Daniela Klaus Sozialer Wandel und Geburtenrückgang in der Türkei
Daniela Klaus
Sozialer Wandel und Geburtenrückgang ...
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Daniela Klaus Sozialer Wandel und Geburtenrückgang in der Türkei
Daniela Klaus
Sozialer Wandel und Geburtenrückgang in der Türkei Der „Wert von Kindern“ als Bindeglied auf der Akteursebene
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich / Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15875-4
Meiner Familie gewidmet
Inhalt
1
Einleitung .................................................................................................. 13
2
Der demographische Wandel in der Türkei............................................... 19 2.1 Das Konzept des demographischen Übergangs ............................... 19 2.2 Der demographische Übergang in der Türkei.................................. 24 2.2.1 Aggregatmaße der amtlichen Statistik ............................................. 25 2.2.2 Kohortenspezifische Übergänge der Familienbildung..................... 31 2.3 Bilanz............................................................................................... 45
3
Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei ............................................ 47 3.1 Bildungsbeteiligung......................................................................... 48 3.2 Wirtschaftssystem und Arbeitsmarkt............................................... 55 3.3 Staatliche Sozialabsicherung ........................................................... 62 3.4 Familie und Verwandtschaft............................................................ 65 3.5 Bilanz............................................................................................... 76
4
Zentrale Fertilitätstheorien im Überblick .................................................. 79 4.1 Soziologische Erklärungsansätze..................................................... 80 4.2 (Mikro-) Ökonomische Ansätze ...................................................... 83 4.3 Sozialpsychologische Ansätze......................................................... 88 4.4 Bilanz............................................................................................... 91
5
Das Erklärungsmodell ............................................................................... 93 5.1 Zur Instrumentalität von Kindern: Der Value-of-Children Ansatz.. 94 5.2 Kinder in der Theorie sozialer Produktionsfunktionen.................... 96 5.2.1 Das Handlungsmodell...................................................................... 97 5.2.2 Zur Konstruktion theoriereicher Brückenannahmen........................ 98 5.2.3 Kinder als potentielle Produktionsfaktoren.................................... 102 5.2.4 Die Wertedimensionen von Kindern.............................................. 105 5.2.5 Vorhersage des generativen Verhaltens......................................... 113 5.2.6 Das Grundmodell generativen Verhaltens ..................................... 119
5.3 5.3.1 5.3.2 5.4
Die Rationalität der Routine .......................................................... 122 Moduswechsel: Automatisch oder kalkulierend ........................... 127 Das Alternativmodell generativen Verhaltens ............................... 129 Bilanz............................................................................................. 136
6
Hypothesen.............................................................................................. 139 6.1 Brückenhypothesen: Determinanten des Wertes von Kindern ...... 139 6.2 Handlungshypothesen: Determinanten generativen Verhaltens .... 146 6.3 Pfadmodell: Der Wert von Kindern als Mediator.......................... 151 6.4 Alternativmodell: Kalkulation oder Routine ................................. 152
7
Daten, Methode und Instrumente ............................................................ 155 7.1 Erhebungsdesign und Stichprobe................................................... 155 7.2 Methodische Vorbemerkungen...................................................... 159 7.3 Instrumente und Indizes................................................................. 161
8
Ergebnisse ............................................................................................... 171 8.1 Der Wert von Kindern ................................................................... 171 8.2 Determinanten des Wertes von Kindern? ...................................... 180 8.2.1 Komfort und soziale Wertschätzung.............................................. 180 8.2.2 Affekt und Stimulation .................................................................. 188 8.2.3 Steigende Salienz von Affekt und Stimulation? ............................ 193 8.2.4 Bilanz............................................................................................. 194 8.3 Determinanten des generativen Verhaltens?.................................. 196 8.3.1 Zeitpunkt der Erstgeburt ................................................................ 196 8.3.2 Mehrfache Mutterschaft................................................................. 197 8.3.3 Geschlechterpräferenz ................................................................... 203 8.3.4 Verhaltensrelevanz von Eintrittswahrscheinlichkeiten .................. 206 8.3.5 Wirkung von Anreizen und Barrieren............................................ 207 8.3.6 Bilanz............................................................................................. 209 8.4 Der Wert von Kindern als Mediator?............................................. 210 8.5 Kalkulation oder Routine? ............................................................. 213
9
Zusammenfassung................................................................................... 221
10
Ausblick .................................................................................................. 225
Literatur ............................................................................................................ 235
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20:
Überlebenskurven Erstheirat nach Geburtskohorte ........... 39 Überlebenskurven Erst- bis Drittgeburt nach Geburtskohorte .................................................................. 42 Total Fertility Rate und Erstheiratsalter 2003 ................... 46 Analphabetenrate zwischen 1935 & 2000 ......................... 49 Netto-Bildungsbeteiligungsraten 2003/04 ......................... 50 Beschäftigungssituation 6-14 Jähriger 1999...................... 53 Verstädterungsrate nach Region 1950 & 1985.................. 56 Bevölkerungswachstum zwischen 1935 & 1990............... 57 Zusammenhang Bildungsbeteiligung und Erwerbstätigkeit................................................................. 60 Sozial- und Krankenversicherung zwischen 1950 & 1998...................................................................... 63 Ehearrangements nach Heiratskohorte .............................. 69 Der Wert von Kindern 1975 & 2002 ................................. 73 Erwartungen an erwachsene Kinder 1975 & 2002 ............ 74 Kinder in den sozialen Produktionsfunktionen................ 103 Das Grundmodell der Erklärung...................................... 122 Das erweiterte Handlungsmodell..................................... 132 Das Alternativmodell der Erklärung................................ 135 Verteilung des Wertes von Kindern ................................ 179 Überlebenskurven Zweit- und Drittgeburt in Abhängigkeit vom Wert von Kindern ............................. 198 Vorhersage des Erstgebäralters: Pfadmodell ................... 212
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17: Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20: Tabelle 21: Tabelle 22: Tabelle 23:
Die demographische Lage zwischen 1927 & 2005 ................ 27 Ausschluss problematischer Altersgruppen ........................... 36 Übergang Erstgeburt in drei Vergleichsgruppen .................... 38 Heirats- und Geburtenverläufe nach Geburtskohorte............. 40 Beschäftigte nach Sektor zwischen 1935 & 2000 (%) ........... 55 Arbeitslosen- und Beschäftigungsraten 2004......................... 58 Beschäftigungsstatus und -sektoren 2000 (%) ....................... 59 Familientypen zwischen 1968 & 1998 (%) ............................ 75 Korrespondenz theoretischer Ansätze .................................. 120 Erhebungsdesign .................................................................. 155 Stichprobenbeschreibung ..................................................... 157 Deskription der VOC-Items ................................................. 163 Erwerbssituation nach Bildungsbeteiligung ......................... 167 Validierung des Nutzens von Kindern ................................. 174 Validierung der Kosten von Kindern ................................... 176 Determinanten Komfort und soziale Wertschätzung............ 181 Determinanten einzelner Komfortitems, Kosten .................. 183 Determinanten Affekt und Stimulation ................................ 190 Zweit- und Drittgeburt in Abhängigkeit vom Wert von Kindern.......................................................................... 200 Zweit- und Drittgeburt in Abhängigkeit vom Geschlecht geborener Kinder sowie Komfort und Wertschätzung ......... 204 Wirkung kurz- vs. langfristig erwarteten Komforts ............. 206 Wirkung von Anreizen und Barrieren .................................. 208 Prüfung des Alternativmodells............................................. 215
1 Einleitung
Trotz deutlicher Niveauunterschiede zeichnet sich weltweit eine Tendenz rückläufiger Geburtenraten ab. Der allgemeine Geburtenrückgang ist keineswegs ein Phänomen der letzten Jahrzehnte: Soweit die historischen Quellen hierzu Aussagen zulassen, setzte er Mitte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien und Frankreich ein und ergriff nach und nach weitere europäische Länder, die in den Prozess der Industrialisierung eintraten. Bis dahin waren hohe Geburtenraten, gleichzeitig aber auch eine hohe Sterblichkeit verbreitet, weshalb sich der weltweite Bevölkerungsumfang recht stabil auf einem geringen Niveau hielt. Da dem Rückgang der Geburten zeitlich ein Absinken der Sterberaten vorausging, wurde eine weltweite Bevölkerungsexplosion ausgelöst, die bis heute anhält: Bis um 1800 umfasste die Weltbevölkerung knapp 1 Milliarde Menschen und überschritt im auslaufenden 20. Jahrhundert die 6 Milliarden Grenze (United Nations 1998). Während der Beginn dieser Aufwärtsspirale auf die demographischen Umbrüche der heutigen Industrieländer zurückgeht, sind es momentan die Entwicklungs- und Schwellenländer, die diesen Prozess am Laufen halten. Das demographische Entwicklungsmuster des zeitversetzten Rückgangs von Geburten und Sterblichkeit scheint trotz gewisser Variationen zwischen einzelnen Ländern universal zu sein. Der dadurch ausgelöste, rasante Bevölkerungszuwachs wird sich noch einige Jahrzehnte fortsetzen, da derzeit in weiten Teilen der Erde die Zahl der Geburten, die der Sterbefälle erheblich übersteigt. Aber mittlerweile sind auch diese geburtenstarken Regionen vom Rückgang der Fertilität erfasst: War vor einigen Jahrzehnten für zahlreiche demographische Giganten kaum ein Abriss der hohen Geburtenraten abzusehen, so hat inzwischen auch in Ländern wie Indien oder Indonesien die Fertilität beträchtlich abgenommen. Damit ist der Grundstein für ein langfristiges Ende der weltweiten Bevölkerungsexpansion gelegt. Entsprechend aktueller Modellrechnungen der Vereinten Nationen ist ab dem zweiten Drittel des 21. Jahrhunderts eine Stabilisierung der Weltbevölkerung um die 9 Milliarden zu erwarten (United Nations 2004). Eine differenzierte Betrachtung der aktuellen demographischen Lage legt offen, dass die Industrieländer bereits ein Bevölkerungswachstum nahe Null (0.3) erreicht haben, sich hingegen die Entwicklungsländer durch deutliche Zuwächse auszeichnen (1.5; United Nations 2004). Entsprechend unterscheiden
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sich auch die Gesamtfruchtbarkeitsraten (TFR): 1.6 gegenüber 2.9 (ebd.). Während die Mehrheit der Länder gerade noch am Anfang der skizzierten demographischen Wende steht oder sich mitten in ihrem Verlauf befindet, deuten jüngste Tendenzen v. a. in Europa auf eine neuartige Entwicklung hin: Wird das Bevölkerungswachstum um die Zuwanderung bereinigt, so kristallisiert sich eine leicht negative Wachstumsrate heraus. Das stellt das Resultat derart geringer Geburtenzahlen dar, die eine natürliche Reproduktion der Bevölkerung auf Dauer nicht mehr gewährleisten. In Deutschland beispielsweise übersteigt seit einigen Jahren regelmäßig die Anzahl der jährlich Gestorbenen die Zahl der Neugeborenen (Birg 2004). Das geht maßgeblich auf einen wachsenden Teil der Bevölkerung zurück, der sich dauerhaft gegen Kinder entscheidet: Fast ein Drittel des Jahrgangs 1966 geborener westdeutscher Frauen wird kinderlos bleiben (Dorbritz 2003: 408). Es ist evident, dass das Geburtenniveau eine zentrale Größe im demographischen Gefüge darstellt: So trägt es derzeit in einem Teil der Welt zu einer massiven Explosion der Bevölkerung bei und im anderen zu ihrer Schrumpfung, wobei neben der quantitativen Zusammensetzung auch die Altersstruktur betroffen ist. Für die einzelnen nationalen Regierungen leiten sich hieraus ganz unterschiedliche Problemlagen ab. Die neben dem Anstieg der Lebenserwartung maßgeblich durch die ausbleibenden Geburten hervorgerufene Alterung der Bevölkerung in den westlichen Industrieländern, gewinnt ihre Brisanz durch ihre nachhaltigen und tief greifenden Konsequenzen für das Funktionieren des zumeist etablierten modernen Wohlfahrtsstaates. Darüber hinaus rücken auch andere Themen in die öffentliche Diskussion, wie wirtschaftliche oder raumund stadtplanerische Folgen (vgl. u. a. Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2004). Im Gegensatz hierzu stehen die derzeitigen Entwicklungs- und Schwellenländer vor der Aufgabe, das massive Bevölkerungswachstum mit all seinen Konsequenzen zu bewältigen. Jeweils geht es darum, effektiv auf die nationale Bevölkerungsentwicklung Einfluss zu nehmen. Sofern derlei Maßnahmen am Geburtenniveau ansetzen sollen, ist die Kenntnis der Determinanten generativen Verhaltens unerlässlich. Hierfür bedarf es erklärungskräftiger theoretischer Modelle, die entsprechende Faktoren und (Kausal-) Mechanismen herleiten und spezifizieren. An dieser Stelle werden nun regelmäßig Soziologen zu Wort gebeten. Das bedeutet keineswegs, dass sie die Einzigen wären, die sich den Ursachen der (rückläufigen) menschlichen Reproduktion aus theoretischer Sicht gewidmet hätten. Ganz im Gegenteil: Bereits ein flüchtiger Blick in die Literatur fördert unzählige Beiträge aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu Tage. Die Ökonomen waren die ersten, die sich systematisch mit Bevölkerungs- und Fertilitätsprozessen befasst haben – motiviert durch die Einsicht in die wirt-
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schaftliche Bedeutsamkeit der Faktors Bevölkerung. Die insgesamt sehr rege Forschungstätigkeit zu diesem Thema konnte bis heute wichtige Ursachen (komplexe) herausarbeiten. Aber einmal abgesehen von der kritischen Beurteilung einzelner Ansätze im Detail, unterliegt der Großteil einer eingeschränkten Anwendbarkeit, die sich im Wesentlichen darin begründet, dass der Zugang zu dieser Thematik jeweils vor dem Hintergrund unmittelbarer empirischer Beobachtungen erfolgt. Nun ist dieses Gebiet stark von westlichen Forschern dominiert, weshalb nicht selten der jüngste Geburtenrückgang bzw. die allgemein geringen Geburtenzahlen in den modernen Industriestaaten im Mittelpunkt des Interesses stehen. Kontextuelle Rahmenbedingungen, die in diesem Zusammenhang erklärungskräftig sein könnten, allerdings v. a. im breiteren historischen und internationalen Rahmen variieren, werden nicht systematisch berücksichtigt, teilweise als Konstante behandelt oder völlig außer Acht gelassen, worunter nicht zuletzt das Erklärungspotential leidet. Im Rahmen dieser Arbeit wird ein Modell zur Erklärung generativen Verhaltens vorgestellt, dass sich einerseits den reichen Fundus vorliegender Ansätze zu Nutze macht und sich andererseits explizit an der Tradition des methodologischen Individualismus orientiert: Durch die Berücksichtigung von Erklärungsfaktoren auf unterschiedlichen Aggregationsebenen kann eine differentielle Fertilität zwischen verschiedenen Bevölkerungssegmenten, zwischen Regionen und Ländern sowie historischen Zeitpunkten angemessen modelliert werden. Damit werden nicht nur die Einsatzmöglichkeiten erweitert, überdies wird der Blick für relevante kulturelle und institutionelle Einflussfaktoren geöffnet. Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit, für die das theoretische Modell Anwendung findet, bildet die Erklärung des Geburtenrückgangs in der Türkei im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Keineswegs willkürlich ist das Erklärungsinteresse auf die Türkei gerichtet – sie erweist sich aus mehreren Gründen als besonders interessantes Untersuchungsobjekt: Einerseits unterscheidet sich ihr gegenwärtiges Geburtenniveau von dem der westlichen, insbesondere der europäischen Industrieländer, da die natürliche Reproduktion der Bevölkerung mit einer Gesamtfruchtbarkeitsrate (TFR) von 2.2 gewährleistet ist. Auf der anderen Seite rangiert die Fertilität in der Türkei bereits deutlich unter dem Niveau zahlreicher anderer Entwicklungs- und Schwellenländer, insbesondere auch unter den Geburtenraten ihrer Nachbarländer im Nahen Osten. Ursache hierfür ist ein konsequenter Geburtenrückgang in der Türkei, der sich weitgehend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog. Auch wenn die Türkei derzeit noch von einem deutlichen Bevölkerungswachstum von 1.3 (2005) geprägt ist, deuten jüngste demographische Trends für ihre Zukunft eine Annäherung an die europäische Bevölkerungsstruktur an. Derlei Prognosen kommt nicht zuletzt angesichts der umstrittenen Position der Türkei im politischen Aufbau Europas be-
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sondere Relevanz zu. Abgesehen von ihrer aktuellen demographischen Sonderstellung, die zu einem nicht unerheblichen Teil ihrer besonderen Lage im Grenzgebiet zweier unterschiedlicher Kulturräume geschuldet ist, zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie einer umfassenden empirischen Untersuchung unterzogen werden kann. Das ist der hervorragenden Datenlage zu verdanken, die einerseits eine detaillierte Betrachtung der historisch-demographischen und insbesondere fertilitätsbezogenen Veränderungen in der Türkei des letzten Jahrhunderts ermöglicht. Andererseits kann das im Rahmen der Arbeit entwickelte Erklärungsmodell auf seine empirische Evidenz hin geprüft werden. Den Ausgangspunkt der theoretischen Modellbildung bildet eine überarbeitete Version des Value-of-Children Ansatzes (Arnold et al. 1975; Hoffman & Hoffman 1973). Der dort empirisch aufgefundene (v. a. Kagitcibasi & Esmer 1980) und im Rahmen einer konzeptuellen Erweiterung inzwischen theoretisch fundierte Wert, den (potentielle) Eltern ihren (zukünftigen) Kindern zuschreiben (Nauck 2001, 2005; Nauck & Kohlmann 1999), bildet das zentrale Erklärungsmoment für die individuelle, generative Entscheidung bzw. das darauf ausgerichtete Verhalten. Basierend auf einer Handlungstheorie, die in der Tradition rationaler Entscheidungsmodelle steht, wird behauptet, dass diejenige generative Handlungsstrategie gewählt wird, die angesichts des wahrgenommenen Wertes von Kindern (VOC) die maximale individuelle Nutzenproduktion bzw. Bedürfnisbefriedigung verspricht. Der Wert von Kindern seinerseits wird, gemäß seiner Einbettung in ein Mehr-Ebenen-Design, von Faktoren auf verschiedenen gesellschaftlichen Aggregationsebenen determiniert: Neben dem Handlungsrahmen, den institutionelle Vorgaben auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene bilden, sind spezifische Bedingungen des unmittelbaren Kontextes relevant sowie individuelle Merkmale des Entscheidungsträgers. Dieses Erklärungsmodell berücksichtigt somit die gesellschaftliche Einbettung der Akteure: Veränderungen relevanter Parameter sollten sich in Verhaltensanpassungen niederschlagen. Ermöglicht und theoretisch begründet wird diese Verknüpfung verschiedener Ebenen durch die Theorie der sozialen Produktionsfunktionen (Esser 1999; Lindenberg 1984, 1990, 1991, 1996; Ormel et al. 1999): Ausgehend von zwei universalen Grundbedürfnissen des Menschen wird die Frage aufgeworfen, inwieweit Kinder zu deren Befriedigung (in-) direkt beitragen können. Eine zentrale Annahme lautet: Nur wenn sich die Handlungssituation des Entscheidungsträgers derart gestaltet, dass sich Kinder für die elterliche Bedürfnisbefriedigung als effizient erweisen, wird die Fertilitätsentscheidung zu ihren Gunsten ausfallen. Demnach besteht das Hauptargument zur Erklärung des Geburtenrückgangs in der Türkei darin, dass sich die Stellung von Kindern innerhalb der sozialen Produktionsfunktionen geändert hat.
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Ergänzt wird dieses Grundmodell um die Möglichkeit, generatives Verhalten unter bestimmten situativen Umständen als Resultat der Befolgung kultureller Handlungsroutinen zu modellieren. Das widerspricht keineswegs der Rationalitätsprämisse, vielmehr ist es eine konsequente Weiterführung der unterstellten Handlungsmaxime der Nutzenmaximierung, unter der Berücksichtigung von Kosten und Grenzen der Informationsbeschaffung und ihrer Verarbeitung. Vor allem homogene und stabile Handlungsrahmenbedingungen fördern die Herausbildung von kulturellen Handlungsroutinen, die als eine Verdichtung rationaler Einzelentscheidungen verstanden werden, die sich bewährt haben und sich über die Weitergabe zwischen den Generationen verfestigen. So wird angenommen, dass eine generative Handlungsroutine zwar nicht notwendigerweise die individuell-optimale, aber zumindest eine akzeptable, generative Handlungsempfehlung bereithält. Stellt man die durch ihre Ausführung eingesparten Informationsund Entscheidungskosten in Rechnung, erhöht sich der Netto-Handlungsgewinn. Entscheidungsökonomisch ist deren Befolgung für den Einzelnen allerdings nur solange effizient, solange dessen individuelle Handlungssituation nicht substantiell von der der Mehrheit in seinem Umfeld abweicht. Abrupter und tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel, wie er in der Türkei in der Folge ihrer Gründung 1923 ausgelöst wurde, zieht eine zunehmende Schwächung möglicher Handlungsroutinen nach sich. Neue und unbekannte Handlungssituationen begünstigen individuelle Kalkulationen der Vor- und Nachteile generativer Handlungsalternativen. Historisch betrachtet, wird für die Türkei angenommen, dass die sich wandelnde Position von Kindern in den sozialen Produktionsfunktionen von einem Übergang von der Dominanz generativer Handlungsroutinen hin zu vermehrter generativer Kalkulation begleitet wird. Dass sich zukünftig, nach erfolgter Anpassung der Kosten- und Nutzenstruktur von Kindern an die veränderten Bedingungen, neue Routinen herausbilden, ist nicht auszuschließen. Die Testung des Grundmodells und seiner Erweiterung erfolgt unter Verwendung der türkischen Stichprobe der 2002/2003 durchgeführten internationalen Studie ‚Value of Children in Six Cultures. Eine Replikation und Erweiterung der 'Values-of-Children-Studies' in bezug auf generatives Verhalten und Eltern-Kind-Beziehungen’.1 Das Hauptziel besteht in der Feststellung der Faktoren, die ursächlich für den historischen Geburtenrückgang in der Türkei sind. In diesem Zusammenhang sollten auch die Gründe für inter-individuelle Variationen im Geburtenverhalten deutlich werden. Im Rahmen einer verallgemeinernden Diskussion der Ergebnisse wird abschließend eine Prognose bezüglich des Geburtenniveaus in der Türkei versucht. Auch wenn der Kinderlosigkeit in der 1 Durchgeführt wurde das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt (NA164/91-4) unter der Leitung von Bernhard Nauck (Technische Universität Chemnitz) und Gisela Trommsdorff (Universität Konstanz).
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gegenwärtigen Türkei scheinbar keine demographische Bedeutung zukommt, so erscheint doch folgende Frage interessant: Wird die Türkei denselben demographischen Entwicklungspfad wie die europäischen Länder einschlagen oder ist vor dem Hintergrund spezifischer kultureller, ökonomischer oder sozialer Rahmenbedingungen ein eigenständiger Weg zu erwarten, der nicht von einem Geburtenniveau begleitet wird, das, u. a. bedingt durch einen wachsenden Anteil lebenslang Kinderloser, unter die Grenze der natürlichen Reproduktion fällt? Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: (I) Einführend werden zentrale demographische Parameter für die Türkei, beginnend mit ihrer Staatsgründung, nachgezeichnet. Der Schwerpunkt wird hierbei auf der Geburtenentwicklung liegen. Neben sozial-strukturellen Statistiken werden auch landesweite Bevölkerungsumfragen zur entsprechenden Deskription herangezogen. Überdies erfolgt eine Zusammenstellung der sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und institutionellen Entwicklungslinien, die den Geburtenrückgang in der Türkei begleitet haben. Ihnen wird im späteren Erklärungsmodell eine ursächliche Funktion zugeschrieben. (II) Der theoretische Teil beginnt mit einem kritischen Abriss der einflussreichsten Fertilitätstheorien, die zum Value-of-Children Erklärungsmodell überleiten. Anschließend erfolgt die Formulierung von entsprechenden Arbeitshypothesen, die auf die eingangs erarbeiteten Rahmenbedingungen zurückgreifen. (III) Der dritte Teil der Arbeit widmet sich der empirischen Prüfung: Zunächst werden die Studienanlage, die verwendete Stichprobe sowie zur Anwendung kommende Instrumente und generierte Indikatoren vorgestellt, gefolgt von der Präsentation der Ergebnisse. In einem abschließenden Kapitel werden die Befunde vor dem Hintergrund der eingangs formulierten Fragestellungen diskutiert: Was sind die Ursachen für den jüngsten Geburtenrückgang in der Türkei und welche Entwicklung ist für die Zukunft zu erwarten?
2 Der demographische Wandel in der Türkei
Der Geburtenrückgang in der Türkei findet als ein Teilprozess eines umfassenden demographischen Umbruchs statt, der in dieser Form kein Einzelphänomen darstellt, sondern weltweit bereits vielfach beobachtet und unter dem Konzept des demographischen Übergangs thematisiert wurde. Dieses Konzept beschreibt den Wechsel zwischen zwei quantitativ recht stabilen Bevölkerungszuständen, in dessen Verlauf anfänglich hohe (Säuglings-) Sterbe- und Geburtenraten dramatisch absinken, um sich auf einem geringen Niveau einzupendeln, das langfristig ein konstantes Bevölkerungsvolumen sichert. Idealtypisch nehmen die Geburten erst mit einem gewissen Zeitverzug nach dem Einsetzen der rückläufigen Sterblichkeitsrate ab. Abgesehen von Variationen in der Dauer des Übergangs sowie dem Ausmaß der Kluft, die die ungleiche Entwicklung beider demographischer Parameter zwischenzeitlich entstehen lässt, sind viele der heutigen westlichen Industrienationen diesem Verlauf gefolgt. Es scheint, als ob nach und nach auch die derzeitigen Schwellen- und Entwicklungsländer in diesen Prozess eintreten. In diesem Kapitel wird dieses Konzept zunächst in seinen Grundzügen vorgestellt, um darauf basierend dessen theoretische Schwächen, aber auch seine Brauchbarkeit zu diskutieren. Sein wesentlicher Vorzug besteht in der umfassenden Beschreibung der Entwicklung demographischer Parameter sowie der parallel dazu verlaufenden gesellschaftlichen Veränderungen. Schließlich zielt der Hauptteil dieses Kapitels darauf ab, die demographische Entwicklung der Türkei nachzuzeichnen, um abschließend aufzudecken, in welcher Phase des Sequenzmodells sich das Land derzeit befindet. Den zeitlichen Rahmen der Darstellung bilden die Jahre ab der Republikgründung und im Fokus der Betrachtung steht der Geburtenrückgang, da er den Erklärungsgegenstand dieser Arbeit ausmacht. 2.1 Das Konzept des demographischen Übergangs Das klassische Übergangsmodell. Erste Modelle des demographischen Übergangs stammen von Landry (1934) und Thompson (1929), die später diverse Modifikationen und Erweiterungen erfuhren (u. a. Chesnais 1992; Coale &
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2 Der demographische Wandel in der Türkei
Watkins 1986; Davis 1945; Mackenroth 1953, 1955; Notestein 1945). Deren gemeinsames Grundprinzip besteht in der Verknüpfung von Makrophänomenen. Die zentrale These hierbei lautet, dass jede Gesellschaft im Verlauf ihrer Modernisierung ein Absinken der vormals hohen Geburten- und Sterbeziffern erfährt. Zur Darstellung wurde zunächst ein drei-stufiges Modell ausgearbeitet, das später in fünf Phasen ausdifferenziert wurde und sich in Verbindung mit einer zeitlichen Einbettung des Verlaufes in Westeuropa wie folgt darstellt (vgl. zusammenfassend u. a. Felderer & Sauga 1988; Hill & Kopp 2000; Huinink 2000): Die (1) prä-transformative Phase, die bis in die frühe Neuzeit reicht, zeichnet sich durch eine hohe (Säuglings-) Sterblichkeit aus, begleitet von einer hohen Geburtenrate, mit der Konsequenz eines erheblichen Bevölkerungsumsatzes bei stabilem Bevölkerungsumfang. Die um 1750 beginnende (2) Transformationsphase gliedert sich in drei Stadien: Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeichnet sich ausschließlich ein Rückgang der Sterblichkeit ab, der durch eine verbesserte hygienische als auch medizinische Versorgungslage ausgelöst wurde, einhergehend mit einer weitgehenden Beseitigung von Seuchen sowie einer Verbesserung der Ernährungssituation. Das führte zu einem starken Bevölkerungszuwachs. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts beginnt eine allmähliche Reduktion der Fertilität, die mit Beginn des 20. Jahrhunderts in einen drastischen Rückgang übergeht. Als Folge dessen verlangsamt sich das Bevölkerungswachstum. Die 1950er läuten die (3) post-transformative Phase ein, in deren Verlauf sich beide Raten parallel auf einem niedrigen Niveau einpendeln. Der Bevölkerungsumsatz ist nunmehr gering und das natürliche Bevölkerungswachstum bewegt sich um den Wert Null. Der Bevölkerungsbestand in Europa hat sich im Gesamtverlauf dieser demographischen Umprägung in etwa verfünffacht: Zwischen 1750 und 2000 ist er von 163 auf 730 Millionen angestiegen (Birg 2004). Soweit handelt es sich um die Beschreibung eines Prozesses, der von den Vertretern des demographischen Konzeptes nicht selten als ein evolutionäres Gesetz gehandelt wird. Während die Gründe des Rückgangs der Sterblichkeit evident sind, ist eine Erklärung der rückläufigen Geburtenrate nicht ohne weiteres zu erbringen. Im Rahmen dieses Konzeptes werden verschiedene Erklärungsversuche unternommen, die meist auf eine Zusammenstellung sozialhistorischer Begleitumstände beschränkt bleiben. Aus funktionalistisch ausgerichteter Perspektive wird mit der Veränderung gesellschaftlicher Normen der Familiengröße argumentiert, die auf die Wiederherstellung eines stabilen Bevölkerungsumfangs abzielen. Die Absicht der Menschen, dergestalt in gesamtgesellschaftliche Prozesse einzugreifen, ist jedoch höchst fraglich. Selbst wenn das ihr Ziel wäre, so bliebe doch der Mechanismus offen, über den sich bestehende Normen zu diesem Zwecke ändern. Die modernisierungstheoretische Interpretation (u. a.
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Notestein 1945) behauptet einen Kausalzusammenhang zwischen der Modernisierung und der Anwendung von Verhütungsmitteln. Aber erneut bleibt die Wirkungsweise der während der Modernisierung typischerweise ablaufenden Prozesse wie Urbanisierung, Individualisierung, steigende Erwartungshaltung der Menschen und zunehmendes Bildungsniveau verborgen, weshalb auch deren behaupteter negativer Einfluss auf die Fertilität nicht erklärt wird. Eine detaillierte Verknüpfung der Fertilität mit der gesellschaftlichen Sozial- und Wirtschaftsstruktur liefert Mackenroth, wobei den im Sozialisationsprozess angeeigneten generativen Normen zentrale Bedeutung zukommt. In seiner ‘Bevölkerungslehre’ (1953, 1955) gesteht er zunächst der Bevölkerungsentwicklung zu, Resultat menschlichen Handelns zu sein, im Weiteren aber werden und sind diese „individualpsychologischen Determinanten (...) sozial überformt“ (Mackenroth 1955: 70). Da Letzteres dominiert, liegt auch der Fokus seiner Argumentation auf der Makroebene. Sein zentrales Konzept der Bevölkerungsweise definiert er als „das geschichtliche Zusammenspiel generativer Verhaltensweisen einer Menschengruppe“ (Mackenroth 1953: 110), wobei die drei Elemente Heiratsstruktur, Fruchtbarkeit und Sterblichkeit sinnvoll aufeinander ausgerichtet sind. Mackenroth behauptet zwei Bevölkerungsweisen, die jeweils mit der Wirtschaftsweise verbunden sind. Während des demographischen Wandels vollzieht sich der Übergang von der vorindustriellen zur industriellen Bevölkerungsweise. Die vorindustrielle (oder auch alte) Bevölkerungsweise zeichnet sich durch hohe Fruchtbarkeit und Sterblichkeit aus, wobei das entscheidende Regulativ der Fertilität die Heirat ist. Die Wirkung ständischer Vorschriften zeigt sich einerseits in der Sanktionierung außerehelicher Geburten und andererseits darin, dass die Familiengründung an eine Vollstelle2 gebunden ist. In der industriellen (bzw. neuen) Bevölkerungsweise kommt es auf Grund der kapitalintensiven Produktion zu einer Entkoppelung von Familiengründung und individueller Wirtschaftskraft. Heiratsnormen beschränken nicht länger das generative Verhalten. An deren Stelle tritt die Fruchtbarkeit selbst, wobei diesbezüglich eine Rationalisierung einsetzt. Es entsteht Raum für individuelle Entscheidungen, der allerdings sehr stark durch eine schichtspezifische Aufwandsnorm für Kinder beeinflusst wird. Eine große Kinderzahl erscheint als eher hinderlich, v. a. (beim Aufstieg) in höhere(n) Schichten, woraus das Bedürfnis nach geplanter Geburtenbeschränkung folgt. Die Geburtenrate geht als Resultat einer wachsenden Rationalisierung zurück. Mit dieser Gleichsetzung übernimmt Mackenroth eine häufig von den Modernisierungstheoretikern implizit vertretene Annahme, die insofern problematisch ist, als hohe Kinderzahlen per se als irratio2 Eine Vollstelle ist eine begrenzt verfügbare, sozio-ökonomische Position, die es erlaubt, den Lebensunterhalt einer Familien zu sichern. Damit wird die Familiengründung durch die Wirtschaftskraft beschränkt.
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nal eingestuft werden. Davon abgesehen, erlaubt aber die Argumentation von Mackenroth eine nach sozialen Schichten differenzierte Betrachtung des demographischen Wandels. Neben der vielfältigen Kritik an den theoretischen Darlegungen im Rahmen des Konzeptes des demographischen Wandels, die vornehmlich am gescheiterten Erklärungsanspruch ansetzt (u. a. Huinink 2000; Loy 1981), lassen sich zudem empirische Gegenbelege und Abweichungen von dem beschriebenen Phasenmodell finden, die insbesondere im Rahmen des Princeton European Fertility Project aufgedeckt wurden (u. a. Cleland & Hobcraft 1985; Coale 1973; Coale & Watkins 1986; Knodel & van de Walle 1979; Lesthaeghe 1983).3 Ferner zeigt eine detaillierte Betrachtung der demographischen Parameter in den Industrienationen der letzten Jahrzehnte, dass die behauptete Stagnation der Fertilität um das Reproduktionsniveau nicht eingetreten ist. In Deutschland wird der Baby-Boom der 1960er Jahre von einem erneuten Rückgang der Geburtenrate abgelöst. Diese Entwicklung zeichnet sich mit einiger zeitlicher Verzögerung, ausgehend von den west- und nordeuropäischen Ländern, auch für den Rest Europas ab. Insbesondere für ost- und südeuropäische Länder wurde die Bezeichnung lowest-low Fertilität geprägt, die für Kinderzahlen von 1.3 und weniger pro Frau steht (Kohler et al. 2001). Langfristig ergibt sich hieraus eine schrumpfende Bevölkerung, womit der vom demographischen Übergang vorhergesagte, stabile Endzustand empirisch widerlegt wäre. Der zweite demographische Übergang. Diese Entwicklung wird zum Teil als eine Fortsetzung, zum Teil aber auch als ein weiteres Merkmal des klassischen demographischen Wandels interpretiert. In einer dritten Variante entstand die Idee des zweiten demographischen Übergangs (u. a. Lesthaeghe 1983; Lesthaeghe & Surkyn 2004; van de Kaa 1987), der sich qualitativ vom ersten unterscheidet: “The SDT [second demographic transition] differs significantly from the FDT [first demographic transition] both in terms of demographic predictions as well as in terms of the underlying motivations“ (Lesthaeghe & Surkyn 2004: 20). Zwei zentrale demographische Merkmale, die diesen neuartigen Wandel ausmachen und ihn vom klassischen Übergang unterscheiden sind (i) weniger stark verpflichtende und unbeständigere Partnerschaften, u. a. ausgedrückt über eine sinkende Heiratsneigung und steigende Scheidungsraten sowie 3 Ferner mahnt Schwarz (1991) bei der Interpretation der üblicherweise zur Beschreibung herangezogenen rohen Geburten- und Sterbeziffern zur Vorsicht: Da diese Raten sehr stark von der Altersstruktur der Bevölkerung abhängig sind, können Entwicklungen nicht ohne weiteres als Ausdruck von Verhaltensänderungen gewertet werden. Unter anderem mit Verweis auf das Gesetz der demographischen Trägheit formuliert er, „dass es – wegen der Länge des menschlichen Lebens – viele Jahre dauert, bis sich Veränderungen der Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit im Altersaufbau und in den Wachstumsraten einer Bevölkerung so niedergeschlagen haben, wie es dem „wahren Niveau“ entspricht“ (ebd. 1991: 3).
2 Der demographische Wandel in der Türkei
23
(ii) ein verzögerter und mit geringerer Wahrscheinlichkeit stattfindender Übergang in die Elternschaft. Anstelle des Rückgangs hoher Paritäten tritt nun das Phänomen der dauerhaften Kinderlosigkeit als ein zentrales Charakteristikum der jüngsten demographischen Entwicklungen innerhalb der europäischen Länder auf. Diese Verhaltensänderungen manifestieren sich auf aggregierter Ebene in Geburtenzahlen unterhalb des Reproduktionsniveaus. Neben den demographischen Parametern werden erneut (iii) prägnante gesellschaftliche Kennzeichen hinzugezogen: Entsprechend der anfänglichen Argumentation von van de Kaa (1987) sind gewandelte Einstellungen und Normen in Bezug auf Partnerschaft, Kinder und Familie für die demographischen Veränderungen verantwortlich. Das geht einher mit einer Verschiebung der Bedürfnisbefriedigung: Weil fundamentale Bestrebungen nach Einkommen, Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit weitgehend erfüllt sind, werden nunmehr sog. higher-order means wie individuelle Autonomie, Selbstbestimmung und -verwirklichung relevant. Es findet sich der Versuch einer Verzahnung kultureller und ökonomischer Aspekte zur Verhaltenserklärung, dem grundsätzlich beizupflichten ist. Van de Kaa (1987: 6) formuliert hierzu: „Beyond the simple calculation of economic utilities, social and cultural changes plays a role in people’s move away from marriage and parenthood in postindustrial societies“. Unbeantwortet bleibt aber erneut die Frage nach den konkreten (Kausal-) Zusammenhängen, die einerseits von den veränderten Bedürfnisstrukturen zu veränderten Wertvorstellungen führen und andererseits gesellschaftliche Normen mit demographischen Parametern verbinden. Besonders Lesthaeghe (1983) präsentiert eine stark normativ-orientierte Argumentation, wonach die Verbreitung eines säkularen Individualismus zu einer Reduktion der Fertilität führt. Insgesamt gehen derlei Erklärungsversuche in ihrer Modellierung nicht über die des ersten demographischen Wandels hinaus: Das Befolgen dominierender Normen steht im Vordergrund. Wie und warum sich allerdings diese Normen im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung verändern, bleibt unklar. Variationen der Kinderzahl innerhalb eines gesamt-gesellschaftlichen Kontextes werden nicht ausreichend berücksichtigt und wiederum handelt es sich um eine ausschließlich retrospektive Betrachtung. Sie bleibt ohne prognostische Funktion, wie beispielsweise zur Beantwortung der Frage, auf welches Niveau die Fertilität in Zukunft absinken wird. Was bleibt ist zumindest ein komplexes Raster, an Hand dessen die jeweilige Position verschiedene Länder bezüglich ihres Fortschreitens im demographischen Übergang bestimmt werden kann. In eben dieser Funktion soll das Konzept im Rahmen dieses Kapitels Verwendung finden, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, wie die Türkei diesbezüglich einzustufen ist. Um das Fazit der folgenden Ausführungen vorweg zu nehmen: Die Türkei steht derzeit vor dem Abschluss des ersten demographischen Wan-
24
2 Der demographische Wandel in der Türkei
dels. Insbesondere die Fertilität ist in den letzten Jahrzehnten dramatisch zurückgegangen, allerdings ohne dass es bisher einen überzeugenden Anhaltspunkt dafür gäbe, dass sie unter das Reproduktionsniveau sinkt und/ oder sich ein substantieller Teil der Bevölkerung dauerhaft gegen die Geburt von Nachkommen entscheidet. 2.2 Der demographische Übergang in der Türkei Die Türkei hat seit ihrer Republikgründung 1923 einen enormen Industrialisierungsschub erfahren. Es soll an Hand von makrostrukturellen Maßen sowie Individualdaten belegt werden, dass dieser Industrialisierungsprozess tatsächlich von einem Rückgang der Sterblichkeit sowie der Geburtenrate begleitet wurde. Gemäß dem dargelegten Ansatz wird es sich hierbei ausschließlich um eine Beschreibung der bevölkerungsbezogenen Prozesse handeln. Weder kann damit die stattgefundene Entwicklung erklärt werden, noch ist die Formulierung von Hypothesen zur zukünftigen Entwicklung möglich. Die Positionsbestimmung der Türkei erweist sich als außerordentlich gut realisierbar, da auf ein umfassendes Dokumentationssystem zurückgegriffen werden kann. Zunächst einmal liegen zahlreiche Aggregatdaten der amtlichen Statistik vor, da von Rechts wegen sowohl Geburten als auch Sterbefälle, ebenso wie Heiraten und Scheidungen erfasst werden. Daneben gibt es eine Fülle von Individualdaten: Seit 1935 werden im fünf Jahres Rhythmus landesweite Bevölkerungszählungen durchgeführt, die durch nationale Surveys ergänzt werden. Der erste landesweite Survey wurde 1963 vom Gesundheitsministerium realisiert und seit 1968 hat das Hacettepe University Institute of Population Studies (Ankara) neun weitere nationale Surveys durchgeführt, von denen drei für demographische Analysen zur Verfügung stehen: Neben dem Turkish Fertility Survey von 1978 (Hacettepe Institute of Population Studies 1978) werden die beiden Demographic and Health Surveys von 1993 (Ministry of Health 1994) und 1998 herangezogen (Hacettepe University Institute of Population Studies & Macro International Inc. 1999). Der jüngste Survey wurde im Dezember 2003 abgeschlossen. Auch wenn diese Daten für eigene Berechnungen bisher nicht zugänglich sind, werden erste Hochrechnungen des Hacettepe University Institute of Population Studies in die Darstellung aufgenommen.
2 Der demographische Wandel in der Türkei
25
2.2.1 Aggregatmaße der amtlichen Statistik Fertilität, Mortalität und Bevölkerungsentwicklung Seit Beginn des 20. Jahrhunderts lassen sich substantielle Veränderungen der demographischen Struktur verfolgen (vgl. zusammenfassende Darstellung in Tab. 1), die einerseits, wie von der These des klassischen demographischen Übergangs behauptet, von einer fortschreitenden Industrialisierung begleitet wurden, anderseits sehr stark von staatlicher Seite forciert und gelenkt wurden. Eine Betrachtung von Shorter (2000) belegt eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr unausgewogene Bevölkerungszusammensetzung als Folge des 1.Weltkrieges, der anschließenden Bürgerkriege sowie der hohen Säuglingsund Kindersterblichkeit: „Turkey was still a long way from having a population adequately balanced by gender, age composition, and marital relationships within families, signified by proportions widowed, unmarried, and married” (ebd.: 107). Der erste Census von 1927 zählte 14 Millionen Einwohner (vgl. Tab. 1). Bevölkerungszuwachs war ein deklariertes Ziel des neu gegründeten Staates: „A 1935 headline in Yeni Adam proclaimed an ambitious goal for the nation: 50 milyonluk Türkiye [A Turkey of 50 million]” (Shorter 2000: 105). Die pro-natalistische Haltung der Regierung deckte sich mit den privaten Wünschen der Bevölkerung, die mit fehlenden, v. a. männlichen Arbeitskräften zu kämpfen hatte: 1935 waren 23 Prozent der Frauen ab 20 Jahren verwitwet (ebd.: 107). Die Politik verabschiedete Gesetze, die Abtreibung (Penal Code von 1926) und Sterilisation (Penal Code von 1936) verboten. Mit dem Law of Public Health von 1930 wurde das Ziel der Regierung, die Geburten zu erhöhen und die Mortalität zu verringern, gesetzlich verankert. In diesem Zusammenhang wurden der Import, die Produktion und der Verkauf von Kontrazeptiva verboten. Zwischen 1923 und 1955 setzte der erwünschte Rückgang der Sterblichkeit ein (Ünalan 2005: 181). Die Lebenserwartung stieg von 51 Jahren für Männer bzw. 50 für Frauen (1935/36) auf 60 bzw. 62 Jahre (1955) (Abadan-Unat 1993: 17); parallel dazu nahm die Sterberate ab und betrug im Jahr 1958 12 (State Institute of Statistics 2001: 36); die Gesamtfruchtbarkeitsrate (TFR) ereichte 1950 ein Niveau von knapp 7. In der Folge verdoppelte sich in diesem Zeitraum die Bevölkerung beinahe: 1955 wurden 24 Millionen Einwohner gezählt. In den darauffolgenden 30 Jahren setzte ein massiver Geburtenrückgang ein: Die TFR halbierte sich beinahe und betrug 1985 noch 3.6. Begleitet wurde dieser Rückgang von einem Anstieg des Erstgebäralters, das sich innerhalb von nur 15 Jahren von 20 (1970) auf 22 Jahre (1985) erhöhte (Council of Europe 2005: 81). Parallel dazu setzte sich die rückläufige Sterblichkeit fort: Die Sterberate erreichte einen Wert von 6 im Jahr 1985 (State Institute of Statistics
26
2 Der demographische Wandel in der Türkei
2001: 36), auch die Kindersterblichkeit sank auf 93 (1985). Es kam zu einer erneuten Verdoppelung des Bevölkerungsumfangs auf nunmehr 51 Millionen im Jahr 1985. Aktuelle Daten weisen bereits 71 Millionen für das Jahr 2003 aus. Allerdings ist seit Mitte der 1980er Jahre ein Rückgang des Bevölkerungswachstums zu beobachten.4 Prognosen sagen für den Zeitraum 2020 bis 2025 einen Bevölkerungsumfang von 88 Millionen voraus, sofern sich die Fertilität zwischen 2000 und 2005 um das Reproduktionsniveau einpendeln wird (State Institute of Statitics 2004: 74). Erst spät hatte die Regierung erkannt, dass die sinkende Mortalität in Verbindung mit der hohen Fertilität eine massive Bevölkerungsexplosion ausgelöst hat. Seit 1965 wird mittels staatlicher Intervention versucht, diese eigendynamische Entwicklung zu mildern (Tezcan 2004): Einerseits wurde direkt am Geburtenverhalten angesetzt, indem nun verschiedene Programme zur Verbreitung und Anwendung von Verhütungsmethoden entstanden (Population Planning Law 1965) und das Verbot der Abtreibung aufgehoben wurde (1983). Nationale Familienplanungskampagnen wurden ins Leben gerufen, was nicht zuletzt auch der Gesundheitsvorsorge von Schwangeren bzw. Müttern und ihren Kindern zu Gute kam: In den Krankenhäusern entstanden sog. Mother & Childcare Centers sowie Family Planning Training Centers. Mit dem South-EastAnatolian Projekt wird bis heute versucht, insbesondere die Regionen zu erreichen, in denen die Fertilität am höchsten und die Kenntnis moderner Verhütungsmittel noch sehr gering ist. Auch wenn jüngste Daten auf eine weite Verbreitung von Verhütungsmitteln verweisen – 71% der verheirateten Frauen praktizieren Geburtenkontrolle, 43% greifen hierbei auf moderne Methoden zurück (Ünalan, Koc & Tezcan 2004: 63) – birgt deren Anwendung noch enorme Schwierigkeiten und insbesondere bei den Frauen viel Unsicherheit und Ängste in sich, wie eine in den 1990ern in Istanbul durchgeführte Studie von Shorter & Angin (1996) zeigt: Nicht selten kommt es zu Fehlanwendungen von Verhütungsmitteln auf Grund unzureichender Kenntnis, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass viele Frauen bzw. Paare keinen Arzt konsultieren. Auf der anderen Seite unterstützt die Regierung sowohl temporäre als auch endgültige Emigration. Die Migration wurde spätestens mit der in den 1960ern einsetzenden Arbeitsmigration zu einem bevölkerungsrelevanten Parameter. Heute leben ca. drei Millionen Türken im Ausland (Ünalan 2005: 182). Neben der internationalen Migration ist die Türkei von starken nationalen Migrationsströmen geprägt. Besonders die Industrialisierung, die den historisch ungleichen Entwicklungsstand der einzelnen Regionen weiterhin verstärkt hat, löste Migrationsschübe von den ländlichen Gebieten in die Städte aus und damit 4
Das Bevölkerungswachstum erreichte in den 1960er Jahren mit 2.9 seinen Höhepunkt und liegt heute bei 1.3 (vgl. Tab. 1).
2 Der demographische Wandel in der Türkei
27
tendenziell vom unterentwickelten Osten des Landes in den industrialisierten Westen. Dieser Prozess lässt sich an dem erheblich gesunkenen Anteil der ländlichen Bevölkerung illustrieren, auch wenn freilich die Urbanisierung des Landes nicht ausschließlich auf die Landflucht zurückzuführen ist: 1927 lebten 76% der Bevölkerung auf dem Land, im Jahr 2000 waren es nur noch 35% (State Institute of Statistics 2003: 45f.). Tabelle 1: Die demographische Lage zwischen 1927 & 2005 Jahr 1927
Bev. in Mill.
Bev.wachstum
Altersmedian
Lebenserw.
IMRa)
CMRb)
Erstheiratsalter Regc)
TFR
Surd)
13,6 1) 6,3 6)
1930 1935
16,1 1)
2,1 1)
21 ²)
1940
17,8 1)
2,0 1)
21 2)
35 3)
1945
18,8 1)
1,1 1)
20 2)
31 3)
1950
20,9 1)
2,2 1)
20 2)
1955
24,1
1)
1)
2)
1960
27,8 1)
2,9 1)
20 2)
48 3)
198 5)
7,7 6)
15 7)
6,2 5)
1965
31,4 1)
2,5 1)
19 2)
52 3)
178 5)
7,3 6)
16 7)
5,8 5)
1970
35,6 1)
2,5 1)
19 2)
56 3)
145 5)
7,1 6)
20 5)
17 7)
5,7 5)
1975
40,3 1)
2,5 1)
19 2)
59 3)
122 5)
6,8 6)
20 5)
18 7)
5,1 5)
1980
44,7 1)
2,1 1)
20 2)
61 4)
93 5)
8,3 6)
21 5)
19 7)
4,4 5)
1985
50,7 1)
2,5 1)
21 2)
93 5)
7,3 6)
22 5)
19 7)
3,6 5)
1990
56,5 1)
2,2 1)
22 2)
52 5)
8,2 6)
22 5)
20 7)
3,0 5)
1995
61,5 2)
1,8 2)
48 5)
7,6 6)
22 5)
20 7)
2,8 5)
2000
67,8 1)
1,7 1)
68 1)
42 5)
6,8 1)
23 5)
2005
9)
9)
9)
9)
72,1
2,8
1,3
20
25 2)
5,5 6) 7,9 6)
6,7 3)
274 3)
9,2 6)
6,6 3)
38 3)
255 3)
9,5 6)
6,9 3)
3)
3)
6)
6,5 3)
44
65 4)
71
224
24
9,5
6,8
1) e)
2,6 1) 20
8) e)
2,2 9)
Quelle: 1) State Institute of Statistics 2004: 27, 73, 59. 2) State Institute of Statistics 2003: 45, 47. 3) Shorter & Macura 1982: 32, 95, 64, 85, Schätzungen. 4) The World Bank 2003: 114. 5) Council of Europe 2005: 60, 76, 99. 6) State Institute of Statistics 2001: 28. 7) Eigene Berechnungen TDHS 1998. 8) Ergöcmen & Eryut 2004: 92. 9 Turkish Statistical Institute 2006: 79. Anmerkung: a) Kindersterblichkeit: Sterbefälle pro 1000 Lebengeburten, b) Eheschließungen pro 1000 Einwohner, c) Registerdaten, d) Surveydaten, e) bezogen auf 2003.
28
2 Der demographische Wandel in der Türkei
Eine Folge des rasanten Bevölkerungszuwachses ist eine sehr junge Bevölkerung, wobei sich bereits seit einigen Jahren ein Wandel in Richtung demographischer Alterung abzeichnet: Lag der Altersmedian 1980 noch bei 20 Jahren, so stieg er in den darauffolgenden 20 Jahren auf 25 Jahre an (Tab. 1, Spalte 3). Setzt sich in Zukunft die Abnahme der Geburten- und Sterberaten weiterhin fort, wird es zu einem merklichen Anstieg des Anteils der alten Bevölkerung kommen. Das wiederum impliziert einen ungünstigen Abhängigkeitsquotienten: Während sich dieser in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verbessert hat und im Jahr 2000 bei 555 lag (State Institute of Statistics 2003: 48), ist langfristig dessen Erhöhung zu erwarten. Heirat und Scheidung Eine ergänzende Betrachtung des Heiratsverhaltens ist insofern sinnvoll, als die Geburtentätigkeit in der Türkei stark an die Ehe gebunden ist. Die in Tabelle 1 abgebildeten, heiratsbezogenen Maßzahlen deuten übereinstimmend auf eine hohe Heiratsneigung hin: Die amtliche Statistik weist für das Jahr 2000 ein Erstheiratsalter für Frauen von 23 Jahren aus (Spalte 7), die Heiratsrate beläuft sich auf 7 (Spalte 6). Knapp zwei Drittel (60%) der Bevölkerung ab 12 Jahren ist verheiratet (2000; State Institute of Statistics 2004: 27, 39) und nichteheliche Lebensgemeinschaften gibt es kaum (Ataca, Kagitcibasi & Diri 2005: 98). Die Zeitreihen belegen, dass die Heiratstätigkeit Mitte des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreicht hat und von da an leicht, jedoch kontinuierlich zurückgeht. Parallel dazu zeigt sich ein moderater Anstieg des Erstheiratsalters (Spalten 7 & 8). Anzeichen für die Entstehung einer quantitativ bedeutsamen Gruppe lebenslanger Singles finden sich aber nicht: 1970 waren 99% der Frauen am Ende der reproduktiven Phase (45-49 Jährige) verheiratet (State Institute of Statistics 1977: 88f., eigene Berechnung), im Jahr 2000 betrug der entsprechende Anteil 98% (State Institute of Statistics 2003: 156, eigene Berechnung). Allerdings ist bei einer Interpretation der Registerdaten Vorsicht geboten. Zwar werden bevölkerungsbezogene Ereignisse de jure registriert, de facto ist jedoch mit systematischen Verzerrungen zu rechnen, da davon auszugehen ist, dass derlei Ereignisse dort unterschätzt werden, wo sie überwiegend im Privatbereich stattfinden oder sich der Zugang zur nächsten kommunalen Meldestelle nicht unmittelbar gegeben ist. Beide Umstände fallen in der Regel zusammen: Insbesondere für ländlich-traditionelle und abgelegene Regionen ergibt sich eine Unterschätzung der natürlichen Bevölkerungsbewegung. Am stärksten unter5
Das bedeutet, dass 55 Personen bis 14 sowie ab 65 Jahren, 100 Personen im Erwerbsalter gegenüberstehen.
2 Der demographische Wandel in der Türkei
29
liegt die Heiratsstatistik derartigen Verzerrungen: Mit der Übernahme des Schweizerischen Zivilrechts im Jahr 1926, das bis dahin geltende religiöse Gesetze ersetzt hat, wurde einerseits die standesamtliche Ehe als die einzig legale Form der Eheschließung bestimmt und andererseits das Mindestalter bei der Heirat auf 18 Jahre beim Mann bzw. 17 Jahre bei der Frau festgesetzt. Trotz staatlicher Nichtanerkennung werden aber nach wie vor religiöse Trauungen vollzogen, die als private Verträge zwischen den beteiligten Parteien zu verstehen sind. Von der amtlichen Statistik werden sie nicht erfasst: Gesetzlich sind sie somit nicht bindend, de facto aber sehr wohl, was nicht zuletzt für den Übergang in die Mutterschaft entscheidend ist. Sofern die religiöse Zeremonie dauerhaft die einzige Form der Eheschließung bleibt, resultiert hieraus eine Unterschätzung der Heiratsraten. Das ist jedoch eher selten der Fall; üblich hingegen ist, dass die standesamtliche Heirat nachträglich, mit zum Teil deutlicher Zeitverzögerung, vollzogen wird. Eine vorherige religiöse Trauung erfolgt nicht selten mit der Absicht, das gesetzlich geforderte Mindestheiratsalter zu umgehen. Für das Erstheiratsalter bedeutet das eine Überschätzung. Zumindest für die jüngste Zeit ist mit einer Verbesserung der Datenlage zu rechnen, da sich einerseits das Netz der Datenerfassung verfeinert hat, andererseits traditionelle Praktiken an Bedeutung verlieren. Die dennoch bestehende Diskrepanz wird eindrucksvoll verdeutlicht, wenn vergleichend zum Erstheiratsalter, basierend auf der amtlichen Statistik (Tab. 1, Spalte 7), das Erstheiratsalter hinzugezogen wird, das unter Verwendung von Umfragedaten ermittelt wurde (Tab. 1, Spalte 8). Die 1970 feststellbare Kluft von drei Jahren hat sich zwar über die Zeit hinweg verringert, wurde jedoch nicht vollständig geschlossen: Die offizielle Angabe von 22 Jahren im Jahr 1995 sollte grundsätzlich als Obergrenze verstanden werden, während das um zwei Jahre jüngere Erstheiratsalter von 20 Jahren als verlässlicher gilt, da die Surveydaten religiöse Heiraten stärker berücksichtigen. Insgesamt lässt sich also eine stabile und stark ausgeprägte Heiratsneigung nachweisen, womit ein zentrales Kriterium des zweiten demographischen Wandels für die Türkei soweit nicht bestätigt werden kann. Die gleich bleibend hohe, eheliche Stabilität reiht sich in diesen Befund ein. Die Türkei zeichnet sich durch eine durchweg sehr geringe Scheidungsrate aus: Im Jahr 2000 lag sie bei 0.5 (Council of Europe 2005: 67) und der Anteil der geschiedenen Frauen belief sich im selben Jahr auf 1.1% (State Institute of Statistics 2004: 27, 39). Im Osmanischen Reich war es dem Ehemann erlaubt seine Frau zu verstoßen – ein Brauchtum, das mit dem neuen Grundgesetz verboten wurde. Nach dem heutigen Scheidungsrecht kann eine Ehe nur vor einem Gericht, auf Bitte eines Ehepartners hin und unter Vorlage eines gesetzlich anerkannten Scheidungsgrundes beendet werden (Magnarella 1981: 127). Unfruchtbarkeit fällt nicht darunter, gleichwohl waren 44% der im Jahr 2003 ge-
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2 Der demographische Wandel in der Türkei
schiedenen Ehen kinderlos (State Institute of Statistics 2004: 65). Das geht konform mit der Bedeutung der Eheschließung für die Produktion von Nachkommen, weshalb es auch nahe liegt, dass ein Großteil v. a. der geschiedenen Männer schnell in eine neue Ehe eintritt. Über Wiederverheiratungsquoten ist jedoch wenig bekannt; zumindest gestaltet sich dieser Prozess für Frauen schwerer. Zwischenbilanz Der klassische demographische Übergang kann an Hand der präsentierten Daten überaus deutlich nachgezeichnet werden: Die Sterberaten begannen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zu sinken und nach einem zwischenzeitlichen, staatlich geförderten Anstieg der Fertilität, begann auch diese zu fallen. Da die Heirat nach wie vor sehr hohen Zuspruch genießt, stellt sich der Fertilitätsrückgang im Wesentlichen als ein Rückgang der ehelichen Geburtentätigkeit dar. Es wurde eine Bevölkerungsexplosion ausgelöst, deren Ausmaß erst in jüngster Zeit durch ein sich verlangsamendes Bevölkerungswachstum gebremst wird. Soweit ist festzustellen, dass sich die Türkei in der Abschlussphase des klassischen Wandels befindet. Sowohl Fertilität als auch Heirat bieten bisher keine Hinweise für einen beginnenden zweiten Wandel: Kinderlosigkeit stellt ebenso wenig eine Lebensoption dar wie dauerhaftes Ledigsein, auch wenn sich die jeweiligen Übergänge im individuellen Lebensverlauf etwas nach hinten verlagert haben. Wie bereits angesprochen, ergeben sich für die Registerdaten zum Teil Mängel infolge einer unvollständigen bzw. fehlerhaften Informationslage. Obendrein ist die Mehrzahl der aggregierten Indizes nur bedingt aussagekräftig, einerseits weil die üblicherweise ausgewiesenen Raten stark von der Bevölkerungszusammensetzung abhängen, andererseits weil durch die Aggregation tatsächliche Entwicklungen auf der Individualebene verdeckt werden können bzw. unterschiedliche Effekte vermischt werden. Um ein genaueres Bild der Heirats- und Fertilitätsentwicklung zu erhalten, müssen Perioden-, Kohortenund Alterseffekte getrennt werden (vgl. u. a. Birg & Koch 1987: 37ff.). Die präsentierte Gesamtfruchtbarkeitsrate (TFR) als die Summe aller altersspezifischen Fertilitätsraten, schätzt die Anzahl der Kinder pro Frau einer hypothetischen Kohorte und reagiert v. a. auf Periodeneffekte. Deshalb kann sie zwar einerseits sozialen Wandel gut abbilden. Andererseits birgt sie angesichts ihrer Sensibilität gegenüber Veränderungen im (Erst-) Gebäralter die Gefahr von Fehlschlüssen mit Blick auf Veränderungen des generativen Verhaltens unterschiedlicher Geburtskohorten in sich. So kann an Hand der TFR, der für die Türkei aufgezeigte Geburtenrückgang insofern überschätzt sein, als er zum Teil
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lediglich einen Aufschub von Geburten in höhere Lebensalter abbildet. Gerade gesellschaftliche Veränderungen werden sich zunächst auf der zeitlichen Dimension des Familiengründungsverhaltens niederschlagen. Sofern man primär an der Entwicklung der endgültig realisierten Kinderzahlen interessiert ist, stellt die TFR nicht das optimale Maß dar, auch wenn sich freilich ein Anstieg des (Erst-) Gebäralters grundsätzlich negativ auf das Quantum auswirkt, da sich dadurch der potentiell zur Verfügung stehende Zeitraum für die Geburt weiterer Kindern reduziert. Besser geeignet ist die abgeschlossene Fertilitätsrate (CFR): Sie stellt ein kohortenspezifisches Maß dar, das im historischen Ablauf typischerweise geringere Veränderungen nachweist, als die TFR vermuten lässt. Das bestätigt sich auch für die Türkei: Beispielsweise sank zwischen den Geburtsjahrgängen 1945 und 1960 die CFR von 4.5 auf 3.8 (Council of Europe 2001). Zwar lassen sich keine TFRs konkreter Kalenderjahre gegenüberstellen, allerdings weist jeder beliebige Vergleich der verfügbaren TFRs im 15-Jahres Schritt ab dem Kalenderjahr 19606 auf einen stärkeren Rückgang aus (Differenzen zwischen 1.0 und 1.9) als ihn die CFR belegt (Differenz= 0.7). Offensichtlicher Nachteil dieses Maßes besteht darin, dass es immer erst für Frauenjahrgänge verfügbar ist, die ihre reproduktive Phase abgeschlossen haben, weshalb jüngste Trends nicht beobachtbar sind. Die folgende ereignisanalytische Betrachtung des Heirats- und Geburtenverhaltens verschiedener Geburtskohorten, basierend auf den vorliegenden Umfragedaten, soll diese Lücke schließen, als selbst für nicht abgeschlossene Jahrgänge, basierend auf den Informationen für den vorliegenden Beobachtungszeitraum, Schätzungen des zukünftigen Verlaufs erfolgen. Zudem kann der Zeitpunkt eines Ereignisses (Timing) vom Risiko seines Eintretens getrennt werden. Die Darstellung erfolgt erneut mit dem Ziel, die Türkei hinsichtlich ihres demographischen Entwicklungsstandes zu positionieren und es stellt sich die Frage, ob diese zusätzlichen Befunde dazu veranlassen, den bisherigen Erkenntnisstand zu revidieren. 2.2.2 Kohortenspezifische Übergänge der Familienbildung 2.2.2.1
Methodische Vorbemerkungen
Das Verfahren der Ereignisdatenanalyse. Die landesweiten demographischen Surveys eignen sich grundsätzlich hervorragend für die Analyse von Familiengründungs- und Familienerweiterungsprozessen. Da sowohl Heirat als auch die Geburt von Kindern altersabhängige Ereignisse darstellen, führt der Einsatz 6
Per Definition der TFR ist davon auszugehen, dass sich das Verhalten des ältesten, für die CFR berichteten Geburtsjahrgangs von 1945, frühestens in der TFR von 1960 niederschlägt.
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2 Der demographische Wandel in der Türkei
statischer Analysemethoden typischerweise zu Verzerrungen: Personen bei denen das jeweilige Ereignis bis zum Befragungszeitpunkt (noch) nicht eingetreten ist, bleiben unberücksichtigt. Eheschließung und mit Einschränkung auch die Geburt, sind jedoch zeitlich unbegrenzt möglich, d. h. es können zukünftig (weitere) Kinder geboren werden (sofern das gebärfähige Alter noch nicht überschritten ist) bzw. unverheiratete Personen können zu noch unbekanntem Zeitpunkt eine Ehe schließen. Ereignisanalytische Methoden ermöglichen eine angemessene Behandlung einer solchen Rechtszensierung, indem rechtszensierte7 Fälle in die Schätzungen einbezogen werden. Sie bieten die Möglichkeit einer dynamischen Betrachtung des Lebens, die es gleichzeitig erlaubt, der Frage nachzugehen, ob sich typische (hier: Familienbildungs-) Verläufe über die Zeit hinweg gewandelt haben. Der Einsatz dieser Methode zur historischen Analyse der Verheiratung und Familiengründung in der Türkei erfolgt in zwei Schritten. Zunächst werden kohortenspezifische Überlebenskurven ausgewiesen, die einen ersten Einblick in die historische Entwicklung der Verläufe geben. In einem zweiten Schritt werden verschiedene Koeffizienten hinzugezogen, die konkretisieren sollen, ob und wie sich das Verhalten über die Zeit hinweg gewandelt hat. Hierfür stehen grundsätzlich verschiedene (semi-) parametrische Verfahren zur Verfügung. An Hand der Hazardrate, als die bedingte Übergangsrate, wird bei parametrischen Verfahren die Form des Zusammenhangs zwischen dem Übergang und der Zeit spezifiziert. Die mathematische Funktion (für eine Übersicht vgl. Diekmann & Mitter 1993: 30) richtet sich nach der typischen Verlaufsform, die im Idealfall bekannt ist – eine Orientierung an den Modellen der aggregierten Maße ist meistens hilfreich. Im Allgemeinen zeichnet sich für Paar- und Familienbildungsprozesse ein glockenförmiger Verlauf ab, d. h. diese Übergänge stellen sich als ein Diffusionsprozess dar. Zwei solcher Modelle sind das Sichelmodell und das log-logistische Modell. Sie unterscheiden sich in einem zentralen Punkt: Das Sichelmodell (Diekmann & Mitter 1984), welches Klein (1993: 297) zufolge den Risikoverlauf von Heirat und Geburt in Deutschland am besten abbildet, zeichnet sich durch die Abbildung dauerhafter Ereignislosigkeit aus, während das log-logistische Modell (Blossfeld et al. 1986; Diekmann & Mitter 1984) durch doppeltes Logarithmieren ein umgekehrtes U zeichnet und somit eine Überlebenswahrscheinlichkeit von Null unterstellt. Seine Hazardrate errechnet sich folgendermaßen: (1)
ab (at) b-1 h(t) = 1+ (at) b
7 Das Problem der Linkszensierung ergibt sich bei den in Betracht kommenden Surveys nicht, da Eheschließungen bzw. Geburtentätigkeit, die vor der Befragung stattgefunden haben, mittels retrospektiver Erhebungsmethoden erfasst worden sind.
2 Der demographische Wandel in der Türkei
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Zumindest für die Eheschließung sowie den Übergang zur Elternschaft in der Türkei ist die Frage der Überlebenswahrscheinlichkeit ungeklärt. Empfehlenswert ist es deshalb, die Modellierung der Übergänge offen zu lassen. Hierfür bietet sich die Cox-Regression an, die keine Annahmen über die Zeitabhängigkeit trifft, gleichwohl den Einfluss von Kovariaten über die Berechnung aussagefähiger Koeffizienten zur Beurteilung der Wirkungsrichtung und -stärke schätzt. Insbesondere mit Blick auf eine historisch-vergleichende Betrachtung, getrennt nach Geburtskohorten der Befragten, ist diese Möglichkeit höchst relevant. Allerdings ist die Cox-Regression mit zwei Nachteilen behaftet: Erstens setzt sie die Proportionalität der Hazardraten voraus. Demnach wird unterstellt, dass „der Quotient zweier individuell-spezifischer Hazardraten eine nur von den beiden Kovariatenkonfigurationen, nicht aber von der Zeit abhängige Konstante ist, dass also alle individual-spezifischen Hazardfunktionen zueinander proportional sind“ (Diekmann & Mitter 1984: 96). Mit Blick auf die in diesem Zusammenhang relevante Kovariate lässt sich das per Augenschein einfach überprüfen, indem die doppelt logarithmierten, kohortenspezifischen Überlebensfunktionen vergleichend betrachtet werden. Hierbei zeigt sich, dass sich die Kurvenverläufe über die gesamte Verweildauer eben nicht nur durch einen konstanten Faktor unterscheiden, weshalb sich dieses Verfahren ausschließt. Zweitens erlaubt die Cox-Regression keine Trennung von Timing- und Risikoeffekten – eine Unterscheidung, die im vorliegenden Zusammenhang jedoch von besonderem Interesse ist. Eine modifizierte Version des log-logistischen Modells ermöglicht eben diese Trennung bei der Schätzung ihrer Parameter: Brüderl & Diekmann (1994, 1995) führen hierzu in die log-logistische Funktion eine Proportionalitätskonstante (c) ein, mit der Folge, drei Parameter zur Beschreibung des Verlaufes separieren zu können: Intensitäts-, Verschiebungs- und Formeffekte. Die Hazardrate des generalisierten log-logistischen Modells stellt sich wie folgt dar (Brüderl & Diekmann 1995: 61; Rohwer & Pötter 2005): (2)
b (at) b-1 h(t) = c* 1+ (at) b
Die Größe b bildet den Formparameter, der in den Schätzungen deutlich über 1 liegen sollte, um einen glockenförmigen Verlauf der Übergangsrate zu bestätigen. Der c-Parameter bestimmt die Höhe der Übergangsrate, während der aParameter die Position ihres Maximums auf der Zeitachse festlegt. Mittels Schätzung beider Koeffizienten kann also untersucht werden, ob historische Wandlungen im Übergang zu Ehe und Familie vornehmlich auf Veränderungen der zeitlichen Einbettung im Lebenslauf zurückzuführen sind oder eher das
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2 Der demographische Wandel in der Türkei
Resultat einer gewandelten Neigung von Ehe- und Familienbildung darstellen. Dieser Vorzug soll für die Analyse der türkischen Umfragedaten genutzt werden, wenngleich damit auf einer defekten Verteilung aufgebaut wird, die spätestens ab der Geburt des zweiten Kindes auch für die Türkei nicht mehr realistisch ist.8 Die Berechnung erfolgt mittels der Statistiksoftware TDA (Rohwer & Pötter 2005). Pro Ereignisanalyse werden spezielle Altersmindestgrenzen der Befragten festgelegt, um die Verlässlichkeit der getrennten Schätzung von Risikound Timingeffekt zu erhöhen. So wird den von Brüderl & Diekmann (1995: 184) bezüglich einer ähnlichen Modellierung geäußerten Bedenken Rechnung getragen: “The period one observes the process should be sufficiently long. Otherwise it is not quaranteed that the Ȝ and k covariate effects of the immunity model can be separated”. Die Feststellung der Grenzen erfolgt ereignisspezifisch und orientiert sich an den mittleren Übergangszeiten: Unter Rückgriff auf die Daten des TDHS 1998 werden über alle befragten Frauen hinweg die Median-Werte für das Heiratsalter sowie das Alter bei Geburt von Kindern unterschiedlicher Ordnungsnummern berechnet. Diese Werte werden jeweils als minimale Altersgrenzen eingesetzt: Demnach bleiben Frauen, die zum Befragungszeitpunkt jünger sind als der jeweilige Median des betrachteten Ereignisses, bei den Schätzungen der Koeffizienten unberücksichtigt. Die Ergebnisdarstellung weist die standardisierten (exponentierten) Werte der geschätzten Koeffizienten und deren statistische Bedeutsamkeit sowohl im Timing (a-Term) als auch im Risiko (c-Term) aus (vgl. hierzu u. a. Brüderl & Diekmann 1994: 61). Sofern der Formparameter (b-Term) einen glockenförmigen Verlauf nachweist, wird dessen Veränderung in Abhängigkeit von der Kohortenzugehörigkeit nicht geprüft. Die Kohorten fließen als Dummy-Variablen in die Analysen ein, wobei jeweils die älteste verfügbare Kohorte die Referenzgruppe bildet: Diese Art der Operationalisierung dient der Aufdeckung möglicher nicht-stetiger Veränderungen über die Zeit hinweg. Datenbasis. Die ereignisanalytische Bearbeitung von Heirat und Geburt bedarf – insbesondere wenn die Ergebnisse Grundlage für Rückschlüsse auf die Gesamtgesellschaft sein sollen – einer Stichprobenziehung unabhängig von den 8
Zwar wurden bisher mindestens zwei Modelle erarbeitet, die die Vorteile des generalisierten loglogistischen Modells beibehalten und gleichzeitig eine von Null verschiedene endgültige Überlebenswahrscheinlichkeit berücksichtigen (Brüderl & Diekmann 1995; Huinink & Henz 1993). Es wird an dieser Stelle jedoch keine substantielle Veränderung bzw. Verbesserung der Schätzungen durch die Anwendung dieser Alternativmodelle erwartet, zumal Brüderl & Diekmann (1995: 166) festhalten: „If there are not many ‚immune’ cases in the population, it should be no problem for the generalized log-logistic model to produce a survivor function, which is far away from zero over the range of the observed durations“. Darüber hinaus sind diese Modelle bisher nur vereinzelt programmiert.
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jeweils zu untersuchenden Ereignissen, d. h. unabhängig von Familienstand und Kinderzahl. Diese Bedingung erfüllt lediglich der TDHS 1998: Hier sind sowohl (noch) ledige als auch verheiratete (inklusive geschiedener oder verwitweter) Frauen enthalten, ebenso wie Kinderlose und Mütter mit einem oder mehreren Kindern. Zwar weisen die beiden anderen verfügbaren Surveys keine Einschränkung hinsichtlich der Kinderzahl auf, jedoch schließen sie ledige Frauen aus. Einerseits führt das ganz offensichtlich zu verzerrten Schätzungen bezüglich des Heiratsrisikos, andererseits aber auch zu Fehlern bei der Analyse des Geburtenrisikos, da die Geburt von Kindern – wie schon erwähnt – in der Türkei außerordentlich stark an die Ehe gebunden ist: Dem Risiko von Mutterschaft unterliegen fast ausschließlich verheiratete Frauen. Würde sich die Analyse nun auf verheiratete Frauen beschränken, bliebe das generative Verhalten lediger Frauen unberücksichtigt. Die wiederum häufen sich in den jüngeren Kohorten und sind zumeist (noch) kinderlos. Einerseits würde damit speziell in diesen jungen Geburtskohorten ausschließlich das generative Verhalten einer äußerst selektiven Gruppe von Frauen in die Analysen eingehen – nämlich der bereits früh Verheirateten. Andererseits blieben Veränderungen im Heiratsverhalten unberücksichtigt, von denen jedoch anzunehmen ist, dass diese mit einer Veränderung des Geburtenverhaltens einhergehen. Während sich der Verheiratungsprozess angesichts dieser Datenlage nur unter Verwendung des TDHS 1998 angemessen untersuchen lässt, sollen für die Analyse des Geburtenverhaltens auch die anderen beiden Surveys nutzbar gemacht werden: Wie bereits berichtet, ergibt sich das Verzerrungspotential des TWFS 1978 als auch des TDHS 1993 aus deren Stichprobenanlage. Der hieraus resultierende Fehler soll reduziert werden, indem nur die Altersgruppen in die Analyse eingehen, in denen, laut amtlicher Statistik, ein Großteil der Frauen den Übergang in die Ehe bereits vollzogen hat. Die Grenze wird bei 95 Prozent festgelegt und die für diese Selektion benötigten Informationen werden den jeweils zeitnah durchgeführten, landesweiten Bevölkerungszählungen entnommen. Die Tabelle 2 bietet einen Überblick über das Ausschlussverfahren: Vertikal werden alle Befragten zunächst entsprechend ihres Geburtsjahrgangs aufgeteilt, horizontal nach dem jeweiligen Erhebungszeitpunkt (Surveyjahr). Aus der Kombination ergibt sich das Alter bei Befragung. In den Zellen findet sich neben der jeweiligen Altersgruppe auch die dazugehörige Fallzahl und sofern relevant, wird zusätzlich der jeweilige Anteil der noch Unverheirateten berichtet (in Klammern). Daraus resultierend verweisen die grau unterlegten Zellen auf die für die Analyse des Geburtenverhaltens ausgeschlossenen Fälle. Es verbleiben 15.008 Frauen für die Berechnungen. Der Gewinn dieser Prozedur besteht darin, ein Maximum an Generationen in die Betrachtung aufzunehmen: Nun-
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2 Der demographische Wandel in der Türkei
mehr ist ein Zeitraum von über 50 Jahren abgedeckt –Geburtenjahrgänge von 1929 bis 1983 können verarbeitet werden. Tabelle 2: Ausschluss problematischer Altersgruppen Geburtskohorte
TDHS 1998
TDHS 1993 (nur jemals Verheiratete)
1929-1933 1934-1938
1944-1948
Altersgruppe: 50-54 N= 15
Altersgruppe: 50-54 N= 8 Altersgruppe: 45-49 N= 694
1949-1953
Altersgruppe: 45-49 N= 721
Altersgruppe: 40-44 N= 893
1954-1958
Altersgruppe: 40-44 N= 896
Altersgruppe: 35-39 N= 1088
1959-1963
Altersgruppe: 35-39 N= 1114
1964-1968
Altersgruppe: 30-34 N= 1204
1969-1973
Altersgruppe: 25-29 N= 1393
1974-1978
Altersgruppe: 20-24 N= 1547
Altersgruppe: 30-34 N= 1292 (1990 Census²= 5%) Altersgruppe: 25-29 N= 1225 (1990 Census²= 13%) Altersgruppe: 20-24 N= 1023 (1990 Census²= 38%) Altersgruppe: 15-19 N= 296 (1990 Census²= 85%)
1979-1983
Altersgruppe: 15-19 N= 1686
1939-1943
TWFS 1978 (nur jemals Verheiratete) Altersgruppe: 45-49 N= 518 Altersgruppe: 40-44 N= 617 Altersgruppe: 35-39 N= 634 Altersgruppe: 30-34 N= 688 (1980 Census1= 3%) Altersgruppe: 25-29 N= 841 (1980 Census1= 8%) Altersgruppe: 20-24 N= 806 (1980 Census1= 27%) Altersgruppe: 15-19 N= 319 (1980 Census1= 79%) Altersgruppe: 10-14 N= 5
Quelle: 1 State Institute of Statistics 1984: 69, eigene Berechnung. 2 State Institute of Statistics 1993: 82, eigene Berechnung. Anmerkung: Befragte in den grau unterlegten Zellen werden aus den Analysen ausgeschlossen.
