuzeit nichts mehr wissen“. Im Kommentar des Politikwissenschaftlers Franz Walter erfährt man zudem: „In jüngster Zeit aber hat sich die Einstellung vieler Deutschen fundamental gewandelt. Die Akzeptanz vieler demokratischer Institutionen, besonders aber der Parteien und Regenten, ist nahezu erdrutschartig zusammengestürzt. Seit dieser Woche wissen wir, dass über die Hälfte der Bundesbürger mit der Demokratie wenig bis gar nicht zufrieden ist.“ Die Unzufriedenheit mit Parteien und Regierung mag zwar groß sein. Aber als Datengrundlage dieses reißerisch aufgemachten Artikels wird eine Zeitreihe des Eurobarometer präsentiert, die im Vergleich zu den Vorjahren 2006 zwar ein anhaltend niedriges Niveau, jedoch keinen plötzlichen dramatischen Rückgang der Demokratiezufriedenheit zeigt (vgl. u.). Auch bestehen zwischen der Bewertung von Parteien, Regierung und Demokratie zwar bekanntermaßen Zusammenhänge, jedoch auch gravierende Unterschiede, insbesondere im Hinblick auf die normative und auf die stabilitätsbezogene Bedeutung, die diesen Objekten für das politische System zukommt. So bilden kompetitive Wahlen das zentrale Strukturelement, durch das sich Demokratien von anderen politischen Systemen unterscheiden. Dadurch, dass die politischen Akteure in regelmäßigem Abstand dem Votum der Bevölkerung ausgesetzt sind, soll ihre Responsivität gegenüber den Wählerwünschen gefördert und dauerhafte politische Unzufriedenheit reduziert werden. Die Möglichkeit, das Regierungsteam abzustrafen bzw. ein neues ins Amt zu befördern, soll insbesondere ein Übergreifen von Unzufriedenheit mit den politischen Akteuren und den Ergebnissen ihrer Arbeit auf die Strukturebene des politischen Systems, auf die Demokratie selbst, vermeiden. Die Funktion dieses Schutzmechanismus ist allerdings an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Dazu gehört auf der gesellschaftlichen Seite vor allem das Fehlen dauerhafter, struktureller Minderheiten, für die keine Chance besteht, in Wahlen jemals zur regierungsunterstützenden Mehrheit zu gehören. Auf der Seite der politischen Akteure gehört dazu insbesondere, dass der Wählerschaft Angebote präsentiert werden, die von ihr als inhaltliche und prozessuale Alternativen (Positions- und Valenzissues), als der Politik überhaupt zugänglich und als realisierbar wahrgenommen werden. Dies betrifft nicht nur den alltagspolitischen Output, sondern auch tiefgreifendere Entscheidungen der politischen Eliten, die sich auf die Struktur- und Wertebene der Demokratie selbst richten, also bspw. auf alternative Interpretationen des Sozialstaatsprinzips oder alternative Haltungen zur Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch plebiszitäre Elemente. Sofern sich politische Unzufriedenheit auf diese Ebene richtet und
12
Bettina Westle und Oskar Niedermayer
hierzu dauerhaft keine Alternativen geboten werden, ist das Entstehen von Kritik nicht nur an den politischen Akteuren, sondern auch an der Funktionsweise der Demokratie zu erwarten. Grundsätzliche Gegnerschaft zur Demokratie können allerdings auch Wahlen nicht auffangen, da in ihnen die Demokratie selbst nicht zur Disposition gestellt wird (einen Graubereich stellen hier allenfalls Parteien der extremen Linken oder extremen Rechten dar, die sich Wählern mit antidemokratischen Überzeugungen, aber auch punktuellen Protestwählern als Alternative anbieten mögen). Anzeichen für Probleme gab es im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 auf allen genannten Ebenen. So erschien das seit langem entgegen aller Wahlversprechen ungelöste Problem der hohen Arbeitslosenzahlen und die anhaltende Konjunkturflaute durchaus geeignet, die Fähigkeit der Politik zur Bearbeitung anstehender Probleme in Zweifel zu ziehen. Verweise auf die Einschränkung der Reichweite nationaler Politik durch die Europäische Union und durch Prozesse der Globalisierung dürften Skepsis und Ängste zusätzlich genährt haben. Bereits durchgeführte und angekündigte Reformen im Sozialstaatsbereich – Hartz IV, Gesundheitsreform, Rentenalter und Rentenzahlungen – präsentierten sich der Wählerschaft als wenig attraktive „Alternative“ zwischen Abbau und Rückbau. Der Aufbau Ost wurde nach wie vor in Ostdeutschland als zu langsam wahrgenommen und die Rede von der Nostalgie verwies auf entsprechende Protestreaktionen. Auch die Rede von der politischen Klasse und Kartellparteien indizierte mangelnde Responsivität, Abgehobenheit und Selbstbedienungsmentalität des politischen Personals. Schließlich dürfte die Vorgeschichte der vorgezogenen Bundestagswahl – die vorgeblich durch die hohen Verluste der SPD bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ausgelöste Entscheidung des Bundeskanzlers Schröder, im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen, mit dem Ziel sie zu verlieren und so Neuwahlen zu erzwingen, aus denen er – entgegen der deutlichen Signale der Landtagswahlen – als Sieger hervorzugehen und somit eine neue Legitimation für die Fortsetzung seiner Politik erhoffte – bei der Wählerschaft zumindest zeitweise zu Verwirrung über Schröders Motive und Ziele geführt haben und evtl. sogar Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Institution der Bundestagswahl geweckt haben. Unzufriedenheit mit und Kritik an der Demokratie ist allerdings keineswegs neu. Erinnert sei z.B. an die sog. Unregierbarkeits- und Legitimitätskrise der Demokratie als Schlagwort der 70er Jahre oder die Politik- und Demokratieverdrossenheit als Schlagworte der 90er Jahre (z.B. Habermas 1976, Hennis/Kielmansegg/Matz 1977, 1979, Kaase 1979, Offe 1979 sowie Friedrich 1992, Rudzio 1992, Schedler 1993, Ehrhart/Sandschneider 1994, Welzel 1995, Patzelt 1999, Wolling 1999, Maier 2000, Maurer 2003; zu Überblicken s. auch Westle 1989, Arzheimer 2002). Spätestens seit dieser Zeit hat sich auch die Politikwissenschaft intensiver mit der Bedeutung, der Konzeptualisierung und Messung von Unzufriedenheiten auf verschiedenen Ebenen des politischen Systems auseinandergesetzt. Die Grundlage dafür bildet in der empirischen Forschung zumeist das bereits in den 60er Jahren in der amerikanischen Forschung durch Easton eingeführte Konzept der politischen Unterstützung (1965, 1975). Dieses Konzept ist inzwischen unterschiedlichen Interpretationen, diversen Modifikationen und Weiterentwicklungen ausgesetzt gewesen (für einen Überblick hierzu s. Westle 2007). Dabei können zwei besonders wichtige Veränderungen als zentrale Trends benannt werden: So wurde Unzufriedenheit mit der Demokratie zunächst in der Forschung überwiegend mit der Ablehnung dieser Systemform gleichgesetzt und daher als gravierender Krisenindikator gewertet, als Anzeichen für eine Gefährdung der Systemstabilität (z.B. Dennis 1966, Gam-
Orientierungen gegenüber der Demokratie
