Dirk Lange (Hrsg.) Migration und Bürgerbewusstsein
Bürgerbewusstsein. Schriften zur Politischen Kultur und Politischen Bildung Band 1 Herausgegeben von Dirk Lange Bürgerbewusstsein bezeichnet die Gesamtheit der mentalen Vorstellungen über die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit. Es dient der individuellen Orientierung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und produziert zugleich den Sinn, der es dem Menschen ermöglicht, vorgefundene Phänomene zu beurteilen und handelnd zu beeinflussen. Somit stellt das Bürgerbewusstsein die subjektive Dimension von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Es wandelt sich in Sozialisations- und Lernprozessen und ist deshalb zentral für alle Fragen der Politischen Bildung. Das Bürgerbewusstsein bildet mentale Modelle, welche die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse subjektiv verständlich, erklärbar und anerkennungswürdig machen. Die mentalen Modelle existieren in Entstehungs- und Wirkungszusammenhängen mit der Politischen Kutur. Auf der Mikroebene steht das Bürgerbewusstsein als eine mentale Modellierung des Individuums im Mittelpunkt. Auf der Makroebene interessieren die gesellschaftlichen Bedingungen und sozialen Kontexte des Bürgerbewusstseins. Auf der Mesoebene wird untersucht, wie sich das Bürgerbewusstsein in Partizipationsformen ausdrückt. Die „Schriften zur Politischen Kultur und Politischen Bildung“ lassen sich thematisch fünf zentralen Sinnbildern des Bürgerbewusstseins zuordnen: „Vergesellschaftung“, „Wertbegründung“, „Bedürfnisbefriedigung“, „Gesellschaftswandel“ und „Herrschaftslegitimation“. „Vergesellschaftung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie sich Individuen in die und zu einer Gesellschaft integrieren. Welche Vorstellungen existieren über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft? Wie wird soziale Heterogenität subjektiv geordnet und gruppiert? „Wertbegründung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, welche allgemein gültigen Prinzipien das soziale Zusammenleben leiten. Welche Werte und Normen werden in politischen Konflikten, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und ökonomischen Unternehmungen erkannt? „Bedürfnisbefriedigung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie Bedürfnisse durch Güter befriedigt werden. Welche Konzepte über das Entstehen von Bedürfnissen, die Produktion von Gütern und die Möglichkeiten ihrer Verteilung (u. a. Marktkonzepte) werden verwendet? „Gesellschaftswandel“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie sich sozialer Wandel vollzieht. Wie werden die Ursachen und die Dynamik sozialen Wandels erklärt? In welcher Weise wird die Vergangenheit erinnert und die Zukunft erwartet? „Herrschaftslegitimation“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie partielle Interessen allgemein verbindlich werden. Wie wird die Ausübung von Macht und die Durchsetzung von Interessen beschrieben und gerechtfertigt? Welche Konflikt- und Partizipationsvorstellungen sind erkennbar? Die Reihe „Bürgerbewusstsein“ veröffentlicht empirische, normative, reflexive und anwendungsbezogene Studien. Die empirische Forschung untersucht die Tatsächlichkeit des Bürgerbewusstseins. Sie fragt nach den vorhandenen Kompetenzen von Bürgerinnen und Bürgern, sowie nach den kommunikativen, diskursiven und strukturellen Bedingungen dieser Kompetenz. Normativ wird nach der Wünschbarkeit des Bürgerbewusstseins gefragt. Den Referenzpunkt stellt die Mündigkeit von Bürgerinnen und Bürgern und ihr Anspruch auf gleichberechtigte gesellschaftliche Partizipation dar. Die reflexive Forschung untersucht die Möglichkeit des Bürgerbewusstseins. Es stellt sich die Frage, welche sozialen Kontexte, fachlichen Inhalte und unterrichtliche Situationen das Bürgerbewusstsein wie verändern. Die anwendungsbezogene Forschung untersucht die Beeinflussbarkeit des Bürgerbewusstseins. Die Entwicklungsaufgabe zielt auf die Strukturierung Politischer Bildung in Schule und Gesellschaft.
Dirk Lange (Hrsg.)
Migration und Bürgerbewusstsein Perspektiven Politischer Bildung in Europa
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen / Marianne Schultheis Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Redaktionelle Mitarbeit: Julia Rehbein Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15773-3
Inhalt Dirk Lange Migration und Bürgerbewusstsein. Zur Einleitung ............................................ 9
I. Migration und Europäische (Staats-) Bürgerschaft Rainer Münz Migration in Europa: Rückblick auf das 20. Jahrhundert, Ausblick auf das 21. Jahrhundert. Konsequenzen für die politische Integration ......................... 17 Dieter Gosewinkel West- gegen Osteuropa? Gibt es verschiedene historische Entwicklungspfade der Staatsangehörigkeit? .................................................................................. 27 Dita Vogel Migration und aktive Bürgerschaft ................................................................... 42
II. Europäische Bürgerschaftsbildung Axel Schulte Politische Bildung im Einwanderungskontinent Europa. Pädagogische Aufgaben, konzeptionelle Grundlagen und didaktisch-methodische Orientierungen ........................................................... 53 Gerhard Himmelmann Perspektiven europäischer Bürgerschaftsbildung in Einwanderungsgesellschaften: Beiträge zum European Year of Citizenship through Education ........................................................................................... 68 Sanem Kleff Europäische Identität durch direkte Beteiligung von jungen Bürgern. Das Projekt Schule ohne Rassismus ..................................................................78 Dan D. Daatland Learning about migration – The functioning of Comenius 3 Networks .......... 84
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Inhalt
III. Historisch-politische Lernansätze für das Thema Migration Bodo von Borries Erfahrene Migration und historische Bildung. Eckpunkte und Perspektiven ... 91 Dirk Lange Historisch-politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft. Lernen aus der Migrationsgeschichte ..............................................................109 Antonius Holtmann Die Ideale der Aufklärung als historischer Ausgangspunkt für eine europäische Bürgerschaftsbildung ..................................................................120 Viola B. Georgi In-Geschichte(n)-verstrickt: Biographische Geschichten als Gegenstand interkulturellen Lernens in der Migrationsgesellschaft ...................................131 Béatrice Ziegler Familienforschung und Migrationspädagogik .................................................148 Andrea Schmelz/Anne von Oswald Das Lernportal “The Unwanted” – Zwangsmigrationen in der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Online Lernen und verstehen: http://lernportal.the-unwanted.com .................................................................158 Simone Eick Migrationsgeschichte erleben und erlernen. Politische Bildung im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven ......................................................................171
Inhalt
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IV. Bildung in der Einwanderungsgesellschaft – Chancen für Migranten? Ayça Polat Multikulturalismus und Bildungsgleichheit in Kanada – Vorbild für die migrationspolitische Bildung in Deutschland ................................................ 185 Guido Schmitt Einwanderer(kinder) und die europäisch-kosmopolitische Bildung. Konzept einer europäischen Schule ............................................................... 203 Rolf Meinhard Die ignorierte Elite – zur prekären Lage hochqualifizierter Einwanderer und der Entwicklung von Studienangeboten zu ihrer beruflichen Integration ...................................................................................................... 217 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ....................................................... 229
Dirk Lange
Migration und Bürgerbewusstsein. Zur Einleitung
Die europäischen Gesellschaften werden in immer stärkeren Maße durch Migrationen geprägt. Zumindest in den Großstädten handelt es sich längst um Einwanderungsgesellschaften, deren Bevölkerung interkulturell zusammengesetzt ist. Das Bildungswesen hat lange Zeit nicht hinreichend auf die herkunftsbedingte Ausdifferenzierung der Schülerinnen und Schüler reagiert. In Deutschland wissen wir aber spätestens seit der PISA-Studie, dass Einwandererkinder durch das Schulsystem nicht adäquat gefördert werden. Auch die Politische Bildung hat die migrationsbezogenen Fragestellungen lange Zeit vernachlässigt. Heute ist sie herausgefordert, ihre Konzepte im Kontext interkulturell zusammengesetzter Lerngruppen zu aktualisieren. Der Sammelband „Migration und Bürgerbewusstsein. Perspektiven Politischer Bildung in Europa“ fragt nach den Konsequenzen für eine interkulturell erweiterte Politische Bildung. - Wie ist der Stand und worin liegen die Perspektiven einer europaweiten Debatte um Migration, Integration und Interkulturalität? - Vor welchen Herausforderungen steht die Politische Bildung in den europäischen Einwanderungsgesellschaften? und - Welchen Beitrag kann die Politische Bildung zur Entwicklung des Bürgerbewusstseins in Europa leisten? Für die europäische Bürgerschaftsbildung sind die Fragen von Migration und Interkulturalität in doppelter Hinsicht relevant. Einerseits ist die europäische Gesamtgesellschaft in hohem Maße multikulturell zusammengesetzt. Der „mündige Bürger und die mündige Bürgerin“ Europas werden deshalb nicht ohne ein gehöriges Maß an interkultureller Kompetenz auskommen können. Das Bürgerbewusstsein über Migration sollte deshalb Kenntnisse über die europäische Migrationsgeschichte und die Fähigkeit zur kulturellen Perspektivenübernahme integrieren. Andererseits ist die europäische Gesellschaft mit Wanderungsbewegungen konfrontiert, welche die europäischen Grenzen als eine Wohlstandsfestung erfahren. Eine zentrale Herausforderung wird sein, wie in der Flüchtlingspolitik antihumanistische Lösungsmuster vermieden und eine an den europäischen
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Grundwerten orientierte Migrationspolitik umgesetzt werden können. Das Bürgerbewusstsein über Migration sollte zum kritischen Urteilen und Handeln in diesem Problemfeld befähigen. Die europäische Bürgerschaftsbildung und die migrationspolitische Bildung sind dabei zwangsläufig aufeinander verwiesen. Der Sammelband will dazu beitragen, die beiden Diskussionsstränge stärker aufeinander zu beziehen. Zum einen steht der Sammelband im Kontext einer Europaratsinitiative zum „Europäischen Jahr der demokratischen Bürgerschaftsbildung“. Zum anderen werden Diskussionsfäden des Comenius-Netzwerks „LearningMigration“ (http://www.learningmigration.com/lm/) aufgegriffen. Dieses EU-Sokratesprojekt hat sich in den letzten drei Jahren zu einem dynamischen Bildungs- und Forschungsnetzwerk entwickelt, an dem inzwischen 13 europäische Staaten mitwirken. Eine der Hauptaufgaben des LearningMigration-Netzwerks besteht darin, den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Bildungsinstitutionen, die zum Thema „Migration und Interkulturalität“ arbeiten, zu verbessern. In allen Partnerländern sind daran Schulen, außerschulische Bildungsträger, Zentren der Lehrerfort- und -weiterbildung, Bildungsbehörden sowie Forschungseinrichtungen beteiligt. Die Arbeit des Migrationsnetzwerkes ist inzwischen positiv evaluiert worden und wird für weitere drei Jahre durch die EUKommission finanziert. Der Sammelband bringt Mitglieder des Netzwerkes mit Expertinnen und Experten der Migrationsforschung und der Politischen Bildung zusammen und trägt so zu einer inhaltlichen Profilbildung des europäischen Bürgerbewusstseins über Migrationen bei. Wesentliche Aspekte einer demokratischen Bürgerschaftsbildung werden im Kontext europäischer Einwanderungsgesellschaften vertieft. Rainer Münz stellt in seinem Rückblick auf das 20. Jahrhundert fest, dass Europa bis in die 1950er Jahre die Weltregion mit der größten Auswanderung war. Erst seither überwiegt die Zuwanderung. Heute leben in West- und Mitteleuropa rund 40 Millionen Zuwanderer – teils aus anderen europäischen Staaten, teils aus Übersee. Sie machen 8% unserer EU-Gesamtbevölkerung aus. Wichtigste Zielländer sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien. Mit Blick auf die Entwicklung von Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft geht Münz der Frage nach, wie Zuwanderer zukünftig besser integriert werden können. Dieter Gosewinkel untersucht die Frage, ob es im Europa des 20. Jahrhunderts gegensätzliche Entwicklungspfade der Staatsangehörigkeit gab, die einer geographisch-kulturellen Polarität Ost- und Westeuropas entsprechen. Es zeigt sich, dass sich der restriktive bzw. inklusive Charakter eines Systems des
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Staatsangehörigkeitserwerbs nicht auf einen ‚östlichen‘, ethnisch-restriktiven bzw. einen ‚westlichen‘, territorial-inklusiven Weg zurückführen lässt. Bestimmend ist vielmehr nicht die eindeutige geographische Zuordnung eines dominanten Territorialprinzips zum Westen, des Abstammungsprinzips zum Osten, sondern die Mischung der beiden Prinzipien in beiden Teilen Europas. Dita Vogel stellt Grundgedanken des Forschungsprojekts POLITIS zum Thema „Migration und aktive Bürgerschaft“ dar. Ihre Hypothese lautet, dass es außereuropäischen Zuwanderern leichter fallen könnte, ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem durch Diversität geprägten Europa als zu einem enger definierten Nationalstaat zu entwickeln. Wenn dem so ist, müssten dann nicht die Einwanderer die „besseren Europäer“ sein. Im weiteren Beitrag skizziert Vogel, warum das Potential engagierter Zuwanderer in den europäischen Zivilgesellschaften nicht ausgeschöpft wird. Axel Schulte beschäftigt sich mit den neuen Herausforderungen und Aufgaben, die der durch Migrationen induzierte soziale Wandel für die Politische Bildung in Europa bedeutet. Im Kern geht es dabei darum, politische Urteilsund Handlungsfähigkeit und die dazu erforderlichen methodischen Kompetenzen zu vermitteln, für die Menschenrechte und die Demokratie zu sensibilisieren, Hilfe bei der Migrationsbewältigung zu leisten sowie zu einem reflektierten Umgang mit ethnisch-kultureller Vielfalt und zu einem gewaltfreien Umgang mit sozialen Konflikten zu befähigen. Schulte erläutert sowohl konzeptionelle Grundlagen als auch didaktisch-methodische Orientierungen, die in diesem Kontext für die Politische Bildung relevant werden. Gerhard Himmelmann zeigt Perspektiven einer neuen europäischen Bürgerschaftsbildung in Einwanderungsgesellschaften auf und erkennt diese im Kontext internationaler Konzepte der Demokratieerziehung. Die Anlässe zu einem solchen Projekt ergeben sich aus den vielfältigen Wandlungen der Zeit nach dem Epochenwechsel von 1989/90. Anschließend stellt Himmelmann konkrete Ebenen der schulischen Praxis dar und erörtert die Relevanz dieses Ansatzes für Einwanderungsgesellschaften. Sanem Kleff geht der Frage nach, ob eine Europäische Identität nicht zwangsläufig durch die direkte Beteiligung von jungen Bürgerinnen und Bürgern hergestellt werden muss. Die Diversität der europäischen Einwanderungsgesellschaft stellt in ihren Überlegungen, den Ausgangs- und Endpunkt einer europäischen Bürgerschaft dar. Kleff konkretisiert ihre These an dem Projekt „Schule ohne Rassismus“, das seit längerem erfolgreiche Impulse für die Politische Bildung in Einwanderungsgesellschaften gibt. Dan Daatland stellt die Entwicklung des EU-geförderten Bildungs- und Forschungsnetzwerks LearningMigration (LM) dar. Hervorgegangen aus dem MIR-Netzwerk (Migration and Intercultural Relations) haben sich seine Struktu-
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ren inzwischen verfestigt. Daatland beschreibt zum einen die Funktionsweise der internationalen Zusammenarbeit und zum anderen einige der Vorhaben. Aktuell steht das Konsortium vor der Frage, wie das Netzwerk nach der Förderperiode verstetigt werden kann. Bodo von Borries setzt sich mit Eckpunkten und Perspektiven auseinander, welche die Migrationthematik für die historische Bildung hat. Neben der Rechtfertigung für das Thema „Historische Migrationen“ im Geschichtsunterricht rekonstruiert von Borries die Bedeutung, die Migrationsthemen im „alten“ und „neuen“ Geschichtslernen einnehmen. Zur exemplarischen Bearbeitung der Fragestellung differenziert er die Merkmale eines „stoffdominierten“, eines „problemorientierten“ und eines „kompetenzfördernden“ Geschichtsunterrichts aus. Dirk Lange fragt, welche historisch-politischen Sinnbildungen aus der Beschäftigung mit der Migrationsgeschichte gewonnen werden können. Er stellt drei Formen vor, in denen die Gegenwartsbedeutung historischer Wanderungen erschlossen werden kann. Die Migrationen dienen dabei entweder zur Begründung von Werten und Grundprinzipien, zur Nachzeichnung der Entstehungsgeschichte der Gegenwart oder zum diachronen Vergleich mit gegenwärtigen Phänomenen. Antonius Holtmann beschäftigt sich mit den Idealen der Aufklärung als historische Ausgangspunkte für die europäische Bürgerschaftsbildung. Diese habe sich den migrationsbedingten demographischen Entwicklungen und sozialen Wandlungen zu stellen. Holtmann findet in den Traditionen der europäischen Aufklärung, sei es in Wissenschaft, Kultur, Politik oder Pädagogik, Ansätze zum Umgang mit den modernen Formen gesellschaftlicher Diversität. Viola Georgi beschäftigt sich mit biographischen Geschichten als Gegenstand interkulturellen Lernens. Ihr Beitrag untersucht die Dimensionen historischer Identitätsbildung in Migrationsgesellschaften. Sie zeigt auf, wie Migration und Globalisierung den nationalstaatlichen Rahmen von Erinnerungs- und Geschichtspolitik herausfordern. Am Beispiel des Holocaust expliziert Georgi das Phänomen der Globalisierung der Erinnerung. Schließlich entwickelt sie das Potential von Migrationsgeschichten für das interkulturelle Geschichtslernen an zwei aktuellen Bildungsprogrammen exemplarisch. Beatrice Ziegler diskutiert Wege, wie die Familienforschung genutzt werden kann, Schülerinnen und Schülern die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Identität zu ermöglichen. Die Familiengeschichten seien als Migrationsgeschichten zu interpretieren und eröffnen den Diskurs über Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit in der Einwanderungsgesellschaft. Perspektivenwechsel, Toleranz und kritische Auseinandersetzung sind zentrale Prinzipien, die Ziegler für die didaktische Strukturierung von Familiengeschichten nutzbar macht.