Um die Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens empirisch zu bestätigen, wird folgende Prüfung vorgenommen: Der Geburtsjahrgang 1949-1953 wird von allen
2 Der demographische Wandel in der Türkei
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drei Umfragen abgedeckt (vgl. Tab. 2). Für die Fälle des TDHS 1998 (Spalte 2) wird angenommen, dass diese keine Fehler als Folge der Stichprobenauswahl verursachen, da sie unabhängig vom Familienstand erhoben wurden. Sie werden als Kontrollgruppe definiert. Die Befragten der entsprechenden Geburtskohorte des TDHS 1993 (Spalte 3) sind zwar nicht ‚fehlerfrei’, werden allerdings vor dem Hintergrund der soeben beschriebenen Datenbereinigung als akzeptabel eingestuft, weshalb sie sich nur unwesentlich von der Kontrollgruppe unterscheiden sollten (Vergleichsgruppe A). Hingegen wird der Geburtsjahrgang 1949-1953 des TWFS 1978 (Spalte 4), ausgeschlossen, da diese Frauen zum Erhebungszeitpunkt 15 Jahre jünger sind als die Frauen desselben Geburtsjahrgangs, die erst 1993 im TDHS erhoben wurden. Begründet durch ihr Alter sind diese Frauen in der Grundgesamtheit zu einem Anteil von 8% noch unverheiratet (gemäß Census 1980), weshalb die Auswahl der im TWFS 1978 befragten verheirateten Frauen ihre Kohorte nicht repräsentativ vertritt. Sie sollten systematische Verzerrungen in Richtung einer frühen Familiengründung hervorrufen, sofern sie in die Berechnungen eingehen. Es wird erwartet, dass die auf ihrer Basis gewonnenen Ergebnisse bedeutsam von denen der Kontrollgruppe abweichen (Vergleichsgruppe B). Es werden nun zwei Vergleiche mit Blick auf den Risikoverlauf der Erstgeburt (hier sollten sich entsprechende Verzerrungen am deutlichsten zeigen) angestellt: (1) Kontrollgruppe vs. Vergleichsgruppe A und (2) Kontrollgruppe vs. Vergleichsgruppe B. Es werden die MedianÜberlebenszeiten sowie die mean-scores zuzüglich der darauf basierenden Wilcoxon-Statistik verglichen.9 Da sich die Spannweite der betrachteten Altersgruppen, die in allen drei Surveys sehr verschieden ist, auf die hier verwendeten Statistiken auswirkt, werden alle Befragten nur bis zum 29. Lebensjahr verfolgt (in Orientierung an der ältesten Altersgruppe des TDHS 1978), d. h. dass alle (Nicht-) Ereignisse jenseits dieser Altergrenze bei diesem Test unberücksichtigt bleiben. Die Resultate der Tabelle 3 bieten einen durchschlagenden Beleg für die Richtigkeit der vorgenommenen Selektion: Während die mittlere Überlebenszeit sowie das Risiko der (als akzeptabel eingestuften) Vergleichsgruppe A mit den Werten der Kontrollgruppe übereinstimmt, weicht die (ausgeschlossene) Vergleichsgruppe B erheblich von der Kontrollgruppe ab und zwar dergestalt, dass das durchschnittliche Erstgebäralter deutlich geringer und das Risiko der Erstgeburt wesentlich höher ist. Das entspricht der Argumentation, wonach in den Surveys, in denen nur verheiratete Frauen erfasst wurden, alle die Altersgruppen auszuschließen sind, in denen laut amtlicher Statistik in der Gesamtbevölkerung 9 Während die Median-Überlebenszeit angibt, in welchem Lebensjahr die Hälfte der betrachteten Personen das jeweilige Ereignis erfahren hat, verweist ein steigender mean-score auf ein abnehmendes Risiko des Eintretens des Ereignisses.
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2 Der demographische Wandel in der Türkei
noch ein nicht vernachlässigbarer Teil der Frauen unverheiratet ist. Würden für diese Altersgruppen die Analysen dennoch auf Basis von ausschließlich Verheirateten durchgeführt, so würden die Ergebnisse das Verhalten einer überaus selektiven Gruppe von Frauen widerspiegeln, nämlich derer, die vergleichsweise früh mit der Familiengründung begonnen haben. Aus diesem Grund ergibt sich zwangsläufig für die Vergleichsgruppe B ein sehr hohes, gleichwohl überschätztes Risiko. Dieses durch die Stichprobenziehung produzierte Artefakt kann mit der vorgestellten Reduktion des Gesamtdatensatzes effektiv beseitigt werden. Die verbleibenden Kohorten können somit vergleichend betrachtet und interpretiert werden. Tabelle 3: Übergang zur Erstgeburt in drei Vergleichsgruppen Mean-Score ( Sig., jeweils zur Referenzgruppe) 124
Gruppe
MST
Kontrollgruppe: TDHS 1998 (Referenz)
20,6
Vergleichsgruppe A: TDHS 1993
20,5
124
Vergleichsgruppe B: WFS 1978
19,5
-237 **
Quelle: WFS 1978, TDHS 1993, TDHS 1998; Geburtskohorte 1949-1953, Ereignisse bis inkl. 29. Lebensjahr, eigene Berechnungen. Anmerkung: MST= Median-Überlebenszeit, **p< 0.01.
2.2.2.2
Wandel im Eheschließungsverhalten
Im Folgenden wird nun zunächst der Verheiratungsprozess unter Verwendung des TDHS 1998 auf einen möglichen Wandel hin untersucht.10 Die Abbildung 1 gibt einführend Auskunft über die kohortenspezifischen Überlebenskurven. Eine vergleichende Betrachtung belegt zunächst, dass der Verheiratungsprozess mit Ausnahme in der jüngsten verfügbaren Kohorte (1979-1983) durchweg im 10. Lebensjahr einsetzt. Von da an bewegen sich die Verläufe auseinander: Im Alter von 19 Jahren sind in den beiden ältesten Kohorten (1949-1953 & 1954-1958) nur noch ein Drittel der Frauen unverheiratet. Dieser Anteil steigt im Kohortenverlauf an und liegt in der jüngsten Kohorte bei 76%. Die hier nicht abgebildete Median-Überlebenszeit steigt ausgehend von 18 Jahren in der Kohorte 19491953 auf 21 Jahre in der zweit-jüngsten Kohorte 1974-1978 an. Eine Clusteranalyse über die mean-scores verweist auf zwei homogene Untergruppen, die einen leichten Bruch zwischen 1963 und 1964 andeuten: Insbesondere ab der Kohorte 1964-1968 wird ein Aufschub sichtbar, der sich auch in den Überle10
Betrachtet wird ausschließlich der Übergang in die Erstehe.
2 Der demographische Wandel in der Türkei
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benskurven abzeichnet. Gleichwohl tendiert die Überlebenskurve dieser sowie die der nächst jüngeren Geburtskohorte (1969-1973), ebenso wie die der älteren Jahrgänge zu Überlebenswahrscheinlichkeiten knapp über Null. Insgesamt lässt sich daher vermuten, dass die Frauen im Durchschnitt heute zwar etwas später heiraten, ein genereller Verzicht aber eher selten ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass alle Frauen, die bis etwa Anfang der 1970er geboren wurden, nahezu komplett in den Ehestand eintreten werden. Die jüngste Kohorte (1979-1983) kann diesbezüglich nicht interpretiert werden. Für sie lässt sich der weitere Verlauf des Übergangs nur schwer abschätzen. Abbildung 1:
Überlebenskurven Erstheirat nach Geburtskohorte
1 0,9 0,8 1949-1953 (N=714) 1954-1958 (N=890) 1959-1963 (N=1108) 1964-1968 (N=1202) 1969-1973 (N=1389) 1974-1978 (N=1541) 1979-1983 (N=1685)
0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Lebensalter
Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf Daten des TDHS 1998.
Die parametrische Modellierung ergänzt die Schlussfolgerungen, die aus der graphischen Betrachtung der Überlebenskurven gezogen werden: Aus den Koeffizienten der Tabelle 4 (Spalte 1) geht zunächst hervor, dass in den drei jüngsten Kohorten (1964-1978) das Erstheiratsalter gegenüber der Referenzkohorte (1949-1953) um etwa 10% angestiegen ist. Die kohortenspezifischen Schätzungen des c-Terms verweisen gleichzeitig auf einen statistisch bedeutsamen Rückgang des Heiratsrisikos ab derselben Kohorte (1964-1968).11 11
Insgesamt ist die grundsätzlich starke Korrelation beider Effekte zu bedenken: „The interplay of intensity and timing effects can be complex“ (Brüderl & Diekmann 1995: 165). Deshalb empfiehlt
40
2 Der demographische Wandel in der Türkei
Tabelle 4: Heirats- und Geburtenverläufe nach Geburtskohorte Kohorten
Ereignisanalyse: Standardisierte Koeffizienten +Sig. Heirat
Geb1
Geb2
Geb3
Geb4
Geb5
1934-1938
--
0,97+
0,98
0,98
0,97*
0,96*
1939-1943
--
0.96*
0,95**
0,96**
0,93**
0,94**
1944-1948
--
0,99
0,97*
0,97*
0,95**
0,94**
a-Term (Referenz 1929-33)
1949-1953 (Referenz Heirat)
--
1,00
0,99
0,97*
0,97*
0,95**
1954-1958
1,03+
1,01
1,00
0,98+
0,95**
0,96**
1959-1963
1,03*
1,02
0,99
0,96**
0,94**
0,93**
1964-1968
1,08**
1,04*
1,02
0,97+
0,94**
0,92**
1969-1973
1,09**
1,04**
1,03+
1,00
x
x
1974-1978
1,10**
1,04*
x
x
x
x
1934-1938
--
1,00
1,05
1,09
0,99
0,99
1939-1943
--
1,12
0,98
1,05
0,95
1,08
c-Term (Referenz 1929-33)
1944-1948
--
1,00
0,90
0,87*
0,78**
0,80**
1949-1953 (Referenz Heirat)
--
0,89+
0,82**
0,71**
0,69**
0,67**
1954-1958
1,07
0,93
0,85*
0,65**
0,58**
0,71**
1959-1963
0,91
0,88*
0,77**
0,56**
0,54**
0,63**
1964-1968
0,86*
0,74**
0,70**
0,47**
0,52**
0,61**
1969-1973
0,83**
0,69**
0,74**
0,54**
x
x
1974-1978
0,73**
0,60**
x
x
x
x
6844
12825
11387
10149
7444
5296
N
Quelle: Heirat: TDHS 1998, Geburten: TDHS 1998, TDHS 1993, WFS 1978; eigene Berechnungen; Anmerkung: generalisiertes log-logistisches Modell, Einschränkung bei der Interpretation der Befunde: Zwar basieren die Analysen auf außerordentlich hohen Fallzahlen, dennoch fallen zum Teil die Anteile der (nicht-) zensierten Fälle recht gering aus, insbesondere in einzelnen Untergruppen, **p< 0.01, *p< 0.05, +p< 0.1. x= altersbezogene Stichprobenauswahl: Heirat=1949-1983 (18+ Jahre), Geburt Kind 1= 1929-1977 (21+ Jahre), Geburt Kind 3= 1929-1974 (24+ Jahre), Geburt Kind 5= 1929-1971 (27+ Jahre). es sich zunächst beide Parameter einzeln zu schätzen, was für alle Analysen der Tabelle 4 vorab getan wurde. Da sich die Ergebnisse der späteren simultanen Modelle, abgesehen von leichten Variationen hinsichtlich der Effektstärke, weitgehend mit denen der separaten Modelle decken und auch keine Schätzprobleme aufgetreten sind, werden die Befunde als relativ zuverlässig angenommen.
2 Der demographische Wandel in der Türkei
41
Die in der graphischen Darstellung enthaltene jüngste Kohorte (1979-1983) bleibt in den parametrischen Schätzungen auf Grund ihres kurzen Beobachtungszeitraums unberücksichtigt: Zwar deutet deren Überlebensrate auf ein tatsächlich deutlich vermindertes Risiko hin, ein abschließendes Urteil kann aber soweit nicht gefällt werden. Während also die amtliche Statistik, abgesehen von periodenspezifischen Schwankungen, auf eine beständig hohe Eheschließungsrate verwies, ist diese Erkenntnis nun insofern leicht zu modifizieren, als die hier aufgezeigten Entwicklungstendenzen unter den jüngsten Befragten eine Abnahme der Heiratsneigung andeuten. Parallel dazu bestätigt sich, dass das Heiratsalter seit Mitte des 20. Jahrhunderts zwar nur allmählich, dennoch beständig gestiegen ist. 2.2.2.3
Wandel im generativen Verhalten
Übergang zur Mutterschaft. Die Datenbasis der folgenden Berechnungen bildet der korrigierte Datensatz. Abbildung 2 bildet die kohortenspezifischen Überlebenskurven für die ersten drei Paritäten ab, wobei im oberen Teil die Verläufe der Erstgeburt zu sehen sind.12 Der steilste Verlauf zeigt sich für die zwischen 1939-1943 geborenen Frauen, woraus sich in Zusammenschau mit den flacheren Kurven der beiden älteren Kohorten (1929-1933 & 1934-1938) schließen lässt, dass das Familiengründungsverhalten dieser Kohorte am stärksten von der pronatalistischen Politik des neu gegründeten Staates beeinflusst wurde: Die auch von den Familien getragene Absicht, die Verluste (an Arbeitskräften) der vorangegangenen Kriege zu ersetzen, spiegelt sich im Verhalten wider und bewirkt schließlich das hohe Geburtenniveau Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Von da an zeigt sich eine rückläufige Tendenz, die ab der Geburtskohorte 1964-1968 besonders deutlich hervortritt. Angesichts der geringen außerehelichen Geburtenrate, kann diese Entwicklung zum Teil als eine Fortsetzung des zeitlichen Aufschubs der Erstheirat verstanden werden, der ebenfalls ab dieser Kohorte besonders sichtbar wurde: Solange die Geburt von Kindern normativ an die Ehe gekoppelt ist, stehen Heirats- und Geburtenprozesse empirisch in unmittelbarer Verbindung, wenngleich die Kausalität des Zusammenhangs theoretisch gefunden werden muss.
12
Aus Gründen der Übersichtlichkeit ist nur jede zweite Geburtskohorte in der graphischen Darstellung enthalten. Die Interpretation hingegen bezieht die Verläufe aller Gruppen ein.
42
2 Der demographische Wandel in der Türkei
Abbildung 2:
Überlebenskurven Erst- bis Drittgeburt nach Geburtskohorte
1 0,9 1929-1933 (N=518) 1939-1943 (N=642) 1949-1953 (N=1614) 1959-1963 (N=2359) 1969-1973 (N=1393) 1979-1983 (N=1686)
0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1
Erstgeburt
0 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 Lebensalter
1 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 Zweitgeburt
Drittgeburt
0 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 31 33 35 37 39 41
12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40
Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf Daten des WFS 1978, TDHS 1993, TDHS 1998.
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Die Median-Überlebenszeiten und eine clusteranalytische Verarbeitung der mean-scores stellen drei homogene Subgruppen mit Blick auf das Alter bei Erstgeburt heraus: In den vier ältesten Kohorten (1929-1948) hat die Hälfte der Frauen den Übergang zur Mutterschaft zwischen dem 19. und 20. Lebensjahr vollzogen. Dieser Wert steigt in der Gruppe der zwischen 1949 und 1963 Geborenen auf 20 bis 21 leicht an und erhöht sich für die danach Geborenen auf 22 bis 23 Jahre. Für diese jüngsten Frauen, d. h. die nach 1963 Geborenen, zeigt sich, dass nahezu jede der Kohorten in ihrer Median-Überlebenszeit nach oben signifikant von der jeweils vorangegangenen Kohorte abweicht. Parallel dazu lässt sich für die Jüngsten ein sinkendes Risiko von Mutterschaft unterstellen, da ihre Übergangsraten flacher verlaufen als in den Kohorten davor, für die sich eine Überlebenswahrscheinlichkeit nahe Null abzeichnet. Somit ist ein Trend zu vermuten, wonach der Eintritt in die Mutterschaft etwas an Selbstverständlichkeit eingebüßt hat. Dieser Verdacht wird durch die Koeffizienten der Tabelle 4 (Spalte 2) untermauert: Es bestätigt sich ein über den Kohortenverlauf abnehmendes Risiko, dass sich erneut insbesondere ab der Kohorte 1964-1968 zeigt. Hier erlangt der Unterschied zur ältesten Kohorte erstmals statistische Bedeutsamkeit auf dem 1%-Niveau: Die Wahrscheinlichkeit, ein erstes Kind zu bekommen, ist für diese Frauen etwa um ein Viertel geringer als für Frauen der Kohorte 1929-1933 (Exp(c)= 0.74). Vergleichsweise geringfügige Variationen im Timing der Elternschaft treten hervor: Als Bestätigung der graphischen Betrachtung kristallisiert sich für die Kohorte 1939-1943 eine leichte Vorverlagerung der Erstgeburt (Exp(a)= 0.96) heraus. Der Koeffizient entwickelt sich von da an wieder rückläufig und verweist somit auf einen (Wieder-) Anstieg des Erstgebäralters im weiteren Kohortenverlauf: Er wird erstmal ab der Kohorte 1964-1968 statistisch relevant. Die parametrische Modellierung legt somit offen, dass sich einerseits die fertilitätsfördernden Maßnahmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich in einer leichten Beschleunigung des Übergangs zur Mutterschaft niedergeschlagen haben. Andererseits zeichnet sich ein allgemeiner, stetiger Rückgang der Übergangsrate ab, wobei insbesondere Frauen, die nach 1963 geboren wurden, einem erkennbar geringeren Risiko der Erstgeburt unterliegen. Das heißt, die staatlichen Maßnahmen zur Milderung der regen Reproduktionstätigkeit, die gegen Ende der 1960er ergriffen wurden, erlangen in den jüngsten Generationen vorwiegend in Form einer rückläufigen Übergangsrate Wirkung. Höhere Paritäten. Der untere Teil der Abbildung 2 legt für die Zweitgeburt eine interessante Abweichung vom Muster der Erstgeburt offen: Die kohortenspezifischen Verläufe liegen recht nah beieinander, d. h. die Kohorten unterscheiden sich beim Übergang zum zweiten Kind vergleichsweise gering. Es zeichnet sich ein leichter Trend dahingehend ab, dass sich die jüngste der be-
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2 Der demographische Wandel in der Türkei
trachteten Kohorten (1979-1983) in ihrem Verhalten an die älteren Kohorten annähert. Ihre Überlebenskurve verläuft (soweit verfügbar) nahezu analog zur Kohorte 1959-1963 und fällt somit steiler aus als die, der ihr unmittelbar vorangehenden Jahrgänge. Eine gemeinsame Betrachtung von Erst- und Zweitgeburt deutet für diese jungen Frauen eine Verdichtung beider Ereignisse an: Ist der Übergang zur Elternschaft einmal vollzogen, dann findet die Geburt eines zweiten Kindes recht zügig und auch mit einigermaßen großer Wahrscheinlichkeit statt. Ob sich dieser Konsolidierungsprozess in den höheren Paritäten fortsetzt, kann nicht weiter verfolgt werden: Bedingt durch den kurzen Beobachtungszeitraum dieser jüngsten Kohorten, können diese nicht sinnvoll in den parametrischen Schätzungen verarbeitet werden können. Die Koeffizienten der Tabelle 4 (Spalte 3) bestätigen allerdings vergleichsweise geringe Kohortenunterschiede bei der Zweitgeburt. Zudem schlägt die Richtung des sinkenden Risikoeffektes in der jüngsten einbezogenen Kohorte (1969-1973) um, wenn auch nur in minimalem Ausmaß (Exp(c)= 0.74). Eine paritätenübergreifende Perspektive bestätigt ein ab der Geburtskohorte 1944-1948 signifikant sinkendes Risiko der Geburten höherer Paritäten bei gleichzeitig leicht sinkendem Gebäralter: Während die davor geborenen Frauen sehr stark zum Geburtenberg Mitte des 20. Jahrhunderts beitrugen, sind die ab 1944 geborenen Frauen dafür verantwortlich, dass durch rückläufigen Kinderreichtum die TFR zu sinken begann. Das sie, wenn sie doch ein drittes oder nächstes Kind bekommen, jünger sind als ihre Vorgängerinnen, ist sicherlich auch der Verbesserung der Schwangerenbetreuung zu verdanken sowie einer verbesserten Wohlfahrtslage. Es lässt sich schlussfolgern, dass Frauen ab diesem Jahrgang ihren Familienerweiterungsprozess früher abschließen und das sowohl zeitlich gesehen als auch die Kinderzahl betreffend. Bereits das Risiko einer Zweitgeburt nimmt ab der darauf folgenden Kohorte 1949-1953 statistisch bedeutsam ab (Exp(c)= 0.82). Der Geburtenrückgang in der Türkei geht also hauptsächlich auf einen wachsenden Verzicht auf höhere Paritäten zurück, wenngleich sich Ausfälle bereits ab der Erstgeburt andeuten. Die Befunde der Aggregatdaten werden somit im Großen und Ganzen untermauert. In Abweichung davon schließen diese Analysen jedoch eine im Entstehen begriffene Gruppe dauerhaft Kinderloser nicht grundlegend aus. Angesichts der verbleibenden fruchtbaren Zeit, die den jüngsten befragten Frauen noch zur Verfügung steht, um bestehende Kinderwünsche zu realisieren, sind diese Befunde aber lediglich als vage Hinweise zu verstehen.
2 Der demographische Wandel in der Türkei
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2.3 Bilanz Dieses Kapitel bot eine ausführliche Beschreibung der Entwicklung der demographischen Parameter. Resümierend bleibt festzuhalten, dass die Türkei den ersten demographischen Umbruch beinahe abgeschlossen hat. Die Daten lassen jedoch kein abschließendes Urteil dahingehend zu, ob sie bereits in den zweiten demographischen Wandel, entsprechend den von Lesthaeghe & Surkyn (2004) aufgestellten Merkmalen, eingetreten ist oder nicht bzw. ob sich eine solche Entwicklung erwarten lässt oder nicht. Nach neuesten Berechnungen basierend auf dem TDHS 2003, sind in der Altersgruppe der 35-39 jährigen Frauen (d. h. Geburtskohorte 1964-1968) 4% der Frauen noch unverheiratet und 8% kinderlos (Koc & Özdemir 2004: 52). Verglichen mit den europäischen Industrieländern fallen diese Anteile sehr gering aus, könnten dennoch als erste Vorboten interpretiert werden, nicht zuletzt, weil sie eine leicht steigende Tendenz aufweisen: 1975 lagen die Werte für Unverheiratete in der angesprochenen Altersgruppe bei 3% bzw. bei 5% kinderlosen Frauen (United Nations 2004a: 350). Ergänzt man die historische Betrachtung durch eine differentielle Darstellung aktueller Daten, so werden deutliche regionale sowie bildungsbezogene Disparitäten hinsichtlich der Paar- und Familiengründung sichtbar (vgl. Abb. 3): Während das Fertilitätsniveau in den ländlichen Gebieten der Türkei (2.7) und in Ostanatolien (3.7) nach wie vor recht hoch ist, zeichnen sich in der West-, Zentral- und Nord-Türkei bereits Geburtenraten knapp unter dem Reproduktionsniveau ab. Zudem sticht insbesondere die Gruppe der besser gebildeten Frauen hervor, deren Geburtentätigkeit vergleichsweise gering und analog dazu, das Heiratsalter sehr hoch ist. Damit treten Bevölkerungssegmente hervor, deren familienbezogenes Verhalten erheblich vom Durchschnitt der türkischen Gesamtgesellschaft abweicht und deren Anteil an der Bevölkerung angesichts unübersehbarer Tendenzen wie Urbanisierung und Bildungszuwachs als weiterhin wachsend anzunehmen ist. Dieser Befund deutet an, dass sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichen Phasen des demographischen Wandels befinden, wobei das Konzept selbst derlei Variationen innerhalb eines Landes gar nicht explizit vorsieht.
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2 Der demographische Wandel in der Türkei
Abbildung 3:
Total Fertility Rate und Erstheiratsalter 2003 Erstheiratsalter
TFR
30,0
4,0 TFR Erstheiratsalter
3,5
25,0
3,0 20,0 2,5
15,0
2,0
1,5 10,0 1,0 5,0 0,5
0,0
0,0 Stadt
Land
West
Süd
Mitte
Nord
Ost
GS nicht beendet
Weiterführende (+) Schule
Quelle: TFR= Koc & Özdemir 2004: 48, Erstheiratsalter= Ergöcmen & Eryut 2004: 92, Berechnungen basieren auf Daten des TDHS 2003. Anmerkungen: Frauen zwischen 25 und 49 Jahren; GS= Grundschule.
Ob sich in den jüngeren Kohorten tatsächlich eine nicht-familiale Bevölkerungsgruppe analog zum europäischen Trend herauskristallisiert, kann derzeit an Hand der Betrachtung demographischer Trends nicht mit Sicherheit gesagt werden. Von besonderer Wichtigkeit ist deshalb ein erklärungskräftiges Modell, das zwar zunächst auf die Erarbeitung der Ursachen angewendet werden soll, die den hier ausführlich dokumentierten Rückgang von Kinderreichtum bewirkt haben. Gleichzeitig sollte es aber auch Bedingungen benennen können, unter denen sehr geringe Kinderzahlen bzw. sogar Kinderlosigkeit zu erwarten sind.
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches 1918 sowie dem darauffolgenden Unabhängigkeitskrieg von Griechenland, wurde 1923 die türkische Republik ausgerufen, deren erster Präsident Mustafa Kemal Atatürk war. Unter ihm wurden umfassende Reformen durchgeführt und eingeleitet, die zu einer nachhaltigen Umstrukturierung der gesamten türkischen Gesellschaft führten. Atatürks offiziell erklärtes Ziel war die Modernisierung des neu gegründeten Staates nach dem Vorbild westlicher Nationen, was besonderen Ausdruck in der weitgehend identischen Übernahme des Schweizerischen Grundgesetzes im Jahr 1926 fand. Nicht zuletzt hiervon wurden die islamische Prägung des Landes sowie traditionelle patriarchalische Strukturen, deren Ursprung in der Zeit vor dem Osmanischen Reich zu finden ist, erheblich beeinflusst. Das keineswegs harmonische Zusammentreffen der kemalistischen Reformen und der teilweise über Jahrhunderte hinweg praktizierten Bräuche und Verhaltensweisen trug u. a. dazu bei, dass die bestehende Heterogenität zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die sich durch vielfältige gesellschaftliche Bereiche zieht, bis heute erhalten geblieben ist (Nauck 2002; Nauck & Klaus 2008). Dieses Kapitel bietet eine Dokumentation gesellschaftlicher Trends, deren Auswahl weniger an den klassischen Modernisierungsdimensionen orientiert ist, als vielmehr daran, welche Parameter für die spätere Modellprüfung relevant sind (wobei die Überschneidung durchaus sehr hoch ist). Als willkommener Nebeneffekt ergibt sich ein aufschlussreicher Einblick in verschiedene Bereiche der türkischen Gesellschaft. Die in Kapitel 5 präsentierte Erklärung der Fertilität ist als Mehr-Ebenen-Modell angelegt, dessen Prüfung an der individuellen Entscheidungs- und Handlungssituation ansetzt. Diese stellt sich als ein Zusammentreffen vielfältiger Faktoren dar: Während relevante individuelle Merkmale explizit Eingang in die Mikroanalysen finden (vgl. Kap. 8), kann die Wirkung der Komponenten, die den Lebensraum und somit den Handlungskontext jenseits der individuellen Ressourcenlage strukturieren, weitestgehend nur über indirekt prüfbare Brückenhypothesen festgestellt werden. Hierfür ist zunächst die Zusammenstellung entsprechender Informationen notwendig, die dann im Rahmen der Generierung der Arbeitshypothesen aufgearbeitet werden (vgl. Kap. 6). Die folgende Darlegung beschränkt sich auf die Größen, von denen ein Einfluss auf die Ausgestaltung des Wertes von Kindern (VOC), als das zentrale
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3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
Erklärungskonstrukt, erwartet wird. Die Aggregationsebene bildet weitgehend die türkische Gesamtgesellschaft; sofern verfügbar, werden regionale Differenzierungen vorgenommen. Das bedeutet meist eine Unterscheidung von Stadt und Land, die deshalb zweckdienlich ist, da diese Variable für die Mikroanalysen verfügbar ist und somit entsprechende Informationen indirekt in die Berechnungen einfließen können. Da die Prüfung des Erklärungsmodells mit Blick auf einen möglichen Wandel des VOC als potentielle Ursache für den Wandel des Geburtenverhaltens erfolgen soll, ist es unentbehrlich die wesentlichen (makro-) strukturellen Rahmenbedingungen in ihrer historischen Entwicklung zu betrachten und einzuarbeiten. Als sinnvoll erweist sich hierbei der Zeitraum ab der Republikgründung, einerseits weil das der Zeitpunkt ist, ab dem systematisch erhobene Daten zur Verfügung stehen und andererseits, weil die ältesten, später in den empirischen Analysen verfügbaren Kohorten von Befragten, in dieser Zeit geboren wurden. Relevant im Erklärungszusammenhang und somit für die folgende Darstellung sind Veränderungen im Bildungs- und Erwerbssystem, die staatlichen Initiativen zur Einführung sozialer Sicherungsinstitutionen sowie Veränderungen bezüglich der institutionalisierten Familien- und Verwandtschaftsstrukturen. 3.1 Bildungsbeteiligung Bis zur Republikgründung war Bildung weitestgehend mit religiöser Bildung gleichzusetzen, die zudem nur bestimmten Bevölkerungsgruppen vorbehalten war. Der 1923 in Kraft getretene National Education Primary Code proklamierte die Universalität und Chancengleichheit im Bildungswesen. Es wurde eine fünf-jährige Grundschulpflicht ab dem sechsten Lebensjahr für Jungen und Mädchen festgesetzt (Ergöcmen 1997: 85), die 1997 auf acht Jahre angehoben wurde (Tansel 1998: 2). Formale Bildung, d. h. der Besuch der Grund- sowie weiterführender Schulen, ist kostenfrei, allerdings wird seit 1988 an den Universitäten ein Unterrichtsgeld erhoben (Tansel 1998: 18). Daneben finden sich auf jedem Schulniveau private, kostenpflichtige Bildungseinrichtungen. Entsprechend der staatlichen Zielstellung hat sich die Bildungsbeteiligung in den Jahrzehnten seit der Republikgründung deutlich erhöht, was sich v. a. in einem bemerkenswerten Rückgang der Analphabetenrate niederschlägt. Abbildung 4 belegt die allgemeine Abnahme seit 1935. Gleichzeitig verweist sie auf die anhaltenden geschlechtsspezifischen Unterschiede zu Ungunsten der Frauen: Im Jahr 2000 sind 19% der weiblichen Bevölkerung über sechs Jahre Analphabeten, hingegen nur 6% der männlichen Bevölkerung, was u. a. darauf zurück-
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
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zuführen ist, dass junge Männer spätestens beim Militärdienst Lesen und Schreiben lernen (Karasan-Dirks 1986: 110). Abbildung 4:
Analphabetenratea zwischen 1935 & 2000
% 100 90 80 70 60 50 40 30 Männer 20
Frauen
10 0 1935
1940
1945
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
Quelle: State Institute of Statistics 2003: 49. Anmerkung: a bezogen auf Personen 6 Jahre und älter, die weder lesen noch schreiben können.
Darüber hinaus besteht ein deutliches Ost-West13- sowie Land-Stadt Gefälle in der Verbreitung des Analphabetismus. Derlei geschlechtsspezifische und regionale Disparitäten stellen zum Teil ein historisches Erbe dar, dass in den nächsten Jahren an Bedeutung verlieren wird, da die Generationen, die ohne allgemeine Schulbildung aufgewachsen sind, zunehmend aus der Statistik heraus fallen. Unabhängig davon resultieren sie aber auch aus fortdauernden, wenngleich nachlassenden, Ungleichheiten in der Grundausbildung: Entsprechend aktueller Netto-Beteiligungsraten (Abb. 5) besuchen 91% der 6-13 jährigen Jungen eine Grundschule gegenüber 87% der Mädchen. 90% der Kinder in der Stadt gehen 13 Ein Grund hierfür ist der hohe Anteil der kurdischen Bevölkerung (im Osten) der Türkei, deren Muttersprache bis 2002 offiziell verboten war. Gleichwohl wurde sie verwendet und von Generation zu Generation weitergegeben, was zu Lasten des Erlernens der türkischen Sprache ging (Ritter & Richter 1990: 32). Trotz der gesetzlichen Neuregelung zum Gebrauch der kurdischen Sprache heißt es weiterhin in Artikel 42 der türkischen Verfassung: „Außer Türkisch darf in den Institutionen, die der Erziehung und Ausbildung dienen, türkischen Staatsbürgern keine andere Sprache als ihre Muttersprache gelesen und gelehrt werden“.
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3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
zur Grundschule, verglichen mit 86% auf dem Land – eine Differenz, die sich auf der Sekundarstufe verstärkt. Eine strukturelle Ursache hierfür liegt im schlechteren Zugang und geringerer Verfügbarkeit von Bildungseinrichtungen in den ländlichen Regionen, v. a. jenseits der Grundschule. Insgesamt belegt die Abbildung hohe Ausfälle beim Übergang zwischen den verschiedenen Bildungsstufen: Nur etwa die Hälfte aller Kinder ab dem 14. Lebensjahr geht weiterhin zur Schule. Abbildung 5:
Netto-Bildungsbeteiligungsraten 2003/04
% 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Gesamt
Jungen
Grundschule (6-13 Jahre)
Mädchen Sekundarschule (14-16 Jahre)
Stadt
Land
Weiterführende Schulen
Quelle: Grund- und Sekundarschule: Ismet & Hancioglu 2004: 26, unter Verwendung des Türkischen Census 2002. Weiterführende Schulen: State Institute of Statistics 2004: 102.
Unter Verwendung des türkischen Haushaltseinkommens- und Ausgabensurveys 199414 arbeitet Tansel (1998) die erklärungskräftigen Determinanten des Schulbesuchs heraus: Zunächst einmal stellt sie einen starken, positiven Einkommenseffekt der Herkunftsfamilie heraus, von dem zwar sowohl die Söhne als auch die Töchter profitieren, dieser Effekt jedoch bei den Mädchen stärker zum Tragen kommt. Demnach nimmt die Bildung der Mädchen erst mit steigendem Haushaltsbudget zu, während in niedrigen Einkommensgruppen zunächst einmal in die männlichen Nachkommen investiert wird. Das wird auch 14
Der Survey wurde durch das State Institute of Statistics (Ankara) erhoben und umfasst 12000 Haushalte mit Kindern, deren jeweilige Stellung zum Haushaltsvorstand feststellbar ist.
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
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an anderer Stelle nahe gelegt (Özbay 1985: 120): Die bestehende Ungleichheit der Ausbildungssituation zwischen verschiedenen sozialen Schichten äußert sich u. a. darin, dass in sozial schwachen Familien die Möglichkeiten für einen erfolgreichen Abschluss des Gymnasiums, als auch die Chancen die Aufnahmeprüfung für eine Universität zu bestehen, geringer sind.15 Eben dieser Mechanismus trifft junge Frauen stärker als Männer. Überdies stößt Tansel (1998) auf einen ebenfalls deutlich positiven Bildungseffekt beider Eltern,16 der erneut in der Gruppe der Mädchen höher ausfällt, was ein weiterer Hinweis darauf ist, dass die geringe sozio-ökonomische Mobilität zwischen den Generationen, Mädchen stärker benachteiligt als Jungen. Auch mit zunehmender Urbanität verbessern sich ganz besonders die Bildungschancen der weiblichen Bevölkerung, während die der Jungen hiervon weitestgehend unberührt bleiben. Was sind die Ursachen für die relative Stabilität systematisch variierender Bildungschancen bzw. -investitionen? Räumliche Unterschiede können auf unterschiedliche Opportunitätenkosten des Schulbesuchs zurückgeführt werden, auf kontextabhängige Möglichkeiten der Verwertbarkeit von Bildung sowie, wie bereits angeführt, auf variierende Verfügbarkeit von Ausbildungsstätten (Özbay 1985: 120). In (Groß-) Städten findet sich nicht nur ein quantitativ, sondern auch ein qualitativ besseres Bildungsangebot. Mit steigender Entfernung einer adäquaten Bildungseinrichtung steigen v. a. die direkten Bildungskosten, d. h. Ausgaben für den Schulweg bzw. für die Unterbringung und Lebenshaltung am jeweiligen Schulort. Steigende Kosten stoßen schneller an die Grenzen finanzieller Möglichkeiten der Eltern und/ oder reduzieren deren Bereitschaft, in die Bildung ihrer Nachkommen zu investieren. Dieser Effekt wird verstärkt, je schlechter die zukünftige (erwartete) Verwertbarkeit von Bildung ist: Mit zunehmender Entfernung von städtischen Zentren, die sich typischerweise durch ein höheres Potential qualifizierter Arbeitsplätze auszeichnen und damit (kostenaufwendig) erworbene Bildung eher rechtfertigen, sinkt der Besuch höherer 15
In der Türkei ergibt sich mit dem Reifezeugnis nicht notwendigerweise auch die Möglichkeit zu einem Studium. Die Anzahl der zur Verfügung stehenden Studienplätze liegt weit unter der Bewerberzahl. Deshalb tritt jährlich eine Expertenkommission zur Erstellung einer Universitätsaufnahmeprüfung zusammen. Die danach ausgewählten Bewerber bekommen je nach persönlichem Resultat einen bestimmten Studiengang und einen Studienort zugewiesen. Bewerber aus finanziell besser gestellten Familien haben hierbei höhere Chancen, weil sie sich mittels privat finanzierter Nachhilfe besser vorbereiten können oder sie entscheiden sich von vornherein für eine Privatuniversität oder ein Studium im Ausland. 16 Dieses Ergebnis reiht sich insofern in andere internationale Studien ein, als sich allgemein die Tendenz zeigt, dass sich in Entwicklungs- und Schwellenländern die Effekte der elterlichen Bildung auf ihre Kinder zwischen Mutter und Vater zumeist nicht unterscheiden (u. a. Behrman & Wolfe 1987 für Nikaragua; King & Bellew 1988 für Peru ) während in Industrieländern mit hohem Durchschnittseinkommen der Effekt der mütterlichen Bildung höher ist als der des Vaters (u. a. Schultz 1993).
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3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
Bildungseinrichtungen. Ferner sind die Opportunitätenkosten des Schulbesuches von Bedeutung: Sofern im regionalen und/ oder familialen Umfeld die Möglichkeit des (effizienten) Arbeitseinsatzes für Kinder gegeben ist, entgeht die für den Schulbesuch aufgewendete Zeit dieser Option, die Arbeitskraft der Kinder zu nutzen. So kann Tansel (1998: 12) nachweisen, dass die Existenz eines Familienbetriebes den Schulbesuch der Kinder behindert. Nun sind gerade der Osten des Landes sowie die ländlichen Regionen (wobei sich beide Kriterien stark überschneiden) nach wie vor landwirtschaftlich dominiert. Jede Arbeitskraft ist hier von hoher Bedeutung, v. a. auch die der Kinder. Zudem verlangt der ländliche Arbeitsmarkt höchstens eine geringfügige Qualifikation, weshalb auch langfristig gesehen eine Investition in Bildung weniger sinnvoll erscheint. Geschlechterunterschiede resultieren daraus, dass o. g. Mechanismen Frauen in stärkerem Maße betreffen als Männer, weil sie entsprechend der traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung nicht nur für Haus und Haushalt verantwortlich sind, sondern sich ihr Aufgabenbereich typischerweise auch auf landwirtschaftliche Tätigkeiten erstreckt. Frauen, Hierfür ist Bildung nicht nur keine notwendige Voraussetzung, eher ist sie sogar hinderlich. Männer hingegen zieht es immer stärker, insbesondere bedingt durch die regional äußerst ungleiche Industrialisierung, auf den städtischen Arbeitsmarkt, auf dem zumindest eine gewisse Grundausbildung, speziell vor dem Hintergrund steigender Arbeitsplatzkonkurrenz hilfreich ist. An Hand der vorangegangenen Darlegung wurde das wechselseitig aufeinander bezogene Verhältnis von Schulbesuch und Kinderarbeit deutlich. Zwar ist Kinderarbeit in der Türkei inzwischen illegal, dennoch ist sie auch heute noch, vornehmlich in den landwirtschaftlich geprägten Regionen, aber auch in den von Armut betroffenen Bevölkerungssegmenten der Städte, anzutreffen. Die International Labor Organization (ILO) rief 1991 das International Program on the Elimination of Child Labour ins Leben. In diesem Rahmen wurden in der Türkei in den Jahren 1994 und 1999 zwei landesweite Surveys mit dem Schwerpunkt Kinderarbeit durchgeführt (State Institute of Statistics 1999). Sie belegen, dass innerhalb dieser fünf Jahre der Anteil der Kinder zwischen 6 und 14 Jahren, die einer Erwerbstätigkeit17 nachgehen, von 9% auf 4% gesunken ist. Im Gegenzug werden Kinder etwas stärker in die Erledigung von Haushaltsaufgaben eingebunden: Hier stieg der Anteil von 24% auf 28%. Eine eingehende Betrachtung der Daten von 1999 zeigt, dass Kinder auf dem Land erwartungs17
In den Analysen wird zwischen Kindern, die in ökonomische Aktivitäten eingebunden sind und Kindern, die Haushaltsaufgaben erledigen, unterschieden. Die Ersten arbeiten entweder für Geld oder als unbezahlte Familienmitglieder im Geschäft oder auf dem Feld eines Familienangehörigen, die Letzteren verrichten im elterlichen Haushalt anfallende Arbeiten wie Wäsche waschen, Geschirr spülen, Kochen und Einkaufen.
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
53
gemäß ökonomisch stärker aktiv sind als in der Stadt und Mädchen zwar weniger mit ökonomischen Aktivitäten, hingegen wesentlich stärker mit Haushaltsaufgaben beauftragt sind (vgl. Abb. 6). Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen Schulbesuch und Kinderarbeit: Kinder, die nicht erwerbstätig sind bzw. lediglich Haushaltsaufgaben zu erfüllen haben, nehmen zu über 80% ihre Schulpflicht wahr, im Gegensatz zu 30% der Kinder, die ökonomisch aktiv sind. In der Stadt gehen erwerbstätige Kinder zu einem höheren Anteil in die Schule als erwerbstätige Kinder auf dem Land. Dasselbe trifft für erwerbstätige Jungen im Vergleich zu erwerbstätigen Mädchen zu. Der Hauptarbeitssektor auf dem Land ist die Landwirtschaft (88%) und die Kinder sind hier sehr häufig in Form von unbezahlten Familienangehörigen tätig (84%) – in der Stadt sind es eher industrielle Arbeitsplätze (48%) und der Großteil der Kinder ist als Lohnempfänger angestellt (86%). Wirtschaftliche Notwendigkeit ist die Hauptursache für die Erwerbsbeteiligung von Kindern, die also vorzugsweise unter Armutsbedingungen als Arbeitskräfte herangezogen werden. Abbildung 6:
Beschäftigungssituation 6-14 Jähriger 1999
% 100 Ökonomisch aktiv Im Haushalt/Haus tätig Nicht Ewerbstätig
90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Gesamt
Stadt
Land
Jungen
Mädchen
Quelle: State Institute of Statistics 1999.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass, je günstiger die Gelegenheitsstrukturen für die Realisierung von Arbeits- und Einkommensnutzen durch die Kinder sind und je stärker die Familien hierauf angewiesen sind, desto wahrscheinlicher sind Kinder in die Erwerbstätigkeit eingebunden. Das senkt gleichzeitig deren Chan-
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3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
ce auf Bildungserwerb. Damit lässt sich zumindest plausibel erklären, warum die Bildungsbeteiligung in der Stadt höher ist als auf dem Land. Die Erklärung geschlechtsspezifischer Bildungsunterschiede bedarf der zusätzlichen Berücksichtigung geschlechtsbezogener Chancen der langfristigen Verwertbarkeit der Bildungsinvestitionen für die Eltern. Diese leiten sich aus der vorherrschenden deszendenzverwandtschaftlichen Struktur ab, wonach Töchter in der Regel mit der Heirat den elterlichen Haushalt verlassen und in die Verwandtschaftslinie ihres Ehemannes übergehen. Daraus ergibt sich die Ineffizienz der Investition in die Bildung von Töchtern, da mögliche Erträge hieraus für die Eltern typischerweise mit der Verheiratung der Töchter verloren gehen. Zwar wird den Brauteltern von der Gegenpartei zur Kompensation des entgangenen Arbeitsnutzens ein sog. Brautpreis gezahlt, allerdings erhöht sich dieser nicht grundsätzlich mit dem Bildungsniveau der zukünftigen Ehefrau. Lediglich in Familien mit höherem Einkommen erhöht die Bildung der Tochter, deren Chance auf eine statushöhere Heirat. Ein weiteres Argument, das gegen die Bildung der Frau spricht, ergibt sich aus ihrer hohen Bedeutung als häusliche Arbeitskraft. Vor allem in der ländlichen Türkei erfolgt noch eine umfangreiche Produktion im Haushalt, wobei eine strikte Aufgabenteilung interne Produktionsaufgaben weitgehend in den Verantwortungsbereich der Frau legt. Hierfür lohnen sich Bildungsinvestitionen nicht oder kaum. Hinzu kommt, dass Frauen ihre Bildung auf dem Arbeitsmarkt weniger gewinnbringend umsetzen (können) als Männer (Kandiyoti 1982: 113; Özbay 1985: 141f.). Generell gestalten sich ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt gegenüber Männern bei gleicher Qualifikation schlechter: Frauen sind eher in untergeordneten, unselbstständigen Berufen tätig; sie konzentrieren sich stärker im Niedriglohnbereich mit unzulänglicher sozialer Sicherung und sind selbst bei guter Ausbildung seltener erwerbstätig als Männer. Der erwartete Gewinn bei Frauen ist unwahrscheinlicher und niedriger als bei den Männern, weshalb es für die Eltern, insbesondere in einkommensschwachen Schichten, einträglicher ist, zunächst ihre Söhne auszubilden. Diese Argumentation unterstellt eine direkte Verbindung zwischen den elterlichen Interessen und den Bildungschancen ihrer Kinder. Das impliziert eine Reproduktion der Bildungsungleichheiten: Sofern der elterliche Haushalt auf den kurzfristigen materiellen Beitrag der Kinder angewiesen ist, wirkt sich das negativ auf deren Ausbildung und so auf deren spätere Chancen auf dem Arbeitsmarkt aus. Folglich werden auch sie einem höheren Risiko unterliegen, ebenfalls auf die Zugewinn- und Sicherungsfunktion ihrer Nachkommen zurückgreifen zu müssen. Dieses Fazit unterstellt eine positive Verknüpfung von Bildung und Erwerbschancen, die u. a. im folgenden Abschnitt gestützt wird.
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
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3.2 Wirtschaftssystem und Arbeitsmarkt Eine seit den 1950ern stärker marktwirtschaftlich orientierte Wirtschaftspolitik der türkischen Regierung sowie die Wirtschaftsreform in den 1980ern beschleunigten die Industrialisierung des Landes, was eine substantielle Umstrukturierung der Erwerbsmöglichkeiten nach sich zog. Gleichwohl ist die Türkei bis heute stark landwirtschaftlich geprägt, was auf den Süd-Osten des Landes sehr viel stärker zutrifft als auf den städtischen Westen und Norden. Staatliche Intervention forcierte die Herausbildung eines industriellen Sektors, der zunehmend kapitalistischer Produktion folgt. Ausgehend von den urbanen Zentren erfasste diese Rationalisierung, unterstützt durch den Ausbau des Verkehrsnetzes, die Einführung moderner Produktionsmittel und -methoden sowie das Angebot von Krediten, auch mehr und mehr den ländlichen Arbeitsmarkt. Die Mechanisierung der landwirtschaftlichen Produktion erhöht deren Produktivität, gleichzeitig geht das Volumen manueller Tätigkeiten zurück. Als Konsequenz hieraus wird überschüssige Arbeitskraft freigesetzt, was die Nachfrage an unqualifizierter Kinderarbeit reduziert. Deren Einsatzmöglichkeiten auf dem Land beschränken sich heute weitgehend auf Saisonarbeit, oft in Form von Erntehelfern. Parallel dazu entstehen in den Städten neue Arbeitsplätze. Der Übergang von Subsistenzwirtschaft zu bezahlter Lohnarbeit vollzieht sich. Tabelle 5 belegt entsprechende Bewegungen in der Verteilung der Beschäftigungssektoren. Tabelle 5: Beschäftigte nach Sektor zwischen 1935 & 2000 (%) Jahr
Industrie
Landwirtschaft
Dienstleistung
Konstruktion
Aktivität nicht genau definiert
1935a 1950a 1960b 1970a 1980c 1990c 2000c
--8 -12 13 13
82 86 75 68 60 54 48
--17 -23 28 34
----4 5 5
----1 1 0
a
Quelle: Buhbe 1996: 244; 2003: 55.
b
State Institute of Statistics 2001: 162;
c
State Institute of Statistics
Selbst wenn im Jahr 2000 noch knapp die Hälfte aller Beschäftigten im landwirtschaftlichen Bereich tätig ist, hat sich daneben bereits ein starker Dienstleistungssektor herausgebildet, der 34% aller Erwerbstätigen beschäftigt. Interes-
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3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
sant ist ein offensichtlich direkter Übergang von Agrar- zu Dienstleitungsgesellschaft, ohne dass es zunächst einen umfangreichen Zuwachs an industriellen Arbeitsplätzen gegeben hätte. Heute werden 57% des Brutto-Inland-Produktes (BIP) durch Dienstleistungen erwirtschaftet und 30% von der Industrie; nur 13% trägt die Landwirtschaft als der beschäftigungsstärkste Sektor hierzu bei (2001, The World Factbook 2003): Dieser Wert ist zumindest insofern zu relativieren, als die landwirtschaftliche Produktion nach wie vor zu einem nicht unerheblichen Anteil der Eigenversorgung dient und die hierfür produzierten Güter und Dienstleistungen typischerweise nicht im BIP erfasst werden (können). Das Fortschreiten der Industrialisierung findet regional höchst unterschiedlich statt, wobei sich das bestehende West-Ost Gefälle weitgehend mit dem Stadt-Land Gefälle deckt: Seit jeher konzentrierten sich die Städte und zentralen Handelsplätze im mediterranen Raum (Ritter & Richter 1990: 31). Diese ungleiche Urbanisierung ist bis heute erhalten geblieben (vgl. Abb. 7) und stellt eine zentrale Ursache der ungleichen Modernisierung dar. Abbildung 7:
Verstädterungsrate nach Region 1950 & 1985
% 100 90 80
1950 1985
70 60 50 40 30 20 10 0 Süd Marmara
Ägäis
Zentral
Süd-Ost
Anatolien
Ost Schwarzes Meer
Quelle: Arslan 1989: 3.
Als Reaktion auf die regionenspezifische Verteilung von Arbeitsplätzen bzw. infolge der schweren Existenzbedingungen auf dem Land, kam es zu gewaltigen Migrationswellen (i) vom Land in die Stadt, (ii) vom Osten der Türkei in die westlichen, wirtschaftlich weiter entwickelten Gebieten und nicht zuletzt auch
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
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(iii) in das Ausland. Der nationale Wanderungsfluss dauert bis heute an,18 auch wenn das derzeitige Potential an (Lohn-) Arbeitsplätzen in den Städten bei Weitem nicht der ernorm wachsenden Nachfrage genügt. Die Abbildung 8 zur Bevölkerungsentwicklung illustriert, dass die städtische Wachstumsrate den Bevölkerungszuwachs auf dem Land deutlich übersteigt. Teilweise resultiert hieraus eine Entvölkerung ländlicher Regionen; ab den 1980ern bewegt sich die Wachstumsrate auf dem Land sogar im negativen Bereich, was angesichts deren höherer Geburtentätigkeit höchst eindrucksvoll das Ausmaß der Abwanderung schildert. Abbildung 8:
Bevölkerungswachstum zwischen 1935 & 1990
% 7 6
Stadt
Land
5 4 3 2 1 0 1935
1940
1945
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
-1 -2
Quelle: State Institute of Statistics 2001: 5.
Das enorme Städtewachstum eilt jedoch der industriellen Entwicklung voraus (Ritter & Richter 1990: 17). Rezession, wachsende Staatsverschuldung und
18 Istanbul nimmt eine zentrale Rolle sowohl als Ziel- aber auch als Quellgebiet (= Ausgangspunkt internationaler Migration) der türkischen Migration ein: Die Zuwanderung im Jahr 2000 umfasste knapp 1 Million Personen; im selben Jahr wanderten in etwa halb so viel Personen ab (State Institute of Statistics 2004: 48). Schätzungen zufolge besteht die Bevölkerung Istanbuls zu ca. 70% aus Zuwanderern (Bayaz 1997: 103).
58
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
außerordentlich hohe Inflationsraten19 verschärfen die Probleme auf dem städtischen Arbeitsmarkt. Umso erstaunlicher sind die vergleichsweise geringen Arbeitslosenraten, die in den letzten Jahren zwischen 8% (1990) und 10% (2004) rangierten (State Institute of Statistics 2003a, 2004) – allerdings sind sie mit Vorsicht zu bewerten. Es ist zu vermuten, dass das tatsächliche Ausmaß auf Grund beträchtlicher verdeckter Arbeitslosigkeit unterschätzt wird. Da keine staatlichen Transferzahlungen in Aussicht stehen, wird sich ein nicht unerheblicher Teil der Arbeitslosen auch nicht als Arbeit suchend registrieren lassen. Relativieren lässt sich die geringe Arbeitslosenrate zudem durch hohe Anteile Arbeitender in der Schattenwirtschaft sowie im Niedriglohnsektor. Die Tabelle 6 zeigt auf, dass sich die Arbeitslosenraten zwischen Frauen und Männern nahezu nicht unterscheiden und die Arbeitslosigkeit in der Stadt höher ausfällt als auf dem Land. Ferner wird eine für ländliche Regionen um 10% höhere Beschäftigungsrate als in der Stadt sichtbar, sowie eine Erwerbsbeteiligung der Frauen von 25% – verglichen mit 72% bei den Männern. Tabelle 6: Arbeitslosen- und Beschäftigungsratena 2004 Erwerbsbeteiligung
Gesamt
Stadt
Land
Frauen
Männer
Arbeitslosenrate
10
14
6
10
11
Beschäftigungsrate
49
45
55
25
72
Quelle: State Institute of Statistics 2004: 148. Anmerkung: a bezogen auf Bevölkerung ab dem 15. Lebensjahr.
Die geringe Beschäftigungsrate der Frauen in Verbindung mit ihrer zugleich niedrigen Arbeitslosenrate erklärt sich durch die Vielzahl von Hausfrauen: Im selben Jahr betrug ihr Anteil an den nichterwerbstätigen Frauen 71% (State Institute of Statistics 2004: 151). Hinzu kommt, dass ein Großteil von ihnen als unbezahlte, mithelfende Familienangehörige einer Arbeit jenseits eines offiziellen Arbeitsverhältnisses nachgeht. Eine Statistik zum Beschäftigungsstatus (Tab. 7) belegt, dass mehr als zwei Drittel (69%) aller Frauen in dieser Form tätig sind. Demgegenüber bezieht ein Großteil der Männer als Angestellte (55%) oder Selbstständige (28%) ein Einkommen. Damit werden viele Frauen vom Arbeitsmarkt abgezogen und tauchen nicht in der Arbeitslosenstatistik auf. Das erklärt auch die vergleichsweise geringeren Arbeitslosenraten auf dem Land –
19
Berechnungen, basierend auf Daten des State Institute of Statistics von Dibooglu & Kibritcioglu (2001), ergeben für die 1980er einen Höhepunkt der Inflationsrate von ca. 140%, die bis 2001 auf ca. 40% zurückgegangen ist. Eine ähnliche Rate berichtet das World Factbook (2003) mit 45%.
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
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nicht nur unter den Frauen: Hier ist das Muster der unbezahlten Mithilfe im Familienbetrieb weit verbreitet. Tabelle 7: Beschäftigungsstatus und -sektoren 2000 (%) Beschäftigungsstatusa Männer
Angestellte
Arbeitgeber
Selbständige
55
4
28
unbezahlte Familienarbeiter 14
24
1
6
69
Industrie
Landwirtschaft
Dienstleistung
Konstruktion
Männer
17
33
45
7
Frauen
7
76
17
0
Frauen Beschäftigungssektorb
Quelle: a State Institute of Statistics 2003: 55; b State Institute of Statistics 2003: 57.
Diese Darstellung deutet auf die benachteiligte Stellung der Frau im außerhäuslichen Erwerbssektor hin: Während ihre Verdienstmöglichkeiten auf dem Land außerordentlich stark beschränkt sind, wird ihre Etablierung auf dem städtischen Arbeitsmarkt nicht zuletzt durch ihre durchschnittlich geringere Bildung und einer damit einhergehenden, schlechten Konkurrenzfähigkeit erschwert (Ergöcmen 1997: 86ff.; Özbay 1985: 128f.). Ferner behindern traditionelle Rollenbilder die Aufnahme einer Berufstätigkeit: Als wichtige Gründe für ihre Erwerbslosigkeit führen Frauen (zwischen 15 und 49 Jahren) ihre Verpflichtung zur Kinderbetreuung sowie die Übernahme der Haushaltsarbeit an (29%) und nennen häufig ein Verbot des Ehemannes oder anderer älterer Familienmitglieder (25%) (eigene Auswertungen des TDHS aus dem Jahr 1998). Im Gegenzug ergibt sich aus der Haushaltsperspektive zunehmend die wirtschaftliche Notwendigkeit, dass die Frau (ebenfalls) einer Erwerbstätigkeit nachgeht20 (Özbay 1985; Sönmez 1996). Allerdings beschränken sich ihre Erwerbsmöglichkeiten gerade unter diesen Bedingungen sehr häufig auf den informellen Sektor, die Schattenwirtschaft, unqualifizierte Tätigkeiten in der Produktion, Tätigkeiten, die schlecht bezahlt werden und keine soziale Absicherung bieten (Kazgan 1985; Moghadam 1996; Özbay 1991). Ecevit (1988) spricht von einer Marginalisierung der Frauen auf dem städtischen Arbeitsmarkt; sie haben kaum von den in den letzten Jahrzehnten ansteigenden Beschäftigungsmöglichkeiten v. a. in 20
Konträr zum ökonomisch bedingten Zwang einer zusätzlichen Einkommensquelle durch die Frau in den unteren sozialen Schichten, zeichnet sich in traditionellen Kreisen der städtischen Mittelklasse eine Art ‚Hausfrauen-Ideologie’ ab: Durch eine bewusste Erwerbslosigkeit soll die ökonomische Besserstellung der Familie angezeigt werden (Erman 2001: 124).
60
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
der Industrie sowie im Dienstleistungsbereich profitiert. Ihre Tätigkeiten im informellen Sektor werden zudem weniger anerkannt als tatsächliche Erwerbstätigkeit, sondern vielmehr als Erweiterung ihrer häuslichen Arbeiten interpretiert – nicht nur von den Männern, sondern auch von den betroffenen Frauen selbst, die sich trotz teilweise beträchtlicher Beträge zum Familieneinkommen als Hausfrauen verstehen. Unabhängig von den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Bildungs- und Erwerbsbeteiligung, lässt sich unter Verwendung des TDHS 1998 für die dort befragten Frauen belegen, dass sich mit zunehmender Bildung ihre beruflichen Chancen verbessern. Es zeigt sich ein moderat positiver Zusammenhang, der beispielhaft an der Abhängigkeit der Berufsposition von der Anzahl der Schuljahre aufgezeigt werden soll (vgl. Abb. 9): Abbildung 9:
Zusammenhang Bildungsbeteiligung und Erwerbstätigkeit
Schuljahre 14 12
Verkauf
Handwerk
Landwirt.
2
Erwerbslos
4
Dienstleistung
6
Büroangestellte
8
Prof./Technik./Managerin
10
0 Quelle: Eigene Auswertung THDS 1998, Frauen zwischen 15 & 49, nicht mehr in Ausbildung. Anmerkung: eta²= 0.27 (p< 0.01, unter Kontrolle des Alters).
Erwerbslose Frauen und solche, die im Landwirtschaftssektor tätig sind oder haushaltsbezogenen, handwerklichen Beschäftigungen nachgehen, weisen die geringste (formale) Bildung auf (zwischen durchschnittlich 4 und 6 Schuljahren). Die durchschnittlich höchste Anzahl an Schuljahren haben Büroangestellte und hoch Qualifizierte in technischen Berufen, Professorinnen und Managerinnen (12 bzw. 13 Jahre) absolviert. Die Bildung variiert höchst signifikant zwischen den unterschiedlichen Erwerbspositionen, woraus sich, trotz bedingter
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
61
Gültigkeit der unterstellten Hierarchie, die grundsätzliche Tendenz ableiten lässt, dass mit steigender Bildung der berufliche Status wächst. Interessant ist, dass sich in städtischen und stärker modernisierten Regionen (Zentral-, Nord- und Mittelanatolien), Bildung deutlicher in der späteren beruflichen Stellung niederschlägt; dasselbe gilt für Frauen in höheren ökonomischen Schichten. Unter der Bedingung geringer (individueller) Modernisierung und geringem Wohlstand ist die Erwerbsposition der Frau, d. h. ob sie überhaupt einer Erwerbstätigkeit nachgeht, in welchem Umfang, in welcher beruflichen Stellung und mit welcher Bezahlung, eher unabhängig von ihrem Bildungsniveau. Erwerbstätigkeit mag hier stärker von entsprechenden Gelegenheitsstrukturen auf dem Arbeitsmarkt bestimmt sein, sowie davon, ob die Familie auf den Zuverdienst der Frau angewiesen ist oder nicht. In diesem Zusammenhang ist auf eine ausgeprägte Polarisierung auf dem städtischen weiblichen Arbeitsmarkt zu verweisen, die sich als „a heavy base of non-qualified women, a relatively heavy top of qualified, professional women, and an indentation in the distribution of the semi-qualified category“ dargestellt (Kandiyoti 1982: 103). Ein solches Verteilungsmuster scheint kennzeichnend für Länder im mittleren Osten, ist hingegen in westlichen Industrienationen eher unbekannt. Dieses Phänomen ist zumindest ein Indiz für einen, wenn auch u. U. selektiven, so doch ungewöhnlich guten Zugang von Frauen zu hohen und angesehenen Berufspositionen zu verstehen.21 Diese Vermutung wird dadurch gestärkt, dass für das Jahr 2004 ein Frauenanteil in hohen Berufspositionen, d. h. Beamte, Manager und (technische) Fachleute, von 20% festzustellen ist (State Institute of Statistics 2004: 153). Das mag zumindest teilweise durch (i) das System der zentralen Zuweisung von Studienplätzen verursacht sein: Entsprechend der in der Zugangsprüfung gezeigten Leistung werden Studienort und -fach vergeben, was der Tendenz entgegen wirkt, dass Frauen Studienrichtungen bevorzugen, die an schlechtere Verdienst- und Karrieremöglichkeiten gekoppelt sind. Darüber hinaus ergab sich (ii) im Zuge der Staatsgründung die Situation eines umfassenden Angebotes an Arbeitsplätzen in hohen Berufspositionen, die von staatlicher Seite mit dem Absicht bereit gestellt wurden, dass die gut ausgebildeten Fachkräfte die Einführung fortgeschrittener Technologien in das ‚unterentwickelte’ Land überwachen und vorantreiben. Schließlich (iii) können erwerbstätige Frauen in der Türkei auf ein recht dichtes Unterstützungssystem zurückgreifen, die die im Westen Europas übliche Vereinbarkeitsproblematik von Erwerbstätigkeit und familialen/ häuslichen Verpflichtungen entschärft: Neben dem Verwandtschaftsnetzwerk stehen v. a. den besser gestellten Familien billige 21
Bereits Safilios-Rothschild (1971) konnte eine kurvilineare Beziehung zwischen Entwicklungsstand und Zugang zu hohen Berufspositionen nachweisen. Dieser Befund ist möglicherweise auf die Türkei als Schwellenland übertragbar.
62
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
Haushaltshilfen zu Verfügung, die von haushalts- und kinderbezogenen Aufgaben entlasten können – eine Form externer Unterstützung, die v. a. in der städtischen Oberschicht auch auf Akzeptanz stößt (vgl. Kandiyoti 1982: 111f.). Die Befunde dokumentieren, dass das Bildungsniveau im Durchschnitt angehoben werden konnte und dass sich für Frauen grundsätzlich die Chance eröffnet hat, hohe Qualifikationen zu erzielen und diese auch mit gewissem Erfolg auf dem Arbeitsmarkt zu verwerten. Gleichwohl sind Bildungsunterschiede erhalten geblieben, die sich auch im Erwerbsleben fortsetzen. Es ist v. a. die spezifische Gruppe städtischer Frauen aus höheren Schichten, die von der Umstrukturierung des Bildungs- und Erwerbssystems profitiert hat. Regionale Differenzen haben sich teilweise sogar verstärkt, was nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer trifft. 3.3 Staatliche Sozialabsicherung In der Türkei wird traditionell die individuelle Risikoabsicherung privat organisiert und geleistet. Hierbei kommt typischerweise den eigenen Nachkommen die tragende Rolle zu. Eltern knüpfen hohe Erwartungen an ihre Kinder bezüglich deren Unterstützungsleistung, sowohl in finanzieller als auch praktischer Hinsicht. Dennoch wurden erste Schritte zum Aufbau eines staatlichen Sicherungssystems bereits Mitte des 20. Jahrhunderts gemacht und inzwischen lassen sich drei große Sozialversicherungen unterscheiden (State Institute of Statistics 2003a), die die Bereiche Berufsunfähigkeit, Arbeitsunfälle, Krankenversicherung und die Altersvorsorge abdecken und jeweils an unterschiedliche Berufsgruppen gerichtet sind: Der Government Employees Retirement Fund von 1949 bietet seit seiner Gründung Angestellten des öffentlichen Dienstes soziale Unterstützungsleistungen innerhalb eines Rentenfonds an. Ab 1950 werden durch die Social Security Institution alle Angestellten innerhalb städtischer Grenzen rentenversichert; Angestellte in kleinen Betrieben mit weniger als vier Personen sind erst seit dem Sozialversicherungsgesetz von 1965 eingeschlossen. Mit der Einführung des BAO-KUR werden seit 1971 auch Selbständige versichert. Diese Ausweitung auf den Landwirtschaftssektor erfolgte erst in jüngster Vergangenheit: Selbstständige in der Landwirtschaft können sich seit 1983 hierüber absichern, Arbeiter in der Landwirtschaft seit 1984. Die Abbildung 10 verdeutlich die wachsende Einbindung der Bevölkerung in das staatliche Sozialversicherungssystem, dessen Deckungsumfang sich seit den 1950ern kontinuierlich erhöht hat: 1998 sind 88% sozial- und 78% krankenversichert.
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
63
Abbildung 10: Sozial- und Krankenversicherung zwischen 1950 & 1998 % 100 90 80
Sozialversicherte Personen Krankenversicherte Personen
70 60 50 40 30 20 10 0 1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
1998
Quelle: State Institute of Statistics 2001: 117, Anteile basieren auf Informationen der drei Versicherungsgesellschaften.
Diese Illustration lässt den Ausbau eines weitgehend geschlossenen, sozialen Netzes vermuten, allerdings ist Vorsicht geboten. So finden sich alternative Quellen, die ein weniger optimistisches Bild zeichnen: „1994 waren 9,6 Millionen Personen in der Türkei staatlichen oder sonstigen privaten Sozialversicherungen angeschlossen. Nur knapp die Hälfte der Beschäftigten stand unter Versicherungsschutz“ (Sen 1996: 85). Eigene Auswertungen des TDHS 1998 belegen, dass 57% der Frauen und 63% ihrer ebenfalls befragten Ehemänner krankenversichert sind. Ferner leisten 57% der Männer Sozialversicherungsbeiträge, aber nur 8% der befragten Frauen (zwischen 15 und 49 Jahren). Die Unterschiede werden einerseits dadurch hervorgerufen, dass in die amtliche Statistik auch die Personen einfließen, die kurzfristige Hilfe in Notfällen, z. B. hervorgerufen durch Naturkatastrophen, erhalten haben. Diese Art der Unterstützung wird im Wesentlichen durch das Rote Kreuz bereitgestellt und hat weniger den Charakter von kontinuierlicher sozialer Absicherung. Andererseits werden alle mitversicherten Familienangehörigen einberechnet, die keinen eigenständigen Anspruch haben, aber im Falle des Todes des Beitragszahlers eine Hinterbliebenenbzw. (Halb-) Waisenrente erhalten. Einen eigenständigen Rentenanspruch erwerben aber lediglich die vom TDHS ausgewiesenen 8% der Frauen. Das geht zunächst auf den geringen Anteil von Frauen zurück, die in einem offiziellen Angestelltenverhältnis stehen (34%), von denen wiederum nur 24% Sozialversicherungsbeiträge entrichten. Die Mitgliedschaft ist freiwillig und angesichts
64
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
durchschnittlich geringer Verdienste ist die Motivation hierzu recht gering. Hinzu kommt die notorisch hohe Inflationsrate in der Türkei, die langfristige Geldanlagen in staatliche Versicherungsfonds unsicher macht. In den unteren Einkommensklassen, in denen Transferzahlungen besonders relevant wären, würden sie in Anbetracht der niedrigen Löhne ohnehin kaum zur Deckung des Lebensunterhaltes ausreichen.22 Im Jahr 1999 wurden lediglich 14% des Bruttoinlandproduktes für soziale Belange ausgegeben,23 was zum Großteil im Bereich Gesundheit (5%) sowie Renten- und Pensionszahlungen (6%) Verwendung fand. Lediglich 1% floss in den Beschäftigungssektor (OECD 2004), was weitgehend der Finanzierung der staatlichen Arbeitsämter dient, über deren Effizienz jedoch wenig bekannt ist. Klar wird allerdings, dass Ersatzleistungen im Fall von Arbeitslosigkeit nicht gezahlt werden. Als Resümee ist festzuhalten, dass trotz der Einführung staatlicher Versicherungsinstitutionen, die zunehmend auch durch kommerzielle Unternehmen ergänzt werden, bisher kein effektives Sicherungssystem entstanden ist, welches eine zusätzliche bzw. alternative Absicherung über das familiale Netzwerk überflüssig machen würde. Überdies ist zu vermuten, dass privater Vorsorge durch die eigene Familie bzw. durch Kinder ohnehin größeres Vertrauen geschenkt wird, weil sich dieses Prinzip über lange Zeit hinweg bewährt hat. Deshalb sollte ihm auch weiterhin eine hohe Bedeutung zukommen, v. a. in finanziell schlecht gestellten Familien, denen kaum Alternativen zur Verfügung stehen. Unterstützend hierbei erweist sich die in der Türkei weit verbreitete, deszendente Familienorganisation, die die familiale und insbesondere intergenerationale Solidarität betont. Zahlreichen Studien zufolge blieb selbst unter Migrationsbedingungen sowie im städtischen Kontext die Funktion der Familie als primäre Sicherungsinstitution erhalten. So hält Kiray (1985: 89) Mitte der 1980er fest: „Despite migration (…) the family, in major Turkish cities, is still the social institution which provides care for individual which accomplishes adaption through change and which serves, for everybody, as a milieu where the most frequent and intimate relations are maintained”.
Auch reichlich zehn Jahre später hat sich daran scheinbar nicht viel verändert: „Kinship will remain the chief base of solidarity, comfort and support for the individual, even in big cities” (Günes-Ayata 1996: 105). Offen bleibt, inwiefern sich diese traditionellen Arrangements zukünftig durchsetzen können. 22 Nach Angaben der World Bank (2003: 74) belief sich 1997 die Altersrente auf 56% des Einkommens. 23 Zum Vergleich: In Deutschland belief sich dieser Anteil im Jahr 1998 auf 27%. Gleichwohl ist für die Türkei ein verhältnismäßig deutlicher Fortschritt zu konstatieren, da knapp 20 Jahre früher lediglich 4% Sozialausgaben getätigt wurden (OECD 2004).
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
65
3.4 Familie und Verwandtschaft Familie und Verwandtschaft bilden die fundamentale Institution im sozialen Gefüge der türkischen Gesellschaft. Aus ihr ergeben sich wichtige Implikationen für die Bedeutung und Ausgestaltung intergenerationaler Beziehungen, was wiederum den Rahmen abgibt, innerhalb dessen Fertilitätsentscheidungen getroffen und realisiert werden. Nach wie vor ist die Existenz des Einzelnen sehr stark an die Familie gebunden, was ganz offensichtlich an die umfangreichen Funktionen gekoppelt ist, die sie erfüllt: „The family is in charge of providing many things, since there is no institutionalization in many fields. (…) it provides the individuals with additional social and economic support. Deeds like justice, social insurance and exchanges between the individuals are performed under the shelter of the family” (Birsen 1994: 108).
Über die Familie werden noch in der Gegenwart zahlreiche Bedürfnisse bedient, für deren Befriedigung kaum wirkungsvollere Alternativen zur Verfügung stehen. Trotzdem deuten sich Veränderungen an, die einerseits in engem Zusammenhang mit dem vorangehend skizzierten wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in der Türkei stehen und andererseits Ausdruck sich wandelnder Familien- und Verwandtschaftsstrukturen sind. Das Verwandtschaftsregime ist von maßgeblicher Bedeutung für den Wert von Kindern und damit für die Fertilität. Ausgangspunkt des folgenden Abschnitts bildet die Unterscheidung der zwei institutionalisierten Formen von Verwandtschaftsregimes, die beide in der Türkei zu finden sind – das patrilineare Deszendenzsystem und das bilineare Affinalsystem. Aus ihnen ergeben sich für alle zentralen familialen Interaktionsbereiche wichtige Implikationen – v. a. für die Bedeutung und Ausgestaltung der intergenerationalen sowie der partnerschaftlichen Beziehung (vgl. Hill & Kopp 2002; Nauck 2002, 2006; Zelditch 1964). Verwandtschaftsregimes Das im vorliegenden Erklärungszusammenhang zentrale Unterscheidungsmerkmal beider Systeme bezieht sich darauf, in welcher der beiden soeben genannten Beziehungen das Ausmaß der Solidarität am höchsten ist (Nauck 2002). Im Affinalsystem steht die eheliche Beziehung im Vordergrund, was sich vornehmlich in einer vergleichsweise strikten Trennung zwischen Gatten- und Herkunftsfamilie ausdrückt: Die Ehe kommt auf Basis einer eigenständigen Partnerwahl zustande, die Haushaltsgründung nach der Eheschließung erfolgt in der Regel neolokal, die Erbschaftsregeln begünstigen den hinterbliebenen Gat-
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3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
ten. Die Geburt von Kindern erfolgt meist erst dann, wenn die ökonomischen Voraussetzungen hierfür bereit gestellt sind, etwa durch den Abschluss einer Ausbildung und dem erfolgreichen Einstieg ins Erwerbsleben. In umgekehrter Weise dient im Deszendenzsystem die rasche Geburt von Kindern der Schaffung ökonomischer Sicherheit, was impliziert, dass umfangreiche Erwartungen an die Nachkommen gerichtet werden (Nauck 2002: 18). In der Türkei ist das Deszendenzsystem patrilinear organisiert, weshalb die (Fortführung der) männliche(n) Abstammungslinie höchste Priorität besitzt. Im Deszendenzsystem sind familiale Prozesse sehr viel umfangreicher ritualisiert als im Affinalsystem; in der Regel werden Ehen arrangiert und das junge Ehepaar zieht zunächst in den elterlichen Haushalt des Bräutigams ein. Die Generationenbeziehung, die sich durch hohe Verpflichtung und Solidarität auszeichnet, genießt Vorrang vor der Ehebeziehung. Stirbt das männliche Oberhaupt der Familie, so erben nach dem Gewohnheitsrecht ausschließlich die männlichen Nachkommen – ein Modell, dass auch heute noch praktiziert wird, trotz dass das türkische Familiengesetz ein Drittel für den (Ehe-) Partner und zwei Drittel für die Kinder vorschreibt, die jeweils und unabhängig vom Geschlecht zu gleichen Teilen erben (Nauck 2002: 18). Die Familie als wirtschaftliche Einheit ist nicht zuletzt wegen ihres (zumindest temporären) Umfangs auf eine klare interne Organisation angewiesen. Sowohl die Generationenbeziehungen als auch die Geschlechterverhältnisse sind umfangreich geregelt: Jedem Mitglied wird in dem stark hierarchisch geordneten Gefüge der Familie eine klare Position zugewiesen, die mit einer eindeutigen Rolle sowie spezifischen Aufgaben verbunden ist. Ausgeprägte Statusdifferenzierung entlang des Geschlechts und des Alters sind bezeichnend mit der Autorität des Patriarchen an oberster Stelle: Bei ihm laufen alle Kontrollrechte zusammen. Die Vielzahl der existierenden Bräuche und Vorschriften ist höchst funktional aufeinander abgestimmt und zielt letztendlich auf eine optimale Realisierung des wirtschaftlichen Überlebens ab, was grundsätzlich auch dem weniger extensiven Regelungssystem innerhalb des Affinalsystems unterstellt werden kann. In der Türkei dominiert das patrilineare Deszendenzsystem: Es ist v. a. unter der ländlichen, agrarisch geprägten Bevölkerung mit geringer Bildung zu finden. Das affinalverwandtschaftliche Regime hingegen genießt im städtischen Kontext sowie unter hoch Gebildeten weite Verbreitung (Nauck 2002: 18f.). Nicht abschließend geklärt sind die Ursprünge und damit auch das Verhältnis beider Systeme: Bastug (2002) zufolge gelangten die patrilinearen Strukturen mit der Zuwanderung türkischsprachiger, nomadischer Hirtenvölker vor ca. 2000 Jahren in das Gebiet der heutigen Türkei.
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„There is considerable reason to believe that the kinship system outlined above remained constant among Turkic peoples (…) as long as they remained predominantly or even partially pastoral nomadic (…) During the early Seljuk years [11. Jahrhundert], however, the tribally organized Turkmen nomads began to settle, becoming in many cases semi-nomads. (…) The Process of settlement was intensified during the Ottoman Empire [ab dem 15. Jahrhundert], even more so in the republican era, and still continuous to the present“ (ebd.: 103).