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son 1968, Muller/Jukam 1977, Muller/Jukam/Seligson 1982, Fuchs 1989). Erst langsam setzte sich dann eine alternative Deutung durch, bei der zunächst die Bewertung der demokratischen Realität von der Einstellung zur Idee der Demokratie als Staatsform differenziert wurde. Dabei wurde beobachtet, dass die Demokratie als Staatsform breit unterstützt wurde, aber gleichzeitig eine durchaus weit verbreitete Unzufriedenheit mit ihrer Realisierung bestand. Dies legte die Interpretation nahe, dass diese Unzufriedenheit Ausdruck von hohen Ansprüchen, von Kritik an manchen Missständen sowie von teilweise alternativen, auf mehr direkte Beteiligungsmöglichkeiten gerichteten Vorstellungen ist, die jedoch durch grundsätzlich loyale Demokraten artikuliert sei (Westle 1989, 1992, 1994). Eine ähnliche Interpretation fand deutlich später auch international ihren Durchbruch, als zunehmend mit positivem Tenor von „kritischen Demokraten“ die Rede war (bes. Dalton 1999, Inglehart 1999, Klingemann 1999, Norris 1999, Linde/Ekman 2003, Geissel 2008). Damit entwickelte sich gleichzeitig allerdings auch eine Tendenz, solche Unzufriedenheit nur noch positiv zu deuten, sie nur noch als Folge einer kognitiv mobilisierten, sich emanzipierenden Bürgerschaft zu sehen und sie als Warnsignal zu ignorieren. Dies erscheint jedoch wenig angemessen, denn dauerhafte Unzufriedenheit mit der Realisierung der Demokratie als Staatsidee widerspricht dem Selbstverständnis der Demokratie als einer durch die Bürgerschaft legitimierten Staatsordnung. Zudem ist nicht auszuschließen, dass permanente Unzufriedenheit mit der Umsetzung der demokratischen Idee dazu führt, dass sie als nicht hinreichend umsetzbar wahrgenommen wird und so auch die grundsätzliche Unterstützung der Idee der Demokratie erodiert. In Anlehnung an frühere, konzeptionelle Arbeiten (z.B. Westle 1989, 1999, Niedermayer 2005) werden nachfolgend für die Analyse der Einstellungen zur Demokratie drei Objekt-Ebenen und ihnen entsprechende Unterstützungsarten differenziert: (a) die politische Philosophie als Grundlage politischer Ordnungen, hier also die Idee der Demokratie im allgemeinsten Sinn – gefragt wird nach ihrer grundsätzlichen Unterstützung; (b) ihre konkrete verfassungsrechtliche Interpretation, wie sie in der Bundesrepublik im Grundgesetz als repräsentative Demokratie niedergelegt ist und (c) ihre materiale Umsetzung im Alltag, also die Verfassungswirklichkeit – gefragt wird in beiden Fällen nach der Zufriedenheit mit dieser Demokratieversion (sog. diffus-spezifische Unterstützung) (vgl. für die entsprechenden Indikatoren dazu Übersicht 1 zur Studie Bürger und Parteien; die aus anderen Studien zusätzlich herangezogenen Indikatoren sind mit diesen vergleichbar). Diese Ebenen unterscheiden sich u.a. durch den Grad ihrer Konkretheit und durch ihre potenzielle Wandelbarkeit, mit der auch die Variabilität ihrer Unterstützung korrespondiert. Während Demokratie als Staatsform heutzutage insofern nahezu universelle Akzeptanz findet, als sich kaum eine Staatsführung leistet, sich nicht mit diesem Begriff zu schmücken, so kann sich dahinter doch sehr Unterschiedliches verbergen. Die allgemeine Idee der Demokratie kann verschieden ausgelegt werden und findet in verschiedenen Staaten differente Ausformungen, wie z.B. rein repräsentative oder gemischt direktdemokratische und repräsentative Demokratien, präsidiale oder parlamentarische Formen, Konkurrenz- oder Konkordanzdemokratien, liberale oder republikanische Formen etc. Für gewöhnlich sind in der Verfassung wesentliche Werte und Strukturprinzipien niedergelegt, die die jeweilige Demokratie prägen. Verfassungsnorm und Verfassungsrealität sind aber zumeist nicht deckungsgleich, denn für die realen Prozesse in jeder Demokratie spielen zum einen neben den formalen Regelungen auch informelle Faktoren wie z.B. Gewohnheiten und das staatsbürgerliche Selbstverständnis eine Rolle. Zum anderen können Verfassungsnorm und
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Bettina Westle und Oskar Niedermayer
-wirklichkeit sich unterscheiden, wenn Institutionen anders funktionieren als vorgesehen oder wenn politische Akteure sich nicht normkonform verhalten. Darüber hinaus wird die Verfassungswirklichkeit auch durch politische Entscheidungen und Outputs geformt, die zwar keinen Verfassungsrang haben, aber dennoch die demokratischen Prozesse und Funktionsweisen beeinflussen. Und schließlich können sich auch außerpolitische, z.B. ökonomische Faktoren auf die demokratische Realität auswirken. All dies kann auch in die Orientierungen der Bürger/innen gegenüber der Demokratie einfließen. Die drei angeführten Ebenen der politischen Ordnung sind daher als hierarchisch geordnet gedacht, wobei die Unterstützung der Idee der Demokratie als oberste Ebene für gewöhnlich am weitesten verbreitet und am stabilsten über die Zeit hinweg ausfallen sollte, während die Bewertung der realen Funktionsweise der Demokratie die meisten Kritikpunkte bietet. Darüber hinaus sollte die Unterstützung dieser drei Ebenen für gewöhnlich einen mit dem Abstraktionsgrad der Ebene abnehmenden Grad des Zusammenhangs mit der Unterstützung der amtierenden Regierung aufweisen, da die den demokratischen Alltag sehr viel deutlicher prägt als die Verfassung und die Idee der Demokratie von aktuellen Regierungen nahezu unabhängig ist1. Auf der Grundlage der drei angeführten Indikatoren zu den Objektebenen der politischen Ordnung lässt sich eine Typologie der Orientierungen gegenüber der Demokratie bilden, in der vier Typen unterschieden werden (vgl. Niedermayer 2005, 2009): (a) zufriedene Demokraten, die der Idee der Demokratie positiv gegenüberstehen und sowohl mit der im Grundgesetz festgelegten spezifischen Form der Demokratie als auch mit ihrem tatsächlichen Funktionieren zufrieden sind; (b) politikkritische Demokraten, die der Idee der Demokratie positiv gegenüberstehen und mit der im Grundgesetz festgelegten Form der Demokratie zufrieden, mit dem tatsächlichen Funktionieren der Demokratie jedoch unzufrieden sind; (c) systemkritische Demokraten, die der Idee der Demokratie positiv gegenüberstehen, aber sowohl mit der im Grundgesetz festgelegten spezifischen Form der Demokratie als auch mit ihrem tatsächlichen Funktionieren unzufrieden sind; (d) Nicht- bzw. AntiDemokraten, die sowohl mit dem tatsächlichen Funktionieren der Demokratie in Deutschland als auch mit der im Grundgesetz festgelegten spezifischen Form der Demokratie unzufrieden sind und auch die Demokratie als Idee grundsätzlich ablehnen. Diese Typologie lehnt sich an die Vorstellung wachsender Unterstützung der Demokratie mit zunehmender Entfernung der Objektebene von den aktuellen politischen Akteuren und ihren Policies an und unterstellt im Sinn einer Guttman-Skala, dass die Unterstützung einer niedrigeren Systemebene immer die Unterstützung der höheren Systemebenen voraussetzt, jedoch nicht umgekehrt. Empirisch sollten sich also möglichst keine bzw. nur wenige Fälle zeigen, die eine andere Rangordnung der Unterstützung aufweisen (z.B. mit der Verfassungswirklichkeit zufrieden sind, aber die Idee der Demokratie ablehnen).