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Andrea Schmelz und Anne von Oswald führen in das Lernportal „”The Unwanted“ – Zwangsmigrationen in der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Online Lernen und verstehen“ ein. Das Lernportal ist als online Lern- und Arbeitsumgebung für den handlungs- und projektorientierten Unterricht und die politische Bildung konzipiert. Insbesondere Lehrerinnen und Lehrer erhalten einen Überblick über die didaktische Konzeption sowie über das Angebot an didaktischen Szenarien der Lernstationen. Im Zentrum des Lernportals stehen hörbare Geschichten von Zwangsmigrationen aus fünf europäischen Ländern bzw. Regionen. Simone Eick stellt die Politische Bildung im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven vor. Das Deutsche Auswandererhaus begreift sich als Themenmuseum und als außerschulischer Lernort und will Migrationsgeschichte erleb- und erlernbar machen. Im Mittelpunkt der Konzeption steht das lebensgeschichtliche Moment. Die Besucherinnen und Besucher gewinnen einen persönlichen Bezug zu Auswandererbiographien, die sie durch die Ausstellung leiten. Die Rekonstruktionen historischer Räume und das forschende Lernen werden für das migrations-geschichtliche Lernen fruchtbar gemacht. Ayça Polat beschäftigt sich mit den Einwanderungskonzepten und der Bildungssituation von Einwandererkindern in der kanadischen Gesellschaft. Sie stellt den kanadischen Multikulturalismus vor und führt in internationale Vergleichsstudien über die Schulsituation von Einwandererkindern ein. Polat fragt, ob die Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit in Kanada als Vorbild für die migrationspolitische Bildung in Deutschland dienen könnten. Guido Schmitt erörtert das Konzept einer kosmopolitischen Bildung in der europäischen Schule. Diese drücke sich in Sprachenvielfalt, Kulturoffenheit und Solidarität aus. Der Beitrag skizziert ein entsprechendes Sprachencurriculum und pädagogisches Konzept. Als Voraussetzung für die kosmopolitische Bildung fordert Schmitt die Weiterentwicklung des Sozialen Modells Europa und eine vorausschauende Einwanderungs- und Bildungspolitik. Rolf Meinhard beschäftigt sich mit der „ignorierte Elite“ der Migrationsgesellschaft und beschreibt die prekäre Lage hochqualifizierter Einwanderer und die Entwicklung von Studienangeboten zu ihrer beruflichen Integration. Unbeachtet von Öffentlichkeit und Wissenschaft sind seit Beginn der 1990er Jahre viele Menschen mit hohen Qualifikationen nach Deutschland eingewandert. Obwohl sie auf dem Arbeitsmarkt gebraucht würden, wird ihre akademische Ausbildung nicht anerkannt. Meinhard stellt einen spezifischen Studiengang vor, der für diese Einwanderergruppe konzipiert wurde.
I. Migration und Europäische (Staats-) Bürgerschaft
Rainer Münz
Migration in Europa: Rückblick auf das 20. Jahrhundert, Ausblick auf das 21. Jahrhundert, Konsequenzen für die politische Integration
Europäische Auswanderung und Binnenwanderung Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war Europa die wichtigste Herkunftsregion von Migranten in der Welt. Allein zwischen 1750 und 1960 wanderten rund 70 Millionen Europäer nach Übersee. Die meisten gingen nach Nord- und Südamerika. Kleiner waren die Zahlen der Auswanderer nach Australien und Neuseeland sowie ins südliche Afrika. Weitere Ziele bildeten Zentralasien und Sibirien, Palästina/Israel sowie Algerien. Etliche Europäer emigrierten aus religiösen oder politischen Gründen. Dies galt insbesondere für Reformierte und Anhänger protestantischer Freikirchen, ab dem späten 19. Jahrhundert auch für europäische Juden, die in einer Reihe von Staaten diskriminiert oder verfolgt wurden. Es galt für Liberale und Republikaner, in kleinerem Umfang auch für Exponenten der europäischen Linken. Für die Mehrzahl der Auswanderer standen jedoch wirtschaftliche Motive im Vordergrund. Emigration war eine Chance, der eigenen Armut, der Knappheit an Boden oder den Beschränkungen zünftischer Ordnungen zu entkommen. Anfangs dominierte die Siedlungskolonisation. Bis 1830 wurden die meisten europäischen Auswanderer in Übersee zu Landwirten. Erst mit der Industrialisierung entstanden moderne Formen der Arbeitskräftewanderung. Migrantinnen und Migranten fanden Arbeit in Gewerbe und Industrie. Einige gründeten früher oder später eigene Betriebe. Ähnliches gilt auch für die – in Summe beträchtlichen – innereuropäischen Migrationsbewegungen, die nach 1850 quantitativ an Bedeutung gewannen. Im 19. Jahrhundert setzte eine massive Zuwanderung in die neuen Zentren der Eisen- und Stahlindustrie ein. Dazu gehörten vor allem die britischen Midlands, Lothringen und das Ruhrgebiet. Zugleich wurden einige europäische Metropolen damals durch Zuwanderung binnen weniger Jahrzehnte zu Millionenstädten – darunter London, Paris, Berlin, Wien und Budapest. Die Möglich-
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keit, in eine dieser wirtschaftlich und kulturell prosperierenden Metropolen zu ziehen, erschien vielen als Alternative zur Auswanderung nach Übersee. Nach dem Ersten Weltkrieg verringerte sich in Europa die Arbeitskräftewanderung und in den USA die Einwanderung generell. Ursache dafür war, dass die meisten Nationalstaaten – auch klassische Einwanderungsländer wie die USA – seit Beginn des 20. Jahrhunderts schrittweise die Zuwanderung ausländischer Staatsbürger einschränkten. In Mitteleuropa sowie auf dem Balkan reduzierte zudem die Gründung neuer Nationalstaaten die zuvor mögliche Mobilität innerhalb des Deutschen Reichs, Österreich-Ungarns und der Osmanischen Türkei. Am Ende der 1920er Jahre kam es mit Einsetzen der Weltwirtschaftskrise schließlich zur völligen Abschottung nationaler Arbeitsmärkte in Europa. Während der Zeit des Nationalsozialismus, des Stalinismus und des Zweiten Weltkriegs dominierten in Europa Flucht und Vertreibung, kollektive Umsiedlung, Deportation und Zwangsarbeit. In einem Teil der Fälle verbanden sich Deportationen und Genozid. Dies betraf vor allem Juden sowie Sinti und Roma in Mittel- und Osteuropa, es betraf aber auch eine große Zahl von Opfern stalinistischer Deportationen in der Sowjetunion. Freiwillige Migration blieb die Ausnahme. Auch während der unmittelbaren Nachkriegszeit blieben Flucht und Vertreibung an der Tagesordnung. Hauptsächlich betroffen waren 12 Millionen Ost- und „Volksdeutsche“. Opfer staatlich verordneter Zwangsumsiedlung wurden aber auch 1,5 Millionen Polen sowie hunderttausende Ukrainer, Italiener und Ungarn. Zugleich setzte 1945/46 die durch Weltwirtschaftskrise und Zweiten Weltkrieg unterbrochene Auswanderung aus Europa nach Übersee wieder ein.
Entkolonialisierung und Arbeitskräftewanderung Erst seit den späten 1950er und 1960er Jahren gibt es eine nennenswerte Zuwanderung aus anderen Regionen der Welt nach Europa. In Ländern wie Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und später auch Portugal hatte dies mit dem Rückzug dieser Länder aus ihren Kolonien zu tun. Am Ende europäischer Kolonialherrschaft in Afrika, Süd- und Südostasien sowie in der Karibik migrierten in Summe mehrere Millionen in der Kolonialverwaltung tätige Beamte und Soldaten sowie Siedler europäischer Herkunft in die jeweiligen Mutterländer. In einigen Fällen war die Auswanderung „weißer“ Siedler explizit oder implizit Teil der Vereinbarungen zwischen ehemaliger Kolonialmacht und neu entstehenden Nationalstaaten. So sah etwa der Vertrag von Évian zwischen Frankreich und der algerischen Befreiungsbewegung FLN die vollständige Ab-
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siedlung von rund 1 Million Algerienfranzosen – so genannten pieds noirs – ins französische „Mutterland“ vor. Den „Kolonialrückkehrern“, von denen viele zuvor allerdings nie in den jeweiligen europäischen Mutterländern gelebt hatten, folgten in großer Zahl auch Einheimische aus ehemaligen Kolonien. Nach Großbritannien kamen vor allem Inder, Pakistanis und Anglo-Karibier, nach Frankreich vor allem Algerier, Tunesier und Marokkaner sowie Vietnamesen und Westafrikaner. In die Niederlande kamen sowohl christliche und moslemische Bürger Indonesiens als auch Surinamer und Bewohner der Niederländischen Antillen. In den 1970er Jahren migrierten schließlich Bewohner Angolas, Moçambiques und der Kapverden in größerer Zahl nach Portugal. Sie alle kamen, auf der Suche nach Arbeit und besseren Bildungschancen nach Europa. Manche wollten auch nach der Entkolonialisierung ausgebrochenen Bürgerkriegen und politischer Repression im jeweiligen Herkunftsland entfliehen. Gerade in den ehemaligen Kolonialmächten entstanden dadurch neue ethnische Minderheiten, die heute vor allem das Bild der großen städtischen Metropolen prägen. Andere Länder Westeuropas begannen zu jener Zeit, im Mittelmeerraum Arbeitsmigranten anzuwerben. Herkunftsländer dieser Arbeitskräfte waren vor allem Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und die Türkei sowie Marokko und Tunesien, später auch Jugoslawien. Darüber hinaus spielte in Schweden die Zuwanderung aus Finnland, in Großbritannien jene aus Irland, in Deutschland und der Schweiz auch jene aus Österreich eine Rolle. In ihrer Mehrzahl kehrten die Arbeitsmigranten jener Zeit in ihr Herkunftsland zurück. Eine Minderheit blieb jedoch und wurde sesshaft. Sie und ihre Kinder bildeten den Kern neuer, durch Arbeitskräftewanderung entstandener Minderheiten, mit denen Europa heute konfrontiert ist. Auslöser war der Anwerbestopp 1973/74. Damit wollten die reicheren Länder Westeuropas signalisieren: Wir benötigen Euch nicht mehr; kehrt bitte wieder heim. Viele Betroffene verstanden dieses Signal jedoch als gegenteilige Botschaft: Anders als bis dahin solle man nun auch bei schlechter Arbeitmarktlage nicht ins Herkunftsland zurückkehren, weil eine spätere Wiederkehr kaum noch möglich schien. Durch den Anwerbestopp verlagerte sich das Wanderungsgeschehen von der Arbeitsmigration zum Familiennachzug. Jene, die zum Bleiben entschlossen waren, holten nun ihre Ehepartner und ihre Kinder nach. Man hielt dies anfangs für einen Prozess, der bald abgeschlossen sein würde. Doch davon kann keine Rede sein. Denn viele Zugewanderte gründen erst im Zielland eine Familie – allerdings häufig mit einer Partnerin oder einem Partner aus der eigenen Herkunftsregion, oft sogar aus der eigenen Verwandtschaft. Gleiches gilt für in Westeuropa geborene Kinder von Zuwanderern. Auch von ihnen holen sich etliche die Partnerin oder den Partner aus dem Herkunftsland und der Her-
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kunftsgruppe der Eltern. Deshalb dauern diese Formen der Familienwanderung bis heute an. In vielen Ländern Europas bilden sie inzwischen die wichtigste Möglichkeit legaler Zuwanderung. Man könnte auch sagen: Mangels anderer legaler Optionen nutzen etliche die Möglichkeit der Heiratsmigration. Erst mit dem Familiennachzug und der Gründung neuer Familien im Zielland stellte sich für viele Länder Europas das Problem der Integration von Zuwanderern. Spracherwerb und Vermittlung demokratischer Werte, Schulbesuch ausländischer Kinder und Erwerb der Staatsbürgerschaft. Mehrere EU-Staaten – darunter Dänemark, Deutschland, die Niederlande und Österreich – führten inzwischen verpflichtende Sprach- und Integrationskurse für Neuzuwanderer aus Drittstaaten ein.
Politische Flüchtlinge und ethnisch privilegierte Migranten Mit der Spaltung Europas und dem Kalten Krieg entstand eine neue Form der Ost-West-Wanderung. In beträchtlicher Zahl versuchten Bürger kommunistisch regierter Länder in den Westen zu gelangen. Am größten war dieser Wanderungsstrom zwischen Ost- und Westdeutschland, bis die DDR mit dem Bau der Berliner Mauer die letzte Lücke im Eisernen Vorhang schloss. In anderen Ländern Ostmitteleuropas kam es jeweils in Krisenjahren des kommunistischen Herrschaftssystems zu spontaner Massenauswanderung: 1956 aus Ungarn, 1968 aus der Tschechoslowakei, 1980 aus Polen, 1989 aus der DDR. In Westeuropa wurden jene, die aus einem Land „hinter“ dem Eisernen Vorhang emigrierten, bis 1990 in der Regel als politische Flüchtlinge anerkannt. Dass bei vielen auch wirtschaftliche Motive eine Rolle spielten, war damals kein Thema. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Zuwanderung von Asylbewerbern zu einem Problem. Denn ihre Zahl nahm nach dem Ende der politischen Spaltung Europas nicht ab, sondern zu. Dies hatte mit dem Wegfall der Reisebeschränkungen, aber auch mit wirtschaftlichen Transformationskrisen und dem Ausbruch gewaltsamer ethnischer Konflikte nach 1989 zu tun. Dies gilt insbesondere für Bosnien, das Kosovo und Tschetschenien. Darüber hinaus stammte nach 1992 der Großteil der Asylbewerber aus Afghanistan, dem Irak, dem Iran und der Türkei. Die Länder Westeuropas reagierten auf diese Entwicklung mit der Wiedereinführung der Visumpflicht für etliche benachbarte Länder sowie mit einer Verschärfung ihrer Asylgesetze. Zudem entstand zwischen den EUMitgliedsstaaten eine enge Kooperation in Asyl- und Visumfragen. Willkommener als Asylsuchende waren vor und nach 1989 Migrantinnen und Migranten, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit das Recht auf Zuwan-
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derung in einen der europäischen Nationalstaaten hatten bzw. noch haben. Größte Gruppe waren ethnische Deutsche, die nach 1945 in Polen, Rumänien und der Sowjetunion verblieben waren. Sie und ihre zur jeweiligen ethnischen Mehrheit gehörenden Familienangehörigen fanden in großer Zahl Aufnahme in Deutschland, wenngleich die Bundesrepublik seit den 1990er Jahren versuchte, diesen Zuzug zu bremsen. Privilegierten Zugang gab es darüber hinaus in Griechenland für Pontus-Griechen aus Ostmitteleuropa und dem Schwarzmeerraum, in Ungarn für ethnische Ungarn aus Siebenbürgen, der serbischen Vojvodina und der Westukraine, in Polen für ethnische Polen aus Litauen, der Ukraine und Weißrussland, schließlich auf dem Balkan für ethnische Serben in Serbien, ethnische Kroaten in Kroatien sowie ethnische Türken und andere Moslems in der Türkei.
Irreguläre Zuwanderung Seit den späten 1980er Jahren gewann die irreguläre Zuwanderung quantitativ an Bedeutung. Wichtigste Herkunftsländer waren zum einen Polen, Rumänien, Moldawien, die Ukraine und Albanien, zum anderen Marokko und Tunesien sowie einige Staaten Westafrikas und Lateinamerikas. Auslöser dieser Zuwanderung waren zum einen der Fall des Eisernen Vorhangs und die erleichterten Reisemöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger Ostmittel- und Osteuropas. Zum anderen spielten die Entstehung irregulärer Arbeitsmärkte in Westeuropa sowie der ökonomische Aufschwung in Südeuropa eine entscheidende Rolle. Beschäftigung fanden und finden irreguläre Migrantinnen und Migranten in erster Linie in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, als Haushaltshilfen und Pflegekräfte sowie im Gastgewerbe. Zu den in diesen Bereichen gezahlten Stundenlöhnen stehen Einheimische in vielen Regionen nicht mehr zur Verfügung; oder es mangelt generell an einheimischen Arbeitskräften. Mehrere Länder Europas – insbesondere Belgien, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien – reagierten auf diesen Zustrom an Arbeitskräften mit groß angelegten Regularisierungsprogrammen. Insgesamt erhielten zwischen 1995 und 2005 im Rahmen dieser Programme mehr als 2,5 Millionen irreguläre Zuwanderer eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Zugleich bewirkte die EU-Osterweiterung des Jahres 2004 eine Legalisierung des Aufenthalts hunderttausender Bürgerinnen und Bürger Ostmitteleuropas, die schon davor in einem der „alten“ EUStaaten vorübergehenden Aufenthalt gefunden hatten. Länder wie Großbritannien, Irland und Schweden öffneten für diese EU-Bürger zugleich ihren Arbeitsmarkt, während Neu-Zuwanderer aus neuen EU-Mitgliedsstaaten in
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Deutschland, Frankreich oder Österreich zwar nun Aufenthaltsrecht, aber keinen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt besitzen.