Indem die Türken zunehmend sesshaft wurden und sich mehr und mehr der landwirtschaftlichen Produktion widmeten, in Verbindung mit ihrer Konvertierung zum Islam vor ca. 1000 Jahren, verloren einzelne Rituale an Bedeutung, die speziell ihrer stammesbezogenen, patrilinearen Deszendenz entsprangen: „This contributed considerably to the destruction of the powerful lineages of the nomadic Turkmen, as it removed the cultural base for the remembrance of common ancestors and created the ground for smaller patrilineal units of intergenerational solidarity“ (Nauck & Klaus 2008). Interessant ist, dass das Affinalsystem sehr wahrscheinlich schon vor dem Deszendenzregime, v. a. in den sich herausgebildeten Städten der westlichen Mittelmeerregion, praktiziert wurde – vermutlich durch die Griechen eingeführt, die sich hier schon sehr früh angesiedelt hatten. Selbst während der Zeit des Osmanischen Reiches verschwand dieses Verwandtschaftsregime, trotz der Dominanz des deszendenten Organisation, nicht vollständig. Unumstritten mag die Relevanz von ökologischen Bedingungen und den daran ausgerichteten Produktionsformen für die Herausbildung der einen oder anderen familialen Organisationsstruktur sein. Die konkrete Kausalstruktur konnte jedoch bisher nicht aufgedeckt werden, weshalb auch offen bleibt, ob sich im Zuge der derzeit anhaltenden, rasant fortschreitenden Verstädterung in der Türkei, verbunden mit (individueller) Modernisierung, das Affinalsystem ausbreiten und letztendlich das Deszendenzsystem verdrängen wird oder ob Letzteres (in modifizierter Form) erhalten bleibt. Diese Frage wird am Ende der Arbeit noch einmal aufgegriffen, wenn es darum geht, Prognosen zur zukünftig zu erwartenden Fertilitätsentwicklung aufzustellen. Heirat und eheliche Beziehung Aus dem Deszendenzsystem leitet sich ein spezifisches Muster der Verheiratung ab, dass v. a. deshalb für einen Großteil der Bevölkerung handlungsrelevant ist, als deszendente Strukturen nach wie vor dominieren. Darüber hinaus beeinflusst es den Heiratsmarkt derart stark, dass auch Bevölkerungsschichten, die in das Affinalsystem eingebettet sind, in ihrem Heiratsverhalten hiervon indirekt betroffen sind. Die Eheschließung im Deszendenzsystem trägt den Charakter eines
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wirtschaftlichen Vertrages zwischen zwei Familien(-systemen), da es vordergründig um die Transaktion von materiellen Gütern und Humankapital geht. Insofern gibt es stark institutionalisierte Heiratsmodalitäten und Bräuche, die einerseits dem Familienoberhaupt erlauben die Interessen seiner Familie durchzusetzen und andererseits dem wirtschaftlichen Ausgleich zwischen beiden Familien dienen (vgl. Nauck & Klaus 2005: 367ff.): Ehen werden von den betroffenen Partnern nicht selbst beschlossen, sondern von deren Familien bzw. den jeweiligen Oberhäuptern beider Familien. Eine endogame Heiratspräferenz, wonach der Verwandtschaftskreis den primären Heiratsmarkt bildet, dient dazu den Besitz möglichst in einem Verwandtschaftssystem zu erhalten. Da Töchter, der patrilokalen Haushaltsgründung zufolge, im Zuge ihrer Heirat den elterlichen Haushalt verlassen, werden reziproke Heiraten bevorzugt, deren wesentlicher Vorteil im Ausgleich der weiblichen Arbeitskräfte besteht. Im Rahmen von Eheverhandlungen zwischen den Familien wird u. a. Höhe und Art des zu leistenden Brautpreises festgesetzt – ein Brauch der hauptsächlich dem Zweck ökonomischer Kompensation für die Brauteltern dient, die durch die Verheiratung ihrer Tochter eine wertvolle Arbeitskraft verlieren. Die Eheschließung findet im Rahmen einer religiösen Zeremonie statt. Angesichts der seit 1926 vorgeschriebenen standesamtlichen Heirat, beruht jedoch ein Großteil der Ehen auf beiden Trauungen. Das Deszendenzregime ist auf Grund des hohen elterlichen Interesses, die Kinder zu verheiraten, maßgeblich für die in der Türkei nach wie vor hohe Verheiratungsquote verantwortlich, die gleichzeitig das Erstheiratsalter stark nach unten drückt, weil jeder Aufschub das Angebot auf dem Heiratsmarkt reduziert und verschlechtert (Nauck 2002: 22). Das beeinflusst den Heiratsmarkt derart, dass sich selbst Frauen, die dem Affinalsystem folgen, früh festlegen müssen. Gleichwohl weicht das Heiratsverhalten in jüngster Zeit zunehmend von diesem traditionellen Muster ab. Wie bereits in Kapitel 2 gezeigt, treten Frauen heute später in den Verheiratungsprozess ein. Auswertungen des TDHS 1998 belegen nun überdies einen Wandel der Heiratsmodalitäten: Die Abbildung 11 zeigt zunächst, dass der Anteil der durch die Herkunftsfamilien arrangierten Ehen, über die Zeit hinweg gesunken ist, insbesondere ging der Prozentsatz der Ehen zurück, die ohne Einwilligung der betroffenen Partner geschlossen wurden – von 27% (Heiratskohorte 1959-1968) auf 5% (Heiratskohorte 19891998). Parallel dazu nahmen die Eheschließungen zu, die auf der Entscheidung der zukünftigen Eheleute basieren und zudem die Zustimmung beider Familien hatten: von 16% in der ältesten auf 42% in der jüngsten verfügbaren Heiratskohorte. Nach wie vor entsteht ein substantieller Teil der Ehen durch Flucht oder Brautentführung (5%), dennoch zeichnet sich ein leicht rückläufiger Trend ab. Die Konsequenzen dieser beiden Traditionen sind sehr weit
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reichend, insbesondere für die Frau, da der Kontakt zur Herkunftsfamilie damit typischerweise unwiederbringlich abgeschnitten wird, auch wenn sie, wie im Fall ihrer Entführung, zur Ehe gezwungen wurde. Abbildung 11: Ehearrangements nach Heiratskohorte % 60 50 40
1959-1968 1969-1978 1979-1988 1989-1998
30 20 10 0 ohne Zustimmung
mit Zustimmung
Selbständige Wahl
ohne Zustimmung
mit Zustimmung
Arrangierte Ehe
Flucht/ Brautenführung
Quelle: Eigene Berechnungen unter Verwendung des TDHS 1998; Frauen in Erstehe.
Auch die übliche Praxis der Brautpreiszahlung sowie die endogame Heiratspräferenz haben über die Zeit hinweg an Bedeutung eingebüßt: Wurde der Brautpreis noch von 48% in der ältesten Heiratskohorte erbracht, so waren es nur noch 18% in der jüngsten Kohorte. Für Heiraten zwischen Verwandten ist ein Rückgang von 31% auf 23% zu verzeichnen. Insgesamt verweist die kohortenvergleichende Betrachtung auf ein erkennbares Abrücken vom Verheiratungsprozess, wie er sich typischerweise im deszendenten Regime vollzieht: Eigenständige Partnerwahl, Aufschub der Heirat, standesamtliche Zeremonie sowie ausbleibende Brautpreiszahlungen sind deutliche Hinweise hierfür. Die Ursachen dieser Entwicklung sind von nicht unerheblichem Interesse, weil sich darin ein wesentlicher Aspekt der Diskussion des Verhältnisses von Deszendenz- und Affinalsystem widerspiegelt. Evident für die Türkei ist die Wirkung von rechtlichen Maßnahmen, wie sie im Gefolge des Übergangs vom islamischen Recht hin zu einem westlich ausgerichteten Zivil- und Grundrecht durchgeführt wurden: Bedingt durch die Festsetzung eines Mindestheiratsalters sowie die alleinige Anerkennung der standesamtlich vollzogenen Eheschließung, steigt notwen-
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3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
digerweise das Heiratsalter, während der Anteil ausschließlich religiöser Heiraten sinkt. Zudem ist eine Eheschließung nur dann wirksam, wenn sich beide Partner hiermit einverstanden erklären, was die Gelegenheiten für Zwangsheirat herabsetzt. Es ist jedoch auch plausibel, Veränderungen wirtschaftlicher (Wirtschaftsform, Arbeitsorganisation) sowie sozialer Art (Bildungssystem, soziale Sicherung) als Gründe hinzuzuziehen, die das traditionelle Muster einerseits erschweren, es andererseits auch weniger erforderlich machen. Ist das Heiratsverhalten auf die Funktionserfordernisse der Familie abgestimmt, so muss sich ihr Funktionswandel folglich auch in verändertem Heiratsverhalten niederschlagen. Dass die Funktion der Familie nicht zuletzt angesichts unterschiedlicher struktureller und ökonomischer Rahmenbedingungen auch regional variiert, ist sehr wahrscheinlich und wird durch folgende Auswertung des TDHS 1998 untermauert: Neben Nord-Süd Differenzen kommen v. a. Ost-West Unterschiede zum Vorschein: Im (Süd-) Osten des Landes wurden 16% der Erstehen arrangiert und ohne das Einverständnis der Betroffenen geschlossen, während der entsprechende Anteil im Westen mit nur 6% erheblich geringer ausfällt. Umgekehrt stellt sich das Verhältnis für Ehen mit selbstständiger, einvernehmlicher Partnerwahl dar: 26% vs. 42%. Überdies ist der Anteil ausschließlich religiös geschlossener Ehen im (Süd-) Osten mit 24% mit Abstand am höchsten. Im Westen beträgt er lediglich 2%: Der Großteil der Ehen basiert hier auf einer Kombination von religiöser und standesamtlicher Heirat. In Übereinstimmung hiermit gestalten sich die Eheschließungen zwischen Verwandten sowie nach erfolgter Brautpreiszahlung: Die Anteile fallen im Westen erwartungsgemäß geringer aus (14% bzw. 16%) als im (Süd-) Osten der Türkei (38% bzw. 53%). Hieran ließe sich eine detaillierte Darstellung ähnlich deutlicher Stadt-Land Unterschiede anschließen. Angesichts der Eindeutigkeit der Befunde kann jedoch hierauf verzichtet werden: Zusammenfassend kann bestätigt werden, dass das deszendente Heiratsmuster in der ländlichen Türkei weiter verbreitet ist als in der Stadt. Historische Veränderungen im Heiratsverhalten werden als Indiz für eine Veränderung der Familienstrukturen verstanden. Das deszendente Regime, das trotz der parallelen Existenz des affinalen Regimes familiale und verwandtschaftliche Strukturen und Verhaltensweisen historisch dominiert hat, verliert möglicherweise an Bedeutung bzw. verändert sich zumindest. Das sollte sich nicht nur im Heiratsverhalten, sondern auch in anderen familialen Handlungsbereichen niederschlagen, v. a. in den intergenerationalen Mustern. Zumindest für die Ausgestaltung der ehelichen Beziehung lässt sich eine recht hohe Resistenz traditioneller Muster feststellen. Noch in den 1980ern bilanziert Kagitcibasi (1982: 12): “Male decision making in the family is widespread, communication and role sharing between spouses is limited, indicating
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well differentiated and non-overlappping sex roles”. Das patrilineare Deszendenzsystem impliziert die untergeordnete Stellung der Frau (Fisek 1993; Kagitcibasi 1982; Kandiyoti 1988; Sunar 2002). Frauen sind traditionell im außerhäuslichen Leben kaum sichtbar: Basierend auf der Definition männlicher und weiblicher Aufgaben, ergibt sich eine strikte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, wonach der Mann alle Angelegenheiten außer Haus übernimmt. Unzählige Arbeiten beschäftigen sich mit den Themen Geschlechterungleichheit, Geschlechtsrollen und Ausgestaltung der ehelichen Beziehung – v. a. vor dem Hintergrund der Verstädterung des Landes sowie der andauernden Migration (u. a. Ataca & Sunar 1999; Barasan 1985; Bolak 1988, 1997; Ecevit 1988; Ergöcmen 1997; Erman 2001; Fox 1973; Imamoglu & Yasak 1997; Kagitcibasi 1985; Kandiyoti 1977, 1982, 1988; Kiray 1976; Kuyas 1982; Olson 1982; OlsonPrather 1976; Özbay 1985, 1991). Demnach zeichnen sich zumindest leichte Tendenzen hin zu einer stärker egalitär ausgerichteten Ehebeziehung ab. Die Ehefrau ist nicht länger „silent partner“ (Nauck 2002: 33). Ihre individuellen Ressourcen beeinflussen, im Gegensatz zu denen des Mannes, die eheliche Machtverteilung (Fox 1973: 728). Es zeichnet sich eine, wenn auch sehr langsame Bewegung in Richtung stärker kooperativer Arrangements der innerfamilialen Arbeitsteilung ab (Ataca & Sunar 1999; Özbay 1991). Als besonders beständig erweist sich jedoch die von Olson (1982: 36f.) herausgearbeitete „duofocal family structure“, d. h. “there is no strong single center of intra-familial relationships. Instead, each adult tends to be the focus of his/ her own rather separate social network“. Auch in modernen Kontexten unterhalten die Eheleute weitestgehend gesonderte Netzwerke, wobei die jeweiligen Kontakte hauptsächlich auf Personen des eigenen Geschlechts reduziert bleiben. Die Ehebeziehung in der Türkei ist demnach sowohl durch Wandel als auch Stabilität gekennzeichnet: Während sich die Modalitäten der Partnerwahl und Eheschließung in den letzten Jahren verändert haben, erweist sich die anschließende Ausgestaltung der ehelichen Beziehung als sehr stabil. Veränderungen kommen nur schwer in Bewegung. Kandiyoti (1982: 117) beklagt die beständige Reproduktion der patriarchalischen Strukturen: „The male role seems to have been least affected by change, bolstered as it is by socialization practices, ideology and structural reports”. Abweichend hiervon hat sich die Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern deutlich verändert. Die intergenerationale Beziehung Die familiale Struktur ist nicht nur durch eine starke Statusdifferenzierung entlang des Geschlechts, sondern auch entlang des Alters gekennzeichnet: Respekt
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und Anerkennung gegenüber Älteren haben höchste Priorität und drücken sich in einem umfassenden Regelsystem aus. Das hat u. a. seinen Ursprung in der Notwendigkeit klarer Strukturen und Aufgabenzuschreibungen innerhalb des landwirtschaftlichen Familienverbandes, der historisch betrachtet und teilweise auch heute noch die zentrale Wirtschaftseinheit bildet. Eigene Nachkommen stellen hierbei eine maßgebliche Ressource dar, wofür v. a. die bis Mitte des 20. Jahrhunderts sehr hohen Geburtenraten ein Beleg sind (vgl. Kap. 2) und was sich in dem Wert von Kindern und den Erwartungen, die Eltern an sie richten, niederschlägt. Dass in diesem Bereich des familialen Spektrums in den vergangenen Jahrzehnten ein tief greifender Wandel eingesetzt hat, wird an Hand des markanten Geburtenrückgangs ersichtlich, dessen Erklärung Ziel dieser Arbeit ist. Das zentrale Argument hierbei besteht im Bedeutungswandel von Kindern: Die theoretische Begründung und Darlegung der Zusammenhänge erfolgt im Kapitel 5 und deren empirische Überprüfung findet im Kapitel 8 statt. An dieser Stelle wird sich auf die Präsentation einiger deskriptiver Befunde beschränkt, die erste Indizien für die umgestaltete Position von Kindern und damit die intergenerationale Beziehung bieten. Der Wert von Kindern im Wandel. Kindern kommt in der Türkei bis heute eine vielfältige Bedeutung zu, wenngleich qualitative Verschiebungen über die Zeit hinweg zu beobachten sind. Ein Vergleich der Daten der Value-ofChildren-Studies aus den 1970ern und ihrer Replikationsstudie im Jahr 2002 kann diesen Wandel skizzieren.24 Die in den 1970ern befragten türkischen Frauen entsprechen hinsichtlich wesentlicher demographischer Merkmale den Müttern, die 2002 erhoben wurden. Geringfügige Differenzen bezüglich der StadtLand Verteilung sowie der Altersstruktur wurden durch die Verwendung einer entsprechenden Gewichtung nivelliert. Die folgenden Befunde basieren auf der ausschließlichen Betrachtung von Müttern. Die Abbildung 12 belegt zunächst einen starken Bedeutungszuwachs der affektiven Komponente: Den Müttern der Stichprobe von 2002 ist ein Zuwachs an Affekt und Liebe durch die Geburt von Kindern wesentlich wichtiger als Müttern knapp 30 Jahre zuvor: Die entsprechenden Mittelwerte steigen von 1.8 auf 2.6 bzw. von 1.9 auf 2.9 bei einer Skala von 1 bis 3. Im Gegenzug haben Kinder für die Umsetzung ökonomischer und utilitaristischer Ziele leicht an Bedeutung verloren. Allerdings bleibt ihre Bedeutung als Hilfe im Alter nahezu unverändert, was möglicherweise ein Indiz 24 Die türkischen Daten der VOC-Studies wurden 1975 erhoben; sie enthalten Informationen zu 1760 Frauen, davon 1485 Mütter. Im Rahmen einer VOC-Replikation wurden 2002 in der Türkei u. a. 622 Mütter befragt (für eine detaillierte Stichprobenbeschreibung vgl. Kap. 7). Die Daten der Primärstudie gehen bedingt durch stichproben- sowie instrumentbezogene Abweichungen von der Neuerhebung ausschließlich an dieser Stelle zu beschreibenden Zwecken ein. Eine Aufarbeitung für weiterführende Zusammenhangsanalysen, wie sie für den empirischen Teil dieser Arbeit zum Zweck der Hypothesenprüfung notwendig sind, ist nicht ergiebig.
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dafür ist, dass zunächst die Bedeutung von kurz- und mittelfristig erwarteten Beiträgen von Kindern zurückgeht. Abbildung 12: Der Wert von Kindern 1975 & 2002 Wichtigkeit 3,0 VOC 1975 VOC 2002
2,5
2,0
1,5
1,0 ... Um Jemanden zu haben, den man lieben/um den man sich kümmern kann
... Wegen der Freude, Kinder aufwachsen zu sehen
... Wegen der ökonomischen Unterstützung
... Wegen der Hilfe ... Wegen der Hilfe im Haus/ Haushalt im Alter
Quelle: Eigene Berechnungen unter Verwendung der VOC-Daten 1975, 2002.
Erwartungen an erwachsene Kinder. Analog zu den Motiven, die für die Geburt von Kindern sprechen, gestalten sich auch die Erwartungen an erwachsene Söhne und Töchter. Die Abbildung 13 belegt für 2002, dass reichlich 90% der Mütter emotionale Unterstützung von ihren erwachsenen Kindern erhoffen – und das unabhängig von deren Geschlecht. In Übereinstimmung mit den Befunden zu den Werten von Kindern, haben die instrumentellen Erwartungen abgenommen: Sowohl an erwachsene Söhne als auch Töchter wurden noch in den 1970ern in wesentlich stärkerem Umfang Forderungen nach materieller Unterstützung und praktischer Hilfeleistung gestellt. Die Verpflichtungen erwachsener Kinder haben sich gewandelt. Dementsprechend sollten die intergenerationalen Interaktionen heute stärker vom Austausch expressiver Aktivitäten geprägt sein und weniger vom Transfer instrumenteller Güter. Es zeichnet sich zwar kein grundsätzlicher Bedeutungsverlust von Kindern ab, aber ein qualitativer Wandel deutet sich an. Dieser Befund geht mit einer Idee der Familienentwicklung von Kagitcibasi (1985, 1996) konform, wonach die Familien- und intergenerationalen Beziehungen in der Türkei im Verlauf ihrer historischen Entwicklung keineswegs an Bedeutung verlieren, vielmehr einen Wandel von utilitaristischen hin zu emotionalen Interdependenzen erfahren.
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Abbildung 13: Erwartungen an erwachsene Kinder 1975 & 2002 100
%
90 80
1975 2002
70 60 50 40 30 20 10 0 Haus/ Haushalt
Finanziell Sohn
Emotional *
Haus/ Haushalt
Finanziell
Emotional *
Tochter
Quelle: Eigene Berechnungen unter Verwendung der VOC-Daten 1975, 2002. Anmerkung: * 1975 nicht erhoben.
Haushaltskonstellation und späte Eltern-Kind-Beziehung. Die Tabelle 8 zeigt die Veränderungen in der quantitativen Verbreitung unterschiedlicher Familientypen, jeweils unter Verwendung landesweiter, repräsentativer Umfragedaten geschätzt.25 Nukleare Kernfamilien sind hierbei als ein Ehepaar definiert, das mit seinen unverheirateten Kindern einen gemeinsamen Haushalt bewohnt. Die Großfamilie bezieht sich auf Haushalte, in denen mindestens drei Generationen leben. Hierunter fallen in der Türkei typischerweise die patriarchalische Großfamilie, in der ein Ehepaar und mindestens ein verheirateter Sohn mit seiner Familie zusammenleben, aber auch die Konstellation einer Kernfamilie mit mindestens einem verwitweten Elternteil. Fragmentierte Familien sind durch das Fehlen eines kernfamilialen Elternteils gekennzeichnet. Als zentraler Befund zeigt sich, dass bereits die ältesten verfügbaren Daten von 1968 zwei Drittel der 25
Die Typenbildung orientiert sich am Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt. Leider erweist sich diese Dreiteilung der Familien- oder besser Haushaltstypen zu grob, um ein differenziertes Bild der jüngsten Entwicklung zu zeichnen. Zudem wird nur ein sehr begrenzter Zeitraum abgedeckt: Statistisch untermauerte Informationen, zumindest ab dem beginnenden 20. Jahrhundert, wären dringend notwendig, um Veränderungen im Gefolge der massiven wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Umwälzungen dieses Jahrhunderts zu erfassen und besser einordnen zu können. Außerdem wäre es insbesondere für die Untersuchung intergenerationaler Beziehungen relevant, das Wohnen in räumlicher Nähe bzw. sogar im selben Haus, zu berücksichtigen.
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Haushalte als Nuklearfamilien ausweisen. In den darauf folgenden 30 Jahren stieg dieser Anteil um weitere 8% an, was zu Lasten der Verbreitung der Großfamilie ging. Deren moderater Rückgang gewinnt einerseits an Gewicht, als parallel dazu die Lebenserwartung gestiegen ist, wodurch sich die Möglichkeiten für die Realisierung von Mehr-Generationen-Konstellationen erhöht haben. Auf der anderen Seite ist die umfangreiche räumliche Mobilität in der Türkei zu berücksichtigen, die wiederum die Gelegenheiten hierfür reduziert hat. Fragmentierte Familien nehmen geringfügig um 3% zu, was zunächst auf einen steigenden Anteil Alleinerziehender in Folge leicht zunehmender Scheidungsraten zurückgeführt werden kann. Darüber hinaus scheint auch hier das Argument der Migration zu greifen: Vor allem die Arbeitsmigration (ins Ausland) betrifft größtenteils die Männer. Nicht immer zieht die gesamte Familie um, weshalb Ehemänner und Väter zumindest temporär getrennt von ihren Familien leben. Tabelle 8: Familientypen zwischen 1968 & 1998 (%) Familientyp Nukleare Kernfamilie Erweiterte Großfamilie Fragmentierte Familie
1968
1973
1978
1983
1988
1993
1998
60
59
58
62
67
67
68
32
32
32
28
22
22
21
8
9
11
11
11
11
12
Quelle: Ünalan 2005: 189.
Timur zeigt für 1968, dass es v. a. Familien mit größerem (Grund-) Besitz sind, die eine Tendenz zur erweiterten Familie aufweisen: Dieser Zusammenhang ist unabhängig von der Industrialisierung und Verstädterung (Timur 1985: 64) sowie der geographischen Region (Timur 1978: 234) zu beobachten. Die Großhaushalte haben nur solange Bestand, wie der Grundbesitz den nachwachsenden Generationen adäquate Lebens- und Einkommensmöglichkeiten bietet: Sobald eine ausreichende Versorgung der gesamten Familie nicht mehr gewährleistet werden kann und/ oder sich bessere Verdienstmöglichkeiten ergeben, zerfällt sie. Beide Entwicklungen sind für die Türkei nachweisbar: Dem Gewohnheitsrecht zufolge erbten die Söhne den Grundbesitz ihres Vaters zu gleichen Teilen, womit sich das verfügbare Land über die Generationen hinweg immer stärker teilte und zunehmend für kommende Generationen keine ausreichende Versorgungsgrundlage mehr bot. Nach altem Recht bestand die Möglichkeit neues Land durch Bewirtschaftung in den eigenen Besitz zu übernehmen. Das ist allerdings heute rechtlich nicht mehr möglich ist. In Verbindung mit der Bevölkerungsexplosion der letzten Jahrzehnte stößt somit das traditionelle Erbrecht an
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3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
seine Grenzen. Das zur Verfügung stehende Land kann nicht mehr für alle Generationen ausreichende Lebensgrundlage sein (Nauck 2002). Wie bereits gezeigt, sind parallel dazu im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung neue Erwerbsmöglichkeiten in den Städten entstanden, was v. a. über die Landflucht in Form von (temporärer) Arbeitsmigration größere Familienverbände auseinander riss. Es sind demnach vorwiegend primäre Besitz- und Arbeitsverhältnisse, die die Gründung und Aufrechterhaltung bestimmter Familientypen prägen (Timur 1985: 75). Grundsätzlich scheinen erweiterte Strukturen nur von vorübergehender Natur zu sein, die sich relativ schnell wieder auflösen. Von einer Monopolstellung der erweiterten Großfamilie kann zu keinem historischen Zeitpunkt gesprochen werden bzw. hat sie in den letzten vier Jahrhunderten nie einen Anteil von mehr als einem Drittel überschritten (Nauck 2002: 17). Verwandtschaftliche Kontakte sowie die Beziehung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern bestehen jedoch über die Haushaltsgrenzen hinaus. “The nuclear family system, instead of being a complete unit with clear boundaries, appears to be more or less enmeshed in a visible functionally-extended family network, so much so that we may even conceptualize the Turkish nuclear family as a subsystem within a larger extended family system, from which it is imperfectly differentiated. The lack of clear boundaries is especially evident with regard to the rules governing economic support and decision making” (Fisek 1982: 310f.).
Auch die umfangreichen Wanderungen scheinen der Bedeutsamkeit keinen substantiellen Abbruch getan zu haben, wie die zahlreichen Studien hierzu einhellig herausarbeiten (Duben 1982; Erder 2002; Günes-Ayata 1996; Kiray 1985; Kongar 1976; Kuyas 1982; Senyapli 1981). Es wird festgestellt, dass Land-Stadt Migranten umfangreiche Kontakte zu ihrer Herkunftsregion/ -familie aufrechterhalten (Aytac 1998) bzw. angesichts der üblichen Kettenmigration (Erman 2001) in den Städten eine hohe räumliche Nähe zu engen Familienmitgliedern oder Verwandten wieder herstellen können. Trotz neolokaler und kernfamilialer Residenz sowie umfangreicher Migration werden die Beziehungen insbesondere zur Herkunftsfamilie gewahrt und zeichnen sich weiterhin durch gegenseitige Solidarität und Unterstützung aus (Nauck & Klaus 2005: 379f.). 3.5 Bilanz Typische Umgestaltungen, wie sie sich im Verlauf des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses vollziehen, konnten für die Türkei nachgewiesen werden: Es fand ein Umbau des Bildungs- und Erwerbssystems dergestalt statt, dass
3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
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der Zugang hierzu nunmehr grundsätzlich für alle möglich ist, wobei angesichts der steigenden Anforderungen des Arbeitsmarktes an die Qualifikation der potentiellen Arbeitnehmer, eine angemessene Ausbildung in zunehmenden Maße Vorbedingung für eine entsprechende Erwerbsbeteiligung ist. Daneben wurde ein umfassendes Krankenversicherungssystem eingerichtet und ein staatliches Sicherungsnetz wurde gespannt, das zumindest eine Grundabsicherung für das Rentenalter bieten kann. Eine Besonderheit der Türkei ergibt sich aus der Intensität und dem Tempo, mit welchem sich die gesellschaftliche die Modernisierung vollzog, was v. a. darauf zurückgeht, dass sie staatlich veranlasst, vorangetrieben und maßgeblich gestaltet wurde. Im ersten Jahrzehnt nach der Neugründung wurden durch eine fundamentale Rechtsreform der Grundstein und der Wegweiser für die Zukunft des Landes gelegt. Wenn es sein musste auch unter Anwendung militärischer Gewalt, versuchte bereits der Republikgründer Kemal Atatürk seine Idee von der modernen Türkei, die für ihn ein Anschluss an Westeuropa bedeutete, zügig und flächendeckend umzusetzen. Ein wesentlicher Schritt hierbei bestand in der Übernahme des westlichen bürgerlichen Familienmodells, woraus er ein spezifisches Frauenbild ableitete, das eine Schlüsselposition der staatlichen Propaganda einnahm. In seinen zahlreichen öffentlichen Reden versuchte Atatürk der türkischen Bevölkerung seine Vorstellung von der modernen Frau und Mutter zu vermitteln. Hierzu sei beispielhaft aus einer seiner Ansprachen zitiert: “I would emphasize again that apart from their public responsibilities they bear, women have the highly important duty of being successful mothers. (…) Women must be highly qualified so that they may educate the next generation in all the attributes it will need to function properly in the contemporary world and in our society” (Taskiran 1976: 56).
Daraus resultierte tatsächlich, dass sich die Position der türkischen Frauen innerhalb sehr kurzer Zeit verbesserte, als sie grundsätzlich Zugang zu (höherer) Bildung als auch zum Lohnarbeitsmarkt bekamen. Allerdings, und das ist sehr typisch für die türkische Entwicklung, eilen die Reformen ihrer Zeit voraus und schlagen sich de facto höchst ungleichmäßig nieder. Von ihnen profitieren insbesondere städtische Frauen aus höheren Schichten. In Verbindung mit einer zentralistischen Staatsführung bei gleichzeitig großer räumlicher Ausdehnung des Landes, bleiben im Endeffekt nicht nur Geschlechterunterschiede bestehen, sondern auch beachtliche regionale Ungleichheiten, die für viele v. a. junge Menschen Anlass zur Migration geben, was wiederum das Städtewachstum erheblich beschleunigt und angesichts der daraus resultierenden Wohnungsknappheit zur Herausbildung von Armensiedlungen am Rande der Großstädte (gecekondus) führt.
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3 Sozialer Wandel und Stabilität in der Türkei
Verstädterung, Migration, steigende Bildung, zunehmende (Lohn-) Arbeitsplätze in der Industrie und im Dienstleistungssektor sowie alternative Möglichkeiten der Risikosicherung wirken sich auf die Ausgestaltungsmöglichkeiten intergenerationaler Beziehungen sowie die Notwendigkeit intergenerationaler Solidarität und Verpflichtung aus. Zwar enthält die Eltern-Kind-Beziehung in der Türkei nach wie vor ein großes Potential an instrumenteller sowie emotionaler Unterstützung, einerseits weil staatliche Reformen angesichts ihrer Art und Weise der Einführung und ihrer Umsetzung teilweise nur wenig Vertrauen gewinnen konnten, andererseits weil traditionelle, familiale Formen der Absicherung nach wie vor eine gewisse Effizienz behaupten können. Gleichwohl sind Modifikationen der traditionell weit verbreiteten Deszendenzorganisation nicht von der Hand zu weisen, wie an Hand verschiedener Beispiele belegt wurde. Das wiederum impliziert einen Bedeutungswandel von Kindern, denen im klassischen deszendenten Regime höchste (wirtschaftliche) Relevanz zukam. An dieser Stelle sind die zentralen, zu beobachtenden Phänomene vorgestellt: Neben dem Fertilitätsverhalten wurde der umfassende Wandel der verschiedenen, für das generative Verhalten relevanten Bereichen dargestellt, ebenso wie aufgezeigt wurde, inwiefern bereits eine Veränderung der intergenerationalen Beziehung eingesetzt hat, sowohl in ihrer Institutionalisierung im Verwandtschaftssystem, als auch in ihrer konkreten Ausgestaltung auf Familienebene. Die Überführung in eine empirische Erklärung des Geburtenrückgangs in der Türkei erfolgt im Anschluss an die im folgenden Teil der Arbeit geführte theoretische Diskussion und Modellbildung.
4 Zentrale Fertilitätstheorien im Überblick
Der Erforschung der Fertilität sind nicht nur unzählige empirische Arbeiten gewidmet, sondern auch aus theoretischer Perspektive lässt sich hierzu eine höchst rege Forschungstätigkeit ausmachen. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit der Reproduktion des Menschen. Eine der ältesten Arbeiten stellt das 1798 von Malthus formulierte Bevölkerungsgesetz dar. In seinem ‚Essay on the Principle of Population, as it affects the Future Improvement of Society‘ formuliert er einen positiven Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung einerseits und dem Bevölkerungsumfang andererseits. Dass die „Bevölkerung sich unwandelbar vermehrt, wenn die Subsistenzmittel zunehmen“ (Malthus 1977: 484) ist historisch jedoch widerlegt. Strittig an der theoretischen Argumentation Malthus’ ist v. a. die unterstellte Prämisse eines uneingeschränkten Erhaltungstriebs der menschlichen Gattung. Sozio-biologische Zugänge zur Fertilität greifen diese Idee später in einer ähnlichen Weise wieder auf (für eine Übersicht vgl. u. a. Kopp 1992), finden allerdings keine weit reichende Beachtung. Die einflussreichsten theoretischen Erklärungsversuche stammen aus der Mikroökonomie, der Soziologie sowie der Psychologie, die je unterschiedliche Erklärungsfaktoren und Wirkungsmechanismen heranziehen und akzentuieren. Darüber hinaus variieren die Ansätze danach, ob sie die Fertilität über einen Rückgriff auf die Individualebene thematisieren oder ausschließlich auf der Ebene der makrostrukturellen Phänomene verbleiben. Die folgende Übersicht stellt keineswegs eine vollständige Sammlung aller theoretischen Konzepte zum Thema Fertilität dar.26 Sie beschränkt sich einerseits auf die Ansätze, die hohe Popularität erlangt haben und infolgedessen auch vielfach diskutiert und zum Teil empirischen Tests unterzogen wurden. Andererseits konzentriert sich die Präsentation auf die Ideen, die in das im darauf folgenden Kapitel vorgelegte Erklärungsmodell einfließen. Es werden jeweils zunächst die Grundzüge der Ansätze vorgestellt, um daran anknüpfend eine kritische Betrachtung vornehmlich aus theoretischer Perspektive zu leisten. 26 Zusammenstellungen finden sich bei Bagozzi & van Loo 1978; Cromm 1988; Felderer & Sauga 1988; Herter-Eschweiler 1998; Hill & Kopp 2000; Höpflinger 1997; Huinink 2000; Kopp 2002; Loy 1981.
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4 Zentrale Fertilitätstheorien im Überblick
Kriterium hierbei stellt das Grundmodell der soziologischen Erklärung entsprechend der Theorietradition des methodologischen Individualismus (Coleman 1990) dar. Demnach muss mit Blick auf eine angemessene Erklärung überindividueller Phänomene wie dem Geburtenniveau, zunächst auf die Akteursebene zurückgegangen werden, gleichwohl unter der Berücksichtigung, dass die Akteure im Allgemeinen nicht losgelöst von ihrer sozialen Umwelt tätig werden. Makroorientierte Konzepte, wie die im Kapitel 2 vorgestellte These des demographischen Übergangs, verfolgen eine Erklärung über Phänomene wie Industrialisierung oder Wertewandel, ohne jedoch explizit individuelle Akteure in die Argumentation einzubinden. Unergründet bleiben hierbei die vermittelnden Mechanismen, die erst dann aufgedeckt werden können, wenn der Mensch als Entscheidungs- und Handlungsträger in den Mittelpunkt der Erklärung gerückt wird, denn schließlich ist er es, der Kinder in die Welt setzt oder sich gegen sie entscheidet. 4.1 Soziologische Erklärungsansätze Im Mittelpunkt soziologischer Erklärungen steht der verhaltenswirksame Einfluss sozialer Rollen und Normen – Determinanten, die nicht nur in der ökonomischen Theorie unberücksichtigt bleiben, sondern auch scheinbar27 auf einem anderen Prinzip als dem der rationalen Nutzenmaximierung beruhen. Zumindest in den normen- und rollentheoretischen Ansätzen geht es nicht um eine explizite Wahl zwischen verschiedenen generativen Handlungsalternativen, sondern um die Orientierung und Ausführung kollektiver Werte bzw. Erwartungen bezüglich der zu realisierenden Kinderzahl. Normentheoretische Ansätze. Normentheoretische Ansätze argumentieren weitgehend auf Gesellschaftsebene; eine handlungstheoretische Modellierung unterbleibt zu Gunsten der Verknüpfung makrostruktureller Phänomene. Es sind insbesondere die Ansätze von Davis & Blake (1956) sowie Freedman (1975) anzuführen. Letzterer verbindet die von Ersteren präsentierte Zusammenstellung der so genannten intermediate variables als unmittelbare Determinanten der Fertilität mit demographischen Parametern, der Sozial- und Wirtschaftsstruktur, Umweltfaktoren sowie v. a. mit gesellschaftlichen Normen: „This model specifies that the fertility of any social collectivity tends to correspond with a level prescribed by the social norms“ (Freedman 1975: 18). Zu den „intermediate variables through which any social factors influencing the level of fertility must 27 ‚Scheinbar’ deshalb, weil Normenkonformität mit dem Ziel der Vermeidung negativer bzw. Erlangung positiver Sanktionierung gleichwohl als individuelle Verhaltensoptimierung verstanden werden kann.
4 Zentrale Fertilitätstheorien im Überblick
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operate“ (Davis & Blake 1956: 211) zählen (sozial-) demographische Faktoren, die (i) den Geschlechtsverkehr, (ii) die Geburtenkontrolle sowie (iii) die Schwangerschaft beeinflussen (ebd.: 212). Abgesehen davon, dass die Zusammenhänge dieses Konzeptes angesichts fehlender, eindeutiger Kausalverknüpfungen sowie der mangelhaften Spezifikation der Konstrukte nur schwer empirisch prüfbar sind, bestehen erhebliche Mängel der theoretischen Argumentation: Die Entstehung bzw. der Wandel der fertilitätsbezogenen Normen bleibt unklar. Es treten funktionalistische Züge hervor, wie sie bereits im Rahmen des Konzeptes des demographischen Wandels festgestellt wurden und wie sie am Beispiel der Ausführungen Freedmans (1975: 18) zur Wirkung der Sterberate deutlich werden, als diese „determines how large a surplus of births is required to produce the normative number of children“. Weiterhin wird die Frage, warum Individuen den normativen Vorgaben folgen nicht bzw. nur unbefriedigend beantwortet. Normenabweichende Verhaltensweisen werden ebenso wenig berücksichtigt wie die Existenz von kulturellen Subgruppen innerhalb von Gesellschaften, die je eigene Fertilitätsnormen haben und somit ursächlich für generative Variationen innerhalb eines Landes sein können. Auch wenn beide Ansätze eine sehr umfangreiche Klassifikation möglicher Einflussfaktoren der Fertilität liefern, bleiben sie weitgehend darauf beschränkt und damit auch in ihrem Erklärungsbeitrag unbefriedigend. Geschlechtsrollenansatz. Eine im Vergleich hierzu akteurszentrierte Variante stellt der Geschlechtsrollenansatz dar. Ausgerichtet am homo sociologicus wird explizit das individuelle Verhalten betrachtet, das sich aus den in der Sozialisationsphase verinnerlichten Rollen inklusive der daran gebundenen Verhaltenserwartungen ergibt. Speziell das generative Verhalten leitet sich Scanzoni (1975: 23ff.) zufolge aus den erlernten Geschlechtsrollenorientierungen ab, die über die eheliche Struktur und Arbeitsteilung zur Wirkung kommen. Die (innerfamilialen) Geschlechtsrollen können auf verschiedenen Dimensionen beschrieben werden (ebd.: 29ff.), aus deren Kombination sich ein je spezifisches generatives Verhalten ableitet. Die traditionelle geschlechtsspezifische Rollenverteilung geht mit einer pro-natalistischen Einstellung einher, die die Realisierung hoher Kinderzahlen nahe legt. Im Vergleich dazu kristallisierte sich im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung ein Rollenwandel heraus, der sich darin äußert, dass Frauen, vornehmlich resultierend aus höherer Bildungsbeteiligung und gestiegenen Erwerbsaspirationen, eine männliche Prägung ihrer traditionellen Rolle als Mutter und Hausfrau erfahren. Diese moderne Geschlechtsrolle impliziert einen negativen Effekt auf die Kinderzahl. An dieser Stelle ergibt sich ein ungelöster Widerspruch des Ansatzes: Vor dem Hintergrund der aufgestellten Prämisse einer hohen Resistenz der einmal erlernten Geschlechtsrollen, stellt sich die Frage, wie dann Veränderungen überhaupt möglich sind? Nicht zuletzt
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4 Zentrale Fertilitätstheorien im Überblick
bedingt durch die fehlende Spezifikation dieser behaupteten Entwicklung, ist die Kausalität grundsätzlich in Frage zu stellen: Beeinflussen die strukturellen Veränderungen tatsächlich die Geschlechtsrollenorientierungen, d. h. entwickeln Frauen mit steigendem Bildungsniveau und Einbindung in das Erwerbsleben eine moderne, stärker egalitär ausgerichtete Rolleneinstellung oder verläuft der Zusammenhang nicht eher umgekehrt. Ungeachtet der Richtung wären zudem die zu Grunde liegenden Mechanismen theoretisch zu begründen. Darüber hinaus werden keine Rollenkonflikte zwischen den Ehepartnern mit Blick auf das dann gezeigte Verhalten thematisiert, obwohl die Geschlechtsrollen zwischen beiden Partner grundsätzlich disharmonieren können. Familienzentrierte Ansätze. Auch diese Ansätze versuchen sich in einer Mikrofundierung, speziell des im Kapitel 2 dargelegten Konzeptes des demographischen Übergangs. Ihre übergeordnete Etikettierung als ‚familienzentriert’ ergibt sich daraus, dass Struktur- und Funktionsveränderungen der Familie als vermittelnde Variable in den Vordergrund gerückt werden (Höpflinger 1997: 73). Die Wealth-Flow-Theory von Caldwell (1978) hat in diesem Zusammenhang hohe Popularität erlangt. In Abgrenzung zu den soeben vorgestellten Ansätzen bildet deren Ausgangspunkt die Übernahme des ökonomischen Prinzips der Kosten-Nutzen Kalkulation: „Fertility behavior in both pretransitional and posttransitional societies is economically rational“ (ebd.: 553). Implizit wird ein systematisches Zusammenspiel zwischen der Organisation der wirtschaftlichen Produktionsweise einerseits und den Familienstrukturen andererseits angenommen. Daraus leitet sich die (ökonomische) Bedeutung von Kindern ab: Beim Übergang vom subsistenzwirtschaftlichen zum kapitalistischen Gesellschaftstyp, kehrt sich der intergenerationale Wohlfahrtsfluss zu Ungunsten der älteren Generation um. „The essence of all precapitalist modes of productions was kin-based production, and the relations of productions where those between relatives. These relations were unequal and gave material advantage to the elders. Thus high fertility yielded economic advantages” (ebd.: 572).
Als Folge der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise ändert sich, wenn auch mit erheblicher Zeitverzögerung, die normative Prägung der Familien- und Verwandtschaftsstrukturen: „As the conjugal bond becomes closer, or more sentimental, and as the mother’s material feelings play a greater role in family decision-making, the sex and age differentials in material advantage are likely to be increasingly eroded“ (ebd.: 572). Erst wenn sich innerfamiliale bzw. speziell intergenerationale (Macht-) Strukturen und Werte entsprechend gewandelt haben, sinkt – als rationale Reaktion hierauf – die Fertilität.
4 Zentrale Fertilitätstheorien im Überblick
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Positiv zu bewerten ist, dass ökonomische Faktoren einerseits und soziale sowie kulturelle Faktoren andererseits in einem Modell zur Erklärung historisch und gesellschaftlich variierender Geburtenraten integriert werden: Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise haben Kinder an ökonomischer Bedeutung verloren, was sich negativ auf ihre Realisierung auswirkt. So plausibel sich die Zusammenhänge auch darstellen, nicht präzise genug sind die Mechanismen herausgearbeitet, über die die Wirtschaftsstruktur die Familienstruktur und darüber vermittelt die Fertilität beeinflusst, wenngleich auf die Rationalitätsprämisse als grundlegendes Prinzip zurückgegriffen wird. Das verweist auf eine allgemeine Kritik an den soziologisch ausgerichteten Ansätzen, wonach zwar verschiedene Bedingungskonstellationen mit generativem Handeln verknüpft werden, diese Verbindungen jedoch nicht ausreichend konkretisiert werden. 4.2 (Mikro-) Ökonomische Ansätze Die individuelle Fertilitätsentscheidung als rationale Handlungsauswahl unter der Bedingung der Aufteilung knapper Ressourcen aufzufassen, ist gemeinsamer Kern aller ökonomischen Ansätze. Konkrete Eingangs- und Folgevariablen (Wirkung & Ursache) werden hier durch eben diese Handlungsmaxime in unmissverständlicher Weise miteinander verbunden. Die verschiedenen Varianten der ökonomischen Beiträge unterscheiden sich hauptsächlich darin, wie individuelle Präferenzen modelliert werden und welche Ressourcen und Restriktionen Beachtung finden. Die Wohlstandstheoretiker. Die ältesten Arbeiten gehen auf die unter der Bezeichnung Wohlstandstheoretiker bekannt gewordenen Ökonomen zurück (u. a. Brentano 1910; Mombert 1907). Sie nehmen ausdrücklich eine Gegenposition zu der eingangs zitierten These von Malthus ein, indem sie Begründungen dafür suchen, warum ein allgemeiner Einkommenszuwachs keinen Anstieg, sondern einen Rückgang der Geburten auslöst. Brentano kritisiert, dass „Malthus starts – apart from the incorrect statistical basis (…) from two erroneous psychological principles: - (1) The supposition that the cause of the increase of the human race is the desire for propagation, and (2) that this remains constant in all circumstances“ (1910: 372). Für Zimmermann (1989) ist es unerklärlich, weshalb die Ideen der Wohlstandstheoretiker innerhalb der Ökonomie kaum weitere Beachtung gefunden haben, legen sie doch bereits alle zentralen Elemente der späteren, modernen Haushaltsökonomie vor (ebd.: 476; auch Herter- Eschweiler 1998: 107f.): Kinder werden als ein nutzenstiftendes Gut angenommen, woraus sich unter der Prämisse einer gewinnmaximierenden Ressourcenaufteilung eine
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rationale Planung der Kinderzahl ableitet. Im Zuge der Wohlstandsmehrung sowie der wachsenden Bildungschancen treten immer mehr alternative Verwendungsmöglichkeiten der begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen in Konkurrenz zu den Kindern. Zudem wächst, maßgeblich bedingt durch die steigende Bildung, das individuelle Anspruchsniveau. Als Folge reduziert sich die Kinderzahl: „As prosperity increases, [1] so do the pleasures which compete with marriage [and children], [2] while the feeling towards children takes on a new character of refinement, and both these facts tend to diminish the desire to beget and to bear children“ (Brentano 1910: 385). Mit Ersterem werden neben einer klugen Ressourcenverwendung bereits erstmals die Opportunitätenkosten der Kindererziehung zur Erklärung herangezogen: „We have an intentional limitation in the size of the family, whether the motive be the disinclination of the parents to being hampered in the enjoyment of other pleasures, or their fear of losing the earning capacity which renders these other pleasures accessible“ (ebd.: 381f.).
Mit dem zweiten Argument wird das eingeführt, was später von Becker unter dem Begriff der Kinderqualität diskutiert wird: Mit zunehmendem Einkommen wird verstärkt in die Ausstattung der Nachkommen investiert, was bedingt durch den engen inversen Zusammenhang zwischen Quantität und Qualität, eine Reduktion der Kinderzahl bewirkt (Becker 1976). Es wird deutlich, dass neben dem Nutzen auch die Kosten von Kindern Eingang in die Kalkulation der (potentiellen) Eltern finden. Allerdings fällt auf, dass implizit eine problematische Unterstellung gemacht wird: Erst im Zuge der Wohlstandsentwicklung bildet sich das Streben nach vernünftiger Geburtenplanung heraus. Wohlstand hat keinen unmittelbaren Einfluss auf die Fertilität, sondern wird über „das Denken und Wollen des Menschen“ vermittelt (Mombert 1907: 170, Hervorhebung durch Autor) – Ersteres im Sinne rationaler Handlungswahl und Letzteres in Form eines sich herausbildenden Aufstiegsstrebens. Unbefriedigend begründet bleibt aber, weswegen sich rationales Kalkül erst im Zuge der Wohlstandsmehrung herausbildet. Zwar erscheint es angesichts stets begrenzter Ressourcen plausibel, dass ein wachsender Möglichkeitsraum der Ressourcenverwendung den Entscheidungszwang erhöht, aber warum damit rationale Entscheidungen forciert werden und warum Rationalität zwangsläufig eine Reduktion der Fertilität meint, bleibt unbeantwortet. Auch Kinderreichtum kann auf einer rational geleiteten Entscheidung fußen. Economic Backwardness and Economic Growth. Während die Wohlstandstheoretiker noch eine recht diffuse Vorstellung von der Bedeutung von Kindern haben, bietet Leibenstein (1957: 161) eine Klassifikation von verschiedenen Nutzen- und Kostenkomponenten an, die weit darüber hinausgeht: Kinder kön-
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nen in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Entwicklung für ihre Eltern einen Konsumnutzen und/ oder Investitions- und Versicherungsnutzen bieten. Gleichzeitig verursachen sie mehr oder minder umfangreich materielle Kosten, sowohl direkter als auch indirekter Art. Gerade mit der Berücksichtigung von Opportunitätenkosten liefert die ökonomische Theorie einen bedeutsamen Beitrag für die Erklärung v. a. rückläufiger Kinderzahlen: Neben einem generellen Anstieg direkter Aufwendungen für die Ausstattung der Kinder, sind es hauptsächlich die Kosten durch entgangenes Einkommen der Eltern, die im Zuge der Herausbildung von Lohnarbeit, Bildungsexpansion sowie Einkommensverbesserungen zugenommen haben. Im Gegensatz zu den Wohlstandstheoretikern behauptet Leibenstein eine rationale Kosten-Nutzen Abwägung der Geburt eines (weiteren) Kindes, unabhängig vom gesellschaftlichen Entwicklungsstand. Den ebenfalls als negativ formulierten Zusammenhang zwischen Kinderzahl und Einkommen begründet er mit parallel zum Einkommen sinkendem Nutzen bei gleichzeitiger Zunahme der Kosten. Die Nutzenstruktur verändert sich insofern, als in Folge vielfältiger gesellschaftlicher Entwicklungen im Zuge der (individuellen) Modernisierung der Investitions- und Versicherungsnutzen von Kinder sinkt (Leibenstein 1974: 459), hingegen der Konsumnutzen, d. h. persönliche Gefühle, Zuwendungen und Bereicherung, die direkt aus der Beziehung zum Kind gezogen werden, eine Konstante darstellt. Bezüglich der Kosten argumentiert Leibenstein einerseits wie Becker in seinen frühen Überlegungen, wonach sich eine Zunahme des finanziellen Budgets zunächst einmal positiv auf die Anschaffung von Kindern auswirken sollte. Allerdings wird dieser Effekt durch parallel dazu steigende Kosten, nicht nur kompensiert, sondern sogar umgekehrt (Leibenstein 1974: 460f.). Chicago-School und die Neue Haushaltsökonomie. Dieses letzte Argument stellt auch Becker in den Mittelpunkt der von ihm formulierten Neuen Haushaltsökonomie. Noch zuvor, im Rahmen der Chicago-School, erarbeitete er einen positiven Einkommenseffekt: Ausgehend von der ökonomischen Konsumtheorie und basierend auf der Behauptung, dass Kinder superiore Konsumgüter seien, behauptete er, ähnlich den Wohlstandstheoretikern, dass Kinder mit alternativen Einkommensverwendungen um ihre Anschaffung konkurrieren, da der Erwerb von Konsumgütern sowohl Preis- als auch Einkommensrestriktionen unterliegt. Gekoppelt an die Annahme konstanter und homogener Präferenzen (Michael & Becker 1973; Stigler & Becker 1977) sowie unter der Maßgabe, dass das gesamte verfügbare Einkommen für Marktgüter ausgegeben wird (Bagozzi & van Loo 1978; Becker & Lewis 1973), leitet Becker zwei Hypothesen ab: (i) Steigende Preise für Alternativgüter wirken sich auf die Kinderzahl negativ aus, (ii) steigendes Einkommen hingegen positiv. Zumindest der zweite
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angenommene Zusammenhang erfährt keine konsistente empirische Bestätigung (u. a. Becker 197628; Ben-Porath 1974; Cain & Weininger 1973; Willis 1973). Neben den Verweisen (i) auf einen ebenfalls positiven Effekt des Einkommens auf die Kenntnis und Anwendung von Verhütungsmitteln (Becker 1976) und somit eine systematische Variation hinsichtlich der Umsetzungsmöglichkeiten rationaler Entscheidungen sowie (ii) auf das inverse Verhältnis von Quantität und Qualität von Kindern (Becker & Lewis 1973), hebt Becker in seiner theoretischen Weiterentwicklung (1965) stark auf den (iii) Zeitpreis der Kinderbetreuung und Erziehung ab. Somit gewinnt das Konzept der Opportunitätenkosten erneut an Bedeutung.29 Die Neue Haushaltsökonomie (vgl. zusammenfassend Krüsselberg et al. 1986; Schilp 1984) geht anders als die ChicagoSchool nicht mehr von der Grundprämisse aus, dass individueller Nutzen direkt aus der Konsumption von Marktgütern gezogen werden kann. Basierend auf der Unterscheidung von Markt- und Haushaltsgütern – für Letztere übernimmt Becker später den von Lancaster (1966) geprägten Begriff der commodities – sowie der Annahme, dass der Haushalt und nicht das einzelne Individuum die Untersuchungseinheit darstellt, formuliert er eine Haushaltsproduktionsfunktion: Nutzen kann erst aus den commodities gezogen werden, worunter Becker neben Kindern „prestige and esteem, health, atruism, envy, and pleasures of the senses“ (Becker 1991: 8) sowie „recreation, companionship, love“ (Becker 1976: 207) versteht. Diese müssen ihrerseits zunächst im Haushalt, unter Einsatz von Marktgütern und Zeit, sowie unter den gegebenen Produktionsbedingungen hergestellt werden. Der Gesamtnutzen des Haushaltes setzt sich aus den Einzelnutzen der produzierten commodities zusammen. Dementsprechend werden die commodities realisiert, die den größten Nutzen versprechen. Der in dieser Formel enthaltenen Zeit kann ein Preis zugeordnet werden, der sich aus dem Marktlohnsatz ergibt, den die Person erhalten würde, wenn sie sich der Erwerbsanstatt der Haushaltsarbeit (und damit der commodity Produktion) widmen würde. Dieser Lohnsatz steigt mit marktbezogenem Humankapital an, was typischerweise über (Aus-) Bildungsniveau, Berufserfahrung, frühere Berufsposition und Einkommen abgebildet wird. Damit lässt sich nicht nur ein genereller Anstieg der Opportunitätenkosten begründen, zudem können inter-individuelle (bzw. besser: -familiale) Variationen modelliert und in ihrer Konsequenz für die generative Entscheidung thematisiert werden. Eine Implikation, die sich aus dem Zusammenspiel der theoretischen Hauptpfeiler der Neuen Haushaltsöko28 Entgegen seiner eigenen theoretischen Darlegung, verwendet er anstelle des Haushaltseinkommens, ausschließlich das des Mannes. 29 Schon 1963 vertritt Mincer die Auffassung, dass der Einkommens- vom Opportunitätenkosteneffekt zu trennen sei. Empirisch setzt er das über die Separierung der Einkommenseffekte von Mann und Frau um und kann zeigen, dass Letzterer überwiegt (1963: 77f.).
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nomie ergibt, ist eine arbeitsteilige Organisation zwischen den Ehepartnern. Es ist rational, komparative Produktionsvorteile in den jeweiligen Zeitverwendungsbereichen zu nutzen: Becker (1985) zufolge ist die traditionelle, geschlechtsspezifische Form der Arbeitsteilung, v. a. auf Grund der niedrigeren Frauenlohnsätze, effektiv. Trotz der Bildungsexpansion sowie zunehmender Investitionen der Frauen in marktspezifisches Humankapital in Verbindung mit Lohnangleichungen, ist es weiterhin sinnvoll, wenn sich maximal ein Partner beiden Zeitverwendungsbereichen widmet. Das trifft typischerweise die Frau. Daraus wiederum geht hervor, dass die weibliche Zeit für die Berechnung der Opportunitätenkosten stärker zum Tragen kommt. Für das Einkommen des Mannes formuliert Becker weiterhin einen positiven Effekt auf die Kinderzahl. Trotz Beckers präziser Darlegung erweisen sich einige seiner theoretischen Prämissen als zu stark vereinfachend: (i) Grundsätzlich werden stabile Präferenzen unterstellt, die exogen in das Modell eingeführt werden und deren Entstehung unklar bleibt (u. a. Nauck & Kohlmann 1999: 56). Im Zusammenhang mit unterschiedlichen Indifferenzkurven liefert Becker aber dann doch, wenn auch ad hoc, Erklärungen für unterschiedliche Präferenzstrukturen, „determined by a family’s religion, race, age, and the like“ (Becker 1976: 173). Mit seinem Intergenerativen Sozialisationskonzept unternimmt Easterlin (1970) den Versuch das ökonomische Erklärungsprinzip zu verbessern, indem er die Präferenzen modell-endogen formuliert: Demnach werden individuelle Erwartungen und Anspruchsniveaus während der Sozialisation geprägt, was allerdings gleichzeitig eine Beständigkeit der Präferenzstruktur nach dem Abschluss der Jugendzeit impliziert. Nicht zuletzt wird diese Idee empirisch entkräftet, da die von Easterlin hieraus abgeleiteten zyklischen Schwankungen des Geburtenniveaus nicht zeigen. Offen ist überdies, was aus möglichen partnerschaftlichen Differenzen im Anspruchsniveau für die Kinderzahl folgt. (ii) Bei Becker haben Unstimmigkeiten zwischen den Ehepartnern von vornherein keinen Platz: Ihre Interessen werden als gleichgerichtet unterstellt. Die Frau begibt sich freiwillig zu Gunsten der Maximierung des Gesamtnutzens in eine ungünstige Verhandlungsposition, nicht zuletzt deshalb, weil derlei strategische Verhandlungen zwischen den Partnern gar nicht vorkommen. Ein altruistischer Haushaltsvorstand verteilt den gemeinsam erwirtschafteten Gesamtnutzen gerecht auf alle Haushaltsmitglieder. Dieser einigermaßen unrealistischen und nicht zuletzt der zentralen Prämisse des nutzenmaximierenden Akteurs widersprechenden Vereinfachung, könnte mittels einer verhandlungstheoretischen Erweiterung unter Verwendung des Bargaining-Modells von Ott (1989) beigekommen werden. (iii) Eine dritte Problematik ergibt sich aus der Substitution von Quantität und Qualität: Es wird nicht deutlich, unter welchen Bedingungen die eine Strategie der anderen vorgezogen wird und warum (Herter-Eschweiler 1998: 128).
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Drei allgemeine Kritikpunkte am ökonomischen Erklärungsprogramm sind hinzu zu fügen: (i) Entscheidungen werden im Sinne objektiver Rationalität modelliert, d. h. sie finden auf der Basis vollkommener Information sowie perfekter Vorausschau statt. Gerade die Anwendung auf die Fertilitätsentscheidung macht die Realitätsferne bzw. die Unmöglichkeit dieser Grundannahme deutlich. Zahlreiche alternative Modellierungen stehen hier zur Verfügung und werden vielfach eingesetzt (u. a. die SEU-Theorie). (ii) Neben dem sparsamen und präzisen Selektionsprinzip hat die ökonomische Theorie der Fertilität neue und lohnende Impulse für die soziologische Diskussion geliefert, indem sie unterschiedliche Bedeutungen von Kindern für (potentielle) Eltern herausgearbeitet hat. Allerdings wird der theoretische Status von Kindern nicht ausreichend begründet: Woraus leiten sich die verschiedenen Nutzenaspekte ab? Die Relevanz für die individuelle Nutzenproduktion wird zwar herausgestellt, aber worin besteht konkret der Nutzen? Welchen Beitrag können alternative Konsumgüter hierfür leisten und kann auf Kinder angesichts der steigenden Kosten, die sie verursachen, nicht gänzlich verzichtet werden? Diese Fragen verweisen auf ein generelles Manko der Fertilitätsforschung, das bisher nicht beseitigt werden konnte bzw. gar nicht als solches wahrgenommen wurde. (iii) Wenngleich insbesondere Leibenstein zahlreiche Beispiele anführt (u. a. 1974: 459), fehlen systematische und theoretisch fundierte Verbindungen des Handlungsmodells mit relevanten Rahmenbedingungen, die die Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Restriktionen generativer Handlungen abstecken (Nauck 2001). 4.3 Sozialpsychologische Ansätze Kindbezogene Einstellungen und Motivlagen als direkte Determinanten des generativen Verhaltens stehen im Fokus sozialpsychologischer Ansätze. Hierbei handelt es sich, analog zu den mikroökonomischen Ansätzen, durchweg um handlungstheoretische Modelle, die in angemessener Weise auf Basis einer subjektiven Entscheidungstheorie die Präferenz für eine bestimmte generative Handlungsstrategie erklären wollen. Rainwater (1960) betont als einer der ersten die Bedeutung psychologischer Faktoren im generativen Entscheidungsprozess. Er thematisiert beispielsweise die Wirkung moralischer und religiöser Überzeugungen sowie die Bedeutung von Kindern als Quelle von Selbstvertrauen, Verwirklichung, Stolz oder Erweiterung des Selbst. Trotz des Reichtums an empirischen Zusammenhängen, die er präsentiert, bleibt sein Beitrag höchst explorativ, da keine theoretisch abgeleiteten Kausalzusammenhänge aufgestellt werden. Spätere Konzepte sind diesbezüglich vollständiger, gleichwohl vernachlässigen die psychologischen Ansätze weitgehend, ähnlich dem mikroökonomischen
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Erklärungsprogramm, kontextuelle Rahmenbedingungen. Gleichwohl geht es aber auch hier um die Instrumentalität von Kindern. Einstellungsmodelle. Die unmittelbare Verhaltensdeterminante stellt nach dem Modell des überlegten Handelns (Ajzen & Fishbein 1980) die Verhaltensabsicht dar, die sich selbst aus zwei Komponenten ableitet: Zunächst einmal ist (i) die Einstellung zu einem bestimmten Verhalten maßgeblich. Diese ergibt sich aus einer SEU-Berechnung, d. h. aus einer multiplikativen Verknüpfung der Wichtigkeit der Konsequenz der zur Disposition stehenden Handlung und der Erwartung, mit der die betrachtete Handlungsoptionen zu der entsprechenden Konsequenz führt. Demnach resultiert die Motivation zu Elternschaft u. a. daraus, dass Akteure mit Kindern eine hohe Eintretenswahrscheinlichkeit (besonders) erwünschter Handlungsziele verbinden. Über eine zweite Erklärungskomponente fließt (ii) die subjektive Norm ein, die als Tendenz, den Erwartungen Anderer mit entsprechend gezeigtem Verhalten nachzukommen, definiert ist. Trotz umfassender empirischer Bestätigung des von Fishbein selbst auf die Fertilität (bzw. auf das Verhütungsverhalten) angewandten Modells (1972 sowie u. a. Fishbein & Jaccard 1973; Jaccard & Davidson 1972; Townes et al. 1977; Vinokur-Kaplan 1978), zeigen Forschungsarbeiten aus den USA insbesondere für die Bevölkerungsgruppen mit hoher Fertilität, dass deren gewünschte Kinderzahl die letztlich realisierte Kinderzahl unterschreitet (u. a. Bumpass & Westoff 1969; Westoff, Mishler & Kelley 1957). Ajzen & Fishbein (1980: 137) führen diese Diskrepanz u. a. auf die unterschiedliche Zugänglichkeit zu Verhütungsmitteln zurück. Die Notwendigkeit einer dritten Komponente wird deutlich, die Ajzen im Modell des geplanten Verhaltens (1991) explizit aufnimmt – (iii) die wahrgenommene Verhaltenskontrolle. Verhaltenskontrolle sowie die subjektive Norm thematisieren Umstände der Handlungssituation, die die Realisierung(smöglichkeit) der bevorzugten Handlungsalternative beeinflussen. Alle drei direkten Determinanten selbst, leiten sich aus spezifischen Merkmalen des Entscheidungsträgers ab: „Demographic variables (such as education, residence, and religion), personality variables (such as dominance, anxeity, authoritarismus) and other psychological and social-psychological variables (such as love of children, self-image, various general intentions, e.g., to have a career, to marry late) can influence family planning intentions, and thus behaviours, only indirectly” (Fishbein 1972: 222).
Wie diese konkret die vermittelnden Faktoren beeinflussen, bleibt jedoch unklar. Ferner werden Umwelt- bzw. kontextuelle Variablen und damit auch (ökonomische) Kosten, die zweifellos mit Kindern verbunden sind, nicht berücksichtigt. Dieselbe Kritik lässt sich auch auf die folgende, motivationstheoretisch fundierte Theorie der Fertilität übertragen.
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Das Motivationsmodell. Von Rosenstiel (1978: 95) zufolge stellt menschliches Verhalten eine Funktion aus situativen Umweltbedingungen, der Fähigkeit zum Verhalten sowie einer entsprechenden Motivation dar. Indem er die beiden ersten Variablen, bezogen auf das generative Verhalten, als in modernen Gesellschaften gegeben unterstellt, rückt er die Motivation bzw. der Kinderwunsch in den Vordergrund seiner Erklärung. In Anlehnung an den Value-InstrumentalityExpectancy (VIE) Ansatz wird der Kinderwunsch zunächst unter dem Aspekt seiner (i) Instrumentalität für die Realisierung von allgemeinen Lebenszielen betrachtet (von Rosenstiel 1978: 96). Ebenfalls über eine SEU-Modellierung werden hierbei drei Komponenten miteinander kombiniert: Zunächst wird der Wert von Kindern ermittelt, der aus ihrer Instrumentalität mit Blick auf die Realisierung von spezifischen Endzielen resultiert. Die Intention eine bestimmte Kinderzahl zu realisieren, ergibt sich sodann aus dem Produkt des Wertes einer bestimmten Kinderzahl und der Erwartung über die Wahrscheinlichkeit, mit der die jeweilige Kinderzahl zur Zielerreichung führt. Um welche Ziele es sich hierbei handelt bleibt theoretisch unbeantwortet und wird ausschließlich empirisch festgestellt.30 Der Vielzahl dieser induktiv zusammengestellten Lebensziele unterliegen acht, empirisch extrahierte Faktoren: „Wealth/ property, agesecurity, enjoyment, fertility, religiosity, partnership, profession, relaxing“ (von Rosenstiel et al. 1982: 89). Unter Berücksichtigung des Modells von Graen (1969) werden dem instrumentellen Aspekt zwei weitere Komponenten zur Vorhersage des Kinderwunsches hinzugefügt (von Rosenstiel 1978: 100) – ein (ii) intrinsischer Wert, d. h. der Wert von Kindern jenseits von Instrumentalitätserwartungen sowie eine (iii) bezüglich der Kinderzahl existierende soziale Norm. Sowohl das Einstellungs- als auch das Motivationsmodell weisen insofern integrative Züge auf, als sie Kinder mit einem (subjektiv wahrgenommenen) potentiellen Nutzen verbinden und diesen um die Wirkung einer normativen Komponente ergänzen. Diese beiden Variablen werden typischerweise in unterschiedlichen Disziplinen modelliert – in der ökonomischen und der soziologischen Theorie. Begründungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang allerdings, warum zusätzlich zur Kategorie der Instrumentalität von Kindern weitere handlungsrelevante Faktoren modelliert werden, die nicht mit Nutzenerwartungen verknüpft sind (Kohlmann 2000: 79)? Sowohl die Befolgung kindbezogener Verhaltenserwartungen als auch das Bestreben den intrinsischen Wert von Kindern zu realisieren, kann unter der Rationalitätsprämisse als Produktion von positiver Verhaltensanktionierung sowie einer positiven Gefühlslage modelliert werden. Damit käme auch diesen beiden Komponenten ein explizit instrumen30
An dieser Stelle verweist von Rosenstiel (1978: 96f.) u. a. auf die VOC-Studien der 1970er, die Vorschläge für die durch Kinder realisierbaren Endziele geben.
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teller Charakter zu. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die bereits angesprochene fehlende Anschlussfähigkeit: Die institutionelle und soziale Einbettung des Akteurs wird ignoriert. Angesichts der fehlenden Verbindung der drei Modellkomponenten mit kontextuellen Rahmenbedingungen sowie individuellen Merkmalen, lässt sich deren mögliche Veränderung nicht erklären. Differentielle Fertilität wird ausschließlich durch unterschiedliche Motivationslagen der (potentiellen) Eltern erklärt bzw. durch die jeweils vorangehenden Aspekte. Eine vollständige Erklärung, warum die Fertilität zwischen unterschiedlichen Kulturen, Bevölkerungsgruppen und historischen Zeiten variiert, wird damit nicht geboten. Darüber hinaus bleibt das Motivationsmodell gemäß dem Anspruch seiner Vertreter ohnehin auf das Anwendungsgebiet Deutschland beschränkt und es werden Kinderkosten vernachlässigt. Schließlich fehlt auch den psychologischen Ansätzen eine substantielle Begründung für die verschiedenen Lebensziele und Bedürfnisse, die der Mensch bestrebt ist zu befriedigen und wofür Kinder u. U. hilfreich sein können. 4.4 Bilanz Es wird deutlich, dass den ökonomischen Theorien eine dominante Rolle bei der Erklärung der Fertilität zukommt – nicht trotz, sondern vielleicht gerade wegen der umfangreichen Kritik, die an ihnen geübt werden kann, denn insbesondere die Neue Haushaltsökonomie bietet angesichts ihrer eindeutigen und sparsamen Modellierung zwangsläufig eine breite Angriffsfläche für detailbezogene Kritik. Ungeachtet der weitgehend durchaus berechtigten Kritik gelang es der ökonomischen Theorie maßgebliche Zusammenhänge aufzudecken – allen voran das Opportunitätenkostenkonzept, das unbestritten ganz erheblich zur Erklärung des Geburtenrückgangs in modernen Gesellschaften beiträgt. Im direkten Vergleich hierzu erscheinen die soziologischen Modelle recht allgemein und diffus, was sich nicht zuletzt darin niederschlägt, dass kaum Versuche ihrer empirischen Überprüfung unternommen wurden. Die vorgestellten sozialpsychologischen Theorien basieren, ähnlich der ökonomischen Theorie, auf der Rationalitätsprämisse, gleichwohl betonen sie die Subjektivität der Kalkulation, die deshalb nicht weniger handlungsleitend ist. Überdies werden die in der soziologischen Theorie herausgestellten, in der ökonomischen Theorie hingegen ignorierten normativen Vorgaben und Erwartungen zum generativen Verhalten aufgenommen. Allerdings wird dann aber nicht umfassend begründet, warum die generative Motivation der Akteure zunächst auf eine nutzenorientierte Bewertung von Kindern zurückgeführt wird, um diese anschließend durch die Wirksamkeit generativer Erwartungen aus dem sozialen Umfeld zu ergänzen, deren (Nicht)
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Befolgung scheinbar nicht dem Prinzip der Rationalität folgt. Das Hauptproblem der sozialpsychologischen Ansätze besteht darin, dass die Kosten vernachlässigt werden, die Kinder verursachen. Darüber hinaus fehlt sowohl den ökonomischen als auch sozialpsychologischen Beiträgen eine systematische Verbindung zum Handlungskontext. Als Bilanz der Ausführungen ist festzuhalten, dass alle vorgestellten Ansätze jeweils mit diversen Vor- und Nachteilen behaftet sind, in ihrer Gesamtheit jedoch die entscheidenden Faktoren zur Erklärung der Fertilität bereits thematisieren: Jeder der Ansätze greift je spezifische Erklärungselemente auf und betont diese einseitig; was fehlt ist deren systematische Zusammenführung.31 Ausschlaggebend hierfür mag das Fehlen eines allgemeinen theoretischen Rahmens sein, innerhalb dessen eine Integration der existierenden, fruchtbaren Elemente möglich ist. Die Neuformulierung des Value-of-Children Ansatzes gibt sich mit der Theorie der sozialen Produktionsfunktion einen solchen Rahmen. Damit wird eine vollständige endogene Erklärung möglich, v. a. deshalb, weil als grundlegende Prämisse spezifiziert wird, worum es allen Menschen geht – um die Optimierung individuellen Wohlbefindens. Alle nachgeordneten Ziele und Präferenzen können hieraus abgeleitet werden. Auf das klassische Konzept des Wertes von Kindern wird deshalb aufgebaut, weil es einerseits verschiedene Bedeutungsdimensionen von Kindern unter der Handlungsprämisse ihrer Instrumentalität für ihre Eltern thematisiert und andererseits Ansatzpunkte für die Verknüpfung mit externen Handlungsrahmenbedingungen bietet. Eine modifizierte Version des Value-of-Children Ansatzes liegt dem folgenden Modell zu Grunde, das um einige, bezüglich des generativen Verhaltens erklärungsfördernde Faktoren ergänzt wird und sich an folgenden Prämissen orientiert: Fertilitätsentscheidungen werden auf der (i) Mikroebene von (ii) rationalen Entscheidungsträgern getroffen, deren (iii) subjektive Wahrnehmung der objektiv vorliegenden Opportunitäten und Restriktionen den Bezugsrahmen für ihre Entscheidungen und Handlungen bildet.
31 Auszunehmen ist hier die Arbeit von Herter-Eschweiler (1998), der im einleitenden Kapitel festhält, „dass es weniger der Suche nach einem neuen theoretischen Erklärungsansatz bedarf, als vielmehr der Integration von Teilaspekten bestehender Erklärungsansätze. Mit nachfolgender Arbeit soll der Versuch einer solchen Integration unternommen werden“ (ebd.: 3).
5 Das Erklärungsmodell
Handeln ist schon nach Max Weber (1980: §1) mit einem subjektiven Sinn verbunden. Es dient der Lösung von Problemen, die sich aus der fortwährend notwendigen Existenzsicherung ergeben. So ist auch generatives Handeln weder willkürlich noch unstrukturiert, sondern zielgerichtet mit Blick auf eine optimale Realisierung von Bedürfnissen. Unter dieser Maßgabe rückt die Instrumentalität von Kindern in den Mittelpunkt: Was können sie für die elterliche Bedürfnisbefriedigung leisten? An Hand des Konzeptes des Wertes von Kindern werden zentrale Bedeutungsinhalte von Kindern herausgearbeitet, die nicht etwa neu sind, sondern bereits mit unterschiedlichen Etikettierungen thematisiert, allerdings nie in einen theoretisch begründeten Gesamtzusammenhang gestellt wurden: Die Bedeutung von Kindern lässt sich auf den Dimensionen Komfort, soziale Wertschätzung sowie Affekt & Stimulation beschreiben, wobei ihre Position keineswegs immer nur im Nutzenbereich liegen muss. Es werden Gründe die für als auch gegen die Geburt von Kindern sprechen in systematischer Weise in einem Modell zusammengeführt. In den 1970er Jahren wurde mit interdisziplinärer Ausrichtung ein erster theoretischer Rahmen erstellt (Arnold et al. 1975; Hoffman & Hoffman 1973) in dessen Mittelpunkt der Wert, den potentielle Eltern mit Kindern antizipieren (VOC) steht. Er ist einerseits zentraler Erklärungsfaktor für den Wunsch nach einer bestimmten Kinderzahl und wird andererseits selbst von Merkmalen des Akteurs sowie seiner Umwelt beeinflusst. Der historische Geburtenrückgang ist demnach Folge eines Bedeutungswandels von Kindern, der wiederum aus veränderten Handlungsbedingungen resultiert. Welche konkreten Faktoren in diesem Erklärungszusammenhang Relevanz erlangen und wie die zu Grunde liegenden Mechanismen im Detail funktionieren, wird im Verlauf dieses Kapitels herausgearbeitet. Im Folgenden werden einführend diese anfänglichen Ideen der VOC-Forschung vorgestellt. Deren kritische Würdigung leitet zur Neukonzeptualisierung des Erklärungsmodells über (Nauck 2001, 2005; Nauck & Kohlmann 1999), die angesichts besonderer Merkmale generativen Entscheidens und Verhaltens einige zusätzliche Erweiterungen erfährt, um schließlich den theoretischen Rahmen für das vorliegende Erklärungsproblem, d. h. die Erklärung des Geburtenrückgangs in der Türkei, abzugeben.
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5 Das Erklärungsmodell
5.1 Zur Instrumentalität von Kindern: Der Value-of-Children Ansatz Hoffman & Hoffman (1973) greifen die Instrumentalität von Kindern als zentralen Erklärungsmechanismus auf: „Value of children refers to the functions they serve or the needs they fulfil for parents. Our special interest is in the capacity of these values to affect the motivation to have children“ (ebd.: 20).
Sie entwerfen ein Kausalmodell, in dem sich (i) der Wert von Kindern in der Motivation, Kinder zu gebären, niederschlägt. Als weitere Prädiktoren werden (ii) alternative Quellen des Wertes von Kindern berücksichtigt, d. h. Güter, Personen oder Aktivitäten, die denselben Nutzen realisieren können, der von Kindern erwartet wird, (iii) Barrieren und Anreize als Faktoren, die es entweder erschweren oder erleichtern, den jeweils an Kinder gebundenen Nutzen zu realisieren und schließlich (iiii) Kosten, die allgemein als „what must be lost or sacrificed to obtain a value in any particular way“ definiert werden (ebd.: 62). Der Wert bzw. Nutzen von Kindern gliedert sich in neun Kategorien auf, die Hoffman & Hoffman (ebd.: 46f.) nach Durchsicht zahlreicher empirischer Arbeiten zusammenstellen: „1. Adult status and social identity 2. Expansion of the self, tie to a larger entity, „immortality“ 3. Morality: religion; altruism; good of the group; norms regarding sexuality, impulsivity, virtue 4. Primary group ties, affiliation 5. Stimulation, novelty, fun 6. Creativity, accomplishment, competence 7. Power, influence, effectiveness 8. Social comparison, competition 9. Economic utility“.
Diese Auflistung verweist auf vielfältige Ziele, für deren Verwirklichung Kinder grundsätzlich hilfreich sein können. Ihre konkrete Effizienz hierfür leitet sich aus den institutionellen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen ab bzw. der individuellen Position des Entscheidungsträgers darin. Der Wert von Kindern bildet den auf der Individualebene angesiedelten „missing link“ (Kagitcibasi 1982a: 176) zwischen der gesellschaftlichen Struktur einerseits und dem Geburtenniveau andererseits. Bei dynamischer Auslegung stellt sich das Grundprinzip wie folgt dar: „With social change and development, the needs are satisfied by children; thus, functions of children change. This is reflected in modifications in the values attributed to children, and consequently in the numbers of children desired, eventually affecting fertility” (ebd.: 152). Damit präsentiert Kagitcibasi bereits vor mehr als 20 Jahren die Grundzüge einer Erklärung generativen Wandels – gleichsam baut hierauf das vorzulegende Modell auf, mit dem Versuch einer analytischen Präzisierung.