1
Der Stimulus „Idee der Demokratie“ ist also bewusst sehr allgemein gehalten und für eine gehaltvolle Interpretation des Indikators ist es nicht unbedingt erforderlich, das hinter der Zustimmung oder Ablehnung stehende individuelle Demokratieverständnis en detail zu kennen. Ähnlich wird bei dem Stimulus zur „Demokratie des Grundgesetzes“ nicht davon ausgegangen, dass die Bürger/innen über eine umfangreiche Kenntnis verfassungsrechtlicher Bestimmungen des GG verfügen; vielmehr kann das GG als Symbol für Grundzüge der bundesdeutschen Demokratie stehen. Die Demokratiezufriedenheit schließlich kann als Resultat eines Vergleichs zwischen den Demokratieidealen eines Befragten und seiner Wahrnehmung der Realität der Demokratie verstanden werden. Zu Aspekten des Demokratieverständnisses vgl. aber z.B. Bauer 1991, Westle 1994, 1998, Fuchs 1997, Niedermayer 2009.
Orientierungen gegenüber der Demokratie
15
Übersicht 1: Dimensionen und Indikatoren zu Orientierungen gegenüber der Demokratie und Bildung der Typologie diffuse Unterstützung der politischen Ordnungsform als Staatskonzept
Zunächst geht es nicht um tatsächlich bestehende Demokratien, sondern um die Idee der Demokratie. Was würden Sie, im Vergleich zu anderen Staatsideen, zur Idee der Demokratie sagen: Sind Sie sehr für die Idee der Demokratie, ziemlich für die Idee der Demokratie, etwas für die Idee der Demokratie, etwas gegen die Idee der Demokratie, ziemlich gegen die Idee der Demokratie, sehr gegen die Idee der Demokratie? Nun geht es um die Demokratie in der Bundesrepublik. Was würden Sie zur diffus-spezifische der Demokratie, so wie sie im Grundgesetz festgelegt ist, sagen: Sind Sie Unterstützung der damit sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieformalen politischen den, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden? Ordnung in der BRD diffus-spezifische Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der DeUnterstützung der mokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert? Sind Sie damit sehr zumaterialen politischen frieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich Ordnung in der BRD unzufrieden, sehr unzufrieden? Typologie
Idee der Demokratie Demokratie d. Grundgesetzes Realität der Demokratie
Nicht-/ SystemPolitikZufriedener Antikritischer kritischer Demokrat Demokrat Demokrat Demokrat + + + -
-
+ -
+ +
+=positives Urteil, -=negatives Urteil
Für die Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung zeigen zahlreiche empirische Studien, dass sich nach und nach ein auf die Idee und Praxis der Demokratie bezogener demokratischer Grundkonsens entwickelt hatte der im Vergleich mit anderen Demokratien sogar überdurchschnittlich stark war (vgl. z.B. Conradt 1980, Baker/Dalton/Hildebrandt 1981, Gabriel 2008). Nach der Herstellung der deutschen Einheit stellte sich die Frage, inwieweit die Demokratie durch die Bürger im gesamten Deutschland legitimiert würde, ob die bisherige Zustimmung zur Idee der Demokratie auch von den Bürger/innen in den neuen Bundesländern getragen würde, inwieweit die Folgeprobleme der Einheit die Zufriedenheit mit der Demokratie und evtl. auch ihre grundsätzliche Akzeptanz beeinträchtigen würde und ob die Vorstellungen zur Demokratie in West und Ost einander ähneln oder sich unterscheiden würden. Die folgende Analyse richtet sich daher auf den Vergleich zwischen West- und Ostdeutschen. Dabei werden die Orientierungen gegenüber den drei Ebenen der Demokratie zunächst getrennt betrachtet und danach in der oben beschriebenen Typologie zusammengefügt.2 2
Die dabei verwendeten Daten von 2002 bis 2008 stammen aus Studien, deren Daten uns zur Verfügung stehen. Die repräsentativen Bevölkerungsumfragen dieser Forschungsprojekte weisen unterschiedliche Altersgrenzen auf. Für die Analysen wurden nur die Daten für Befragte ab 18 Jahren verwendet. Im Einzelnen handelt es sich um die folgenden Studien: 2002: „Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland“ (Projektleiter: Elmar Brähler, Finanzierung: Universität Leipzig, N = 2025); 2003: „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“ (Projektleiter: Bodo Zeu-
16 2.