Migration von Eliten und von Menschen im Ruhestand Durch die Globalisierung von Ökonomie und Bildungssystemen vergrößerte sich in den letzten Jahrzehnten auch die Zahl von Managern, Spezialisten, Forschern und Studierenden, die innerhalb Europas in ein anderes Land wechselten oder ins außereuropäische Ausland gingen. Hauptziel von Forschern und Studierenden war und ist die USA. Gleichzeitig wächst die Zahl ausländischer Studierender an europäischen Hochschulen. Zugleich wuchs die Zahl europäischer Firmen, die in mehr als einem Land tätig sind; und damit auch die Zahl jener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die innerhalb derselben Firma, aber im Laufe ihrer Karriere in unterschiedlichen Ländern tätig sind. Von wachsender Bedeutung für Europa ist schließlich die Migration von Personen ab 50 Jahren, die ihren Lebensabend in einem anderen Land zubringen wollen. Hauptziel waren und sind bisher die Küstenregionen des westlichen Mittelmeers und der iberischen Halbinsel. Hier siedeln sich vor allem Briten, Deutsche und Skandinavier im Ruhestand an. Wesentlich kleiner war bisher der Zuzug von Ruheständlern nach Griechenland. Im Anstieg begriffen ist dagegen ihre Zahl an der türkischen Südküste. Parallel dazu gibt es eine Rückkehr ehemaliger Arbeitsmigranten in ihre Herkunftsländer. Auch dies betrifft Personen im Ruhestand, in wachsender Zahl aber auch Personen, die in ihrem Herkunftsland bzw. in dem ihrer Eltern beruflich tätig werden.
Zuwanderer in Europa Heute leben in der EU 27, den übrigen EWR-Staaten und der Schweiz zusammen mehr als 500 Millionen Menschen. Rund 42 Millionen von ihnen sind Zuwanderer, haben also ihren Geburtsort in einem anderen europäischen oder außereuropäischen Land. Die exakte Zahl ist nicht bekannt, denn einige Länder Europas unterscheiden in ihrer Statistik nicht zwischen den im eigenen Land und den anderswo Geborenen, sondern zwischen In- und Ausländern. Unterscheidungsmerkmal ist also in mehreren Ländern die Staatsbürgerschaft, nicht das Geburtsland. In diesen Fällen sind wir auf Schätzungen angewiesen. Trotzdem ist klar: Heute leben in West- und Mitteleuropa in Summe mehr Zuwanderer als in den USA. Zieht man jedoch jene 13 Millionen Menschen ab, die zwi-
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schen den 27 EU-Mitgliedsstaaten gewandert sind, dann ist die Zahl derer, die aus Drittstaaten kamen kleiner als die Zahl der Miganten in den USA. Wichtigstes Zielland in West- und Mitteleuropa ist die Bundesrepublik Deutschland mit ca. 10,1 Mio. Zuwanderern. Weltweit ist dies (nach den USA und Russland) die drittgrößte zugewanderte Bevölkerung. Danach folgen Frankreich (6,5 Mio.), Großbritannien (5,4 Mio.), Spanien (4,8 Mio.) und Italien (2,5 Mio.). Auch im (nicht-EU Land) Schweiz (1,6 Mio.) sowie in Österreich (1,2 Mio.), Schweden (1,1 Mio.) und Griechenland (1,0 Mio.) ist eine beträchtliche Zahl der Einwohner im Ausland geboren. Im europäischen Durchschnitt beträgt der Anteil der Zuwanderer etwa 8%. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist der Anteil der Zuwanderer in Kleinstaaten wie Luxemburg (37%) und Liechtenstein (33%) am größten. Unter den Flächenstaaten Europas hat die Schweiz mit rund 23% den größten Zuwandereranteil. Danach folgen Lettland (19,5%) und Estland (15,2%) wobei dort der überwiegende Teil der im (heutigen) Ausland geborenen Bevölkerung zu sowjetischer Zeit als Binnenwanderer ins Land gekommen war. Deutlich über dem europäischen Durchschnitt liegen auch Österreich (15,1%), Irland (14,1%), Schweden (12,4%) Deutschland (12,3%) und Spanien (11,1%) Mehr als die Hälfte aller Zugewanderten besitzt nur die Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes. Damit sind Migrantinnen und Migranten zwar den Gesetzen des Landes unterworfen, in dem sie leben, sind als fremde Staatsangehörige jedoch im Prozess der politischen Willensbildung und der Gesetzgebung nicht repräsentiert. Dies führt dazu, dass in Europa – je nach Land – zwischen 3 und 20 Prozent der Bevölkerung von der politischen Willensbildung von vornherein ausgeschlossen sind. Auf kommunaler Ebene ist der Anteil der nichtstimmberechtigten erwachsenen Bevölkerung oft noch deutlich höher. Umgekehrt räumen jedoch viele Staaten ihrer im emigrierten Diaspora lebenden Bevölkerung das Recht auf Beteiligung an Wahlen ein, selbst wenn diese Wählerinnen und Wähler, solange sie im Ausland leben, von den Folgen der Gesetzgebung des Herkunftslandes nur marginal betroffen sind.
Europäische Migration heute Europas Bevölkerung altert. Die Zahl der Einheimischen stagniert und beginnt in einigen Regionen bereits zu schrumpfen. In neun der 25 EU-Staaten gab es 2005 mehr Sterbefälle als Geburten. Gleiches gilt für die Beitrittsländer der nächsten EU-Erweiterungsrunden (Bulgarien, Kroatien, Rumänien), nicht aber für den Beitrittskandidaten Türkei. Trotzdem gibt es in der EU weiterhin demo-
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graphisches Wachstum. Heute gehen allerdings 90% dieses Wachstums auf das Konto von Zuwanderung. 2005 betrug der Netto-Wanderungsgewinn West- und Mitteleuropas etwa 1,7 Mio. Personen (3,7 pro 1000 Einwohner). In absoluten Zahlen war die Netto-Wanderung in Spanien (+652.000) und Italien (+338.000) am größten, danach folgten Großbritannien (+196.000), Frankreich (+103.000), Deutschland (+99.000), Österreich (+61.000), Portugal (+64.000) und Irland (+47.000). Von den neuen EU-Mitgliedsstaaten verzeichnete 2005 die Tschechische Rep. (+36.000) den größten Wanderungsgewinn. Gemessen an der Wohnbevölkerung war der Wanderungsgewinn in Zypern (+27,2 pro 1000 Einwohner) und in Spanien (+15,0 pro 1000) am größten. Danach folgten Irland (+11,4), Österreich (+7,4), Italien (+5,8), Malta (+5,0), die Schweiz (+4,7), Norwegen (+4,7) und Portugal (+3,8). Nur Litauen (-3,0 pro 1000), die Niederlande (-1,2), Polen (-0,3), Lettland (-0,5) und Estland (-0,3) sowie Bulgarien (-1,8) und Rumänien (-0,5) hatten 2005 eine negative Wanderungsbilanz. Mehrere Länder, darunter Griechenland, Italien, Kroatien, Slowenien und die Tschechische Republik hatten ausschließlich wegen ihrer positiven Wanderungsbilanz ein leichtes Bevölkerungswachstum. In Deutschland und Ungarn gab es hingegen trotz Zuwanderung einen Rückgang der Einwohnerzahl. Noch deutlicher war dies in Ländern mit schrumpfender einheimischer Bevölkerung und Wanderungsverlusten. Dies war 2005 in Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien der Fall.
Ausblick und Konsequenzen für die politische Integration Die demographische Entwicklung der letzten Jahre macht zweierlei klar: Zum einen wächst in Europa die Zahl der Staaten, in denen mehr Menschen sterben als Kinder zur Welt kommen. Dadurch schrumpft zumindest die einheimische Bevölkerung. Ob die Einwohnerzahl zukünftig insgesamt schrumpft, hängt somit sehr wesentlich vom Ausmaß der Zuwanderung ab. Zum anderen haben inzwischen fast alle Länder West- und Mitteleuropas mehr Zuwanderung als Abwanderung. Dadurch wachsen Zahl und Anteil der zugewanderten Bevölkerung. Beide Entwicklungen zusammen führen dazu, dass die Bevölkerungen in vielen Ländern Europas nicht bloß durch die demographische Alterung „ergrauen“, sondern zugleich durch Zuwanderung ethnisch, kulturell und religiös heterogener und damit „bunter“ werden. Dadurch stellen sich Fragen der Zugehörigkeit neu. Es geht aus dieser Perspektive wachsender Heterogenität einerseits um Staatsbürgerschaft im engeren Sinne, also staatsrechtliche Zugehörigkeit
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und politische Rechte. Zum anderen geht es aber um Fragen zukünftiger gemeinsamer (oder getrennter) Identität, des kulturellen Selbstverständnisses und der zivilgesellschaftlichen Zugehörigkeit. Bei beträchtlicher Zuwanderung entsteht klarerweise eine Diskrepanz zwischen Wohnbevölkerung und Stimmberechtigten. Dies ist problematisch, weil sich die Legitimität demokratischer Willensbildung aus der Repräsentation der von ihr dauerhaft Betroffenen begründet. Grundsätzlich bieten sich zwei Wege an, um dieses demokratische Defizit zu überwinden: einerseits die Erleichterung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft und andererseits der Abbau des Gefälles zwischen Inländern und Ausländern durch Ausweitung staatsangehörigkeitsneutraler Rechte. Diese beiden Wege zur politischen Integration sind keine einander ausschließenden Alternativen, sondern wurden in den meisten Ländern Westeuropas gleichzeitig beschritten. Zum einen haben die meisten EU-Staaten den Zugang zur Staatsbürgerschaft für Zuwanderer und ihre Kinder in den letzten Dekaden erleichtert. Das Staatsbürgerschaftsrecht der meisten Länder sieht nun – nicht zuletzt wegen der wachsenden Diskrepanz zwischen Staatsvolk und Wohnbevölkerung – die Möglichkeit der Einbürgerung nicht erst nach sehr langem Aufenthalt oder dem Nachweis ko-ethnischer Abstammung, sondern schon innerhalb überschaubarer Fristen und bevorzugt für Angehörige der bereits im Land geborenen „zweiten Generation“ vor. Zum anderen besteht eine zunehmende Tendenz, ausländischen Zuwanderern nicht nur soziale, sondern auch gewisse politische Rechte einzuräumen. Zwischen EU-Staaten erfolgt dies bei Kommunal- und Europawahlen im Wege der politischen Gleichstellung von Bürgern anderer EUStaaten. Mehrere Länder gewähren aber auch Angehörigen von Drittstaaten, die sich dauerhaft niedergelassen haben, das kommunale Wahlrecht. Eine stärkere rechtliche Gleichstellung niedergelassener Migranten hat aber zur Folge, dass es für Immigranten bzw. für deren Kinder weniger Anreize zur Einbürgerung gibt. Etlichen erscheint dann ein Wechsel der Staatsbürgerschaft entbehrlich. Dies lässt sich anhand der besonders niedrigen Einbürgerungsraten von Westeuropäern illustrieren, die als Unionsbürger in anderen EUMitgliedsstaaten leben. Dennoch gilt: In den meisten europäischen Staaten bestehen – im Vergleich zu den traditionellen Einwanderungsländern in Übersee – noch immer erkennbare Hürden für die Einbürgerung und damit für die politische Integration.
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Dieter Gosewinkel
West- gegen Osteuropa? Gibt es verschiedene historische Entwicklungspfade der Staatsangehörigkeit?
Der folgende Beitrag untersucht die Frage, ob es im Europa des 20. Jahrhunderts entgegengesetzte Entwicklungspfade der Staatsangehörigkeit gab, die den Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten auf Dauer offener bzw. geschlossener ausgestalteten und der Polarität West- und Osteuropas entsprechen. Eingangs werden Thesen und Gegenthesen zu einem polaren west-östlichen Entwicklungsmodell erörtert (1.). Die Tragfähigkeit dieses polaren Entwicklungsmodells wird sodann im Hinblick auf die Geschichte des Staatsangehörigkeitsrechts kritisch untersucht, und zwar für den Zusammenhang zwischen Nationskonzept und Erwerbsprinzip der Staatsangehörigkeit (2.), In einem resümierenden Vergleich, der Unterschiede und Gemeinsamkeiten bezeichnet, wird abschließend die Frage nach möglichen Konvergenzen der Entwicklung im Rahmen der europäischen Integration erörtert (3.). Der Beitrag konzentriert sich auf die Staatsangehörigkeit, diejenige rechtliche Institution, die über den Einschluss in die staatlich definierte politische Gemeinschaft und damit zugleich über den Zugang zu wesentlichen Rechten der Staatsbürgerschaft entscheidet. Die Staatsangehörigkeit ist in den meisten Rechtsordnungen Voraussetzung für die Ausübung der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, insbesondere aber des Wahlrechts. Sie allein gewährt das Recht des unbeschränkten Aufenthalts und den Schutz vor Ausweisung im Falle oppositioneller öffentlicher Betätigung. Überblickt man die europäischen Rechtsordnungen des 20. Jahrhunderts, findet sich durchweg die Gewährleistung staatsbürgerlicher Rechte in Verbindung mit der Institution der Staatsangehörigkeit, und zwar sowohl in liberalkonstitutionellen Rechtsordnungen wie in Diktaturen. Die Staatsangehörigkeit besitzt also eine Schlüsselfunktion, die ungeachtet der tatsächlich gewährleiste
Veränderte und gekürzte Fassung eines Beitrags des Verfassers unter dem Titel: Europäische Konstruktionen der Staatsangehörigkeit. Gibt es einen west- und einen osteuropäischen Entwicklungspfad?, in: Alber, J./Merkel,W. (Hg.): Europas Osterweiterung: Das Ende der Vertiefung?, Berlin 2005, 281-308.
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ten und wahrgenommenen Freiheitsspielräume über Ein- und Ausschluss bestimmt (Gosewinkel 1995). Insoweit kann man von einer europäischen Gemeinsamkeit der Rechtsordnungen – einem „ius commune Europaeum“ – sprechen. Doch bleibt die zentrale Frage offen, ob es eine historische Tendenz zur ‚Europäisierung‘ dieser Institution gibt. Eine derartige ‚Europäisierung‘ des Staatsangehörigkeitsrechts kann verschieden ausfallen: Sie kann zum einen in einer Gesamtentwicklung bestehen, die gänzlich entweder auf Erweiterung und Inklusion oder auf Verengung und Exklusion hin gerichtet ist. Sie kann zum anderen in der Ausbildung verschiedener Typen der Entwicklung bestehen, die fortwährende Unterschiede, gegebenenfalls auch Entwicklungsfortschritte und -rückstände begründen. Das heißt: Gibt es anstelle einer konvergenten Europäisierung mehrere europäische Entwicklungspfade unterschiedlicher Art und Geschwindigkeit?