5 Das Erklärungsmodell
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Eine vergleichende Analyse der Vor- und Nachteile von Kindern wurde Mitte der 1970er im Rahmen einer international angelegten Studie realisiert (Arnold et al. 1975). Durch die Vielfalt der teilnehmenden Länder (Taiwan, Japan, Republik Korea, Philippinen, Thailand, USA, Indonesien, Türkei, BRD, Singapur) wurden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und damit die Anfangsparameter des Modells variiert. Eine Ausdifferenzierung der kleinräumlichen Opportunitätenstruktur erfolgte durch die Unterscheidung von städtischen und ländlichen Erhebungskontexten; verschiedene Ressourcenlagen wurden durch unterschiedliche Bevölkerungsschichten abgebildet. Diese gezielte Modulation der Rahmenbedingungen sollte sich in unterschiedlichen kindbezogenen Nutzen- und Kostenlagen der (potentiellen) Eltern niederschlagen, die wiederum als ursächlich für die Fertilitätsunterschiede in den einzelnen Länder- und Unterstichproben angenommen wurden. Der Nutzen von Kindern wurde mittels elf und die Kosten an Hand von zehn Items operationalisiert (East-West-Population Institute 1978, 1978a). Dieses zum Einsatz gekommene Instrument im Speziellen bzw. die international erhobenen Daten im Allgemeinen wurden allerdings kaum intensiven (Zusammenhangs-) Prüfungen unterzogen. Lediglich für die Türkei (Kagitcibasi 1982a, 1982b; Kagitcibasi & Esmer 1980; Nauck 1989a, 1989b, 1992) sowie später auch für Japan und Deutschland (Kohlmann 2000, 2002) erfolgten umfassende Untersuchungen, die zwei zentrale Befunde hervorbrachten: (i) Zunächst konnte herausgestellt werden, dass der Wert von Kindern in drei Dimensionen zerfällt: Kinder können einen Beitrag in ökonomisch-utilitaristischer, emotionalpsychologischer und sozial-normativer Hinsicht leisten. (ii) Darüber hinaus bestätigt der Einsatz der daraus generierten VOC-Indikatoren im Wesentlichen, die im Grundmodell aufgestellten Zusammenhänge: Das bezieht sich einerseits auf die systematische Variation des VOC in Abhängigkeit gesellschaftlicher sowie individueller Merkmale und andererseits auf dessen Vorhersagekraft fertilitätsbezogener Motivation sowie darauf ausgerichteten Verhaltens. Ergänzungsbedürftig bleibt dieses Konzept v. a. in theoretischer Hinsicht: So beruht der Wertekatalog auf einer rein induktiven Vorgehensweise, als er eine Kategorisierung empirischer Ergebnisse darstellt; ihm fehlt eine systematische, theoretische Anbindung (Cromm 1988; Herter-Eschweiler 1998; Huinink 2000; Loy 1981; Nauck 2001; Nauck & Kohlmann 1999). Abgesehen davon, dass diese Liste somit möglicherweise unvollständig ist und die extrahierten Werteaspekte von Kindern unzureichend definiert sind, bleiben die im Modell aufgestellten Zusammenhänge zwischen der Sozialstruktur und dem individuellen Wertegefüge theoretisch unbegründet. Neben der unvollständigen Ausarbeitung der Wirkungsweise der Werte auf das generative Verhalten, besteht hierin
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5 Das Erklärungsmodell
die zentrale Schwachstelle des Konzeptes und damit zugleich Ansatzpunkt für die folgende Modellverbesserung. 5.2 Kinder in der Theorie sozialer Produktionsfunktionen Die Neuformulierung folgt der primären Maßgabe einer theoretischen Fundierung im Rahmen einer vollständigen soziologischen Erklärung. Die klassische VOC-Idee kann problemlos in eine Mehr-Ebenen-Modellierung gemäß dem methodologischen Individualismus überführt werden (Nauck & Kohlmann 1999: 65f.), weil die Kontextabhängigkeit des Akteurs bereits angelegt ist. Entsprechend zerfällt die Gesamterklärung in drei Einzelerklärungen, die über drei Logiken näher bestimmt werden (Coleman 1990; Esser 1991, 1993; Lindenberg & Wippler 1978): (1) Die Logik der Situation verbindet (potentielle) Eltern mit dem Handlungskontext, in den sie eingebettet sind und innerhalb dessen sie über ihre generative Verhaltensstrategie entscheiden, um sie anschließend umzusetzen. Diese Verbindung ist maßgeblich für die Erklärung von Verhaltensvariationen. Nicht das Handlungsprinzip der Akteure variiert, sondern die Bedingungen, unter denen sie agieren. Über Brückenhypothesen werden Erwartungen darüber formuliert, welche situativen Bedingungen in welcher Weise in die generative Entscheidung einfließen. Diese Annahmen gehen direkt in (2) die Logik der Selektion ein: Als nomologischer Kern des Gesamtmodells bedarf es hier einer allgemeinen Handlungstheorie, die die Situationswahrnehmung und interpretation des Akteurs mit einer entsprechenden Reaktion hierauf verbindet (Hill 2002: 25f.). Es wird deutlich, dass dieser Schritt nicht unabhängig vom vorhergehenden zu erbringen ist, diese inhärente Verbindung allerdings von nicht wenigen, handlungstheoretisch angelegten Erklärungsansätzen der Fertilität nur unzureichend bzw. gar nicht hergestellt wird (vgl. Kap. 4). Schließlich müssen die generativen Einzelhandlungen über die (3) Logik der Aggregation auf die Ebene der überindividuellen Phänomene transformiert werden. Während bezogen auf das vorliegende Erklärungsphänomen die ersten beiden Schritte prinzipiell auf vielfältige Art modelliert werden können, lässt sich die Aggregationsproblematik, der üblicherweise wenig Beachtung geschenkt wird, recht bequem lösen. Verschiedene demographische Maße stehen zur Verfügung, deren mathematische Formeln zur Verbindung der Einzelereignisse höchst formalisierte Aggregationsregeln darstellen.32 32
Zu verweisen sei hier neben absoluten Geburtenzahlen auf diverse (altersspezifische oder abgeschlossene) Geburtenraten, Reproduktionsraten sowie das durchschnittliche (Erst-) Gebäralter von Frauen. Die Präzision bzw. die jeweiligen Vor- und Nachteile der einzelnen Maße zur Abbildung (der historischen Entwicklung) generativen Verhaltens sind stets zu berücksichtigen.
5 Das Erklärungsmodell
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5.2.1 Das Handlungsmodell Die weitere Betrachtung konzentriert sich auf die Modellierung der ersten beiden Erklärungsschritte. Den Ausgangspunkt bildet der handlungstheoretische Kern: Verschiedene Theorien auf der Grundlage unterschiedlicher Handlungslogiken liegen vor, von denen sich, nicht zuletzt mit Blick auf die für eine MehrEbenen-Modellierung notwendige Anschlussfähigkeit an die Handlungssituation, das aus der Ökonomie stammende Rational-Choice (RC) Handlungsmodell als besonders geeignet erweist. Entsprechend wird menschliches Handeln als zielgerichtet und rational33 verstanden; es ist immer Entscheidungshandeln, wobei die Alternative gewählt wird, die den größten Netto-Nutzen verspricht (u. a. Diekmann & Voss 2004; Etzrodt 2003; Hill 2002; Schimank 2002). Verschiedene Versionen dieser allgemeinen Selektionsregel werden unterschieden (für einen Überblick vgl. Diekmann 1996; Herter-Eschweiler 1998): Die subjective-expected-utility (SEU) Theorie (Diekmann & Voss 2004: 16ff.; Savage 1954) stellt die wohl populärste Variante der Wert-Erwartungstheorien dar. Sie zeichnet sich durch eine höchst präzise Modellierung aus, verfasst in einer Reihe miteinander verknüpfter funktionaler Beziehungen. Diese Klarheit verdankt sie ihrer ökonomischen Herkunft, wenngleich ihr Akteur auf Basis eingeschränkter Informationen agiert: Dem der Handlungskonsequenz zugewiesene Wert sowie dessen handlungsbedingte Realisierungswahrscheinlichkeit werden ausdrücklich subjektiv formuliert. Soweit ist das SEU-Prinzip aber nicht einsetzbar, da die Anfangsbedingungen der formulierten Selektionsregel „empirisch gehaltlos“ sind (Kelle & Lüdemann 1995: 251). Es ist ungeklärt, woraus sich für den Akteur (i) der Wert bzw. der Nutzen einer wahrgenommenen (fertilitätsbezogenen) Handlungsalternative ergibt bzw. wie sich dieser überhaupt darstellt (damit ist der theoretische Status des Wertes von Kindern angesprochen) und woraus sich (ii) die individuelle Gewichtungsvariable ableitet. Aus der Notwendigkeit heraus, die zentralen Anfangsparameter der (SEU-) Handlungstheorie zu spezifizieren34, ergibt sich gleichzeitig die Möglichkeit, den angestrebten Mehr-Ebenen-Bezug umzusetzen, denn gerade die Bewertung von Handlungsalternativen lässt sich aus der sozialen Einbettung des Akteurs ableiten. Einen geeigneten theoretischen Rahmen hierfür bietet die Theorie sozialer Produktionsfunktionen (TSPF): Sie mo33
Insbesondere der Rationalitätsbegriff hat zu zahlreichen Missverständnissen geführt, wurde und wird er oft in sehr unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Das Gros der Kritik am RC-Modell setzt an dieser Prämisse an. 34 Während die folgenden Ausführungen der Bewertung der Handlungsalternativen gewidmet sind, wird an späterer Stelle die Modellierung der Eintrittswahrscheinlichkeiten vorgenommen bzw. die Anwendung von SEU auf das generative Verhalten ausgeführt.
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delliert eine Zielhierarchie, die einerseits universale menschliche Bedürfnisse des Menschen benennt und andererseits auf kontextgebundene Realisierungsmöglichkeiten derselben verweist. Damit ermöglicht sie die Verbindung zwischen dem individuellem Akteur und dessen Handlungssituation und kann gleichzeitig variable (kindbezogene) Präferenzen und Bewertungen begründen. 5.2.2 Zur Konstruktion theoriereicher Brückenannahmen Dem RC-„Gerippe“ muss durch zusätzliche (Brücken-) Annahmen „Fleisch angesetzt“ werden, fordert Lindenberg (1991a: 55) und schlägt hierfür die Methode der abnehmenden Abstraktion vor, die mit Blick auf die Einfachheit von Theorien auf eine sparsame und demzufolge schrittweise Einführung zusätzlicher Annahmen abhebt. Ebenso spricht er sich ausdrücklich für die Ableitung theoriegestützter Brückenannahmen aus (1996a)35 und verweist hierzu auf die soeben angesprochene Heuristik der sozialen Produktionsfunktionen. Universale Grundbedürfnisse. Als deren Grundprämisse wird der Akteur in Analogie zur Neuen Haushaltsökonomie als Produzent von Nutzen aufgefasst: Das oberste Ziel besteht in der optimalen Nutzenproduktion bzw. Realisierung von individuellem Wohlbefinden (U). Die „Bedingungen der Nutzenproduktion können als Funktion beschrieben werden: in den sog. sozialen Produktionsfunktionen. Die Grundlage hierfür ist das Konzept der Produktionsfunktionen allgemein. Es stammt aus der ökonomischen Produktionstheorie“ (Esser 1999: 87). Stigler & Becker (1977) führen die maßgebliche Unterscheidung zwischen universalen und instrumentellen Zielen ein, deren Implikationen Lindenberg (2002: 646) wie folgt zusammenfasst: „Universal goals are identical for all human beings and instrumental goals pertain to the means that lead to the ultimate goals. Instrumental goals are in fact constraints, they differ for different categories of people and they can change. Thus they can be traced in an approach that emphasizes the impact of the action environment on the action“. Daran wird die besondere soziologische Eignung dieser Theorie deutlich: Es gibt eine universale Nutzenfunktion und viele kontextspezifische Produktionsfunktionen. Oder anders: Menschliches Handeln dient immer denselben Endzielen, variiert aber entsprechend der spezifischen Handlungsmöglichkeiten ihrer Realisierung. Anders als in der Ökonomie geht es allerdings in die Theorie sozialer Produkti35
Mit seiner Kritik an der gängigen wissenschaftlichen Praxis, die Brückenannahmen oft empirisch ad hoc zu formulieren, löste Lindenberg eine kontroverse Diskussion zur Konstruktion theoriearmer vs. theoriereicher Brückenthesen aus, die in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie geführt wurde (vgl. hierzu Kelle & Lüdemann 1996; Lindenberg 1996a; Opp & Friedrichs 1996).
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onsfunktionen nicht nur um die Produktion ökonomischer sondern auch explizit sozialer Güter. Das ermöglicht die Integration von Aspekten, die in den einzelnen Geisteswissenschaften üblicherweise nur separat behandelt werden. Deutlich wird diese Kombination in der Formulierung von zwei universalen Grundbedürfnissen, aus deren Befriedigung sich der Grad des individuellen Wohlbefindens (U) ableitet. Es werden physisches Wohlbefinden (PW) und soziale Anerkennung (SA) unterschieden (Esser 1999: 97; Lindenberg 1984: 176, 1990: 272; Ormel et al. 1999: 70). Physisches Wohlbefinden ist das, dessen Maximierung typischerweise in der ökonomischen Theorie implizit unterstellt wird, ohne es explizit zu definieren. In der Soziologie hingegen wird soziale Anerkennung als handlungsleitend betont. Die Art ihrer Verknüpfung ist nicht festgelegt. (3)
U= f (PW, SA)
Beide Grundbedürfnisse können nicht unmittelbar befriedigt werden – vielmehr bedürfen sie so genannter Produktionsfaktoren.36 Auch die Neue Haushaltsökonomie betont den notwendigen Produktionsprozess, arbeitet jedoch den Zusammenhang zwischen dem individuellen Verhalten und der Zielumsetzung nicht deutlich genug heraus. Mit den sozialen Produktionsfunktionen hingegen wird ein Rahmen bereit gestellt, innerhalb dessen die Strategien aufgezeigt werden können, mittels derer es dem Akteur gelingen kann, unter jeweils gegebenen Bedingungen beide Endziele in optimaler Weise zu erreichen. Primäre instrumentelle Zwischenziele. Während Esser die nachfolgenden Produktionsfaktoren unspezifiziert lässt (1999: 99), benennt Lindenberg fünf ebenfalls universale, gleichwohl instrumentelle Zwischenziele, über die die Befriedigung der beiden Grundbedürfnisse verläuft: Komfort (K), Stimulation (ST), Status (S), Verhaltensbestätigung (VB) und positiver Affekt (A). Sie sind über die folgenden primären Produktionsfunktionen mit den beiden Grundbedürfnissen verbunden (Lindenberg 1996a: 136, 2002: 647f.; Ormel et al. 1999: 70ff.). (4) (5)
36
PW = f (K, ST) SA = f (S, VB, A)
Die Bezeichnung Produktionsfaktoren bezieht sich generell auf alle Faktoren unterhalb der beiden universalen Grundbedürfnisse, die zu deren Realisierung (un-) mittelbar beitragen. Je nach Position in der Gesamthierarchie der Produktionsfunktionen und je nach theoretischer Version variiert deren Bezeichnung. Vielfach kommt der Begriff Zwischengüter zum Einsatz, der als Synonym für Produktionsfaktoren zu verstehen ist.
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5 Das Erklärungsmodell
Vor allem die Behauptung der beiden universalen Endziele wird überaus kontrovers diskutiert.37 Als historische Quelle wird Adam Smiths ‚Theorie der ethischen Gefühle’ (1976) angeführt. Huinink (1995) legt eine anthropologische Beweisführung vor38, Esser (1999: 93) zufolge ergeben sich beide Bedürfnisse aus der conditio humana, für Lindenberg (1996b: 563) haben sie ohnehin nur einen heuristischen Wert, stellen selber aber keine systematische Ableitungen dar. Gleichwohl ergänzt er, dass ihre Auswahl keineswegs willkürlich ist und begründet sie mit ihrer jeweiligen Dominanz in der Ökonomie und Soziologie. Darüber hinaus grenzt Lindenberg die TSPF positiv von der Mehrzahl psychologischer Bedürfniskonzepte ab, die (i) keine Restriktionen bei der Zielrealisierung thematisieren und (ii) keine Zielsubstitution zulassen (Lindenberg 1996: 172f., 2002: 646). Der nach Lindenberg prinzipiell möglichen Substituierbarkeit sind jedoch auch Grenzen gesetzt. So erfolgt die Verknüpfung der universalen, instrumentellen Zwischenziele mittels einer Cobb-Douglas Funktion (A= Xa· Yb·Zc; mit: a+b+c=1), wonach jeder Parameter zumindest mit einem Wert größer Null realisiert werden muss, um das jeweilige Endziel umsetzen zu können: „Human beings must have both physical and social well-being, and within physical well-being they must have a certain amount of both comfort and stimulation. Within social well-being, human beings must have some level of status, behavioral confirmation, and affection. For these reasons, substitution is only possible beyond these minimum levels (whatever they are)“ (Lindenberg 2002: 649f.).
Kontextabhängige Produktionsfaktoren. Auch die Erfüllung der fünf Zwischenziele (I) kann nicht direkt erfolgen, hierzu bedarf es weiterer Zwischengüter bzw. Produktionsfaktoren. Das meint Aktivitäten als „current behaviours aimed toward a goal [as well as] endowments [in form of] statuses and resources as a result of prior activity“ (Ormel et al. 1999: 74). Esser (1999: 105) zufolge können alle denkbaren Objekte, Ressourcen, Eigenschaften und Leistungen zu Produktionsfaktoren (P) werden, wichtig ist nur, dass in die Produktionsfunktionen immer die für die Produktion notwendige Zeit (t) einfließt.
37
Diese Diskussion wird nicht zuletzt durch die Vielzahl alternativer Vorschläge genährt, die v. a. aus der psychologischen Forschung stammen und von denen Maslows Bedürfnisshierarchie (1981) wohl am populärsten ist. 38 Neben physischem Wohlbefinden und sozialer Anerkennung formuliert Huinink (1995: 87) ein drittes Grundbedürfnis, welches er mit persönlicher Fundierung umschreibt, dessen Realisierung er allerdings an eine alternative Handlungslogik knüpft. Da insbesondere generative Beziehungen und in diesem Zusammenhang Fertilitätsentscheidungen für dieses Handlungsziel relevant sind, wird dieser Ansatz an späterer Stelle erneut aufgegriffen.
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Dieser Zusatz mündet in die folgende Funktion der Produktion der instrumentellen Zwischenziele: (6)
I= f ( P1 t1, P2 t2,
…
Px tx, )
Die Liste von Produktionsfunktionen lässt sich grundsätzlich beliebig fortführen: Steigt man in dieser Hierarchie weiter hinab, so werden zunhemend individuelle Ressourcen und Zwänge relevant, die den Akteur zunächst (nicht) in die Lage versetzen entsprechende Aktivitäten durchzuführen. Fehlen entsprechende Ressourcen müssen auch diese erst bereitgestellt werden. Insgesamt wird hiermit eine strikt nach instrumentellen Kriterien gestaffelte Abfolge miteinander verbundener Produktionsfaktoren unterschiedlicher Ordnung aufgestellt, unter der Maßgabe einer optimalen Bedürfnisbefriedigung. Die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Produktionsvorgänge wird von den Handlungsrahmenbedingungen bestimmt: Es gilt, dass „the lower one goes in the SPF [Social Production Function] hierarchy, the more context-specific the production functions become“ (Ormel et al. 1999: 70). Welche Produktionsfaktoren geeignet sind, ist demnach nicht beliebig sondern kontextabhängig und basierend auf der Annahme eines rationalen Akteurs lässt sich sodann plausibel ableiten, dass mit steigender Effizienz eines Produktionsfaktors die Wahrscheinlichkeit zunimmt, mit der eben dieser Produktionsfaktor gewählt wird (vgl. auch Nauck 2001: 413). Grundsätzlich genügt ein effizienter Produktionsfaktor zur Realisierung des entsprechenden Zwischenziels. Bedingt durch die individuelle Ressourcenbeschränkung (v. a. Zeit) lassen sich ohnehin nicht beliebig viele Produktionsfaktoren wählen, weshalb eine Entscheidung entsprechend der höchsten Effizienz notwendig wird. Diese Entscheidung gewinnt insofern an Komplexität, als ein Produktionsfaktor nicht notwendigerweise für alle Zwischenziele das gleiche Ausmaß an Effizienz aufweisen muss, außer er zeichnet sich durch eine hohe Multifunktionalität aus: „For example, having a partner can produce behavioral confirmation, affect, comfort and stimulation“ (Lindenberg 1996: 176). Solche Produktionsfaktoren sind besonders begehrt, gleichzeitig aber auch mit umfangreichen Verlusten verbunden, wenn sie wegfallen bzw. nicht mehr verfügbar sind. Die Mehrzahl der Produktionsfaktoren eignet sich für die Realisierung der Zwischenziele in unterschiedlichem Ausmaß, weshalb sie gegeneinander abzuwägen sind. In diesem Zusammenhang können problemlos die Kosten integriert werden, die jeder Produktionsfaktor mehr oder minder umfangreich verursacht. Ausgerichtet auf die beiden Endziele formuliert Wippler: „(1) strainful exertion reduces physical well-being and will, therefore, be avoided, and (2) socially harmful behavior leds to the loss of social approval and will, therefore, be confined to special occasions” (1990: 189f.). Die Beurteilung der Effizienz eines
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5 Das Erklärungsmodell
Produktionsfaktors ergibt sich entsprechend dieser Modellierung aus dem Saldo seines Nutzens abzüglich der Kosten, die durch ihn bzw. durch die damit verbundene Handlung verursacht werden. Die Effizienz variiert zwischen einem positiven und einem negativem Pol. 5.2.3 Kinder als potentielle Produktionsfaktoren Die Anwendung der TSPF auf generative Entscheidungen erfolgt nun über folgende Grundannahme: Kinder stellen potentielle Produktionsfaktoren zur Realisierung der instrumentellen Ziele dar. Wie nützlich sie hierfür sind, ist vom jeweiligen Handlungskontext sowie der individuellen Ressourcenausstattung abhängig. Abbildung 14 illustriert die Position von Kindern im Produktionsprozess. Insbesondere der grau unterlegte Teil bildet den Kern der folgenden Modellierung: Das primäre Interesse richtet sich auf die Wirkungsweise und richtung von Kindern. Gleichwohl müssen alternative Produktionsfaktoren in Rechnung gestellt werden, wobei die in diesem Erklärungszusammenhang typischen ‚Konkurrenten’ in die Abbildung aufgenommen sind. Die Existenz von effizienteren (und bzw. weil ggf. weniger zeitaufwendigen) Produktionsfaktoren kann die Bedeutsamkeit von Kindern (erheblich) schmälern – vorausgesetzt der jeweilige Beitrag von Kindern ist substituierbar (eine Frage die später an gegebener Stelle diskutiert wird). Neben der individuellen Verfügbarkeit von sozio-ökonomischem Kapital, wovon typischerweise der ökonomische Status, das Bildungsniveau sowie die berufliche Integration und Etablierung als effiziente Produktionsfaktoren in Betracht kommen, bedeutet die Einbindung in soziale Netzwerke Quelle für die Befriedigung unterschiedlicher Ziele, wobei v. a. familiale und religiöse Zugehörigkeiten relevant sind. Maßgeblich sind überdies (institutionalisierte) Strukturen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen: Effektive staatliche Absicherung, kulturelle und soziale Einrichtungen, Freizeitangebote und der Zugang zu begehrten Konsumgütern können Kinder in mancherlei Hinsicht ersetzen. Ruft man sich den in Kapitel 3 dargelegten gesellschaftlichen Wandel der Türkei des 20. Jahrhunderts ins Gedächtnis, so lässt sich ahnen, dass die dort beschriebenen Entwicklungen ursächlich für die veränderte Effizienz von Kindern in den elterlichen Produktionsfunktionen sind und damit einen Wertewandel von Kindern herbeigeführt haben, der wiederum für den beobachteten Rückgang im Fertilitätsverhalten maßgeblich Mitverantwortung trägt. Eine Präzisierung der Zusammenhänge erfolgt im Rahmen der anwendungsbezogenen Hypothesenbildung im Kapitel 6.
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Die Abbildung 14 verdeutlicht, dass die Produktion eines instrumentellen Zwischenziels im Allgemeinen von der Zusammenstellung nützlicher Produktionsfaktoren abhängig ist: Kinder bestimmter Zahl und Qualität können hierbei enthalten sein, müssen aber nicht; ihre funktionale Verknüpfung mit anderen Produktionsfaktoren kann additiv oder substitutiv sein. Je nach Rahmenbedingung können Kinder (i) alleiniger Produktionsfaktor für ein Zwischenziel sein, (ii) durch weitere effiziente Produktionsfaktoren ergänzt werden oder (iii) auch gänzlich irrelevant für das jeweilige Zwischenziel sein. Zu beachten ist allerdings: Werden Kinder oder auch andere Produktionsfaktoren (P) für mindestens ein Zwischenziel (I) als gewinnbringend eingestuft, so ist ihre (ggf. auch negative) Wirkung auf die verbleibenden Zwischenziele in die Gesamtkalkulation einzubeziehen. Abbildung 14: Kinder in den sozialen Produktionsfunktionen Individuelles Wohlbefinden
Universale Ziele
Soziale Anerkennung
Physisches Wohlbefinden
Stimulation
Komfort +/-
Status
Verhaltensbestätigung
+/+/-
Kontextgebundene Mittel
Religion
Soziale Sicherung
Kinder Partnerschaft
Ökonomisches Kapital
+/-
Erwerbstätigkeit
Affekt
+/-
Bildung
Freizeit/ Konsumgüter
etc.
Im VOC spiegelt sich nun die situationsspezifische Effizienz von Kindern wider. Entsprechend der fünf Zwischenziele sind zunächst fünf VOC-Komponenten zu differenzieren, wobei sich deren Einzelbeiträge aus dem jeweils positiven (Nutzen) abzüglich dem negativen Beitrag (Kosten) ergeben, stets mit der Effizienz alternativer Produktionsfaktoren verrechnet. Der Saldo resultiert in einer be-
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5 Das Erklärungsmodell
stimmten Position auf der jeweiligen Wertedimension, die auch im negativen Bereich liegen kann. Im VOC-Konzept ist nunmehr gebündelt, was im Modell von Hoffman & Hoffman (1973: 62) noch separat behandelt wurde: „(1) the value of children; (2) alternative sources of the value; (3) costs“. Die analoge Ausdifferenzierung von Kosten und Nutzen wird deutlich. In der Ökonomie werden die Kosten von Kindern im Allgemeinen in direkte und indirekte bzw. Opportunitätenkosten unterteilt, beide bleiben allerdings weitestgehend auf materielle Verluste beschränkt. Eine explizite Berücksichtigung nicht-ökonomischer Opportunitätenkosten findet sich in der biographischen Theorie der Fertilität (Birg et al. 1991): Entscheidungen sind immer auch Entscheidungen über die Allokation von Zeit und sie verursachen biographische Opportunitätenkosten, definiert als die Gesamtheit verloren gehender, zukünftiger biographischer Gestaltungsmöglichkeiten. Entscheidungen in einem Lebensbereich beeinflussen zukünftige Handlungsmöglichkeiten in demselben sowie in anderen Lebensbereichen. Dabei gibt es „wenige Festlegungen im Leben eines Menschen (...), die so eine gravierende Reduktion von sonst möglichen Lebenslauf- Alternativen nach sich ziehen wie die Gründung einer Familie und die Entscheidung, Kinder zu haben“ (ebd.: 13). Die Besonderheit der generativen Festlegung ergibt sich daraus, dass die Entscheidung für ein Kind irreversibel ist und Kinder außerordentlich zeitintensive Güter darstellen, d. h. sie verursachen langfristige Opportunitätenkosten in verschiedenen Bereichen. Der Bezug zur biographischen Theorie erfolgt hier deshalb, um mittels dieser weiter gefassten theoretischen Perspektive zu begründen, dass der Blick über materielle Kosten hinaus zu richten ist. Aus der umfangreichen Zeitaufwendung, die Kinder verlangen, ergeben sich Opportunitätenkosten unterschiedlichster Art. Sicherlich nehmen entgangene Einkommensmöglichkeiten einen gewichtigen Teil der indirekten Kosten ein, aber Lebenszeit wird, und das ergibt sich sehr deutlich aus der TSPF, nicht nur zur Maximierung von Besitz und Geld verwendet: Statuserhöhung, die Produktion von Affekt, oder die Bereitstellung eines befriedigenden Maßes an Stimulation – Zwischenziele, die potentiell durch Elternschaft, aber auch Aktivitäten oder Investitionen in anderen Lebensbereichen bedient werden können – bedürfen im Allgemeinen ebenfalls der Aufwendung von Zeit, die besonders knapp wird, wenn (kleine) Kinder vorhanden sind. So wirken sich kindbedingte Einschränkungen vielfältig aus: Neben den oft thematisierten Einkommenseinbußen können wichtige soziale Kontakte verloren gehen, womit wiederum die Möglichkeiten (beruflicher) Selbstverwirklichung als Aspekt der Stimulation schrumpfen. Es bleibt weniger Zeit für Freizeitaktivitäten oder Pflege sozialer Kontakte, einschließlich der Partnerschaft. Bereits Fawcett (1978) differenzierte zwischen einkommensbezogenen und anderen Opportunitätenkosten. Neben den Opportunitätenkosten bedeutet die
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Wahl des Produktionsfaktors Kind auch prinzipiell direkte Kosten auf allen Wertedimensionen, d. h. neben den materiellen Aufwendungen können Kinder beispielsweise auch psychischen Stress und körperliche Anstrengung verursachen oder auch negative Reaktionen aus dem sozialen Umfeld nach sich ziehen. Somit findet ein kombiniertes Kostenkonzept Verwendung: Die parallel zum Nutzen definierten fünf Kostenbereiche werden jeweils in direkte und indirekte Aspekte unterteilt. Direkte Kosten bezeichnen das Ausmaß, in dem Kinder sich negativ auf das jeweilige Zwischenziel auswirken; Opportunitätenkosten werden als Ableitung aus den sozialen Produktionsfunktionen als entgangene (aktuelle und zukünftige) Möglichkeiten der Nutzenproduktion durch nichtgewählte alternative Produktionsfaktoren definiert. Der VOC je Zwischenziel berechnet sich demnach wie folgt: (7)
VOC (I) = ((Nutzen) í (Kosten direkt+indirekt))
Entsprechend dieser funktionalen Verknüpfung gehen Kosten und Nutzen mit gleichem Gewicht in die Kalkulation ein – eine vereinfachende Annahme, die ebenfalls auf die Kombination der fünf qualitativen VOC-Dimensionen übertragen wird. Es gibt bisher weder theoretische noch empirische Anhaltspunkte dafür, dass die einzelnen Aspekte mit Blick auf die Fertilitätsvorhersage in ihrem Gewicht variieren, auch wenn sie sich freilich inter-individuell in ihrer Bedeutung unterscheiden können. Die bisherige Darlegung soll verdeutlicht haben, wie der theoretische Status des VOC aus der behaupteten Existenz universaler menschlicher Bedürfnisse sowie der Verbindung des Akteurs mit seiner Handlungssituation ableitet wird. Analytisch sind demnach fünf Bedeutungsdimensionen von Kindern zu unterscheiden, wobei im Folgenden auszuführen ist, ob und in welcher Weise Kinder zur Produktion der Zwischenziele beitragen können. Die Darstellung geht zunächst eher in die Breite als in die Tiefe, um einen Eindruck zu vermitteln, wie vielfältig die Funktionen von Kindern sein können. Mit Blick auf das Erklärungsproblem dieser Arbeit, werden entsprechend relevante Verknüpfungen im Rahmen der Hypothesenformulierung vertieft. 5.2.4 Die Wertedimensionen von Kindern Komfort, Verhaltensbestätigung und Status Ormel et al. (1999: 68) beschreiben Komfort als „a somatic and psychological state based on absence of thirst, hunger, pain, fatigue, fear, extreme unpredict-
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ability, and the like”. Er stellt sich demnach als ein Zustand dar, indem derlei basale Bedürfnisse befriedigt sind. Welche Bedeutung kann Kindern in diesem Zusammenhang zukommen? Sie nehmen auf vielfältige Art Einfluss auf den Komfort ihrer Eltern, sowohl positiv als auch negativ. Förderlich sind sie, sofern sie einen finanziellen Beitrag zum Familieneinkommen leisten. Das ist der Fall, wenn sie einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachgehen und das verdiente Geld teilweise oder vollständig dem familialen Haushalt zukommt, um es für den Erwerb von Marktgütern wie Nahrungsmittel, Kleidung oder auch Gesundheitsvorsorge zu verwenden. Alternativ oder ergänzend hierzu trägt die im Haushalt oder im Familienbetrieb genutzte, unbezahlte Kinderarbeit zur Haushaltsproduktion bei. Beide Aspekte können unter gegebenen Bedingungen bereits im (frühen) Kindesalter zum Tragen kommen oder sie werden erst im Erwachsenenalter der Kinder relevant. Der fortlaufende materielle Beitrag von Kindern ist oft unter Armutsbedingungen unentbehrlich. Eine Risikoabsicherung im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder die Sicherung im Alter ist häufiger der Fall: Werden ein oder beide Elternteile vorübergehend oder langfristig erwerbsunfähig, so können Kinder den damit erlittenen ökonomischen Ausfall u. U. kompensieren. Neben dem explizit materiellen Nutzen von Kindern, können sie auch für Unterstützungsleistungen praktischer Art herangezogen werden: Hierbei ist insbesondere an Pflege- und Unterstützungsleistungen bei Krankheit oder im Alter zu denken. Ein sehr viel indirekter Komfortnutzen von Kindern ergibt sich aus ihrer Bedeutung als soziales Kapital. Indem sich durch sie das soziale Netzwerk der Eltern ausdehnt (wie die Ausführungen zur Verhaltensbestätigung noch zeigen werden), vergrößert sich auch das potentielle Kapital, auf das insbesondere im Bedarfsfall zurückgegriffen werden kann. Unter anderem von Schoen et al. (1997: 336) wird dieser Wert von Kindern hervorgehoben, der sich aus der „continuing critical importance of kinship and other personal relationships created by children in providing adults access to strategic social resources” ableitet. Er sollte vornehmlich unter der Bedingung zum Tragen kommen, dass eine Vielzahl von Funktionen über private Arrangements erbracht wird, was typischerweise in deszendent-organisierten Familienstrukturen der Fall ist: Durch die Geburt von Kindern werden hier die ohnehin starken verwandtschaftlichen Bande intensiviert und ggf. ausweitet, worüber sich das Hilfs- und Unterstützungspotential vergrößert, das der Familie zur Verfügung steht. Im Zuge des sozio-ökonomischen Fortschritts hat sich die Stellung von Kindern auf dieser Wertedimension umfassend gewandelt, was vielfach von prominenter Seite diskutiert wurde. Beispielsweise stellt Caldwell (1978: 553) auf Basis des Studiums traditionaler Familien in Nordafrika und Südasien eine Umkehr des net wealth flow beim Übergang vom vorindustriellen zum kapitalistischen Gesellschaftstyp fest. Nehmen die ökonomischen Ressourcen zu und
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fließen sie in zunehmendem Umfang von der älteren zur jüngeren Generation, d. h. verursachen Kinder in der Bilanz mehr ökonomische Kosten als Nutzen, kommt es zu ihrer Reduktion. Kagitcibasi (1985: 156f.) benennt konkrete Ursachen des abnehmenden Komfortwertes von Kindern: Schulpflicht, Verbot der Kinderarbeit, städtische Lebensumstände und die Entstehung außerfamiliärer, institutioneller Unterstützungssysteme. Auch Leibenstein (1974) führt vielfältige Umstände an, die den Versicherungs- und Investitionsnutzen – um in seiner Terminologie zu sprechen – untergraben: „1) the rise in the education of women and the consequent change in their role structure; 2) the increase of female participation in the non-agricultural labor force and the consequent reduction of the importance of children (…) 4) a decline in traditional religious beliefs which supported high fertility norms; 5) urbanization with its secularizing influences (…) 6) the increase in compulsory education and the decrease in the use and value of child labor; 7) increases in the rights of women and changes in their roles outside the home; (…) 10) the development of old age and other security systems outside the family” (ebd.: 459).
Neben den sinkenden Opportunitäten für die Realisierung des Komfortnutzens durch Kinder sowie der rückläufigen Nachfrage angesichts zunehmender Alternativen der Komfortproduktion, sind hiermit teilweise die Komfortkosten von Kindern angesprochen: Im Allgemeinen erfordern Kinder ein Mindestmaß an monetärem Einsatz sowie zeitlicher Aufwendung, was je nach Kontext variiert. Den Eltern entstehen zumindest direkte Kosten für die Grundversorgung ihrer Kinder; indirekte Kosten durch kindbedingte zeitweise oder vollständige Aufgabe der Erwerbstätigkeit eines Elternteiles können mehr oder weniger umfangreich hinzukommen, je nach Einkommenspotential der reduzierten Erwerbstätigkeit. Unabhängig hiervon verursachen Kinder Arbeit und Mehraufwand, was v. a. auch in körperlicher Hinsicht nicht zu vernachlässigen ist. Insbesondere gesundheitliche Belastungen der Frau im Zuge der Schwangerschaft und Geburt können bei Mangel an medizinischer Betreuung und Hygiene entscheidungsrelevant werden. Status als „soziale Wertschätzung, die eine Person relativ zu anderen positiv auszeichnet“ (Lindenberg 1984: 175), ergibt sich aus dem Besitz knapper Güter. Förderlich hierbei sind v. a. Macht, Geld, Lebensstil, ausgezeichnete Leistungen, Bildung oder in besonders effektiver Weise die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse. Das Besondere am Status ist, dass er ein Positionsgut darstellt: „It is by definition not possible that everybody gets a high status, since status is based on the relative difference between people“ (Lindenberg 1991: 36f.). Nun sind Kinder keineswegs beschränkt verfügbar. Dennoch können sie unter der Bedingung, ein hoch bewertetes Gut zu sein, direkt zum elterlichen
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Status beitragen. Das ist insbesondere in deszendent-organisierten Gesellschaften der Fall: Die Fortführung der Verwandtschaftslinie durch Nachkommen – in patrilinearen Gesellschaften insbesondere durch die Geburt von Söhnen – und ihr späterer Beitrag zum Komfort der Eltern, begründen ihre hohe Wertigkeit. Das wird nicht zuletzt auch an der hierarchischen Familienstruktur deutlich, die den Status jedes Familienmitgliedes festlegt. Die Position im Familienzyklus ist hierbei ein relevantes Kriterium: So erhöht die Geburt eines (männlichen) Nachkommen unmittelbar den Status der Eltern, indem dadurch Ansehen und Einflussnahme innerhalb der Familie und Verwandtschaft steigen. In patrilinearen Kontexten betrifft das Frauen stärker als Männer. Die spätere Heirat ihrer Söhne resultiert für sie in einem erneuten Statuszuwachs, als die Schwiegertöchter mit einer ihr untergeordneten Position in den Haushalt aufgenommen werden. Abschließend ist zu ergänzen, dass Statuskosten in Verbindung mit dem Produktionsfaktor Kind ausgeschlossen werden. Verhaltensbestätigung ist stärker als Status an die Existenz sozialer Beziehungen gebunden. Nach Lindenberg hängt sie davon ab, ob „Individuen deutliche Verhaltenserwartungen haben, dass sie paarweise ihre Erwartungen kennen und dass diese Erwartungen relativ konsistent sind“ (1984: 177f.). Kommt man den Erwartungen nach, erfährt man eine Bestätigung seines Verhaltens: „Behavioral confirmation is the feeling one has ‚done right’ in the eyes of relevant others” (Ormel et al. 1999: 68). Handelt man konträr zu bestehenden normativen Vorgaben, so resultiert daraus eine negative Sanktionierung. Kinder können zunächst einen Beitrag zur Verhaltensbestätigung leisten, indem sie hierfür notwendige signifikante Beziehungen schaffen, denn durch sie ergeben sich Gelegenheitsstrukturen, Kontakte speziell zu anderen Eltern zu schließen. Darüber hinaus werden typischerweise die Beziehungen zu Eltern und Verwandten reaktiviert und/ oder intensiviert. Da die Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen aber auch Investitionen v. a. zeitlicher Ressourcen verlangt, erhöht sich gleichzeitig das Risiko bestehende Beziehungen auf Grund mangelnder Zeit für deren Pflege zu verlieren: Oft handelt es sich hierbei um Freunde, Bekannte und bei Aufgabe der Erwerbstätigkeit, um Kollegen. Als Konsequenz dieser personalen Umstrukturierung des sozialen Umfeldes, die v. a. mit der Erstgeburt zu erwarten ist, verändert sich das Potential für Verhaltensbestätigung: Es sind v. a. enge soziale Netzwerke und Beziehungen mit hoher Interaktionshäufigkeit, die wirksame Kontroll- und Sanktionierungsinstanzen darstellen und somit besonders für die Realisierung von Verhaltensbestätigung geeignet sind. Schwache Sozialbeziehungen mit geringen Abhängigkeiten sind weniger zweckdienlich. Darüber hinaus hängt die Instrumentalität von Kindern vom Bestehen geteilter generativer Normen und Einstellungen ab. Schlussfolgernd ist dem Familienund Verwandtschaftsnetzwerk ein sehr viel stärkeres Potential zur Verhaltens-
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bestätigung zu unterstellen, als freiwillig gewählten, außerfamilialen Beziehungen. Erneut wird eine deszendent-organisierte Verwandtschaftsstruktur als förderlich für die Produktion kindbezogener Verhaltensbestätigung eingestuft, da sie alle relevanten Vorbedingungen erfüllt. Eine außerordentlich unmittelbare Form von Verhaltensbestätigung ergibt sich aus der sozialen Beziehung zum Kind selbst, indem es mit zunehmendem Alter an Potential gewinnt, als relevanter Interaktionspartner seiner Eltern aufzutreten. Damit sollte eine grundsätzlich größere Spannbreite an Möglichkeiten der Verhaltensbestätigung einhergehen, die nun weniger auf das generative Verhalten beschränkt bleiben. Vielmehr können vielfältige Verhaltensweisen in unterschiedlichen Lebensbereichen Grundlage der Bestätigung durch die eigenen Kinder sein. Durch Kinder verursachte Kosten auf dieser Wertedimension sind neben der indirekten Form des Verlustes sanktionsfähiger Beziehungen in direkter Wiese durch explizit negative Verhaltensbestätigung anzunehmen: Jeweils in Abhängigkeit von den vorherrschenden Erwartungen können einerseits ausbleibende Geburtentätigkeit, andererseits unerwünscht hohe Kinderzahlen negative Reaktionen des sozialen Umfeldes nach sich ziehen. Sofern Kinder einen wesentlichen Beitrag für den elterlichen Status leisten, steigt auch ihre Bedeutung für die Verhaltensbestätigung. Derselbe Effekte, wenngleich nicht so stark, ist für die umgekehrte Richtung plausibel, weshalb sich eine grundsätzlich positive Verknüpfung beider Zwischenziele abzeichnet: Ihre Konfundierung wird durch die empirischen Resultate unter Verwendung der VOC-Primärdaten bestätigt (Kagitcibasi 1982a, 1982b; Kagitcibasi & Esmer 1980, Kohlmann 2000), wonach ein sozial-normativer Wert von Kindern herausgearbeitet wurde, der beide Aspekte vereint. Daher werden beide Werteaspekte von Kindern zusammengefasst und im Weiteren mit der Bezeichnung soziale Wertschätzung verwendet. Darüber hinaus wird angenommen, dass soziale Wertschätzung, insbesondere der Statusaspekt, positiv an den Komfortbeitrag von Kindern gekoppelt ist, weshalb eine weitere Zusammenfassung dieser beiden Instrumentalitätsdimensionen im Hinblick auf den Produktionsfaktor Kind erfolgt. Die unterstellte Annahme hierbei lautet: Vor allem wenn Kinder einen positiven Beitrag zur Produktion von elterlichem Komfort leisten, gewinnen sie auch in sozial-normativer Hinsicht an Bedeutung. Ebenso werden im Folgenden Affekt und Stimulation zu einem zweiten großen Wertebereich von Kindern zusammengeführt.
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Affekt und Stimulation Die Produktion von Affekt ist ebenso wie eine effektive Verhaltensbestätigung vom Bestehen einer kontinuierlichen Interaktion abhängig. Hinzu kommen gegenseitige Abhängigkeit und soziale Ähnlichkeit der Interaktionspartner (Lindenberg 1984: 177).39 „Affection includes love, friendship, and emotional support; it is provided in caring relationships (intimate, family, friendship)“ (Ormel et al. 1999: 68). Die Eltern-Kind-Beziehung kann als profitable Quelle der Affektproduktion eingestuft werden: Vor allem in frühen Familienphasen zeichnet sie sich durch eine regelmäßige und intensive Interaktion aus. Intergenerationale Beziehungen sind im Allgemeinen durch hohe Ähnlichkeit beider Parteien sowie durch einseitige oder gegenseitige Abhängigkeiten – die Richtung kann sich je nach Familienphase ändern – gekennzeichnet. Sie sind für die Affektproduktion prädestiniert, sowohl in positiver, aber auch in negativer Hinsicht. Die Beziehung zwischen Kind und Eltern ist hochgradig originär, ein Merkmal, das keine andere soziale Beziehung in dieser Form beanspruchen kann. Infolgedessen wird, abweichend von den anderen instrumentellen Zielen, von einer geringen Substituierbarkeit durch alternative Produktionsfaktoren ausgegangen. So stellt auch Huinink (2001: 151) heraus: „Primärbeziehungen in der Familie sind idealiter durch ein hohes Ausmaß an direkter persönlicher Kommunikation und authentischer Interaktion gekennzeichnet. (…) In ihnen können Personen die persönliche Affirmation erfahren (…) aber auch ihre fortwährende Rekonstruktion und Bestätigung über geeignete Akte der Selbstvergewisserung. In den prinzipiell unpersönlichen Beziehungen der zielgerichteten Strukturen können Menschen materiellen Wohlstand und soziale Anerkennung erreichen, aber genau dieses nicht finden“.
Zwei weitere theoretische Ansätze unterstützen die Annahme der exklusiven Affektproduktion innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung: Caldwell (1982: 338) verweist insbesondere mit Blick auf die Motive für Kinder in modernen Ländern mit geringer Fertilität, auf einen solchen Nutzen der sich durch Einzigartigkeit auszeichnet: „Having children is not economic, but that one’s own children provide a unique form of pleasure which is not substitutable and that they can afford that expenditure for such unique pleasure“. Damit in Zusammenhang steht die Unabhängigkeit dieses Wertes, wozu sich Leibenstein (1957) derart 39
In ganz ähnlicher Weise definiert Wippler (1990: 194f.) die für die Affektproduktion förderlichen Bedingungen als „mainly confined to small-scale social settings in which relatively stable primary relations prevail. Informal interactions on a continuous basis, the frequent occurence of mutually profitable exchange, and a high level of coorientation are conditions under which mutual caring is likely to develop“.
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äußert, dass die affektive Komponente als weitestgehend unabhängig von kontextuellen Variablen sowie von der individuellen Ressourcenausstattung angenommen werden kann. Diese Hinweise stärken die Vermutung, dass Kinder eine Form von Affekt bieten, die grundsätzlich nicht alternativ produziert werden kann. Zwar lässt sich auch in anderen Sozialbeziehungen Affekt realisieren, jedoch abweichender Qualität: So sind v. a. familiale Beziehungen, Paarbeziehungen oder auch Freundschaften als potentielle Quellen der Affektproduktion nicht zu vernachlässigen. Die Art des jeweiligen Affektes ist immer eine höchst spezifische. Das soll heißen, dass die Eltern-Kind-Beziehung zwar außerordentlich geeignet ist, eine höchst intime Form von Affekt, v. a. auch in langfristiger Perspektive zu erzeugen, es dennoch potentielle Substitute hierfür gibt. Schließlich ist die Möglichkeit einer negativen Affektproduktion in Betracht zu ziehen, denn wie jede Beziehung birgt auch die Eltern-Kind-Beziehung ein Konfliktpotential in sich, v. a. mit zunehmendem Alter der Kinder. Bereits frühzeitig kann die Betreuung und Erziehung von Kleinkindern erhebliche psychische Belastungen hervorrufen und als Folge der zeitlichen Einschränkungen durch Kinder, können Affektverluste in anderen engen Beziehungen befürchtet werden – mögliche Kosten also, die den Netto-Gewinn mindern. “Activities that produce arousal including mental and sensory stimulation, physical effort, and (competitive) sports” dienen der Produktion von Stimulation (Ormel et al. 1999: 67). Zweifelsohne verlangen Kinder bestimmten Alters körperlichen Einsatz ihrer Eltern, was bis zu einem gewissen Grad einträglich für die Stimulationsproduktion ist. Darüber hinaus können sie Quelle neuer Perspektiven und mentaler Weiterentwicklung sein; ihre Erziehung kann als eine Herausforderung im positiven Sinne begriffen werden. Bereits Hoffman & Hoffman (1973: 53) stoßen empirisch auf diese Funktion von Kindern: „People want change and new experiences, especially when life is reasonable secure but dull and routine. To anticipate having children is to anticipate introducing a major change in one’s life. (…) Observing them grow, develop, and change is a unique opportunity for the long-range and continuous of novelty and variety“.
In diesem Zusammenhang lässt sich auch der von Huinink (1995) diskutierte intergenerationale Dialognutzen einbinden, dessen Relevanz er insbesondere aus dem von ihm postulierten dritten Grundbedürfnis der persönlichen Fundierung ableitet. Seiner Argumentation zufolge ermöglicht die Eltern-Kind-Beziehung eine „doppelte Reflexion (…): im Verhalten des Kindes selbst, dessen Eigenarten sich die Eltern zum großen Teil selbst zuschreiben, und in dem sich entwickelnden Reaktionsverhalten des Kindes auf seine Eltern während der gemeinsamen Interaktion“ (ebd.: 140). Dieser Aspekt der intergenerationalen Beziehung wird an dieser Stelle aufgenommen, wenngleich er Huinink (1995) zufolge
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entsprechend einer Handlungslogik jenseits instrumenteller Interessen Wirksamkeit erlangt (ebd.: 92). Besondere Bedeutung kommt diesem Nutzen insofern zu, als er v. a. langfristig zum Tragen kommt: Insbesondere im Alter stellen die eigenen Kinder wichtige und nicht selten einzige Quelle von Kommunikation und Interaktion dar. Zu beachten ist, dass „prolonged levels of high stimulation become unpleasant (cost exceeds benefit)” (Ormel et al. 1999: 68). Auch Wippler (1990: 191) betont, dass ein mittleres Niveau an Stimulation am positivsten empfunden wird, weshalb hier kein abnehmender Grenznutzen vorliegt, als vielmehr eine Funktion, die nach Erreichen eines Optimums wieder beginnt zu sinken. Sehr viel stärker als derlei direkte Stimulationskosten sind jedoch indirekte Kosten in Betracht zu ziehen, die sich vornehmlich als Einschränkung individueller Freiheiten darstellen, indem Kinder von anderen nutzenstiftenden Aktivitäten abhalten: Insbesondere sind berufliche Verwirklichung, Freizeitaktivitäten, Reisen und gemeinsame Zeit mit Freunden oder anderen Interaktionspartnern als grundsätzlich alternative Produzenten von Stimulation zu berücksichtigen. Je nach Vereinbarkeit von Elternschaft mit alternativen Zeitverwendungsbereichen fällt der Umfang indirekter Stimulationskosten von Kindern aus. In Anlehnung an die von den Wohlstandstheoretikern formulierten Prognose der steigenden „Konkurrenz der Genüsse“ (Brentano 1909: 602) kann ein im Zuge der (individuellen) Wohlstandsmehrung wachsender Alternativenraum angenommen werden. Zwar ist auch hier – parallel zur Affektproduktion – davon auszugehen, dass Kinder einen ganz spezifischen Beitrag leisten: Die jeweilige Qualität von Affekt und Stimulation ist, im Gegensatz zur Produktion von Komfort und sozialer Wertschätzung, außerordentlich stark an den jeweiligen Produktionsfaktor, d. h. in diesem Fall an die konkrete Eltern-Kind-Beziehung gebunden, weshalb dieser einzigartig und in dieser Form tatsächlich nicht ersetzbar ist. Dennoch bestehen grundsätzlich auch hier alternative Quellen für die Produktion von Stimulation. Stimulation und Affekt sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass sie sich unmittelbar mit der Geburt des Kindes einlösen und dennoch lebenslang wirksam bleiben können. Der Bindungstheorie können theoretische Argumente entnommen werden, wonach beide Aspekte mit Blick auf die Eltern-KindBeziehung zusammenfallen (Ijzendoorn & Sagi 1999), worauf sich deren zukünftige Zusammenlegung gründet. Zwischenbilanz. Die Darlegungen verdeutlichen, dass das Produktionsgut Kind prinzipiell für jedes der fünf instrumentellen Zwischenziele betrachtet werden kann, sich allerdings die Überführung in eine Zweiteilung empfiehlt, d. h. eine Zusammenfassung zu zwei grundlegenden Dimensionen, auf denen sich Kinder nach Verrechnung jeweiliger Kosten und Nutzen positionieren lassen:
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Komfort & soziale Wertschätzung einerseits, Affekt & Stimulation andererseits. Die variable Position von Kindern auf beiden Dimensionen ergibt sich aus variierenden Handlungssituationen. Umfassende gesellschaftliche Umwälzungen können eine Veränderung der Konstellation der Aspekte von Kindern nach sich ziehen, sofern davon v. a. die Effizienz von Kinder berührt wird – sei es direkt, indem sich ihr Preis oder die Opportunitätenstruktur ihrer Nutzung verändert oder sei es indirekt, indem alternative Produktionsfaktoren zugänglich werden oder an Effizienz gewinnen, die den Beitrag von Kindern ersetzen können. Akteure reagieren hierauf mit einer rationalen Anpassung ihres generativen Verhaltens. Im Folgenden wird nun eine Spezifizierung des Handlungsmodells vorgenommen. 5.2.5 Vorhersage des generativen Verhaltens Eine an die SEU-Logik angelehnte Modellierung, die den subjektiv wahrgenommenen VOC der (potentiellen) Eltern mit dessen ebenfalls subjektiv wahrgenommener, handlungsspezifischer Realisierungswahrscheinlichkeit verknüpft, zeigt die relative Motivation an, mit der eine generative Handlungsalternative gegenüber einer anderen bevorzugt wird. Das Erklärungsinteresse ist jedoch nicht auf die generative Entscheidung beschränkt, sondern konzentriert sich auf das generative Verhalten, das wiederum in unterschiedlichen Aspekten seinen Ausdruck findet. Im Fokus der Arbeit stehen die realisierten Kinderzahlen (Paritäten), deren zeitliche Platzierung im Lebenslauf (timing) sowie die Abstände zwischen den einzelnen Geburten (spacing) als Handlungsfolgen des gezeigten Verhütungs- bzw. Zeugungsverhaltens. Das wiederum unterliegt neben der soeben angeführten (1) generativen Motivation (M), entsprechenden Gelegenheitsstrukturen und Restriktionen, die deren Realisierung ermöglichen oder sie behindern, weshalb ihnen Verhaltens- und damit auch Erklärungsrelevanz zukommt. Deshalb werden zwei weitere Komponenten eingeführt: die (2) wahrgenommene Verhaltenskontrolle über die bevorzugte Handlungsalternative (VK) sowie die (3) situativen Umstände (S), die temporär auf die Ausführung der generativen Handlung wirken können, jenseits einer indirekten Einflussnahme über den VOC. In Anlehnung an von Rosenstiel (1978: 95) wird das generative Verhalten (V) als eine Funktion dieser drei Komponenten verstanden: (8)
V= f (M, VK, S)
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Abweichend hiervon werden jedoch die Handlungskontrolle sowie die äußeren Ermöglichungsbedingungen explizit berücksichtigt und nicht als gegeben unterstellt. Zwar wird ihnen kein direkter Einfluss auf das Verhalten zugeschrieben, allerdings sollten sie sich intervenierend auf den Kausalzusammenhang zwischen generativer Motivation und generativem Verhalten auswirken. Die Handlungsmotivation Wichtigster Prädiktor der generativen Handlungsmotivation ist der VOC, dessen Verhaltensrelevanz allerdings an mehr oder weniger sichere Erwartungen bezüglich der Realisierung des gewünschten Beitrages von Kindern gebunden ist. Eine zentrale Größe, aus der sich Annahmen zur Eintrittswahrscheinlichkeit des VOC ableiten lassen, ist der Zeithorizont der erwarteten Handlungsfolgen. Bei Esser (1993: 228) findet sich eine grundlegende Betrachtung zur Anwendung von Erwartungen auf das Maximierungsprinzip: Demnach geht es „immer nur um den nächsten Schritt und um das Lösen von Problemen des jetzt drängenden Alltags“. In Anlehnung an Dieter Claessens ‚Das Konkrete und das Abstrakte’ hebt er hervor, „dass sich der Mensch eigentlich nur mit dem „Konkreten“ seines alltäglichen Nahbereichs wirklich identifizieren könne (…) aber auch diese sehr kurzsichtige Perspektive beim normalen Handeln ist ein evolutionäres Erbe: Menschliche wie andere Organismen sind von jeher (fast) nur der kurzfristigen und kurzsichtigen Maximierung ihrer eigenen fitness – bzw. den Regeln der kin selection und des eng umgrenzten „Nepotismus“ ihrer unmittelbaren Nachwelt – gefolgt (…) Und sie maximieren daher immer nur mit einem doch stark beschränkten Horizont der Folgen ihres Tuns“ (ebd.: 229).
Esser hat hier in erster Linie die kollektiven Folgen des menschlichen Handelns im Auge, wofür die langfristige Umweltzerstörung ein typisches Beispiel ist: So werden negative Spätfolgen der zunehmenden Abfallproduktion oder Nutzung der Atomenergie nicht in (angemessener) Form in aktuellen Gewinnkalkulationen berücksichtigt. Dass Handlungsfolgen, die erst in ferner Zukunft erwartet werden, zu Gunsten kurzfristiger Erwartungen nicht nur im Blickfeld der Kalkulation zurücktreten, sondern möglicherweise auch vollkommen vernachlässigt werden, wird auch in der Ökonomie unter der Bezeichnung der Diskontierung der Zukunft thematisiert. Akteure neigen dazu, in weiter Ferne liegende Handlungskonsequenzen abzuwerten. Der Kosten-Nutzen-Analyse unterliegt eine Zeitpräferenz, was angesichts höherer Ungewissheit und geringerer Durchschaubarkeit später Handlungsfolgen gut begründbar ist; im Grunde genommen
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erweist sich die Diskontierung der Zukunft als individuell rational. Schließlich formuliert auch Lindenberg (2002: 644), dass „human beings are prone to give more attention to short-term outcomes that to long-term outcomes“. Mit explizitem Bezug auf die sozialen Produktionsfunktionen meinen Ormel et al. (1999: 70) hierzu: „The distinction between activities that immediately satisfy a goal and those which increase potential for future production is important to conceptualize and to detect in empirical research”. Diese Idee wird in Form einer Zuschreibung unterschiedlicher Handlungsrelevanzen auf den Wert von Kindern übertragen. Es wird eine grundlegende Unterscheidung zwischen kurz- und langfristigen Konsequenzen der Geburt von Kindern getroffen, aus der sich abweichende Implikationen für deren subjektiv zugeschriebene Auftretenswahrscheinlichkeiten ergeben – je nach Zeithorizont des Wertes. Die konkrete Annahme hierzu lautet: Kurzfristig erwarteten Handlungsfolgen kommt bei der Fertilitätsentscheidung eine höhere Bedeutung zu, als langfristig erwarteten Konsequenzen, einerseits, weil deren Eintrittswahrscheinlichkeit mit höherer Zuverlässigkeit geschätzt werden kann. Andererseits wird vermutet, dass an Handlungsfolgen geknüpfte Erwartungen eine höhere Prävalenz aufweisen, sofern deren Erfüllung zeitnah nach der entsprechenden Handlung erwartet wird. Sie drängen sich stärker in den Vordergrund des vom Entscheidungsträger wahrgenommenen Satzes möglicher Handlungsfolgen. Auf diese Weise kommt kurzfristig erwarteten VOCs eine stärkere Handlungsrelevanz zu, als langfristigen VOCs. Eine solche Ausdifferenzierung ist nicht nur analytisch sinnvoll, sondern erscheint auch gerade mit Blick auf die Fertilitätsentscheidung äußerst plausibel. Ähnliche Ideen wurden bereits von Leibenstein (1957) vorgetragen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Annahme einer situativen Orientierung sind generative Entscheidungen als sequentielle Entscheidungen zu betrachten. Im Gegensatz zu der in der Haushaltsökonomie üblichen Annahme, wonach zu Beginn der Partnerschaft über die gesamte Fertilitätsbiographie entschieden wird, wird die Fertilitätsentscheidung hier insofern als dynamisch und flexibel verstanden, als die Entscheidungen der Betroffenen jeweils paritätenspezifisch erfolgen: In einer konkreten Entscheidungssituation steht jeweils die Geburt eines (weiteren) Kindes zur Disposition, maximal um die zeitliche Dimension erweitert. Hierfür lassen sich mehrere Gründe anführen: (i) Zunächst wird ermöglicht, dass die Bewertung der Handlungsfolgen (VOC) zwischen den einzelnen Paritäten variieren kann. Die generative Motivationsstruktur ändert sich typischerweise über die Kinder hinweg, da sich die VOC-Dimensionen unterschiedlich entwickeln; sie weisen unterschiedliche Grenzwerte auf. Beispielsweise ist der komfortbezogene Nutzenzuwachs durch das dritte Kind einer anderer als der, der für das erste Kind erwartet wird. Zudem verläuft die paritä-
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tenspezifische Funktion des Komfortaspektes anders als die des Affektwertes, was eine unterschiedliche Entwicklung der (Opportunitäten-) Kosten einschließt. (ii) Weiterhin findet auf diese Weise eine unter bestimmten Rahmenbedingungen bestehende Geschlechterpräferenz Eingang in die Verhaltensvorhersage: Das Geschlecht bereits geborener Kinder kann positiv oder negativ auf den Wert weiterer Kinder wirken und somit die Motivation einer zukünftigen Geburt erhöhen oder herabsetzen. (iii) Drittens können sich die VOCs bezüglich weiterer Kinder vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen mit bereits geborenen Kindern unerwartet verändern. Beispielhaft sei auf das empirisch gefundene Phänomen des Baby-Schocks verwiesen (Jürgens & Pohl 1975). Die paritätenbezogene Modellierung der Handlungsentscheidung ermöglicht die Rückkoppelung gemachter Erfahrungen auf den künftigen Entscheidungsprozess. (iiii) Schließlich ist angesichts der bounded rationality gerade mit Blick auf die ohnehin kognitiv hochgradig aufwendige generative Entscheidung, eine Auflösung der kompletten Fertilitätsbiographie in einzelne Entscheidungsakte aus entscheidungsökonomischer Sicht erwartbar. Die paritätenspezifische Fertilitätsentscheidung leitet sich aus der kombinierten Wirkung der einzelnen VOC-Aspekte ab. Der klassische VOC-Ansatz modelliert keine explizite Verknüpfung der einzelnen Kosten- und Nutzenaspekte (u. a. Herter-Eschweiler 1998: 211; Höpflinger 1997: 84). Ideal ist hier eine Präzisierung in Form einer Funktion, die neben der Verrechnung der einzelnen Werteaspekte, die Verbindung zur Fertilität in unmissverständlicher Form leistet. Eine SEU-Modellierung kann das leisten: Danach ergibt sich die Bewertung der jeweiligen Handlungsalternativen aus der Summe der SEUGewichte pro Handlungsfolge. Die SEU-Gewichte wiederum stellen eine multiplikative Verknüpfung des subjektiv antizipierten Netto-Nutzens und der subjektiv zugeschriebenen Eintrittswahrscheinlichkeit dar. Handlungsfolgen, deren Realisierbarkeit vom Akteur als unwahrscheinlich eingeschätzt wird, verlieren an Handlungsrelevanz. Unter Beachtung des Zeithorizonts der Handlungsfolgen bedeutet das ein grundsätzlich geringeres SEU-Gewicht langfristig erwarteter VOCs gegenüber kurzfristigen VOCs. Die Ermittlung des SEU-Terms einer generativen Handlungsalternative (A) ist in Gleichung (5.7) dargestellt: Die dimensionenspezifischen Nutzen- und Kostenterme werden zunächst mit ihrer jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit (p) verknüpft, bevor sie verrechnet werden. Abschließend erfolgt die Summierung der beiden kombinierten VOCKomponenten: Komfort & soziale Wertschätzung (KW) einerseits, Affekt & Stimulation (AS) andererseits. (9)
SEU(A)=((p·Nutz(AS)í(p·Kost(AS)) + ((p·Nutz(KW)í(p·Kost(KW))
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Zu einem konkreten Zeitpunkt werden immer nur zwei Handlungsoptionen gegenüber gestellt – die Geburt eines (weiteren) Kindes oder keine Geburt. Die Entscheidung wird hierbei solange gegen ein (weiteres) Kind ausfallen, solange das anti-natalistische SEU-Gewicht über dem pro-natalistischen Gewicht liegt – selbst wenn beide Gewichte einen negativen Wert aufweisen und damit auf das Entstehen von Kosten verweisen. In diesem Fall wird die Option gewählt, die die geringeren Kosten verursacht. Die Bedeutsamkeit der gewählten Handlungsalternative ergibt sich dann aus der absoluten Differenz zwischen den SEUGewichten beider Handlungsalternativen. Je höher dieser Wert ausfällt, desto höher ist die Motivation diese Handlungsalternative umzusetzen. Verhaltenskontrolle und situative Umstände Zwar ist ein bestimmtes Handeln stets auf eine entsprechende Motivation angewiesen, umgekehrt führt die Motivation zu einem bestimmten Handeln nicht zwangsläufig zu dessen erfolgreicher Ausführung. Die unmittelbare Beziehung zwischen Motivation und Handlung(skonsequenz) kann durch Faktoren gestört werden, die im Erklärungsmodell zu berücksichtigen sind. Zunächst und unter Berufung auf das Modell des geplanten Verhaltens (Ajzen 1991), das zwei Arten von Restriktionen der Handlungsausführung berücksichtigt, wird an dieser Stelle der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle besondere Aufmerksamkeit geschenkt.40 Insbesondere der vorliegende Anwendungsbereich macht diese Erweiterung nicht nur plausibel, sondern auch außerordentlich notwendig (vgl. auch Huinink 2001: 159). Der Wert, der Kindern zugeschrieben wird, impliziert ein erwünschtes Handlungsergebnis, dessen Realisierung eines darauf ausgerichteten, generativen Verhaltens bedarf. Dieses Verhalten allerdings, kann nicht immer gezeigt werden. Anders als im Modell des geplanten Verhaltens, kommt hier die Verhaltenskontrolle nicht vermittelt über die Verhaltensmotivation zum Tragen, sondern sie wirkt sich auf die Verknüpfung zwischen Motivation und Verhalten aus. Folgende Kontrollvariablen rücken ins Blickfeld: (1) Zunächst einmal zeichnet sich ein medizinischer Ursachenkomplex ab, weshalb in diesem Zusammenhang auch von so genannten proximalen Faktoren gesprochen wird: Diese beziehen sich vornehmlich auf die Empfängnis- bzw. Zeugungsfähigkeit der Partner, aber auch auf den Verlauf der 40
Die von Ajzen ebenfalls thematisierten normativen Erwartungen fließen direkt in das VOCKonstrukt ein – sowohl in positiver als auch negativer Ausprägung in Form der Realisierung von Verhaltensbestätigung bzw. Vermeidung negativer Sanktionierung durch das soziale Umfeld. Damit unterliegen auch sie in Verbindung mit dem generativen Verhalten dem Kalkül der Nutzenmaximierung.
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Schwangerschaft und Geburt, in Verbindung mit der medizinischen Versorgung. Gesundheit und Alter können in diesem Rahmen ebenso thematisiert werden wie ungewollte Kinderlosigkeit in Folge fortwährenden Aufschubs der Geburt des ersten Kindes. (2) Weiterhin stellt die Kenntnis und Verfügbarkeit von Verhütungsmethoden eine höchst relevante Kontrollvariable dar. Auch wenn Nauck (2006) unter Berufung auf vergleichende Forschungsbefunde betont (Harris 1989: 121), dass Methoden der Geburtenregulation zu jeder Zeit und in jeder bekannten Kultur existieren und angewendet werden, so sind Unterschiede in deren Effektivität nicht unbedeutend, wenn es um die Distanz zwischen realisierter und gewünschter Kinderzahl geht. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Zugänglichkeit mit mehr oder weniger hohen Kosten verknüpft sein kann. Die Motivation für eine bestimmte generative Handlung wird also mit dem Ziel der Verbesserung ihrer Vorhersagekraft um die Verhaltenskontrolle ergänzt. Die grundlegende Annahme hierbei lautet: Je höher die Verhaltenskontrolle ist, desto wahrscheinlicher ist die erfolgreiche Realisierung der gewünschten Handlung. Unterliegt der Akteur sogar einer Unfähigkeit zur Handlungsausführung wie z. B. im Fall der Unfruchtbarkeit, wirkt das wie ein Veto. Weniger restriktiv hingegen sind mangelhafte oder auch fehlende Verhütungsmethoden, da daraus nicht zwangsläufig eine ungewollte Schwangerschaft folgt. Ebenfalls weniger zwingend stellt sich die Handlungsrelevanz situativer Umstände dar. Hierunter werden unvorhergesehene kritische Ereignisse oder Zustände im Lebenslauf verstanden ebenso wie das nachteilige Verhalten anderer Personen, von denen die eigene Zielrealisierung abhängig ist (vgl. auch Ajzen & Fishbein 1980: 48). Die Wirkung dieser Faktoren ist weniger grundsätzlicher Art, sondern vielmehr zeitlich begrenzt. Das bedeutet, ihr Einfluss auf das generative Verhalten zeigt sich v. a. in der zeitlichen Einbettung der Geburtentätigkeit (timing) und kaum in der generellen Realisierung bzw. Vermeidung. Hierbei ist (i) an historische Ereignisse wie Krieg oder politische Unruhen, Rezession, Naturkatastrophen oder Seuchen zu denken oder (ii) an individuelle Angelegenheiten wie der Tod einer nahe stehenden Person, die Bewältigung einer Krankheit, plötzliche Arbeitslosigkeit oder ungünstige Wohnverhältnisse. Schließlich ist (iii) zu berücksichtigen, dass gerade das generative Verhalten kein individueller Handlungsakt ist, vielmehr setzt es ein aufeinander bezogenes Verhalten von zwei gegengeschlechtlichen Akteuren voraus. Besteht keine entsprechende Partnerschaft, mangelt es generell an potentiellen Partnern oder an der Qualität oder Stabilität einer bestehenden Partnerschaft oder gehen die VOC zweier Partner nicht konform,41 ist eine (zumindest temporäre) Störung der 41
Wie bereits an anderer Stelle angesprochen, werden Aushandlungsprozesse zwischen den Partnern nicht explizit im vorliegenden Erklärungsmodell berücksichtigt. Der Schwerpunkt liegt vielmehr auf dem individuellen Wert von Kindern. Es wird jedoch deutlich, dass an dieser Stelle des Modells
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postulierten Beziehung zwischen generativer Motivation und Verhalten zu erwarten. Dieser Komplex an Variablen ist im Rahmen der VOC-Forschung keineswegs eine grundsätzlich neue Idee, wenn man sich die Bedeutung der Komponenten Anreize und Barrieren bewusst macht, die im klassischen VOCModell enthalten sind (Hoffman & Hoffman 1973: 63). Entsprechend wird auch deutlich, dass nicht nur Umstände modellierbar sind, die die Realisierung des gewünschten Verhaltens erschweren, sondern auch solche, die einträglich sind: Gestalten sich die Rahmenbedingungen für die Ausführung einer bevorzugten Handlungsoption als förderlich, so erhöht sich die deren Auftretenswahrscheinlichkeit; sind sie hinderlich, so sinkt sie – ohne jedoch notwendigerweise die Unmöglichkeit ihrer Durchführung zu bedeuten, vielmehr ist mit einem Aufschub der gewünschten Geburt zu rechnen. 5.2.6 Das Grundmodell generativen Verhaltens Damit sind alle Elemente des VOC-Grundmodells sowie deren Verknüpfungen vorgestellt. Es folgt eine bilanzierende Betrachtung, die mit einer Gegenüberstellung von VOC und alternativen Konzepten beginnt, ohne dass hier Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. Tabelle 9 illustriert zunächst die Parallelen zwischen dem potentiellen Beitrag von Kindern im Gefüge der TSPF und den in der klassischen VOC-Studie herausgearbeiteten Dimensionen des Wertes von Kindern. Nicht zuletzt hierin bestand die Absicht der Neukonzeptualisierung: die empirischen Befunde aus den 1970ern nachträglich theoretisch zu bestätigen. Ferner wird die Konsensfähigkeit zu anderen theoretischen Ansätzen demonstriert: Evident sind v. a. Ähnlichkeiten zu den ökonomischen Erklärungen. Leibenstein thematisiert (in-) direkte materielle Kosten von Kindern und unterscheidet zwischen Konsumnutzen einerseits und Investitions- und Versicherungsnutzen andererseits (1957: 161) und auch Becker behauptet: „For most parents, children are a source of psychic income or satisfaction, and, in the economist’s terminology, children would be considered a consumption good. Children may sometimes provide money income and are then a production good as well“ (1976: 172).42
partnerschaftliche Differenzen hinsichtlich des VOC in Form negativer situativer Umstände berücksichtigt werden können. 42 Letztere Funktion verfolgt Becker allerdings nicht weiter, ein Grund, weshalb sein Ansatz im Gegensatz zu Leibensteins Konzeption auf moderne Gesellschaften beschränkt bleibt.
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120 Tabelle 9: Korrespondenz theoretischer Ansatze TSPF
Empirische VOCDimensionen
Nutzen von Kindern bzw. pro-natalistische Komfort Stimulation Affekt Status Verhaltensbestatigung
Okonomisch Emotional Sozial-normativ
Kosten von Kindern bzw. anti-natalistische
Okonomische Theorie
Motivationansatz
Aspekte Kinder als Produzenten Kinder als Konsumgiiter
Instmmentell Intrinsisch Soziale Norm
Aspekte
Okonomisch (In-) Direkte Kosten Komfort Stimulation Emotional Affekt Status Negative Sozial-normativ Verhaltensbestatigung Anmerkung: in Anlehnung an und als Erweiterung von Nauck & Kohlmann 1999.
Die Okonomie unterschied also bereits vor Hoffman & Hoffman (1973) zwei gmndlegende Nutzenaspekte von Kindern: Sie sind einerseits Produzenten von Marktgiitem und stellen andererseits selbst Konsumgiiter dar, aus denen direkt Nutzen gezogen werden kann (Nauck 2001: 415)."^^ Weiterhin Wwdi deutlich, dass auch das motivationstheoretische Modell (von Rosenstiel 1978: 100) die VOC-Aspekte enthalt, wenngleich sie dort mit unterschiedlichen Handlungslogiken verbunden sind und die Moglichkeit ihrer negativen Auspragung vemachlassigt v\Aird. SchlieBlich und nicht zuletzt um den integrativen Charakter des VOC-Modells zu unterstreichen sei auf austauschtheoretische Ansatze verwiesen, die ebenfalls den Wert von Kindern herausarbeiten, ihn allerdings vor dem Hintergrund ihrer theoretischen Pramissen als Belohnung bezeichnen:
^^ Diese Unterscheidung zwischen Kindern als Konsum- und Produktionsgiiter bzw. zwischen intrinsischer und extrinsischer Bedeutung (neben okonomischer Theorie z. B. auch bei Huinink 1995, 2001; von Rosenstiel 1978: 100) wird hier insofem aufgehoben, als Kinder vor dem Hintergrund der TSPF nunmehr ausschlieBlich als Giiter mit instrumentellem Charakter verstanden werden, die fur die Produktion iibergeordneter Ziele relevant sind. Damit kommt auch der emotionalen Dimension der Eltem-Kind-Beziehung ein instrumenteller Charakter zu, da sie der Produktion von Affekt dient.
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„Where among human beings can a parent get as much positive response – affection and respect – as from a young child? Stimulation, new experiences, and satisfaction of the physical needs of the child result in direct and predictable positive responses from the child” (Nye 1979: 11).
Bemerkenswert ist, in welcher umfassenden Weise dieses Zitat die zentralen VOC-Komponenten einschließt, auch die von den mikroökonomischen Ansätzen durchweg ignorierte sozial-normative Komponente des Handelns. Die Integration unterschiedlicher Elemente drückt sich schließlich in der Mehrdimensionalität des Wertes von Kindern aus, worin ein zentraler Vorteil der VOC-Konzeption besteht:44 Die einzelnen Wertdimensionen können sich über die Zeit hinweg unterschiedlich entwickeln, ebenso wie ihre Konstellation je nach Handlungssituation variieren kann. Ein besonderer Verdienst der Neukonzeptualisierung ist die bisher fehlende Endogenisierung der kindbezogenen Präferenzen bzw. der Werte von Kindern: Sie werden nicht länger extern eingeführt, sondern direkt im Gesamtmodell hergeleitet. Ausgangspunkt bilden die beiden universalen Grundbedürfnisse: Alle nachgeordneten Güter, Präferenzen, Aktivitäten und Ressourcen sind Mittel zum Zweck; sie stellen Zwischengüter in der Hierarchie der sozialen Produktionsfunktionen dar, deren Funktion darin besteht, jeweils übergeordnete Ziele zu realisieren. Der Wert von Kindern resultiert aus der Annahme, dass Kindern ein solches instrumentelles Zwischengut darstellen. Ihre jeweilige Effizienz – und damit die Anfangsparameter der Handlungsselektion – resultiert aus den spezifischen Rahmenbedingungen. Der Mehr-Ebenen-Bezug erlaubt hierbei die Berücksichtigung von Faktoren auf verschiedenen Ebenen (vgl. Grundmodell in Abb. 15): Neben der sozialen Einbettung des Akteurs ist dessen individuelle Ressourcenausstattung zentral für die Strukturierung der Handlungssituation, die sich in systematischer Weise mit dem Wert von Kindern bzw. ihrer Effizienz verknüpfen lässt. Die spezifische VOC-Konstellation, verbunden mit ihrer Realisierungswahrscheinlichkeit und unter Berücksichtigung der Verhaltenskontrolle sowie situativer Anreize und Barrieren mündet in handlungstheoretische Hypothesen zur Kinderzahl sowie dem Gebäralter, als die hier interessierenden Aspekte des generativen Verhaltens.
44 Zumindest Friedman et al. (1994) teilen diese Ansicht nicht. Vielmehr modellieren sie mit dem Motiv der Unsicherheitsreduktion eine einzige Nutzendimension: „The value of children derives from their capacity to reduce uncertainty for individual women and to enhance marital solidarity for couples” (ebd.: 384). Unabhängig von einer inhaltlichen Beurteilung dieser Nutzendimension (die sich möglicherweise unter einen der VOCs subsumieren ließe), geht mit dieser eindimensionalen Konzeption eine eingeschränkte Anwendbarkeit des Erklärungsmodells einher, die die Autoren von vornherein mit der ausschließlichen Betrachtung von modernen Gesellschaften einführen.