Bettina Westle und Oskar Niedermayer Orientierungen gegenüber der Demokratie als Staatsidee
Auch seit der Vereinigung bekundet die große Mehrheit der Deutschen ihre Zustimmung zur Idee der Demokratie als politischem Ordnungsmodell. In der Intensität der Befürwortung zeigen sich jedoch erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West. So sprechen sich in Westdeutschland im gesamten Zeitraum regelmäßig mehr Befragte als in Ostdeutschland Tabelle 1: Diffuse Unterstützung der Idee der Demokratie in West- und Ostdeutschland 1985 bis 2008: Idee der Demokratie 1985
1989
1992
1993
1995 1996 1998 2002 2005 2008 West negativ 1 0.2 0.1 1.1 0.3 0.6 .07 0.2 0.3 0.2 1.1 2 0.4 0.3 0.9 0.4 0.6 2.1 0.5 0.7 1.4 0.9 3 1.5 0.9 2.4 2.8 4.1 9.2 2.8 3.6 1.4 3.3 4 9.5 7.9 9.5 7.9 16.8 19.3 11.8 17.0 6.9 11.1 5 29.5 34.1 32.9 32.3 28.6 27.8 22.3 30.6 25.5 24.9 positiv 6 59.0 56.8 53.4 56.2 49.7 40.9 58.5 47.7 64.5 58.6 Mittelwert 5.45 5.46 5.32 5.40 5.21 4.94 5.39 5.20 5.50 5.34 gültige N 1786 1877 1402 914 1008 1030 2151 2128 1651 4702 Ost negativ 1 0.6 0.2 1.6 1.4 0.1 0.9 0.5 2.1 2 1.9 0.7 0.9 3.2 2.4 3.1 1.0 2.1 3 4.7 3.3 8.0 10.0 7.8 12.4 2.1 3.4 4 16.7 13.6 27.2 28.5 25.2 31.2 11.9 17.7 5 31.3 34.2 29.6 27.8 34.7 33.8 35.7 31.1 positiv 6 44.7 48.0 32.7 29.2 29.9 18.6 48.7 43.7 Mittelwert 5.10 5.25 4.80 4.66 4.82 4.50 5.28 5.05 gültige N 990 911 1007 1063 1048 1012 859 1158 Fragetexte: 1985 bis 1993: Zunächst geht es nicht um tatsächlich bestehende Demokratien, sondern um die Idee der Demokratie. Bitte sagen Sie mir anhand der Liste x, wie sehr Sie grundsätzlich für oder grundsätzlich gegen die Idee der Demokratie sind. Liste: sehr für die Idee der Demokratie, ziemlich für die Idee der Demokratie, etwas für die Idee der Demokratie, etwas gegen die Idee der Demokratie, ziemlich gegen die Idee der Demokratie, sehr gegen die Idee der Demokratie. 1995 bis 2002: Was würden Sie, im Vergleich zu anderen Staatsideen, zur Idee der Demokratie sagen? Nehmen Sie dazu bitte die folgende Skala: Die Zahl 1 bedeutet, dass Demokratie die beste vorstellbare Staatsidee ist, die Zahl 6 bedeutet, dass Demokratie die schlechteste vorstellbare Staatsidee ist. Mit den Zahlen dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen. 2005 und 2008: s. Übersicht 1. Quellen: 1985 und 1989 Ansprüche der Bürger an den Staat (ZA-Nr. 1487), 1992 und 1993 Politische Kulturen im geeinten Deutschland (ZA-Nr. 2809, 3033), 1995 und 1996 Politische Resonanz (ZA-Nr. 2820, 2965), 1994, 1998, 2002 Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinigten Deutschland (ZA-Nr. 3065, 3066, 3861), 2005 Bürger und Parteien (ZA-Nr.4332), 2008 Demokratische und rechtsextreme Bevölkerungseinstellungen; eigene Berechnungen.
„sehr“ für die Idee der Demokratie aus. Je nach Frageformulierung schwanken die Unterschiede hier zwischen rund 8 und 29 Prozent. Das hohe generelle Niveau an Zustimmung zur Demokratie als Ordnungsmodell in beiden Landesteilen und die Ost-West-Unterschiede in der Intensität der Befürwortung existierten bereits am Anfang des Beobachtungszeitner, Michael Fichter und Richard Stöss, Finanzierung: Hans-Böckler-Stiftung, N = 3928); 2005: „Bürger und Parteien“ (Projektleiter: Steffen Kühnel, Oskar Niedermayer und Bettina Westle, Finanzierung: DFG, N = 2540); 2008: „Demokratische und rechtsextreme Bevölkerungseinstellungen“ (Projektleiter: Oskar Niedermayer und Richard Stöss; Finanzierung: Deutsche Paul Lazarsfeld-Gesellschaft, N = 5681), Berlin-Brandenburg-Bus 2008 (Projektleiter: Oskar Niedermayer und Richard Stöss; Finanzierung: Deutsche Paul Lazarsfeld-Gesellschaft, N = 1940).
Orientierungen gegenüber der Demokratie
17
raums, wie Tabelle 1 und Abbildung 1 verdeutlichen3. Die Schwankungen der Werte im Zeitverlauf lassen vermuten, dass auch die diffuse, generalisierte Unterstützung der Demokratie nicht vollkommen frei von dem Einfluss politischer Ereignisse ist. Insgesamt zeigt sich hier, dass die zunehmenden eigenen Erfahrungen der Ostdeutschen mit der liberal-pluralistischen Demokratie der BRD somit bisher nicht zu einer Verstärkung ihrer generalisierten Systemunterstützung und einer Konvergenz der Orientierungen in Ost und West geführt haben. Abbildung 1:
Einstellungen zur Demokratie als Staatsidee: 1985-2008 (Mittelwerte; -1 = sehr gegen, +1 = sehr für die Idee der Demokratie)
1,0 0,9 0,8
0,78
0,8
0,78 0,73
0,76
0,74 0,68 0,69
0,7
0,71
0,7
0,6
0,64 0,6
0,5
0,63 0,58
0,4 0,3
West
Ost
0,2 0,1 0,0 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 .
3.
Orientierungen gegenüber der Form der Demokratie in Deutschland
Deutliche Ost-West-Unterschiede in den Bevölkerungsorientierungen zeigen sich auch bei der zweiten Ebene der politischen Ordnung, der durch die Verfassung eines Staates definierten Form der Demokratie. Nach der durch das Grundgesetz festgelegten Demokratie
3
Zur Abbildung 1: Mittelwerte auf der Basis von 6 Antwortkategorien von -1 = sehr gegen die Idee der Demokratie“ bis +1 = „sehr für die Idee der Demokratie“; eigene Berechnungen, Daten 1985 bis 1993 s. a. Tab.1; 20022008 stammen die Daten aus den in Fn. 3 angegebenen Studien; in die Abbildung wurden nur die Indikatoren aufgenommen, bei denen die Frageformulierung als voll äquivalent bewertet wird, d.h. die Daten der Studien 1995 bis 2002 wurden hierbei nicht berücksichtigt, da deren Formulierung mittels der Qualifikatoren „beste“ und „schlechteste“ Staatsidee statt der Positionierungen mittels „für“ und „gegen“ vermutlich stärkere Assoziationen zu Realisierungsmöglichkeiten der Staatsidee hervorrufen, was die größere Diskrepanz zwischen West und Ost plausibilisieren würde.
18
Bettina Westle und Oskar Niedermayer
gefragt, bekundeten regelmäßig mehr West- als Ostdeutsche Zufriedenheit, wobei die Unterschiede wiederum sehr stark auf die intensive Zustimmung zurückgehen (Tab.2). Noch deutlicher werden Ost-West-Unterschiede, wenn die spezifische Form der bundesrepublikanischen Demokratie im Vergleich mit anderen Staatsformen bewertet wird (Abb.2). Die Frageformulierung hierzu lautet: Glauben Sie, die Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben, ist die beste Staatsform, oder gibt es eine andere Staatsform, die besser ist?“ Somit differenziert die Frageformulierung nicht explizit zwischen der verfassungsrechtlichen und der gelebten Form, so dass die Antworten vermutlich stärker als bei der Frage nach dem Grundgesetz von Aspekten der materialen Umsetzung tangiert werden. Im Schnitt halten fast drei Viertel der Westdeutschen die Demokratieform in Deutschland für die beste Staatsform und nur etwa jeder Zehnte ist der Auffassung, es gäbe eine andere Staatsform, die besser sei. In Ostdeutschland dagegen sprechen sich zu keiner Zeit mehr als zwei Fünftel für die bundesrepublikanische Demokratie als beste Staatsform aus und seit Mitte der Neunzigerjahre wechseln die relativen Mehrheiten zwischen dieser Gruppierung und denjenigen, die eine andere Staatsform für besser halten, wobei mehr als ein Drittel der Bürger in der Beurteilung unentschlossen ist. Tabelle 2: Haltung zur Demokratieform des Grundgesetzes 1998 6.2
West 2005 2.5 4.5 7.3 17.8 44.3 23.5 4.67
2008 4.0
1998 9.9
Ost 2005 4.7 9.0 13.5 25.9 37.7 9.3 4.11
2008 sehr unzufrieden 1/1 8.1 ziemlich unzufrieden 2 etwas/eher unzufrieden 2/3 29.0 18.3 44.4 29.8 etwas/eher zufrieden 3/4 52.3 56.6 40.1 51.3 ziemlich zufrieden 5 sehr zufrieden 4/6 12.5 21.1 5.5 10.8 Mittelwert 1-6 Mittelwert 1-4 2.71 2.95 2.41 2.65 gültige N 1795 1612 4673 1228 855 1137 Fragetexte: 1998 und 2008: Was würden Sie allgemein zu der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland, also zu unserem ganzen politischen System sagen, so wie es in der Verfassung festgelegt ist. Sind Sie damit sehr zufrieden, eher zufrieden, eher unzufrieden, sehr unzufrieden? 2005: Nun geht es um die Demokratie in der Bundesrepublik. Was würden Sie zu der Demokratie, so wie sie im Grundgesetz festgelegt ist, sagen? Sind Sie damit sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden? Quellen: 1998: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, 2005 Bürger und Parteien, 2008 Demokratische und rechtsextreme Bevölkerungseinstellungen; eigene Berechnungen.