1. Westliche und östliche Entwicklungspfade? Fragestellung und Auswahl der Fälle Eine klassische, in der Literatur weit verbreitete Auffassung nimmt hinsichtlich der gesellschaftlichen und politisch-institutionellen Entwicklung einen tiefen, dauerhaft wirksamen Unterschied zwischen West- und Osteuropa an. Diese Annahme soll im Folgenden einer Prüfung unterzogen werden, die sich von der Fragestellung leiten lässt: Gibt es einen ‚östlichen‘, osteuropäischen Entwicklungspfad der Staatsangehörigkeit, der sich in spezifischer Weise von einer ‚westlichen‘, westeuropäischen Entwicklung der Staatsangehörigkeit unterscheidet, wobei dieser Unterschied kategorial und nicht nur historisch kontingent ist? Diesen Fragen wird ein Vergleich nachgehen, der die osteuropäischen Staaten Polen und Tschechoslowakei den beiden westeuropäischen Vergleichsfällen Frankreich und Großbritannien gegenüberstellt. Die beiden osteuropäischen Beispiele betreffen Staaten, die während des ‚kurzen‘ 20. Jahrhunderts – zwischen dem Ersten Weltkrieg und der europäischen Wende von 1989 – überwiegend von Phasen der Diktatur und Fremdherrschaft geprägt waren. Polen und die Tschechoslowakei waren 1918 in Form der Sezession aus multiethnischen Reichen hervorgegangen, indem sie sich als Nationalstaaten auf eine eigene, abgegrenzte und abgrenzende sprachlich-kulturelle und ethnische Tradition beriefen. Bestätigte sich darin, so lautet eine erste Fragestellung, die geläufige These, dass die aus Sezessionen hervorgehenden spät entstehenden Nationalstaaten Osteuropas ein spezifisch „ethnisches“ Nationsverständnis ausbildeten gegen-
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über der territorialen Definition der früher konsolidierten, territorial gefestigten Staaten Westeuropas? (Flora 2000, 158; vgl. Rokkan 2000, 178, 181; Schieder 1992). Verstärkte sich dieses spezifische Nationsverständnis noch im Zuge und in der Folge der nationalsozialistischen und sozialistischen Diktaturen? Eine Ausgangshypothese lautet daher, dass sich die Exklusivität der ethnischnationalen mit politischen Kriterien und rigiden, diktatorischen Methoden ihrer Durchsetzung verband und dadurch verstärkte. Demgegenüber verkörpern Frankreich und Großbritannien das Modell von früh, d.h. bereits im 19. Jahrhundert entfalteten und gefestigten Demokratien auf der Grundlage historisch lang tradierter, territorial stabiler Staaten. Beide Staaten entwickelten ein Nationsverständnis, das neben kulturellen und ethnischen Elementen auch die Offenheit und Prägekraft des staatlichen Territoriums für Zuwanderung und Neuerschließungen bekräftigte. Auf den ersten Blick liegt die Hypothese nahe, dass die östliche und die westliche Vergleichsgruppe zwei Typen und Geschwindigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung in der europäischen Geschichte verkörpern, die sich in der rechtlichen Regelung des Zugangs zu staatsbürgerlichen Rechten niederschlagen. England und Frankreich stehen dabei beispielhaft für den westeuropäischen, Polen und die Tschechoslowakei für den osteuropäischen Typus. Die Vergleichsländer verkörpern angesichts ihrer politischen und wirtschaftlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert die jeweilige Spitzengruppe in West- und Osteuropa. Alle Länder sind zudem seit der Erweiterung im Jahre 2004 Mitglied der Europäischen Union. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die historisch bedingten Entwicklungsunterschiede zwischen den beiden Typen bis in die Gegenwart hinein bestehen und die Kluft zwischen den alten westeuropäischen und den neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten der Union auf Dauer fortschreiben. Der Vergleich untersucht diese Hypothese anhand eines bestimmten Gegenstands: des Prinzips des Ersterwerbs der Staatsangehörigkeit, der entweder durch die Abstammung von staatsangehörigen Eltern (ius sanguinis) oder durch die Geburt auf dem Territorium des Staates (ius soli) vermittelt wird. Dieser Vergleichsfall erscheint in der Literatur vielfach als Gegenstand und Beleg verbreiteter Vorannahmen über die Kongruenz einer geographischen mit einer historisch-kulturellen Scheidung Europas in Ost und West. Es handelt sich um ein staats- und gesellschaftspolitisches Problem der Umgrenzung des Staatsvolks. Der Vergleichsfall hat zum anderen unmittelbar Bezug zur Rechtskonstruktion der Europäischen Union: Die Staatsangehörigkeit in einem Mitgliedsstaat ist notwendige Bedingung für den Zugang zur Unionsbürgerschaft, die als zentrale Institution der europäischen Vertragswerke ihrerseits genuine Rechte der EU-Bürger vermittelt. Die Bestimmung des Zugangs zur Staatsangehörig-
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keit entspringt historischen Problemlagen, die in den europäischen Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts entstanden und für die Konstruktion der Europäischen Union maßgeblich bleiben. Die historisch ansetzende Untersuchung stellt, erstens, zwei Typen der Nationsbildung und -entwicklung einander gegenüber: Der ‚westliche‘, subjektive, maßgeblich auf dem politischen Willen des Volkes beruhende Nationsbegriff wird einem ‚östlichen‘, objektiven, auf zugeschriebenen und kaum oder nicht veränderlichen Kriterien der kulturellen und ethnischen Zugehörigkeit basierenden Nationskonzept entgegengesetzt (vgl. Hirschhausen/Leonhard 2001, 16 21). Beide Nationskonzepte werden in engen kausalen Zusammenhang zur Wahl des jeweiligen Erwerbsprinzips der Staatsangehörigkeit gebracht: Während das westliche Nationsmodell ein offeneres, assimilationsfreundliches Territorialprinzip bedinge, verbinde sich das osteuropäische Modell mit dem restriktiven, auf das unveränderliche und exklusiv wirkende Kriterium der Verwandtschaft setzenden Abstammungsprinzip. Diese Annahmen werden hier in Frage gestellt. Dagegen wird die Hypothese gesetzt, dass Unterschiede im Recht der Staatsangehörigkeit ost- und westeuropäischer Länder nicht durch die Offenheit bzw. Geschlossenheit eines spezifischen Nationskonzepts zu erklären sind. Darüber hinaus werden mehrere Fragen aufgeworfen: Sind nicht Unterschiede innerhalb der vermeintlichen Typen vielfach größer als zwischen den Typen? Sind nicht Gemeinsamkeiten zwischen den beiden vermeintlichen Typen stärker als Unterschiede? Können die Unterschiede nicht anders zu erklären sein als durch die Gegenüberstellung eines ostgegenüber einem westeuropäischen Entwicklungspfad, gar eines ‚Sonderfalls‘ gegenüber einem ‚Normalfall‘? Dabei wird die These zugrunde gelegt, dass die Wirkung von Inklusion und Exklusion mit Blick auf die Staatsangehörigkeit nicht maßgeblich durch Strukturbedingungen oder grundsätzliche Konzeptionen der Nation bestimmt wird. Maßgebend sind vielmehr historisch kontingente Reaktionen auf den Wandel politischer Interessenlagen und Gelegenheitsstrukturen, die die europäische Geschichte der Moderne im Ganzen durchziehen und prägen.
2. Polare Nationskonzepte? Der Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Abstammung oder Geburt im Staatsgebiet 1. Trifft es zu, dass in den beiden osteuropäischen Vergleichsfällen Polen und Tschechoslowakei ein ethnisch-kulturelles, besonders exklusiv wirkendes Nationsverständnis maßgebend für eine restriktive, auf das Prinzip der Abstammung gegründete Staatsangehörigkeitspolitik war? Diese Annahme legt eine systema-
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tische Gegenüberstellung von ius soli und ius sanguinis zugrunde, die für das europäische 19. Jahrhundert mit seiner relativ friedlichen Entwicklung rekonstruiert wurde. Dagegen war das 20. Jahrhundert ein „Zeitalter der Extreme“, in dem zwei Weltkriege, die ideologische Zweiteilung der Welt und aggressive, expansive Diktaturen, schließlich die Prozesse der Entkolonisierung weit reichende Umwälzungen der territorialen, staatlichen und nationalen Verhältnisse mit sich brachten. Dies ging einher mit erheblichen, teils radikalen Veränderungen in den Systemen und Wirkungen der Staatsangehörigkeit. Polen und die Tschechoslowakei, die sich im Zuge der Sezession neu gebildet hatten, mussten ihre territoriale Gestalt als Nationalstaat 1918 gemeinsam mit dem Prinzip der Staatsangehörigkeit erst neu erfinden – und waren darin nicht völlig frei. Sie standen z.B. unter dem Zwang der Kriegsereignisse und ihrer Folgen. Beide Staaten waren während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg einer radikalen Politik der Germanisierung und ethnischen Säuberungen unterworfen. Zum Teil in Reaktion darauf führten sie nach 1945 ihrerseits ethnische Säuberungen durch, waren aber innerhalb des sowjetischen Machtblocks nicht souveräne Nationalstaaten, die ihre Staatsangehörigkeitspolitik frei bestimmen konnten. Zieht man die raschen und einschneidenden Veränderungen im territorialen Zuschnitt, im politischen System und dessen ideologischer Ausrichtung im Wechsel zwischen Expansion und Stabilisierung eines Rumpfstaates in Betracht, durchlief die Staatsangehörigkeit im 20. Jahrhundert eine Vielzahl verschiedener Funktionen. Ihre Zweckbestimmung, ein bestimmtes Konzept der Nation zu definieren oder zu stabilisieren, war nur eine Funktion unter anderen und wurde durch jene relativiert. Die historische Entwicklung Polens und der Tschechoslowakei bringt erste Belege für diese These: Polen und die Tschechoslowakei, die sich durch Sezession von ‚polnisch‘ und ‚tschechisch‘ bzw. ‚slowakisch‘ besiedelten Gebieten aus Territorien Russlands, Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches gebildet hatten, hätten nach der These von einem spezifischen mittel/osteuropäischen Typus der ethnisch-kulturellen Nationalität (Brubaker 1992, 35) ein reines ius sanguinis zur Grundlage ihrer staatlichen Neugründung machen müssen. Dies taten sie nicht und konnten es auch nicht; so statuierte das polnische Gesetz vom 20.1.1920 zwar grundsätzlich, dass die polnische Staatsangehörigkeit durch „Geburt“ im Sinne von Abstammung übertragen wurde, legte aber zugleich fest, dass Pole sei, wer „ansässig“ im Gebiet des polnischen Staates war (siehe Art. 2.1., Art. 4.1.; vgl. Geilke 1952, 52). Die Erklärung liegt darin, dass beide Nationalstaaten im Rahmen des Versailler Vertragssystems verpflichtet waren, die auf ihrem Gebiet teils seit langem ansässigen Minderheiten fremder Nationalität zu dulden. Sowohl der polnische wie der tschechoslowakische Staat verpflichteten sich durch den Vertrag von Saint-Germain-en-
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Laye 1919, „allen Einwohnern ohne Unterschied der Geburt, Staatsangehörigkeit, Sprache, Rasse oder Religion vollen und ganzen Schutz von Leben und Freiheit zu gewähren“ und als ihre „Staatsbürger“ unter anderem diejenigen ehemaligen Staatsbürger des Deutschen Reiches und deren Nachkommen anzuerkennen, die ihren Wohnsitz in früher zum Deutschen Reich gehörenden Gebieten besaßen.1 Entsprechendes galt für die Bewohner der ehemals russischen bzw. österreichisch-ungarischen Gebiete. Die Rücksichtnahme auf eine vertragliche, nicht kriegerische Konsolidierung der neuen Nationalstaatsgründung mit de facto multinationaler Bevölkerung ließ nicht die Einführung eines reinen Abstammungsprinzips zu – auch wenn dies der Fiktion ‚ethnischer Reinheit‘ im Moment der nationalen Neugründung genauer entsprochen hätte. Dies war beispielsweise der Fall in den Balkanstaaten, die sich durch das System des Minderheitenschutzes im Versailler Vertragssystem an der Einführung eines rigiden Abstammungsprinzips gehindert sahen (vgl. Sundhaussen 2001, 204; vgl. Schmid 1979, 11ff.). Erst infolge des Zweiten Weltkriegs, nach der Zerschlagung der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft, wurde das Prinzip ‚ethnischer Reinheit‘ maßgeblich für die Rekonstruktion des polnischen und tschechoslowakischen Staates.2 Die Abstammung von polnischen bzw. tschechoslowakischen Staatsangehörigen sollte fortan die Staatsangehörigkeit begründen, die Geburt im Land nicht mehr genügen. Dieser Vorgang scheint auf die Konsolidierung der Verbindung zwischen ethnischkulturellem Nationsverständnis und ius sanguinis in den beiden ‚späten‘ Nationalstaaten Mitteleuropas hinzudeuten. Jedoch greift diese Erklärung in mehrfacher Hinsicht zu kurz: Polen und die Tschechoslowakei restabilisierten ihr Staatsangehörigkeitsrecht nicht in einer Situation der weitgehend freien und souveränen staatlichen Neugründung. Die Gründung der Staatsangehörigkeit auf das Prinzip der ‚Nationalität‘ erfolgte vielmehr in Reaktion auf die Unsicherheit der territorialen Grenzen beider Länder (vgl. Weil 2001, 109), und eine radikale Politik zwangsweiser Ethnisierung durch die nationalsozialistische Besatzungsherrschaft, die Politik der so genannten „Volkstumslisten“. Die Selektion nach deutschem Volkstum und nationalem Bekenntnis einerseits, polnischem und tschechischem andererseits, hatte die Bevölkerung der beiden Staaten tief gespalten und in Loyalitätskonflikte gezwungen. Die Politik der ethnischen Reinigung qua Staatsangehörigkeit, die 1 Vertrag zwischen den alliierten und assoziierten Hauptmächten und der Tschechoslowakei vom 10.9.1919, Art.2 (in: Schmied 1956, 53); Verfassungsgesetz vom 9.4.1920, §§1, 2 (mit der Grundregel des Territorialprinzips, dass von auf dem Gebiet der CSR geborenen Personen angenommen werde, dass sie tschechoslowakische Staatsbürger sind, vgl. Schmied 1956, 55); Vertrag vom 28.6.1919, Art. 2 (in: Geilke 1952, 51); Gesetz vom 20.1.1920 betr. die polnische Staatsangehörigkeit, Art. 2.1.c. (in Geilke 1952, 52) – s. sogar die Kodifikation des Territorialprinzips, Art. 2.2. 2 Gesetz vom 13.7.1949, §1 (Schmid 1979, 105); Gesetz vom 8.1.1951, Art. 6 (Geilke, 1979, 117).
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beide Staaten verfolgten, reagierte auf die nationalsozialistische Ethnisierungspolitik, um die entstandenen Loyalitätskonflikte zu ihren Gunsten zu entscheiden. Daraus erklärt sich die spezifische Härte und Radikalität, mit der Polen und die Tschechoslowakei diejenigen ehemaligen Staatsangehörigen, die sich unter NS-Herrschaft freiwillig zum deutschen Volkstum bekannt hatten, ausbürgerten.3 Die Ethnisierung ihrer Staatsangehörigkeit war für beide Staaten unausweichlich in einem System der ethnischen Säuberung, in dem Kriegs- und Nachkriegspolitik aufeinander bezogen blieben. Schließlich hatte die Ethnisierung der polnischen und tschechoslowakischen Staatsangehörigkeit eine ‚passive Seite‘. Die Gebiete, die Polen und die Tschechoslowakei an die Sowjetunion (Ukraine und Weißrussland) hatten abtreten müssen, brachten Regelungen über Option und Bevölkerungsaustausch mit sich, die notwendigerweise an das Definitionskriterium der Nationalität anknüpften.4 Meine These lautet daher: Die Wiederbegründung bzw. Neugründung des polnischen und tschechoslowakischen Staats 1918/19 wie 1945 stand im Zeichen völkerrechtlicher und machtpolitischer Zwänge, die schon von daher den spezifischen Konnex zwischen einem Konzept der Nation und der Wahl eines entsprechenden Erwerbsprinzips der Staatsangehörigkeit ausschlossen. Maßgeblich blieben historischem Wandel unterworfene politische Faktoren, die eine prinzipielle und dauerhafte Festlegung auf ein bestimmtes Erwerbsprinzip der Staatsangehörigkeit nicht zuließen. 2. Die Analyse zeigt, dass die Entscheidung für das Prinzip des Staatsangehörigkeitserwerbs in den beiden osteuropäischen Vergleichsfällen weniger aus einer grundsätzlichen Konzeption der Nation als aus historisch wandelbaren politischen Handlungsoptionen und -zwängen erfolgte. Das ius sanguinis wurde als Prinzip gewählt, aber auch durchbrochen, wenn außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitische Gründe dies nahe legten. Bleibt nicht gleichwohl ein kategorialer Unterschied zu den beiden westlichen Vergleichsfällen Frankreich und Großbritannien bestehen, die die Territorialität als Prinzip des Staatsangehörig3 Verfassungsdekrete des Präsidenten der Republik, 2.8.1945, §1, Abs.1 und 2 (Schmied 1956, 83), das neben der deutschen auch die magyarische Nationalität betraf; Gesetz vom 6.5.1945, betr. die Ausschließung von feindlichen Elementen aus der polnischen Volksgemeinschaft (Geilke 1952, 83); Dekret vom 13.9.1946 betreffend: Den Ausschluss von Personen deutscher Nationalität aus der polnischen Volksgemeinschaft (Geilke 1952, 106). 4 Abkommen zwischen der CSR und Ungarn über den Bevölkerungsaustausch, 27.2.1946 (Schmied 1956, 90); Verfassungsgesetz vom 13.9.1946 über die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Landsleute aus Ungarn (in: Schmied 1956, 95); Vertrag vom 29.6.1945 zwischen der CSR und der UdSSR über die Transkarpathen-Ukraine (Schmied 1956, 96); Gesetz vom 25.10.1948 über die Staatsbürgerschaft der Personen magyarischer Nationalität (in: Schmied 1956, 103); Bekanntmachung vom 6. Juli 1945 betr. das Sowjetisch-Polnische Abkommen über den Wechsel der Staatsangehörigkeit und über die Repatriation (Geilke 1952, 88); Vertrag vom 16.8.1945 zwischen der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken und der Republik Polen über die sowjetischpolnische Staatsgrenze (Geilke 1952, 90).