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Abbildung 15: Das Grundmodell der Erklärung Makroebene: Institutionelle Regelungen der Gesamtgesellschaft
Geburtenniveau
Mesoebene: Kleinräumliche Opportunitätenstruktur Verhaltenskontrolle Situative Umstände
Relationale Ebene: Netzwerke
Mikroebene: Individuelle Ressourcen
VOC x p
Individuelles Fertilitätsverhalten
Letztendlich werden historisch und regional variierende Geburtenzahlen auf Effizienzunterschiede von Kindern zurückgeführt. Damit ist das theoretische Modell in seinen Grundzügen umrissen. Bei genauerer Betrachtung der Rationalitätsprämisse und ihrer Anwendung auf das generative Entscheiden wird allerdings deutlich, wie komplex sich dieser Prozess gestaltet. Ohne das Grundprinzip der vorliegenden Modellierung, d. h. den zielbewussten Akteur zurückweisen zu wollen, muss zumindest die Frage gestellt werden, ob das immer zu leisten möglich oder sinnvoll ist. 5.3 Die Rationalität der Routine Der im Grundmodell behauptete Mechanismus, wonach Akteure, stets mit Blick auf die optimale Produktion der (instrumentellen) (End-) Ziele, eine aktive Kosten-Nutzen Abwägung vornehmen, stellt sich als außerordentlich aufwendig und kostspielig dar. Der Handlungsausführung geht ein Kalkulationsprozess voraus, der einen umfangreichen Einsatz von Ressourcen verlangt, einerseits für die Beschaffung notwendiger Informationen und andererseits für deren Auswertung. Konkret sind damit vornehmlich zeitliche Ressourcen sowie kognitive Kompetenzen gemeint. Beide Ressourcen sind nicht nur in ihrer Verfügbarkeit begrenzt, ihr Einsatz verursacht zudem Kosten, die dem letztendlichen Handlungsgewinn in Rechnung gestellt werden müssen. Daraus folgend ist der im
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Grundmodell beschriebene Prozess der Entscheidungsfindung nicht immer möglich oder effizient, was zunächst näher zu erläutern ist: Bounded Rationality Menschen sind mit beschränkten Informationsverarbeitungs- und Entscheidungskapazitäten ausgestattet. Simon (1997: 291) hat diese Tatsache unter der Bezeichnung bounded rationality in die Entscheidungstheorie eingebracht: „The term ‚bounded rationality’ is used to designate rational choice that takes into account the cognitive limitations of the decision maker – limitations of both knowledge and computational capacity“. Der theoretisch unterstellten Rationalität des Menschen sind in der Realität Grenzen gesetzt, was sich an zwei Stellen des bisherigen Entscheidungsmodells niederschlägt: (1) Zunächst ist hiervon die Orientierung des Akteurs in einer gegebenen Situation betroffen: Außer Zweifel stehen soll, dass jeder Mensch sein individuelles Wohlbefinden optimieren will. Auch die beiden nachfolgenden Ebenen des Modells sind feststehend, d. h. über die beiden Grundbedürfnisse sowie die fünf Zwischenziele muss nicht entschieden werden, da sie ebenfalls als universal angenommen werden. Entsprechend dieser Modellierung wird jedoch in einer konkreten Handlungssituation nicht nur die optimale Realisierung aller fünf Zwischenziele verfolgt, zudem wird hierfür die Effizienz aller denkbaren kontextspezifischen Produktionsgüter abgewogen und verrechnet. Es wird die Zusammenstellung eines optimalen Bündels von Produktionsfaktoren behauptet (Matiaske 1999: 122). Die kognitiven Kapazitäten dürften demnach schnell ausgeschöpft sein: Es kann in einer bestimmten Situation nicht um alles gehen. Wahrscheinlicher ist es, dass in einer Situation entweder die maximale Befriedigung eines Zwischenzieles im Vordergrund steht, wofür nach einem (Bündel von) effizienten Produktionsfaktoren gesucht wird oder es ist über die Wahl eines Produktionsfaktors bzw. einer Handlungsalternative zu entscheiden, indem deren Effizienz für die Zwischenziele kalkuliert wird. Zwei Beispiele sollen diese Unterscheidung veranschaulichen: (i) Ein knurrender Magen wird dazu veranlassen, nach Möglichkeiten zu suchen, diesen Zustand zu beseitigen, d. h. in einer solchen Situation wird die Bereitstellung von geeigneten Produktionsfaktoren im Mittelpunkt stehen, die den Komfort wieder herstellen. Der Schwerpunkt dieser Entscheidung liegt demnach auf den Mitteln der Zielrealisierung bzw. der Beseitigung eines Mangelzustandes. (ii) Nach einer wiederholten Autopanne wird möglicherweise eine Entscheidung für oder gegen den Verkauf des Autos vordergründig sein und maßgeblich hierbei sind die daraus resultierenden Vor- und Nachteile für die fünf Zwischenziele. Der Fokus dieser Ent-
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scheidung liegt nunmehr auf der optimalen Realisierung aller Ziele als Folge der (Nicht-) Wahl eines konkreten Produktionsfaktors bzw. der Handlung. Es wird deutlich, dass bereits vor der eigentlichen Entscheidung eine Festlegung darauf von Nöten ist, worum es eigentlich aktuell gehen soll, worauf die Aufmerksamkeit zu richten ist. Die Parallelen zur Framing-Forschung sind erkennbar: Es bedarf einer Rahmung der Situation. „In the psychological sense, ‘frame’ is used to refer to a way in which the experience of situation is organized, to the ‘definition of the situation’ ” (Lindenberg 1993: 11). Die Definition der Situation erfolgt demnach nicht mehr vollständig offen und uneingeschränkt, sondern durch einen Rahmen betrachtet, der bestimmte Situationselemente in den Mittelpunkt rückt, andere ausblendet. Ein solcher Rahmen wird durch ein mehr oder weniger vordringliches Ziel gebildet, mit Blick auf dessen Realisierung relevante Situationselemente selektiert werden. Bei genauerer Betrachtung der Abbildung 14 (grau unterlegter Ausschnitt) sowie der darauf folgenden Darlegungen zum generativen Entscheidungsprozess wird erkennbar, dass implizit eine Rahmung dergestalt unterstellt wird, als eine Entscheidung für oder gegen ein (weiteres) Kind ansteht, unter Verrechnung der negativen und positiven Konsequenzen für die fünf Zwischenziele. Es handelt sich hiermit um eine notwendige Vorstrukturierung der Situation, mit dem Ziel den kognitiven Aufwand zu reduzieren. (2) Der zweite Punkt bezieht sich nun auf den Entscheidungsprozess. Gerade die generative Entscheidung verlangt in besonders umfangreichem Maß kognitive Kompetenzen. Sie ist durch eine außerordentliche Tragweite des daran geknüpften Verhaltens gekennzeichnet. Das bezieht sich zum einen auf die Fülle an Konsequenzen dieser Entscheidung, d. h. deren Folgen für (zukünftige) Entscheidungssituationen in vielfältigen Lebensbereichen. Zum anderen bleiben die Folgen langfristig wirksam, denn die Geburt eines Kindes bedeutet die Begründung einer grundsätzlich lebenslangen Beziehung, die nicht ohne weiteres revidiert oder gekündigt werden kann. Es wird die Brisanz dieser Entscheidung erkennbar, die obendrein durch die hohe Unsicherheit bezüglich (des Eintretens) der erwarteten Konsequenzen verschärft wird. Um dennoch das Vertrauen in die zu treffende Entscheidung zu erhöhen ist es zweckmäßig, vorab soviel wie möglich entscheidungsrelevante Informationen zu sammeln. Das hat einerseits zur Folge, dass deren Verarbeitung und Auswertung die Komplexität des kognitiven Vorgangs erhöht. Auf der anderen Seite stehen die gewünschten Informationen typischerweise nicht kostenlos zur Verfügung, womit ein zweiter entscheidungsrelevanter Aspekt hinzukommt:
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Hohe Informationskosten Informationen müssen unter Ressourceneinsatz zunächst beschafft werden, was zumindest die Aufwendung von Zeit bedeutet. Damit entstehen Kosten, die umso höher sind, je mehr Informationen der anstehende Entscheidungsprozess verlangt. Wie soeben herausgestellt, trifft das in besonderer Weise für die generative Entscheidung zu. Aus entscheidungsökonomischer Perspektive betrachtet, müssen diese Kosten zumindest bei der Gewinnkalkulation in Rechnung gestellt werden, womit die Frage aufgeworfen wird: Rechtfertigt der erwartete (Mehr-) Gewinn die unvermeidlichen Kosten in jedem Fall? Das Kriterium der Rationalität wird auf sich selbst angewandt: Stellt das rationale Entscheidungsmodell stets die beste Strategie dar, um zu einer Handlung zu gelangen? Die Antwort hierauf wurde bereits implizit gegeben: Sie lohnt sich nur dann, wenn der damit erreichte Gewinn den Nutzen einer auf kostengünstigerem Weg ermittelten Handlungsoption übersteigt. Das aber setzt voraus, dass es ein alternatives Verfahren gibt, das eine unter Umständen günstigere Kosten-Nutzen Bilanz bietet. Die kulturelle Handlungsroutine Die Modellierung einer zur bewussten Kalkulation alternativen Handlungsstrategie soll nicht den Grundsatz der Handlungsrationalität des Akteurs in Frage stellen.45 Zur Begründung wird auf eine differenzierte Betrachtung der Rationalität nach Simon zurückgegriffen, die Schimank (2002: 93) folgendermaßen umreißt: “Man muss (…) zwei Bedeutungsinhalte von Rationalität auseinander halten, die Herbert Simon als “substantive” und “procedural rationality” benennt. (…) Das Ergebnis einer Handlung kann rational bezüglich des angestrebten Ziels, ihr sich herausstellender Nutzen im Sinne von Effektivität und Effizienz groß sein; und der Vorgang der Handlungswahl kann rational im Sinne von gut informiert und kalkulierend sein. Beides muss keineswegs zusammengehen“ (Hervorhebungen nicht im Original).
Die ‚substantive rationality’ wird als Zielrationalität verstanden und im Folgenden als gültiges Grundprinzip individuellen Handelns angenommen. An ihr ist das Handeln stets ausgerichtet, wenngleich der Weg, der den Akteur zu einer bestimmten Handlungsalternative führt, nicht notwendigerweise rational im 45
Grundsätzliche Zweifel an der Anwendung des Rationalitätsprinzips auf familiale und insbesondere generative Entscheidungen äußert beispielsweise Burkhart (1994).
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Sinne der Verfahrensrationalität sein muss. Wie kann aber eine alternative Strategie aussehen? Damit sie in das rationale Handlungsmodell im Sinne der Zielrationalität integriert werden kann, gleichzeitig aber unter Berücksichtigung der beiden diskutierten Einwände gegenüber dem Kalkulationsprozess tatsächlich eine Alternative darstellt, sollte sie den folgenden Anforderungen genügen: Sie muss kognitiv sparsam und zudem kostengünstig sein, gleichzeitig ein Mindestmaß an Vertrauen hinsichtlich der Angemessenheit des daran geknüpften Handlungsvorschlages bieten. Vorgefertigte Handlungsmuster im Sinne von habits oder Routinen erweisen sich als geeignet. Insbesondere Routinen eröffnen die Möglichkeit einer unreflektierten Handlungsausführung, ohne dass das als Normenkonformität im Sinne der soziologischen Rollen- oder Wertekonformismustheorie verstanden werden muss. Im Gegenteil: Das menschliche Handeln folgt nach wie vor dem primären Motiv der individuellen Nutzenoptimierung. Die weiteren Ausführungen verfolgen das Ziel die grundsätzliche Rationalität der Routine zu begründen: Es soll gezeigt werden, warum unter bestimmten Umständen der Rückgriff auf eine bewährte, generative Handlungsroutine rational im Sinne der Zielrationalität ist. Das geht einher mit dem Versuch eben diese Umstände bzw. Bedingungen zu formulieren. Lassen sich in systematischer Weise Situationen definieren, in denen typischerweise eine Handlungsroutine zum Einsatz kommt und wann wird doch der Modus des rationalen Kalkulierens verfolgt? Hierfür wird auf Ideen der bereits angesprochenen Framing-Forschung zurückgegriffen, wenngleich sich Framing auf den Vorgang der Situationswahrnehmung bezieht. Was die Framing-Forschung für die vorliegende Problematik interessant macht ist ihr durch Berücksichtigung kognitiver Vorgänge geleiteter Versuch, systematische Abweichungen vom rationalen Kalkulieren in das Rational-Choice Programm zu integrieren. Esser formulierte einen solchen Ansatz (1996, 2001),46 der sich aus zwei Gründen für die folgende Modellerweiterung als fruchtbar erweist: Einerseits wird die Entscheidungs- und Nutzentheorie um die Möglichkeit automatischer Handlungsabläufe ergänzt: „Die wohl wichtigste Besonderheit [seiner Theorie] ist, dass [sie] berücksichtigt, dass Menschen nicht nur auferlegten Orientierungen folgen oder nur ‚rational’ handeln“ (Esser 1997: 88f., Hervorhebungen im Original). Ande46
Neben der Frame Selection Theory von Esser (1996, 2001) ist auf das Diskriminationsmodell (Lindenberg 1993) zu verweisen, welches ebenfalls die Rahmung der Situation als einen Wahlakt des Akteurs modelliert. Es greift Elemente von Kahneman & Tversky (1979) auf, die in dem unter der Bezeichnung Asian Disease Problem bekannt gewordenen Experiment die Existenz eines solches Rahmungseffekt empirisch feststellen: Gewinn- vs. Verlust-Frame. Notwendig gewordene Korrekturen an der klassischen SEU-Theorie setzen sie anschließend in ihrer Prospect-Theory um. Die Framing-Forschung entstand somit v. a. als Reaktion auf diverse Anomalien der rationalen Entscheidungstheorie: Zahlreiche experimentelle Arbeiten haben (systematische) Abweichungen von ihren Grundannahmen offen gelegt. Für einen Überblick hierzu sei auf Haug (1998) verwiesen.
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rerseits werden Bedingungen formuliert, die über den Handlungsmodus entscheiden. Im Folgenden werden deshalb relevante Ausschnitte aus seinem Ansatz vorgestellt, um sie anschließend aufzugreifen und für die eigene Modellierung zu übernehmen. 5.3.1 Moduswechsel: Automatisch oder kalkulierend Ausgangspunkt der Frame Selection Theory (Esser 1996, 2001) ist die Annahme, dass Akteure üblicherweise nicht strategisch vorgehen und kalkulieren, wie vom RC-Modell behauptet.47 Esser setzt ebenfalls an der Einsicht an, dass die Komplexität der Handlungssituation sowie der Entscheidungsprozesse oft das menschliche Fassungsvermögen übersteigt, woraus das Bestreben ihrer Vereinfachung resultiert. Hierzu führt er zwei Arten von mentalen Modellen ein, die zusammen, sofern sie beide aktiviert werden und unter der Bedingung, dass der Akteur keine Zweifel an ihrer Richtigkeit hegt, einen automatischen Ablauf von der Situationswahrnehmung bis hin zur Durchführung einer Handlung bedeuten. Es gibt einerseits die bereits benannten Frames, die Modelle zur Strukturierung der Situation darstellen, andererseits gibt es Skripte als vorgefertigte Handlungsabläufe. Das sind „mehr oder weniger – habitualisierte Muster des Verhaltens, die als komplette Sequenz singulärer Handlungen „in einem Zug“ abgespult werden“ (Esser 2001a: 113). Individuelle Erfahrungen oder „soziale Normen und v. a. die sozialen Rollen sind die wichtigsten institutionellen Grundlagen der Frames und der Skripte“ (Esser 2001: 262). Sie dienen beide dazu die Komplexität der ersten beiden Schritte im Grundmodell der soziologischen Erklärung zu reduzieren. Sofern zentrale Elemente der Situation zu einem im Gedächtnis des Akteurs abgelegten Frame passen, gewinnt der Akteur eine ganz bestimmte Orientierung in dieser Situation. Diese selektive Wahrnehmung und Einschätzung der Situation ist üblicherweise an ein Handlungsskript geknüpft, dass als typische Ablaufsequenz abgerufen und in entsprechendes Verhalten überführt werden kann. Im Falle eines zweifachen, vollständigen matching von zentralen Informationen und mentalen Modellen erfolgt der gesamte Prozess automatisch und spontan, ohne bewusstes Nachdenken und Abwägen von Handlungskonsequenzen. Genau das ist nach Esser der Normalfall (1996: 2, 2001: 273f.). Nur wenn wahrgenommene Objekte zu keinem verfügbaren Modell passen bzw. Zweifel an der Richtigkeit eines nahe liegenden Modells aufkommen, wird die unmittelbare Beziehung zwischen Situation und Handlung unterbrochen. Ein Suchpro47
Diese Vermutung entnimmt Esser (2001a) v. a. empirischen Befunden der Mannheimer Scheidungsstudie.
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zess wird in Gang gesetzt, in dem es zunächst darum geht, weitere Hinweise zur Situation bzw. zusätzliche Informationen zu gewinnen. Der Grad der Elaboriertheit der sich anschließenden Informationsverarbeitung liegt zwischen automatischem Prozessieren und kalkulierendem Abwägen. Zwei Regeln sind hierbei maßgeblich: „Je elaborierter ein Modus, um so ‚teurer’ ist er auch [und] je elaborierter die Informationsverarbeitung ist, um so ‚angemessener’ sollte sie auch sein“ (Esser 2001: 266). Hieraus geht hervor, dass ein rationaler Modus zwar die bessere Lösung verspricht, gleichzeitig aber mehr Kosten verursacht. Der Aufwand, mit dem eingehende Informationen verarbeitet werden, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Eine komplexe Heuristik der Informationsverarbeitung wird typischerweise nur veranlasst, wenn drei Bedingungen zusammentreffen, die Esser eng in Anlehnung an das Strategieselektionsmodell von Fazio (1990: 92) formuliert (Esser 1996: 16, 2001: 188): (1) Die Kosten einer falschen Modellwahl und damit die Motivation zum re-framing und zur Reflexion müssen hoch, (2) die Informationskosten gering und (3) die Opportunitäten für die Suche zusätzlicher Informationen gegeben sein. Das bedeutet, der Akteur wird umso aufwendiger nach neuen mentalen Modellen bzw. Lösungen suchen, je unangemessener ihm das zunächst verfügbare Modell erscheint und je einfacher und günstiger hierfür notwendige Informationen zu beschaffen sind. Diese zweifellos viel versprechende und plausible Erweiterung des klassischen RC-Modells ist aber möglicherweise in ihrer Argumentation nicht vollständig stringent: Fraglich ist nämlich, ob die Zielstellung der Integration von zwei unterschiedlichen Handlungsprämissen in einem Modell, unter der Maßgabe der Berücksichtigung der im Entscheidungsprozess begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen, tatsächlich optimal umgesetzt ist. Essers Modellierung unterscheidet sich von Fazios Ansatz v. a. darin, als er eine explizite Selektionsregel formuliert, mit der Wahrnehmungs- und Handlungsmodelle sowie Modi der Innformationsverarbeitung ausgewählt werden. Hierzu modelliert er einen hierarchischen Entscheidungsprozess an dessen Beginn eine SEU-Entscheidung zu stehen scheint. Damit scheint aber die beabsichtigte kognitive Erleichterung des Akteurs untergraben zu werden. Kappelhoff (2004: 80) bemerkt hierzu: Die SEU-Theorie dient Esser als „Metatheorie, die die Selektion kulturell geformter Modelle der Situation ebenso bestimmt wie den Modus, mit dem die Akteure die Situation betrachten [Das allerdings scheint in eine] Hyperrationalität der rationalen Wahl des Rahmens“ umzuschlagen. Es entsteht der Verdacht, dass sich die Problemlösung für den Akteur nun sogar noch komplexer darstellt als vorher. Allerdings ist dieser Aspekt bei Esser auch nicht eindeutig als seine Ausführungen ebenfalls vermuten lassen, dass bei vollständigem match zwischen Situation und Modell Letzteres automatisch abläuft und lediglich im Fall wahrgenommener ‚Störungen’ bzw. bei mismatch intensivere kognitive Vor-
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gänge eingeleitet werden. Wie dem auch sei, gewinnbringend erscheint eine Ergänzung rationaler Entscheidungsmodelle um Frames, Skripte bzw. Handlungsroutinen nur dann, wenn zunächst und ohne weiteren kognitiven Aufwand erprobte Handlungsmuster oder -routinen greifen und erst deren Fehlen oder Infragestellung kognitiv anspruchsvollere Verfahren auslöst. Diesem Grundsatz wird bei der folgenden Modellerweiterung zur Erklärung generativen Verhaltens gefolgt: Es wird unterstellt, dass immer erst (sofern vorhanden) eine mehr oder weniger passende Handlungsroutine greift, für die sich (potentielle) Eltern(teile) nicht aktiv entscheiden, sie sich aber mit Erreichen eines Schwellenwertes bewusst gegen sie aussprechen, indem sie eine Kalkulation der Instrumentalität von Kindern vorziehen. Die Schwierigkeit besteht in der Bestimmung eines solchen Schwellenwertes, v. a. wenn dieser nicht selbst als Resultat einer SEUKalkulation modelliert werden soll. Die sich nun anschließende Erarbeitung der in diesem Zusammenhang zu berücksichtigenden Faktoren wird sich grundsätzlich an den Ausführungen von Esser orientieren. 5.3.2 Das Alternativmodell generativen Verhaltens Basierend auf den voran stehenden Überlegungen wird nunmehr das bisherige Grundmodell ausdifferenziert, indem zwei alternative Wege der Handlungsfindung unterschieden werden: Generative Routinelösung Routinelösungen werden ähnlich den von Esser modellierten Skripten verstanden. Allgemein kann es sich bei Routinelösungen einerseits (i) um individuell erprobte Handlungslösungen handeln, die auf persönlichen Erfahrungen und bereits in der Vergangenheit schon einmal getroffenen und anschließend gespeicherten Entscheidungen beruhen oder andererseits (ii) um kulturell bewährte und über die Generationen hinweg tradierte Muster, die im Verlauf der Sozialisation transmittiert werden. Erste zielen auf Routinehandlungen ab, die vorgefertigte Lösungen für häufig und immer wiederkehrende Probleme des Alltags bieten; Letztere haben einen gemeinschaftlichen Ursprung. Gemeinsam ist beiden, dass sie – und das unterstreicht die Rationalität der Routine – auf vorangegangenen, rational getroffenen Entscheidungen beruhen, die sich entweder im Verlauf der individuellen oder der gesellschaftlichen Entwicklung als angemessen und zweckmäßig herausgestellt haben. Nur unter dieser Bedingung können sie sich zu mehr oder weniger im individuellen Lebenslauf überdauernden bzw.
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über Generationen hinweg tradierten Handlungsmustern verfestigen. Ihr Vorteil besteht zweifellos darin, dass sie ‚billig’ sind und dennoch recht effektiv, weshalb ihre Ausführung keineswegs dem Kriterium der Zielrationalität widerspricht. Vielmehr ist es gerade rational, vor dem Hintergrund einfach festzustellender, prägnanter Merkmale der Situation eine dazu passende Handlungsempfehlung auszuführen, anstatt einen kostenaufwendigen Abwägungsprozess einzuleiten. „In den Frames und in den Skripten des Alltags spiegelt sich ja die, oft mühselig zuvor in zahllosen ‚reflexiven’ Schritten entwickelte, Weisheit der Routine, sozusagen als geronnene Rationalität früherer Problemlösungen, die jetzt, zu fertigen gedanklichen Modellen stilisiert, abrufbereit und unaufwendig zur Verfügung steht“ (Esser 2001: 295, Hervorhebung im Original).
Sie können aber auch „kondensiertes kulturelles Wissen [widerspiegeln]. Es sind darin nicht nur individuelle Erfahrungen gespeichert, sondern auch soziale Vorgaben, […] objektivierte und institutionalisierte Handlungsregeln (Quandt & Ohr 2004: 698). Beide Entstehungsquellen von Handlungsroutinen erweisen sich als plausibel und funktional. Unmittelbar einsichtig ist jedoch, dass ihre Anwendung auf das generative Verhalten eine Beschränkung auf kulturelle Modelle bzw. Routinen verlangt: Bei Fertilitätsentscheidungen handelt es sich keineswegs um alltäglich anstehende Entscheidungen des Einzelnen; auf den gesamten Lebenslauf bezogen stellen sie selbst bei Geburten hoher Paritäten ein äußerst seltenes Ereignis dar. Wohl aber werden sie auf aggregierter Ebene vielfach und fortwährend getroffen. Folglich werden Routinen in diesem Erklärungszusammenhang als Gerinnung mehrfach rational-getroffener, gleichgerichteter Individualentscheidungen verstanden (Ausgangsrationalität). Nur vor dem Hintergrund homogener und zeitlich stabiler Rahmenbedingungen werden sie zwischen den Generationen weiter gegeben und können sich so verfestigen. Der Akteur greift nicht blindlings auf derlei institutionalisierte Lösungsstrategien zurück, sondern tut dies in der Annahme, dass sie bei relativ geringem Aufwand eine vergleichsweise angemessene Handlungsalternative empfehlen. Zusätzlich ergibt sich aus dem Befolgen einer kulturellen Routine ein willkommener Nebeneffekt: Entsprechende Handlungen sind relevanten Anderen gegenüber kaum begründungbedürftig und setzen damit zusätzlich die Handlungskosten herab (vgl. Schimank 2002: 93). Steht also dem Akteur eine generative Routine zur Verfügung steht, die einwandfrei auf zentrale Situationsmerkmale passt, stellt dessen generatives Gebärverhalten das Resultat ihrer unreflektierten Übernahme dar. Gerade die Besonderheit der Fertilitätsentscheidung spricht für die Orientierung an kulturel-
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len Vorgaben und erprobten Modellen, weil damit beträchtliche Ressourcen eingespart werden können und zudem eine gewisse Handlungssicherheit erreicht wird, die generative Strategien angesichts der mit ihnen verbundenen langfristigen, weit reichenden und irreversiblen Konsequenzen typischerweise nicht haben. Abbildung 16 zeigt die Erweiterung des Handlungsmodells. Der soeben beschriebene ‚Normalfall’ besteht in der Existenz einer generativen Handlungsroutine, der Vertrauen geschenkt wird und deren Inhalt ohne weiteres Nachdenken in entsprechendes Verhalten überführt wird (Option 1). Die individuelle Kalkulation des Wertes von Kindern Zwar erhöht die rationale Abwägung generativer Verhaltensoptionen grundsätzlich die Aussicht auf ein individuell optimiertes Handlungsresultat, gleichzeitig ist sie sehr kostenaufwendig. Deshalb wird sie regelmäßig erst dann in Betracht gezogen, wenn „der Akteur Anlass zu Zweifeln an der Eignung der Routine bekommt und zudem eine ferne Ahnung hat, dass nach Verlassen dieser Routine erfolgreichere Handlungswahlen möglich wären“ (Quandt & Ohr 2004: 699f.). Im Anschluss sowie in Erweiterung der von Fazio (1990) und Esser (1996, 2001) angeführten Kriterien, werden im Folgenden zwei Bedingungen herausgestellt, an Hand derer über einen möglichen Wechsel in den aufwendigeren Modus der Entscheidungsfindung entschieden wird. Das Verfahren der Kalkulation „stems from the [1] individual’s motivation and [2] opportunity to reach an appropriate behavioral intention in a highly consequential action setting“ (Fazio 1990: 103). Es wird zunächst die in Abbildung 16 modellierte Option 2 beschrieben. (1) Zunächst muss die Motivation zur Durchführung einer Kalkulation gegeben sein. Vor allem wenn es sich um wichtige Entscheidungen handelt, ist es vernünftig die individuelle Situation genauer zu betrachten und entsprechende Vor- und Nachteile möglicher Produktionsfaktoren bzw. Handlungsalternativen intensiv zu prüfen. Die Wichtigkeit von Entscheidungssituationen leitet sich aus den Kosten ab, die im Zusammenhang mit der Entscheidung und Handlung entstehen (können). Vereinfachend wird zwischen Hoch- und Niedrigkostensituationen unterschieden und in Anlehnung an Zintl (1989) wird behauptet, dass das rationale Akteursmodell nur in Hochkostensituationen erklärungskräftig ist. Umgekehrt ist „in ‚Niedrigkostensituationen’ der mikrotheoretische Einsatz von Rationalmodellen nicht am Platze“ (ebd.: 62). Ähnlich argumentiert auch Diekmann im Rahmen der von ihm aufgestellten Low-Cost-Hypothese (1992; Diekmann und Voss 2004: 20) und bietet zudem Belege für die empirische Evidenz dieser Unterscheidung.
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Abbildung 16: Das erweiterte Handlungsmodell Generative Routinelösung
M Option 1 Option 2 Fertilitätsverhalten
Keine/ widersprüchliche Routinelösungen
Option 3
Individuelle Kalkulation: VOC x p
Anmerkung: M= Motivation zum Abweichen von der Handlungsroutine.
Die Brauchbarkeit dieses Konzeptes ist allerdings maßgeblich davon abhängig, wie präzise die Kosten definiert werden, die festlegen, ob es sich um eine Hochoder Niedrigkostensituation handelt. Hierfür liefern Quandt & Ohr (2004) einen geeigneten Vorschlag, wonach drei Kostenaspekte unterschieden werden: Neben den üblichen (i) direkten und (ii) indirekten Kosten, die jeder Produktionsfaktor bzw. jede Handlung mehr oder weniger umfangreich verursacht, ist der (iii) potentielle Nutzenverlust zu berücksichtigen „falls man nicht die optimale Handlungsalternative wählte“ (ebd.: 687). Dieser errechnet sich aus der Nutzendifferenz der besten und der gewählten Handlungsalternative. Die Gesamtheit der drei Kosten soll abbilden, „dass in Niedrigkostensituationen nur Entscheidungen zu treffen sind, bei denen es aus der Sicht des Akteurs ‚um nichts geht’“ (ebd.: 687). Wird die Situation derart wahrgenommen, so besteht kein Anlass zu gründlich überlegtem Entscheiden und Handeln. Eine vierte Kostenart soll hinzugefügt werden, nämlich (iiii) die Kosten der Entscheidungsfindung, die aus der Informationsbeschaffung und ihrer Verarbeitung resultieren und insbesondere beim rationalen Modus in größerem Umfang auftreten. Angewendet auf das generative Verhalten bedeutet das, dass (1) die Motivation zur rationalen Kosten- und Nutzenabwägung gegeben ist, wenn die (i +
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ii) Kosten der generativen Routinelösung außerordentlich hoch sind. Empfiehlt die Routine die Geburt eines (weiteren) Kindes, so steigt die Motivation hiervon abzuweichen, wenn die Geburt und das Aufziehen eines (weiteren) Kindes für den jeweiligen Akteur hohe Kosten direkter und/ oder indirekter Art verursacht. Derlei Kinderkosten steigen typischerweise im Zuge der Modernisierung, Verstädterung und der Verbesserung der individuellen Ressourcenlage. Mit der Handlungsempfehlung kein (weiteres) Kind zu bekommen werden keine umfassenden Handlungskosten in Verbindung gebracht, es sei denn die Anwendung effektiver Empfängnisverhütung ist besonders teuer. Der (iii) potentielle Nutzenverlust im Falle einer suboptimalen Handlungsroutine wirkt sich ebenfalls auf die Motivation aus. Bereits das Risiko der Ausführung einer zweitrangigen anstatt der optimalen Handlungsalternative kann das Ausführen des rationalen Entscheidungsmodus motivieren, sofern die erwartete Nutzendifferenz zwischen beiden Optionen besonders hoch ist und/ oder das Entstehen hoher Kosten im Falle eines Fehlverhaltens verhindert werden kann. Innerhalb eines homogenen Kontextes ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass eine für die darin lebenden Akteure effektive Handlungsroutine existiert. Ein Gewinnzuwachs durch das Abweichen von der Handlungsroutine ist v. a. dann wahrscheinlich, wenn die individuelle Ressourcenausstattung des Einzelnen stark von der Mehrheit seines sozialen Umfeldes abweicht. Für diese Akteure erhöht sich gleichzeitig das Risiko, dass die Handlungsroutine zu einem deutlich suboptimalen, der individuellen Situation unangemessenen Resultat führt: Die Folge ist bestenfalls ein Nutzenverlust, schlimmstenfalls sogar ein Kostenzuwachs. Kosten können durch die unangemessene Geburt von (zu vielen) Kindern entstehen oder auch durch entgangenen Nutzen einer nicht erfolgten Geburt. Das Risiko von hohen Kosten als Folge eines Fehlverhaltens ist v. a. unter der Bedingung pronatalistischer Handlungsroutinen bei gleichzeitig hohen Kinderkosten gegeben. Die Erwartung hoher Gewinne oder das Vermeiden großer Verluste rechtfertigen einen Mehraufwand an kognitiver Tätigkeit sowie den Einsatz begrenzter Ressourcen zur Beschaffung von Informationen und dem Abwägen positiver und negativer Handlungsfolgen. Unerlässlich ist jedoch, dass die Kostenbilanz der Handlungsroutine stets um (iiii) die Mehrkosten des aufwendigeren Entscheidungsprozesses korrigiert wird und gerade diese Kosten fallen bei der Kalkulation der Vor- und Nachteile von Kindern besonders hoch aus. Die Motivation stellt nun ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für den Einsatz einer ‚teuren’ Prozedur dar. Eine zweite Bedingung muss erfüllt sein: (2) Entsprechende Opportunitäten müssen vorliegen, die dem Akteur den Zugang zu den für die Kalkulation notwendigen Informationen verschaffen bzw. ihn die Lage versetzen, relevante Hinweise einzuholen und sie anschließend sinnvoll verarbeiten zu können. Das schließt die notwendige Zeit
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zur Anwendung aufwendiger Verfahren ein. Mit Blick auf die generative Entscheidung werden diesbezüglich keine systematischen Variationen vermutet, da es sich hierbei im Allgemeinen nicht um eine Entscheidungssituation handelt, die sich durch Zeitmangel auszeichnet. Somit ist die Motivation die ausschlaggebende Komponente, die über das Verlassen der Routine entscheidet. Sie kann zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen als auch zwischen verschiedenen historischen Zeiten variieren. Jeweils am konkreten Erklärungsphänomen ist zu bestimmen, wodurch die entsprechende Motivation bedingt wird: In Kapitel 6 erfolgt die konkrete Spezifikation für das generative Verhalten in der Türkei. Wie die Abbildung 16 illustriert ist eine dritte Option möglich, die sich von vornherein den rationalen Modus verlangt: Bezüglich zentraler Handlungsparameter homogene und zeitlich stabile Kontexte erhöhen einerseits die Entstehung, andererseits die Weitergabe von Routinen. Unter diesen Bedingungen sind Zweifel an der Richtigkeit ihrer Handlungsempfehlung eher selten zu erwarten. Mit Blick auf Kinder als potentielle Produktionsfaktoren formuliert Nauck (2001: 413): „Je dauerhafter die Effizienz eines Produktionsfaktors im jeweiligen Kontext, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit seiner intergenerationalen Transmission und seiner Institutionalisierung als kulturelle ‚Routinelösung’“. Im Gegensatz dazu geben v. a. heterogene Kontexte und solche, die sich im Umbruch befinden, Anlass, die Routine in Frage zu stellen. Daraus leitet sich grundsätzlich die Möglichkeit ab, dass entweder keine kollektiven Lösungen zur Verfügung stehen oder mehrere, die sich in ihren Handlungsempfehlungen widersprechen. Unter diesen Umständen wird die Betrachtung der o. g. Motivation überflüssig, denn der Akteur ist dann in jedem Fall gezwungen Vor- und Nachteile von Kindern abzuwägen und eine individuelle Lösung zu erarbeiten. Die Abbildung 17 zeigt das nunmehr vollständige Alternativmodell, dessen handlungstheoretische Basis nunmehr zwei Möglichkeiten zulässt. Diese Modell soll weniger als tatsächliche Erklärungsalternative verstanden werden, sondern vielmehr als Ergänzung des Grundmodells der Erklärung generativen Verhaltens – eine Ergänzung, die sich theoretisch ableiten und begründen lässt, die gleichwohl nur dann weiter verfolgt werden soll, wenn sie sich empirisch notwendig erweist. Die Vormachtstellung der Handlungsroutine gegenüber dem rationalen Modus könnte bei oberflächlicher Betrachtung die Möglichkeit von Veränderungen in Frage stellen. Eine bilanzierende Vergegenwärtigung dessen, was hier unter Handlungsroutine verstanden werden soll, macht jedoch deutlich, dass sich (generativer) Wandel und (generative) Handlungsroutine keineswegs ausschließen.
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Abbildung 17: Das Alternativmodell der Erklärung Makroebene: Institutionelle Regelungen der Gesamtgesellschaft
Geburtenniveau
Mesoebene: Kleinräumliche Opportunitätenstruktur Verhaltenskontrolle Situative Umstände
Relationale Ebene: Netzwerke
Mikroebene: Individuelle Ressourcen
VOC x p Generative Routine
Individuelles Fertilitätsverhalten
Wandel trotz Handlungsroutine? Veränderungen im Verhalten lassen sich mit dem erweiterten Handlungsmodell sehr gut vereinbaren bzw. modellieren. Kulturell geprägte Handlungsroutinen sollen hier vorgefertigte Verhaltensabläufe darstellen, die im Vergleich zu Normen und Wertvorstellungen einen weniger verpflichtenden Charakter aufweisen. Ihre Ausführung verfolgt zumindest nicht primär das Ziel positiver Sanktionierung bzw. Vermeidung negativer Sanktionierung: Derlei Motive sind direkt in den SPF enthalten bzw. werden sie bei der Erklärung generativen Verhaltens explizit durch den Aspekt der sozialen Wertschätzung abgebildet. Die Routine dient vielmehr als etablierte Handlungsrichtlinie, die ebenso auf Nutzenoptimierung ausgerichtet ist, wie die individuelle Kalkulation. Sie wird als Manifestationen von Handlungslösungen verstanden, die sich unter bestimmten Rahmenbedingungen als erfolgreich erwiesen haben. Ihre Definition impliziert nicht nur, dass ein Abweichen von ihr möglich ist, sondern auch unter welcher Bedingung: nämlich regelmäßig dann, wenn ihre Rationalität in Frage gestellt wird bzw. wenn Zweifel an ihrer Angemessenheit aufkommen. Das bedeutet, dass zunächst nur einige Akteure eine individuelle Kalkulation vorziehen und zwar die, die zuerst und am stärksten von gesellschaftlichen Veränderungen betroffen sind. Werden hiervon zunehmend weitere Bevölkerungsteile erfasst, so breitet sich die Skepsis gegenüber der geltenden Routine aus und eine wachsende Zahl begibt sich auf die Suche nach individuellen Lö-
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sungen. Unter Umständen wird eine Art Dominoeffekt ausgelöst: Je mehr Akteure von der Routine abweichen, desto mehr werden sie in Frage stellen, was letztendlich zur Folge haben kann, dass die Routinelösung gänzlich an Verhaltensrelevanz einbüßt und ihre Gültigkeit verliert. Typischerweise werden Phasen gesellschaftlichen Umbruchs dazu führen, dass mehrheitlich die Vor- und Nachteile konkurrierender Handlungsmöglichkeiten bzw. Produktionsfaktoren individuell kalkuliert werden. Sofern sich die entscheidenden Rahmenbedingungen für einen Großteil der Akteure gleichartig und gleichzeitig wandeln, d. h. sofern sich der relevante Kontext weiterhin durch eine hohe Homogenität auszeichnet, ist die zeitnahe Herausbildung neuer Handlungsroutinen durchaus wahrscheinlich, vor dem Hintergrund einer Vielzahl sich gleichender Individualentscheidungen. Kommt es hingegen (zunächst) zu einer starken Ausdifferenzierung innerhalb der Bevölkerung, so resultieren die individuellen Kalkulationen kaum in einer neuen Routine oder möglicherweise in mehreren, gruppenspezifischen Handlungsempfehlungen. Das impliziert, dass sich v. a. heterogene Kontexte durch eine weite Verbreitung individueller Kalkulation auszeichnen und damit durch eine hohe Variationsbreite der Verhaltensweisen. Die nachträgliche Ergänzung des Grundmodells nimmt ihm also keineswegs seine dynamische Komponente. Stabilität und langsame Veränderungen des Fertilitätsverhaltens sind damit ebenso erklärbar wie abrupte Umbrüche, denn auch kollektiv bewährte Handlungsmuster, -routinen oder Skripte sind nicht uneingeschränkt verhaltensrelevant. So formuliert auch Huinink (2001: 153): „Verhaltensmuster werden aber nur gepflegt und an den Festlegungen wird nur festgehalten, solange es keinen Anlaß gibt, über die Adäquanz des Verhaltens unter dem Gesichtspunkt der „Bestmöglichkeit“ neu nachzudenken und Entscheidungen zu treffen“.
Überdies resultiert aus der mit dem Alternativmodell einhergehenden Ergänzung keine widersprüchliche oder konkurrierende Erklärung generativer Verhaltensweisen bzw. beobachtbarer Fertilitätsraten. Es ermöglicht vielmehr eine differenziertere Betrachtung der Mechanismen. 5.4 Bilanz Generatives Verhalten wird von dem Bestreben individueller Bedürfnisbefriedigung geleitet. Physisches Wohlbefinden und soziale Anerkennung stehen dabei an höchster Stelle. Ihre Realisierung soll durch alle anderen Ziele, Aktivitäten und Güter gewährleistet werden, wobei deren jeweilige Instrumentalität darüber entscheidet, ob und in welchem Umfang sie gewählt werden. So werden auch
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die Vor- und Nachteile von Kindern gegeneinander abgewogen, alternative und ergänzende Wege und Mittel der Bedürfnisbefriedigung werden in Rechnung gestellt und im Endeffekt führt nur eine relativ günstige Bilanz zu ihrer Geburt. Die Bedeutung von Kindern lässt sich hierbei auf den Dimensionen Komfort & Wertschätzung sowie Affekt & Stimulation einstufen. Beide Aspekte variieren je nach Handlungssituation und implizieren unterschiedliche generative Strategien. Die Mechanismen sind in dem Grundmodell zusammengestellt, das allerdings voraussetzt, dass jeder generativen Entscheidung ein umfassender Kalkulationsprozess des Wertes von Kindern vorausgeht. Demnach stellt der Geburtenrückgang im Verlauf des 20. Jahrhunderts in der Türkei (vgl. Kap. 2) das Resultat einer rückläufigen generativen Handlungsmotivation dar, die vornehmlich auf einem Bedeutungswandel von Kindern in den elterlichen sozialen Produktionsfunktionen beruht. Ursächlich hierfür ist der gesellschaftliche Umbruch, der in demselben Zeitraum stattgefunden hat. Nahezu alle gesellschaftlichen Ebenen sind durch eine mehr oder weniger tief greifende Modernisierung gekennzeichnet (vgl. Kap. 3), was die Verfügbarkeit und Effizienz verschiedener Produktionsfaktoren beeinflusst hat; so auch die Effizienz von Kindern. Dem wird ein Alternativmodell hinzugefügt, das sich dadurch vom Grundmodell unterscheidet, dass generativen Handlungsroutinen vorrangige Verhaltenswirksamkeit eingeräumt wird, während die generative Handlung gemäß dem rationalen Modus der Entscheidungsfindung einer ausreichenden Begründung bedarf. Zielrationalität bleibt weiterhin die grundlegende Handlungsmaxime. Bezüglich der Erklärung des Geburtenrückgangs in der Türkei wird nunmehr lediglich ergänzt, dass der zu Beginn des 20. Jahrhunderts typische Kinderreichtum mehrheitlich nicht auf Individualentscheidungen, sondern dem Ausführen einer pro-natalistischen Handlungsroutine beruht. Der in den darauf folgenden Jahrzehnten einsetzende Rückgang bedeutet ein zunehmendes Abrücken von der automatischen Befolgung dieses Handlungsmusters hin zu individuell getroffenen generativen Entscheidungen, worüber sich der Bedeutungswandel von Kindern vollzieht. Die Herausbildung einer neuen generativen Routinelösung ist angesichts der momentan starken Heterogenität innerhalb der türkischen Bevölkerung sehr unwahrscheinlich, für die Zukunft aber durchaus nicht ausgeschlossen.
6 Hypothesen
Die beiden theoretischen Modelle werden nun in konkrete Arbeitshypothesen übersetzt. Das erfolgt über eine Zerlegung in Einzelerklärungen – ein Vorgehen, das der Modellkomplexität geschuldet ist, die sich einer eingeschränkten Datenlage gegenüber sieht. Darüber hinaus sind alle Zusammenhangshypothesen als ceteris-paribus Hypothesen zu verstehen. 6.1 Brückenhypothesen: Determinanten des Wertes von Kindern Für welche der instrumentellen Zwischenziele können Kinder in der Türkei im Allgemeinen, in speziellen Kontexten oder in bestimmten Bevölkerungssegmenten eine sinnvolle Strategie darstellen und wie hat sich ihre Wirksamkeit vor dem Hintergrund der gravierenden gesellschaftlichen Umwälzungen über die letzten Jahrzehnte hinweg verändert? Diesen Fragen widmet sich die folgende Formulierung der Brückenhypothesen, die potentielle Einflussfaktoren unterschiedlicher Ebenen mit dem Wert von Kindern verknüpfen. Kulturvergleichende Analysen bedürfen der Unterscheidung von wenigstens vier Aggregationsebenen (Nauck & Schönpflug 1997: 13), um die soziale Einbettung bzw. Situation des Akteurs angemessen zu erfassen. Wenngleich es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine national begrenzte Studie handelt, ist die Bezugnahme auf diese Ausdifferenzierung insofern notwendig, da weniger eine Querschnittsbetrachtung im Fokus steht, als vielmehr die Analyse von (generativem) Wandel. (1) Auf höchster Aggregationsebene werden institutionelle, rechtliche, sozialstrukturelle und wohlfahrtsstaatliche Bedingungen für die individuelle Wahrnehmung von Kosten- und Nutzenerwartungen von Kindern wirksam, die zwar, bezogen auf einen konkreten Zeitpunkt, für alle Mitglieder eines Landes gleich sind, diese jedoch in unterschiedlichen Lebens- und Entscheidungsphasen treffen. Angesichts des gesellschaftlichen Umbruchs in der Türkei sind Unterschiede bezüglich der in den jeweils fertilitätsrelevanten Phasen vorliegenden Rahmenbedingungen zu erwarten. Dieser Wandel soll mangels Längsschnittsdaten über die Kohortenzugehörigkeit indiziert werden. (2) Daneben sind die Besonderheiten kleinräumlicher Kontexte maßgeblich, die die unmittelbare Opportunitätenstruktur des Akteurs ausmachen. In der empirischen Analyse wird hierfür
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die Unterscheidung zwischen Stadt und Land als eine proxy-Variable eingesetzt, was sich für die Türkei in besonderem Maße als aussagekräftig erweisen sollte, da relevante Parameter zu jeder Zeit seit der Staatsgründung je nach Urbanitätsgrad sehr ungleich verteilt sind. (3) Soziale Beziehungsstrukturen werden im Weiteren nicht explizit berücksichtigt. Das betrifft hauptsächlich die Verknüpfung der individuellen VOCs beider (potentieller) Elternteile, das gegebenenfalls erforderliche Aushandlungsprozesse zwischen ihnen nicht modelliert werden; mögliche partnerschaftliche Differenzen finden im Gesamtmodell lediglich in Form von externen Barrieren bei der Umsetzung der individuellen generativen Motivation Beachtung. Die normative Orientierungs- und Kontrollfunktion des familialen bzw. verwandtschaftlichen Netzwerkes findet wenigstens indirekt über das jeweils historisch bzw. regional dominierende Verwandtschaftssystem auf gesamtgesellschaftlicher bzw. kleinräumlicher Ebene Eingang in die Ausgestaltung des individuellen VOC. (4) Schließlich legt auch die individuelle Ressourcenausstattung Handlungsmöglichkeiten und -bedarf fest, d. h. die Effizienz, mit der eigene Nachkommen die elterlichen Bedürfnisse befriedigen können bzw. welche alternativen Quellen hierfür zur Verfügung stehen. Komfort & soziale Wertschätzung. Mit Beginn der Reformen in der neu gegründeten Republik wird ein stetiger Rückgang des Beitrages von Kindern für Komfort & soziale Wertschätzung erwartet. Im Zuge des Ausbaus des Bildungssystems und dessen Öffnung für die Gesamtbevölkerung stieg das durchschnittliche Bildungsniveau an, v. a. unter den bis dahin stark benachteiligten Frauen. Infolgedessen, sowie unterstützt durch die Verschiebungen des traditionell landwirtschaftlich dominierten Arbeitsmarktes hin zu mehr (nicht-landwirtschaftlicher) Lohnarbeit, erhöhten sich Chancen auf einen einträglichen Verdienst. Eine hieraus resultierende Verbesserung der Einkommenslage trug zu einer wachsenden Unabhängigkeit von der materiellen Unterstützung durch die eigenen Kinder bei, was durch ein, wenngleich sich nur zögerlich ausbreitendes, staatliches Sicherungssystem unterstützt wurde: Es bietet heute für den Großteil der Bevölkerung eine zumindest minimale Grundversorgung und Absicherung im Rentenalter sowie Krankenvorsorge. Parallel zur gesunkenen Nachfrage von Kindern haben zum Teil dieselben gesellschaftlichen Veränderungen dazu beigetragen, dass hauptsächlich der kurzfristige Arbeitsnutzen von Kindern als Realisierungsmöglichkeiten eingebüßt hat: Mit der Einführung der Schulpflicht reduzierte sich die Zeit der Kinder, die sie für produktive Tätigkeiten aufbringen können; lediglich saisonale Arbeitseinsätze sind weiterhin uneingeschränkt möglich. Gleichzeitig wurde die Kinderarbeit offiziell verboten und de facto ist sie in den letzten Jahren zurückgegangen. Neben den zeitlichen und rechtlichen Restriktionen sind die klassischen Einsatzmöglichkeiten für Kinder, d. h. unqualifizierte Arbeitsplätze v. a. in der Agrarproduktion, gesunken: Die Gelegenhei-
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ten für das Ausüben einfacher Tätigkeiten haben abgenommen, berufliche Qualifikation und Spezialisierung ist zunehmend erforderlich geworden. Zumindest teilweise haben sich im Gegenzug, speziell im städtischen Kontext, neue Nischen für den Arbeitseinsatz von Kindern herauskristallisiert – hauptsächlich in Form von (teil-) selbständigen Dienstleistungen wie etwa dem illegalen, wohl aber geduldeten Straßenverkauf. Angesichts der Ausdifferenzierung und Spezialisierung des Arbeitsmarktes stellt eine fundierte Ausbildung einen wesentlichen Konkurrenzvorteil bei der langfristigen Nutzung des Versicherungsnutzens von Kindern dar: Als Reaktion hierauf sollten Eltern zunehmend motiviert sein in die Ausbildung ihrer Kinder zu investieren, um sie damit zumindest auf lange Sicht als (ergänzende) Altersvorsorge instrumentalisieren zu können. Das erhöht allerdings spätestens ab dem Besuch einer (kostenpflichtigen) Universität die direkten finanziellen Kosten von Kindern. Parallel hierzu wird, bedingt durch eine Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen in Verbindung mit bildungsbedingten, besseren Berufs- und Karriereaussichten ein Anstieg der Opportunitätenkosten von Kindern vermutet. Überdies ist haushaltsexterne (qualifizierte) Lohnarbeit schwerer mit der Aufsicht und Pflege von (Klein-) Kindern zu vereinbaren als landwirtschaftliche Tätigkeiten oder Heimarbeit. Wenigstens für sehr hoch qualifizierte Frauen in ökonomisch gut situierten Familien, sollte sich der Anstieg der Opportunitätenkosten angesichts der in der Türkei gegebenen Möglichkeit der kostengünstigen Anstellung von Haushaltshilfen, in Grenzen halten. Nicht zuletzt bedingt durch den Bedeutungsrückgang von Kindern für die Produktion von Komfort, sollten Kinder in den letzten Jahrzehnten in ihrer Wirksamkeit als Statussymbol eingebüßt haben. Eine Schwächung der patrilinearen Deszendenz in der Türkei, innerhalb derer (männliche) Nachkommen eine zentrale Größe bei der elterlichen Statuserhöhung darstellen, trägt hierzu bei. Auch haben die Gelegenheiten der positiven Bestätigung generativen Verhaltens abgenommen: Sanktionsfähige, v. a. familiale Netzwerke haben in der Türkei an Dichte und Einfluss verloren. Ursache hierfür sind nicht zuletzt die ausgeprägten Wanderungen, die das verwandtschaftliche Netzwerk gelockert und persönliche Kontakte (räumlich) unterbrochen haben. In der Konsequenz reduzierten sich die Möglichkeiten signifikanter Verhaltensbestätigung und die soziale Kontrolle zur Einhaltung fertilitätsbezogener Normen wurde erschwert. Wippler (1990: 194) formuliert hierzu, dass „in traditional, normatively societies, behavioral confirmation is more easily obtained than in less integrated modern societies or under conditions of anomy”. Eine weitere Entwicklung trug hierzu bei: Mit der staatlich forcierten Säkularisierung sank der Einfluss dieser traditionell überaus dominanten Kontroll- und Sozialisationsinstanz. Der Islam,
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als die vorherrschende Glaubensrichtung in der Türkei,48 stellt die besondere Bedeutung der (Zeugung von) Nachkommen heraus; Kinder werden im Islam als eine der größten Gaben Gottes betrachtet. So lautet der Koranvers 18:46: „Besitztum und Kinder sind Schmuck des irdischen Lebens“. Die Pflege und Erziehung von Kindern gilt als sehr verdienstvoll, was allerdings als Folge der sinkenden Religiosität und des Bedeutungsverlustes religiöser Netzwerke immer weniger eine positive Verhaltensbestätigung bei entsprechendem Verhalten nach sich zieht. Abgesehen von der generell rückläufigen Nutzenproduktion, hat sich der Zugang zu effizienten Alternativquellen sozialer Wertschätzung vervielfältigt, für Frauen v. a. durch eine Vergrößerung ihres Aktionsradius. Da sie weniger auf den häuslichen Bereich beschränkt bleiben, haben sich für sie Möglichkeiten der Unterhaltung und Pflege außerfamiliärer Netzwerke als potentielle Quellen von Verhaltensbestätigung eröffnet. Das zielt vornehmlich auf arbeitsmarktbezogene Strukturen ab, in denen gerade weniger das generative Verhalten sanktionswürdig ist, als vielmehr berufliche Leistung und Erfolge. Die Ausführungen münden in die folgenden Hypothesen: H11: Die Bedeutung von Kindern für die Produktion von Komfort & sozialer Wertschätzung ist in den jüngeren Geburtskohorten geringer als in den älteren. H12: Die (in-) direkten Komfortkosten von Kindern sind in den jüngeren Geburtskohorten höher als in den älteren. Neben diesen historischen Trends werden regionale sowie individuelle Variationen erwartet: Regionale Unterschiede sind deswegen sehr wahrscheinlich, weil sich eben dieselben Modernisierungstendenzen, die für den postulierten Rückgang von Komfort & Wertschätzung verantwortlich gemacht werden, in der Türkei räumlich sehr unterschiedlich durchgesetzt haben. Vor allem die ländlichen Gebiete zeichnen sich zu jedem Zeitpunkt seit der Republikgründung durch eine geringere Verfügbarkeit von und einen schlechteren Zugang zu Bildungseinrichtungen aus. Darüber hinaus bedeuten Kinder auf dem Land eine sehr wertvolle und billige Arbeitskraft bei der landwirtschaftlichen Produktion, weshalb sich die elterliche Bereitschaft, ihre Kinder hiervon wenigstens teilweise zu befreien, nur zögerlich erhöht. Trotz deutlicher Angleichung an die städtischen Schulbesuchsraten fällt die Beteiligung auf dem Land nach wie vor geringer aus. Überdies liegt zumindest bis in die 1980er in den ländlichen-agrarisch 48 Folgt man aktuellen Angaben der türkischen Nachrichtenagentur, so sind 99% der Bevölkerung der Türkei Moslems (Dogan 2004: 407). Diese Zahl wird durch andere Quellen bestätigt (u. a. The World Factbook 2003).
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geprägten Regionen eine ausgeprägte Versicherungsfunktion von Kindern nahe, da Berufstätige im Landwirtschaftssektor bis dahin von der staatlichen Sozialversicherung ausgeschlossen waren. Ungeachtet dessen sollte der Komfortwert von Kindern auch gegenwärtig auf dem Land höher ausfallen, unterstützt durch die stärkere Einbettung in das Deszendenzsystem, dass intergenerationale Unterstützung betont und fordert und so das Vertrauen in die Realisierbarkeit dieser Nutzenerwartung stärkt. Gleichzeitig sind damit auf dem Land die Chancen auf soziale Wertschätzung als Resultat der Geburt von Kindern besser. Spiegelbildlich wird die geringere Relevanz dieser Nutzendimension von Kindern im städtischen Kontext durch die geringeren normativen Verbindlichkeiten als Folge der Dominanz affinalverwandtschaftlicher Organisation unterstützt. Stattdessen gestaltet sich in der Stadt der Zugang zu alternativen Produktionsgütern günstiger: Die Begründung liegt u. a. in der durchschnittlich besseren Ausstattung mit bildungs- und erwerbsbezogenen Ressourcen sowie ökonomischem Kapital, womit effiziente Möglichkeiten für die Komfortproduktion sowie die Verhaltensbestätigung eröffnet werden. Damit wird zwar die traditionelle Funktionalität von Kindern hierfür nicht komplett ersetzt, aber zumindest geschmälert. Höhere materielle Kinderkosten setzen diesen Wert von Kindern weiter herab. Insgesamt stellt diese grobe Unterscheidung von Stadt und Land ein aggregiertes Maß für vielfältige Mechanismen dar, die überwiegend in dieselbe Richtung weisen.49 H13: Die Bedeutung von Kindern für die Produktion von Komfort & sozialer Wertschätzung ist auf dem Land höher als in der Stadt. H14: Die Komfortkosten von Kindern sind in der Stadt höher als auf dem Land. Schließlich sollte sich die individuelle Ressourcenausstattung in entscheidender Weise in den Werten von Kindern niederschlagen, worüber nicht zuletzt interindividuelle Fertilitätsunterschiede innerhalb kleinräumlicher Kontexte zu erklären sind. Hauptsächlich sozio-ökonomische Ressourcen sind ausschlaggebend, als sie einerseits den Nutzen von Kindern herabsetzen und andererseits ihre Kosten erhöhen: Mit steigendem individuellen Bildungsniveau verbessern sich typischerweise die Erwerbschancen, die Höhe des potentiell erzielbaren Markteinkommens steigt und es ergibt sich die Möglichkeit zu positiver Verhaltens49 Die grundsätzlich markant erwarteten Unterschiede zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung werden insofern gemildert, als die städtische Population zu einem beachtlichen Teil aus ‚Landflüchtlingen’ besteht. Zumindest die erste Generation dieser Migranten wird erheblich von ihrer ländlichen Herkunft geprägt bleiben.
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bestätigung durch das berufliche Umfeld bzw. sogar zu erfolgsbezogenem Statuszuwachs im Falle einer außerordentlichen beruflichen Karriere. Das wiederum fördert die Unabhängigkeit vom Arbeitseinsatz und vom Einkommen eigener Kinder und eröffnet Alternativen der individuellen Risikoabsicherung, insbesondere der Altersvorsorge: Privat organisierte Absicherung jenseits eigener Nachkommen durch langfristige, gewinnbringende Geldanlagen wie Investitionen in Aktien, Grundeigentum oder private Rentenversicherung werden möglich. Zudem ist v. a. die Frau nicht mehr derart stark auf die traditionell einzige Möglichkeit des Statusgewinns durch (mehrfache) Mutterschaft angewiesen. Parallel zum abnehmenden Nutzen steigen mit zunehmendem (marktbezogenem) Humankapital die Opportunitätenkosten der Frau. Hieraus resultieren folgende Hypothesen: H15: Die Bedeutung von Kindern für die Produktion von Komfort & sozialer Wertschätzung geht mit zunehmender Ressourcenausstattung zurück. H16: Die Komfort- & Wertschätzungskosten von Kindern steigen mit zunehmender Ressourcenausstattung. Da sich der individuelle Wohlstand sowie die Bildungsbeteiligung in den vergangenen Jahrzehnten stetig erhöht haben, ist davon auszugehen, dass die Verteilung dieser Parameter zwischen den Geburtskohorten variiert. Ähnliche Verteilungsunterschiede sollten zwischen Stadt und Land bestehen. Diese systematisch ungleiche Ausstattung mit individuellen Ressourcen ist partiell für die bereits behaupteten historischen und regionalen Unterschiede bezüglich der Bedeutung von Kindern für Komfort & soziale Wertschätzung verantwortlich zu machen. Entsprechend wird vermutet: H17: Wird die individuelle Ressourcenausstattung konstant gehalten, so reduzieren sich (a) die regionalen sowie (b) die Kohortenunterschiede in der Bedeutung von Kindern für die Produktion von Komfort & sozialer Wertschätzung. Affekt & Stimulation. Die Vorhersagen mit Blick auf die Entwicklung von Affekt & Stimulation sind nicht ganz eindeutig, da gegenläufige Tendenzen vermutet werden: Mit Verweis auf Leibenstein (1957) und Huinink (1995) sind geringere Variationen zu erwarten als bei Komfort & sozialer Wertschätzung. Kinder bieten einen einmaligen Stimulations- & Affektnutzen, der in dieser Form kaum durch alternative Produktionsfaktoren substituiert werden kann. Er ist wesentlich stärker als der Erhalt materieller Ressourcen und Dienstleistungen
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an konkrete Personen gebunden bzw. erhält erst durch sie seine ganz spezifische Qualität. Speziell kindbezogener Affekt & Stimulation ergeben sich direkt aus der Pflege, der Erziehung, der Kommunikation und Interaktion mit den eigenen Kindern. Trotz der eingeschränkten Substituierbarkeit kann aus alternativen Beziehungen bzw. alternativen Produktionsgütern ebenfalls Affekt & Stimulation gezogen werden und es wird ein zumindest leichter, historischer Rückgang erwartet, da grundsätzlich die Möglichkeiten von Affekt- & Stimulationsproduktion zugenommen haben. Ganz besonders die Realisierung von Stimulation ist einer zunehmend komplexen Konkurrenzsituation ausgesetzt: Insbesondere für Frauen eröffnen sich mit steigender Beteiligung am außerhäuslichen Erwerbsleben neue Kontaktmöglichkeiten und damit der Zugang zu außerfamiliären Netzwerken, innerhalb derer sich u. a. dialogischer Nutzen verwirklichen lässt. Daneben treten im Zuge der Modernisierung und Wohlstandsmehrung zahlreiche alternative Gelegenheiten der Ressourcenverwendung, die wirksam zur Stimulationsproduktion beitragen können, allen voran die umfangreichen Angebote an Freizeitgestaltung und Reisetätigkeit. Der Möglichkeitsraum für anregende Aktivitäten und somit Produktionsfaktoren, die in Konkurrenz zu Elternschaft treten, hat sich vergrößert. Ähnliches gilt in abgeschwächter Weise auch für den Affekt: Umgestaltungen im Prozess der Partnerwahl sowie ein, wenn auch zögerlich einsetzender Wandel der Ausgestaltung der (ehelichen) Paarbeziehung hin zu mehr Emotionalität und Partnerschaftlichkeit, eröffnen neue Quellen von Affekt. Arrangierte und stark patriarchalisch geprägte Ehen sind hierfür von geringer Effizienz. Überdies sind erneut wachsende Kontaktmöglichkeiten außerhalb des familialen Bereiches anzuführen: Das Affektpotential frei gewählter freundschaftlicher, aber auch beruflicher Beziehungen gewinnt an Bedeutung. Gleichzeitig jedoch wird als gegenläufige Tendenz zu der historisch rückläufigen Bedeutsamkeit dieser Nutzendimension angenommen, dass sie als Folge eines sehr viel umfangreicheren Bedeutungsrückgangs von Komfort & Wertschätzung stärker in den Vordergrund rückt und somit in ihrer Bewertung steigt: Es wird eine über die Kohorten hinweg steigende Salienz erwartet, die eventuell den soeben begründeten Bedeutungsverlust überlagert oder verdeckt. Auf der anderen Seite wird mit steigenden Stimulationskosten gerechnet. Bedingt durch die Etablierung alternativer Produktionsmöglichkeiten für Affekt & Stimulation steigen gleichzeitig die entsprechenden Opportunitätenkosten. Das gilt in besonderem Ausmaß für Kinder auf Grund des anhaltend hohen Zeitaufwandes, den sie verlangen. Die Geburt von Kindern schränkt folglich die Wahl bzw. Nutzung alternativer Produktionsfaktoren über einen langen Zeitraum hinweg ein, insbesondere wenn sich die Vereinbarkeit von Elternschaft
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mit anderen Aktivitäten schwierig gestaltet. Schlussfolgernd werden zwei Hypothesen aufgestellt: H21: Der Affekt- & Stimulationsnutzen von Kindern ist unabhängig von der Geburtskohorte. H22: Die Affekt- & Stimulationskosten von Kindern sind in den jüngeren Geburtskohorten höher als in den älteren. Die soeben aufgeführten Mechanismen variieren in ihrer Wirkungsstärke nach Kontext und individueller Ressourcenlage, da sich gesamtgesellschaftliche Verschiebungen weder auf kleinräumlicher Ebene noch inter-individuell gleichmäßig niederschlagen. Gerade die neu gewonnenen Möglichkeiten der Affekt- & Stimulationsproduktion, die in Konkurrenz zu Kindern treten, sind in städtischer Umgebung in vielfältigerer und umfassender Weise verfügbar, als auf dem Land, was sich erneut durch den unterschiedlichen Modernisierungsgrad begründen lässt. Analog hierzu verbessert sich mit wachsender Verfügbarkeit von sozio-ökonomischen Ressourcen der Zugang zu alternativen Produktionsfaktoren. Hieraus resultieren die folgenden Hypothesen: H23: Der Affekt- & Stimulationsnutzen von Kindern ist auf dem Land höher als in der Stadt. H24: Die Affekt- & Stimulationskosten von Kindern sind in der Stadt höher als auf dem Land. H25: Der Affekt- & Stimulationsnutzen von Kindern sinkt mit zunehmender Ressourcenausstattung. H26: Die Affekt- & Stimulationskosten von Kindern steigen mit zunehmender Ressourcenausstattung. 6.2 Handlungshypothesen: Determinanten generativen Verhaltens Entsprechend dem theoretischen Grundmodell leitet sich das generative Verhalten unmittelbar aus der Motivation hierzu ab; die wiederum stellt sich als Resultat eines nach seiner geschätzten Eintretenswahrscheinlichkeit gewichteten VOC dar. Die Verbindung zwischen VOC und dem letztlich gezeigten Verhalten ist somit indirekt. Nichtsdestotrotz erfolgt die empirische Prüfung in dieser Form, da sowohl die Motivation als auch die Erwartung als Konstrukte im zu verwendenden Datensatz nicht vorliegen. Entsprechend werden die Hypothesen formu-
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liert, die sich deshalb zunächst auf die Verhaltensvorhersage in Abhängigkeit von VOC konzentrieren: Generative Implikationen aus den Werten von Kindern ergeben sich für die Kinderzahl (Parität), deren Realisierungszeitpunkt (timing) einschließlich der Geburtenabstände (spacing) sowie die Präferenzen bezüglich des Geschlechts der Nachkommen (Geschlechterpräferenz). Die Geburt von Kindern bestimmten Geschlechts liegt freilich sehr viel stärker außerhalb der individuellen Kontrolle des Akteurs, als die quantitative sowie zeitliche Geburtenplanung (sieht man von biologischen Altersgrenzen ab). Dennoch wird der Geschlechterpräferenz insofern Verhaltenswirksamkeit zugesprochen, als Wahrscheinlichkeit und Timing ab der Zweitgeburt vom Geschlecht bereits geborener Kinder bedingt sein können. Anschließend werden sie mit Blick auf eine Prüfung der Vermittlung dieses indirekten Zusammenhangs durch weitere Hypothesen ergänzt: Die Verhaltensvorhersage sollte für kurz- und langfristige Werterwartungen von Kindern, je nach Ausmaß der Handlungskontrolle und in Abhängigkeit von situativen Umständen variieren. Kinderzahl. Vorhersagen mit Blick auf die Optimierung des VOC durch die Geburt einer bestimmten Kinderzahl wurden bereits in mehreren Arbeiten zusammengestellt (Kohlmann 2000; Nauck 1989, 1997, 2001; Nauck & Kohlmann 1999), mit denen die folgende Hypothesenaufstellung konform geht. In Anbetracht der Datenlage, die eine ereignisanalytische Bearbeitung erfordert, werden die Hypothesen getrennt für die Geburten unterschiedlicher Ordnungsnummern formuliert; ohnehin wurde eine solche Zerlegung in paritätenspezifische Entscheidungsakte theoretisch modelliert. Die Anzahl der verfügbaren Fälle beschränkt die Prüfung auf die ersten drei Paritäten und Hypothesen bezüglich der Realisierung der Erstgeburt sind entbehrlich, da die verwendeten Daten keine Vergleichsgruppe von (noch) Kinderlosen enthalten. Grundsätzlich kann hierfür jedoch ein positiver Effekt beider Wertebereiche formuliert werden. Für das Risiko der Zweit- und Drittgeburt werden folgende Annahmen getroffen: An Kinder geknüpfte Komforterwartungen lassen sich grundsätzlich über zwei gegensätzliche Strategien optimieren: (i) Sofern ein hoher Komfortwert aus einem hohem Nutzen bei gleichzeitig geringen Kosten hervorgeht, ist die Realisierung einer hohen Kinderzahl zweckmäßig. Während sich mit jedem weiteren Kind der Komfortnutzen akkumuliert, sinken gleichzeitig mit zunehmender Kinderzahl die Einheitskosten: In höheren Paritäten nehmen die direkten Kosten pro Kind ab, da verschiedene Güter zur Ausstattung der Kinder mehrfach genutzt werden können; indirekte Kosten sinken ebenfalls, da einkommensbezogene Opportunitätenkosten infolge einer Erwerbsaufgabe/reduktion beim Übertritt in die Elternschaft ihr Maximum pro Kind erreichen. Daraus resultiert ein mit steigender Kinderzahl sich positiv entwickelndes Kos-
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ten-Nutzen Verhältnis, woraus ein Zuwachs des Gesamtgewinns hervorgeht. Dennoch ist die Realisierung der biologisch maximalen Kinderzahl höchst unwahrscheinlich: Gesundheitliche Grenzen v. a. der Mutter sind ebenso einzurechnen wie Budgetrestriktionen, die trotz eines positiven Saldos zum Tragen kommen, weil die gleichwohl steigenden absoluten Kinderkosten das verfügbare Budget im Allgemeinen ab einer bestimmten Summe überschreiten. Es wird also eine Obergrenze unter dem biologischen Maximum erwartet. Grundsätzlich jedoch erweist sich unter o. g. Komfortkonstellation eine Investition in viele Kinder als effizient. (ii) Ein positiver Komfort-Saldo, resultierend aus einem hohen Nutzen bei gleichzeitig relativ hohen Kinderkosten, bedingt durch einen umfangreichen Investitionsbedarf in deren Qualität, erfordert eine modifizierte Hypothese bezüglich der Kinderzahl. Hohe Ausbildungsinvestitionen in Kinder, die sich nicht mit ansteigender Parität vermindern, werden angesichts der Umstrukturierung des türkischen Arbeitsmarktes notwendig, wenn eine Optimierung des langfristigen Versicherungsnutzens angestrebt werden wird. Bei steigender Konkurrenz auf einem von Ausdifferenzierung und Spezialisierung gekennzeichneten Arbeitsmarkt, erhöht eine fundierte Ausbildung der Nachkommen deren Einkommenschancen und somit den Versicherungsnutzen der Eltern. Die bestehenden Budgetrestriktionen setzen der Kinderzahl dann sehr viel eher eine Obergrenze, was aus der inversen Beziehung zwischen Kinderzahl und Kinderqualität hervorgeht. Steigende Kinderkosten in der Türkei lassen demnach einen Wechsel der Optimierungsstrategie des Komfortwertes von hoher zu mittlerer Quantität erwarten. Elterliche Investitionen werden nunmehr auf weniger Kinder mit höherer Ausstattung konzentriert. Trotz unterschiedlicher Grenzwerte, wird ein grundsätzlich positiver Effekt des Komfortwertes auf die Geburt der ersten drei Kinder erwartet.50 Ableitungen zur Optimierung sozialer Wertschätzung sind stärker kontextabhängig. Jeweils dominierende, fertilitätsrelevante Normen und Erwartungen legen fest, über welche Kinderzahl dieser Aspekt optimiert werden kann. Pronatalistische Vorstellungen legen die Geburt von (vielen) Kindern nahe, antinatalistische hingegen Kinderlosigkeit. Für die Türkei ist v. a. angesichts der Dominanz deszendenter Strukturen von einer positiven Beziehung zwischen diesem Wertebereich und der Kinderzahl auszugehen. Schwieriger wird die 50 Ob tatsächlich ein Wechsel der Optimierungsstrategie stattgefunden hat, könnte über die proxyVariable Stadt-Land geprüft werden, die deshalb als geeignet erscheint, als sich städtischer und ländlicher Arbeitsmarkt hinsichtlich o. g. Kriterien systematisch unterscheiden: In der Stadt ist eine Investition in die Qualifikation der Kinder zur Nutzung des Versicherungsnutzens wichtiger als auf dem Land. Dasselbe lässt sich für unterschiedliche Kohorten als Indikatoren historischer Veränderungen vermuten.
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Festlegung eines Schwellenwertes, auch mit Blick auf die Statuskomponente: „Statusgewinn kann ein Schwellenwert sein (durch die Geburt eines ersten Kindes oder eines Kindes mit einem bestimmten Geschlecht) oder kumulativ mit der Anzahl der geborenen Kinder steigen“ (Nauck 2001: 415). Mit Blick auf den Beitrag von Kindern zur Intensivierung und Etablierung sozialer Beziehungen wäre die Annahme eines Grenznutzens in den unteren Paritäten (max. 2 Kinder) zu veranschlagen: Es ist evident, dass diese Funktion keineswegs durch Kinderlosigkeit erfüllt werden kann, aber auch Kinder hoher Ordnungsnummern können kaum einen Mehrwert produzieren, nicht zuletzt weil jedes weitere Kind die verbleibende Zeit für die Pflege dieser signifikanten Beziehungen reduziert. Eine zusammengefasste Betrachtung der Optimierung von Komfort & Wertschätzung impliziert ohnehin einen Mitnahmeeffekt: Der Tendenz nach erweist sich Kinderreichtum für die Komfortproduktion rational. Teilweise sollte sich die Optimierung sozialer Wertschätzung hieran orientieren; unwahrscheinlich ist in jedem Fall, dass sich hierzu eine höhere Kinderzahl ableitet. Im Regelfall wird die vom Wertschätzungsaspekt implizierte Kinderzahl darunter liegen, was dazu führt, dass der erste Effekt (Komfort) den zweiten Effekt (Wertschätzung) überlagert. Bereits mit einer geringen Kinderzahl können Affekt & Stimulation optimiert werden, d. h. der Grenznutzen ist spätestens mit der Geburt des zweiten Kindes erreicht. „The emotional satisfaction of parenthood can be achieved most economically by having one or perhaps two children“ (van de Kaa 1987: 6). Kinderreichtum würde nicht nur keine weitere Nutzenproduktion erbringen, sondern sogar in eine negative Entwicklung umschlagen, da bei höheren Paritäten v. a. psychische Kosten sprunghaft ansteigen. Spätestens mit der Geburt eines dritten Kindes sinkt der Nettonutzen wieder. Demzufolge sollte sich bei Kontrolle der anderen Wertebereiche ab der dritten Parität ein negativer Einfluss von Affekt & Stimulation einstellen. Es werden die folgenden Hypothesen formuliert. Je höher der elterliche Komfort & Wertschätzungswert von Kindern: H31: … desto wahrscheinlicher eine Zweitgeburt und H32: ….desto wahrscheinlicher eine Drittgeburt. H33: Je höher der Beitrag von Kindern für elterlichen Affekt & Stimulation, desto geringer das Risiko einer Drittgeburt. Timing & Spacing. Komforterwartungen implizieren ein frühes Einsetzen der Geburtentätigkeit, da damit die Zeitspanne ihrer Verwertung vergrößert wird. Darüber hinaus wird eine zügige Abfolge der weiteren Geburten erwartet: Somit
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können die Komfortkosten pro Kind niedrig gehalten werden, wie etwa Arbeitsbelastung oder materielle Aufwendungen zur Kinderausstattung. Dieselbe Ableitung bezüglich der Erstgeburt ergibt sich für die soziale Wertschätzung: Nicht zuletzt um die in der Türkei effiziente und für Frauen zum Teil einzige Möglichkeit der Statuserhöhung zu maximieren und gleichzeitig ggf. negative Sanktionierungen zu stoppen, ist eine baldiger Übergang in die Elternschaft effizient. Wenn bereits eine geringe Kinderzahl zur maximalen Ausschöpfung des Affekt& Stimulationswertes führt, so ist die zeitliche Platzierung der wenigen Geburten besser planbar und kann, ohne allzu großes Risiko einer nicht mehr möglichen Realisierbarkeit (z. B. als Folge des Überschreitens der fruchtbaren Phase bei Frauen) in spätere Lebensphasen aufgeschoben werden. Zumindest ist keine sehr frühe Elternschaft zu erwarten, da sich die Kosten-Nutzen Bilanz dieses Wertes mit steigendem eher Alter der (potentiellen) Eltern, insbesondere der Mutter, verbessert – vornehmlich bedingt durch sinkende, indirekte Stimulationskosten. Zwischen den Geburten ist, mit Blick auf die geschwisterliche Beziehung, die positiv auf Affekt & Stimulation wirken sollte, ein eher kurzer Abstand zu erwarten. Je höher der Beitrag von Kindern für den elterlichen Komfort & Wertschätzung: H34: … desto früher findet die Erstgeburt statt und H35: ….desto schneller erfolgt die Zweitgeburt. Je höher der Beitrag von Kindern für elterlichen Affekt & Stimulation: H36: …desto später findet die Erstgeburt statt jedoch H37: …umso zügiger schließt sich die Zweit- an die Erstgeburt an. Geschlechterpräferenzen. Ebenfalls lassen sich Geschlechtspräferenzen bezüglich der Nachkommen ableiten. Unter der Bedingung patrilinearer Deszendenz sind Komfort- & Wertschätzungserwartungen hauptsächlich an die Söhne gerichtet: Über sie lässt sich effektiv der Status erhöhen und zudem werden sie stärker für die Versorgung ihrer Eltern verantwortlich gemacht, als sie in deren Abstammungslinie verbleiben. H38: Hohe Komfort- & Wertschätzungserwartungen forcieren eine Zweitgeburt, sofern das erste Kind ein Mädchen ist bzw. eine Drittgeburt, sofern die ersten beiden Kinder Mädchen sind. Der Affekt- & Stimulationswert von Kindern hingegen ist nicht grundsätzlich an das Geschlecht der Nachkommen gebunden, wenn auch erwartet wird, dass die
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Präferenz bezüglich des zweiten Kindes, entgegen gesetzt zum Geschlecht des Erstgeborenen ausfällt. Das ist damit zu begründen, dass hierdurch eine zweite Facette dieses Wertes bedient und dieser somit optimiert wird. Eintretenswahrscheinlichkeiten, Kontrollvariablen und situative Umstände. Die Wirksamkeit unterschiedlicher Eintretenswahrscheinlichkeiten des VOC wird an Hand der Unterscheidung kurz- und langfristiger Erwartungen geprüft. Entsprechend der theoretischen Darlegung kommt ihnen unabhängig von der Wertedimension ein unterschiedliches Ausmaß an Verhaltensrelevanz zu. Kurzfristig erwartete Konsequenzen sind nicht nur besser in ihrer Realisierbarkeit abzuschätzen, sie stehen zudem stärker im Vordergrund als Handlungskonsequenzen, deren Eintreten erst in weiter Ferne erwartet wird. Deshalb sollten Erstere im Vergleich zu Letzteren einen stärkeren Einfluss auf das generative Verhalten ausüben. Darüber hinaus wird die Verwirklichung einer generativen Motivation durch die (fehlende) Kontrolle über das bevorzugte, generative Verhalten vermittelt, ebenso wie situative, zumeist zeitlich begrenzt wirkende Umstände die Verhaltensrealisierung prägen. H39: Der Einfluss kurzfristiger Werte von Kindern auf die Fertilität übersteigt den Einfluss langfristig erwarteter Werte. H40: Fehlende Verhaltenskontrolle sowie externe Barrieren oder Anreize reduzieren die Erklärungskraft der Werte von Kindern. 6.3 Pfadmodell: Der Wert von Kindern als Mediator Sofern sich die Hypothesen bezüglich der Einzelerklärungen belegen lassen, soll weiterführend überprüft werden, ob das VOC-Konzept im Gesamtmodell seine vermittelnde Position behaupten kann (vgl. Abb. 15). Verläuft der Einfluss der diversen Handlungsrahmenbedingungen auf das Fertilitätsverhalten wie behauptet zum Großteil indirekt über den Wert von Kindern oder sind möglicherweise bestehende, unmittelbare Zusammenhänge zwischen beiden Komponenten stärker als der indirekte Pfad bzw. zumindest ähnlich bedeutsam? An Hand entsprechender Strukturgleichungsmodelle ist folgende Hypothese zu beurteilen: H41: Im vollständigen Modell übersteigen die indirekten Effekte der relevanten Handlungsrahmenbedingungen auf das generative Verhalten deren direkte Effekte.