Orientierungen gegenüber der Demokratie Abbildung 2:
19
Einstellungen zur Staatsform in Deutschland: 1974-2008 (Angaben in Prozent)
90 80 70 60 50
beste Staatsform (West)
andere besser (West)
beste Staatsform (Ost)
andere besser (Ost)
40 30 20 10 0 74 75 76 77 78 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08
Quelle: Die Daten wurden dem Verfasser vom IfD Allensbach zur Verfügung gestellt.
4.
Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland
Die dritte Ebene der politischen Ordnung bezieht sich auf das Funktionieren der Demokratie in der Praxis, also auf die Verfassungswirklichkeit. Die Bewertung der Systemperformanz wird somit durch den alltäglichen politischen Prozess bestimmt, mit der Folge, dass die Urteile dazu für gewöhnlich in Abhängigkeit von z.B. konkreten Ereignissen und Policies auch stärker schwanken. So ist es vermutlich dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime im Osten und damit dem Wegfall der Systemkonkurrenz sowie der beginnenden Einigungseuphorie zuzuschreiben, dass sich die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Westdeutschland in der ersten Hälfte des Jahres 1990 mit 81 Prozent auf dem höchsten jemals gemessenen Niveau befand (Abb.3). Nach dem Abklingen dieser Euphorie und der Erfahrung erster Enttäuschungen sowie Folgelasten der Vereinigung ging das Niveau in den ersten Jahren deutlich zurück. Danach erholte sich die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie etwas, stürzte aber in der Phase vor dem Regierungswechsel 1998 noch tiefer ab. In der Folgezeit setzten sich die Schwankungen fort. Dabei folgt die Beurteilung des Funktionierens der Demokratie in West- und Ostdeutschland demselben Muster, fällt in Ostdeutschland jedoch durchgehend schlechter aus als im Westen. Im Schnitt waren in den letzten eineinhalb Jahrzehnten etwa drei Fünftel der Westdeutschen und nur etwa zwei Fünftel der Ostdeutschen mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Anzeichen für eine Verringerung des West-Ost-Gefälles über die Zeit hinweg sind nach wie vor nicht zu beobachten.
20
Bettina Westle und Oskar Niedermayer
Abbildung 3:
Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie: 1976-2007 (Mittelwerte; 0 = überhaupt nicht zufrieden, 3 = sehr zufrieden)
100 90
West
Ost
80 70 60 50 40 30 20 10 0 76/II 78/II 80/II 82/II 84/II 86/II 88/II 90/II 92/II 94/II 96/II 98/II 00/II 02/II 04/II 06/II Quelle: eigene Berechnungen mit Eurobarometerdaten der EU-Kommission.
Auch die differenziertere Datenreihe von 1985 bis 2005 (Tab.3) zeigt den Rückgang der Demokratiezufriedenheit in den 1990ern bis ins neue Jahrtausend mit leichten Schwankungen sowie den anhaltenden Ost-West-Unterschied. Zu der in Deutschland implementierten, mit dem westdeutschen Demokratiemodell vor der Vereinigung identischen Form der Demokratie und ihrem Funktionieren hält somit ein großer Teil der Ostdeutschen auch fast zwei Jahrzehnte nach der Vereinigung noch Distanz. Die letzte Bundestagswahl hat offenbar erneut zu einem Anstieg der Zufriedenheit beigetragen, der vermutlich die mit den Koalitionsverhandlungen verknüpften Hoffnungen reflektiert. Eine sehr starke Zufriedenheit bildet jedoch in beiden Landesteilen die Ausnahme.
Orientierungen gegenüber der Demokratie
21
Tabelle 3: Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland 1985 bis 2005 85
89
90
91
92a
92b 93 98 00 02 05 West sehr unzufr. 1 1.4 0.9 1.4 1.8 3.2 1.8 2.6 3.0 1.5 2.9 2.5 2 4.4 4.1 3.1 4.5 10.6 4.0 7.0 7.1 5.6 9.1 4.5 3 10.7 7.6 8.7 11.5 18.2 9.9 13.0 15.9 14.4 17.4 7.3 4 22.6 20.6 20.6 16.5 20.1 25.2 23.6 25.0 23.9 23.9 17.8 5 48.1 52.1 52.1 52.5 40.2 48.6 46.5 41.6 47.1 40.6 44.3 sehr zufrieden 6 12.8 14.8 14.2 13.2 7.7 10.6 7.4 7.3 7.6 6.2 23.5 Mittelwert 4.50 4.63 4.61 4.53 4.07 4.47 4.26 4.17 4.32 4.09 4.67 gültige N 1816 1918 1293 1463 2273 1411 925 2043 1836 1807 1612 Ost sehr unzufr. 1 8.4 4.3 8.2 5.3 7.0 6.9 6.6 6.9 4.7 2 18.3 13.9 19.2 13.6 22.1 15.4 14.3 13.9 9.0 3 20.5 20.1 24.9 21.3 24.9 24.3 25.0 25.0 13.5 4 32.7 28.6 28.9 30.0 25.6 32.7 30.9 32.3 25.9 5 17.7 30.3 17.7 25.4 18.3 20.1 21.3 20.1 37.7 sehr zufrieden 6 2.5 2.8 1.8 4.4 2.1 0.6 1.9 1.8 9.3 Mittelwert 3.41 3.75 3.34 3.70 3.32 3.46 3.52 3.50 4.11 gültige N 679 1441 1103 1016 917 990 1062 872 855 Fragetexte: 1985 und 1989, 1990 – West: Kommen wir nun zu der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht? Bitte benutzen Sie zur Antwort Liste x. Bin mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht: sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden. 1990 Ost: Und wie ist es mit der Demokratie in der DDR seit Jahresbeginn. Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in der DDR seit Jahresbeginn bestanden hat? sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden. 1992b und 1993: Kommen wir nun zu der Demokratie in Deutschland. Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht? Bitte benutzen Sie zur Antwort Liste x. Bin mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht: sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden. 1991, 1992a, 1998, 2000, 2002: Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht? sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden. 2005: Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert? Sind Sie damit sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden? Quellen: 1985 und 1989 A-7, 1990 Wahlumfrage, 1991, 1992a, 1998, 2000, 2002 Allbus, 1992b und 1993 Politischer Kulturen im geeinten Deutschland, 2005 Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.