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keitserwerbs im Verlauf des 20. Jahrhunderts stark betonten bzw. in den Vordergrund stellten? Auch hier zeigt ein genauer Blick auf die Genese des – territorialen – Leitprinzips, wie sehr seine Einführung und Aufrechterhaltung, schließlich auch seine Abschwächung jenseits betont ‚nationaler‘ Prinzipien vom Wandel der maßgebenden politisch-sozialen Rahmenkonstellation bestimmt war. Die Analyse der französischen Entwicklung stellt die Territorialität als eindeutiges und unbezweifeltes Leitprinzip in Frage. Das ius soli (für Angehörige von Einwandererfamilien, die in zweiter Generation im Land geboren waren; Weil 2001, 103) setzte sich nämlich in Frankreich erst 1889 während der III. Republik durch. Bis dahin herrschte gegenüber dem ursprünglich feudalen Territorialprinzip das als ‚moderner‘ angesehene Abstammungsprinzip des Code Napoléon (Weil 2003, 27ff, 35). Die Durchsetzung des Territorialprinzips 1889 setzte nicht nur auf die Prägekraft der republikanischen Werte, sondern auch auf die Gewinnung von Soldaten und Arbeitskräften in einer Phase des verminderten Bevölkerungswachstums und industriellen Aufschwungs. Damit zielte die französische Bevölkerungspolitik insbesondere auf Deutschland, das inmitten eines industriellen Booms über ein (relativ) hohes Bevölkerungswachstum verfügte. Bezieht man also die ökonomischen, vor allem politischen Motive und spezifischen Interessenlagen der jeweiligen Staaten mit ein, verliert die Gegenüberstellung ius soli versus ius sanguinis ihre enge systematische und institutionelle Verknüpfung mit einem lenkenden Nationsverständnis. Die Rechtsprinzipien wurden instrumenteller, nach wechselnden (wirtschafts- und bevölkerungs-) politischen Zielsetzungen gehandhabt. Schließlich trifft die gelegentlich mitschwingende These, das ius soli sei gegenüber dem ius sanguinis das ‚modernere‘ (auch demokratische, ‚offene‘) Prinzip historisch nicht zu. Im Gegenteil: Das ius sanguinis galt im revolutionären Frankreich als das modernere Prinzip, mit dem das feudale ius soli überwunden wurde und im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunächst mit der Verbreitung des Code Napoléon im Zuge der französischen Expansion in fast alle Länder auf dem europäischen Kontinent vordrang (Weil 2003, 188ff, 195ff.; ders. 2001, 99). Auch das Territorialprinzip der französischen Staatsangehörigkeit veränderte im Verlauf des 20. Jahrhunderts seine Funktion und Wirkung. Während nach den starken Bevölkerungsverlusten des Ersten Weltkriegs die Novelle von 1927 den Staatsangehörigkeitserwerb weiter liberalisierte und auch nach dem Zweiten Weltkrieg das Territorialprinzip leitend blieb, blieb die Gegentendenz nicht wirkungslos. Zwar wurden die maßgeblich ethnisch motivierten Beschränkungen des Erwerbs der französischen Staatsangehörigkeit unter dem Regime von Vichy nach 1945 wieder zurückgenommen. Doch erfuhr das auf Assimilation angelegte Territorialprinzip in den 1990er Jahren unter dem Eindruck starker, in diesem Umfang politisch nicht erwünschter Einwanderung, vor allem aus den ehemaligen Kolonialgebie-
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ten, erstmals eine maßgebliche Einschränkung. Die französische Staatsangehörigkeitsgesetzgebung konvergiert also mit anderen ‚Mischsystemen‘ der Staatsangehörigkeit in Europa (vgl. Weil 2001). Das Territorialprinzip wird neben dem Abstammungsprinzip nicht aufgegeben. Aber seine Verbindung mit einem spezifisch politischen, offenen französischen Nationskonzept erweist sich als nicht systematisch, vielmehr kontingent und zeitgebunden. Bleibt nicht Großbritannien als ‚westliches‘ Modell eines liberaldemokratischen, auf die Offenheit seines Territoriums ausgerichteten Staates? Diese Annahme liegt nahe, zumal Großbritannien über das gesamte 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts den Primat des ius soli aufrechterhielt, während die übrigen behandelten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg zum Primat des Abstammungsprinzips übergingen und lediglich Frankreich ein starkes territoriales Element bewahrte. Bevor man jedoch das Vereinigte Königreich als ‚Modellfall‘ interpretiert, muss man sich seine Besonderheiten vergegenwärtigen. Dieser Unterschied verweist auf eine mehrfache Besonderheit, die das britische Staatsangehörigkeitsrecht vom kontinentaleuropäischen unterschied. „Staatsangehörige“ oder „Staatsbürger“ (citizens, citoyens) hießen im British Empire „Untertanen“, d.h. „British subjects“ (zur Erklärung siehe Cesarani 1996, 59; Dummett/Nicol 1990, 68). Damit hing die Ableitung der besonders reinen Ausprägung des Territorialprinzips aus der feudalrechtlichen „personal allegiance“ gegenüber der britischen Krone zusammen. Das Nationality Act von 1914 bestimmte grundsätzlich den British subject als „any person born within his Majesty’s dominions and allegiance“. Die britische Tradition war tief im feudalen Recht des ius soli, der „allegiance“, insgesamt im Common Law und seiner Terminologie verwurzelt. Belegen sie auch die Abkoppelung der britischen Rechtsentwicklung von den restriktiven, (vermeintlich) assimilationsfeindlichen Traditionen des Abstammungsprinzips im Recht der kontinentaleuropäischen Nationalstaaten? Dazu muss man auf den Zweck zurückgehen, den die Beibehaltung des feudalen ius soli im Vereinigten Königreich auch nach den Revolutionen in Nordamerika und Frankreich an der Wende zum 19. Jahrhundert bewahrte. Er bestand nicht in der Integration möglichst vieler Einwanderer auf britischem Territorium. Denn die britischen Inseln waren im 19. Jahrhundert kein Einwanderungsgebiet (vgl. Mitchell 1988, 76, 82, 86); deshalb erfolgten Immigrationsrestriktionen erst mit dem Aliens Act von 1905 (vgl. Fahrmeir 2000, 130, 213, 221f.). Auch der Gedanke der Gleichheit, der in der rechtlichen Gleichstellung der auf dem gleichen Territorium geborenen und sozialisierten Menschen liegt, war nicht bestimmend, denn zwischen den Kolonien und dem Mutterland blieb ein beträchtliches Gefälle im Rechtsstatus bestehen, das bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein mit unterschiedlichen Kulturstufen der im British
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Empire unter der Herrschaft des britischen Monarchen vereinigten Menschen gerechtfertigt wurde (zu diesen Argumenten vgl. Hampe 1951, 28f; Paul 1997, 112; zur Schlüsselrolle Indiens vgl. Dummett/Nicol 1990, 134, 141; Karatani 2003, 121f.). Die koloniale Zielrichtung verweist auf den entscheidenden Zweck des ausgeprägten britischen Territorialprinzips in seiner besonderen Verbindung mit „allegiance“ gegenüber dem Monarchen – einen imperialen Zweck nämlich: den Zusammenhalt des Mutterlands mit einem Kolonialreich sicherzustellen, das territorial, ethnisch und kulturell gerade als äußerst heterogen angesehen wurde (vgl. Karatani 2003, 5, 90, 124; Dummett/Nicol, 1990, 137f.). Allerdings bewirkten territoriale Einschränkungen der Freizügigkeit und Niederlassungsbeschränkungen ethnische Diskriminierung innerhalb des British Empire (vgl. Gammerl 2003, 33ff., 84). Die Gleichheit des Untertanenstatus wurde daher im Mutterland, dem United Kingdom, solange nicht evident, wie die British subjects des überseeischen Empire von ihrer Rechtsgleichheit nicht Gebrauch machten oder Gebrauch machen konnten, um sie im Mutterland auszuüben. In dem Moment jedoch, in dem British subjects der ehemaligen Kolonien ihr Recht auf Freizügigkeit nutzten, um sich – zumal auf Dauer – seit den 1970er Jahren im Mutterland niederzulassen, schlug die Funktion des Territorialprinzips um. Es war nicht mehr verbunden mit dem hierarchischen Prinzip des Untertanen und Kolonialabhängigen. Stattdessen beseitigte es territoriale und rechtliche Hierarchien und bot keine Instrumente mehr, den Zugang zur britischen Staatsbürgerschaft und zum Mutterland zu kontrollieren. Auf diese Situation reagierte der britische Gesetzgeber mit einer durchgreifenden Änderung des Staatsangehörigkeitssystems (vgl. Paul 1997; Dummett/Nicol 1990, 158, 182ff., 192ff.; Cesarani 1996, 57-73, 68). Das British Nationality Act von 1981 führte mit dem Begriff des „British citizen“ erstmals ein starkes Element der Abstammung in das britische Staatsangehörigkeitsrecht ein: Nicht nur die Geburt auf dem Territorium des United Kingdom, sondern diese in Kombination mit der Abstammung von britischen Eltern wurde zum Haupterwerbsgrund für den privilegierten Status des „British citizen“ (vgl. Fransman 1998, 269f.). Nur ein „British citizen“, geboren im United Kingdom, genoss nunmehr das unbeschränkte Recht des Aufenthalts im Mutterland (Fransman 1998, 278). Die Privilegierung des „British citizen“ an der Spitze eines Systems fein abgestufter Kategorien diente der territorialen Abgrenzung und ethnischen Filterung der Zuwanderung. Hat sich also Großbritannien mit der Aufnahme des Abstammungsprinzips, einer Prämierung der Abstammung von Briten in seinem Staatsangehörigkeitsrecht, auf den Weg des ethnisch homogenen Nationalstaats begeben? Auch hier greift die Gegenüberstellung der beiden Modelle zu kurz: Im britischen Staatsangehörigkeitsrecht
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bleibt ein starkes territoriales Element erhalten (vgl. Fransman 1998, 270, Anm. 7); auch das neue britische Staatsangehörigkeitsrecht läuft nicht auf die Anpassung an ein Modell des ethnisch geschlossenen kontinentaleuropäischen Nationalstaats hinaus. Es dient vielmehr – gerade in seiner Mischung territorialer und abstammungsbezogener Elemente – der Anpassung an eine veränderte imperiale, genauer: post-imperiale Situation. Großbritannien bleibt auch darin mehr dem multi-nationalen Empire als dem hergebrachten Nationalstaat verhaftet. Auch das ‚westliche‘ Modell des offenen Territorialprinzips zerfällt also in ein nach Funktion und Ausgestaltung variables Mischsystem unterschiedlicher Spielart, das je nach wechselnden Erfordernissen von assimilatorischer Offenheit und imperialer Ausdehnung einerseits oder ethnisch und ökonomisch bedingter Abschließung andererseits ausgedehnt oder zurückgenommen wird. Es lässt sich von daher nicht als Gegenmodell zu ethnisch-homogener Nationalstaatlichkeit anführen.
3. Resümee: Tendenz zur Konvergenz Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass die Annahme eines spezifisch ‚osteuropäischen‘ bzw. ‚westeuropäischen‘ Entwicklungspfads nicht auf die historische Entwicklung der Staatsangehörigkeit in Europa während des 20. Jahrhunderts gestützt werden kann. Der restriktive bzw. inklusive Charakter eines Systems des Staatsangehörigkeitserwerbs lässt sich nicht aus einem ‚östlichen‘, ethnisch-restriktiven, illiberalen System einerseits, einem ‚westlichen‘, territorial-inklusiven, liberalen System andererseits begründen. Zwar gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen West- und Osteuropa hinsichtlich der Zeit und Art der Entstehung von Nationalstaaten, der ökonomischen Entwicklungsvoraussetzungen und der Erfahrungen mit Diktaturen im 20. Jahrhundert. Doch wirken sich diese Unterschiede nicht in strukturell gegensätzlichen Modellen der Staatsangehörigkeit aus. Es überwiegen vielmehr die historischen Gemeinsamkeiten gegenüber den Unterschieden. Bestimmend ist nicht die eindeutige geographische Zuordnung eines dominanten Territorialprinzips im Westen, des Abstammungsprinzips im Osten, sondern die Mischung von Territorial- und Abstammungsprinzip in beiden Teilen Europas. Die These hat sich nicht bestätigt, dass die aus einer Sezession hervorgegangenen ostmitteleuropäischen Staaten im 20. Jahrhundert eine ethnische Nationskonzeption und in deren Folge ein eindeutig ethnisch bestimmtes Abstammungsprinzip wählten. Ebenso wenig trifft die These zu, dass die ausgeprägten territorialen Elemente im Staatsangehörigkeitsrecht Frankreichs und Großbritanniens auf einer strukturell gefestigten politischen Bereitschaft zur Inklusion von Zuwanderung beruhten. Diese Befun-
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de decken sich mit jüngsten Analysen, die eine Konvergenz der gegenwärtigen Staatsangehörigkeitssysteme in Europa und darüber hinaus feststellen (Weil 2001). Sie gehen von der Annahme aus, dass der Hauptfaktor, der Staatsangehörigkeitssysteme gestaltet und aufrechterhält, neben der (nationalen) Rechtstradition die Trennung von staatlichem Territorium und Bevölkerung sowie das sich wandelnde Verhältnis zwischen beiden ist. Damit wird eine These zugrunde gelegt, die sich auch in dieser Untersuchung bestätigt: Die Ausgestaltung von Staatsangehörigkeitssystemen hängt unter anderem davon ab, ob Staatsvolk und Staatsterritorium als rechtlich kongruent definiert werden. Der historische, politisch und ökonomisch bedingte Wandel in der Regulierung dieses territorialen Verhältnisses verändert auch nationale Rechtstraditionen. Die Europäische Union gibt diesem Konvergenzprozess einen institutionellen Rahmen, indem sie zwei grundlegende Bedingungen voraussetzt und im Rahmen der europäischen Integration auch garantiert, die für Konvergenzen des Staatsangehörigkeitsrechts notwendig sind: eine demokratische Staatsordnung und die Stabilität der staatlichen Grenzen. Neben Frankreich und Großbritannien sind diese Voraussetzungen auch in Polen, Tschechien und der Slowakei wie in allen anderen osteuropäischen Mitgliedstaaten der Union gewährleistet. Hinzu kommt die tendenzielle Selbstwahrnehmung als Einwanderungsland, jedenfalls nicht als Auswanderungsland. Während diese Voraussetzung in Großbritannien und Frankreich vorliegt, ist sie in Polen und der tschechischen bzw. slowakischen Republik nicht eindeutig gegeben. Dies vermag zu erklären, weshalb das ius sanguinis im gegenwärtigen Staatsangehörigkeitsrecht Polens sowie Tschechiens und der Slowakei bestimmender ist als in Großbritannien und Frankreich. Abgeschwächt wird das Abstammungsprinzip in den beiden östlichen Vergleichsländern durch die relativ milden territorial definierten Einbürgerungsbedingungen: Wer fünf Jahre lang im Staatsgebiet seinen rechtmäßigen Wohnsitz hatte, kann eingebürgert werden.5 Hier zeigt sich die Tendenz zur Konvergenz: „ ‚Ius soli‘-Staaten wurden etwas restriktiver, und die ‚Ius sanguinis‘-Staaten bewegten sich in Richtung des ius soli“ (Weil 2001, 95). Lässt dies bereits auf eine ‚Europäisierung‘ im Sinne einer europaweiten Angleichung des Staatsangehörigkeitsrechts schließen? Ein Argument für eine solche Konvergenz ließe sich aus der Unionsbürgerschaft ableiten. Die Unionsbürgerschaft aufgrund der Europäischen Verträge setzt die Staatsangehörigkeit in einem Mitgliedsstaat 5 Gesetz über die polnische Staatsangehörigkeit vom 15.2.1962 in der Fassung von 2000, Art. 8 Abs.1 (Bergmann/Ferid/Henrich 2002, 13); Gesetz über den Erwerb und Verlust der Staatsbürgerschaft vom 29.12.1992 der Tschechischen Republik, §§ 7Abs.1a., 11 Abs.1a. (Bergmann/Ferid/Henrich 2002, 13). Dagegen sieht das Gesetz des Slowakischen Nationalrats über die Staatsbürgerschaft der Slowakischen Republik vom 19.1.1993, §5 Abs. 1 b, c., Abs.2 a, neben dem Abstammungs- das Territorialprinzip vor (Ferid 1996, 3).
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voraus und ergänzt diese lediglich. Sie lässt die Rechtsstandards der nationalen Staatsangehörigkeitssysteme unberührt. Weder setzt sie die Homogenisierung des Staatsangehörigkeitsrechts zwischen den Mitgliedsstaaten voraus, noch gibt sie eine rechtliche Handhabe für eine solche Homogenisierung. Da eine derartige Vereinheitlichung nur aufgrund einer Änderung des Unionsvertrags möglich ist, bleibt das Staatsangehörigkeitsrecht in Europa eine Bastion der Nationalstaaten (siehe hierzu Art. 17 Abs.1 Satz 2, Art. 22 Abs. 2 des konsolidierten EUVertrags, vgl. Kotalikidis 2000, 157, 203; Nettesheim 2004, 715). Um so wesentlicher sind für eine Homogenisierung der Staatsangehörigkeitsstandards auf der Ebene der Europäischen Integration Tendenzen der Konvergenz, die sich nicht ‚von oben‘, d.h. von Organen der Europäischen Union, sondern ‚von unten‘, und damit aus den Mitgliedsstaaten selbst heraus entwickeln. Diese Tendenzen der Konvergenz sind noch kein Beleg für eine ‚Europäisierung‘ im Sinne einer Harmonisierung des Zugangs zu Staatsangehörigkeit und staatsbürgerlichen Rechten innerhalb des Rechts der europäischen Integration. Doch sprechen sie gegen die Annahme historisch verwurzelter und deshalb weiterhin wirkungsmächtiger, getrennter Entwicklungspfade im Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten in Osteuropa einerseits, in Westeuropa andererseits.