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6.4 Alternativmodell: Kalkulation oder Routine Die Erweiterung des Grundmodells der Erklärung behauptet den Vorrang kulturell geformter, generativer Handlungsabläufe vor dem rationalen Modus aktiver Kalkulation des VOC sowie des darauf abgestimmten, generativen Verhaltens. Lediglich unter bestimmten Bedingungen ist ein Abweichen vom automatischen Ausführen generativer Routinelösungen zu erwarten. Notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung für das Verfolgen einer Handlungsroutine, ist deren Existenz. Fehlt diese oder ist die Motivation gegeben, Vor- und Nachteile der Geburt eines (nächsten) Kindes zu erfassen und abzuwägen, ist ihre Übernahme unmöglich oder unwahrscheinlich. Für welche historischen Konstellationen, welche Bevölkerungssegmente oder individuelle Akteure ist nun welcher Weg der Handlungswahl wahrscheinlich? Generationenunterschiede. Ausgangspunkt der folgenden Argumentation ist die Annahme einer Handlungsroutine in den älteren Geburtskohorten, die die Geburt vieler Kinder empfiehlt. Diese Vermutung wird durch die oben aufgestellten Brücken- sowie Handlungshypothesen begründet, in Verbindung mit der Annahme einer größeren Homogenität der Rahmenbedingungen bis zur Staatsgründung. Demnach sollten historisch gewachsene, pro-natalistische Handlungsroutinen bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts starke Handlungsrelevanz genossen haben, auch wenn in dieser Zeit bereits die ersten Reformen Einzug gehalten haben: Kulturelle Handlungsroutinen sind träger als individuelle Kalkulationen und reagieren mit größerer Zeitverzögerung auf einen Wandel der Rahmenbedingungen. Aus historisch-vergleichender Perspektive ist weiterhin zu erwarten, dass auf Grund der im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung gestiegenen Kosten von Kindern die Motivation zu rationaler Kalkulation gestiegen ist. In älteren Geburtskohorten stellt demnach die Fertilitätsbiographie mit höherer Wahrscheinlichkeit das Resultat der Übernahme von Routinelösungen dar, als in jüngeren Geburtkohorten. Letztere können zudem vor dem Hintergrund heterogener Lebensumstände eine Gewinnsteigerung durch eine situationsspezifische Kalkulation erwarten. Traditionelle Routinelösungen zum Gebärverhalten haben, bedingt durch die institutionellen Umwälzungen in der Türkei der letzten Jahrzehnte, an umfassender Verlässlichkeit eingebüßt und bieten kaum mehr konsistente Lösungsstrategien. Hieraus resultiert eine Wahrnehmung von gesteigerter Suboptimalität generativer Routinen, was die Bevorzugung rationaler Kalkulation der generativen Verhaltensstrategie motiviert – und das trotz der höheren Kosten dieses Verfahrens. Der erwartete Gewinn rechtfertigt den Mehraufwand an Entscheidungskosten, weshalb folgende Hypothese formuliert wird:
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H51: Je jünger die Geburtskohorte, desto wahrscheinlicher ist der rationale Modus der Entscheidungsfindung gegenüber der Ausführung einer generativen Routinelösung. Urbanisierung und Migration. Ein nächstes Kriterium, das sowohl auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene als auch innerhalb der Türkei mit Bezug auf den kleinräumlichen Kontext greift, ist der Grad der Ausdifferenzierung: Bezüglich sozio-struktureller und ökonomischer Parameter homogene Kontexte werden mit höherer Wahrscheinlichkeit über allgemein geteilte, generative Routinen verfügen als ausdifferenzierte Kontexte.51 Folglich werden Stadt-Land sowie Ost-West Unterschiede erwartet: Abgesehen von einer hohen Abwanderung sind die ländlich-agrarisch geprägten Gebiete in der Türkei bisher in geringerem Umfang vom gesellschaftlichen Modernisierungsprozess erfasst, als die expandierenden, von Zuwanderern aus allen Teilen des Landes geprägten Städte. Staatliche Reformen und Neuerungen auf verschiedenen Ebenen wurden und werden hier viel schneller und umfassender umgesetzt, als in den entlegenen, v. a. östlichen Gebieten der Türkei. Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichster Ressourcenausstattung, kulturellen und religiösen Hintergründen treffen in der Stadt aufeinander. Als Folge der historischen Umbrüche und der durch die Migration hervorgerufenen Vermischung ungleicher sozialer Kreise, existieren derzeit in der Türkei mit geringerer Wahrscheinlichkeit einheitliche und allgemein bewährte Routinelösungen für die Geburt von Kindern als noch zu Beginn der Staatsgründung. Das trifft für die Türkei im Allgemeinen zu, jedoch in noch viel stärkerem Maße für die türkischen Städte im Besonderen. Hieraus lässt sich eine höhere Motivation zur rationalen Kalkulation in heterogenen und damit urbanen Kontexten ableiten, da hier die Anwendung einer ohnehin mit geringer Wahrscheinlichkeit existierenden Routine das Risiko einer suboptimalen Handlungsalternative erhöht. Hinzu kommen die grundsätzlich höheren (Opportunitäten-) Kosten in der Stadt, die ebenfalls zur Steigerung der Motivation beitragen. In der ländlichen Türkei hingegen sind die sozialen Netzwerke geschlossener und homogener, was gleichzeitig mit dem Vorliegen deutlich definierter, historisch entwickelter sowie bewährter Handlungsabläufe einhergeht: Es scheint begründet, dass die Übernahme dieser kostensparenden Strategie weitgehend den vorliegenden Situationsbedingungen angemessen ist. Ein aufwendiges Abwägen verspricht kaum eine substantielle Gewinnsteigerung. Außerdem würden die Kosten einer Fehl- oder suboptimalen Lösung nur unerheblich ins Gewicht fallen: Selbst wenn strukturelle Veränderungen den tatsächlichen Nutzen der geborenen Kinder reduziert haben, sollte sich die endgültige Kosten-Nutzen51
Möglicherweise ließe sich somit die ökonomische Sichtweise integrieren, nach der erst in modernen Gesellschaften von einem rationalen Entscheidungsprozess ausgegangen wird.
154
6 Hypothesen
Bilanz nicht derart ins Negative verkehren, dass den Eltern im Fall der Geburt von zu vielen Kindern außerordentlich hohe Kosten entstehen. Da für ländliche Gebiete die Kosten pro Kind als vergleichsweise gering angenommen werden, stellt sich das Risiko der Übernahme einer suboptimalen Verhaltensstrategie als weniger prekär dar. Eine explizite Kosten-Nutzen Kalkulation ist demnach für die städtische Population wahrscheinlicher. Hingegen sollte die Landbevölkerung mehrheitlich einer Routine folgen, nicht zuletzt deshalb, weil eine solche hier mit größerer Wahrscheinlichkeit vorzufinden ist. In diesem Zusammenhang kommt der Gruppe der Stadt-Land Migranten insofern eine interessante Rolle zu, als sie einen Wechsel der Handlungsrahmenbedingungen erfahren haben. Mit der Wanderung werden erlernte, kontextgebundene Handlungsmuster nichtig bzw. treten (berechtigte) Zweifel an deren Richtigkeit im neuen Kontext auf. Es werden folgende Hypothesen formuliert: H52: In der Stadt ist der rationale Modus der Entscheidungsfindung wahrscheinlicher als im ländlichen Kontext. H53: Migranten zwischen Stadt und Land folgen mit höherer Wahrscheinlichkeit der rationalen Kalkulation als dauerhaft Immobile. Abweichende Ressourcenausstattung. Selbst wenn handlungsrelevante Routinen existieren, erhöhen individuelle Besonderheiten das Risiko (und Ausmaß) eines mismatch bzw. einer suboptimalen Handlungswahl. Fertilitätsrelevante Attribute des Akteurs, die vom Durchschnitt der Personen seines signifikanten Netzwerkes erheblich abweichen, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass eine darin geteilte Routine zu einem suboptimalen Ergebnis führt. Gleichzeitig ergibt sich die Chance eines individuellen Gewinnzuwachses durch eine auf die individuelle Situation abgestimmte Kalkulation. Insbesondere der Ausstattung mit sozioökonomischem Kapital sollte hier eine entscheidende Rolle zukommen. Zudem steigen mit derlei Ressourcen die Kosten der unterstellten pro-natalistischen Handlungslösung. Die Ausführungen hierzu münden in eine letzte Hypothese: H54: Bezüglich der Ressourcenausstattung vom Umfeld abweichende Personen entscheiden mit höherer Wahrscheinlichkeit nach dem rationalen Modus als diesbezüglich durchschnittliche Personen. Im empirischen Teil der Arbeit werden beide Modelle unter Verwendung der türkischen Daten der VOC-Replikationsstudie 2002 gegenübergestellt.
7 Daten, Methode und Instrumente
7.1 Erhebungsdesign und Stichprobe Datenbasis für die empirische Überprüfung des Erklärungsmodells bildet die türkische Unterstichprobe der internationalen Value-of-Children (VOC) Replikationsstudie (vgl. Trommsdorff & Nauck 2005). Im Jahr 2002 wurden in verschiedenen Generationen und räumlichen Kontexten standardisierte Interviews durchgeführt. Der Fokus lag auf der Befragung von Müttern in unterschiedlichen Phasen des Familienzyklus, womit allerdings zwei Einschränkungen verbunden sind: Einerseits findet auf diese Weise lediglich (i) die weibliche Perspektive Berücksichtigung. Zumindest ist das insofern unproblematisch, als eine explizite Betrachtung von Männern sowie Aushandlungsprozesse zwischen Partnern im theoretischen Modell nicht vorgesehen und die Hypothesen auf Frauen zugeschnitten sind. Andererseits ergibt sich aus (ii) der ausschließlichen Verfügbarkeit von Müttern eine wirkliche Beschränkung der empirischen Prüfung, da der Übergang zur Mutterschaft lediglich mit Blick auf seine zeitliche Einbettung hin untersucht werden kann. Auch das wurde bereits bei der Hypothesenformulierung berücksichtigt. Das Stichprobendesign sowie die in der Türkei realisierten Fallzahlen können der Tabelle 10 entnommen werden. Tabelle 10: Erhebungsdesign Städtisch: Istanbul
Ländlich: Westtürkei
Ländlich: Osttürkei
213
43
58
314
201
44
63
308
Jugendliche
201
46
63
310
Großmütter mütterlicherseits
66
10
20
96
Gesamt
681
143
204
1028
Generation Junge Mütter: Ältestes Kind zwischen 2 & 5 Jahren Mütter mit jugendlichem Kind zwischen 14 & 17
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002.
156
7 Daten, Methode und Instrumente
In der jüngsten Müttergeneration finden sich 314 Frauen, deren ältestes Kind zwischen zwei und fünf Jahren alt ist. Hinzu kommen 308 Mütter mit mindestens einem Kind im Alter von 14 bis 17 Jahren.52 Über sie wurde der Zugang zu eben diesen Jugendlichen geschaffen, die unabhängig vom Geschlecht anschließend ebenfalls schriftlich befragt wurden. Somit konnten generativ miteinander verbundene Dyaden realisiert werden (N= 308). Ein Teil hiervon wurde durch die zusätzliche Erfassung von 96 Großmüttern mütterlicherseits zu Triaden komplettiert. Der Zugang zu den Probanden erfolgte stets über die Mütter: Neben den Kriterien bezüglich Alter und Zahl vorhandener Kinder, sollten sie mit einem Partner einen gemeinsamen Haushalt bewohnen. In Istanbul erfolgte die Rekrutierung über Wohnquartiere; die beiden ländlichen Stichproben basieren auf annähernden Vollerhebungen innerhalb kleiner Dörfer. Generationenübergreifend setzt sich das Frageprogramm überwiegend aus ausgewählten entwicklungspsychologischen sowie familienbezogenen Themen (v. a. Werte, Struktur, Ausgestaltung intergenerationaler Beziehungen, Familienbildung) zusammen, die durch sozio-ökonomische und sozio-demographische Fragen ergänzt sind. Die Jugendlichen finden für die weiteren Analysen keine Verwendung, da für sie, neben den Informationen zum reproduktiven Verhalten weitere zentrale Variablen auf Grund ihrer Stellung im Lebenslauf (noch) nicht verfügbar sind. Es verbleibt ein Datensatz von 718 Frauen, die drei Gruppen von Müttern abbilden.53 Die Tabelle 11 bietet die zentralen Eckdaten dieser Stichprobe. Die drei, über ihre Position im Familienzyklus definierten Unterstichproben von Müttern, decken weitgehend unterschiedliche Geburtskohorten ab, wobei zwischen den alten Müttern und den Großmüttern eine größere Zeitspanne liegt als zwischen beiden Müttergenerationen. Die Großmütter sind mehrheitlich zwischen 1920 und 1950 geboren (96%), die alten Mütter zwischen 1950 und 1970 (93%) und die jungen Mütter zwischen 1960 und 1980 (94%).
52
Beide Müttergenerationen werden im weiteren Verlauf vereinfacht als junge Mütter und alte Mütter bezeichnet, wenngleich das nicht ganz korrekt ist, als die Zuordnung an Hand des Alters der Kinder erfolgte. 53 Dass die Großmütter nicht unabhängig von den Müttern rekrutiert wurden, stellt sich für die folgende Verwendung der Daten als etwas ungünstig dar, denn jede Befragte soll als Einzelfall in die Berechnungen einfließen. Um die Bedingung der Unabhängigkeit der Unterstichproben zu erfüllen, gleichzeitig jedoch zumindest die ältesten Kohorten zu erhalten (da sie für die Analyse des Wandels besonders wertvoll sind), ließen sich für alle Großmütter die entsprechenden Töchter (alte Mütter) ausschließen. Das würde gleichwohl den Verlust von 96 Fällen bedeuten, was insbesondere bei differnzierten Tests stark ins Gewicht fallen würde. Deshalb wird hierauf verzichtet, dennoch ist die eingeschränkte direkte Vergleichbarkeit der Großmütter und der alten Mütter im Hinterkopf zu behalten.
7 Daten, Methode und Instrumente
157
Tabelle 11: Stichprobenbeschreibung Merkmale Alter Mittelwert
Junge Mütter
Alte Mütter
Großmütter
31
40
65
19/ 46
28/ 64
47/ 82
Mittelwert
1,8
2,6
4,3
Minimum/ Maximum
1/ 8
1/ 8
1/ 10
1 Kind
48
11
5
2 Kinder
40
47
15
3 Kinder
7
28
17
Minimum/ Maximum Kinderzahl
5
13
64
Familienstand: Anteil Verheirateter
4+ Kinder
100
100
54
Städtischer Anteil
68
65
66
Religion: Anteil Moslems
95
94
98
Mittlere Anzahl der Schuljahre
9
9
5
Keine Schulbildung, kein Abschluss
6
12
52
Bildung
Gering: Grundschulabschluss
41
44
27
Mittel: Sekundarabschluss
31
28
20
Tertiärer Schulabschluss
21
16
1
Anteil: Befragungszeitpunkt
36
34
8
Anteil: bei Heirat
40
30
18
Erwerbstätigkeit
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002.
Eine Betrachtung der durchschnittlichen Zahl der von den Frauen bis zum Erhebungszeitpunkt geborenen Kinder deutet darauf hin, dass sich der gesamtgesellschaftliche Wandel hin zu kleineren Kinderzahlen auch in der vorliegenden Stichprobe wieder findet, wenngleich das auf Grund der Altersabhängigkeit der Kinderzahl nicht als verlässlicher Beleg gewertet werden kann: Während die Großmütter als eine Konsequenz ihres höheren Alters ihre reproduktive Phase bereits abgeschlossen haben, steht den Müttern, je nach Alter, noch mehr oder
158
7 Daten, Methode und Instrumente
weniger Zeit für die Geburt weiterer Kinder zur Verfügung. Der Stichprobenanlage folgend, sind alle Mütter zum Zeitpunkt der Erhebung verheiratet, was ebenfalls auf etwa die Hälfte der Großmütter zutrifft, die zweite Hälfte ist beinahe durchweg verwitwet. In allen drei Mütterstichproben betragen die Anteile der Geschiedenen bzw. Wiederverheirateten zwischen 1% und 2%. Für diese Frauen sind Besonderheiten ihrer Fertilitätsbiographie insofern zu erwarten, als das prognostizierte Verhältnis zwischen VOC und generativem Verhalten gestört ist, etwa weil die Scheidung Folge eines nicht erfüllten Kinderwunsches gewesen ist oder weil erneute Heirat die Geburt zusätzlicher Kinder auslöst, die im Falle des Bestandes der Erstehe möglicherweise nicht geboren worden wären. Wenn auch angesichts der sehr geringen Anteile kaum wesentliche Verzerrungen der Analysen zu erwarten sind, werden sowohl Geschiedene als auch mehrfach Verheiratete ausgeschlossen. Diese Entscheidung wird bezüglich der wiederverheirateten Frauen dadurch ermutigt, dass sich einige der später verwendeten Variablen am Zeitpunkt der letzten Heirat orientieren (Erwerbstätigkeit, Wohnort) und die Verwendung eben dieser Informationen einen ausdrücklichen Bezug zur Erstheirat unterstellt. Dieser Ausschluss verringert die Zahl der zur Verfügung stehenden Fälle auf 701. Die Anteile städtischer Probanden sind in allen Generationen in etwa gleich, was für die beiden Müttergenerationen zwangsläufig aus der Stichprobenanlage folgt und bei dem gewählten Verfahren der Rekrutierung der Großmütter auch für sie so zu erwarten war: Jeweils etwa zwei Drittel wurden in der Stadt erhoben. Nahezu alle befragten Frauen bekennen sich zum islamischen Glauben, was der allgemeinen Verteilung in der Türkei entspricht. Die Stichproben spiegeln zudem sehr deutlich die auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vollzogenen Veränderungen im Bildungswesen wider, indem die Bildungsbeteiligung über die Generationen hinweg ansteigt: Während noch mehr als die Hälfte der Frauen der Großmüttergeneration keinerlei Bildung genießen konnte (52%), reduzieren sich diese Anteile auf 12% (alte Mütter) bzw. 6% (junge Mütter). Gleichgerichtet dazu gestalten sich die Anteile in der höchsten Bildungsgruppe: 21% der jüngsten Müttergeneration können einen Universitätsabschluss oder einen Postgraduiertenabschluss vorweisen, immerhin noch 16% der alten Mütter, lediglich 1% der Großmütter. Jeweils ca. ein Drittel der jungen und alten Mütter gehen zum Befragungszeitpunkt einer Erwerbstätigkeit nach im Vergleich zu 8% der Großmütter. Wenig aussagekräftig ist diese Variable aber insofern, als sie stark von der jeweiligen Lebens- bzw. Familienphase abhängt. Nicht zuletzt mit Blick auf Hinweise möglicher Veränderungen über die drei Generationen hinweg wird deshalb die Erwerbssituation zum Zeitpunkt der Heirat hinzugezogen. Hier zeichnet sich nun eine Tendenz ab, wonach Frauen zumindest bis zu ihrer Heirat und
7 Daten, Methode und Instrumente
159
damit typischerweise noch vor der Familiengründung zunehmend erwerbstätig sind: 40% der jungen Mütter, 20% der alten Mütter und 18% der heutigen Großmütter. Damit lässt sich über die Gruppen von Müttern hinweg, in Verbindung mit dem sich abzeichnenden Bildungsgewinn ein Anstieg ihrer individuellverfügbaren Ressourcen festhalten. Aus der Kombination mit der systematischen regionalen (Stadt vs. Land, Ost- vs. Westtürkei) als auch historischen Variation (Generationen) ergeben sich vielfältige Rahmenbedingungen, die sich über entsprechende Variationen der Werte von Kindern in unterschiedlichen generativen Strategien niederschlagen müssten. 7.2 Methodische Vorbemerkungen Die Gewinnung der VOC-Daten verfolgte primär das Ziel die Bedeutung und Funktionsweise des Wertes von Kindern zu untersuchen, weshalb sie in besonderer Weise für die empirische Umsetzung der theoretischen Modelle geeignet sind. Das betrifft v. a. die hierfür notwendigen Informationen und Konstrukte. Eine stichprobenbedingte Einschränkung ergibt allerdings aus der bereits erwähnten Tatsache, dass nur Frauen befragt wurden, die bereits eine positive generative Entscheidung getroffen haben. Somit können spezifische Ursachen von Kinderlosigkeit nicht empirisch getestet werden: Das generelle Risiko des Übergangs zu Mutterschaft in Abhängigkeit von der VOC-Kombination kann nicht untersucht werden; zumindest aber lassen sich Timingeffekte für die Geburt des ersten Kindes prüfen. Überdies handelt es sich um Querschnittsdaten, die die üblichen methodischen Schwierigkeiten mit sich bringen, was sich für die vorliegende Untersuchung in zwei Punkten niederschlägt: (1) Das Erklärungsinteresse richtet sich auf eine begrenzt zeitveränderliche Variable: Sofern sich die Stichprobe nicht ausschließlich aus Frauen zusammensetzt, die ihre reproduktive Phase abgeschlossen haben, stellt das zum Messzeitpunkt festgestellte Fertilitätsresultat nicht notwendigerweise das endgültige Ergebnis dar. Entscheidend sind demnach eine angemessene Abbildung sowie eine darauf ausgerichtete statistische Verarbeitung der vorliegenden Informationen. Die retrospektive Erfassung der Fertilitätsbiographie der Befragten liefert zumindest ereignisbezogene Daten, mittels derer die bisherige generative Strategie rekonstruiert werden kann. Neben der Anzahl sind auch die Zeitpunkte der einzelnen Geburten erfasst. Die empirische Auswertung wird weitgehend ereignisanalytisch vorgenommen, womit der Tatsache Rechung getragen wird, dass auf Grund des Alters der Befragten noch weitere Geburten möglich sind. Darüber hinaus erfolgt eine paritätenspezifische Modellierung, was der theoretischen Konzeptualisierung sowie
160
7 Daten, Methode und Instrumente
der Hypothesenformulierung besonders Genüge trägt. Die einzelnen Geburten werden in Abhängigkeit vom Alter (oder einer alternativen Zeitvariable) sowie der Ausgestaltung des Wertes von Kindern geschätzt. (2) Weniger elegant und zufrieden stellend lässt sich diese Problematik für die anderen Konstrukte und Variablen des Modells lösen: Der paritätenspezifischen Modellierung auf der generativen Verhaltensebene kann keine ebensolche Modellierung der VOCs gegenübergestellt werden. Die Werte von Kindern liegen lediglich retrospektiv, bezogen auf die Gesamtheit aller geborenen Kinder vor und damit nicht separat für jede der generativen Entscheidungssituationen,54 was ungünstig auf die unterstellte Kausalität zwischen den Erklärungskomponenten wirkt. Zudem leidet die Zuverlässigkeit und Vorhersagekraft des Modells hierunter: Entsprechend der theoretischen Konzeptualisierung können die einzelnen Wertekomponenten in ihrer Bedeutung je nach Parität variieren, d. h. vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen mit bereits geborenen Kindern, sich verändernder Rahmenbedingungen sowie als Folge unterschiedlicher Grenznutzen. Unabhängig von dieser inhaltlichen Beschneidung des Modells sind methodische Bedenken anzumelden, wenn man der von Ajzen & Fishbein (1980) formulierten Korrespondenzhypothese Beachtung schenkt: Mit Blick auf die Beziehung zwischen Einstellung und Verhalten sollte der Spezifikationsgrad der Messung beider Konzepte übereinstimmen, um somit die Stärke des Zusammenhangs zu erhöhen. Diese Anforderung kann auf das vorliegende Modell übertragen werden, wenngleich der VOC weniger eine Einstellung repräsentiert als vielmehr einen Indikator der Entscheidungssituation darstellt. Berücksichtigung kann das Kriterium der Korrespondenz auf Grund der pauschalen, paritätenübergreifenden Erfassung des VOC aber nicht finden. Dieselbe Problematik ergibt sich auch für die Modellierung von Kausalzusammenhängen zwischen den unabhängigen Variablen der Entscheidungssituation und dem VOC. Für die in diesem Zusammenhang relevanten Lebensbereiche der Ausbildungs- und Erwerbsbiographie liegen ebenfalls keine Verlaufsdaten vor. Hieraus ergeben sich Nachteile analog zur fehlenden Korrespondenz zwischen dem VOC und dem generativen Verhalten.55 Zur Milderung dieses Datenproblems werden in den Analysen vorzugsweise Variablen verwendet, von denen angenommen wird, dass sie bereits zum Zeitpunkt der Erstgeburt ihre potentielle Wirksamkeit 54
Auch wenn derartiges Datenmaterial wünschenswert ist, wäre es retrospektiv ohnehin nicht zu realisieren gewesen, v. a. weil es sich hierbei nicht um einen ‚harten’ Fakt wie ein Geburtsdatum handelt, sondern um eine subjektive Wahrnehmung. Ein begleitender Längsschnitt wäre hierfür das ideale Erhebungsverfahren. 55 Allerdings beschränken sie sich auf zeitveränderliche Individualmerkmale wie v. a. Bildungsniveau und Erwerbstätigkeit. Veränderungen der kontextuellen Merkmale werden ohnehin nur über die Formulierung nicht unmittelbar empirisch prüfbarer Brückenhypothesen und unter Verwendung aggregierter Indizes berücksichtigt.
7 Daten, Methode und Instrumente
161
erlangt haben können und/oder sich durch eine hohe zeitliche Stabilität auszeichnen. Relevante Erhebungsinstrumente und daraus generierte Indizes werden im Folgenden vorgestellt, woraus gleichzeitig hervorgeht, wie die theoretischen Konzepte operationalisiert wurden. 7.3 Instrumente und Indizes Individuelles Fertilitätsverhalten Die retrospektive Erfassung der individuellen Fertilitätsbiographie bietet für alle Kinder der Befragten zentrale Informationen, von denen insbesondere das Geburtsdatum, das Geschlecht und die biologische Stellung zur Mutter relevant sind. Somit können die in den Hypothesen angesprochenen Aspekte des reproduktiven Verhaltens empirisch abgebildet werden, d. h. konkret: die bis zum Befragungszeitpunkt realisierte Kinderzahl, die zeitliche Einordnung der Geburten im Lebenslauf, deren Abstand sowie das Geschlecht bzw. die Geschlechterkombination geborener Kinder. Da entsprechend der Untersuchungsanlage für einen Großteil der Mütter lediglich eine aktuelle, allerdings keine abgeschlossene Fertilitätsbiographie zur Verfügung steht, wird, wie soeben besprochen, auf die Methode der Ereignisdatenanalyse zurückgegriffen. Trotz der monatsgenauen Erfassung des Alters der Mutter sowie der Geburt ihrer Kinder basiert die Generierung der hierfür benötigten Zeitvariablen auf Jahresangaben, um Ausfälle, bedingt durch den nicht unerheblichen Anteil fehlender Werte bei den Monatsangaben zu vermeiden. Neben dem Alter der Mutter zum Zeitpunkt der jeweiligen Geburten, wird zudem die zeitliche Distanz zwischen den familienbezogenen Ereignissen herangezogen. Nicht-leibliche Kinder werden aus den Berechnungen ausgeschlossen. Die ereignisanalytische Modellierung erfolgt für die graphische Darstellung der Verläufe nicht-parametrisch. Für die Schätzung von Koeffizienten in Abhängigkeit von den VOCs wird auf das generalisierte log-logistische Modell zurückgegriffen, welches die Trennung von Timing- und Niveaueffekten realisiert (vgl. Kap. 2) und somit die Prüfung der entsprechend differenziert formulierten Hypothesen ermöglicht. Für die Untersuchung des Übergangs zur Mutterschaft genügen ein Indikator zum Erstgebäralter sowie die Modellierung an Hand eines statischen Regressionsmodells. Die Berechnungen erfolgen unter Verwendung der Statistiksoftware SPSS sowie TDA (Rohwer & Pötter 2005). Für die Prüfung der Relevanz des VOC als Vermittlerkonstrukt im Gesamtmodell ist ein Pfadmodell zu spezifizieren und empirisch umzusetzen. Daraus ergeben sich besondere Anforderungen an die Beschaffenheit der Indikato-
162
7 Daten, Methode und Instrumente
ren, denen die Informationen zur Zweit- und Drittgeburt wegen ihrer Rechtszensierung nicht Genüge tragen können. Deshalb bleibt dieser Test auf die Untersuchung der zeitlichen Realisierung der Erstgeburt beschränkt, indem das Erstheiratsalter als metrische abhängige Variable im Strukturgleichungsverfahren Anwendung findet. Daneben werden die ebenfalls metrischen VOC-Indikatoren sowie die unabhängigen Variablen aufgenommen. Die Schätzungen erfolgen an Hand des Statistikprogramms AMOS (Arbuckle 1997). Werte von Kindern Die Operationalisierung der Werte von Kindern erfolgte über zwei Fragebatterien, zur Erfassung der Nutzen- sowie der Kostenaspekte. Zu jedem der einzelnen Gründe die für oder gegen die Geburt eines (weiteren) Kindes sprechen, sollte die Befragte an Hand einer fünf-stufigen Likert-Skala angeben, wie wichtig die jeweiligen Aspekte bei ihrer persönlichen Fertilitätsentscheidung gewesen sind. Die Formulierung der Eingangsfrage verweist darauf, dass sich die VOCs (i) auf vergangene Entscheidungssituationen beziehen und (ii) subjektiver Art sind, d. h. keine allgemeinen Vorstellungen von Nutzen und Kosten von Kinder widerspiegeln (sollten):56 Ich habe hier eine Liste von Gründen, warum Menschen im Allgemeinen (keine) Kinder haben wollen. Denken Sie an Ihre eigene Erfahrung mit Ihren eigenen Kindern/Ihrem eigenen Kind und teilen Sie mir bitte anhand dieser Skala mit, wie wichtig diese Gründe (keine Kinder zu wollen) für den Kinderwunsch für Sie persönlich sind.
In die Berechnungen gehen zwei jeweils reduzierte Itembatterien ein, was einerseits damit zu begründen ist, dass in den unterschiedlichen Generationen angesichts der fehlenden Relevanz infolge des ungleichen Alters bzw. der unterschiedlichen Positionierung im Familienzyklus, teilweise spezifische Items zum Einsatz gekommen sind. Andererseits wird der generationenübergreifende Itemsatz nochmals um irrelevante oder als problematisch erachtete Items reduziert.57 56
Das ist zumindest die Intention der Frage gewesen bzw. werden die nachfolgend berechneten VOC-Indikatoren in diesem Sinne verwendet und interpretiert. Dass die Messfehler insbesondere bei derlei Konstrukten zur subjektiven Wahrnehmung recht hoch ausfallen, muss in Kauf genommen werden. 57 Die beiden vorgegebenen Gründe, ‚um einen (weiteren) Jungen/ ein Mädchen zu bekommen’ werden als problematisch eingestuft: Einerseits wird mit diesen beiden Items die Eingangsfrage nach den Gründen für ein (weiteres) Kind mit demselben, lediglich nach dem Geschlecht konkretisierten Stimulus (nämlich ‚Kind’) beantwortet, womit sich eine zirkuläre Ursachenzuschreibung andeutet.
7 Daten, Methode und Instrumente
163
Tabelle 12 zeigt den verbleibenden Satz der anfänglich 27 Nutzen- und 21 Kostenitems. Er ist Ausgangspunkt für die VOC-Indikatoren, deren Generierung allerdings von der Dimensionierung des Wertes von Kindern abhängt. Hypothesen zur Struktur wurden aufgestellt, sind jedoch zunächst empirisch zu belegen. Deshalb werden die VOC-Indikatoren im Ergebnisteil dieser Arbeit präsentiert (vgl. Kap. 8). Tabelle 12: Deskription der VOC-Items Items: Nutzen
MV
Mean
Std
Skew
Kurt
Weil ein Kind im Haushalt hilft
0,0
2,3
1,4
0,8
-0,8
0,1
3,5
1,3
-0,7
-0,6
0,1
2,9
1,5
0,1
-1,5
0,1
2,6
1,4
0,4
-1,3
0,6
3,8
1,1
-1,0
0,3
0,0
3,0
1,4
-0,1
-1,3
0,0
4,6
0,7
-2,0
5,1
0,6
4,7
0,6
-1,9
4,9
0,0
4,4
0,8
-1,8
3,5
0,0
3,1
1,5
-0,1
-1,4
0,7
3,5
1,3
-0,6
-0,9
0,7
4,2
0,9
-1,3
2,2
Weil neues Familienmitglied die Familie bedeutsamer macht Weil ein Kind Ihren Partner und Sie näher zusammenbringt Weil Kind mehr Grund dafür gibt, im Beruf erfolgreich zu sein Kind erhöht das Verantwortungsgefühl/ hilft, sich zu entwickeln Weil Kind Kontakte/ Austausch mit Verwandtschaft intensiviert Weil es Spaß macht, kleine Kinder im Haus zu haben Wegen der Befriedigung, eigene Kinder aufwachsen zu sehen Wegen speziellem Gefühl der Liebe zwischen Eltern und Kind Weil Elternschaft Stellung/ Ruf in der Verwandtschaft verbessert Weil man mit Kindern im Alter seltener einsam ist Aufziehen von Kindern hilft, über das Leben/ sich zu lernen
Andererseits wird vermutet, dass die Beantwortung vom Geschlecht bereits geborener Kinder beeinflusst ist. Weitere Items werden ausgeschlossen, da sie keine individuelle Motivation für oder gegen Kinder abbilden, vielmehr äußere Rahmenbedingungen, die jenseits des VOC-Konzeptes an anderer Stelle des Modells in Form von externen Anreizen oder Barrieren in das Modell einfließen. Schließlich bleibt das Item ‚weil Großfamilien in der Gesellschaft nicht so anerkannt sind’ unberücksichtigt, da es auf eine hohe Kinderzahl bezogen ist und somit nur für einen Teil der Befragten relevant ist.
164 Items: Nutzen
7 Daten, Methode und Instrumente MV
Mean
Std
Skew
Kurt
0,6
2,9
1,4
0,1
-1,3
0,6
3,7
1,2
-0,9
0,0
0,4
3,0
1,5
0,0
-1,5
1,0
2,1
1,3
0,9
-0,4
0,7
3,9
1,1
-1,1
0,6
Weil Ihr Glauben verlangt, Kinder zu haben
0,9
2,0
1,2
1,1
0,2
Weil die Kinder helfen können, wenn Sie alt sind
0,3
2,8
1,4
0,1
-1,4
Items: Kosten
MV
Mean
Std
Skew
Kurt
0,7
2,3
1,3
0,6
-0,8
0,9
2,8
1,3
0,1
-1,2
0,7
2,9
1,3
-0,1
-1,1
0,9
2,7
1,3
0,2
-1,2
0,9
2,9
1,3
0,1
-1,2
2,3
3,8
1,3
-0,4
2,2
1,0
3,4
1,3
-0,5
-0,9
1,0
2,5
1,3
0,4
-1,0
0,9
2,0
1,1
1,0
0,1
1,1
1,6
1,0
2,0
3,4
Weil Sie durch ein Kind neue Freunde finden können Weil Ihr Leben durch Ihre Kinder fortgesetzt wird Um den Familiennamen fortzuführen Um eine weitere Person zu haben, die der Familie finanziell hilft Jemanden zu haben, den man lieben/ für den man sorgen kann
Kinder schaffen Schwierigkeiten mit Nachbarn/ in Öffentlichkeit Schwierig, sich um Familie/Haushalt gleichzeitig zu kümmern Schwieriger, weiter seinem Job nachzugehen Wegen der Sorgen, die Kinder verursachen, wenn sie krank sind Weil man nicht frei ist, das zu tun, was man möchte Weil Sie zu besorgt sind um die Zukunft des Kindes Nicht genügend Aufmerksamkeit/ Fürsorge für das Kind Nicht so viel Zeit mit Ihrem Mann/Partner Weil Sie den Kontakt zu Ihren Freunden verlieren Mutter zu sein im Umfeld nicht so recht anerkannt
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen. Anmerkung: MV= Anteil fehlender Werte, Mean= Mittelwert, Std= Standardabweichung, Skew= Schiefe, Kurt= Steilheit.
7 Daten, Methode und Instrumente
165
Potentielle Prädiktoren Zur Abbildung des historischen Wandels wird auf das Geburtsjahr der Befragten zurückgegriffen. Die Zugehörigkeit zu einer Geburtskohorte wird als proxy für unterschiedliche Kontextbedingungen verstanden, denen die Gesamtheit dieser Geburtskohorte in den jeweils selben Lebensabschnitten unterliegt. Die Abfolge der Geburtskohorten soll demnach Veränderungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene abbilden. Vier Geburtskohorten werden zusammengefasst: Die drei jüngsten Kohorten werden von den zwischen 1971 und 1980 (N= 169, 25%), 1961 und 1970 (N= 305, 44%) sowie 1951 und 1960 (N= 121, 18%) Geborenen gebildet. Die älteste Kohorte, die sich deutlich mit der Unterstichprobe der Großmütter überschneidet, weist die größte Varianz an Geburtsjahrgängen auf: Hierunter sind die vor 1951 Geborenen subsumiert (N= 96, 14%). Deren erhebliche Streuung über einen historischen Zeitraum von 30 Jahren geht mit geringen Besetzungen bzw. sogar Nichtbesetzungen einzelner Jahrgänge einher. Die Ausdifferenzierung weiterer Geburtskohorten ist aber gerade auch deshalb nicht möglich. Dennoch soll auf diese Frauen nicht verzichtet werden, denn sie bilden die Jahrgänge ab, deren generative Laufbahn in der frühen Phase der kemalistischen Reformen begann und somit vor einem noch deutlich anderen gesellschaftlichen Hintergrund als bereits wenige Jahrzehnte später. Das weitaus größere Problem besteht darin, mögliche Alterseffekte nicht vom historischen Wandel separieren zu können. Es ist nicht auszuschließen, dass in die Bewertung der VOCs das Alter der Befragten, die Familienphase, in der sie sich zum Befragungszeitpunkt befindet oder auch mit bereits geborenen Kindern gemachte Erfahrungen einfließen und somit systematische (d. h. in diesem Fall kohortenspezifische) Fehler produzieren. So wie die Kohortenzugehörigkeit als Konglomerat sich wandelnder historischer Umstände verstanden und eingesetzt wird, gilt das auch für die Aufteilung nach Stadt und Land mit Blick auf die Unterscheidung unmittelbarer Kontextfaktoren. Entsprechende Ausführungen hierzu wurden bereits im Hypothesenkapitel dargelegt. Die Trennung erfolgt an Hand des Wohnortes zum Zeitpunkt der Heirat, womit die Rahmenbedingungen vor der Familiengründung abgebildet werden. Zwar kann sich der Wohnort im Verlauf der weiteren Fertilitätsbiographie (mehrfach) geändert haben, aber entsprechende Informationen liegen nicht differenziert genug, d. h. paritätenspezifisch, vor. Zur Abbildung der individuell verfügbaren, sozio-ökonomischen Ressourcen werden drei Indikatoren verwendet: Neben dem ökonomischen Status der Familie, geht das Bildungsniveau der Befragten sowie deren Erwerbssituation zum Zeitpunkt der Heirat in die Berechnungen ein. Der Indikator zur Abbildung des ökonomischen Status bezieht sich auf den Haushalt der Befragten und ba-
166
7 Daten, Methode und Instrumente
siert auf zwei Variablen, aus deren Kombination mittels Clusteranalyse drei Gruppen von Befragten gebildet wurden, die von (i) gering über (ii) mittel bis hin zu (iii) hohem ökonomischen Status reichen: Neben einem Summenindex, der den Umfang des Besitzes wertvoller Marktgüter (Grundbesitz, (Sommer-) Haus, Gold, Juwelen, Aktien, Auto) widerspiegelt, geht eine subjektive Einschätzung der ökonomischen Lage ein, die mittels einer fünf-stufigen LikertSkala erfragt wird und von ‚unten’ über ‚Mitte’ bis ‚oben’ reicht. Es wird davon ausgegangen, dass der generierte Indikator eine zeitlich sehr stabile Position im sozialen Gefüge angibt, so dass an Hand der aktuellen Messung einigermaßen verlässlich auf die vergangene Situation des Haushaltes, insbesondere auf die Zeit der Familiengründung, zurück geschlossen werden kann.58 Der Bildungsindex ergibt sich aus den absolvierten Schuljahren und dem höchsten Bildungsabschluss, der bis zum Befragungszeitpunkt erreicht wurde. Diese Kombination soll für die in der Türkei üblichen Bildungsstufen jeweils sicherstellen, dass mindestens die hierfür formal notwendigen Schuljahre durchlaufen wurden: Die erste Kategorie des generierten Indikators enthält (i) alle Befragten, die keinen ersten Schulabschluss erworben bzw. weniger als fünf Jahre eine Schule besucht haben, (ii) gefolgt von denen mit Grundschulabschluss sowie mindestens fünfjährigem Schulbesuch. In Kategorie drei (iii) befinden sich die Frauen mit einem mittleren Schulabschluss der Sekundärstufe sowie einem Mindestschulbesuch von 8 Jahren. Schließlich verweist die (iiii) höchste Bildungskategorie auf diejenigen, die mehr als 15 Jahre im Bildungssystem verbracht haben und auf einen Universitäts- oder Postgraduiertenabschluss verweisen können. Von einer Unterschätzung des Bildungsniveaus wäre für die Frauen auszugehen, die zum Befragungszeitpunkt noch nicht ihren endgültigen Bildungsabschluss erreicht haben. Diese Bedenken können jedoch angesichts der Beschränkung auf verheiratete Mütter zerstreut werden, da davon auszugehen ist, dass in der Türkei im Allgemeinen die Heirat bzw. der Übergang in die Elternschaft nicht vor der Beendigung der Ausbildung erfolgt. Ferner wären von dieser Problematik ohnehin nur potentielle Universitätsabsolven58
Die Erwerbstätigkeit des Mannes muss deshalb unberücksichtigt bleiben, als hiermit systematische Ausfälle nach Generation verbunden sind, denn die Großmütter sind zu einem erheblichen Teil partnerlos. Da auf dem Land ein ebenfalls systematisch höherer Anteil über Wohneigentum verfügt als in der Stadt, was nicht zuletzt der dramatisch unterschiedlichen Verfügbarkeit an Bebauungsfläche geschuldet ist, bleibt auch diese Variable unberücksichtigt. Schließlich ist auch auf die Einkommensangabe zu verzichten, auch wenn es grundsätzlich die Möglichkeit zur Berechnung eines OECD-gewichteten Index zum Einkommen gäbe. Einerseits würden hierdurch auf Grund eines hohen Anteils fehlender Werte zu viele Fälle verloren gehen, andererseits wird der Einkommensmessung keine hohe Validität zugeschrieben. Diese allgemein bestehende Problematik verschärft sich in der Türkei, einerseits angesichts der eher unregelmäßigen Einkommen, deren Durchschnitt schwer zu schätzen ist, andererseits durch den nach wie vor hohen Anteil an Eigenversorgung, bei dem finanzielle Transfers nur eine untergeordnete Rolle spielen.
7 Daten, Methode und Instrumente
167
tinnen betroffen, da die jüngste befragte Mutter mit 19 Jahren ein Alter erreicht hat, welches zumindest das Erreichen des sekundären Bildungsabschlusses zulässt. Mit dem Bildungsniveau der Befragten steht ein Indikator zur Verfügung, der grundsätzlich als sehr guter Prädiktor für das potentielle Markteinkommen gilt. Voraussetzung hierfür ist, dass Frauen ihre erworbenen Bildungszertifikate in eine entsprechende berufliche Karriere und damit verbunden in entsprechendes Einkommen umsetzen können. Die Existenz dieses Zusammenhangs ließ sich bereits für die Türkei bestätigen (vgl. Kap. 3) und er ist auch für die vorliegende Stichprobe nachzuweisen (vgl. Tab. 13). Tabelle 13: Erwerbssituation nach Bildungsbeteiligung Indikatoren: Erwerbssituation
Durchschnittlich absolvierte Schuljahre
(a) Berufserfahrung: eta + Sig.
0,70**
Weder vor Heirat noch zum MZP
4,0
Entweder vor Heirat oder zum MZP
5,5
Zu beiden Zeitpunkten
7,6
a
(b) Berufsposition : eta + Sig.
0,70**
Im Familienbetrieb
4,4
Arbeiterin
3,5
Angestellte
5,8
Selbständig
8,6
(c) Erwerbssektora: eta + Sig.
0,45 **
Landwirtschaft
3,0
Handwerk/ Industrie
4,8
Handel/ Finanzsektor
7,1
Öffentlicher Sektor
7,9
Selbständigkeit
6,3
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Auswertungen. Anmerkung: ANOVA, MZP= Messzeitpunkt, a nur zum MZP erwerbstätige Frauen. **p< 0.01.
Mit steigender Bildung steigt (a) das Ausmaß der Erwerbsbeteiligung (eta= 0.70): Frauen, die weder zum Zeitpunkt der Befragung noch zum Zeitpunkt ihrer Heirat erwerbstätig gewesen sind, weisen mit 4 Jahren die geringste durch-
168
7 Daten, Methode und Instrumente
schnittliche Beteiligung im Bildungssystem auf. Hingegen haben Frauen, die zu einer dieser beiden Referenzzeiten einer Erwerbstätigkeit nachgingen, im Durchschnitt 6 Schuljahre absolviert; Frauen, die beide Male erwerbstätig waren 8 Jahre. Darüber hinaus schlägt sich die Bildungsbeteiligung in (b) der späteren Berufsposition nieder (eta= 0.70): Arbeiterinnen und Frauen, die im Familienbetrieb tätig sind, weisen im Durchschnitt die geringste Schulbildung auf (4 Jahre), während Angestellte auf 6 Jahre und selbständige Frauen auf knapp 9 Jahre zurückblicken. Schließlich ist (c) der Erwerbssektor in dem die Frau tätig ist von ihrer Bildung abhängig (eta= 0.45): Das produzierende Gewerbe verlangt die geringste Qualifikation, was durch die durchschnittlich 3 (Landwirtschaft) bzw. 5 Schuljahre (Handwerk/ Industrie) bestätigt wird. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich das Schulbildungsniveau der Frau einerseits in höheren Erwerbsaspirationen und/ oder -chancen niederschlägt, andererseits wird die Art der Tätigkeit sowie das Einkommenspotential positiv59 beeinflusst. Die Erwerbstätigkeit selbst stellt einen zusätzlichen Indikator für die im Fall der Geburt eines Kindes zu erwartenden Einkommenseinbußen dar, unabhängig von ihrer Höhe. Der Referenzzeitpunkt muss allerdings explizit vor der Familiengründung liegen, um somit zu gewährleisten, dass dadurch der fertilitätsrelevante VOC ursächlich beeinflusst wurde: Die Information zur Erwerbsbeteiligung der Frau zum Zeitpunkt der letzten Heirat60 steht hierfür zur Verfügung, ein Ereignis, dass in der Türkei in der Regel vor der Geburt des ersten Kindes stattfindet. Externe Anreize und Barrieren Der Datensatz enthält keine verwertbaren Informationen zur geburtenbezogenen Verhaltenskontrolle. Möglich ist lediglich die Verwendung einer Auswahl von Indikatoren, die als externe Anreize bzw. Barrieren für die Umsetzung einer 59
Voraussetzung für diese Interpretation ist, dass die hier verwendeten Rangfolgen eine Einkommenshierarchie abbilden. Davon wird ausgegangen, wenngleich Berufsposition und Erwerbsbranche nur indirekte Indikatoren für das Einkommen sind. Selbst wenn das individuelle Erwerbseinkommen der Frau erhoben worden wäre, würde ihm keine höhere Validität zugeschrieben werden. 60 Da die verwendete Stichprobe Frauen ausschließt, die mehr als einmal geheiratet haben, wird das Risiko vermieden, dass hier auf eine Wiederheirat Bezug genommen wird und damit typischerweise nicht auf den Zeitpunkt vor der Familiengründung. Leicht störanfällig mag dieser Indikator insofern sein, als er auf einer Momentaufnahme beruht. So ist denkbar, dass die Befragte, die grundsätzlich in der Zeit von der Familiengründung mehr oder weniger umfangreich im Erwerbsleben involviert war, eben zu jenem erfragten Zeitpunkt als Folge externer Gründe wie Krankheit, Arbeitsplatzwechsel, Umzug, Aus- und Weiterbildung temporär erwerbslos gewesen ist. Das setzt die Validität dieses Indikators herab, allerdings wird angenommen, dass das nur eine Minderheit betrifft und somit unerheblich für Zusammenhangsprüfungen ist.
7 Daten, Methode und Instrumente
169
bevorzugten generativen Handlungsalternative verstanden werden können. Die Strategie zur Prüfung der hierzu formulierten Hypothese besteht darin, die Analysen zur Vorhersage des generativen Verhaltens in Abhängigkeit von der VOCKonstellation getrennt für zwei Gruppen zu berechnen: Gegenübergestellt werden Befragte, die Anreize/ Barrieren mit Blick auf generative Entscheidungen wahrgenommen haben und solche die es nicht haben. Letztere sollten erklärungskräftigere Zusammenhänge aufweisen als Erstere. Die Zuordnung zu den beiden Gruppen erfolgt an Hand von Items, die gemeinsam mit den Werten von Kindern erfasst und dementsprechend unter Verwendung derselben fünfstufigen Likert-Skala beantwortet wurden. Deshalb ist vorab deren Umwandlung in dichotome Variablen notwendig: Geringe Anreize/ Barrieren resultieren aus den Antwortkategorien ‚(überhaupt) nicht wichtig’, hohe Anreize/ Barrieren aus den Vorgaben ‚einigermaßen wichtig’ bis ‚sehr wichtig’. Geprüft werden einerseits zwei Items, die gleichzeitig die Verhaltensabhängigkeit vom Partner widerspiegeln: Der ‚Partner will weitere Kinder’ bzw. ‚Partner will keine weiteren Kinder’. Ausschließlich mit Blick auf das Erstgebäralter wird andererseits das Item ‚Angst vor Schwangerschaft und Geburt’ getestet. Alle drei Items kamen lediglich in den beiden Müttergenerationen zum Einsatz. Grund- versus Alternativmodell Eine grundsätzlich ähnliche Vorgehensweise wird für die empirische Gegenüberstellung von Grund- und Alternativmodell angewandt. Um die theoretisch erarbeitete Idee potentiell wirksamer, generativer Handlungsroutinen auf ihre empirische Evidenz hin zu prüfen, wurden in den Hypothesen bereits antagonistische Gruppen von Befragten definiert: Mütter mit hoher Motivation zum rationalen Modus oder solche, die keine Routine verfügbar haben versus Mütter, die zur Ausführung einer als einigermaßen verlässlich angenommenen Handlungsroutine tendieren. Die Modelle zur Erklärung generativen Verhaltens werden getrennt für diese Gruppen berechnet, in Erwartung deutlich voneinander abweichender Erklärungskraft der VOC-Indikatoren. Dahinter steht folgende Annahme: Für Befragte, deren generatives Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das Ausführen einer Handlungsroutine zurückgeht, hat sich entsprechend der theoretischen Darlegung eine aufwendige Bewertung der Vor- und Nachteile von Kindern erübrigt. Sie nehmen keine eingehende Betrachtung der Entscheidungssituation vor, weshalb sie grundsätzlich nicht oder zumindest schlecht in der Lage sein sollten, ihren individuellen Wert von Kindern in derart ausdifferenzierter Form anzugeben, wie es im Fragebogen verlangt wird. Das wiederum impliziert, dass die entsprechenden Zusammenhangsanalysen unter Verwendung
170
7 Daten, Methode und Instrumente
der VOC-Indikatoren an Erklärungskraft einbüßen. Zwar ist auch deren generatives Verhalten angesichts der grundsätzlichen Effizienz der Routine als weitgehend rational zu interpretieren, jedoch schwindet die erklärende Funktion des VOC, weil dieser der Befragten im Fall einer automatischen Handlungsübernahme nicht derart bewusst sein sollte. Folgende proxy-Variablen werden für die Aufteilung der Stichprobe konstruiert: Neben einer Unterscheidung (i) nach der Kohortenzugehörigkeit, die sich auf eine Trennung der bis 1950 Geborenen und der ab 1951 Geborenen beschränkt, erfolgt (ii) die Unterscheidung von zwei Migrationsgruppen: Die erste Gruppe bilden Frauen, die entweder dauerhaft im städtischen oder dauerhaft im ländlichen Kontext gelebt haben. Sie werden denen gegenüber gestellt, die einen Wechsel zwischen Stadt und Land vollzogen haben, wobei die Richtung der Migration ohne Belang ist. Eine (iii) dritte Ausdifferenzierung erfolgt entlang der kleinräumlichen Opportunitätenstruktur. Hierzu werden Frauen, die dauerhaft im städtischen Kontext wohnhaft gewesen sind von denen unterschieden, die immer auf dem Land gelebt haben. Schließlich (iiii) separiert eine vierte Variable Frauen mit durchschnittlicher Bildung von denen mit nichtdurchschnittlicher Bildung. Dieser Indikator wird kontextspezifisch erstellt: Zunächst werden getrennt für Stadt und Land die Mittelwerte der absolvierten Schuljahre berechnet. Je nach Wohnort der Befragten werden anschließend die Frauen der Durchschnittsgruppe zugeteilt, die diesem Bildungsdurchschnitt plus/ minus der Standardabweichung entsprechen. Alle Frauen, die außerhalb dieses Bereiches liegen, werden der alternativen Gruppe zugeordnet.
8 Ergebnisse
8.1 Der Wert von Kindern Besondere Aufmerksamkeit gilt zunächst dem VOC-Konstrukt. Die im theoretischen Teil dieser Arbeit begründete Dimensionierung des Wertes von Kindern wird unter Verwendung der türkischen Daten aufgezeigt, wobei die folgende Strukturprüfung des VOC-Itempools zugleich die Validierung des Erhebungsinstrumentes einschließt. Angesichts der Erhebung von drei generationalen Unterstichproben wird in Anlehnung an die im Kulturvergleich obligatorischen Äquivalenzprüfungen die Bestätigung einer gruppenübergreifenden Übereinstimmung der VOC-Struktur verfolgt, ergänzt um die generationenbezogenen Reliabilitäten der im Anschluss konstruierten Skalen. Das Ziel besteht darin, Belege für die Existenz und Vergleichbarkeit der behaupteten Dimensionierung für die drei erfassten Generationen beizubringen sowie hohe interne Konsistenzen der generierten Indikatoren nachzuweisen. Erst auf einer solchen Basis ist die Verwendung der VOC-Indikatoren in weiterführenden Analysen gerechtfertigt. Die Dimensionierung des Wertes von Kindern Insbesondere der kulturvergleichenden Psychologie entstammen zahlreiche Äquivalenzkonzepte. Eine Durchsicht der Forschung der vergangenen 35 Jahre hierzu führt Johnson (1998) zu 50 verschiedenen Äquivalenzbegriffen, die er in zwei übergeordneten Kategorien zusammenfasst: (1) Die interpretative Äquivalenz bezieht sich auf „the degree to which a particular concept has identical meaning within two or more cultural groups“ (ebd.: 6). Entsprechend der theoretischen Ableitung des VOC-Konzeptes und seiner Struktur wird dessen universale und somit über die Generationen von Müttern hinweg bestehende Existenz angenommen. Die (2) Prozeduräquivalenz ist stärker an der empirischen Erfassung des theoretischen Konzeptes ausgerichtet, indem sie die statistische Übereinstimmung zwischen den Gruppen einfordert: Van de Vijver (1998; van de
172
8 Ergebnisse
Vijver & Leung 1997) unterscheidet diesbezüglich verschiedene Stufen61 und erarbeitet ein umfangreiches methodisches Instrumentarium, mit dessen Hilfe Hinweise für die statistische (Nicht-) Vergleichbarkeit von Erhebungsinstrumenten gewonnen werden können. Im Folgenden werden einige dieser Techniken zur Prüfung des VOC-Instrumentes eingesetzt. Deren Auswahl richtet sich nach dem Skalenniveau der VOC-Daten und ihr Einsatz erfolgt unter der Maßgabe einer vergleichenden Betrachtung der drei generationalen Unterstichproben. Ausgangspunkt bilden die beiden selektierten VOC-Fragebatterien (vgl. Tab. 12). In einem ersten Schritt werden die Einzelitems per Augenschein geprüft, um an Hand von Verteilungsauffälligkeiten erste Hinweise auf mögliche (gruppenspezifische) Nicht- oder Missverständlichkeiten der Inhalte oder Formulierungen zu erhalten. Die in Tabelle 12 zusammengestellten Maße stellen generationenübergreifend alle Items als weitgehend unbedenklich heraus. Das wird für eine generationenspezifische Betrachtung (die aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht abgebildet ist) bestätigt: Die Anteile fehlender Werte sind durchweg sehr gering, liegen nur vereinzelt über 1%. Für manche Items lässt sich eine geringe Varianz feststellen, die meist mit einer steilen, linksschiefen Verteilung einhergeht. Das betrifft v. a. Items, die sich auf die emotionale Bedeutung von Kindern beziehen (nicht-fett in Tab. 12). Befragte Mütter zeigen hier durchweg hohe Zustimmung. Angesichts der Plausibilität dieses Befundes werden dahinter keine grundlegenden Probleme bei der Beantwortung vermutet, es liegt lediglich eine geringe Trennschärfe zwischen den Probanden vor. Die fehlende Varianz könnte sich auf die späteren Zusammenhangsprüfungen leicht störend auswirken. Auch die Möglichkeit inhaltsunabhängigen Antwortverhaltens wird in Betracht gezogen, da die Türkei grundsätzlich dem Kulturraum zuzuordnen ist, für den insbesondere eine Zustimmungstendenz dokumentiert wird (u. a. Diekmann 1995: 387). Diese Art der Datenverzerrung kann aber weitgehend ausgeschlossen werden: Eine kulturvergleichende Untersuchung aller in der VOC-Studie erfassten Länder liefert keinen substantiellen Beleg für die Berechtigung dieser Vermutung bzw. ist die Zustimmungstendenz für die Türkei als vergleichsweise gering und unbedenklich einzustufen (Nauck & Klaus 2007: 495f.). 61
Neben der Konstruktäquivalenz als Beleg für ähnliche internale psychometrische Eigenschaften des Konstruktes bzw. seiner Skalen, ist der Nachweis für die Äquivalenz der Skalierung zu erbringen, was einerseits auf eine identische Skalierungseinheit und andererseits auf deren gemeinsamen Ursprung abzielt. Diese beiden letzten Forderungen sind grundsätzlich von höchster Bedeutung, wenn es um die Untersuchung kultureller Niveauunterschiede geht, gleichzeitig ist ihnen, insbesondere bei der Verwendung von Likert-Skalen, äußerst schwer nachzukommen. Auch die folgende Prüfung bleibt auf den Versuch beschränkt, eine zwischen den Gruppen vergleichbare Datenstruktur nachzuweisen.
8 Ergebnisse
173
Die Äquivalenzprüfungen erfolgen getrennt für Nutzen und Kosten; gleichwohl ist das Verfahren dasselbe: (1) Zunächst ist eine generationenübergreifende Faktorstruktur zu erarbeiten. Hierzu werden partiell-explorative Faktoranalysen durchgeführt – partiell insofern, als die Itemzuordnung unbestimmt bleibt, allerdings die Extraktion von zwei Faktoren gefordert wird.62 Als Rotationsverfahren wird die schiefwinklige Oblimin-Rotation gewählt, da aus theoretischer Sicht eine Korrelation beider Dimensionen nicht ausgeschlossen wird. Damit jede der Generationen trotz unterschiedlicher Gruppengröße mit demselben Anteil zur Gesamtlösung beitragen kann, erfolgt die Analyse auf Basis eines dementsprechend gewichteten Datensatzes. Schrittweise werden nun Items mit hohen cross-loadings ausgeschlossen bzw. solche, die durch die Dimensionierung nur unzureichend erfasst werden. Dieses iterative Vorgehen wird abgebrochen, sobald sich alle Items durch Eindeutigkeit, Faktorladungen von mindestens 0.4 sowie Kommunalitäten von ähnlich hohem Mindestwert auszeichnen. Die endgültige zwei-dimensionale Lösung der Nutzenitems klärt 51% der Varianz auf. Der obere Teil der Tabelle 14 gibt das Ergebnis der Faktorlösung über den gewichteten Gesamtdatensatz aus. Der erste Faktor wird von Items gebildet, die einerseits auf den praktischen und finanziellen Nutzen von Kindern verweisen sowie andererseits den Wert abbilden, der sich aus der Verhaltensbestätigung insbesondere durch das familiale Umfeld ableitet. Damit vereint dieser Faktor den Komfortaspekt mit sozialer Wertschätzung durch Kinder. Der zweite Faktor verweist auf den emotionalen Ertrag der Eltern-Kind-Beziehung sowie ihre anregende Funktion: Er repräsentiert den theoretisch herausgearbeiteten Affekt- & Stimulationsnutzen. Diese Gesamtlösung stellt nun die Richtlinie für (2) paarweise Vergleiche nach dem Verfahren der Zielrotation dar (van de Vijver & Leung 1997: 90ff.). Die Zielrotation ermöglicht eine Gegenüberstellung der übergreifenden und der jeweils generationenspezifisch berechneten Faktorstrukturen. Unter der Maßgabe, die Übereinstimmung der Sätze von Faktorladungen zu maximieren, wird die spezifische Faktorstruktur gegen die übergreifende Vorgabe rotiert. Pro Faktor können diverse Übereinstimmungskoeffizienten berechnet werden; hier wird auf den Proportionalitätskoeffizient nach Zegers & Ten Berge (1985) zurückgegriffen, der im Mittelteil der Tabelle 14 dokumentiert wird. Dieser Index gibt die (Un-) Gleichheit der Faktorladungen des jeweils betrachteten Faktors an bzw. den Erfolg der Replikation der Gesamtfaktorlösung durch die Gruppenlösungen. Er ähnelt einem Korrelationskoeffizienten und sollte einen Wert von mindestens 0.9 erreichen. 62 Eine alternative Faktorzahl wird nur dann in Betracht gezogen, wenn sich die Dimensionen der 2er-Lösung nicht sinnvoll interpretieren lassen und/ oder der Anteil der Varianzaufklärung eine andere Dimensionierung nahe legt. Eine solche Korrektur wird allerdings nicht notwendig.
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8 Ergebnisse
Tabelle 14: Validierung des Nutzens von Kindern Faktorladungen Faktoranalyse: Gesamtlösung
Komfort/ Affekt/ Wertschätzung Stimulation
Kommunalität
Erklärte Gesamtvarianz = 51 % Hilft im Haushalt
0,75
-0,12
0,54
Bringt Eltern näher zusammen
0,72
0,14
0,58
Gibt mehr Grund im Beruf erfolgreich zu sein
0,63
0,23
0,52
Intensiviert Kontakt mit Verwandtschaft
0,66
0,16
0,51
Verbessert Stellung in Verwandtschaft
0,70
0,17
0,57
Familiennamen fortführen
0,74
0,00
0,55
Hilft der Familie finanziell
0,73
-0,09
0,51
Glaube verlangt, Kinder zu haben
0,62
-0,08
0,37
Kinder helfen im Alter
0,75
-0,12
0,53
Erhöht Verantwortung/ hilft sich zu entwickeln
0,16
0,61
0,44
Macht Spaß, kleine Kinder im Haus zu haben
0,04
0,73
0,54
Eigene Kinder aufwachsen zu sehen
-0,07
0,73
0,51
Gefühl der Liebe zwischen Eltern und Kind
0,04
0,70
0,51
Hilft über Leben/ sich selbst zu lernen
-0,08
0,66
0,42
1,00
0,99
x
Proportionalitätskoeffizient Junge Mütter Alte Mütter
1,00
0,99
x
Großmütter
0,99
0,99
x
Junge Mütter
0,89
0,74
x
Alte Mütter
0,88
0,67
x
Großmütter
0,86
0,66
x
Reliabilität: Alpha
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen. Anmerkung: Gruppenspezifische Gewichtung, Oblimin-Rotation, Hauptkomponentenmethode.
Für die jeweiligen Faktorstrukturen der drei generationalen Unterstichproben lässt sich eine außerordentlich hohe Ähnlichkeit mit der Gesamtlösung nachwei-
8 Ergebnisse
175
sen,63 was nicht zuletzt für die theoretisch erwartete Dimensionierung des Nutzens spricht. (3) Auf Basis dieser Itemzuordnung (abzulesen an den kursiv gekennzeichneten Faktorladungen in Tab. 14) werden zwei Mittelwertsindizes generiert, die die individuelle Bedeutsamkeit des jeweiligen VOC-Aspektes anzeigen. Ein abschließender Test dient dem Nachweis der internen Konsistenz der beiden VOC-Skalen: Im unteren Teil der Tabelle 14 finden sich hierzu die entsprechenden Alpha-Koeffizienten, die mit einem kleinsten Wert von 0.66 (Großmütter: Affekt & Stimulation) ein durchweg hohe Reliabilität belegen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Kindernutzen durchaus in Komfort & soziale Wertschätzung sowie Affekt & Stimulation zerfällt. Überdies wird die generationenbezogene Vergleichbarkeit dieser beiden Nutzendimensionen weitgehend sichergestellt. Dasselbe Vorgehen wird für die Exploration des negativen Itempools wiederholt: Tabelle 15 informiert über die entsprechenden Resultate. Die beiden extrahierten Faktoren, die zusammen eine Varianzaufklärung von 60% leisten, lassen sich ähnlich dem Nutzen interpretieren: Faktor zwei bildet eindeutig Affekt- & Stimulationskosten ab: Es geht v. a. um die Sorgen, die man sich um die eigenen Kinder macht, nicht zuletzt auch aus einem Gefühl von Verpflichtung und höchster emotionaler Nähe heraus. Zudem verlangen sie als überaus aufwendiger Produktionsfaktor Aufmerksamkeit und Zeit, knappe Ressourcen, die für alternative Tätigkeiten verloren gehen. Der erste Faktor umfasst Aspekte negativer Wertschätzung, die vom sozialen Umfeld vermittelt werden, wenn man Kinder hat; zudem sind Komfortkosten in Form von zusätzlicher Arbeitsbelastung abgebildet. Augenfällig ist jedoch, dass keine Items auf diesem Faktor laden, die direkte finanzielle Aufwendungen sowie berufs- bzw. erwerbsbezogene Opportunitätenkosten abdecken, weshalb diese Dimension sehr eingeschränkt abgebildet bleibt. Das Item ‚finanzielle Bürde für die ganze Familie’ wurde für die Großmütter leider nicht erfasst und das Item ‚schwieriger, weiter seinem Job nachzugehen’ erweist sich als unscharf, indem es auf beiden Faktoren ähnlich hoch lädt.64 Um dennoch deren mögliche Relevanz zu prüfen, fließen sie teilweise als einzelne Indikatoren in die Berechnungen ein. Abgesehen von diesen inhaltlichen Beschränkungen, erweisen sich die Übereinstimmungskoeffizienten erneut als überaus hoch (mindestens 0.91), ebenso wie die Reliabilitäten (mindestens 0.69). Es wird also auch für die Kosten die zweidimensiona-
63 Die Höhe der Werte muss allerdings insofern relativiert werden, als jede der Generationen mit immerhin einem Drittel zur Gesamtlösung beiträgt, was die spätere Übereinstimmung fördert. 64 Das mag daraus resultieren, dass es teilweise als Verlust von Erwerbseinkommen (Komfort) und fehlenden Möglichkeiten beruflich realisierbarer Anerkennung (Wertschätzung) verstanden wird, teilweise aber auch als Einbuße von Chancen der beruflichen Verwirklichung (Stimulation).
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8 Ergebnisse
le Struktur herausgearbeitet, auch wenn die Dimension Komfort & Wertschätzung nicht optimal abgebildet werden kann. Tabelle 15: Validierung der Kosten von Kindern Faktorladungen Faktoranalyse: Gesamtlösung
Komfort/ Affekt/ Wertschätzung Stimulation
Kommunalität
Erklärte Gesamtvarianz = 60 % Schwierigkeiten in Öffentlichkeit
0,70
-0,12
0,57
Schwer sich um Familie/ Haushalt zu kümmern
0,61
-0,24
0,53
Verliere Kontakt zu Freunden
0,66
-0,21
0,57
Mutterschaft im Umfeld nicht recht anerkannt
0,81
0,25
0,58
Nicht frei, dass zu tun, was man möchte
0,23
-0,66
0,59
Zu besorgt um Zukunft des Kindes
-0,10
-0,89
0,75
Nicht genügend Aufmerksamkeit für Kind
0,04
-0,77
0,61
Junge Mütter
1,00
1,00
x
Alte Mütter
0,98
0,99
x
Großmütter
0,94
0,91
x
Junge Mütter
0,71
0,72
x
Alte Mütter
0,70
0,73
x
Großmütter
0,69
0,70
x
Proportionalitätskoeffizient
Reliabilität: Alpha
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen. Anmerkung: Gruppenspezifische Gewichtung, Oblimin-Rotation, Hauptkomponentenmethode.
Neben den vier VOC-Indikatoren kommen in den folgenden Analysen zwei weitere Indizes zur Anwendung, die der Prüfung der Verhaltensrelevanz kurzund langfristiger Erwartungen dienen: Sie sind als zwei Mittelwertsindizes konstruiert, die eine entsprechende Unterscheidung für den spezifischen Aspekt des Komfortnutzens vornehmen; zusätzliche Möglichkeiten ergeben sich angesichts der vorliegenden Items nicht: Der Index kurzfristig erwarteten Nutzens setzt sich aus den Items ‚weil ein Kind im Haushalt hilft’ sowie ‚um eine weitere Person zu haben, die der Familie finanziell hilft’ zusammen, während ‚weil man mit Kindern im Alter seltener einsam ist’ und ‚weil die Kinder helfen können, wenn Sie alt sind’ den langfristigen Nutzenaspekt abdecken. Zwar folgt die
8 Ergebnisse
177
Itemzuordnung zunächst einem subjektiv-inhaltlichen Verständnis, ist dennoch nicht gänzlich willkürlich, wie eine nachträgliche Faktoranalyse über die vier Items belegt: Bei Forderung der Extraktion von zwei Faktoren65 ergibt sich eben diese Trennung; die Varianzaufklärung beträgt 77% und die Faktorladungen liegen bei mindestens 0.60. Die Ausgestaltung des Wertes von Kindern in der Türkei Nach der empirischen Absicherung der theoretisch abgeleiteten VOC-Struktur, einschließlich der Bereitstellung reliabler und vergleichbarer Indizes, wird mit einer beschreibenden Betrachtung der Werte von Kindern fortgefahren. Einführend ist für die gesamte Stichprobe festzustellen, dass Affekt- & Stimulationsnutzen (Mittelwert= 4.3) den Komfort- & Wertschätzungsnutzen (Mittelwert= 2.6) sichtlich übersteigen. Eine differenzierte Betrachtung des Komfortaspektes belegt, dass kurzfristige Komfortnutzenerwartungen (Mittelwert= 2.2) hinter langfristigen Aspekten zurückstehen (Mittelwert= 3.2). Auch die Affekt- & Stimulationskosten liegen über den Komfort- & Wertschätzungskosten: 3.4 vs. 2.2. Letztere sind jedoch angesichts der inhaltlichen Begrenzung des Indizes leicht unterschätzt: Explizit materielle Aspekte fließen nicht in den Index ein, würden gleichwohl den Mittelwert erhöhen, wenn sie enthalten wären, wie die beiden ausgeschlossenen Items nahe legen: ‚finanzielle Bürde für die gesamte Familie’ (Mittelwert= 3.0, exkl. Großmütterstichprobe) und ‚schwieriger, weiter seinem Job nachzugehen’ (Mittelwert= 2.9). Generationenspezifische Korrelationen jeweils zwischen den beiden Nutzenindizes und den beiden Kostenindizes belegen, abgesehen von einer Ausnahme, mittlere positive Zusammenhänge zwischen 0.40 und 0.51, die hoch signifikant sind. Für die Großmüttergeneration lässt sich kein substantieller Zusammenhang zwischen den Nutzendimensionen nachweisen: r= 0.16. Damit stützen diese Befunde keineswegs den geäußerten Verdacht einer inversen Beziehung zwischen beiden Wertedimensionen: Ein Bedeutungsverlust von Kindern auf der Komfort- & Wertschätzungsdimension impliziert nicht zwangsläufig einen Bedeutungszuwachs der Affekt- & Stimulationswerte und umgekehrt. Zweifelhaft ist überdies das Bestehen einer systematischen Abhängigkeit überhaupt, da die schwache Korrelation für die Großmütter andeutet, dass sie in keiner historisch stabilen Weise miteinander verknüpft sind. Die Abbildung 18 gibt einen Überblick über die heterogene Ausprägung der Werte von Kindern: Deren Bedeutsamkeit variiert erwartungsgemäß zwi65
Eine Faktoranalyse ohne Festlegung der Faktorzahl verweist auf die Eindimensionalität: Alle vier Items sind dem Komfortnutzen als übergeordnetes Konstrukt zuzuordnen.
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8 Ergebnisse
schen den Generationen. Während Komfortnutzen & soziale Wertschätzung in der Gruppe der Großmütter am wichtigsten sind, unterscheiden sich Affekt & Stimulationsnutzen nur minimal zwischen den Generationen. Kinder werden für diesen Nutzenaspekt durchweg sehr hoch bewertet, was in Verbindung mit der vergleichsweise geringen Varianz impliziert (jeweils rechten Teil der Graphiken in Form der Standardabweichung abgetragen), dass es auf hohem Niveau kaum inter-individuelle Unterschiede gibt. Wenig überraschend steigen die Kinderkosten in den jüngeren Generationen. Wie bereits für die Gesamtstichprobe dokumentiert, werden, in Analogie zum Nutzen, die Stimulations- & Affektkosten ebenfalls höher eingestuft. Hier nicht abgebildete Bilanzen der Nutzen- und Kostenmittelwerte implizieren für alle Generationen positive Netto-Nutzen auf beiden VOC-Dimensionen, was angesichts der von allen Befragten bereits getroffenen Entscheidung für Mutterschaft nicht unerwartet ist. Die mit Kindern in Verbindung gebrachten Gewinne fallen bei den Großmüttern am höchsten aus, womit sich ein allgemeiner Bedeutungsverlust von Kindern andeutet, der dem historischen Rückgang der Geburt von v. a. Kindern höherer Ordnungsnummern entspricht. Derlei Betrachtungen geben freilich nur einen ersten Einblick; Zusammenhangsanalysen auf Individualebene sind notwendig, um Fehlschlüsse zu vermeiden. Bei genauerer Betrachtung der Verteilung der VOC-Indizes stellt sich für den Affekt- & Stimulationsnutzen eine leicht linksschiefe Verteilung (Schiefe= 1.13) heraus, bei gleichzeitig sehr geringer Streuung (Standardabweichung= 0.56). Eine ähnliche Tendenz, wenn auch von geringerer Intensität und entgegen gesetzter Richtung, lässt sich für die Komfortkosten & die negative Wertschätzung feststellen: Die Antworten häufen sich im ersten Drittel der Antwortskala, wobei die Befragten nur geringfügig um den Mittelwert streuen (Standardabweichung= 0.86). Beide Befunde sind angesichts der reinen Mütterstichprobe wenig überraschend und es deutet sich an: Die durchweg hohe Bedeutsamkeit von Kindern für die mütterliche Affekt- & Stimulationsproduktion mag ein zentrales Argument für die getroffene Entscheidung für Elternschaft sein, unterstützt durch die parallel dazu durchgängig geringen komfort- & wertschätzungsbezogenen Kinderkosten, auch wenn damit nicht automatisch auf geringere Nutzen sowie höhere Kosten bei nicht befragten, (noch) kinderlosen Frauen geschlossen werden kann. Dennoch steht insgesamt zu vermuten, dass Nutzenund Kostenbewertungen der Stichprobe, je nach betrachtetem Aspekt systematisch in die eine oder die andere Richtung vom realen Wert der Grundgesamtheit der türkischen Frauen derselben Altersspanne abweichen.
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Abbildung 18: Verteilung des Wertes von Kindern a) Nutzen von Kindern Wichtigkeit 5 Nutzen: Komfort & soziale Wertschätzung
4
Nutzen: Affekt & Stimulation
3
2
1
0 Junge Mütter (N= 309)
Alte Mütter (N= 300)
Großmütter (N= 92)
Junge Mütter
Mittelwert
Alte Mütter
Großmütter
Standardabweichung
b) Kosten von Kindern Wichtigkeit 5
4 Kosten: Komfort & soziale Wertschätzung
3
Kosten: Affekt & Stimulation
2
1
0 Junge Mütter (N= 309)
Alte Mütter (N= 299)
Großmütter (N= 89)
Junge Mütter
Mittelwert
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen.