5.
Hierarchie und Zusammenhänge zwischen den Orientierungen gegenüber der Demokratie
Laut des oben skizzierten Ansatzes von Easton ist eine Bedingung von Systemunterstützung, die der Stabilität von Demokratien zuträglich ist, dass die Orientierungen gegenüber der politischen Ordnung eine Hierarchie bilden, bei der die Idee der Demokratie an oberster Position steht, während die Zufriedenheit mit ihrer Funktionsweise deutlich geringer sein kann, aber immer noch von breiteren Bevölkerungsteilen ausgehen sollte, als die Unterstützung der jeweils amtierenden Regierung. Ebenso sollten die Orientierungen gegenüber der politischen Ordnung von unten nach oben in der Hierarchie betrachtet in abnehmendem Ausmaß mit der Regierungszufriedenheit zusammenhängen, da die Regierung am ehesten Einfluss auf den demokratischen Alltag und am wenigsten auf die Philosophie der politischen Ordnung hat.
22
Bettina Westle und Oskar Niedermayer
Betrachtet man die hierzu vorliegenden Daten, so lässt sich bei den Westdeutschen die skizzierte Hierarchie eindeutig beobachten. Bei den Ostdeutschen trifft dies für die oberen Hierarchiestufen ebenfalls zu; im unteren Bereich fällt jedoch auf, dass die durchschnittlichen Unterstützungswerte für die amtierende Regierung und die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie viel enger beieinander liegen bzw. seit vielen Jahren nahezu identisch sind (Tab.4). Die Zusammenhangsmaße stützen die Annahme, dass die Ostdeutschen ihre Bewertung der Funktionsweise der Demokratie deutlich stärker als die Westdeutschen von ihren Urteilen zur Bundesregierung abhängig machen. Auch ihre Einstellungen zur Demokratie des Grundgesetzes sind stärker von ihrer Regierungszufriedenheit tangiert, wenn auch nicht in demselben Ausmaß wie die Demokratiezufriedenheit. Die Idee der Demokratie zeigt sich jedoch bei Ost- wie Westdeutschen weitgehend unabhängig von den Defizitwahrnehmungen des Alltags (Tab.5). Tabelle 4: Hierarchie politischer Unterstützung in West- und Ostdeutschland West Ost Idee der Demokratie FunktioBundesIdee der Demokratie FunktioBundesDemokratie des GG nieren der regierung Demokratie des GG nieren der regierung Demokratie Demokratie 1985+89 kum. .89 .72 .52 1992+93 kum. .87 .67 .48 .83 .50 .47 2005 .90 .74 .59 .42 .86 .62 .46 .40 Die ursprünglichen Skalenbreiten wurden bei allen Indikatoren symmetrisch auf die Skalenbreite 0 bis 1 rekodiert. Fragetexte zur spezifischen Unterstützung der Herrschaftsträger: 1985, 1989: Für wie gut oder schlecht halten Sie – insgesamt betrachtet – die gegenwärtigen Leistungen der gegenwärtigen Bundesregierung? sehr gut, ziemlich gut, etwas gut, etwas schlecht, ziemlich schlecht, sehr schlecht? 1992, 1993: Sagen Sie mir bitte anhand der Liste x, für wie gut oder schlecht Sie die momentanen Leistungen der gegenwärtigen Bundesregierung – insgesamt betrachtet – halten: sehr gut, ziemlich gut, etwas gut, etwas schlecht, ziemlich schlecht, sehr schlecht? BP 2005: Denken Sie jetzt bitte einmal zurück an die Jahre vor der Bundestagswahl am 18. September. Waren Sie mit den Leistungen der bisherigen Bundesregierung aus SPD und Bündnis90/Die Grünen sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, eher zufrieden, eher unzufrieden, ziemlich unzufrieden, sehr unzufrieden? Quellen: 1985 und 1989 A-7, 1992 und 1993 Politische Kulturen im vereinten Deutschland, 2005 Bürger und Parteien; eigene Berechnungen.
Tabelle 5: Zusammenhänge zwischen den Orientierungen gegenüber der Demokratie mit der Zufriedenheit mit den Leistungen der amtierenden Bundesregierung (Pearsons r) West Ost Demokratie Funktionieren Idee der Demokratie Funktionieren des GG der Demokratie des GG der Demokratie Demokratie 1985+89 kum. .04 .43** 1992+93 kum. .07** .39** .14** .48** 2005 .13** .18** .24** .14** .29** .39** Quellen: 1985 und 1989 A-7, 1992 und 1993 Politische Kulturen im vereinten Deutschland, 2005 Bürger und Parteien; ** signifikant auf dem Niveau von p 49 Determinaten Modell 1 Modell 2 Evangelisch 1,478 1,54 Katholisch 0,781 0,81 Kirchenbindung 0,67* 0,66* Gewerkschaft 2,77** 2,71** Geschlecht: Frau 0,814 0,84 Bildung 0,97+ 0,99 Subjektive Schicht 0,68* Konstante 2,534* 5,60** -2 Log likelihood 765,052 758,414 Modell-Chi² 46,83** 53,47* Freiheitsgrade 6 7 Nagelkerke 0,10 0,116 N 618 618 + p < 0,1; * p < 0,05; ** p < 0,001 Quelle: Bundestagswahlstudie 2005
Links-Rechts-Wahl Links-Rechts-Wahl Links-Rechts-Wahl Ost / Alter 49 West / Alter > 49 Ost / Alter 49 Modell 3 Modell 4 Modell 5 Modell 6 Modell 7 Modell 8 0,78 0,78 1,31 1,38 4,87* 5,44* 0,33+ 0,36+ 0,48* 0,50* 2,31 2,57 0,71 0,71 0,82 0,81 0,16** 0,15** 1,75 1,66 2,26* 2,29* 0,68 0,75 1,09 1,09 0,85 0,9 1,16 1,17 1,01 1,03 0,98 1 1,01 1,04 0,74 0,62* 0,58* 2,78* 4,82* 2,76* 7,49** 15,33** 46,81** 379,76 378,12 685,78 676,32 315,52 310,79 13,09* 14,74* 46,77** 56,03** 24,45** 29,18** 6 7 6 7 6 7 0,058 0,65 0,11 0,13 0,12 0,14 336 336 509 509 252 252
4.3.2 Subjektiv erlebter Abstieg und Wahlentscheidung In Hypothese 2a erwarten wir, dass das Wahlverhalten der sozial Abgestiegenen dem ihrer Herkunftsschicht entspricht. Die bivariate Analyse führte zu dem überraschenden Befund, dass Absteiger häufiger linke Parteien wählen als die Angehörigen ihrer ursprünglichen Schicht. Um die Hypothese unter Berücksichtigung der Kontrollvariablen zu prüfen, wurde ein Datensatz erstellt, der nur Befragte enthält, die entweder aktuell Mitglieder der Mittel bzw. Oberschicht sind oder aber die aus der Mittel- bzw. Oberschicht stammen und heute einer niedrigeren Schicht angehören10. Die Tabelle 5 gibt die Schätzung des Effektes eines sozialen Abstiegs von der Mittel- oder Oberschicht in die Unter- oder Arbeiterschicht wieder. Für jede Subgruppe werden zwei Modelle berechnet. Im ersten Modell (jeweils mit ungeraden Ziffern versehen) werden nur die Kontrollvariablen berücksichtigt. Das zweite Modell enthält zusätzlich eine 0-1-kodierte Dummy-Variable (Absteiger=1) um zu untersuchen, ob Absteiger signifikant anders votieren als die Mitglieder ihrer ursprünglichen sozialstrukturellen Gruppe.