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Migration und aktive Bürgerschaft
Einleitung In diesem Beitrag geht es nicht um Migration als Thema der europäischen Bürgerschaftsbildung, sondern um die direkte Beziehung zwischen Migration und aktiver Bürgerschaft. Konkret: Was können Zuwanderer zur aktiven Bürgerschaft in Europa leisten? Wie kann die politische Bildung dazu beitragen, sie dabei zu unterstützen? Dabei möchte ich auf zwei Aspekte eingehen: x Zuwanderer als Europäer x Zuwanderer als aktive Bürger Dieses Thema wird vom europäischen Forschungsprojekt ‚POLITIS – Europa aufbauen mit neuen Bürgern? Eine Untersuchung zum gesellschaftlichen Engagement von eingebürgten und ausländischen Einwohnern in 25 Ländern’ untersucht.1 Ich möchte die ungewöhnliche Konstruktion dieses Projekts kurz vorstellen, damit der Hintergrund der weiteren Ausführungen besser einzuordnen ist: Nur drei POLITIS-Forschungspartner in Deutschland, Italien und Griechenland kooperieren mit einer Vielzahl von Mitforschern in ganz Europa: 35 Länderexperten für alle 25 EU-Staaten haben Länderberichte über Zuwanderung und gesellschaftliches Engagement geschrieben2. Mehr als 70 Studierende und Doktoranden aus aller Welt, die in allen 25 EU-Staaten leben, haben bei einer Sommerschule 2005 über Europa diskutiert und sich als Interviewer qualifiziert. Sie wurden unter mehr als 250 Bewerbern ausgesucht, die kurze Essays über ihr persönliches Verhältnis zu Europa eingereicht hatten. In ihren Studienländern haben die studentischen Mitforscher gesellschaftlich aktive Zuwanderer gesucht, qualitative Interviews über ihr Engagement mit ihnen geführt, diese 1 Building Europe with new citizens? An inquiry into civic participation of naturalised citizens and foreign residents in 25 countries’ (POLITIS). Finanzierung im 6. Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Kommission von Juni 2004 bis Mai 2007. 2 Berichte in englischer Sprache können im Internet heruntergeladen werden unter http://www.unioldenburg.de/politis-europe/9812.html.
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transkribiert und ins Englische übersetzt. Zur Zeit werden 176 Interviews zur Analyse aufbereitet. Die Studierenden werden bei einer zweiten Sommerschule im Juli 2006 über erste Ergebnisse diskutieren können. Wichtig war es, in diesem Projekt den Kontakt zur Zivilgesellschaft zu halten. Hier hat die Churches’ Commission of Migrants in Europe eine wichtige Funktion. Die kleine Brüsseler Organisation, die den Informationsfluss über Migrationsfragen zwischen der Europäischen Ebene und protestantischen und orthodoxen Kirchen in beide Richtungen organisiert, hat das Projekt von Anfang an beraten und wird helfen unsere Ergebnisse nicht nur für die Wissenschaft diskutierbar zu machen. Was wir bereits wissen, und was wir herausfinden wollen, werde ich im Folgenden vorstellen.
Zuwanderer als Europäer Der europäische Integrationsprozess erfordert, dass Nationalstaaten mit sehr unterschiedlichen kulturellen, religiösen und politischen Traditionen zusammenarbeiten. Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten, sogenannten Drittstaaten, wird meist als Gefahr für den europäischen Einigungsprozess betrachtet, oder bestenfalls als zusätzliche Herausforderung (Ireland 1994). Durch Zuwanderung aus Drittstaaten wird die Diversität in Europa weiter erhöht, und daher – so die übliche Logik – werden die Chancen auf die Entwicklung eines europäischen Staates mit einer gewissen Kohäsion verringert. Dies ist eine recht einleuchtende und möglicherweise zutreffende Argumentation, aber sie ist nicht notwendigerweise richtig. Im Projekt POLITIS wollen wir dem positiven Potential der Zuwanderer für die europäische Integration nachspüren. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ob Zuwanderer aus Afrika, Amerika und Asien nicht vielleicht die besseren Europäer sein könnten? Erstens betrachten sie Europa zunächst von außen und können so besser erkennen, was das Besondere an Europa ist. Zweitens haben sie am Anfang noch keine besondere Bindung an ein einzelnes europäisches Land herausgebildet. Dadurch könnten sie besonders aufgeschlossen für eine Identität als Europäer sein. Drittens könnte es für sie einfacher sein, sich als Europäer in Europa zu fühlen als zum Beispiel als Deutsche in Deutschland oder als Griechen in Griechenland, weil zum Europäisch sein kein Bekenntnis zu einer Sprache oder Ethnie gehört, sondern ein Bekenntnis zur Vielfalt. Außerdem leben hoch qualifizierte, mobile Zuwanderer aus Drittstaaten möglicherweise schon heute viel europäischer als der größte Teil der sesshaften Mitgliedsbevölkerungen. Mit einer Analyse der Essays und Gruppendiskussionen von Zuwanderern aus Drittstaaten suchen wir
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im Projekt POLITIS nach Anhaltspunkten, ob diese Deutung auch verfolgenswert ist. Zur Zeit kann man nur sagen, dass wir nach Durchsicht des Materials zuversichtlich sind, solche Anhaltspunkte zu finden. Es ist auch für die politische Ausgestaltung wichtig, diese Dimension des Integrationsprozesses nicht zu übersehen. In einer Rede zur Eröffnung eines Seminars über ein Europäisches Integrationshandbuch sagte Innenminister Schäuble unter anderem folgenden Satz: „Es geht ja bei der Integration um die Einbindung von Menschen in örtliche, regionale und nationale Strukturen.“3 Auffällig ist, dass die Einbindung in europäische Strukturen nicht genannt wird. Zugleich wird aber ausdrücklich angenommen, dass Europa in der Welt positiv gesehen wird und dadurch Zuwanderer anzieht. Migration sei „eine gemeinsame Herausforderung, weil wir, alle Europäer, im Vergleich zu vielen anderen Kontinenten oder Teilen dieser Welt gemeinsam eine ungeheuer große Anziehungskraft und Attraktivität ausstrahlen“, so der Minister. Es lässt sich die Frage stellen, warum dieses positive Bild, das Europa in der Welt unterstellt wird, nicht auch produktiv für die Integrationspolitik genutzt wird, in dem eine stärkere Identifikation mit Europa als mit dem deutschen Nationalstaat als Möglichkeit mit gedacht wird. Könnte eventuell eine national ausgerichtete Integrationspolitik zur De-Europäisierung außereuropäischer Zuwanderer führen, indem sie eine enge Identifikation mit dem Nationalstaat verlangt? Nehmen wir ein konstruiertes Beispiel: Eine Chinesin hat in Italien studiert, in England ihren Doktor gemacht und dort ihren deutschen Mann kennen gelernt, mit dem sie nun in Deutschland lebt. Das Paar plant, demnächst für einige Jahre aus beruflichen Gründen nach Brüssel zu gehen. Unsere Musterzuwanderin engagiert sich in ihrer Stadt und fühlt sich als Europäerin. Sie möchte Deutsche werden, um Europäerin zu sein. Natürlich lernt sie gern Deutsch, um sich in ihrer Familie und ihrer Stadt zu verständigen, aber Deutschland ist für sie im Grunde nicht besonders wichtig. Diese Zuwanderin ist integriert, wenn auch am wenigsten in die Ebene, die üblicherweise in politischen Debatten besonders stark betont wird: in die nationalstaatliche Ebene. Falls Sie denken sollten, dass hier ein sehr spezieller Fall konstruiert wurde, stellen Sie sich einmal diese Frage: Wer wird ihrer Meinung nach in Zukunft häufiger eine Niederlassungsmöglichkeit in Deutschland bekommen – ein unqualifizierter Arbeiter oder ein Student mit erfolgreichem Abschluss? In jedem Fall möchte ich hier als Denkanregung weitergeben, das Europäische als Identitätsangebot bei der Besprechung von Migration und Integration in
3 Eröffnungsrede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble beim EU-Handbuch-Seminar „Integration Infrastructure“ am 19. Dezember 2005 in Berlin, Publiziert am 16. Jan 2006
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der Schule, bei Integrationskursen und Angeboten der politischen Bildung immer von vorneherein systematisch mit einzubeziehen. Europa als Identitätsangebot könnte auch den Nationalstaaten die Integration von Zuwanderern erleichtern.
Zuwanderer als aktive Bürger Außer der europäischen Ebene gibt es einen weiteren Bereich, in dem das positive Potential von Zuwanderern häufig übersehen wird. Es geht um aktive Bürgerschaft, verstanden als nachhaltiges gesellschaftliches Engagement (Vogel and Triandafyllidou 2005). Es ist in der Regel eine Minderheit, die sich in besonderem Maße engagiert. Es geht um Menschen, die Funktionen in Verbänden und Vereinen wahrnehmen, die in Parteien um gesellschaftliche Fragen streiten und um Wähler werben, die sich ehrenamtlich um andere kümmern, die Selbsthilfegruppen gründen und koordinieren, die Protest organisieren und anführen. Diese Minderheiten sind sehr wichtig für das Funktionieren einer Demokratie. Zuwanderer scheinen in dieser Minderheit der besonders aktiven Bürger eher unterrepräsentiert zu sein. Das geht aus dem Literaturüberblick hervor, der Länderexperten in allen 25 EU-Staaten erstellt haben (http://www.unioldenburg.de/politis-europe/9812.html, 26.02.07). Dies kann auch damit zusammenhängen, dass für Zuwanderer typische Formen des Engagements – z.B. in Migrantenorganisationen – nicht überall gut erforscht sind. Darüber hinaus vermuten wir, dass es ein erhebliches unausgeschöpftes Potential für aktives Engagement gibt. Auf der folgenden Seite ist eine eine konzeptionelle Darstellung des AktivWerdungsprozesses abgebildet (ausführlicher siehe Vogel, Triandafyllidou 2005). Da sind zuerst die individuellen Ressourcen. Wenn jemand neu in ein Land kommt, wird er zunächst oft wenig Zeit für gesellschaftliches Engagement haben, weil andere Dinge wichtiger sind, z.B. die Sprache besser lernen, im Arbeitsmarkt Fuß fassen, ein neues Netz von Freunden und Bekannten aufbauen. Sprachkenntnisse sind eine wichtige Ressource, um sich in den nationalstaatlichen oder multiethnischen Organisationen zu orientieren, und die fehlen anfangs oft. Ob ansonsten unter Zuwanderern die Faktoren häufiger sind, die Engagement begünstigen, hängt stark mit der Migrationspolitik zusammen. Typischerweise sind Migrantenbevölkerungen eher im unteren und im oberen Qualifikationsbereich vertreten, während der Mittelstand eher sesshaft ist.
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46 Abb. 1: Gesellschaftliches Engagement von Zuwanderern
Individuelle Ressourcen Individuelle Motivation Gesellschaftliche Gelegenheitstruktur
Aktivierungsprozess
Gesellschaftliches Engagement
Wenn wir uns den gesellschaftlichen Gelegenheitsstrukturen für Engagement zuwenden, fällt auf, dass diese in den europäischen Nationalstaaten durchaus unterschiedlich geprägt sind. In manchen Ländern sind viele Menschen auf vielen Ebenen aktiv, und in anderen ist es üblicher, sich auf das Private zu beschränken und die gesellschaftliche Auseinandersetzung im Wesentlichen einer politischen Elite zu überlassen. Die aktiveren Gesellschaften bieten auch für Zuwanderer mehr Anknüpfungspunkte. Aber die Gelegenheitsstrukturen für Zuwanderer sind auch dadurch geprägt, welche Rechte sie haben. Am einsichtigsten ist dies im Bereich des kommunalen Wahlrechts. Wenn ausländische Zuwanderer in den Gemeinden nicht wählen und gewählt werden können, gibt es in diesem Bereich keine Gelegenheit für politisches Engagement. Die individuelle Ausgangssituation und die gesellschaftlichen Gelegenheitsstrukturen beeinflussen die Motivation für gesellschaftliches Engagement. Es hängt davon ab, welche Anreize ein bestimmtes Engagement für eine bestimmte Person bietet. Zugleich ist auch die Persönlichkeit wichtig dafür, ob jemand aktiv werden möchte. Zumindest bei politischen Flüchtlingen könnte man vermuten, dass sie von ihrer Persönlichkeit her besonders zu Engagement neigen, während gerade bei ihnen die Rahmenbedingungen zumindest am Anfang besonders ungünstig sind. Wer motiviert ist, ist aber nicht automatisch auch aktiv. Hinzukommen muss das, was wir den Aktivierungsprozess nennen. Wir wissen aus Studien, dass etwa zwei Drittel der Menschen, die Funktionen wahrnehmen, für diese von anderen rekrutiert worden sind (Abt and Braun 2001). Das heißt: Andere Menschen sind auf sie aufmerksam geworden, haben sie angesprochen und für eine Sache gewonnen. Durch vertikale und horizontale Rekrutierung entstehen
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Engagementketten. Wer z.B. in einer Jugendorganisation einer Partei aktiv ist, kann auffallen und später auch für andere Parteiämter angesprochen werden. In einem Verein wird z.B. eine Gruppenleiterin angesprochen, ob sie nicht einen Vorstandsposten übernehmen möchte. Eine horizontale Rekrutierungskette gibt es z.B. dann, wenn ein Mitglied eines kommunalen Gremiums in einer Kirchengemeinde Aktive anspricht, damit sie zusätzlich in seinem Gremium aktiv werden. So kommt es, dass Menschen im Laufe der Zeit eine Tätigkeit einschränken oder aufgeben und eine andere Tätigkeit hinzufügen oder verstärken, wobei sie aber durchaus ohne Unterbrechung gesellschaftlich aktiv sein können. Solche Engagementsketten werden durch Migration typischerweise unterbrochen. Zuwanderer, die in ihrem Herkunftsland aktiv waren, haben vielleicht im Aufnahmeland die gleiche Motivation dazu, aber niemand fragt sie, und sie wagen es vielleicht nicht, selbst zu fragen. Wenn sie jemand fragt, ist es eher jemand aus dem gleichen Land als jemand aus der Mehrheitsgesellschaft. Dies ist ein Argument für ein Engagement in ethnischen Vereinigungen, das nicht mit einer Präferenz für ethnische Vereinigungen einhergehen muss. Im Projekt POLITIS wenden wir uns vor allem dem Aktivierungsprozess zu. Dies sind Bereiche, die noch am ehesten beeinflusst werden können. Wir sammeln Aktivierungsgeschichten und wollen sie in der Auswertung zu den gesellschaftlichen Gelegenheitsstrukturen in Beziehung setzen. In etwas mehr als einem Jahr hoffen wir konkretere Ergebnisse zu haben, die wir auch an das Bildungssystem weitergeben können.4 Hier kann ich nur erste Ideen als Anregung weitergeben. Selbstverständlich hat es vieles für sich, an die Qualifizierung von Zuwanderern zu denken, wenn man gesellschaftliches Engagement von Zuwanderern fördern möchte. Es gibt ja bereits in einigen Ländern Kurse, in denen z.B. Vereinsrecht gezielt für Zuwanderer angeboten wird. Auch Sprachkenntnisse sind unverzichtbar, wenn es um ein Engagement in Gruppen mit gemischten Nationalitäten geht, so dass über Sprachförderung auch die Rahmenbedingungen für gesellschaftliches Engagement verbessert werden. Mindestens ebenso wichtig ist es jedoch, sich Amts- und Funktionsträger in der Aufnahmegesellschaft als Zielgruppe für eine Weiterqualifizierung zu denken. Hier sollte ein Bewusstsein geweckt werden, dass es wichtig ist, auch Zuwanderer zu gewinnen, und Hinweise gegeben werden, was bei der Rekrutie4 Eine Ergänzung zum Zeitpunkt der Drucklegung des Aufsatzes: Unter der folgenden Internetadresse finden sich Hinweise auf zwei im Erscheinen begriffene Bücher sowie zahlreiche Arbeitspapiere zum kostenlosen Download (http://www.uni-oldenburg.de/politis-europe/9815.html). Ein Grundtvig-Training-Kurs möchte europäische Erwachsenenbildner in die Lage versetzen, Erkenntnisse über die aktive Anwerbung von Migranten für Gewerkschaften und Parteien zu vermitteln (mehr Informationen unter http://www.uni-oldenburg.de/PolitischeBildung/23289.html).
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Dita Vogel
rung von Zuwanderern wichtig sein könnte. Wie wird z.B. in verschiedenen Organisationen mit Menschen umgegangen, die mit Fehlern oder mit starkem Akzent Deutsch sprechen? Wir hoffen im Projekt POLITIS im internationalen Vergleich Muster herausarbeiten zu können, die auf produktive Strategien zur Einbindung von Zuwanderern hindeuten.