Alte Mütter Standardabweichung
Großmütter
180
8 Ergebnisse
8.2 Determinanten des Wertes von Kindern? Zur Prüfung der vermuteten VOC-Determinanten werden Varianzanalysen berechnet.66 Es wird getestet ob und inwiefern sich die Mittelwerte der VOCIndikatoren über die verschiedenen Faktorgruppen hinweg unterscheiden. Als Faktoren gehen die unabhängigen Variablen Kohortenzugehörigkeit, Wohnort zum Zeitpunkt der Heirat, Bildungsgrad der Frau, ihre Erwerbsbeteiligung vor der Heirat sowie der ökonomische Status des Familienhaushaltes ein. Als Einstieg werden bivariate Mittelwertsvergleiche angestellt: Deren Resultate stellen die Grundlage für die Selektion erklärungskräftiger Faktoren dar, welche anschließend in multivariaten Tests auf ihre Hypothesenkonformität hin geprüft werden. Neben den gruppenspezifischen Mittelwerten, die im multivariaten Modell um die möglichen Einflüsse der jeweils anderen Faktoren bereinigt sind, werden die standardisierten eta- bzw. die beta-Koeffizienten zur Einstufung der Effektstärke und die Varianzaufklärung der Gesamtmodelle (R²) berichtet. 8.2.1 Komfort und soziale Wertschätzung Geburtskohorte. In Tabelle 16 sind die Ergebnisse für die Dimension Komfort & soziale Wertschätzung zusammengestellt; der mittlere Teil zeigt die Befunde der bivariaten Analysen. Die kohortenspezifischen Variationen des Nutzens als auch der Kosten stellen sich als statistisch bedeutsam heraus. Interessant ist die kurvilineare Entwicklung des Nutzenaspektes: Erwartungsgemäß fallen Komfort & soziale Wertschätzung in der ältesten Geburtskohorte (der bis 1950 Geborenen) am höchsten aus. Überraschenderweise zeigt sich auch in der jüngsten Kohorte (der zwischen 1971 und 1980 Geborenen) ein ähnlich hoher Mittelwert, womit die hierzu formulierte Hypothese widerlegt wäre, da eine stetige Abnahme behauptet wurde. Methodisch unvermeidbare Mängel lassen allerdings Zweifel an dieser Schlussfolgerung aufkommen. Möglicherweise versteckt sich hinter dem unerwarteten Anstieg in der jüngsten Kohorte ein nicht kontrollierbarer Alters- oder besser Familienzykluseffekt: Gerade die jüngsten Mütter befinden sich zum Befragungszeitpunkt in einer Phase, in der sie unmittelbar von ihrer (Erst-) Geburt profitieren, v. a. durch ihren Aufstieg innerhalb der Familienhierarchie – vorausgesetzt sie messen diesem Aspekt von Kindern grundsätz66
Die Zerlegung der Quadratsumme erfolgt nach der classic experimental Methode, was in dieser Anwendung insofern keine Abweichung von der üblichen regression Methode bedeutet (wonach alle Effekte simultan geschätzt werden), als lediglich Faktoren und Haupteffekte geschätzt werden sollen. Die regression Einstellung würde allerdings die Ausgabe der hier dokumentierten MCA Statistik vorenthalten (zumindest bei der Berechnung mit dem Statistikprogramm SPSS).
8 Ergebnisse
181
lich Bedeutung bei. Daraus könnte eine Verzerrung der Einschätzung resultieren. Die Hypothesenprüfung bleibt deshalb unentschieden (=/H11). Offenkundig ist zumindest ein Bruch zwischen der ältesten (Mittelwert= 2.9) und der zweitältesten Kohorte (Mittelwert= 2.3). Tabelle 16: Determinanten Komfort und soziale Wertschätzung Mittelwerte Determinanten
Bivariat Nutzen
Geburtskohorte: eta/ beta +Sig.
0,21**
Multivariat
Kosten 0,19*
Nutzen 0,02
Kosten 0,20**
vor 1951
2,9
1,9
2,6
1,7
1951 - 1960
2,3
2,1
2,6
2,2
1961 - 1970
2,5
2,2
2,6
2,2
1971 - 1980 Wohnort Heirat: eta/ beta +Sig.
2,8
2,4
2,6
0,49**
0,22**
0,23**
2,3 0,09*
Land
3,3
2,4
2,9
2,3
Stadt
2,2
2,0
2,4
2,1
0,61**
0,32**
0,48**
0,24**
Kein(e) Bildung(szertifikat)
3,4
2,2
3,1
2,3
Grundschule (bis 8 Jahre)
3,1
2,5
2,9
2,4
Bildungsniveau: eta/ beta +Sig.
Sekundarstufe (8 Jahre+)
2,2
2,0
2,3
2,1
Tertiäre Stufe (Universität+)
1,6
1,7
1,8
1,8
Erwerbstätigk. Heirat: eta/ beta +Sig. 0,23**
0,11**
Nein
2,8
Ja Ökonom. Status: eta/ beta + Sig.
2,3
2,0
0,43**
0,25**
3,1
2,4
Gering
x
x
2,3
x
x
x 0,07 2,6
x 0,09 2,2
Mittel
2,5
2,2
2,5
2,2
Hoch
1,8
1,8
2,5
2,0
N
x
x
590
588
R² + Sig.
x
x
0,44**
0,15**
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen. Anmerkung: ANOVA, **p< 0.01, *p< 0.05, +p< 0.1.
182
8 Ergebnisse
Werden die Kosten zunächst an Hand des Mittelwertindizes betrachtet, so lässt sich deren stetiger Anstieg über die Kohorten hinweg feststellen. Der etaKoeffizient (= 0.19) belegt eine moderate Effektstärke. Einer ergänzenden Prüfung bedarf es allerdings, da sich die hierzu aufgestellte Hypothese vornehmlich auf den Komfortaspekt bezog, der jedoch nur unzureichend durch diesen Indikator abgebildet ist. Die Mittelwertsvergleiche der Tabelle 17 betrachten daher zwei Einzelitems, die nicht im Index enthalten sind, ihrer Formulierung nach aber Komfortkosten repräsentieren. Für die indirekten Kosten (‚schwieriger, seinem Job nachzugehen) bestätigt sich ein signifikanter Anstieg über die Kohorten hinweg (eta= 0.16): Einem Mittelwert von 2.4 in der ältesten Geburtskohorte steht ein Wert von 3.1 in der jüngsten Kohorte gegenüber. Eine geringfügige Tendenz derselben Richtung zeichnet sich auch für die direkten Komfortkosten ab (‚finanzielle Bürde für die gesamte Familie’), erlangt jedoch keine statistische Signifikanz. Das geht nicht zuletzt auf das Fehlen der ältesten Kohorte zurück, zwischen der und den restlichen drei Kohorten der stärkste Wandel zu erwarten gewesen wäre. Insgesamt könnte damit die Unterstützung der Hypothese (H12) behauptet werden, da alle Vergleiche in dieselbe, erwartete Richtung weisen. Nimmt man allerdings den für den Nutzen vorgebrachten Verweis auf einen möglichen Familienzykluseffekt ernst, so gibt es keinen ersichtlichen Grund, ihn nicht auch auf die Kosten zu übertragen: Damit sollten einerseits die Kosten der jüngsten Kohorte insofern leicht überschätzt sein, als angesichts des kürzlich stattgefundenen Übergangs in die Mutterschaft zumindest die Opportunitätenkosten mit vergleichsweise hoher Intensität zum Tragen kommen. Andererseits ist die Vermutung nahe liegend, dass die direkten Kosten in der ältesten Kohorte unterschätzt sind. Zum Zeitpunkt der Befragung leben in deren Haushalten durchschnittlich die wenigsten Kinder, weshalb die aktuelle Belastung vergleichsweise gering ausfällt. Das könnte deren Wahrnehmung verzerren. Somit kann die Hypothese (=/H12) nur unter Vorbehalt als bestätigt gelten. Wohnort bei Heirat. Eine Betrachtung getrennt nach städtischem und ländlichem Kontext zeigt beachtliche Unterschiede in der Bewertung von Komfort & Wertschätzung auf. Der entsprechende Nutzen wird auf dem Land wesentlich höher bewertet als in der Stadt; die Differenz ist auf dem 1%-Niveau signifikant. Es wird die hierzu aufgestellte Hypothese bestätigt (=H13): Ländliche Kontextbedingungen fördern demnach die Bedeutung von Kindern für die Produktion von Komfort & Wertschätzung, einerseits bedingt durch eine höhere Notwendigkeit hierzu als Folge fehlender alternativer Produktionsfaktoren, andererseits auf Grund günstiger Gelegenheitsstrukturen: Gerade die mittelfristigen Arbeitsund Einsatzmöglichkeiten von Kindern gestalten sich unter agrarischen Bedingungen weitaus besser als im städtischen Kontext.
8 Ergebnisse
183
Tabelle 17: Determinanten einzelner Komfortitems, Kosten Mittelwerte Determinanten
Bivariat Direkt
Geburtskohorte: eta/ beta +Sig.
0,04
vor 1951
a)
Multivariat
Indirekt 0,16**
b)
Direkt a)
Indirekt b)
0,06
0,15**
x
2,4
x
2,5
1951-1960
2,9
3,0
3,0
3,0
1961-1970
3,0
3,0
3,1
3,1
1971-1980
3,0
3,1
2,9
3,1
Wohnort zur Heirat: eta/ beta +Sig.
0,21**
0,09*
0,14**
0,05
Land
3,4
3,1
3,3
3,1
Stadt
2,8
2,9
2,9
3,0
0,22**
0,13**
3,7
2,9
Bildungsniveau: eta/ beta +Sig. Kein(e) Bildung(szertifikat)
0,09
0,13*
3,4
3,1
Grundschule (bis 8 Jahre)
3,2
3,1
3,0
3,1
Sekundarstufe (8 Jahre+)
2,8
2,8
2,9
2,8
Tertiäre Stufe (Universität+)
2,6
Erwerbstätigk. Heirat: eta/ beta +Sig. 0,07+
3,0 0,04
2,9 x
3,1 x
Nein
3,1
3,0
x
x
Ja
2,9
2,9
x
x
0,21**
0,10**
0,17**
Gering
3,3
3,1
3,4
3,1
Mittel
2,9
2,9
2,9
3,0
Ökonom. Status: eta/ beta +Sig.
Hoch
2,5
2,7
0,07
2,7
2,9
N
x
x
511
586
R² + Sig.
x
x
0,09**
0,05**
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen. Anmerkung: a) finanzielle Bürde für die gesamte Familie, b) schwieriger, seinem Job nachzugehen; x= Kategorie ausgeschlossen, zu wenig Fälle (Item in Großmütterstichprobe nicht erhoben); ANOVA, **p< 0.01, *p< 0.05, +p< 0.1.
Unterstützend hierbei wirkt die Dominanz deszendent-geprägter Verwandtschaftsstrukturen, die diese Funktion der Nachkommen betonen und ihr eine gewisse Verlässlichkeit mit Blick auf ihre Erfüllung verleiht; mehr noch aber erhöhen sie unmittelbar die Effizienz von Kindern für die elterliche Verhaltens-
184
8 Ergebnisse
bestätigung durch Familie und Verwandte. Vergleichbare Kosten werden von den zum Zeitpunkt der Heirat auf dem Land lebenden Müttern ebenfalls höher eingeschätzt als von städtischen Müttern (2.4 vs. 2.0). Werden die explizit materiellen Kinderkosten hinzugezogen, so bestätigt sich der Befund höherer Kinderkosten auf dem Land (vgl. Tab. 17): Vor allem für die direkten finanziellen Aufwendungen, die Kinder verursachen, zeichnet sich ein überaus deutlicher Unterschied ab (eta= 0.21). Damit wird eindeutig der hierzu formulierten Hypothese widersprochen (H14). Interaktionseffekt. Dass der allgemeine Prozess der Modernisierung des Landes, der über die Abfolge der Geburtskohorten abgebildet werden soll, zwischen Stadt und Land in Tempo sowie Ausmaß erheblich variiert, ist seit Kapitel 3 bekannt. Folglich müssten sich die VOCs in Stadt und Land unterschiedlich stark verändert haben, eine Vermutung, der im Folgenden nachgegangen werden soll. Hierfür findet eine kombinierte Variable Anwendung, die die vier Kohorten jeweils nach Stadt und Land differenziert. Die zentralen Befunde lauten: (i) In der Kohorte der vor 1951 Geborenen zeigen sich keine regionalen Differenzen hinsichtlich der Komfort- & Wertschätzungskosten, d. h. Kinder waren unabhängig vom Grad der Verstädterung gleich aufwendig. Der Ausgangspunkt ist demnach gleich: Wohl aber steigen im weiteren historischen Verlauf die Kosten auf dem Land etwas stärker an als in der Stadt. (ii) Im Gegenzug fällt der Nutzenrückgang auf dem Land nur sehr geringfügig aus, während Kohortenunterschiede in der städtischen Untergruppe unverkennbar sind. (iii) Überdies wird aufgedeckt, dass der fragwürdige kurvilineare Kohorteneffekt lediglich im städtischen Kontext zu finden ist, weshalb sich eine alternative Erklärung hierfür denken lässt: Vermutlich besteht die Gruppe der jungen städtischen Mütter zu einem erheblichen Teil aus Landflüchtlingen, die im Zuge ihrer Heirat in die Stadt übergesiedelt sind, dort jedoch noch nicht lange leben. Ihre hohe Bewertung des Komfort- und Wertschätzungsnutzens wäre dann zum einen das Ergebnis einer noch nicht vollständig an die veränderten Rahmenbedingungen in der Stadt angepassten Wahrnehmung effizienter Produktionsfaktoren. Zum anderen wäre zu erwarten, dass deren Ressourcenausstattung unter dem städtischen Durchschnitt liegt, womit höhere Nutzenerwartungen begründet wären. Ein Hinweis für dieses letzte Argument wird an späterer Stelle erbracht. Bildungsniveau. Der erwartete Bildungseffekt stützt sich weitgehend auf die erwerbs- und einkommensfördernde Funktion der Bildung. Tabelle 16 belegt ihre durchschlagende Erklärungskraft. Mit dem höchsten Koeffizienten aller bivariaten Tests (eta= 0.61) wird ein negativer Einfluss der Bildung auf den Komfort- & Wertschätzungsnutzen bestätigt (=H15): Kinder verlieren hierfür an Bedeutung, je höher die Bildung der Befragten ausfällt. Ein ebenfalls bedeutsamer Effekt derselben Richtung zeigt sich auch für die Kosten (eta= 0.32). Dieser
8 Ergebnisse
185
unerwartete Zusammenhang wird für die direkten Komfortkosten gefestigt (vgl. Tab. 17): Kinder werden ganz besonders von den Frauen ohne formale Bildung als finanzielle Belastung eingestuft (Mittelwert= 3.7), ein Universitätsabschluss mildert diese Wahrnehmung erheblich (Mittelwert= 2.6). In Anbetracht der Stärke des Effektes ist die hierzu formulierte Hypothese zu verwerfen (H16), auch wenn kein ebensolcher Effekt für die indirekten Komfortkosten nachzuweisen ist: Hier zeigt sich zwischen den Bildungsgruppen ein unsystematisches Schwanken der Kosten. Erwerbsbeteiligung. Die Befunde zur Wirkungsweise des Bildungsniveaus werden sowohl für die Erwerbsbeteiligung als auch den ökonomischen Status repliziert. Mit Blick auf den Nutzen bestätigt sich erneut die hierzu aufgestellte Hypothese (=H15): An Kinder gerichtete Erwartungen zur Realisierung von Komfort & sozialer Wertschätzung werden von den Müttern, die vor der Familiengründung erwerbstätig gewesen sind, signifikant geringer bewertet (2.3) als von den zu jener Zeit erwerbslosen Frauen (2.8). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass eine berufliche Einbindung die Frauen in ihrer Zielrealisierung unabhängiger von eigenen Nachkommen macht – einerseits, indem durch das Erwirtschaften eines individuellen Einkommens Alternativen für die eigene Lebensund Risikosicherung eröffnet werden und andererseits, weil damit eine effektive Quelle der Realisierung von sozialer Anerkennung zur Verfügung steht, indem durch die Ausweitung sozialer (speziell: beruflicher) Kontakte die Möglichkeit gegeben ist, individuelle (v. a. berufliche) Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Als stärker unabhängig von der Erwerbstätigkeit behaupten sich die Kinderkosten, aber wiederholt zeichnet sich ein leicht negativer und damit erwartungskonträrer Effekt ab: Berufstätige Frauen stufen die Kosten geringer ein als Frauen, die vor der Familiengründung nicht erwerbstätig gewesen sind (eta= 0.11). Abermals ist die getroffene Hypothese zu verwerfen (H16), was wiederum durch die Prüfung der beiden Einzelitems gestützt wird (vgl. Tab. 17), trotz dass die Effekte nur geringfügig sind. Ökonomischer Status. Beachtliche Effekte gehen auch vom ökonomischen Status der Familie aus. Eine entsprechende Besserstellung reduziert die Bedeutung von eigenen Nachkommen für die Bereitstellung von Komfort & Wertschätzung (eta= 0.43) (=H15). Parallel dazu sinken die Kosten mit zunehmendem Wohlstand der Familie (eta= 0.25) (H16). Beide Zusammenhänge sind hoch signifikant. Insgesamt bleibt also festzuhalten: Je besser die Ressourcenlage ist, desto geringer sind nicht nur Kindernutzen, sondern auch die Kosten. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit korrelieren die drei in Betracht gezogenen Indikatoren der individuellen Ressourcenlage stark, weshalb deren Effekte auf die Werte von Kindern deutlich konfundiert sind. Eine multivariate Betrachtung bestätigt diese Vermutung und stellt zudem das Bildungsniveau als die Variable
186
8 Ergebnisse
mit dem höchsten eigenständigen Beitrag heraus. Der wirtschaftliche Status der Familie verliert zwar an Erklärungskraft, behauptet allerdings einen eigenständigen, signifikanten Effekt. Mit der Begründung, dass die Erwerbstätigkeit der Mutter vor der Heirat kein unabhängiges Erklärungspotential in sich birgt und unter der Maßgabe, die in den Analysen verarbeiteten Fallzahlen nicht unnötig herabzusetzen, wird diese Variable in der folgenden multivariaten Prüfung ausgeschlossen. Deren Ergebnisse sind im rechten Teil der Tabelle 16 sowie in Tabelle 17 zusammengestellt. Multivariate Prüfung Die Varianz des Komfort- & Wertschätzungsnutzen wird zu 44% durch die vier verbleibenden Prädiktoren erklärt. Interessant ist zunächst, dass bezüglich des Nutzens von Kindern keine Kohortenunterschiede erhalten bleiben, wohl aber Kontextunterschiede. Der erwartete Rückgang historischer sowie kontextueller Unterschiede bei Kontrolle der individuellen Ressourcenverteilung, soll dennoch als bestätigt gelten (=H17), denn auch die Determinationsstärke der StadtLand Variable schrumpft merklich von vormals 0.49 (eta) auf nunmehr 0.23 (beta). Tatsächlich wird also ein Großteil der Variation dieses Kindernutzens zwischen den Kohorten sowie zwischen Stadt und Land über eine ungleiche Ressourcenausstattung vermittelt. Daraus kann u. a. geschlossen werden, dass der festgestellte, nicht-lineare Kohorteneffekt in der Gruppe der städtischen Mütter auf eine relativ geringe Bildung sowie schlechtere ökonomische Ausstattung der jüngsten Mütter der Stichprobe zurückgeht. Das wird durch die folgende Betrachtung begründet: Die städtischen Mütter, die zwischen 1951 und 1960 geboren sind und dem Nutzenaspekt von Kindern geringste Bedeutung beimessen, weisen die höchsten Anteile an Universitätsabsolventinnen (51%) auf sowie an Befragten der höchsten Statusgruppe (43%). Im Vergleich dazu sind die entsprechenden Anteile in der jüngsten Kohorte (1971-1980) wesentlich geringer: 8% und 6%. Damit handelt es sich beim Anstieg des Komfort- und Wertschätzungsnutzens in der jüngsten Kohorte zumindest nicht primär um einen Familienzykluseffekt, wie eingangs vermutet, sondern um einen Verteilungseffekt. Worauf allerdings der unerwartete Ressourcenmangel der jungen Mütter beruht, ist unklar. Es wird nicht davon ausgegangen, dass sich dahinter eine für die Türkei allgemeingültige Entwicklungstendenz verbirgt, die Ursache ist wohl eher in der eingeschränkten Repräsentativität der Kohorten zu finden. Deutlich geworden ist gleichwohl, dass sich historisch und regional unterschiedliche Rahmenbedingungen zu einem wesentlichen Teil über die individuelle Betroffenheit hiervon in den Kalkulations- und Entscheidungsprozessen auf der Indi-
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187
vidualebene niederschlagen. Stärkste Erklärungsvariable bleibt schließlich auch das individuelle Bildungsniveau (beta= 0.48). Der ökonomische Status leistet nur noch einen marginalen Erklärungsbeitrag. Beide Effekte gestalten sich analog zu den bivariaten Befunden und bestätigen die an sie geknüpften Erwartungen: Mit steigendem Wohlstand der Familie und v. a. mit steigender Bildung eröffnen sich alternative Gelegenheiten der Bedürfnisbefriedigung, hinter deren Effizienz die eigener Nachkommen zurücksteht. Die Verfügbarkeit über sozioökonomische Ressourcen ermöglicht eine zumindest ergänzende, kinderunabhängige Existenzsicherung sowie Vorkehrungen für finanzielle Notfälle. Darüber hinaus wird eine Erweiterung des sozialen Netzwerkes erwartet, innerhalb dessen die je individuelle Position Möglichkeiten sozialer Annerkennung bietet. Auch für den Kostenindex kann mit einer Varianzaufklärung von 15% eine zumindest moderate empirische Anpassung festgestellt werden (vgl. Tab. 16). Im Gegensatz zum Nutzen bleiben hier deutliche Kohortenunterschiede erhalten, stattdessen verlieren sich regionale Variationen beinahe gänzlich. Eine ähnliche Entwicklung der Koeffizienten zeigt sich für das Einzelitem der Opportunitätenkosten (vgl. rechter Teil der Tab. 17). Das deutet darauf hin, dass negative Wertschätzung sowie Komfortkosten als Folge der Geburt von (vielen) Kindern, neben der Tatsache, dass sie in unterschiedlichen Ressourcenlagen unterschiedlich wahrgenommen werden, über die vergangenen Jahrzehnte hinweg angestiegen sind. Der Wandel entsprechender makrostruktureller Rahmenbedingungen kommt nicht nur indirekt, sondern v. a. auch direkt zum Tragen. Dieser allgemeine Kostenanstieg von Kindern ist plausibel: Das betrifft sicherlich weniger die direkten Kosten wie ‚Schwierigkeiten in Öffentlichkeit/ Nachbarschaft’ oder ‚schwer sich um Familie und Haushalt zu kümmern’ als vielmehr wachsende indirekte Kosten angesichts eines erweiterten Möglichkeitsraums der Bedürfnisbefriedigung in v. a. nicht-familialen Beziehungen. Angesprochen sind hiermit die Aspekte bzw. Items ‚verliere Kontakt zu Freunden’ oder ‚schwieriger, seinem Job nachzugehen’. Die Gelegenheitsstrukturen hierfür haben sich seit der Republikgründung v. a. für Frauen deutlich verbessert, weshalb deren Verlust durch die Übernahme der Mutterrolle in den jüngeren Kohorten generell negativ wahrgenommen wird. Der Anstieg der indirekten Komfortkosten, mag nicht zuletzt aus der umfassenden Umstrukturierung des Arbeitsmarktes resultieren: Lohnarbeit ist auch in der Türkei grundsätzlich schlechter mit Kinderbetreuung zu vereinbaren, als selbständige Arbeit, Mithilfe im Familienbetrieb oder landwirtschaftliche Tätigkeiten. Neben den Kohorteneffekten bleiben Variationen nach kleinräumlichen und individuellen Merkmalen erhalten, die analog zu den bivariaten Befunden und somit erneut hypothesenkonträr ausfallen: Vor allem die direkten Komfortkosten (vgl. Tab. 17) von Kindern scheinen besonders unter Armutsbedingun-
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8 Ergebnisse
gen hoch auszufallen. Ganz besonders werden Kinder als ‚finanzielle Bürde für die gesamte Familie’ auf dem Land, unter den gering Gebildeten sowie bei schlechter ökonomischer Ressourcenlage bewertet; sie stellen für diese Bevölkerungsgruppen einen vergleichsweise teuren Produktionsfaktor dar. Es ist überaus wahrscheinlich, dass die Befragten relative Kosten angeben: Geringere absolute Ausgaben für Kinder auf dem Land und in unteren (Bildungs) Schichten stehen im Allgemeinen einer schlechteren Einkommenssituation gegenüber. Der Quotient hieraus fällt scheinbar höher aus als der aus höheren absoluten Ausgaben für Kinder und besseren Einkommens- und Besitzverhältnissen. Dass die bildungsbedingten Variationen der indirekten Komfortkosten (‚schwieriger, seinem Job nachzugehen’) grundsätzlich geringer ausfallen und keine eindeutige Richtung aufweisen, lässt sich als Überlagerung zweier entgegen gesetzter Mechanismen verstehen: Einerseits kommen Opportunitätenkosten in den unteren Ressourcenlagen in Form von entgangenem Verdienst weniger wegen dessen Höhe zum Tragen als vielmehr wegen seiner Unentbehrlichkeit für die familiale Wohlfahrtssicherung. Andererseits steigen die absoluten Opportunitätenkosten in den besseren Ressourcenlagen und höheren Bildungsschichten auf Grund der Einbuße an potentiell hohem Einkommen. Somit nehmen die Befragten mit mittlerer Ressourcenausstattung die geringsten Kosten wahr. Dass sich aber die Opportunitätenkosten insbesondere der hoch qualifizierten Frauen nicht sehr viel deutlicher von den restlichen Bildungsgruppen nach oben absetzen, was angesichts des zusätzlichen Verlustes an Möglichkeiten beruflicher Wertschätzung zu vermuten gewesen wäre, beruht möglicherweise auf einer vergleichsweise guten Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit. Diese wird durch die kostengünstige Anstellung von Haushaltshilfen und Kindermädchen ermöglicht, eine Lösung, die v. a. in besser verdienenden Familien üblich ist und womit eine zentrale Vorbedingung der Entstehung von Opportunitätenkosten zumindest entschärft wird. 8.2.2 Affekt und Stimulation Geburtskohorte. Parallel zu Komfort & sozialer Wertschätzung zeichnet sich auch für den Affekt- & Stimulationsnutzen eine leichte Tendenz einer nichtlinearen Abhängigkeit vom Geburtsjahrgang ab (vgl. mittlerer Teil, Tab. 18). Als primäre Erklärung hierfür ist erneut ein Verteilungseffekt anzunehmen. Das wird durch die spätere multivariate Prüfung bestätigt, da sich dort die Kohortenunterschiede nivellieren. Folglich sind die Befunde eher als ein Hinweis auf eine vergleichsweise hohe zeitliche Stabilität zu verstehen und weniger als ein Beleg
8 Ergebnisse
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für substantielle historische Veränderungen. Es wird die entsprechende Hypothese (=H21) untermauert. Erwartungskonform gestalten sich die Affekt- & Stimulationskosten: Der sich im bivariaten Vergleich über die Kohorten hinweg zeigende Anstieg der Kosten (=H22), bleibt im simultanen Modell beinahe deckungsgleich erhalten. Steigende ‚Sorge um die Zukunft der Kinder’ und darüber, dass man ‚zu wenig Zeit’ für sie hat, verweisen auf etwas, was Brentano (1909) unter der Bezeichnung der „Verfeinerung im (…) Gefühl der Kinderliebe“ diskutiert hat: „Mit fortschreitendem Wohlstand (…) werden sich die Eltern mehr und mehr bewusst, daß sie dafür verantwortlich sind, was für Menschen und ob sie deren viele auf die Welt setzen“ (ebd.: 602). Auch die zeitlichen Opportunitätenkosten, die in diesem Indikator enthalten sind, gleichen einem Konzept der Wohlstandstheorie – dem der ‚Konkurrenz der Genüsse’. Die Möglichkeiten der Zeitverwendung und damit auch der Affekt- & Stimulationsproduktion haben im Zuge der allgemeinen Wohlstandsmehrung der letzten Jahrzehnte zugenommen. Die steigende Vielfalt an Handlungsoptionen und Gütern zieht im Falle der langfristigen Festlegung auf das Konsumgut Kind erhöhte Opportunitätenkosten nach sich. Wohnort bei Heirat. Der Tendenz nach wirken sich kleinräumliche Opportunitätenstrukturen hypothesenkonform auf den Affekt- & Stimulationsnutzen von Kindern aus, da er auf dem Land leicht höher ausfällt als in der Stadt. Dahinter stehen die im städtischen Kontext vielfältigeren Gelegenheiten der Stimulationsproduktion, entweder durch (kulturelle) Freizeitgestaltung oder die Verfolgung beruflicher Profilierung, Anerkennung und Selbstverwirklichung. Überdies gewinnt unter der Bedingung der affinalverwandtschaftlichen Organisation der Ehepartner an Bedeutung für die Affektproduktion, eine Möglichkeit, der durch das in ländlichen Regionen dominierende Deszendenzsystem stärkere Restriktionen gesetzt sind: Ehen werden hier typischerweise arrangiert und Ehepartner interagieren und kommunizieren nur in geringem Maße miteinander. Beide Merkmale sind weder einträglich für Affekt- noch die Stimulationsproduktion. Die hierzu aufgestellte Hypothese ist demnach nicht zu widerlegen; zumindest zeigt sich die behauptete Richtung des Effektes. Gleichzeitig bietet dessen Geringfügigkeit aber auch keinen überzeugenden Beleg für die Hypothese (=/H23): Trotz der Signifikanz, die dieser Variable im bivariaten sowie im multivariaten Modell zukommt, sind die Mittelwertsdifferenzen nur marginal. Das deutet auf eine diesbezüglich geringe Substituierbarkeit der Eltern-KindBeziehung hin. Auch die Kosten fallen auf dem Land etwas höher aus als in der Stadt. Dass sich Mütter, die zum Zeitpunkt der Familiengründung auf dem Land lebten, mehr Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen und darüber, dass sie nicht genügend Zeit für sie aufbringen, als städtische Mütter, geht möglicher-
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weise mit ungünstigeren Rahmenbedingungen des Aufwachsen sowie schlechteren Zukunftsaussichten für Kinder einher. Aber erneut lassen die Mittelwertsdifferenzen auf keinen substantiellen Zusammenhang schließen, woraus eher eine kontextuelle Unabhängigkeit dieser Kosten geschlossen wird. Das jedoch widerspricht der Hypothese (H24), in der ein positiver Stadteffekt formuliert wurde. Tabelle 18: Determinanten Affekt und Stimulation Mittelwerte Determinanten
Bivariat Nutzen
Geburtskohorte: eta/ beta +Sig.
Multivariat
Kosten
Nutzen
0,14**
0,17**
vor 1951
4,3
3,0
4,3
3,0
1951 - 1960
4,2
3,3
4,3
3,3
1961 - 1970
4,3
3,4
4,3
3,4
1971 - 1980 Wohnort zur Heirat: eta/ beta +Sig.
4,4 0,15**
0,06
Kosten
3,6 0,08*
0,14*
4,4 0,09+
3,5 0,05
Land
4,4
3,5
4,4
3,4
Stadt
4,3
3,3
4,3
3,3
Bildungsniveau: eta/ beta +Sig.
0,28**
0,14**
0,26**
Kein(e) Bildung(szertifikat)
4,2
3,1
4,3
0,11 3,1
Grundschule (bis 8 Jahre)
4,5
3,5
4,5
3,4
Sekundarstufe (8 Jahre+)
4,3
3,3
4,3
3,3
Tertiäre Stufe (Universität+)
4,1
3,3
4,1
3,5
Erwerbstätigk. Heirat: eta/ beta +Sig. 0,12** Nein
0,01
4,4
Ja
x
x
3,4
x
x
4,2
3,3
0,12**
0,17**
Gering
4,4
3,5
4,3
3,5
Mittel
4,3
3,4
4,3
3,4
Hoch
4,2
3,0
4,4
3,0
Ökonom. Status: eta/ beta +Sig.
x 0,06
x 0,15*
N
x
x
590
587
R² +Sig
x
x
0,08**
0,06**
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen. Anmerkung: ANOVA, **p< 0.01, *p< 0.05, +p< 0.1.
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Bildungsniveau. Wiederholt erweist sich das Bildungsniveau der Befragten als erklärungskräftigster Faktor, der sein Potential auch bei Kontrolle der anderen Prädiktoren behauptet. Es zeigt sich, dass Frauen mit mindestens einem Universitätsabschluss, Kindern die geringste Bedeutung für die Produktion von Affekt & Stimulation zuschreiben (Mittelwert= 4.1); parallel dazu vergleichsweise hohe Affekt- & Stimulationskosten angeben. Das entspricht grundsätzlich den Erwartungen, jedoch verlaufen beide Effekte nicht linear: Die Erwartungen der Befragten der beiden Außenkategorien der Bildungsvariable ähneln sich sehr stark. Eine ergänzende Verwendung der Saldo-Variable aus Kosten und Nutzen kann herausstellen, dass in der höchsten Bildungsstufe die Bedeutung von Kindern für Affekt & Stimulation substantiell an Bedeutung verliert. Damit werden die Hypothesen zumindest bedingt bestätigt (=/H25, =/H26). Erwerbsbeteiligung. Ein geringfügiger Substitutionseffekt, ausgehend von der vorehelichen Einbindung der Befragten ins Erwerbsleben, wird bestätigt. Wiederholt fallen die Mittelwertsdifferenzen bescheiden aus, was sich in einem zwar höchst signifikanten, dennoch nur mittelmäßigen Determinationskoeffizienten niederschlägt (eta= 0.12). Die postulierte Hypothese erfährt damit empirische Bestätigung (=H25), gleichzeitig wird aber erneut die grundsätzlich geringe Variation dieser Nutzendimension bestätigt. Darüber hinaus ist die Erwerbstätigkeit der Frau beinahe unerheblich für die Kinderkosten, weshalb die hierzu getroffene Hypothese zu verwerfen ist (H26): Die Erwerbstätigkeit der Frau trägt nicht wie erwartet zur erhöhten Wahrnehmung der Affekt- & Stimulationskosten bei. Status. Je höher die Ausstattung mit ökonomischen Ressourcen, desto geringer ist die Effizienz von eigenen Nachkommen für die Realisierung von Affekt & Stimulation (eta= 0.12). Es bestätigt sich abermals die Hypothese (=H25); erneut liegen aber auch nur geringe Mittelwertsdifferenzen zu Grunde, die im multivariaten Modell schließlich beinahe vollständig verschwinden. Dennoch besteht eine Tendenz, wonach die Bedeutung von Kindern mit steigendem Wohlstand zu Gunsten alternativer Produktionsgüter zurückgeht. Die wahrgenommenen Kosten variieren mit größerer Deutlichkeit zwischen den Besitzgruppen, nur leider entgegen der erwarteten Richtung (H26): Sie fallen in Familien mit mittlerem und geringem Wohlfahrtsniveau sichtlich höher aus (3.4 bzw. 3.5) als in der Gruppe der ökonomisch besser Gestellten (3.0). Vor allem in Haushalten mit schlechter materieller Ausstattung sorgt sich die Befragte stärker um die Zukunft ihrer Kinder, wohl vor dem Hintergrund der beschränkten Ressourcenlage, die zum zukünftigen Wohlergehen der Kinder kaum beitragen wird.
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Multivariate Prüfung Die aufgeklärten Varianzanteile betragen in beiden Modellen 8% bzw. 6%, worin sich eine ausgeprägte Unabhängigkeit dieser Wertedimension von den getesteten Prädiktoren widerspiegelt (vgl. rechter Teil der Tab. 18). Das geht mit geringen Einzeleffekten einher, die oft keine eindeutige Richtung aufweisen und so ein Teil der Hypothesen nicht bestätigt wird. Das gilt zunächst und v. a. für die Abhängigkeit kleinräumlicher Opportunitätenstrukturen: Die erwarteten Stadt-Land Unterschiede von Nutzen und Kosten werden empirisch nicht belegt (H23, H24). Hypothesenkonform gestaltet sich jedoch der Effekt Geburtskohorte: Während der Nutzen weitgehend stabil bleibt (=H21), steigen die Kosten in den jüngeren Kohorten an (=H22). Für das Bildungsniveau ergibt sich wiederholt eine eingeschränkte Bestätigung, die sich daraus ableitet, dass sich entgegen dem behaupteten linearen Bedeutungsverlust ein leichter Bruch zwischen den Befragten mit sehr hoher Bildung und denen der restlichen Bildungsgruppen andeutet. Da für den Nutzen kein stetiger Rückgang über die vier Bildungsstufen hinweg nachgewiesen wird, ist die Hypothese zur Relevanz der individuellen Bildung insofern leicht zu berichtigen, als Substitutionseffekte für den Affekt- & Stimulationsnutzen erst in der höchsten Bildungsgruppe zur Wirkung kommen. Es zeigt sich im multivariaten Modell kein zusätzlicher Effekt des ökonomischen Status, weshalb anzunehmen ist, dass hierfür vornehmlich bildungs- und erwerbsbezogene Alternativen verantwortlich sind: Berufliche Verantwortung und Verpflichtung, verbunden mit individueller Entfaltungsmöglichkeit in höheren Berufspositionen setzen die Effizienz von Kindern vornehmlich für die Stimulationsproduktion herab. Da die Effekte schwach sind und geringfügige Abweichungen von den Erwartungen erkennen lassen, wird die Hypothese (=/H25) nur bedingt angenommen. Auch für die Kostenseite bleibt ein kontinuierlicher Bildungseffekt aus: Es sind die Befragten ohne Bildung(sabschluss), die die geringsten Affekt& Stimulationskosten angeben. Überraschenderweise zeigt sich daneben für den Statusindikator ein gegensätzlicher Effekt, demgemäß die Kosten mit Verschlechterung der ökonomischen Lage zunehmen. Möglicherweise kommt die Bildung der Befragten stärker über den Stimulationsaspekt zur Wirkung (‚nicht frei, das zu tun, was man möchte’), wohingegen der Statuseffekt vornehmlich durch die negative Affektproduktion unter schlechten ökonomischen Bedingungen hervorgerufen wird: Ökonomische Sicherheit mag beispielsweise weniger Anlass geben, sich um die ‚die Zukunft des Kindes’ zu sorgen. Insgesamt kann die behauptete systematische Abhängigkeit der Kosten von den sozioökonomischen Ressourcen nicht bestätigt werden (H26).
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Bereits die Abbildung 18 deutete auf geringe interindividuelle Variationen des Affekt- & Stimulationswertes auf hohem Niveau hin. Insgesamt bestätigen die soeben berichteten empirischen Analysen v. a. eine spürbar beschränkte Substituierbarkeit des Nutzenaspektes durch alternative Produktionsfaktoren. In Rechnung zu stellen ist hierbei allerdings, dass Frauen befragt wurden, die bereits ausnahmslos die Entscheidung für Elternschaft getroffen haben, was die außerordentlich hohen Affekt- & Stimulationswerte stützt. Parallel dazu sind Einschätzungen der (Opportunitäten-) Kosten von Frauen nicht erfasst, die sich (vorerst) gegen die Mutterschaft entschieden haben. Während also der Nutzen überschätzt sein sollte, sind die Kosten sehr wahrscheinlich unterschätzt. Das hat nicht nur Folgen für die Generalisierbarkeit von Ausprägungen, sondern auch für die Varianz der Werte von Kindern und darüber auf die Zusammenhangsprüfungen: Gerade für den Affekt- und Stimulationsnutzen ist ein Deckeneffekt festzustellen, der die Befunde der Varianzanalysen möglicherweise beeinträchtigt. 8.2.3 Steigende Salienz von Affekt und Stimulation? Eine weitere Berechnung verfolgt die Prüfung der geäußerten Vermutung einer steigenden Salienz von Affekt & Stimulation im Fall sinkender Komfort- & Wertschätzungswerte. Hierzu wird in die bisherige multivariate Modellierung zur Erklärung des Affekt- und Stimulationsnutzens das individuelle Ausmaß an Komfort & Wertschätzung in Form einer dichotomen Variable aufgenommen. Entgegen dem Salienz-Argument stellt sich ein positiver Effekt heraus: Je höher die Bedeutung von Kindern für die Produktion von Komfort & Wertschätzung ist, desto höher wird auch ihr Beitrag für den elterlichen Affekt & die Stimulation eingestuft. Dieser Befund erlangt statistische Bedeutsamkeit; der beta-Wert dieser Variable beläuft sich auf 0.29. Angesichts der positiven Verknüpfung beider Nutzenaspekte ist die Idee zu verwerfen, dass Kinder als Produzenten von Affekt & Stimulation stärker in Erscheinung treten, sobald der andere Bedeutungsaspekt an Wichtigkeit einbüßt. Zumindest in der Türkei scheint das Gegenteil der Fall zu sein, was gleichzeitig die Behauptung nährt, dass Kinder von multifunktionalem Charakter sind (vgl. Nye 1979: 11; Ormel et al. 1999: 71), was gleichwohl auf die Betrachtung des Nutzen beschränkt bleibt. Ihr Wert wird erst durch beide Instrumentalitätsdimensionen vollständig erfasst. Deren jeweilige Bewertung folgt keinem Nullsummenspiel, sondern beide Aspekte von Kindern wirken über die Dimensionen hinweg als „sich wechselseitig verstärkend“, was Kohlmann (2000: 181f.) bereits basierend auf den Daten der VOCStudie der 1970er u. a. für die Türkei festgestellt hat. Im Einklang hiermit ste-
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hen auch die vorangegangenen Befunde, wonach die Einflüsse (individueller) Modernisierung auf den affekt- & stimulationsbezogenen Beitrag analog zum Komfort- und Wertschätzungsnutzen ebenfalls negativ ausfallen, zumindest der Tendenz nach. Die Schlussfolgerung hieraus ist mit weit reichenden Konsequenzen verbunden: Sollte dieser Zusammenhang tatsächlich historisch und kulturell stabil sein – eine Generalisierung, die angesichts der wenigen vorliegende Befunde hierzu nicht vorgenommen werden kann – wäre eine, im Zuge der gesellschaftlichen und daraus resultierenden individuellen Modernisierung stattfindende Verschiebung vom komfort- & wertschätzungsbezogenen Nutzen von Kindern hin zum Affekt- & Stimulationsnutzen ausgeschlossen. Vielmehr wäre der Produktionsfaktor Kind von einem generellen Bedeutungsrückgang für die elterliche Zielrealisierung betroffen. Das widerspräche der Vermutung, die auf Basis des Vergleiches der türkischen VOC-Daten der 1970er mit den hier verwendeten Daten der Replikationsstudie geäußert wurde (vgl. Kap. 3.4.3), nämlich dass ein qualitativer Bedeutungswandel von Kindern zu erwarten ist. Gleichzeitig würde ein Gegenbeleg für die These von Kagitcibasi (1985, 1996) vorliegen, in der sie einen ebensolchen Bedeutungswechsel, den sie für kollektivistisch fundierte Gesellschaften wie die Türkei behauptet, dem allgemeinen Modernisierungspfad der westlichen Industrieländer entgegen stellt. Die Brisanz eines solchen Befundes ergäbe sich aus seiner Verbindung mit den handlungstheoretischen Implikationen der beiden Wertedimensionen von Kindern: Während (i) eine qualitative Werteverschiebung lediglich einen allgemeinen Rückgang von hohen zu geringen Kinderzahlen prognostizieren würde, ergäbe sich (ii) aus einem grundsätzlichen Bedeutungsverlust die Möglichkeit zur Verbreitung lebenslanger Kinderlosigkeit. Derlei Mutmaßungen bleiben soweit einigermaßen hypothetisch und sollen an dieser Stelle nicht vertieft werden. Im Abschlusskapitel dieser Arbeit wird diese Thematik abermals aufgegriffen, um sie innerhalb eines breiteren Rahmens historischer und kulturvergleichender Befunde zur Bedeutung intergenerationaler Beziehungen zu diskutieren. 8.2.4 Bilanz Zusammenfassend sind drei zentrale Befunde festzuhalten: (i) Der Affekt- & Stimulationsnutzen von Kindern erweist sich generell als höchst bedeutsam und variiert historisch, regional und inter-individuell nur sehr geringfügig, womit die stark begrenzte Substituierbarkeit von Kindern, zumindest auf dieser Dimension, unterstrichen wird.
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(ii) Im Vergleich dazu ist der kindbezogene Komfort- & Wertschätzungsnutzen überaus gut durch die Kohortenzugehörigkeit, kontextuelle Rahmenbedingungen sowie die individuelle Ausstattung mit Bildungs-, Erwerbs- und materiellen Ressourcen zu bestimmen. Bivariate Prüfungen stellen hierbei zunächst die direkte Wirkung zeitlicher Veränderungen sowie regionale Variationen relevanter institutioneller Rahmenbedingungen auf die entsprechende Nutzenbewertung heraus: Die empirisch nur indirekt prüfbaren Brückenhypothesen finden auf diese Weise ihre Bestätigung. Schließlich kann aber gezeigt werden, dass sich der in der Türkei vollzogene Wandel im Bildungs- und Erwerbssystem, in der sozialen Sicherung und der Wohlfahrtsverteilung, im Ausmaß der Verstädterung sowie institutionalisierten Familien- und Verwandtschaftsstrukturen weitgehend vermittelt über die individuelle Betroffenheit hiervon niederschlägt: Maßgeblich für die Bewertung von Kindern ist es, in welchem Ausmaß jeder Einzelne von der gesellschaftlichen Modernisierung profitiert hat. Je größer die Teilhabe der betrachteten Mutter an den Neuerungen, desto stärker nimmt ihre Bewertung von Kindern ab. (iii) Schließlich ist festzustellen, dass die Vorhersagen zur Abhängigkeit der Kinderkosten empirisch weitgehend widerlegt werden: Abgesehen von der Schwierigkeit, Alters- von Kohorteneffekten zu trennen, werden Kosten in unerwarteter Weise verstärkt von der Landbevölkerung wahrgenommen sowie von Frauen in ungünstiger Wirtschaftslage. Damit sind typischerweise die Teile der Bevölkerung angesprochen, die vom Fortschritt der letzten Jahrzehnte den geringsten Gewinn davon getragen haben, nicht zuletzt weil sie im zunehmenden Konkurrenzkampf v. a. auf dem Arbeitsmarkt unterliegen. Ungünstige ökonomische Rahmenbedingungen und schlechte Zukunftsaussichten lassen diese Frauen die Kosten, die mit Kindern verbunden sind, besonders stark spüren. Partiell wird dieser zum Teil sicherlich substantielle Befund durch die Wirkung eines Artefakts verstärkt, welches durch die Querschnittsdaten produziert wird und sich als ein Rückkoppelungseffekt darstellt: Die Frauen, die entsprechend der Ergebnisse recht hohe Kinderkosten angeben, äußern im Allgemeinen ebenfalls hohe Nutzenerwartungen, wobei die Bilanz hieraus zumeist vergleichsweise günstig ausfällt (das zeigen Ergebnisse, die hier nicht abgebildet sind). Gemäß der handlungstheoretischen Implikation des VOC sind für diese Frauen vergleichsweise hohe Kinderzahlen zu erwarten, von denen ein Teil sicherlich bereits realisiert wurde. Das hat zur Folge, dass die zum Befragungszeitpunkt aktuelle Erfahrung von vergleichsweise hohen Gesamtkinderkosten die Beantwortung dieser Frage entsprechend nach oben verzerrt. Im nachfolgenden Unterkapitel wird nun die für dieses Argument herangezogene Handlungsrelevanz des Wertes von Kindern geprüft.
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8.3 Determinanten des generativen Verhaltens? Im Mittelpunkt steht die Frage, ob sich die variable Kosten- und Nutzenstruktur von Kindern in entsprechend rational darauf abgestimmtem, generativen Verhalten niederschlägt. Die hierzu erstellten Hypothesen werden zunächst mit Blick auf den Zeitpunkt der Familiengründung sowie die Wahrscheinlichkeit und zeitliche Einbettung weiterer Geburten geprüft – an entsprechender Stelle unter Berücksichtigung des Geschlechts bereits geborener Kinder. 8.3.1 Zeitpunkt der Erstgeburt Für die Analyse des Alters bei der Erstgeburt genügt angesichts der ausschließlichen Befragung von Müttern eine statische Modellierung, wobei auf die lineare Regression zurückgegriffen wird. Das Erstgebäralter der befragten Mütter und Großmütter stellt die abhängige Variable dar; die je zwei Indikatoren zu Nutzen und Kosten von Kindern werden schrittweise als Prädiktoren aufgenommen. Ausschließlich die Variable Komfortnutzen & soziale Wertschätzung stellt sich als signifikant heraus; das Erstgebäralter wird hierdurch hypothesenkonform beeinflusst (=H34): Je wichtiger Kinder für die Befriedigung dieses Nutzens sind, desto früher erfolgt der Übergang zur Elternschaft (beta= -0.37). Ein paralleler Einfluss der entsprechenden Kosten ist nicht nachweisbar. Mit dem Affekt- & Stimulationswert wurde ein positiver Einfluss auf das Erstgebäralter verknüpft, der weder für den Nutzen noch die Kosten bestätigt werden kann (H36). Wenigstens 12% der Varianz werden durch das Gesamtmodell aufgeklärt, was hauptsächlich der Erklärungskraft von Komfort & Wertschätzung zu verdanken ist, deren Optimierung über eine frühzeitige Familiengründung angestrebt wird. Dass damit eine frühe Eheschließung einhergeht, ist angesichts der normativen Kopplung beider Ereignisse evident: So trägt dieser Nutzenaspekt auch zur Erklärung des Erstheiratsalters bei (beta= -0.34, p< 0.01) und dementsprechend korrelieren Erstheiratsalter der Frau und ihr Alter bei der Erstgeburt sehr stark (r= 0.88, p< 0.01). Ehen werden gerade in Kontexten, in denen die Gewährleistung von Komfort & sozialer Wertschätzung sehr stark von Kindern abhängt, mit dem Ziel der zeitnahen Geburt von Nachkommen geschlossen. Diese Behauptung kann mit einem zumindest moderaten, negativen Effekt des Komfort- & Wertschätzungsnutzens auf den zeitlichen Abstand zwischen Heirat und Erstgeburt gestützt werden (beta= -0.15, p< 0.01).
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8.3.2 Mehrfache Mutterschaft Graphische Betrachtung der Risikoverläufe. Einen prägnanten Einblick in die Wirkungsweise des Wertes von Kindern bieten die Überlebensraten für die Zweit- und Drittgeburt, geschichtet nach einem Index, der Nutzen und Kosten beider Instrumentalitätsdimensionen von Kindern kombiniert.67 Abbildung19 zeigt, dass für beide Paritäten die Risikoverläufe am steilsten sind, wenn Komfort & Wertschätzung hoch bewertet werden. Interessant ist, dass eine gleichzeitige, geringe Bedeutsamkeit von Kindern für die Affekt- & Stimulationsproduktion die Geburtenneigung weiter leicht erhöht: Dienen Kinder ausschließlich der Realisierung von Komfort & Wertschätzung, ist die (zügige) Geburt von zweiten und dritten Kindern effizient. Die Überlebenswahrscheinlichkeit der Zweitgeburt tendiert für diese VOC-Konstellation sichtbar gegen Null. Sofern daneben die Eltern-Kind-Beziehung für die Affekt- & Stimulationsproduktion als effizient wahrgenommen wird, wird etwas häufiger auf die Zweitgeburt verzichtet. Gelten Kinder vordergründig als Affekt- & Stimulationsproduzenten und ihr Beitrag für Komfort & Wertschätzung nimmt eine untergeordnete Rolle ein oder kommt Kindern generell eine geringe oder keine Instrumentalität für die elterliche Bedürfnisbefriedigung zu, dann finden weitere Geburten deutlich später im Lebenslauf und überdies auch seltener statt: Dennoch haben immerhin ca. 80% dieser Mütter gegen Ende des Beobachtungszeitraums (Geburt 2= 39 Jahre) ein zweites Kind bekommen. Es deutet sich an, dass der Übergang zur Zweitgeburt für alle Mütter der Stichprobe sehr wahrscheinlich ist. Ein substantieller Teil hingegen wird kein drittes Kind zur Welt bringen. Variationen entlang des Wertes von Kindern treten deutlicher hervor: Circa 50% der Mütter mit einem hohen Wert auf der Komfort- & Wertschätzungsdimension haben im Alter von 35 Jahren bereits mindestens drei Kinder geboren, im Vergleich zu etwa einem Drittel der Frauen, die diesbezüglich geringe Erwartungen an Kinder richten. Die Wertekombination differenziert bei der Drittgeburt stärker als bei der Zweitgeburt. Als Zwischenbilanz ist ein starker, fertilitätsfördernder Einfluss von Komfort & Wertschätzung festzuhalten, der sich sowohl im timing als auch der Wahrscheinlichkeit der Zweit- und Drittgeburt niederschlägt.
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Hierzu wurde zunächst aus den vier VOC-Indikatoren pro Dimension ein Saldo-Index generiert, der sich jeweils aus der Verrechnung der Kosten und Nutzen ergibt. Daraus wurde ein kombinierter kategorialer Index erstellt, indem zunächst die beiden Saldo-Indizes jeweils dichotomisiert wurden, unter der Maßgabe, dass beide Kategorien jeweils gleich stark besetzt sind. Aus der anschließenden Kombination der beiden dichtotomen Variablen ergibt sich der hier verwendete Indikator mit den in Abbildung 19 verwendeten Ausprägungen.
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Abbildung 19: Überlebenskurven Zweit- und Drittgeburt in Abhängigkeit vom Wert von Kindern 1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1
Geburt Kind 2
0,0 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 Lebensalter 1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1
Geburt Kind 3
Komfort/Wertschätzung & Affekt/Stimulation gering Komfort/Wertschätzung gering & Affekt/Stimulation hoch Komfort/Wertschätzung hoch & Affekt/Stimulation gering Komfort/Wertschätzung & Affekt/Stimulation hoch
0,0 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Lebensalter
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen.
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Parametrische Modellierung der Übergänge. Die folgende parametrische Modellierung der Zweit- und Drittgeburt dient der Präzisierung der Befunde, indem sie konkrete Effektstärken für die Richtung und die Stärke der VOC-Einflüsse herausarbeitet. Sie erfolgt in Abhängigkeit von den Werten von Kindern68 und analog Kapitel 2 dem generalisierten log-logistischen Modell folgend. Die Tabelle 19 bildet die Ergebnisse ab. Der Fokus liegt auf dem VOC-abhängigen aTerm, der den Einfluss auf die zeitliche Einbettung des Ereignisses in den individuellen Lebenslauf widerspiegelt sowie auf dem c-Term, der die Höhe bzw. die Intensität der Übergangsrate schätzt und somit Auskunft über das Risiko der jeweiligen Geburt gibt.69 Überdies wird an erforderlicher Stelle das Pseudo-R² (hier: Mc Fadden) berichtet: Es stellt kein Maß der Varianzaufklärung dar, sondern gibt lediglich die relative Verbesserung (Verkleinerung) des loglikelihood-Wertes des Nullmodells durch die Schätzung unter Einbezug der Kovariaten an (Blossfeld et al. 1986; Brüderl & Diekmann 1994, 1995). Dementsprechend erweist es sich dann als ein sinnvolles Maß, wenn der Vergleich von Gesamtmodellen für relevante Untergruppen im Vordergrund steht. Zweitgeburt Die mittlere Spalte der Tabelle 19 belegt, dass die Entscheidung der Geburt eines zweiten Kindes beinahe ausschließlich vom Komfort- & Wertschätzungsnutzen beeinflusst wird. Dieser Nutzenaspekt erweist sich in zweierlei Hinsicht als förderlich: Einerseits erhöht er die Wahrscheinlichkeit der Zweitgeburt (Exp(c)= 1.31) (=H31) und andererseits beschleunigt er sie (Exp(a)= 0.94) (=H35). Die entsprechenden Hypothesen erfahren allerdings nur eine partielle Bestätigung, da sich die Effekte auf den positiven Beitrag von Kindern für Komfort & Wertschätzung beschränken. Vergleichbare Kosten zeigen keine Wirkung; auch die zusätzliche Einführung des stärker materiell ausgerichteten Items ‚schwieriger, seinem Job nachzugehen’ ändert daran nichts.
68 Die Analysen beruhen auf den vier VOC-Mittelwertsindikatoren, die vorab auf ganze Zahlen gerundet wurden. Der hiermit verbundene Informationsverlust ist zu Gunsten der Durchführbarkeit des umfangreichen Schätzalgorithmus im Rahmen des gewählten Übergangsmodells nicht zu vermeiden. 69 Eine Untersuchung des b-Terms in Abhängigkeit der VOC-Indikatoren ist entbehrlich, wäre im simultanen Modell aber ohnehin nicht möglich: Zu viele Parameter wären zu schätzen, was die zur Verfügung stehende Programmierung nicht leisten könnte. Für ihn wird lediglich die Schätzung einer Konstante veranlasst, um zu prüfen, ob beide Ereignisse grundsätzlich einem sichel- oder glockenförmigen Verlauf folgen. Hierzu sollten die unstandardisierten Koeffizienten jeweils beträchtlich über dem Wert 1 liegen.
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Tabelle 19: Zweit- und Drittgeburt in Abhängigkeit vom Wert von Kinderna VOC-Prädiktoren
Ereignisanalyse: Standardisierter Koeffizient +Sig. Geburt Kind 2 Geburt Kind 3
a-Term (Timing) Nutzen: Komfort & Wertschätzung
0,94**
0,99
Nutzen: Affekt & Stimulation
1,04+
1,01
Kosten: Komfort & Wertschätzung
1,02
1,00
Kosten: Affekt & Stimulation
0,99
0,98
Nutzen: Komfort & Wertschätzung
1,31**
1,83**
Nutzen: Affekt & Stimulation
1,02
0,67**
Kosten: Komfort & Wertschätzung
1,03
0,81*
c-Term (Risiko)
Kosten: Affekt & Stimulation
1,07
0,96
b-Konstante (unstandardisiert)
2,37
2,59
N
622
431
Zensiert
156
215
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen. Anmerkung: generalisiertes log-logistisches Modell, **p< 0.01, *p< 0.05, +p< 0.1, a Bei der Ergebnisinterpretation ist zu beachten: (i) Zweitgeburt weist einen geringen Anteil zensierter Fälle auf. (ii) Das generalisierte log-logistische Modell versucht zwar Risiko- von Timingeffekten zu trennen, gleichwohl ist das gerade mit Blick auf Fertilitätsprozesse nur sehr bedingt möglich, da beide Effekte stark zusammenhängen: Angesichts der Altersgrenze der Gebärfähigkeit bedeutet jeglicher zeitliche Aufschub einer Geburt die Reduktion ihrer Eintretenswahrscheinlichkeit.
Die Schätzungen widersprechen ferner der Hypothese zur Verhaltensrelevanz von Affekt & Stimulation, indem sich der erwartete Timingeffekt in gegensätzlicher Richtung zeigt: Ein Anstieg des entsprechenden Nutzens führt dazu, dass die Geburt eines zweiten Kindes aufgeschoben wird (37). Auch wenn der Koeffizient nur sehr gering ausfällt und sich lediglich auf dem 10%-Niveau als statistisch bedeutsam erweist (Exp(a)= 1.04), ist er weit davon entfernt eine Beschleunigung der Zweitgeburt zu indizieren. Vielmehr wird der Verdacht einer aufschiebenden Tendenz durch eine ergänzende Analyse erhärtet, die die Zeitspanne zwischen Erstgeburt und Zweitgeburt betrachtet. Diese Variable hat den Vorteil, dass das Alter bei Erstgeburt, das nicht ohne Einfluss auf das Alter bei Zweitgeburt ist, separiert wird. Der Koeffizient des a-Terms für Affekt- & Stimulationsnutzen wächst nunmehr auf 1.21 an und erweist sich als höchst signifikant. Dieser Befund ist insbesondere in Zusammenschau mit der ebenfalls
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nicht bestätigten Hypothese zum Alter bei der Erstgeburt (H36) interessant: Affekt- & Stimulationserwartungen erhöhen weder das Erstgebäralter noch verkürzen sie die Zeitspanne bis zur zweiten Geburt. Stattdessen deutet sich eine Optimierung dieses Nutzenaspektes durch eine zeitliche Ausdehnung der Geburten an. Der erwartete Ertrag von Kindern wird auf den Lebenslauf verteilt bzw. optimiert er sich gerade dadurch, Kinder in unterschiedlichem Alter und somit in unterschiedlichen Entwicklungsphasen parallel zu erleben und zu erziehen.70 Drittgeburt Das Alter der Mutter bei der Geburt des dritten Kindes erweist sich als vollständig unabhängig vom VOC-Arrangement: Es zeigen sich keine substantiellen Effekte; alle standardisierten Koeffizienten des a-Terms bewegen sich nahe dem Wert 1. Den Erwartungen entsprechend wird aber die Wahrscheinlichkeit der Drittgeburt maßgeblich vom VOC des Entscheidungsträgers geprägt. Ein negativer und damit erwartungskonformer Effekt auf die Drittgeburt geht von Affekt & Stimulation aus (Exp(c)= 0.67): Zwar ist der Kostenaspekt unerheblich für das generative Verhalten, jedoch senken entsprechende Nutzenerwartungen das Risiko um 33% pro Einheit. Damit wird die zugehörige Hypothese zumindest teilweise gestützt (=H33). Mit großer Deutlichkeit bestätigt sich die Hypothese zur Wirksamkeit von Komfort & sozialer Wertschätzung (=H32). Diesmal erweisen sich sowohl der Nutzen als auch die Kosten als verhaltensrelevant. Entsprechend hoch bewertete Nutzenerwartungen beeinflussen die Drittgeburt positiv (Exp(c)= 1.83): Die Wahrscheinlichkeit, dass ein drittes Kind geboren wird erhöht sich um 83%, wenn dieser Nutzen um eine Bewertungseinheit steigt (bei einem 5-stufigen Skalenniveau). Steigende Kosten hingegen schmälern die Auftretenswahrscheinlichkeit (Exp(c)= 0.81) um 19% pro Kosteneinheit. Findet neben den vier Indikatoren das Item ‚schwieriger, seinem Job nachzugehen’ Berücksichtigung, so kann hierfür ein leicht negativer Risikoeffekt festgestellt werden (Exp(c)= 0.87, p< 0.1, nicht in Tab. 17 abgebildet), was im Einklang mit der Erwartung steht. Allerdings erhöht sich dadurch nicht die Gesamterklärung der Drittgeburt, da in diesem Schritt der Indikator der Komfort- & Wertschät70 Eine alternative Interpretation in Form einer negativen Rückkoppelung der Erfahrung mit dem ersten Kind, ähnlich dem Ein-Kind-Schock, wäre auch denkbar: Befragte, die vordergründig Affekt& Stimulationswerte mit Kindern verbinden, unterliegen möglicherweise einem systematisch höheren Risiko, dass diese hohen Erwartungen nicht oder nur unbefriedigend erfüllt werden bzw. sogar in Kosten umschlagen. Das könnte dazu führen, dass eine grundsätzlich beabsichtigte Zweitgeburt zumindest zeitlich aufgeschoben wird. Für diese Interpretation allerdings, sollten sich die Affekt- & Stimulationskosten als verhaltensrelevant beweisen, was nicht der Fall ist.
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zungskosten seine Erklärungskraft einbüßt. Vermutlich ist insbesondere die Komfortdimension ausschlaggebend, während die Effizienz von Kindern für die soziale Wertschätzung bereits nach dem zweiten Kind erschöpft sein sollte – sowohl in ihrer Wirksamkeit als Nutzen sowie als Kosten. Ferner wird davon ausgegangen, dass die Erklärungskraft des Komfortaspektes in den nächst höheren Paritäten zunimmt: Kinderreichtum ist explizit an derlei Erwartungen geknüpft. Die stark eingeschränkten Fallzahlen ab der vierten Geburt lassen diese Prüfung leider nicht zu. Für den im Rahmen der Hypothesenbildung vermuteten Wechsel der generativen Strategie zur Optimierung von Komfort & Wertschätzung lassen sich tatsächlich Hinweise finden. Hierfür wird das Risiko, ein drittes Kind zu bekommen, erneut geschätzt: Zusätzlich zu den beiden Indikatoren zu Komfort & Wertschätzung werden die Kontextvariable (Stadt vs. Land) sowie eine dichotome Variable zur Geburtskohorte (bis 1950 geborener Frauen vs. Frauen, die danach geboren wurden) aufgenommen. Der positive Effekt des Nutzenindikators bestätigt sich. Darüber hinaus zeigt sich, dass städtische sowie junge Frauen mit geringerer Wahrscheinlichkeit ein drittes Kind bekommen als die Frauen der jeweiligen Vergleichsgruppen. Als Ursache hierfür wird die variierende Opportunitätenstruktur zur Realisierung von Komfort & Wertschätzung vermutet: Das soll nicht dergestalt missverstanden werden, dass eine Gruppe schlechtere Möglichkeiten hätte als die andere – das sollte sich direkt in der Effizienz von Kindern und damit in ihrem Wert niederschlagen – sondern die Möglichkeiten sind jeweils andere: Junge oder städtische Frauen, die Kinder als effizienten Produktionsfaktor von Komfort & Wertschätzung einschätzen, gehen angesichts des modernen, städtischen Arbeitsmarktes, auf dem eine hohe Qualifikation von Vorteil ist, vernünftigerweise dazu über, in weniger, dafür aber besser ausgebildete Kinder zu investieren. Das befähigt diese im Erwachsenenalter ihre Eltern besser zu versorgen und zu unterstützen. Besonders deutlich lässt sich ein historischer Wechsel belegen, als der standardisierte Koeffizient der Risikoschätzung 0.28 beträgt und höchst signifikant ist. Tendenziell ein Effekt derselben Art ist für städtische Frauen zu finden, wenngleich ohne Signifikanz (Exp(c)= 0.84). Insgesamt lässt sich eine durchaus beachtliche Erklärungskraft der Werte von Kindern festhalten. Im Detail belegen die Befunde, dass sich v. a. die elterlichen Nutzenerwartungen in erwarteter Weise im entsprechenden generativen Verhalten niederschlagen, hingegen die Kosten in überraschender Weise nur sehr eingeschränkt verhaltenswirksam sind.
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8.3.3 Geschlechterpräferenz Darüber hinaus können Hinweise auf ein geschlechtsbezogenes Verhalten gefunden werden, indem die Zweit- und Drittgeburt ereignisanalytisch in Abhängigkeit vom Geschlecht bereits geborener Kinder betrachtet werden – zunächst für alle befragten Mütter, anschließend in Abhängigkeit von der Komfort- & Wertschätzungsdimension.71 Der mittlere Teil der Tabelle 20 belegt eine übergreifende Sohnpräferenz, die sich darin äußert, dass die Erstgeburt eines Mädchens die Geburt eines zweiten Kindes forciert: Eine Schätzung der Übergangsrate in Abhängigkeit vom Geschlecht des ersten Kindes für alle Befragten (Modell 1) erbringt einen signifikanten Risikoeffekt (Exp(c)= 1.37). Demnach steigt die Wahrscheinlichkeit der Zweitgeburt um 37%, sofern das erste Kind ein Mädchen ist. Der Zeitpunkt der Geburt des zweiten Kindes bleibt unbeeinflusst. Im Widerspruch zu dieser allgemeinen, am konkreten Verhalten festgestellten Sohnpräferenz steht die Beantwortung der Frage nach der Bevorzugung eines Geschlechtes unter der Maßgabe, nur ein Kind gebären zu dürfen. Diese Einstellungsabfrage offenbart eine gegensätzliche Tendenz: 42% aller Befragten geben an einen Jungen zu bevorzugen; die Mehrheit jedoch zieht ein Mädchen vor (59%).72 Eine Wiederholung der soeben berichteten Schätzungen des Übergangs zum zweiten Kind, getrennt für diese unterschiedlichen Geschlechtspräferenzgruppen, führt zu einem erstaunlichen Ergebnis (nicht in Tab. 20 abgebildet): Die Präferenz ist lediglich für die Mütter verhaltensrelevant, die gemäß eigener Aussage einen Jungen bevorzugen. Für sie ist ein enger Zusammenhang zwischen dem Geschlecht des Erstgeborenen und der Geburt eines zweiten Kindes in erwartbarer Richtung nachweisbar: Haben sie als erstes Kind eine Tochter bekommen, so verdreifacht das nahezu die Wahrscheinlichkeit ein zweites Kind zu gebären, gegenüber denen unter ihnen, die einen Sohn als Erstgeborenen haben (Exp(c)= 2.92, p 0.01). Kein signifikanter Koeffizient wird für die Mütter geschätzt, die eine Mädchenpräferenz behaupten: Ob sie ein zweites Kind bekommen oder nicht ist trotz ihrer Bevorzugung von Mädchen nicht vom Geschlecht des erstgeborenen Kindes abhängig (Exp(c)= 0.97). Das deutet eine verhaltensunwirksame Vorliebe für weibliche Nachkommen an. Eine Erklärung hierfür könnte darin zu finden sein, dass sich die Mädchenpräferenz weitestgehend nachträg71 Hierzu erfolgt eine Gruppenbildung basierend auf einer Variablen, die die Gesamtstichprobe der Mütter bezüglich der Saldo-Variable von Kosten und Nutzen auf der Dimension Komfort & Wertschätzung in zwei gleich große Unterstichproben teilt. 72 Zunächst wurden alle Mütter gefragt: ‚Wenn Sie nur ein Kind hätten, sollte das lieber ein Junge oder ein Mädchen sein oder ist Ihnen das egal?’. Den Befragten, die diese Frage unentschieden beantworteten, wurde anschließend eine Entscheidung zwischen beiden Geschlechtern abverlangt.
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lich aus dem Geschlecht des erstgeborenen Kindes ableitet und weniger ursachlicher Art ist/^ Tabelle 20: Zweit- und Drittgeburt in Abhangigkeit vom Geschlecht geborener Kinder sowie Komfort und Wertschatzung Prddiktoren: Geschlechterkonstellation
Ereignisanalyse: Standardisierter Koeffizient +Sig. Zweitgeburt
Drittgeburt
(l)Gesamt
(2)G
(3)H
1,04
1,07
1,04
(l)Gesamt
(2)G
(3)H
0,99
1,07
0,92
0,92+
0,89
0,94
0,68+
1,08
0,43**
0,54**
0,55*
0,52**
a-Term (Timing) Erstes Kind: Madchen (Ref.: Junge) Kind 1 & 2: Jungen {Ref.: 2 Madchen) Kind 1 & 2: J & M (Ref.: 2 Madchen) c-Term (Risiko) Erstes Kind: Madchen (Ref: Junge)
1,37**
1.60**
1,38*
Kind 1 & 2: Jungen (Ref: 2 Madchen) Kind 1 & 2: J & M (Ref: 2 Madchen) 10,78
8,25
13,87
13,92
11,94
17,29
N
657
328
326
443
207
233
Zensiert
170
93
77
224
120
104
Pseudo-R^
23
21
26
18
16
22
b Konstante (unstand.)
Quelle: Tiirkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen. Anmerkung: generalisiertes log-logistisches Modell, G= Komfort & Wertschatzung gering, H= Komfort & Wertschatzung hoch, **p< 0.01, *p< 0.05, +p< 0.1. Betrachtet man das am Geschlecht ausgerichtete Geburtenverhalten in Abhangigkeit von der Bedeutung der Nachkommen fiir Komfort & Wertschatzung, so zeigt sich eine Tendenz kontrar zur Erwartung (T^HSS): Der Risikoeffekt fiir ein ^^ Diese Vermutung wird durch folgenden Befund gestiitzt: Auf einen Sohn als Erstgeborenen verteilt sich die Geschlechterpraferenz wesentlich ausgeglichener (56% dieser Mutter bevorzugen Jungen) als auf eine erstgeborene Tochter (74% dieser Mutter bevorzugen ein Madchen). Ware die Beantwortung der Frage nach der Geschlechterpraferenz unabhangig vom Geschlecht geborener Kinder, so miisste sich eine ahnliche Verteilung bei erstgeborenen Sohnen und Tochtem zeigen was allerdings nicht der Fall ist.
8 Ergebnisse
205
zweites Kind erreicht in der Unterstichprobe der Frauen, die auf der Dimension Komfort & Wertschätzung hohe Werte aufweisen (Modell 3), überraschenderweise einen geringeren Koeffizienten (Exp(c)= 1.38) als bei Müttern mit vergleichsweise geringem Komfort- & Wertschätzungswert (Modell 2: Exp(c)= 1.60). Die Differenz ist zumindest relativ gering und bestätigt sich nicht für die Drittgeburt. Die Befunde hierzu finden sich im rechten Teil der Tabelle 20. Referenzgruppen stellen jeweils die Mütter dar, deren erste beiden Kinder Mädchen sind. Die VOC-neutrale Schätzung (Modell 1) stellt für beide Vergleiche heraus, dass die Geburt von zumindest einem Sohn die Wahrscheinlichkeit der Geburt eines dritten Kindes herabsetzt: Zwei Söhne im Vergleich zu zwei Töchtern, zeigen einen ähnlich negativen Risikoeffekt (Exp(c)= 0.68) wie eine Tochter und ein Sohn, ebenfalls im Vergleich zu zwei Töchtern (Exp(c)= 0.54). Dass ein drittes Kind bei einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis mit der geringsten Wahrscheinlichkeit geboren wird, deutet auf eine Vermischung mit einem Affekt- & Stimulationseffekt hin: Es wird erwartet, dass dieser Wert durch eine Kombination beider Geschlechter optimiert wird; die Wiederholung eines Geschlechts erbringt keinen weiteren Nutzenzuwachs. Der Zeitpunkt der Drittgeburt bleibt ebenfalls von der Geschlechterzusammensetzung unbeeinflusst. Zur eigentlichen Hypothesenprüfung erfolgt wiederum die Berechnung getrennt nach der individuellen Bedeutsamkeit von Komfort & Wertschätzung (Modelle 2 und 3 im rechten Teil der Tab. 20). Hier stellt sich nun der erwartete Effekt ein: Mütter mit diesbezüglich hohen Erwartungen unterliegen einem deutlich geringeren Risiko einer weiteren Geburt, wenn sie bereits mindestens einen Jungen zur Welt gebracht haben (Exp(c)= 0.43 bzw. 0.52). Die Hypothese (=H38) wird bestätigt: Wenn sich Eltern von Kindern einen hohen Beitrag zum Komfort & zur sozialen Wertschätzung erwarten, dann kann dieser in optimaler Weise mit der Geburt eines männlichen Nachkommens geleistet werden. Bei Müttern mit geringen Erwartungen auf dieser Dimension reduziert sich dieser Effekt bzw. zeigt er sich nur für den Vergleich von Sohn & Tochter gegenüber der Referenzgruppe von zwei Töchtern (Exp(c)= 0.55): Das ist erneut ein Hinweis auf die Wirksamkeit des Affekt- & Stimulationswertes bei gleichzeitig ungünstiger Komfort- & Wertschätzungsbilanz: Ein kompletter Geschlechtersatz, d. h. eine Tochter und ein Sohn, bietet für diese Wertekonstellation eine optimale Zielrealisierung; ein drittes Kind verspricht keinen weiteren Zugewinn. Es kann festgehalten werden, dass unabhängig von der Bedeutung von Kindern für Komfort & Wertschätzung, die Wahrscheinlichkeit einer Zweitgeburt steigt, sofern das erste Kind ein Mädchen ist. Damit wird, entgegen der allgemeinen Selbsteinschätzung der Mütter, eine übergreifende Sohnpräferenz im Verhalten festgestellt. Ist keines der beiden ersten Kinder ein Junge, so er-
206
8 Ergebnisse
höht sich die Wahrscheinlichkeit ein drittes Kind zu bekommen speziell unter der Bedingung hoher Komfort- & Wertschätzungserwartungen. Damit wird zumindest teilweise die Vermutung gestützt, dass Komfort & Wertschätzung stärker an männliche Nachkommen gerichtet sind, weil ihnen auf dieser Dimension eine größere Effizienz zukommt (=/H38). Im Einklang hiermit sind sowohl die Zweit- als auch Drittgeburt jeweils in den Gruppen von Müttern durch höhere Werte der Modellverbesserung gekennzeichnet, die Komfort & Wertschätzung hohe Bedeutsamkeit beimessen (vgl. Modelle (3)). Die generativen Implikationen des VOC beschränken sich also nicht nur auf Anzahl und Zeitpunkt der Geburten, sondern schließen geschlechtsbezogenes Verhalten ein. 8.3.4 Verhaltensrelevanz von Eintrittswahrscheinlichkeiten Die empirische Überprüfung der im Erklärungsmodell explizit eingebrachten Verhaltensrelevanz der Wahrscheinlichkeit, mit der der Eintritt einer kindbezogenen Handlungsfolge erwartet wird, kann zumindest für den Komfortaspekt überprüft werden: Für ihn ist eine Differenzierung in lang- und kurzfristig erwarteten Nutzen möglich. Beide Indikatoren fließen gleichzeitig in die Modelle zur Verhaltensvorhersage ein um vergleichend deren Erklärungskraft zu testen. In Tabelle 21 sind die Befunde für die Erst- bis Drittgeburt zusammen gestellt. Tabelle 21: Wirkung kurz- vs. langfristig erwarteten Komforts Erstgebäralter
Lineare Regression: beta +Sig.
Langfristig
-0,12 **
Kurzfristig
-0,24 **
N Geburt: c-Term (Risiko)
686 Ereignisanalyse: Standardisierte Koeffizienten +Sig. Zweitgeburt
Drittgeburt
Langfristig
1,14 **
1,12
Kurzfristig
1,30 **
1,29 **
N
659
450
Zensiert
171
229
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen. Anmerkung: generalisiertes log-logistisches Modell, **p< 0.01; Zusammensetzung langfristiger Index: ‚weil man mit Kindern im Alter seltener einsam ist’ & ‚weil Kinder helfen können, wenn Sie alt sind’; kurzfristiger Index: ‚weil ein Kind im Haushalt hilft’ & ‚um eine weitere Person zu haben, die der Familie finanziell hilft’.