9
Die Konfessionszugehörigkeit spielt insgesamt eine eher untergeordnete Rolle. Die Analyse mit dem vollständigen Datensatz ergab erhebliche Multikollinearitätsprobleme die zu einer Unsicherheit bei der Schätzung der jeweiligen Effekte führt.
10
462
Anja Mays und Jürgen Leibold
Tabelle 5: Einfluss der sozialen Abstiegs auf die Links-Rechts-Wahl unter Berücksichtigung von Kontrollvariablen (Hypothese 2a), Effekt-Koeffizienten Links-Rechts-Wahl West / Alter > 49 Modell Modell Determinaten 9 10 Evangelisch 2,38* 2,37* Katholisch 1,07 1,09 Kirchenbindung 0,64* 0,63* Gewerkschaft 2,25* 2,28* Geschlecht: Frau 0,79 0,83 Bildung 0,98 0,98 Absteiger 2,42 Konstante 1,72 1,65 -2 Log likelihood 507,42 505,63 Modell-Chi² 32,57** 34,36** Freiheitsgrade 6 7 Nagelkerke 0,11 0,11 N 447 447 + p < 0,1; * p < 0,05; ** p < 0,001 Quelle: Bundestagswahlstudie 2005
Links-Rechts-Wahl Ost / Alter > 49 Modell Modell 11 12 0,68 0,65 0,22* 0,21+ 0,66 0,70 0,66 0,69 1,03 1,10 1,03 1,04 2,35 2,32 1,87 168,78 167,71 12,97* 13,17* 6 7 0,12 10,13 177 177
Links-Rechts-Wahl West / Alter 49 Modell Modell 13 14 1,39 1,40 0,44* 0,44* 0,82 0,81 3,06** 3,06** 0,96 0,95 0,98 0,98 0,91 2,11+ 2,14+ 514,56 514,51 43,43** 43,47** 6 7 0,14 0,14 385 385
Links-Rechts-Wahl Ost / Alter 49 Modell Modell 15 16 7,4* 8,24* 1,14 1,34 0,17* 0,15* 0,69 0,75 0,87 0,86 1,01 1,02 2,28 13,15** 12,46* 189,78 188,17 18,18* 19,78* 6 7 0,15 0,16 158 158
Für keine der untersuchten Subgruppen konnte nach Kontrolle der Drittvariablen ein signifikanter Effekt ermittelt werden. Wir können somit die Hypothese 2a als bestätigt ansehen: Das Wahlverhalten der Absteiger weicht nicht signifikant von dem ihrer Herkunftsschicht ab. Allerdings sollte ein Aspekt nicht übersehen werden: Die Tatsache, dass die beschriebenen Effekte nicht signifikant sind, kann möglicherweise auf die geringe Anzahl der Absteiger zurückgeführt werden11. Interessant ist hier, dass – abgesehen von den jüngeren westdeutschen Befragten – sämtliche Koeffizienten positive Vorzeichen aufweisen. D.h. in der vorliegenden Stichprobe wählen Absteiger – sofern sie nicht zur jüngeren westdeutschen Subgruppe gehören – häufiger linke Parteien als ihre Herkunftsschicht. Dieses Ergebnis deckt sich mit weitergehenden Berechnungen (nicht ausgewiesen), die zeigen, dass – wenn der Datensatz nicht auf Mittelschichtangehörige und sozial Abgestiegene reduziert wird12 – die Absteiger verglichen mit den restlichen Befragten (ausgenommen die sozialen Aufsteiger) signifikant häufiger für linke Parteien stimmen.
4.3.3 Subjektiv erlebter Aufstieg und Wahlentscheidung Als letzte Hypothese (H2b) formulierten wir die Vermutung, dass Personen, die in ihrer Biographie einen sozialen Aufstieg erfahren haben, ein von ihrer Herkunftsgruppe abweichendes Stimmverhalten an den Tag legen. Konkret erwarteten wir in dieser Gruppe ein 11
Die westdeutsche Altersgruppe der über 49jährigen z.B. enthält gerade einmal 15 Fälle, die der jüngeren Altersgruppe sogar nur 12 Fälle. 12 Diese Ergebnisse werden hier nicht ausgewiesen, da die Berechnung von einer anderen Vergleichsbasis ausgeht. In Tabelle 5 werden – der Hypothese entsprechend – die sozial Abgestiegenen nur mit den Mittel-bzw. Oberschichtangehörigen verglichen, also mit ihrer eigenen Herkunftsschicht. In der genannten weitergehenden Berechnung wurde dagegen als Vergleichsgruppe alle Befragten mit stabiler Schichtzugehörigkeit verwendet.
Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten
463
eher konservatives Abstimmungsverhalten. Die Koeffizienten in Tabelle 6 bestätigen zum Teil diese Erwartungen: Abgesehen von den älteren westdeutschen Befragten, weisen die negativen Regressionskoeffizienten darauf hin, dass die Aufsteiger rechte Parteien bevorzugen. Diese Effekte sind allerdings nur in der Gruppe der älteren Ostdeutschen und auf niedrigerem Niveau auch bei jüngeren Westdeutschen13 signifikant. Für diese beiden Subgruppen können wir also festhalten, dass ein Aufstiegseffekt vorliegt: Aufsteiger dieser Teilgruppen distanzieren sich tatsächlich von der Unter- oder Arbeiterschicht und lassen ein verstärkt konservatives Wahlverhalten erkennen. Insbesondere für die westdeutsche ältere Teilstichprobe gilt dieser Effekt jedoch nicht. Diese Subgruppe wählt nicht anders als die Mitglieder ihrer Herkunftsschicht: ältere Westdeutsche, die aus der Unter- bzw. Arbeiterschicht aufgestiegen sind, präferieren ebenso linke Parteien, wie jene, die sich gegenwärtig in der Arbeiter-bzw. Unterschicht befinden. Tabelle 6: Einfluss des sozialen Aufstiegs auf die Links-Rechts-Wahl unter Berücksichtigung von Kontrollvariablen (Hypothese 2b), Effekt-Koeffizienten Links-Rechts-Wahl West / Alter > 49 Modell Modell Determinaten 17 18 Evangelisch 1,40 1,41 Katholisch 0,80 0,80 Kirchenbindung 0,51* 0,51* Gewerkschaft 3,44* 3,44* Geschlecht: Frau 1,26 1,25 Bildung 0,98 0,97 Aufsteiger 1,17 Konstante 3,83* 3,83* -2 Log likelihood 446,53 446,11 Modell-Chi² 37,86** 38,29** Freiheitsgrade 6 7 Nagelkerke 0,14 0,14 N 334 334 + p < 0,1; * p < 0,05; ** p < 0,001 Quelle: Bundestagswahlstudie 2005
5.