Schlussbemerkung Zuwanderung sollte nicht nur als Bedrohung und Herausforderung, sondern auch als Chance und Bereicherung angesehen werden. Diese grundsätzlichen Erkenntnisse werden inzwischen in der deutschen Politik auf allen Ebenen propagiert. Anknüpfend an diese Erkenntnis wurden in diesem Beitrag einige Grundgedanken des europäischen Forschungsprojekts POLITIS vorgestellt, das nach solchen Chancen in zwei Bereichen systematisch sucht: x Welches Potential bieten außereuropäische Zuwanderer für die Europäische Integration? Ohne enge primäre Bindungen an einen Nationalstaat könnten sie leichter eine Zugehörigkeit zu einem durch Diversität geprägten Europa entwickeln als zu einem Nationalstaat. x Welches Potential bieten Zuwanderer für die Zivilgesellschaft in den europäischen Gesellschaften? Theoretische Überlegungen sprechen dafür, dass das gesellschaftliche Engagement von Zuwanderern niedriger ist, als es sein könnte, weil sie auf weniger Gelegenheiten treffen oder auch einfach nicht gefragt werden. Auch wenn es dazu noch keine gesicherten empirischen Erkenntnisse gibt, soll damit eine Denkanregung für zwei Bereiche verbunden werden: x Die Integrationspolitik sollte sich fragen, ob sie nicht Integrationspotentiale verschenkt, wenn sie Europa als Identifikationsangebot ausklammert. x Die politische Bildung sollte sich fragen, was Funktionsträger in Institutionen der Mehrheitsgesellschaft brauchen, um die produktiven Potentiale von Zuwanderern für die Zivilgesellschaft zu erkennen und einzubeziehen.
Literatur Abt, G. und J. Braun (2001). Zugangswege zu Bereichen und Formen des freiwilligen Engagements in Deutschland. Freiwilliges Engagement in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativerhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement. Gesamtbericht. B. v. Rosenbladt. Stuttgart/ Berlin/Köln, Kohlhammer, 186-197.
Migration und aktive Bürgerschaft
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Ireland, P. R. (1994). The Policy Challenge of Ethnic Diversity. Immigrant Politics in France and Switzerland. Havard, Havard University. Vogel, D. and A. Triandafyllidou (2005). Civic activation of immigrants – An introduction to conceptual and theoretical issues. University of Oldenburg, POLITIS-WP1/2005
II. Europäische Bürgerschaftsbildung
Axel Schulte
Politische Bildung im Einwanderungskontinent Europa: Pädagogische Aufgaben, konzeptionelle Grundlagen und didaktisch-methodische Orientierungen
Internationale Migrationsprozesse, die durch vielfältige Druck- und Zugfaktoren verursacht sind, unterschiedliche Ausprägungen aufweisen und aller Voraussicht nach im Zusammenhang mit Prozessen der Globalisierung in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen werden (Opitz 2001), haben in Europa seit Mitte des 20. Jahrhunderts zur Zuwanderung und dauerhaften Niederlassung von Arbeitsmigranten, Flüchtlingen, kolonialen Migranten und ethnisch als ‚zugehörig’ geltenden Personen und zur Bildung von Einwanderungs- bzw. (neuen) ethnischen Minderheiten geführt. Insofern haben sich die einzelnen europäischen Länder zu Einwanderungsgesellschaften und Europa insgesamt zu einem Einwanderungskontinent entwickelt (Bade 2001). Dieser soziale Wandel ist nicht nur unter analytischen und politischen, sondern auch unter pädagogischdidaktischen Gesichtspunkten und für die Politische Bildung mit neuen Herausforderungen und Aufgaben verbunden. Von daher stellt sich nicht so sehr die Frage, ob, sondern welche und wie Politische Bildung zur Vermittlung der Qualifikationen und Kompetenzen beitragen kann, die zu deren Bewältigung erforderlich sind. Dabei geht es im Kern darum, politische Urteils- und Handlungsfähigkeit und die dazu erforderlichen methodischen Kompetenzen zu fördern, für die Menschenrechte und die Demokratie zu sensibilisieren, bei der Migrationsbewältigung Hilfestellungen zu leisten sowie zu einem reflektierten Umgang mit ethnisch-kultureller Vielfalt und zu einem gewaltfreien Umgang mit sozialen Konflikten zu befähigen. Diese Aufgaben, die zwar für die Politische Bildung allgemein von Bedeutung sind, sich aber vor dem aufgezeigten Hintergrund in spezifischerer Weise stellen, werden im Folgenden erläutert, wobei auch konzeptionelle Grundlagen sowie didaktisch-methodische Orientierungen thematisiert werden1.
1 Für nützliche Hinweise zur redaktionellen Überarbeitung einer früheren Fassung des Beitrags danke ich meiner studentischen Mitarbeiterin Masoumeh Bayat
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1. Vermittlung politischer Urteils- und Handlungsfähigkeit sowie methodischer Kompetenzen Politische Bildung ist allgemein und somit auch unter den Gesichtspunkten von Migration, Integration und Multikulturalität auf die Individuen in ihrer politischen bzw. Bürger-Rolle gerichtet. Die Wahrnehmung dieser Rolle erfordert politische Urteils- und Handlungsfähigkeit sowie entsprechende methodische Kompetenzen (Sander 2005b). Notwendig für eine Vermittlung dieser Qualifikationen ist zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Politikbegriff, der hierbei zugrunde gelegt werden soll. In dieser Hinsicht kann zwischen einer engeren und einer weiteren Auffassung unterschieden werden: Im engeren Sinne geht es bei ‚Politik‘ um die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen für eine gesellschaftliche Einheit. Kern der politischen Beziehung ist „(...) die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten, zwischen den Inhabern der Macht, die mit ihren Entscheidungen die Mitglieder der Gruppe zur Einhaltung dieser Entscheidungen zwingen können, und denen, die sich diesen Entscheidungen gemäß verhalten müssen.“ (Bobbio 1998, 49) Im Zentrum des Politischen stehen somit Fragen der (politischen) Macht auf der einen und der Freiheit auf der anderen Seite. Die politische Beziehung kann wiederum ‚von oben‘, vom Standpunkt der Regierenden, und ‚von unten‘, vom Standpunkt der Regierten aus betrachtet werden. Charakteristisch für die politische Macht, die diese von anderen Ausprägungen der Macht unterscheidet, sind nicht so sehr die Zwecke, da diese sehr unterschiedlicher Art sein können, sondern ihr spezifisches Mittel, nämlich die Möglichkeit, diese mit Hilfe der beim Staat monopolisierten Gewalt durchzusetzen. Zudem lassen sich im Hinblick auf den für die Politische Bildung relevanten engeren Politikbegriff drei Dimensionen unterscheiden: Dazu zählen die formale Dimension (polity), die die normativen und institutionellen Aspekte des Politischen umfasst, die inhaltliche Dimension (policy), die sich auf die Ziele und Aufgaben der Politik, also auf die Problemlösung und Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse bezieht, und die prozessuale Dimension (politics), die auf die verschiedenen Aspekte von politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen verweist. Mit Hilfe dieser Gesichtspunkte können – auch in Bezug auf Themen im Bereich von Migration, Integration und Multikulturalität – notwendige, sinnvolle und sich ergänzende didaktische Schwerpunkte, z.B. hinsichtlich der Auswahl von Inhalten im Bereich der Zuwanderungs-, Integrations- und Asylpolitik und den damit verbundenen Kontroversen und Konflikten, formuliert werden. Unter Bezugnahme auf diesen Kern des Politischen sollten sich politische Lehr- und Lernprozesse allerdings darüber hinaus für zusätzliche Dimensionen
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und Schwerpunkte öffnen und sich insofern auch an einen weiteren Politikbegriff orientieren. Da ‚Politik‘ ein Untersystem des komplexen sozialen Systems insgesamt und durch dieses beeinflusst ist, sollten unter dem Gesichtspunkt der Migration und der Einwanderungsgesellschaft zunächst soziale und ökonomische Prozesse (z.B. der Flucht und Arbeitsmigration), gesellschaftliche Strukturen, Gruppen und Interaktionen sowie Ausprägungen und Entwicklungen der Familien, des Lebensalters, der Geschlechterverhältnisse usw. Berücksichtigung finden. Ähnliches gilt für eine Öffnung der Politischen Bildung zum Bereich der (Multi-) Kultur. Dafür spricht zum einen, dass neben strukturellen auch kulturelle Aspekte für Prozesse der Migration und Integration von erheblicher Bedeutung sind. Zudem wird eine derartige Öffnung durch ein umfassendes Verständnis von ‚Bildung‘ nahe gelegt; diese zielt nämlich „auf eine breit angelegte Entwicklung der kognitiven, emotionalen, ästhetischen, sozialen, praktischtechnischen Fähigkeiten sowie der Möglichkeiten des jungen Menschen, das eigene Leben an individuell wählbaren ethischen und/oder religiösen Sinndeutungen zu orientieren. Abgekürzt kann man von der Notwendigkeit der Bildung vielseitiger individueller Fähigkeiten und Interessen sprechen.“ (Klafki 1998, 248) Zusätzlich ist zu beachten, dass ‚Politik‘, ‚Gesellschaft‘ und ‚Kultur‘ immer auch historische Dimensionen aufweisen. Von daher sollte Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft mit historisch orientiertem Lernen verknüpft werden. Insgesamt sollten in diesem Kontext im Hinblick auf die Auswahl von Inhalten objektive und subjektive Relevanzkriterien berücksichtigt werden. Schließlich ist die Befähigung zu politischer Urteilsbildung und zum politischen Handeln auch von didaktisch-methodischen Orientierungen abhängig. Hilfreich kann in dieser Hinsicht die Unterscheidung zwischen ‚gebundenen‘ und ‚offenen‘ Lehr- und Lernformen sein. Formen des gebundenen Lernens sind in erster Linie auf eine Anpassung der Lernenden an vorhandene Zustände oder an vorgegebene bzw. feststehende und nicht mehr hinterfragbare Zielsetzungen, Wertungen und Ideologien gerichtet. Offene Unterrichtskonzeptionen zielen demgegenüber eher darauf ab, den Lernenden Möglichkeiten zur eigenständigen Entwicklung von Reflexions-, Kommunikations- und Handlungsfähigkeiten zu geben. Dementsprechend sollten neben systematischen Lehr- und Lernverfahren Elemente der Problem-, Erfahrungs- und Handlungsorientierung berücksichtigt wie auch Methoden eingesetzt werden, die eine Verknüpfung von sachbezogenem und sozialem Lernen ermöglichen (Klafki 1998, 247).
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2. Sensibilisierung für die Menschenrechte und die Demokratie Zentrale Grundlage des Zusammenlebens in den europäischen Einwanderungsgesellschaften sind die Menschenrechte sowie die rechts- und sozialstaatliche Demokratie. Im Zentrum steht hierbei die Anerkennung der Würde und der gleichen Freiheit der Menschen – in erster Linie als Individuen, partiell aber auch hinsichtlich ihrer sozialen Zusammenschlüsse – in verschiedenen Lebensbereichen (Bobbio 1998). Von daher gehört es zu einer der wichtigsten Aufgaben Politischer Bildung, ihre jeweiligen Adressaten durch ‚Menschenrechtsbildung‘ und ‚Demokratie-Lernen‘ für die Menschenrechte und die Demokratie zu sensibilisieren (Bundeszentrale für politische Bildung/Deutsches Institut für Menschenrechte/Europarat 2005; Breit/Schiele 2002). Unter pädagogischen und didaktischen Gesichtspunkten geht es in diesem Zusammenhang zunächst darum, Kenntnisse und Einsichten zu vermitteln, die sich auf die Bedeutung, die Entwicklung, die Ausprägungen und die Funktionen der Menschenrechte und der Demokratie auch im Hinblick auf die Einwanderungsgesellschaft beziehen. Menschenrechte sind „unveräußerliche, angeborene und vorstaatliche Ansprüche und Anrechte des einzelnen (...).Sie kommen den Individuen unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu Staaten ‚von Natur aus‘ zu und müssen von jedermann gegenüber jedermann zu jeder Zeit eingelöst werden können.“ (Thunert 1995, 334). Die (rechts- und sozialstaatliche) Demokratie lässt sich in Kurzform als „Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk“ kennzeichnen. Die Umsetzung des Prinzips der Volkssouveränität soll durch bestimmte Verfahrensregeln (allgemeines und gleiches Wahlrecht, politische Freiheitsrechte, das Prinzip der Mehrheitsentscheidung und ein gewisser Minderheitenschutz) erfolgen, deren Grundlage wiederum bestimmte inhaltliche Werte und Ideale, insbesondere die in den Menschenrechten verankerten Werte der Würde sowie der Freiheit und Gleichheit der Individuen und deren Solidarität, bilden (vgl. Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Menschenrechte historische und gesellschaftliche Phänomene sind, die aus den Kämpfen der Menschen um ihre Emanzipation hervorgehen. Im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung und unter dem Einfluss unterschiedlicher historisch-sozialer Bewegungen haben diese Rechte verschiedene Elemente, Dimensionen und Funktionen erhalten. In den entsprechenden Erklärungen, Abkommen und Verfassungen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene umfassen sie derzeit vor allem zivile Freiheitsrechte („Freiheit vom Staat“), politische Freiheitsrechte und Rechte auf Teilnahme- und Teilhabe der Individuen an der politischen Herrschaft („Freiheit im Staat“) sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die den Charak-
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ter sowohl von Abwehrrechten als auch von Ansprüchen auf staatliche Leistungen haben (können) („Freiheit durch oder mit Hilfe des Staates“). In diesen Zusammenhang gehört auch eine z.B. unter Gesichtspunkten des Alters, des Geschlechts und des Gesundheitszustandes zunehmend spezifischere Fassung der Subjekte bzw. Personengruppen, die durch die Menschenrechte in besonderer Weise geschützt werden sollen (Bobbio 1998, 15 ff. und 63 ff.). In ähnlicher Weise ist die bisherige Entwicklung der Demokratie mit unterschiedlichen Funktionen einhergegangen, nämlich der rechtstaatlichen Schutz-, der demokratischen Partizipations- und der sozialstaatlichen Inklusionsfunktion (Schultze 2001, 52). In diesem Kontext ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den für die Menschenrechte und die Demokratie maßgebenden Werte der Freiheit und Gleichheit um Ziele und Ideale handelt, die bisher nur partiell und unvollständig verwirklicht wurden und immer wieder neuen Gefährdungen ausgesetzt sind. So besteht – im Gegensatz zu den proklamierten Prinzipien und trotz aller bisher erreichten Fortschritte – in der gesellschaftlichen Wirklichkeit sowohl auf der nationalen wie auch auf der internationalen Ebene ein hohes Maß an ungerechtfertigten sozialen Ungleichheiten zwischen Reichen und Armen, zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘, zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen, zwischen Männern und Frauen usw. (Klafki 1998, 245). Von daher muss Politische Bildung, die auf eine Sensibilisierung für die Menschenrechte und die Demokratie gerichtet ist, notwendigerweise die Spannungen und Widersprüche, die zwischen Ideal und Wirklichkeit von Freiheit und Gleichheit bestehen, sowie notwendige und mögliche Schritte zu einem effektiven Schutz und zur Umsetzung der Menschenrechte thematisieren. Dies gilt in besonderer Weise für die europäischen Einwanderungsgesellschaften. In diesen ist nämlich die Lebenssituation eines großen Teils der zugewanderten Bevölkerungsgruppen trotz Verbesserungen, die im Verlauf der jeweiligen Niederlassungsprozesse erfolgt sind, durch erhebliche Ungleichheiten, Benachteiligungen und beeinträchtigte Lebenschancen gekennzeichnet ( Schulte 2002, 49 ff.). Wichtige Indikatoren sind hierfür die ungleiche Beteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an Bildung und Ausbildung, deren besondere Schwierigkeiten beim Übergang zum Berufsleben, die ungleichen Beschäftigungsstrukturen, die Einkommensunterschiede, die unterschiedlichen Arbeitslosenquoten zwischen ausländischen und deutschen Arbeitnehmern, die ungleichen Chancen auf dem Wohnungsmarkt und bei den Wohnverhältnissen, die besonderen Belastungen und Probleme von älteren Migranten und die Ungleichheiten im Bereich von Gesundheit und Krankheit. Ursächlich liegen dieser ‚strukturellen Desintegration‘ zum einen Faktoren zugrunde, die auf der Seite der Betroffenen liegen und die vor allem Defizite im Bereich der
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Information und der allgemeinen, sprachlichen und beruflichen Qualifikation umfassen. Maßgebender sind in dieser Hinsicht aber vielfältige, von den Aufnahmegesellschaften ausgehende Hindernisse und Barrieren der Integration. In der Bundesrepublik gehör(t)en dazu insbesondere die unzureichende Anerkennung stattgefundener Einwanderungsprozesse und der ‚Zugehörigkeit‘ der Immigranten zu den Aufnahmegesellschaften; das Verständnis von ‚Integration‘ als Leistung, die nicht die Aufnahmegesellschaften und deren Institutionen, sondern vor allem die Betroffenen selbst zu erbringen haben; die Unterwerfung der Immigranten unter den rechtlich benachteiligenden Ausländerstatus; die restriktive Formulierung und Handhabung der Möglichkeiten des Erwerbs der Staatsbürgerschaft; die ungleiche Verteilung der für die Demokratie zentralen Rechte der politischen Teilhabe und Teilnahme zwischen einheimischer und zugewanderter Bevölkerung; die unzureichende, vielfach pauschale oder nur unter negativen Vorzeichen erfolgende Wahrnehmung der Kulturen der Immigranten sowie Formen und Mechanismen der sozialen Diskriminierung und des Rassismus bei Teilen der ‚etablierten‘ Gruppen, Organisationen und Institutionen. Ähnlich benachteiligend wirkt sich auf europäischer Ebene die ungleiche Behandlung von Immigranten aus, die nicht über die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedsstaates verfügen. Politische Bildung sollte ihre jeweiligen Adressaten befähigen, Ausprägungen, Ursachen und Folgen der genannten Diskrepanzen zu erkennen und bezogen darauf Möglichkeiten und Perspektiven individuellen und kollektiven Handelns zu entwickeln. Dabei sollten die Zielsetzungen und die historische Entwicklung der Menschenrechte und der Demokratie berücksichtigt werden. Als historisch-dynamische Prozesse sind diese auf „das ferne Ziel einer gerechten Gesellschaft von freien und gleichen Individuen“ (Bobbio 1998) und somit darauf gerichtet, die Spannungen, die zwischen diesen Idealen und der Realität bis heute bestehen, zu vermindern. Unter Orientierung an dieser Sichtweise sollten im Rahmen der Politischen Bildung im Einwanderungskontinent Europa Möglichkeiten geschaffen werden, sich auf der Makro-Ebene des Politischen mit zentralen Elementen einer Integrationspolitik auseinander zu setzen, die darauf gerichtet ist, „Zuwanderern eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unter Respektierung kultureller Vielfalt zu ermöglichen.“ (Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ 2001, 200) Auf der Mikro-Ebene sollte Politische Bildung darauf zielen, diejenigen subjektiven Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern, die in der Einwanderungsgesellschaft als Hindernisse der Integration und des gleichberechtigten gesellschaftlichen Zusammenlebens fungieren. In dieser Hinsicht ist der autoritäre Sozialcharakter traditioneller und moderner Prägung von erheblicher
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Bedeutung. Dieser kommt in einer Ich-Schwäche und Autonomieunfähigkeit zum Ausdruck und ist gekennzeichnet durch ethnozentristische, xenophobe, rigide, autoritäre und sexistische Einstellungen und Verhaltensweisen (Claußen 1995). Zu einer Veränderung dieser Orientierungen ist zum einen eine Auseinandersetzung mit sozialen Vorurteilen erforderlich, da diese die Bereitschaft zur Diskriminierung anderer Menschengruppen begünstigen, oft deren Menschenwürde verletzen und dem Gleichheitsgrundsatz zuwiderlaufen. Zudem sind im Hinblick auf diese Zielsetzung Formen des antirassistischen Lernens relevant, bei denen schwerpunktmäßig darauf abgestellt wird, über die verschiedenen Ausprägungendes alltäglichen und institutionellen Rassismus und der strukturellen Benachteiligung von Immigranten und anderen Bevölkerungsgruppen aufzuklären, bei den Heranwachsenden ein politisches Bewusstsein zu wecken und sie zu einem kritischen Umgang mit den genannten Phänomenen zu befähigen (vgl. die Verpflichtungen, die in dieser Hinsicht aus Art. 7 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7.3.1966 resultieren). Längerfristig geht es vor allem um die Entwicklung eines demokratischen Sozialcharakters, der sich durch Ich-Stärke sowie Autonomie und durch bestimmte kognitive, affektive und soziale Schlüsselqualifikationen, Dispositionen und Kompetenzen auszeichnet (Claußen 1995; Klafki 1998, 246).