8 Ergebnisse
207
Durchweg zeigt sich eine stärkere Verhaltensrelevanz kurzfristiger Nutzenerwartungen: Für alle drei Paritäten übersteigen die Koeffizienten des kurzfristigen Indikators die des langfristigen Indikators, wenngleich die Differenzen nur moderat ausfallen. Dass Kinder möglicherweise im Haus (halt) helfen und einen ökonomischen Beitrag leisten werden, reduziert einerseits das Erstgebäralter und erhöht andererseits die Wahrscheinlichkeit der Geburt eines zweiten und dritten Kindes deutlicher, als die Aussicht auf den Erhalt der gewünschten Unterstützung im Alter. Somit bestätigt sich die Hypothese (=H39): Sie stützt sich auf das Argument, dass die Realisierungswahrscheinlichkeit und die Entscheidungssicherheit bei Erwartungen, die kurz nach der gezeigten Handlung in Erfüllung gehen sollten, höher eingestuft werden und diese somit höhere Handlungsrelevanz besitzen als eher unsichere Erwartungen, deren Realisierungszeitpunkt erst in ferner Zukunft liegt. 8.3.5 Wirkung von Anreizen und Barrieren Für die Prüfung der Wirkungsweise externer Faktoren auf die Beziehung zwischen der individuellen Wertekonstellation und dem generativen Verhalten stehen drei dichotome Indikatoren bereit; die Analysen zur Vorhersage generativen Verhaltens werden jeweils getrennt für deren beide Ausprägungen berechnet. Es wird erwartet, dass eine deutliche Wahrnehmung externer Barrieren oder Anreize zur Ausführung des Verhaltens, die Vorhersagekraft des VOC mindert. Zunächst wird die Variable ‚Angst vor der Geburt und der Schwangerschaft’ untersucht, die insbesondere den Übergang zur Mutterschaft behindern müsste. Lineare Regressionsanalysen, analog zur Erklärung des Erstgebäralters, werden zur Überprüfung berechnet. Die Einführung des Komfort- & Wertschätzungsnutzens genügt, da dieser Indikator als einziger erklärungskräftiger Prädiktor herausgestellt wurde (vgl. Kap. 8.3.1). Die Befunde bestätigen tatsächlich eine geringfügige Störung: In der Gruppe der Frauen, die keine oder kaum Angst vor den körperlichen Belastungen einer Schwangerschaft angegeben haben, fällt die Erklärungskraft der VOC-Komponente leicht höher aus (beta= -0.39) als in der Vergleichsgruppe (beta= -0.31). Getrennte Analysen, demselben Prinzip folgend, werden für die Zweit- und Drittgeburt durchgeführt, diesmal unter Verwendung der zwei Indikatoren, die die generative Präferenz des Partners abbilden. Die Befunde einer vergleichenden Gegenüberstellung der ereignisanalytischen Modelle, beschränkt auf die Schätzung des Risiko-Parameters, finden sich in Tabelle 22. Die Befragtengruppen mit jeweils hohen externen (Partner-) Einflüssen, seien sie in ihrer Wirkung auf die Geburt positiv oder negativ, sind grau unterlegt. Das sind die Gruppen,
208
8 Ergebnisse
für die eine abgeschwächte Erklärungskraft der VOC-Indikatoren erwartet wird. Die Befunde untermauern durchaus diese Vermutung, wenngleich nur leichte Tendenzen auszumachen sind: Werden lediglich die signifikanten Koeffizienten in Betracht gezogen, so fallen diese in den jeweils unbeeinflussten Gruppen durchweg höher aus. Damit wären Indizien für die negative Wirkung von externen Barrieren und Anreizen auf die Umsetzung der generativen Handlungsmotivation in entsprechendes Verhalten erbracht. Die Hypothese (=H40) erfährt somit einige Bestätigung. Tabelle 22: Wirkung von Anreizen und Barrieren
Prädiktoren
Ereignisanalyse Zweitgeburt: Standardisierte Koeffizienten +Sig. Anreiz: Mann will Barriere: Mann will (weiteres) Kind kein (weiteres) Kind Gering Hoch Gering Hoch
c-Term (Risiko) Nutzen: Komfort & Wertschätzung
1,64**
1,41**
1,68**
1,41**
Nutzen: Affekt & Stimulation
0,99
0,85
1,02
0,85
Kosten: Komfort & Wertschätzung
0,97
1,15
0,96
1,10
Kosten: Affekt & Stimulation
1,00
0,97
0,98
0,97
N
404
177
315
268
Zensiert
112
59
105
67
Pseudo-R² (Modellverbesserung)
24
27
25
26
Ereignisanalyse Drittgeburt: Standardisierte Koeffizienten +Sig. c-Term (Risiko) Nutzen: Komfort & Wertschätzung
1,79**
1,69**
2,30**
1,55**
Nutzen: Affekt & Stimulation
0,70+
0,70
0,65+
0,70+
Kosten: Komfort & Wertschätzung
0,90
0,83
0,73+
0,96
Kosten: Affekt & Stimulation
0,98
1,10
1,04
0,98
N
271
113
192
194
Zensiert
177
50
124
105
Pseudo-R² (Modellverbesserung)
19
24
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen. Anmerkung: generalisiertes log-logistisches Modell, **p< 0.01, *p< 0.05, +p< 0.1.
21
21
8 Ergebnisse
209
8.3.6 Bilanz Als zentraler Befund zeigt sich eine durchweg zufrieden stellende empirische Anpassung für beide Nutzenkomponenten. Das generative Verhalten wird entscheidend von den Nutzenerwartungen, die (potentielle) Eltern an Kinder stellen, mitgeprägt: Hoher Komfort- & Wertschätzungsnutzen trägt dazu bei, dass (i) der Übergang zur Mutterschaft früher im Lebenslauf vollzogen wird, (ii) zweite Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit geboren werden, was (iii) mit größerer Effektstärke auch für den Übergang zum dritten Kind gilt. Kinderreichtum hingegen erweist sich (iiii) als unwahrscheinlich, sofern der Affekt- & Stimulationsnutzen von Kindern im Vordergrund steht. Da es sich hierbei um Befunde aus multivariaten Analysen handelt, lassen sie sich in dieser Form interpretieren, da die betrachteten Zusammenhänge um die Wirksamkeit der jeweils anderen Wertekomponenten von Kindern bereinigt sind bzw. kontrolliert werden. (iiiii) Darüber hinaus kann eine allgemeine Präferenz für Söhne nachgewiesen werden, indem ausschließlich weibliche Nachkommen die Geburt weiterer Kinder forcieren. In höheren Paritäten erreicht diese Verhaltenswirksamkeit besondere Stärke, sofern der Komfort- & Wertschätzungsnutzen von Kindern hoch ist, womit auf dessen geschlechtsspezifische Realisierung verwiesen wird. Unbefriedigend fällt das unerwartet geringe Erklärungspotential der Kosten aus. Die empirischen Modelle werden auch nicht durch die Berücksichtigung von Opportunitätenkosten finanzieller Art verbessert (Item ‚schwieriger, seinem Job nachzugehen’). Es scheint, als haben die Kosten kaum Verhaltensrelevanz und es ist vornehmlich der mit Kindern verbundene (oder fehlende) Nutzen, der über ihre (Nicht-) Geburt entscheidet. Dieser Befund ist genauer zu betrachten: (1) Zunächst ist die Begrenzung der Stichprobe auf Mütter zu bedenken. Diese Selektion erlaubt nur eine eingeschränkte Prüfung der Kosten, die im Durchschnitt recht gering eingestuft werden, was nicht zuletzt zum Übergang dieser Frauen in die Mutterschaft beigetragen haben wird. Es wird vermutet, dass sich das Vorhersagepotential der Kosten auf die Erstgeburt konzentriert; sie werden sich zunächst und v. a. hierauf negativ auswirken. Dass sie keine Wirkung auf die Zweitgeburt, wohl aber, wenn auch nur geringfügig, auf die Wahrscheinlichkeit der Drittgeburt haben, kann so verstanden werden, dass derlei Kosten erst wieder in höheren Paritäten Verhaltenswirksamkeit erlangen. Hat man sich einmal für ein Kind entschieden, werden die zusätzlichen Kosten, die ein zweites Kind verursachen könnte, als vergleichsweise gering wahrgenommen; mögliche Kinder darüber hinaus werden wieder verstärkt unter diesem Aspekt betrachtet. Das Fazit, dass hieraus gezogen wird, lautet: Die Kosten
210
8 Ergebnisse
schlagen sich primär in der Grundsatzentscheidung für oder gegen Elternschaft nieder sowie in Entscheidungen über höhere Paritäten. (2) In unerwarteter Weise erwiesen sich die Kosten der Tendenz nach auf dem Land höher als in der Stadt; sie stiegen in unteren Bildungsgruppen sowie in wirtschaftlich schlechter gestellten Familien. Das sind Frauen, die sich typischerweise durch eine höhere Fertilität auszeichnen und für die im Allgemeinen höhere Nutzenerwartungen nachgewiesen werden. Nicht zuletzt auch deshalb ist, trotz der berechtigten Hinweise auf das eingeschränkte Datenmaterial, die grundsätzliche Frage nach dem Erklärungspotential wahrgenommener Kinderbzw. Handlungskosten zu stellen. Das allgemeine SEU-Handlungsmodell, wonach Kosten und Nutzen in verrechneter Weise die Handlungswahl maßgeblich bestimmen, wird oft zur Verhaltensvorhersage herangezogen. Jedoch nur selten fließen bei der empirischen Umsetzung auch die von den Akteuren wahrgenommenen Kosten ein, nicht zuletzt weil sie oft gar nicht direkt erhoben bzw. erfragt werden. Die VOC-Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass sie Vorund Nachteile generativen Verhaltens und somit Nutzen & Kosten von Kindern eben nicht nur theoretisch modelliert, sondern auch deren empirische Erhebung versucht hat, um sie mit dem entsprechenden Verhalten in Beziehung zu setzen. Dass sich nun eine lediglich beschränkte Erklärungskraft der Kinderkosten zeigt, kann tatsächlich ein Hinweis darauf sein, dass sie weniger entscheidend für das generative Handeln sind. Das würde sich in die Befunde von Klein & Eckhard (2005) einreihen: Unter Verwendung der Panelstichprobe des deutschen Familiensurvey gelangen sie zu dem überraschenden Ergebnis, dass „also die geringe Familiengründungsneigung hoch gebildeter Frauen weder mit beruflichen Opportunitätenkosten noch mit sonstigen Belastungen der Elternschaft erklärt werden kann“ (ebd.: 161). Es sind weitere Studien notwendig, um die Bedeutung von generativen Handlungskosten zu untersuchen, wobei sicherlich eine der größeren Herausforderung darin bestehen wird, die Kosten valide zu erfassen. 8.4 Der Wert von Kindern als Mediator? Bedingt durch die für eine Pfadmodellierung weitgehend unbrauchbare Beschaffenheit der im Erklärungsinteresse stehenden Variable, lässt sich das theoretische Modell in seiner Gesamtheit lediglich für das Alter bei Geburt des ersten Kindes überprüfen. Das stellt freilich nur einen sehr kleinen Ausschnitt des Fertilitätsverhaltens dar. Verwendet werden hierfür die Variablen, die sich in den bisherigen Teilprüfungen als bedeutsam erwiesen haben, um die Modellkomplexität so gering wie möglich zu halten. Das Erstgebäralter der Frau wird
8 Ergebnisse
211
einzig durch (i) den Komfort- & Wertschätzungsnutzen erklärt, der selbst von folgenden drei Variablen abhängig ist: vom (ii) ökonomischen Status, (iii) dem Wohnort zum Zeitpunkt der Eheschließung sowie (iiii) dem Bildungsniveau. Deren Interkorrelation ist nach den bisherigen Befunden evident, weshalb entsprechende Pfade zwischen diesen drei Variablen zugelassen werden. Um die Mediatorfunktion und damit die zentrale Idee des VOC-Ansatzes prüfen zu können, werden zwei Modelle berechnet, die vergleichend gegenübergestellt werden. Modell 1 repräsentiert in idealtypischer Weise die theoretische Grundidee: Es werden ausschließlich die indirekten Pfade zur Erklärung der abhängigen Variable zugelassen (Prüfmodell), die im Modell 2 durch die direkten Pfade der unabhängigen Variablen auf das Erstgebäralter ergänzt werden (Alternativmodell Modell). Abbildung 20 präsentiert die Befunde: Neben den Veränderungen der Pfadkoeffizienten wird die Modellgüte über den (Adjusted) Goodness of Fit ((A)GFI) sowie den Root Mean Square Error of Approximation (RMSEA) betrachtet.74 Prüfmodell. Die entsprechenden Pfadkoeffizienten sind in der Abbildung 20 durch die schwarzen Zahlen an den durchgezogenen Verbindungen angegeben: Sie stellen sich durchweg als statistisch bedeutsam heraus. Erwartungsgemäß deckungsgleich mit dem Ergebnis der Regression zur Vorhersage des Erstgebäralters, setzen hohe Nutzenerwartungen auf der Komfort- & Wertschätzungsdimension das Alter der Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes herab (beta= -0.35). Ferner zeigt sich, und auch das bestätigt die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen, dass eine bessere Ausstattung mit sozioökonomischem Kapital ebenso wie ein städtischer Hintergrund negativ auf die Ausprägung der betrachteten Nutzendimension wirken. Daraus lässt sich, vermittelt über den wahrgenommenen Kindernutzen, ein positiver Einfluss dieser Variablen auf das Erstgebäralter ableiten: Städtische, ökonomisch gut gestellte und gut ausgebildete Frauen bringen ihr erstes Kind vergleichsweise spät zur Welt. Leider deuten die Gütekriterien eine schlechte Modellanpassung an: Wenn auch der GFI auf ein erklärungskräftiges Modell verweist (0.95), belegen die beiden komplexeren Maße unter Berücksichtigung der Anzahl der zu schätzenden Pfade im Vergleich zu den möglichen Pfaden, ein nur schlecht angepasstes Modell. Zieht man die modification indices zu Rate, so wird deutlich, dass es weitere, empirisch bedeutsame Verbindungen gibt: So wird die Verbindung der bisher offenen Pfade zwischen ökonomischem Status und Bildungsniveau einer74 Der GFI als Determinationskoeffizient wurde von Jöreskog & Sörbom (1993: 122, Hervorhebung im Original) eingeführt und gibt an „how much better the model fits as compared to no model at all“. Sowohl der AGFI als auch der RMSEA berücksichtigen stärker die Anzahl der Freiheitsgrade bzw. die Komplexität des Modells. GFI und AGFI sollten mindestens 0.90 betragen; als Höchstgrenze des RMSEA empfehlen Hu & Bentler (1999) einen Wert von 0.06.
212
8 Ergebnisse
seits und dem Erstgebäralter andererseits empfohlen; die Kontextvariable lässt keine bedeutsame Modellverbesserung erwarten, weshalb weiterhin nur ihr indirekter Einfluss zugelassen wird. Abbildung 20: Vorhersage des Erstgebäralters: Pfadmodell Ökonomischer Status 0.13** 0.42**/ 0.42**
Heirat: Stadt 0.23**/ 0.23**
-0.12**/ x -0.24**/ -0.27**
0.50**/ 0.50**
Nutzen: Komfort & Wertschätzung
Erstgebäralter
-0.41**/ -0.47**
0.35*
Bildung
-0.35**/ -0.09**
GFI = 0.95/ 0.99 AGFI = 0.74/ 0.95 RMSEA = 0.22/ 0.08 df p
= =
3/ 2 0.00/ 0.01
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002. Anmerkung: N= 681. Durchgezogene Linien/ schwarze Zahlen: Prüfmodell, Unterbrochene Linien/ nicht-fette Zahlen: Alternativmodell; **p< 0.01.
Alternativmodell. Die schattierten Koeffizienten der Abbildung 20 fördern aufschlussreiche Resultate zu Tage: Evident ist eine deutliche Verbesserung der Gütekriterien. Die Erweiterung ist demnach mit Blick auf die empirische Anpassung notwendig, woraus hervorgeht, dass es substantielle direkte Effekte gibt, die unabhängig vom VOC-Indikator das Erstgebäralter beeinflussen und die nicht ignoriert werden können. Die Güte des vollständigen Modells übersteigt die des restriktiven Modells deutlich. Die veränderten Pfadkoeffizienten widerlegen Hypothese (H41): Auch wenn ein leichter Effekt von Komfort & Wertschätzung in der vermuteten Richtung bestehen bleibt, so ist dessen deutliche Reduktion gegenüber dem Prüfmodell unverkennbar; der Pfadkoeffizient sinkt von -0.35 auf -0.09. Durchschlagende Determinationskraft geht von der Bildung aus. Vor allem auf direktem Weg erhöht sie das Gebäralter (0.35);
8 Ergebnisse
213
indirekt bleibt nur ein geringfügiger Effekt zurück, der sich gemäß der Multiplikation der beiden beteiligten direkten Effekte auf lediglich 0.04 beläuft. Dass Bildungs- sowie Kontexteffekt auf den Nutzen, verglichen mit dem Prüfmodell, leicht zugenommen haben, beruht auf dem Ausschluss des indirekten Effektes der ökonomischen Ressourcenlage; dieser Pfad wurde als Folge einer ÜberDefinition des Modells entfernt. Gleichzeitig ergibt sich ein moderater direkter Effekt dieser Variable auf das Alter bei Geburt (0.13). Schlussfolgernd ist zu sagen, dass die direkten Effekte der Handlungsrahmenbedingungen dominieren. Zwar sind diese durchaus plausibel, dennoch erfährt damit der VOC als „missing link“ der Erklärung für die zeitliche Planung des Übergangs zu Mutterschaft75 nur äußerst bedingt Bestätigung: Die unterstellte Vermittlerposition des VOC-Konzeptes kann nicht überzeugen. Vor allem nimmt die VOC-Erklärungskraft zu Gunsten eines starken Bildungseffektes deutlich ab. Dessen aufschiebende Wirkung ist sicherlich zum Teil als ein Institutioneneffekt im Sinne der in der deutschen Forschung geführten Diskussion zur Trennung von Humankapital- vs. Institutioneneffekt (u. a. Brüderl & Klein 1991) zu interpretieren: Auch für die türkischen Frauen ist ein zeitlicher Aufschub der Erstgeburt plausibel, je länger sie im Bildungssystem verweilen – nicht zuletzt als Folge einer ebenfalls aufgeschobenen Heirat. Insofern ist das timing der Erstgeburt als eine Facette des generativen Verhaltens sicherlich nicht die optimale Möglichkeit, um das Gesamtmodell mit Blick auf die Mediatorfunktion des VOC zu testen: Entsprechende Humankapitaleffekte der Bildung, die eher in der VOC-Argumentationslinie stehen, sollten sich stärker im Geburtenrisiko (höherer Paritäten) niederschlagen, was sich aber leider nicht im Strukturgleichungsmodell verarbeiten lässt. 8.5 Kalkulation oder Routine? Die bisherigen Prüfungen erbrachten einige Indizien für die vom Grundmodell postulierten Mechanismen, so dass grundsätzlich eine positive Bilanz gezogen werden kann. Gleichwohl deutet gerade die letzte Analyse auf eine eingeschränkte Funktionsfähigkeit des VOC hin. In Anknüpfung an die theoretisch begründete Ausdifferenzierung des Handlungsmodells in zwei alternative Pfade 75 Eine alternative Prüfung unter Verwendung eines Hilfsindikators wurde für die Kinderzahl vorgenommen: Die Anzahl der von der Frau bis zum Befragungszeitpunkt geborenen Kinder wurde in Beziehung zu den seit ihrem 15. Lebensjahr vergangenen Jahren gesetzt (Maximalwert beträgt 30 Jahre für die Frauen, die 45 Jahre und älter sind). Die Befunde ähneln sehr stark denen, die soeben für das Erstgebäralter berichtet wurden, was nicht verwunderlich ist, als eine hohe endgültige Kinderzahl v. a. dann geschätzt wird, wenn die (ersten) Kinder früh geboren werden.
214
8 Ergebnisse
(vgl. Kap. 5.3.2) wäre hierfür, zumindest partiell, ein systematischer Fehler bei der Erfassung der Werte von Kindern verantwortlich zu machen. Ein solcher Messfehler wird den befragten Müttern unterstellt, deren generatives Verhalten, gemäß dieser Modellerweiterung, die Übernahme kulturell vermittelter Handlungsroutinen darstellt. Zur Prüfung dieser Vermutung werden im Folgenden die Berechnungen für die Geburt der ersten drei Kinder getrennt für die hierzu formulierten Unterstichproben wiederholt. Nicht zuletzt angesichts der Beschränkung auf den zweiten Erklärungsschritt des Gesamtmodells können freilich nur erste Anhaltspunkte für oder gegen das erweiterte Modell erbracht werden. Erneut werden je nach betrachteter Parität statische Regressionsmodelle oder ereignisanalytische Modelle berechnet; die Schätzungen nach dem generalisierten log-logistischen Modell bleiben auf den Risiko-Term beschränkt, einerseits weil die Timingeffekte für das Ziel dieser Prüfung entbehrlich sind, andererseits um die Übersichtlichkeit der ohnehin umfangreichen Gruppenvergleiche zu wahren. In der Tabelle 23 sind die Ergebnisse zusammengestellt. Für die jeweils grau unterlegten Untergruppen wird entsprechend der theoretischen Argumentation in Verbindung mit den hierzu formulierten Hypothesen erwartet, dass deren generatives Verhalten typischerweise auf die Ausführung einer generativen Handlungsroutine zurückgeht. Entsprechend wird eine geringe Erklärungskraft des VOC erwartet, d. h. die Koeffizienten sollten geringer ausfallen als die der nicht gekennzeichneten Untergruppen. Diese Vermutung erfährt grundsätzlich und v. a. mit Blick auf die Wirksamkeit des Indikators zum Komfort- & Wertschätzungsnutzen einige Unterstützung. Gleichwohl gestalten sich die Befunde weniger eindeutig als erhofft. Generationenunterschiede. Der erste Vergleich stellt zwei Kohorten von Müttern gegenüber, die sich entlang des Geburtsjahres 1950 bilden. Angesichts der geringen Anteile zensierter Fälle in der ältesten Kohorte bleibt dieser Test allerdings auf die Analyse des Übergangs zur Mutterschaft beschränkt. Hierfür zeigt sich (vgl. Tab. 23), dass das Erstgebäralter in der jüngeren Gruppe sichtbar stärker von Komfort- & Wertschätzungsnutzenerwartungen bestimmt wird (beta= -0.36) als in der älteren Kohorte (beta= -0.21). Das spricht für die Vermutung, dass existierende generative Routinen zunehmend in Frage gestellt werden. In Zusammenschau mit dem durchschnittlich jüngeren Erstgebäralter in der älteren Kohorte (22 Jahre gegenüber 23 Jahre in der jüngeren Kohorte) ist davon auszugehen, dass junge Frauen dazu übergehen, die Vor- und Nachteile einer frühen Mutterschaft abzuwägen und in der Konsequenz daraus, ihre Erstgeburt aufschieben. Entsprechend bietet sich ein Beleg für die hierzu erstellte Hypothese (=H51).
8 Ergebnisse
215
Tabelle 23: Prüfung des Alternativmodells Erstgebäralter K & Wsch +
Lineare Regression: beta-Koeffizienten +Sig. Kohorte
Mobilität
Kontext
Mig Immobile Land
Stadt
Bildung
-1950
1951+
-0,21 +
-0,36** -0,42** -0,34** -0,07 -0,34** -0,27** -0,49**
Nicht- Ø
Ø
A & St +
0,01
-0,05
0,10
-0,07
0,05 -0,11**
-0,07
0,00
K & Wsch í
0,07
0,03
0,12
0,04
-0,02
0,08
0,03
0,09
A & St í
-0,02
-0,04
0,03
-0,04
-0,02
-0,03
-0,02
-0,07
R²
0,04
0,01
0,13**
0,09
0,21**
0,14** 0,12** 0,13**
Ereignisanalyse: Standardisierte Koeffizienten +Sig. Zweitgeburt (c-Term)
Mobilität
Kontext
Bildung
Migranten
Immobile
Land
Stadt
Ø
Nicht- Ø
K & Wsch +
1,63**
1,54**
1,49**
1,54**
1,44**
1,83**
A & St +
0,57**
1,03
0,63**
1,29*
0,98
0,81+
K & Wsch í
0,95
1,02
1,02
1,05
0,98
1,03
A & St í
0,80
1,00
0,95
1,05
0,98
0,97
N/ Zensiert
119/26
502/145
183/57
319/88
Pseudo-R²
30
25
28
25
25
Drittgeburt (c-Term)
Migranten
Immobile
Land
Stadt
Ø
Nicht- Ø
1,58**
1,90**
1,23
2,12**
1,67**
2,05**
1,08
0,66**
0,60*
0,76
0,70*
0,77
K & Wsch í
0,58**
0,82+
0,78+
0,87
0,78*
0,85
A & St í
1,33+
0,95
1,01
0,96
1,02
0,99
N/ Zensiert
87/37
325/189
122/55
203/134
Pseudo-R²
24
20
22
19
K & Wsch + A & St +
Mobilität
406/118 229/54
Kontext
26
Bildung
273/150 152/73 19
22
Quelle: Türkische VOC-Stichprobe 2002, eigene Berechnungen. Anmerkung: generalisiertes log-logistisches Modell, **p< 0.01, *p< 0.05, +p< 0.1; K & Wsch (+)= Nutzen: Komfort & Wertschätzung, A & St (+)= Nutzen: Affekt & Stimulation, K & Wsch (í)= Kosten: Komfort & Wertschätzung, A & St (í)= Kosten: Affekt & Stimulation; Grau unterlegte Kategorien: Erwartung der Wirksamkeit einer generativen Routine erwartet.
Migration versus Stabilität. Eine zweite Prüfung bezieht sich auf die Stabilität bzw. den Wechsel der gewohnten Umgebung. Sofern kurz vor der ersten Geburt
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ein Wohnortwechsel zwischen Stadt und Land stattgefunden hat, scheint der Verlust gegebenenfalls vorher vertrauter Handlungsroutinen nahe liegend. Die Unsicherheit angesichts der neuen Kontextbedingungen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auf den rationalen Modus zurückgegriffen wird. Diese Vermutung wird tendenziell für das Erstgebäralter sowie das Risiko der Geburt eines zweiten Kindes untermauert. Die VOC-Effekte fallen im Durchschnitt innerhalb der Migrantenstichprobe leicht höher aus als in der immobilen Gruppe. Für den Übergang zum dritten Kind deutet sich allerdings für die immobilen Mütter eine höhere VOC-Erklärungskraft an (H53), was keineswegs den Erwartungen entspricht. Es drängt sich der Verdacht auf, dass dieses Ergebnis durch eine Vermischung mit einem ebenfalls vermuteten Kontexteffekt hervorgerufen wird: In der immobilen Gruppe sind Frauen zusammengefasst, die stets in der Stadt gewohnt haben und für die entsprechend der rationale Modus unterstellt wird und Frauen, die bis zum Befragungszeitpunkt immer im ländlichen Kontext gelebt haben und somit sehr wahrscheinlich einer Handlungsroutine folgen. Um dieser Vermutung nachzugehen und um gleichzeitig den postulierten Kontexteffekt zu prüfen, werden beide Gruppen von Frauen getrennt. Kontextunterschiede. Entsprechend wird eine Differenzierung nach städtischem und ländlichem Wohnort vorgenommen. Für das Erstgebäralter lässt sich zunächst hypothesenkonform eine moderate Erklärungskraft des Regressionsmodells für die städtische Gruppe auffinden (R²= 13%), was deren Neigung zur Durchführung einer rationalen Abwägung belegen soll. Im Gegensatz dazu erweist sich das Erstgebäralter auf dem Land als vollkommen unabhängig von der individuellen VOC-Konstellation (R²= 1%). Die Hypothese (=H52) findet somit erste Bestätigung. Bezeichnend für die Zweit- und Drittgeburt ist die nunmehr überaus deutliche Wirkung des Komfort- & Wertschätzungsnutzens in der städtischen Unterstichprobe. Besondere Stärke erreicht dieser Effekt beim Übergang zum dritten Kind (Exp(c)= 2.12). Im Gegenzug erweist sich für Frauen mit stabil ländlichem Hintergrund der Affekt- & Stimulationsnutzen in hypothesenkonformer Weise als einflussreicher für die jeweilige generative Entscheidung (Exp(c)= 0.63 bzw. 0.60). Diese inkonsistenten Effekte für die Gruppe der dauerhaft städtischen Frauen mögen dadurch verursacht werden, dass hier gegensätzliche Argumente mit Blick auf den Entscheidungsmodus zusammenlaufen: Einerseits werden für diese Frauen gegenüber den ländlichen Frauen höhere Kosten im Fall von Fehlentscheidungen vermutet und sie unterliegen einer größeren Heterogenität der Handlungsrahmenbedingungen. Andererseits sollte ihnen mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Handlungsroutine zur Verfügung stehen als den Frauen, die den Handlungskontext im Zuge von Wanderung geändert haben.
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Variation nach individueller Ressourcenlage. Eine letzte Gegenüberstellung stützt sich vordergründig auf die Annahme unterschiedlicher NettoGewinne, die sich aus einer (nicht-) durchschnittlichen Ausstattung mit Humankapital ergibt. Eine diesbezüglich, im Vergleich zum sozialen Umfeld wahrgenommene Verschiedenartigkeit der eigenen Person, unterstützt die Effizienz des rationalen Modus. Die unreflektierte Übernahme einer generativen Handlungsroutine würde für diese Akteure nicht nur das Risiko einer suboptimalen Lösung erhöhen, sondern auch den Abstand zwischen den beiden Nutzenwerten, resultierend aus der verfügbaren Routine- und der individuell-optimierten Lösung. Somit werden die zusätzlichen Entscheidungskosten, die die Kalkulation der Vor- und Nachteile mit sich bringt, gerechtfertigt. Mittels einer Gruppenbildung entlang des relativen Bildungsniveaus wird überprüft, inwiefern es Hinweise gibt, die für diese Argumentation sprechen. Die Resultate verweisen auf eine gewisse empirische Fundierung. Betrachtet man zunächst den Effekt, der vom Komfort- & Wertschätzungsnutzen ausgeht, so zeigt sich, dass die Koeffizienten der Gruppe über-/ unterdurchschnittlich gebildeten Frauen regelmäßig die Koeffizienten der Frauen mit kontextgebunden-durchschnittlichem Bildungsniveau sichtlich übersteigen: Sie übertreffen sie um 27% bzw. 23% bei der Zweit- bzw. Drittgeburt und sogar um 81% beim Erstgebäralter. Für die Drittgeburt lassen sich zwar auf den Dimensionen Affekt- & Stimulationsnutzen sowie Komfort& Wertschätzungskosten erwartungskonträre Differenzen der Koeffizienten feststellen, allerdings sind sie nur von sehr geringfügigem Ausmaß. Insgesamt stellen die Befunde die relative Ausstattung des Entscheidungsträgers mit Humankapital als ein maßgebliches Kriterium für den angemessenen Handlungsmodus heraus: Ein nicht-durchschnittliches Bildungsniveau motiviert die Abweichung von der generativen Handlungsroutine, womit Hinweise für die Hypothese zur Differenzierung der Entscheidungsfindung (=H54) vorliegen. Bilanz Gibt es also Indizien für ein duales Handlungsmodell? Während zumindest die relative Ressourcenausstattung eines Akteurs in erwarteter Weise mit dem generativen Handlungsmodus verknüpft zu sein scheint, ergeben sich für die verbleibenden Kriterien zwar systematische, wenngleich mit Blick auf die Hypothesenprüfung inkonsistente Ergebnisse. Bevor hierauf inhaltlich näher eingegangen wird, ist vorab einzuräumen, dass einerseits die Anteile der zensierten Fälle in einzelnen Untergruppen recht gering sind, was sich negativ auf die Schätzungen auswirken kann. Andererseits sind die gebildeten Untergruppen hinsichtlich ihres Handlungsmodus keineswegs vollständig homogen und trennscharf, da die
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Zuweisung jeweils nur an Hand eines Merkmals erfolgte. Die Kombination mehrerer prägnanter Kriterien und damit die Bildung höchst spezifischer Gruppen wären wünschenswert gewesen, ist allerdings fallzahlbedingt im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht umsetzbar. Wegen dieser eingeschränkten Gruppenbildung bleibt nun in einem gewissen Ausmaß die Vermischung der gegenübergestellten Gruppen bestehen. Im Endeffekt sollte das dazu beitragen, dass sich die Modelle nicht mit stärkerer Deutlichkeit unterscheiden; es handelt sich bei der hier gewählten Vorgehensweise lediglich um einen ersten Versuch, Hinweise für oder gegen die Notwendigkeit der theoretisch abgeleiteten Modellerweiterung zu sammeln. Gleichwohl ist erwartbar, dass mittels der vorgenommenen Aufteilung zumindest Schwerpunkte innerhalb der Gruppen gesetzt werden können – und das, so zeigen die Befunde, vermag sie auch. Eine Ausdifferenzierung des Grundmodells ist empirisch nicht von der Hand zu weisen: Der obere Teil der Tabelle 23 belegt zunächst eindrucksvoll eine hypothesenkonforme Gestaltung der gruppenspezifischen Modellanpassungen: Zieht man neben den diskutierten Determinationskoeffizienten der einzelnen VOCIndikatoren die Anteile der aufgeklärten Gesamtvarianz hinzu, so ist unübersehbar, dass diese in den grau unterlegten Modellen nahezu durchweg geringer sind, als in den jeweiligen Vergleichsmodellen. Anders sieht es bei den beiden höheren Paritäten aus: Mit beinahe ebensolcher Regelmäßigkeit fallen die Pseudo-R² Werte jeweils in den Gruppen unterstellter Handlungsroutine höher aus. Bis auf die Prüfung an Hand der individuellen Ressourcenausstattung, werden hiermit die formulierten Erwartungen entkräftet. Damit liegen Indizien für als auch gegen die vorgeschlagene Modellerweiterung vor. Trotz der Tatsache, dass damit eine abschließende Bewertung dieses konkreten Alternativmodells an dieser Stelle nicht möglich ist, soll im Folgenden dargelegt werden, dass zumindest einiges für eine grundsätzliche Ausdifferenzierung des Erklärungsmodells spricht. Eine übergreifende Betrachtung der Ergebnisse der Tabelle 23 offenbart nämlich jenseits der Hypothesenprüfung zwei interessante Muster: Eine erste Regelmäßigkeit zeigt sich darin, dass sich zwar die Effektstärken auf der Dimension des Komfort- & Wertschätzungsnutzens beinahe durchweg hypothesenkonform zwischen den Gruppen unterscheiden – die Koeffizienten sind regelmäßig in den Gruppen höher, denen der rationale Entscheidungsprozess unterstellt wird. Gleiches gilt jedoch nicht für den Affekt- & Stimulationsnutzen: Der im Grundmodell postulierte Affekt- & Stimulationseffekt erweist sich zumindest tendenziell in den Gruppen als stärker, für die das Befolgen einer generativen Handlungsroutine erwartet wird. In Anbetracht dieses Musters ist die Modellerweiterung zu modifizieren: Möglicherweise entscheidet sich der Handlungsmodus vornehmlich an der Komfort- & Wertschätzungsdimension und weniger an der Affekt- & Stimulationsdimension, die zwar erwartungskont-
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räre, insgesamt aber eher geringfügige und weniger systematische Gruppenunterschiede produziert. Eine solche Auslegung der Ergebnisse müsste allerdings begründen, warum affekt- & stimulationsbezogene Nutzenerwägungen von Kindern regelmäßig kostengünstig und ohne viel Aufwand zu erbringen sind. Diese Mutmaßung ist zumindest insofern nicht ganz unplausibel, als Affekt & Stimulation – so haben es die Ergebnisse bestätigt – nur geringfügig von individuellen sowie Situationsmerkmalen beeinflusst werden. Das vereinfacht ihre Bewertung, weshalb die Beantwortung der entsprechenden Items annähernd valide erfolgen kann und das weitgehend unabhängig vom Handlungsmodus. Unter der Bedingung einer grundsätzlich geringen (historischen) Varianz dieser Nutzendimension würde die individuelle Einschätzung mit der Handlungsempfehlung der Routine weitgehend konform gehen. Das Resultat bilden die vergleichsweise guten Vorhersagen dieses Indikators auch in den grau unterlegten Modellen. Warum sie darüber hinaus teilweise sogar besser ausfallen, kann hiermit allerdings nicht beantwortet werden. Fest steht, dass sich gruppenspezifische Determinantenmuster des generativen Verhaltens heraus kristallisieren. Das Risiko der Zweit- und Drittgeburt der Mütter, von denen mehrheitlich erwartet wird, dass sie die pro-natalistischen Handlungsroutine nicht in Frage stellen, unterliegen jeweils im Vergleich zur kontrastierten Gruppe stärker einem geringeren Geburtenrisiko, wenn sie Kindern hohen Affekt- & Stimulationsnutzen zuschreiben. Hingegen entfalten Komfort- & Wertschätzungsnutzen in den Gruppen eine höhere Erklärungskraft, denen der rationale Modus unterstellt wird: Die Anwendung auf generative Entscheidungen in der Türkei impliziert für diese Mütter typischerweise eine Beschränkung der Kinderzahl, so dass für sie also gilt: Lediglich ein hoher Komfort & Wertschätzungsnutzen trägt zur Geburt von mehr als einem Kind bei. Eine paritätenspezifische Betrachtung der Befunde deutet ein zweites Muster an: Die Gruppenunterschiede fallen hinsichtlich des Erstgebäralters sowie der Drittgeburt etwas deutlicher aus als bei der Zweitgeburt. Verbirgt sich dahinter ein Indiz für paritätenspezifische Handlungswege? Nicht ganz unbegründet scheint die Vermutung, dass unter der Maßgabe einer zielorientierten Rationalität ein Wechsel des Modus der Handlungswahl über die Paritäten hinweg vernünftig ist. Das mag besonders für die Türkei gelten: Der mit dem gesellschaftlichen Umbruch im Land begründete Wechsel von der Dominanz generativer Routinen hin zur mehrheitlichen Anwendung des rationalen Modus, bleibt in der derzeitigen Phase unter Umständen auf die höheren Paritäten und die Entscheidung bezüglich des Zeitpunktes des Übergangs zur Mutterschaft beschränkt und wird sich erst in der Zukunft auf die Grundsatzentscheidung der ersten beiden Kinder ausweiten. Ist der Übergang zur Elternschaft einmal vollzogen, mag die Zweitgeburt (beinahe) automatisch folgen, wenn man bedenkt,
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dass ein zweites Kind vergleichsweise wenig zusätzliche (Opportunitäten-) Kosten verursacht. Auch die Kosten einer möglichen Fehlentscheidung sollten relativ gering sein, wenn bereits die Elternschaft eingegangen wurde. Beide Kostenaspekte steigen aber ab der darauf folgenden Paritäten sprunghaft an, weshalb davon auszugehen ist, dass ab dem dritten Kind die Wahrscheinlichkeit, dass die (Nicht-) Geburt auf einer aktiven Einschätzung der kindbezogenen Effizienz beruht, zunimmt. Alles in allem erscheint diese Interpretation vor dem Hintergrund eines zielorientierten Akteurs nicht unberechtigt. Gleichwohl bedeutet die theoretische Modellierung der mehrfachen Wechsel zwischen den Handlungsmodi eine ganz besondere Herausforderung, nicht zuletzt deshalb, weil bisher das Verlassen der Handlungsroutine zu Gunsten des rationalen Modus noch nicht zufrieden stellend gelöst ist.
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Die vom Grundmodell der Erklärung behaupteten Mechanismen und Zusammenhänge beanspruchen einige empirische Gültigkeit. Für eine Vielzahl der Hypothesen ließen sich Indizien finden, die es ermöglichen, einerseits relevante Erklärungsfaktoren für differentielle Fertilität innerhalb der Türkei zu benennen. Andererseits kann ein Beitrag zur Aufdeckung zentraler Ursachen des gesamtgesellschaftlichen Geburtenrückgangs im vergangenen Jahrhundert geleistet werden. Letzteres war primäres Ziel dieser Arbeit. Die einleitende Betrachtung des Geburtenrückgangs stellte diesen zunächst als außerordentlich bemerkenswert heraus, weil er sich innerhalb weniger Jahrzehnte vollzogen hat: Wurden in den 1950ern noch knapp sieben Kinder pro Frau geboren, so sind es 55 Jahre später nur noch reichlich zwei Kinder. Im Detail stellt sich dieser Rückgang als eine Verringerung der Kinderzahl innerhalb der Ehe dar. Die Eheschließung selbst wird im individuellen Lebenslauf zwar zunehmend aufgeschoben, gehört aber nach wie vor zur Lebensplanung der Mehrheit der türkischen Bevölkerung. Grundsätzlich lässt sich soweit auch nichts anderes für den Übergang in die Elternschaft feststellen: Trotz des leicht gestiegenen Erstgebäralters genießt die Familiengründung große Selbstverständlichkeit. Die gesunkenen Geburtenraten sind deshalb auch nicht durch einen substantiellen Anstieg dauerhafter Kinderlosigkeit verursacht, sondern beinahe ausschließlich durch den Verzicht auf Geburten hoher Paritäten. Einen Erklärungsbeitrag hierfür zu leisten, wurde im Rahmen einer Modifikation des Value-of-Children Ansatzes angestrebt. Danach resultiert der Geburtenrückgang aus einer, wenn auch von gruppenspezifischen Variationen durchzogenen, so doch allgemeinen Verschiebung der Kosten-Nutzen-Bilanz von Kindern. Diese Verschiebung leitet sich aus der veränderten Position von Kindern innerhalb der sozialen Produktionsfunktionen ab, was primär der Etablierung und/ oder steigenden Effizienz alternativer Produktionsfaktoren zuzuschreiben ist. Kinder bzw. die Beziehung zu ihnen haben an Bedeutung für die individuelle Zieloptimierung eingebüßt, folglich werden sie in geringerem Umfang gewählt. Basierend auf dieser Prämisse wurden im Detail zwei Modelle ausgearbeitet, die sich weniger widersprechen, als vielmehr ergänzen. Ihr Unterschied besteht darin, dass das Grundmodell stets die individuelle Kalkulation
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der Effizienz von Kindern voraussetzt, während das Alternativmodell zuvorderst den Rückgriff auf ggf. existierende generative Routinelösungen behauptet, die sich über Generationen hinweg bewährt haben. Die Ergänzung besteht in der Ausdifferenzierung des Handlungsmodells, womit einerseits auf empirische Befunde reagiert wird, die nicht unerhebliche Abweichungen beobachteter Handlungen vom klassischen Postulat rationaler Wahlhandlungen dokumentieren. Auf der anderen Seite legen theoretische Überlegungen eine differenzierte Modellierung nahe: Die doch beträchtliche Menge an Ressourcen, die für die generative Kalkulation aufgewendet werden muss, ist der Gesamtnutzenbilanz in Rechnung zu stellen. Die Routine ist zumindest solange handlungsrelevant, solange ihr vor dem Hintergrund der jeweiligen Rahmenbedingungen ein Mindestmaß an Vertrauenswürdigkeit geschenkt wird. Welche Belege konnten nun für die theoretischen Argumente gefunden werden bzw. welche konkreten Erklärungsfaktoren liegen am Ende dieser Arbeit vor? Als unmittelbare Hauptursache für ausbleibende Geburten höherer Ordnung wurde ein rückläufiger Komfort- & Wertschätzungsnutzen von Kindern herausgearbeitet. Bereits für die Geburt des zweiten Kindes zeichnete sich ein entsprechender Effekt dieser Nutzenkomponente ab, der bei der Schätzung der Drittgeburt an Stärke gewann: Auf ein zweites oder drittes Kind wird um so eher verzichtet, je geringer dieser Nutzen ist. Für eben diesen historischen Nutzenverlust boten die Analysen empirische Evidenz, wobei die Belege mehrheitlich indirekter Art sind: Zwar lässt sich an den Kohortenunterschieden ein gewisser Rückgang der Bedeutung von Kindern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ablesen, allerdings stellte sich diese Differenzierung der Kohorten als wenig optimal für die Abbildung des historischen Wandels heraus. Nicht ausreichend prüfbar war somit die Wirkung von Veränderungen der relevanten Rechtslage, sozialstaatlicher Reformen und möglicher Modifikationen institutionalisierter Formen von Familien- und Generationenbeziehungen. Angesichts der mangelhaften Repräsentativität und Verteilung der Geburtskohorten konnten diese Einflüsse, die historisch zum Tragen kommen sollten und für die die Kohortenzugehörigkeit als proxy-Variable eingesetzt wurde, kaum abgebildet werden. Zumindest ließen sich kleinräumliche Ungleichheiten bezüglich der Rahmenbedingungen über eine Stadt-Land Differenzierung abdecken und der negative Stadteffekt auf den Nutzen unterstützt, in Anbetracht der massiven Verstädterungsrate der Türkei, den behaupteten Bedeutungsverlust von Kindern für die Produktion von Komfort & Wertschätzung. Sehr überzeugend ließ sich der Nutzenverlust aus den signifikanten Ressourceneffekten ableiten, in Verbindung mit nachweislich stattgefundenen Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene: Der verbesserte Zugang zu sozio-ökonomischen Ressourcen, die Öffnung und der Ausbau des Bildungssystems ebenso wie eine allgemeine Anhebung des
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Wohlstandsniveaus und der Strukturwandel des Arbeitsmarktes, können als ursächlich für den Geburtenrückgang auf nationaler Ebene angeführt werden. Insgesamt ließ sich fast die Hälfte der Varianz dieser Nutzendimension durch diese wenigen Indikatoren aufklären (44%). Für einen wachsenden Teil der Bevölkerung ist es immer weniger sinnvoll viele Nachkommen zu haben, da einige ihrer noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wichtigen Funktionen nunmehr durch alternative Zwischengüter zumindest ergänzend erfüllt werden. Die Effizienz dieser Alternativgüter mag zum Teil daraus resultieren, dass sie auf sehr viel direkterem Wege die individuellen Bedürfnisse befriedigen, während Kinder in vielerlei Hinsicht nur indirekte Produktionsfaktoren darstellen, was wiederum ein größeres Risiko in sich birgt, dass die erhoffte Realisierung des Nutzens scheitert. Das betrifft ganz besonders die materielle Risikoabsicherung: Soll sie über eigene Nachkommen bereitgestellt werden, so erfolgt das typischerweise vermittelt über deren Arbeitskraft, wohingegen eigene Lohnarbeit unmittelbar finanzielle Ressourcen einbringt. Kaum einen Erklärungsbeitrag für den Geburtenrückgang leistet die zweite Nutzendimension von Kindern, auch wenn die Drittgeburt negativ von einem hohen Affekt- & Stimulationsnutzen beeinflusst wird. Im Gegensatz zu den Feststellungen von Kagitcibasi (u. a. 1982a: 166), zeichnet sich im Rahmen dieser Untersuchung weniger eine qualitative Verschiebung des Wertes von Kindern ab, als vielmehr ein allgemeiner Rückgang. Zwar wird der Affekt- & Stimulationsnutzen generell sehr hoch bewertet, allerdings erweist er sich nur geringfügig als abhängig von den jeweiligen Rahmenbedingungen. Hinzu kommt, dass tendenziell ähnliche Abhängigkeiten wie für den Komfort- & Wertschätzungswert vorliegen, wenn auch von wesentlich geringerer Stärke. Folglich bleibt dieser Nutzenaspekt trotz seiner negativen Wirkung auf hohe Paritäten für die rückläufigen Geburtenzahlen der letzten Jahrzehnte weitestgehend irrelevant. Den wohl überraschendsten Befund liefern die Kosten von Kindern. Sie tragen kaum zur Erklärung: Die Analysen belegen zwar recht systematische Variationen der Kosten, jedoch zum Großteil entgegen den Erwartungen. Überdies sind sie beinahe unerheblich für das generative Verhalten: Wenigstens bieten die tendenziell steigenden Komfortbelastungen & Wertschätzungskosten einen gewissen Erklärungsbeitrag für den Rückgang hoher Paritäten, indem sie die Wahrscheinlichkeit eines dritten Kindes leicht herabsetzen. Bilanzierend drängt sich die Frage auf, ob diese unerwarteten Ergebnisse zu den Kosten deren tatsächliche Irrelevanz für das (generative) Verhalten bedeuten oder ob sie auf ernsthafte Fehler ihrer Erfassung zurückgehen. Ersteres würde gegen die Kosten-Nutzen-Bilanzierung sprechen – zumindest in der hier vorgenommenen Anwendung auf das generative Verhalten und damit auch gegen die Einbettung der Erklärung in das rationale Handlungsmodell. Leider können auch die Ergeb-
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nisse des Alternativmodells hierzu keinen Erkenntnisgewinn liefern. Zumindest sind Messfehler in der Erhebung der Kosten dergestalt nicht auszuschließen, dass die Wahrnehmung aktueller Kinderkosten zu Lasten ihrer Ursächlichkeit für die generative Entscheidung geht: Vor allem Frauen mit schlechter Ressourcenausstattung und unter ungünstigen Voraussetzungen für die erfolgreiche Kinderaufzucht, bewerten die Kosten vergleichsweise hoch. Gleichzeitig haben sie auch hohe Nutzenerwartungen, bekommen relativ viele Kinder und treten früh in die Mutterschaft ein. Sehr wahrscheinlich kommt hier der bereits diskutierte Familienzykluseffekt zum Tragen. Insgesamt wurden wichtige Mechanismen aufgedeckt, die die Vermittlerposition des Wertes von Kindern indirekt andeuten. Aufklärungsbedarf bleibt aber angesichts beschränkter Analysemöglichkeiten zurück: Rahmenbedingungen sind direkter einzubeziehen und mittels fortgeschrittener Kontextanalyse angemessener zu verarbeiten als bisher geschehen, ebenso wie der Wert von Kindern als Bindeglied empirisch expliziter zu analysieren ist. Angesichts der Datenlage war das in der vorliegenden Arbeit nicht zu leisten. Darüber hinaus legen die schließlich herausgearbeiteten, gruppenspezifisch unterschiedlichen Determinantenmuster eine Ausdifferenzierung des Grundmodells nahe: Innerhalb verschiedener Bevölkerungssegmente wirken sich die Werte von Kindern mit unterschiedlichen Effektstärken auf das Verhalten aus. Trotz einiger Indizien kann nicht abschließend entschieden werden, ob sich dahinter tatsächlich die erwartete systematische Variation des Handlungsmodus verbirgt. In Anbetracht fehlender (zensierter) Fälle ließ sich der vermutete historische Wandel des Handlungsmodus nicht ausreichend prüfen: Zumindest zeigt sich für den Zeitpunkt der Erstgeburt, dass der maßgeblich für die Geburt hoher Paritäten verantwortliche Komfort- & Wertschätzungsnutzen bei eben den Befragten größere Erklärungskraft aufweist, denen der rationale Modus unterstellt wurde, d.h. in den jüngeren Jahrgängen. Somit ist ein historischer Übergang von einer mehrheitlich praktizierten generativen Handlungsroutine hin zum rationalen Modus keineswegs auszuschließen. Diese Vermutung gibt Anregung, die Idee der generativen Routine im Rahmen zukünftiger Forschung weiter zu verfolgen.
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Richtet man den Blick in die Zukunft, so drängt sich die spannende Frage auf, ob auch der zweite demographische Umbruch für die Türkei zu erwarten ist. Eine Antwort hierauf ist nicht zuletzt auf Grund der gesellschaftspolitischen Relevanz des in diesem Zusammenhang wachsenden Anteils Kinderloser bedeutungsvoll. Dass eine bloße Betrachtung des gesellschaftlichen Modernisierungsgrades für eine Prognose zu kurz greift, ergibt sich bereits aus dem Erklärungsmodell, wird aber auch empirisch durch Beispiele aus Ostasien unterstützt. Mit Korea und Japan lassen sich moderne Nationen anführen, in denen die Geburtenraten in jüngster Vergangenheit zwar ebenfalls unter das Reproduktionsniveau gesunken sind, gleichwohl Kinderlosigkeit ein marginales Phänomen darstellt. Dauerhafte Kinderlosigkeit leitet sich der VOC-Perspektive folgend aus einer über den Lebenslauf hinweg beständigen, negativen Kosten-Nutzen-Bilanz mit Blick auf die Erstgeburt ab. Insbesondere vor dem Hintergrund des im Rahmen dieser Arbeit gefundenen Erklärungsdefizits der Kinderkosten, ist es überaus interessant, dass Erklärungsversuche in Deutschland, das international gesehen eine Spitzenreiterposition mit Blick auf Kinderlosigkeit einnimmt, typischerweise an den Kosten ansetzen: Empirische Studien arbeiten erwerbsbezogene Opportunitätenkosten als Hauptursachen heraus sowie beschränkte finanzielle Ressourcen, die um die wachsenden Verwendungsmöglichkeiten konkurrieren (u. a. Dorbritz & Schwarz 1996; Wirth & Dümmler 2004). Vor allem die Verfolgung beruflicher Ziele wird durch die von Kindern beanspruchte Zeitverwendung be- oder gar verhindert, weshalb der Angelpunkt der Diskussion von Kinderlosigkeit in Deutschland die schwierige Vereinbarung von Beruf und Familie ist: Hauptsächlich sehr gut ausgebildete Frauen sind zur Aufnahme dieses Konfliktes nicht bereit. Kinderkosten finden auch im VOC-Modell in vielfältiger Form Berücksichtigung. Wenngleich die Befunde deren scheinbare Bedeutungslosigkeit andeuten, ist diese Schlussfolgerung nicht zuletzt auch deshalb zu relativieren, als sie sich abgesehen vom Erstgebäralter, ausschließlich auf die Ergebnisse zur Zweit- und Drittgeburt stützt. Die Wahrscheinlichkeit des Übergangs zur Elternschaft konnte empirisch nicht untersucht werden. Vermutlich liegt hier der Kern des Problems: Insbesondere die biographische Theorie liefert eine theoretisch plausible Begründung dafür, dass Kinderkosten hauptsächlich bei der Grundsatzentscheidung für oder gegen Elternschaft zum
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Tragen kommen. Während hierbei v. a. Opportunitätenkosten ausschlaggebend sind, sollte die Verhaltensrelevanz von Kosten erst wieder bei höheren Paritäten zunehmen. Dann allerdings werden hauptsächlich die direkten Kosten materieller Art von Bedeutung sein, da sich die wachsenden Aufwendungen für viele Kinder der Grenze verfügbarer Ressourcen annähern. Für die Prognose von Kinderlosigkeit in der Türkei muss folglich die zukünftige Entwicklung der Opportunitätenkosten ins Blickfeld gerückt werden: Es wurde bereits festgehalten, dass die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Mutterschaft v. a. in den höheren Schichten der türkischen Bevölkerung zumindest besser zu realisieren ist als es in Deutschland der Fall ist. Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, dass diese Möglichkeit der Mehrheit zugänglich ist. Die Anstellung von Haushaltshilfen wird eine exklusive Option der besser Verdienenden bleiben. Bei mittleren bis geringfügigen Einkommen der Mutter wäre eine solche bezahlte Hilfe in der Bilanz kaum rentabel. Institutionelle Betreuung von Kindern ist in der Türkei höchst untypisch und angesichts der Verkleinerung der Familienverbände und unter städtischen Wohnbedingungen wird sich die Verfügbarkeit von Familienangehörigen für die Aufsicht und Betreuung der Kinder verschlechtern. Dementsprechend ist langfristig mit einem stärkeren Anstieg der Opportunitätenkosten zu rechnen als bisher geschehen, weshalb wachsende Kinderlosigkeit auch in der Türkei eine mögliche Zukunftsperspektive sein könnte. Parallel dazu ist allerdings der Nutzen von Kindern in Rechnung zu stellen. Wie wird sich dieser zukünftig gestalten? Für den Affekt- & Stimulationsnutzen indizieren die Befunde zwar eine leicht abnehmende Effizienz von Kindern, da dieser Nutzenaspekt negativ von den individuellen Ressourcen abhängt und zumindest grundsätzlich auch über alternative, enge Sozialbeziehungen verwirklicht werden kann. Gleichwohl ist insbesondere der Affektaspekt sehr viel stärker personengebunden als alternative Zwischenziele: Der innerhalb der intergenerationalen Beziehung gewonnene Affekt unterscheidet sich zumindest qualitativ von anderen Affektarten, weshalb eine nicht ersetzbare Restnachfrage von Kindern plausibel erscheint. Nicht zuletzt belegen internationale Vergleiche zwar geringere Affekt- & Stimulationswerte für moderne Länder, jedoch fallen die Differenzen marginal aus – selbst in Deutschland haben Kinder eine hohe Bedeutung für die elterliche Produktion von Affekt & Stimulation (vgl. Nauck & Klaus 2007: 497). Dennoch vermögen sie allein nicht, hohe Kinderkosten zu kompensieren und somit Kinderlosigkeit zu verhindern – wie am Beispiel Deutschlands gut zu erkennen ist. Für die zukünftige Relevanz der Generationenbeziehung wird deshalb auch ihre Effizienz für den elterlichen Komfortnutzen & die soziale Wertschätzung maßgeblich sein. Die vorliegende Untersuchung bestätigte eine bemerkenswerte Abhängigkeit dieses Kindernutzens von Faktoren, die typische Begleitmerkmale des gesell-
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schaftlichen Modernisierungsprozesses sind. Diese bereits mehrfach angesprochenen Entwicklungen bilden den zentralen Impuls für den Geburtenrückgang in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Können sie im Falle ihres weiteren Fortschreitens auch eine vollständige Substitution von Kindern durch alternative Produktionsfaktoren bewirken oder werden sich Kinder in der Türkei auf dieser Instrumentalitätsdimension behaupten? Bei grober Betrachtung gehen die einzelnen Modernisierungserscheinungen im Allgemeinen Hand in Hand und die Türkei scheint diesbezüglich keine Ausnahme im Vergleich zu anderen Ländern darzustellen. Auf hoher Abstraktionsebene mag die Modernisierung tatsächlich ein universaler Prozess sein, den alle Gesellschaften in zumindest ähnlicher Weise früher oder später durchlaufen. Unterschiede deuten sich jedoch im Detail an: Eine Besonderheit der Türkei findet ihren Ursprung darin, dass der Fortschritt sehr viel stärker als in den heutigen westlichen Industrienationen, ein nach deren Vorbild staatlich initiierter und exogen eingeführter Prozess ist (Nauck & Klaus 2008). Die nachdrücklichen Bestrebungen seitens des Staates, das Land zu reformieren und an den westlichen Standard heranzuführen, trafen einerseits auf eine historisch bedingte Vielfalt in jeglicher Hinsicht sowie auf tief verankerte, kulturelle Lösungen für Probleme der Lebenssicherung und -gestaltung. Dies erschwerte die landesweite Durchsetzung moderner Institutionen, die nunmehr typische Aufgaben der Familie wahrnehmen sollen. Eine weitere Verbesserung der sozio-ökonomischen Lage auf gesamtgesellschaftlicher, aber auch familialer und individueller Ebene ist anzunehmen, was grundsätzlich eine wachsende materielle Unabhängigkeit von eigenen Nachkommen implizieren würde. Aber resultiert hieraus notwendigerweise, dass moderne Lebensbedingungen das bewährte familiale Sicherungssystem gänzlich ablösen? „Individual, civil law regulations of insurance against life risks, as they are expressed in the high reliability and commitment in the relationshsip between generations and spouses, must not necessarily stepp back behind corporate regulations. It is, at least in Turkey, the case of the faith in the institution of marriage and the stability of intergenerational family relationships is higher than the faith in any corporate welfare and insurance system“ (Nauck 2002: 44).
Möglicherweise behindert sogar die Vorherrschaft eines starken, familiär organisierten Unterstützungsnetzwerkes, die staatlichen Bemühungen bzw. den Erfolg, ein effizientes, soziales Sicherungsnetz zu etablieren. „The assumption is that social policies have an impact on family solidarity and vice versa. We assume that families and service systems will tend to relate to problems of modernization in different ways, because of path dependency on the already established traditions” (Katz et al. 2003: 306). Ein Hinweis hierauf ist, dass der in der
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Türkei bereits in den 1950ern eingeleitete Aufbau eines staatlichen Versicherungsnetzes bis heute nicht wesentlich fortgeschritten ist: Dessen Ersatzleistungen kommen höchstens als ergänzende Unterstützung zum Tragen. Dass familiale bzw. intergenerationale Arrangements klassischerweise das konstitutive Element individueller Absicherung sind, schlug sich in einer entsprechenden Institutionalisierung in Form des nach wie vor dominierenden Deszendenzsystems nieder: Es stellt sich als eine Kombination vielfältiger familienbezogener Regelungen dar, die auf das wirtschaftliche Überleben der Akteure ausgerichtet sind. Familienmitgliedern im Allgemeinen sowie Nachkommen im Besonderen kommt hierbei eine zentrale Rolle zu, unterstützt und reproduziert durch (intergenerationale) Solidarität, gegenseitige Verpflichtung und Abhängigkeit. Gleichzeitig ist hiermit der Rahmen für die Vermittlung von sozialer Wertschätzung durch den Übergang in die Elternschaft gegeben, da mit der Fortführung der Abstammungslinie der wirtschaftliche Fortbestand der Familie gewährleistet wird. Erneut wird die außerordentliche Relevanz des Deszendenzsystems für den Nutzen von Kindern deutlich und auch eine Abgrenzung zu den Ländern wird erkennbar, in denen Kinderlosigkeit gegenwärtig ein demographisch relevantes Phänomen ist – diese folgen durchweg dem Affinalregime. Die zukünftige Entwicklung des Deszendenzsystems in der Türkei kristallisiert sich als Angelpunkt der Prognose heraus. Die vergleichende Familienforschung hat sich in einer Vielzahl theoretischer und empirischer Arbeiten der Frage nach dem Verhältnis von Affinal- und Deszendenzregime gewidmet, ohne eine einhellige Antwort hierzu hervorzubringen. Während beide Systeme v. a. durch die ethnographische und anthropologische Forschung umfassend beschrieben werden konnten, sind ihre Entstehungsbedingungen nicht geklärt. Eine bis heute recht einflussreiche Erklärung wurde im Rahmen der Modernisierungstheorie erarbeitet, die das Affinalsystem als eine Weiterentwicklung des Deszendenzsystems vorsieht (v. a. Durkheim 1921; Goode 1963; Parsons 1955): Entsprechend verlieren im Zuge der gesellschaftlichen Weiterentwicklung abstammungszentrierte Strukturen, die über die Kernfamilie hinausgehen, zunehmend an Bedeutung. Diese Entwicklungsprognose wurde u. a. wegen ihrer Unilinearität heftig kritisiert: So bemängelte Stolte Heiskanen 1970, dass der Großteil der bis dato vorliegenden vergleichenden Arbeiten den Eindruck vermittelt, „dass ‚Industrialisierung’, ‚Urbanisierung’ oder (…) ‚Modernisierung’, die am stärksten nivellierenden Kräfte seit der Sintflut darstellen, als die Gesellschaften (…) der Arche Noah in Form fast identischer Gattenfamilien entstiegen“ (ebd.: 203). Hinzu kommt eine Vielzahl empirischer Gegenbelege sowohl aus kulturvergleichender (u. a. Abadan-Unat 1987: 66; McDonald 1992: 22ff.) als auch aus historisch-vergleichender Perspektive (v. a. Hajnal 1965; Laslett 1976). Trotz oder vielleicht gerade auf Grund der gegensätzlichen Argumente
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sowie der widersprüchlichen Datenlage ist davon auszugehen, dass sich das Zusammenspiel zwischen gesellschaftlicher Entwicklung, Modernisierung, Wirtschaftsweise und Familienmodellen sehr viel komplexer darstellt als ein eindimensionaler Entwicklungspfad: Vor allem kulturelle Besonderheiten sind stärker zu berücksichtigen. Hierfür plädiert auch Kagitcibasi (u. a. 1996), die an der kollektivistischen Orientierung der Türkei ansetzt, um ein Modell der Familienentwicklung in ausdrücklicher Abgrenzung zur gängigen, westlichen Modernisierungstheorie zu erarbeiten. Gleichwohl fehlt bisher ein überzeugender, theoretisch begründeter Zugang, der die Institutionalisierung der Familien- und Verwandtschaftsorganisation hinreichend erklären kann. Die vergleichende Familienforschung hat die Frage zu beantworten „für welche ‘permanenten Probleme’ die jeweilige Organisation von Ehe, Familie und Verwandtschaft eine (relativ dauerhafte) Lösung darstellt“ (Nauck 2006: 424, Hervorhebung im Original). Fruchtbare Grundlage hierfür könnte erneut die Theorie sozialer Produktionsfunktionen sein. Mit ihr ergäbe sich die Möglichkeit einer MehrEbenen-Analyse, die es erlauben würde, den Wandel von Verwandtschaftssystemen zu modellieren. Daraus ließen sich fundierte Ableitungen erarbeiten, unter welchen Bedingungen sich das Deszendenzregime (in der Türkei) in welche Richtung verändern würde und es stünde ein brauchbarer Anhaltspunkt für die Prognose des Komfort- & Wertschätzungsnutzens von Kindern zur Verfügung. Hält man sich an das Modell von Kagitcibasi (1996), so erlebt die Türkei einen weiteren Rückgang dieses Nutzenaspektes: Der von ihr postulierte Entwicklungspfad impliziert zwar den Erhalt einer hohen emotionalen Verbundenheit zwischen den Generationen, der allerdings mit einem Rückgang des Komfortnutzens verknüpft ist (ebd.: 87f.), ebenso wie mit „the decreased importance of patrilineage“ (ebd.: 97). Mit einiger Sicherheit kann behauptet werden, dass die deszendente Organisation in der Türkei nicht in all ihren Facetten in unveränderter Form erhalten bleiben wird. Ob aber die kulturelle Basis von Familie und Verwandtschaft eine grundlegende Umwälzung dergestalt erfährt, dass die Fortführung der Lineage bedeutungslos wird, wenn sie möglicherweise kaum mehr wirtschaftliche Funktionen zu erfüllen hat, ist ungeklärt. Zumindest mit dem Fortbestand eines wenn auch modifizierten Deszendenzsystems, würde ein weiterer Grund gegeben sein, der einem Anstieg dauerhafter Kinderlosigkeit entscheidend entgegen wirken könnte. Mehr als derlei hypothetische Ausführungen sind vor dem Hintergrund des derzeitigen theoretischen und empirischen Wissensstandes leider nicht möglich, weshalb die aufgeworfene Frage nach der möglichen Entstehung und Ausbreitung von Kinderlosigkeit in der Türkei soweit ohne abschließende Antwort bleiben muss.
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Kritische Abschlussbetrachtung Mit der Idee des Wertes von Kindern wurde ein Konzept geschaffen, das ähnlich wie bereits zuvor die ökonomische Theorie (insbesondere Leibenstein 1957), verschiedene Kosten- und Nutzenaspekte von Kindern unterscheidet und aus ihrem Zusammenspiel Vorhersagen zum generativen Verhalten ableitet. Mit der Berücksichtigung der kontextuellen Einbettung der (potentiellen) Eltern geht der VOC-Ansatz jedoch einen entscheidenden Schritt über die ökonomische Modellierung hinaus. Erst hierdurch werden historisch-vergleichende sowie ländervergleichende Untersuchungen von Fertilität in angemessener Weise möglich. Neben individuellen Merkmalen des Handlungsträgers werden nunmehr die Einflüsse handlungsrelevanter Faktoren aus den in sich geschachtelten Umwelten in die Erklärung einbezogen. Der Weiterentwicklung des klassischen VOC-Ansatzes gelingt es hierbei, der explizit zuerkannten Abhängigkeit des Akteurs von den vielfältigen, historisch und räumlich variierenden Rahmenbedingungen eine theoretische Fundierung zu geben. Die erarbeiteten Zusammenhänge konnten ihr Erklärungspotential teilweise unter Beweis stellen, mit dem Erfolg einige entscheidende Ursachen des Geburtenrückgangs in der Türkei aufzudecken. Teilweise blieb aber die faktische Erklärungskraft hinter der erhofften zurück oder behauptete Kausalzusammenhänge wurden sogar durch Effekte in entgegen gesetzter Richtung widerlegt. Erklärungen hierfür sind in Schwachstellen der theoretischen Modellierung zu suchen, aber auch in Mängeln der methodischen Umsetzung. Einige kritische Aspekte sollen abschließend aufgeworfen werden, um somit Ansatzpunkte für die zukünftige VOCForschung zu schaffen. Definition der Situation. Aus der Verbindung der Handlungslogik der individuellen Nutzenmaximierung und der Hierarchie der sozialen Produktionsfunktionen ergibt sich ein Grundgerüst für die Erklärung individueller Handlungen: Es zeichnet sich v. a. dadurch aus, dass es konkrete End- und Zwischenziele definiert, die Akteure mit ihrem Handeln zu verwirklichen bestrebt sind. Zwar ist ein solches Axiom aus theoretischer Perspektive höchst streitbar, dennoch unerlässlich, damit nicht jegliche Erklärung basierend auf dem Nutzenmaximierungsprinzip letztendlich willkürlich bleibt oder Raum für ad-hoc Erklärungen bietet. Bedenken ergeben sich vielmehr aus der Komplexität des Entscheidungsprozesses, den dieser theoretische Rahmen impliziert. Auf der Ebene des Handlungsmodells mündete diese Einsicht bereits in den Versuch einen zweiten Weg der Handlungsfindung zu modellieren. Die empirischen Analysen hierzu schließen kontextspezifische Handlungswege nicht aus, sie bieten Anhaltspunkte für Intensitätsunterschiede in der verhaltensrelevanten Bewertung der Effi-
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zienz von Kindern. Das sollte eine theoretische Weiterentwicklung in diese Richtung motivieren. Nicht komplett hiervon zu trennen ist die Situationswahrnehmung, die ebenfalls einer hohen Komplexität unterliegt. Diese Problematik wurde ebenfalls bereits angedeutet, ohne sie allerdings weiter zu verfolgen und explizit in das Alternativmodell einzubauen: Es kann nicht in jeder Situation um alles gehen und es können nicht immer alle potentiellen Produktionsfaktoren in Erwägung gezogen werden. „It is by now commonplace in cognitive psychology that individuals cannot attend to everything at the same time. (…) Attention must be selective, and what is being attended to is particularly important for determining the kind of action that is taken“ (Lindenberg 2002: 650). Einer spezifischen Handlungssituation wird zwar durch die Theorie sozialer Produktionsfunktionen ein objektiver Rahmen gegeben, aber wenn es gilt die optimale Handlung daraus auszuwählen, ist dieser Rahmen nicht hilfreich: Er ist zu weit gefasst. Es bedarf einer subjektiven Situation der Definition, d. h. eines subjektiven Rahmens. Lindenberg (ebd.: 651) macht einen Vorschlag für eine situationsspezifisch geeignete Handlungsprämisse: „Utility (…) derives from the comparison of what is achieved to the status quo ante of the concrete goal that was pursued“. Der Akteur ist also bestrebt, seine derzeitige Situation zu verbessern, womit ein relativer anstelle eines absoluten Gewinns zu Grunde gelegt wird. Und weiter: „The definition of a situation thus is governed by a situational goal that „frames“ the situation“ (ebd.: 653). Damit kommen an dieser Stelle die bereits erwähnten Frames in Betracht, die die Situationsdefinition vereinfachen, indem sie sie strukturieren. Ein situatives Ziel wird in den Vordergrund gerückt: „Die subjektive Definition der Situation bedeutet eine „Rahmung“ der Situation unter einem leitenden Gesichtspunkt“ (Esser 1996: 5). Das kann als Problembzw. Zielformulierung verstanden werden, deren Aktivierung bewirkt, dass im Folgenden nur bestimmte Situationselemente in Betracht gezogen werden. Andere Frames bzw. Ziele wirken weiterhin im Hintergrund: Ihre Stärke beeinflusst die Salienz des gewählten Rahmens bzw. auch das Risiko, mit der er gewechselt wird. Theoretisch auszuführen ist die Auswahl bzw. der Wechsel eines Frames. Die Frame Selection Theory (Esser 1996, 2001) nimmt eine solche Modellierung vor, allerdings stellt sich die Aktivierung eines Frames als rationale Wahl dar (Esser 1991: 71f.), weshalb die erwünschte Vereinfachung der Handlungsentscheidung in Frage steht. Hierzu besteht weiterer Forschungsbedarf. Verhandlung zwischen den Partnern. Der Großteil vorliegender Erklärungsansätze blendet Interaktionen bzw. Verhandlungen zwischen den (potentiellen) Elternteilen mit Blick auf das generative Verhalten aus. So auch der vorliegende VOC-Ansatz: Er konzipiert das generative Verhalten als das Resultat einer Individualentscheidung. Bei generativen Entscheidungen handelt es
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sich im Allgemeinen aber um keine souveränen Entscheidungen: Spätestens ihre Umsetzung bedarf der Kooperation der beiden (potentiellen) Elternteile. Bleibt dieser Aspekt unberücksichtigt, so resultiert hieraus ein Verlust an Erklärungskraft (vgl. auch Bagozzi & van Loo 1978: 222). In die hier präsentierte VOCModellierung flossen die Partnerpräferenzen wenigstens in Form externer Anreize bzw. Barrieren ein und die empirischen Auswertungen lieferten Hinweise für deren Bedeutsamkeit. Tatsächlich scheint es jedoch angemessener, v. a. im Fall divergierender Handlungsmotivation, den Versuch einer Kompromissfindung explizit zu modellieren. Wird er als ein Aushandlungsprozess verstanden, so stehen theoretische Instrumentarien wie austauschtheoretische Mechanismen bzw. neuere Bargaining-Modelle (Ott 1989) zur Verfügung, die im Einklang mit der zu Grunde liegenden Handlungsprämisse des rationalen Akteurs stehen. Demnach fließen in alle haushaltsbezogenen Entscheidungen die individuellen Betrachtungen zur zukünftigen Entwicklung der jeweils individuellen Verhandlungsposition ein. Typischerweise entwickelt diese sich bei der Geburt von Kindern zu Lasten der Frau, als sie den Großteil der (Opportunitäten-) Kosten trägt, insbesondere in Form eines Ressourcenverlustes. Diese Argumentation wurde vornehmlich als Ergänzung der Neuen Haushaltsökonomie entwickelt: Frauen sollten demgemäß der Geburt von Kindern mit größerer Zurückhaltung gegenüber stehen, als von der Neuen Haushaltsökonomie postuliert, die aufbauend auf der Prämisse der Maximierung des Haushaltsnutzen behauptet, dass individuelle Interessen insofern zurücktreten, als eine Gleichverteilung des Gesamtgewinns stattfindet, unabhängig von möglicherweise ungleichen Verhandlungspositionen der Partner. Bereits Ott (1989) selbst als auch Kohlmann & Kopp (1997) haben die verhandlungstheoretische Modellierung auf die Fertilitätsentscheidung angewendet und auch Nauck (2001) hat sie als viel versprechende Möglichkeit vorgeschlagen.76 Entscheidbarkeits- und Vereinbarkeitsprobleme. Ebenfalls unzureichend berücksichtigt bleiben die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Lebensbereichen. Die biographische Theorie modelliert biographische Opportunitätenkosten, womit (Handlungs-) Optionen gemeint sind, die in Folge biographischer Festlegungen verloren gehen. Insbesondere generative Entscheidungen zeichnen sich neben Irreversibilität und Langfristigkeit dadurch aus, dass sie den biographischen Handlungsraum sehr stark einschränken. Da „es wenige Festlegungen im Leben eines Menschen gibt, die so eine gravierende Reduktion von sonst möglichen Lebenslauf-Alternativen nach sich ziehen wie die 76 Darüber hinaus können auch andere, explizit als Paarinteraktionsansätze angelegte Modelle auf ihre Brauchbarkeit und Integrationsfähigkeit hin geprüft werden (für eine Übersicht vgl. Bagozzi & van Loo 1978; Herter-Eschweiler 1998: 219ff.).
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Gründung einer Familie und die Entscheidung, Kinder zu haben, (…) wird einsichtig, dass die Frage nach den Gründen, die einen Menschen davon abhalten, Kinderwünsche zu entwickeln und zu verwirklichen, nicht losgelöst davon beantwortet werden kann, welche alternativen Lebenssequenzen durch die Realisierung des Wunsches aus dem persönlichen biographischen Universum ausscheiden“ (Birg et al. 1991: 13).
Mit Blick auf die Frau sind insbesondere die Erwerbsbiographie und die Familien- und Kinderbiographie stark wechselseitig voneinander beeinflusst. Huinink (2001: 160) leitet hieraus insbesondere ein Entscheidungsproblem ab: „Die Interdependenz der verschiedenen Lebensbereiche hat zur Folge, dass die individuelle Lebensgestaltung und die Frage nach der Elternschaft simultan verschiedene Interessendimensionen und diesbezügliche Vor- und Nachteile betrifft“. Demzufolge muss der Akteur nicht nur berücksichtigen, wie sich das Produktionsgut Kind auf die unterschiedlichen instrumentellen Zwischenziele auswirkt und parallel dazu, wie effektiv alternative Produktionsgüter für die Realisierung der entsprechenden Zwischenziele sind, sondern auch, dass generative Entscheidungen die zukünftig möglichen Entscheidungsspielräume bezüglich anderer Produktionsfaktoren beeinflussen und vice versa. Der Nachteil dieser Ergänzung bestünde allerdings darin, dass damit die ohnehin bestehende Komplexität des Entscheidungsprozesses um ein Wesentliches erhöht wird. SEU-Modellierung. Zwei weitere Ansatzpunkte für eine theoretische Präzisierung ergeben sich aus der SEU-Modellierung. Zunächst geht es um die Frage, wie die einzelnen Aspekte von Kindern gegeneinander zu verrechnen sind. Die derzeitige Verfahrensweise besteht darin, dass die beiden Dimensionen Komfort & Wertschätzung und Affekt & Stimulation ebenso wie Nutzen und Kosten mit gleichem Gewicht in die individuelle Kalkulation eingehen, was möglicherweise zu stark vereinfachend ist. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang eine Verknüpfung mit der diskutierten Rahmung der Situation dergestalt, als eine prävalente Zielorientierung bestimmte Bedeutungsaspekte von Kindern in den Mittelpunkt stellt, andere ganz ausblendet oder zumindest in den Hintergrund rückt. Plausibel wäre, dass stets die (Zwischen-) Ziele die Handlungswahl dominieren, die aktuell unzureichend erfüllt sind: Ihnen käme die größere Handlunsrelevanz zu. Schließlich, und das leitet direkt zu den methodischen Schwächen über, stellt sich die Frage, ob die extern eingeführten Komponenten der Verhaltenskontrolle sowie generative Anreize und Barrieren nicht bereits in die Bewertung der Effizienz von Kindern einfließen. Möglicherweise stellt der erfasste Wert von Kindern ein Konglomerat aus ihrer Effizienz aus, verrechnet um externe Faktoren und unter Berücksichtigung der Eintrittswahrscheinlichkeit – eine Frage, deren empirische Beantwortung sehr diffizil erfasste Informationen benötigen würde.
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Methodische Mängel. Ein zentrales Kriterium bei der empirischen Erhebung der einzelnen Modellkomponenten sollte die von Ajzen & Fishbein (1980) geforderte Korrespondenz der einzelnen Messungen hinsichtlich Handlung, Ziel, Kontext und Zeit sein. Mit Blick auf die Analyse der Geburt der einzelnen Paritäten verlangt das unweigerlich nach einer längsschnittlichen Erhebung. Insbesondere die Erfassung der Nutzen und Kosten von Kindern als psychologisches Konstrukt ist der Gefahr größerer Messfehler ausgesetzt als es sozioökonomische und -demographische Informationen sind. Es wäre zudem eine prospektive Erfassung notwendig, um die an diversen Stellen vermuteten Familienzykluseffekte zu minimieren. Das gilt ganz besonders für die Kosten von Kindern, von denen überdies stärkere Verhaltensrelevanz erwartet wird, wenn die Analysen auf (noch) Kinderlose ausgeweitet würden. Aber auch unabhängig hiervon verlangen die Ergebnisse eine weiterführende Erforschung der Position und Erfassung der Kosten von Kindern. Ebenso geben die gruppenspezifischen Determinantenmuster Anlass, die mögliche Wirkungsweise von generativen Handlungsroutinen intensiver zu verfolgen: Das bezieht sich zunächst auf die theoretische Weiterentwicklung und Präzisierung, würde aber letztlich auch die schwierige Aufgabe hervorbringen, diese Idee empirisch zu übersetzen.
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