Links-Rechts-Wahl Ost / Alter > 49 Modell Modell 19 20 0,70 0,67 0,26+ 0,30 0,79 0,78 2,60 2,34 1,02 1,03 0,98 1,01 0,44* 3,43* 3,14+ 298,06 292,18 11,22* 17,10* 6 7 0,06 0,10 243 243
Links-Rechts-Wahl West / Alter 49 Modell Modell 21 22 1,36 1,23 0,66 0,64 0,91 0,93 2,32* 2,40* 1,01 1,07 1,01 1,03 0,60+ 1,47 1,43 341,53 337,99 13,44* 16,98* 6 7 0,07 0,09 235 235
Links-Rechts-Wahl Ost / Alter 49 Modell Modell 23 24 10,86+ 11,61+ 80,72* 87,38+ 0,04* 0,04* 0,56 0,56 1,42 1,34 1,11 1,14+ 0,58 25,41* 22,22* 186,41 184,64 27,63** 29,40** 6 7 0,20 0,22 153 153
Zusammenfassung und Diskussion
Die empirischen Befunde lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. 2.
13
Ein signifikanter Schicht-Effekt liegt bei allen Befragten mit Ausnahme der älteren Ostdeutschen vor. Abgesehen von jüngeren Ostdeutschen, wählen sozial Abgestiegene – entgegen der theoretischen Erwartung – in unserer Stichprobe häufiger linke Parteien als Mitglieder ihrer Ursprungsschicht. Diese Effekte sind allerdings nicht signifikant, was vermutlich auf die geringen Fallzahlen zurückzuführen ist.
Der Koeffizient für diese Teilgruppe ist auf dem 10%igen Niveau signifikant.
464 3.
Anja Mays und Jürgen Leibold Die sozialen Aufsteiger dagegen wählen in zwei der vier untersuchten Subgruppen (ältere Ostdeutsche und – mit höherer Irrtumswahrscheinlichkeit – auch jüngere Westdeutsche) signifikant häufiger bürgerliche Parteien. Auch hier zeigen sich Ost-WestUnterschiede: Während sich die älteren westdeutschen Aufsteiger nicht signifikant von der Herkunftsschicht unterscheiden – ihre politischen Präferenzen „mitnehmen“ – bevorzugen ältere ostdeutsche Aufsteiger konservative Parteien, passen sich also der Destinationsschicht an.
Wie lassen sich nun diese empirischen Resultate bewerten? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass grundsätzlich neben der aktuell eingenommenen sozialstrukturellen Position auch die soziale Herkunft auf das Wahlverhalten wirkt. Insbesondere bei älteren westdeutschen Aufsteigern scheint die frühe politische Sozialisation noch nachzuwirken. Dieser Befund könnte darauf hindeuten, dass diese Generation – im Unterschied zu den jüngeren Westdeutschen bzw. allen Ostdeutschen – ihre frühe politische Sozialisation tatsächliche noch in einem sozial homogenen Milieu (Arbeiterschaft) mit eindeutigen Wahlnormen erlebt hat. Dass politische Lernerfahrungen, die in einem homogenen Umfeld stattfinden, zu langfristig stabileren politischen Orientierungen führen, steht im Einklang mit den Ergebnissen der politischen Sozialisationsforschung (vgl. Geißler 1996). Bei den anderen Aufsteigern wirkt die soziale Herkunft hingegen nicht langfristig nach. Sie wählen (in zwei der drei Gruppen auch signifikant) häufiger konservative Parteien als ihre Herkunftsschicht. Diese Personen, so könnte man argumentieren, verhalten sich also eher „rational“ und wählen entsprechend den Interessen ihrer Destinationsschicht. Die Frage, ob sich die soziale Herkunft bei Absteigern im Wahlverhalten niederschlägt, kann aufgrund der geringen Fallzahlen kaum beantwortet werden. Zwar votieren drei der vier Absteiger-Subgruppen häufiger für linke Parteien als die Mitglieder ihrer sozialen Ursprungsschicht, dieser Effekt erwies sich allerdings als nicht signifikant. Über die hier dargestellten Berechnungen hinaus finden sich in den Daten einige Hinweise, dass Absteiger in der Tat eher linken Parteien zu neigen. Sollten sich diese Hinweise in zukünftigen Untersuchungen bestätigen, dann bedeutet dies, dass auch Absteiger eher „rational“ – also im Sinne ihrer aktuellen sozialen Lage – abstimmen. Insgesamt konnten wir bei unseren Analysen einige deutliche Ost-West- Unterschiede ausmachen. Besonders auffällig erscheint dabei das Wahlverhalten der älteren Ostdeutschen. Zum einen liegt bei ihnen kein Schicht-Effekt vor und zum anderen fällt bei den älteren ostdeutschen Aufsteigern der relativ deutlich ausgeprägte „Aufstiegs“-Effekt zugunsten konservativer Parteien auf. Das Fehlen eines Schicht-Effektes kommt hier vermutlich dadurch zustande, dass die älteren Ostdeutschen – auch wenn sie sich zur Mittel- bzw. Oberschicht zählen- zu über 60% linke Parteien präferieren. Die politischen Sozialisationserfahrungen in der DDR scheint somit bei den älteren Ostdeutschen (sofern sie keinen sozialen Aufstieg erlebt haben) noch heute wirksam zu sein. Die etwas jüngeren Ostdeutschen reagieren hingegen in ähnlicher Weise wie die westdeutsche Bevölkerung auf das parteipolitische Angebot. Bezogen auf die sozialstrukturelle Konfliktlinie scheint sich bei einer Unterscheidung von linkem und rechtem Lager, das Wahlverhalten zwischen Ost- und Westdeutschland langfristig anzugleichen.
Schicht, soziale Mobilität und Wahlverhalten
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Warum sich allerdings ältere ostdeutsche Aufsteiger verstärkt für konservative Parteien entscheiden, der Sozialisationseinfluss hier also ausbleibt und eine deutlichere Angleichung an die neue Schicht erfolgt, bleibt eine offene Frage. Alles in allem konnten wir mit den vorliegenden Daten zeigen, dass die Wahlentscheidung nicht nur vom gegenwärtigen sozialen Status beeinflusst wird, sondern dass sich unter bestimmten Bedingungen auch die frühere soziale Lage auf die Wahlentscheidung auswirkt. Insbesondere die Ost-West-Unterschiede lassen sich vor dem Hintergrund unserer Analysen als politische Sozialisationsergebnisse interpretieren.
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