3. Hilfe zur Migrationsbewältigung Migrationsprozesse gehen mit vielfältigen An- und Herausforderungen sowohl für die Migranten wie auch für die einheimischen Bevölkerungen in den Einwanderungsgesellschaften einher. Von daher gehört es zu einer wichtigen Aufgabe Politischer Bildung, Qualifikationen und Kompetenzen zu fördern, die einer produktiven Bewältigung dieser Anforderungen dienen können. Dies kann und sollte zum einen im Rahmen der Arbeit mit Migranten erfolgen. Maßgebend können dabei der Gesichtspunkt der Aufarbeitung der eigenen Migrationserfahrungen sowie die Zielsetzung sein, die Betroffenen zu Erkenntnis und Bewältigung ihrer Probleme zu befähigen. Bei der didaktischen Umsetzung dieser Orientierung sollten die jeweils spezifischen Lebenslagen, Erfahrungen und Bedürfnisse von Angehörigen unterschiedlicher Migrantengruppen (z.B. von Mädchen und Frauen, Flüchtlingen, Jugendlichen und älteren Migranten) berücksichtigt werden. Als Hilfe zur Migrationsbewältigung ist Politische Bildung zum anderen mit Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft von Bedeutung. So ist es für die auf die Industriestaaten bezogenen Zuwanderungspolitiken nicht zuletzt unter As-
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pekten der gesamtgesellschaftlichen Integration unabdingbar, die Einstellungen der einheimischen Bevölkerung gegenüber den Problemen der Migration und Integration in Richtung einer größeren Akzeptanz zu beeinflussen. Dies gilt vor allem für die Vermittlung der Einsicht, dass Prozesse der internationalen Migration ein globales Phänomen darstellen und Maßnahmen zum Abbau der strukturellen Flucht- und Migrationsursachen unerlässlich sind, aber auch hinsichtlich der Vorbereitung der Einheimischen auf die Integration neuer Zuwanderer und das Zusammenleben mit diesen innerhalb der europäischen Einwanderungsgesellschaften (Opitz 2001). Pädagogisch kann dies gefördert werden durch Orientierung von Lehr- und Lernprozessen an „globalen Schlüsselproblemen“ (Klafki 1998). Eine derartige Orientierung bietet nämlich die Möglichkeit, ein geschichtlich geprägtes Bewusstsein von zentralen Problemen der Gegenwart und der Zukunft zu entwickeln, die Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller und die Bereitschaft zu gewinnen, an der Bewältigung dieser Probleme mitzuwirken, Fragen der Migration, Integration und Multikulturalität als einen relevanten Bestandteil und Ausdruck dieser ‚Schlüsselprobleme‘ zu betrachten sowie gemeinsam und kreativ nach Problemlösungen zu suchen und dabei auch bestimmte „Schlüsselqualifikationen“ zu erwerben. In ähnlicher Weise können in diesem Zusammenhang Elemente und Prinzipien der Erfahrungs- und Handlungsorientierung relevant sein. Dazu können Vorgehensweisen beitragen, bei denen x an Alltags- oder biographischen Erfahrungen der am Lernprozess Beteiligten angeknüpft wird, x vorliegende Berichte von Betroffenen über ihre Erfahrungen, z.B. über den alltäglichen Rassismus, thematisiert werden, x Selbstzeugnisse von Migrantinnen und Migranten, wie sie z.B. in literarischer Form vorliegen, zum Gegenstand des Lernens gemacht werden, x einzelne, aktuelle und konkrete Fälle bzw. Konflikte behandelt werden, die die Lebenssituation und Probleme von Migrantinnen und Migranten einerseits und des ‚multikulturellen‘ Zusammenlebens andererseits exemplarisch verdeutlichen, x auf dem Wege von Erkundungen Möglichkeiten zur selbständigen und aktiven Auseinandersetzung mit der Lebens-, Arbeits- und Wohnsituation vonZugewanderten und Einheimischen und mit den dabei auftretenden Problemen und Konflikten geschaffen werden, und unter dem Gesichtspunkt der ‚Produktion‘ die Situation, Probleme und Perspektiven der Betroffenen durch Herstellung von Ausstellungen, Organisation von Festen und Durchführung von Theateraufführungen und Sketchen ‚für andere‘ erfahrbar gemacht werden.
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4. Befähigung zu einem reflektierten Umgang mit ethnisch-kultureller Vielfalt Für die Lebenssituation und Integration von Migranten und das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt sind nicht nur strukturelle, sondern auch kulturelle Dimensionen von Bedeutung. Eine besondere Problematik besteht in diesemZusammenhang darin, dass ein erheblicher Anteil der Zugewanderten unter ethnisch-kulturellen Aspekten von der jeweiligen einheimischen Mehrheitsbevölkerung abweicht und sich somit innerhalb der europäischen Einwanderungsgesellschaften, vor allem auch in den jeweiligen städtischen Ballungszentren, Phänomene und Tendenzen einer Pluralisierung der Kultur entwickelt haben, was wiederum insbesondere in der Erweiterung des religiösen und sprachlichen Spektrums zum Ausdruck kommt. ‚Multikulturalität‘ ist insofern im Einwanderungskontinent Europa einerseits ein normales Phänomen, sie beinhaltet aber zugleich erhebliche Herausforderungen für die Integration des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Demokratie. Von daher gehört es zu den Aufgaben der Politischen Bildung in den europäischen Einwanderungsgesellschaften, ihre jeweiligen Adressaten zu einem reflektierten Umgang mit ethnisch-kultureller Vielfalt zu befähigen. Dies kann auf der kognitiven Ebene zunächst dadurch erfolgen, dass Kenntnisse und Einsichten vermittelt werden, die den Zusammenhang von ‚Migration‘, ‚Einwanderung‘ und ‚ethnisch-kultureller Vielfalt‘ sowie die Kontroversen betreffen, die sich auf die Frage beziehen, ob und unter welchen Gesichtspunkten eine multikulturelle Einwanderungsgesellschaft eine ‚Chance‘, ‚Gefahr‘ oder ‚Ideologie‘ darstellt und wie die damit verbundenen Probleme und Herausforderungen am besten bewältigt werden können (Schulte 2000, 197 ff.). Ein reflektierter Umgang mit ethnisch-kultureller Vielfalt kann zudem durch Interkulturelles Lernen gefördert werden. Als Leitmotive liegen diesem das Eintreten für die Gleichheit aller ungeachtet der Herkunft, die Haltung des Respekts für Anderssein sowie die Befähigung zum interkulturellen Verstehen und zum interkulturellen Dialog zugrunde (Auernheimer 2003, 20 ff.). Im Einzelnen zeichnet sich Interkulturelles Lernen nach Holzbrecher durch die folgenden Merkmale aus: x „Es richtet sich in gleicher Weise an Kinder und Jugendliche aus den Zuwandererfamilien und an die Mehrheitsgesellschaft. x Es ist ein offenes und für multikulturelle und globalisierte Gesellschaften zentrales Handlungskonzept, mit dem auf gesellschaftliche Veränderungen konstruktiv reagiert werden kann und soll. Es bietet einen Beitrag zur Friedenserziehung und Konfliktlösung bzw. zu einem Verständnis von gesell-
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schaftlicher Integration, bei dem die Gestaltung des Spannungsverhältnisses zwischen Assimilierung einerseits und ethnischer Segregation andererseits als politische Aufgabe begriffen wird. x Interkulturelle Erziehung basiert auf einer subjekt- bzw. biografiebezogenen Pädagogik, der Erfahrungs- und Lebensweltbezug ist konstitutiv. x Interkulturelle Pädagogik versteht sich als Anwältin der Mehrsprachigkeit in einer Gesellschaft. x Interkulturelle Pädagogik ist keine Institution oder ein Schulfach, sondern ein Prinzip, das auf verschiedenen Ebenen in der schulischen wie in der außerschulischen Bildungsarbeit wirksam werden soll. x Interkulturelle Pädagogik basiert auf einem erweiterten Kulturbegriff, im Sinne eines gemeinsam geteilten Systems von symbolischen Bedeutungen, das in allen Lebensbereichen und Lebensvollzügen stets mit(re)produziert wird, als soziales Orientierungssystem fungiert und damit grundlegend für die subjektbezogene ‚Sinnkonstitution und Identitätsbildung‘ (..) ist. x Interkulturelle Pädagogik ist ‚eine europäische und internationale Perspektive in einer immer mehr zusammenrückenden und sich austauschenden Welt, das zur Verständigung einer Weltgesellschaft beitragen soll‘ (...).“ (Holzbrecher 2005, 394 f.) Grundlegende Erfordernisse und Elemente der Entwicklung interkultureller Kompetenzen werden in einem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25. Oktober 1996, der sich auf die „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“ bezieht, formuliert; danach sollen die Lernenden „- sich ihrer jeweiligen kulturellen Sozialisation und Lebenszusammenhänge bewusst werden; - über andere Kulturen Kenntnisse erwerben; - Neugier, Offenheit und Verständnis für andere kulturelle Prägungen entwickeln; - anderen kulturellen Lebensformen und -orientierungen begegnen und sich mit ihnen auseinandersetzen und dabei Ängste eingestehen und Spannungen aushalten; - Vorurteile gegenüber Fremden und Fremdem wahr- und ernstnehmen; - das Anderssein der anderen respektieren; - den eigenen Standpunkt reflektieren, kritisch prüfen und Verständnis für andere Standpunkte entwickeln; - Konsens über gemeinsame Grundlagen für das Zusammenleben in einer Gesellschaft bzw. in einem Staat finden; - Konflikte, die aufgrund unterschiedlicher ethnischer, kultureller und religiöser Zugehörigkeit entstehen, friedlich austragen und durch gemeinsam ver-
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einbarte Regeln beilegen können.“ (zitiert nach: Bundeszentrale für politische Bildung 2000, 314)
5. Förderung eines gewaltfreien Umgangs mit sozialen Konflikten Multikulturelle Einwanderungsgesellschaften und Prozesse der Integration sind keine idyllischen und harmonischen Phänomene; sie gehen vielmehr mit vielfältigen sozialen Konflikten einher, die wiederum den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt gefährden können. Kennzeichnend für demokratische Systeme ist, dass hier Konflikte zwar grundsätzlich offen ausgetragen werden können, dies aber reguliert und gewaltfrei erfolgen muss. Auf diesem Wege ist es aller Voraussicht nach am ehesten möglich, eine Integration von Konflikten als auch eine Integration der Gesellschaft durch Konflikte zu erreichen. Zu den Aufgaben Politischer Bildung in der Einwanderungsgesellschaft gehört es von daher, die Mitglieder dieser Gesellschaft zu einem angemessenen, insbesondere gewaltfreien Umgang mit sozialen Konflikten zu befähigen. Dies kann zunächst durch die Vermittlung von Erkenntnissen und Einsichten erfolgen, die die vielfältigen und unterschiedlichen Ausprägungen, Ursachen und Folgen von Konflikten im Bereich von Migration, Integration und Multikulturalität betreffen (Schulte 2002, 69 ff.). Diese existieren hier in sehr unterschiedlicher Intensität zum einen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den zugewanderten Minderheiten, aber auch zwischen unterschiedlichen Gruppen auf jeder der beiden Seiten, wobei bei den jeweiligen Konfliktparteien unter Gesichtspunkten von (ungleich verteilter) Macht und Herrschaft zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ unterschieden werden muss. Die Konflikte enthalten strukturelle und kulturelle Dimensionen und betreffen unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche und Fragen. Was die Konflikte zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Einwanderungsminderheiten betrifft, so geht es z.B. auf der Ebene des politischen Selbstverständnisses um Fragen der Interpretation von und der Haltung gegenüber ‚Einwanderung‘ und ‚Integration‘, im rechtlich-politischen Bereich um Themen, die den Status der jeweiligen Migranten(-gruppen) betreffen, in sozialer Hinsicht zum einen um die Lage der Zugewanderten in wichtigen Lebensbereichen, zum anderen aber auch um die Konkurrenz zwischen Einheimischen und Zugewanderten, z.B. auf dem Arbeitsmarkt, im Wohnbereich und im Bildungssystem sowie um Formen der Kriminalität, und unter kulturellen Gesichtspunkten um Möglichkeiten und Probleme der kulturellen Entfaltung der Angehörigen der Einwanderungsminderheiten und des gesellschaftlichen Umgangs mit kultureller Vielfalt. Dazu kommen Konflikte, die mit Phänomenen der sozialen Diskriminierung, des
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Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit und des Rechtsextremismus einerseits, mit Erscheinungsformen des ‚Fundamentalismus‘ andererseits in Verbindung stehen oder damit in Zusammenhang gebracht werden. Außerdem werden die im Bereich von Migration, Integration und Multikulturalität existierenden oder sich entwickelnden Konflikte vielfach auch durch ‚externe‘ Faktoren, Prozesse und Probleme beeinflusst. Um eine gewaltfreie Austragung von Konflikten zu fördern, sollte Politische Bildung bei allen Akteuren die grundlegende Bereitschaft fördern, einen Minimalkonsens bzw. einen nicht-kontroversen Sektor anzuerkennen, der die Respektierung der Menschenwürde und der Menschenrechte sowie die Einhaltung der zentralen Verfahrensregeln der rechtsstaatlichen und sozialen Demokratie beinhaltet (Schulte 2002, 72 ff.). Die konkrete Bestimmung eines derartigen Konsenses und die damit verbundene Festlegung von Grenzen des Dissenses stellen allerdings in pluralistischen und multikulturellen Gesellschaften nicht nur ein grundlegendes Erfordernis, sondern auch ein Problem dar. Das, was als Basiskonsens gelten soll, steht nämlich in einem historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang und unterliegt von daher den Einflussnahmen unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Akteure. Außerdem gehen derartige Festlegungen durchaus mit Gefahren einher, zu denen insbesondere die antipluralistische Verhärtung des Grundkonsenses und die Ausgrenzung unter Gesichtspunkten der politischen Opportunität gehören. Grenzziehungen und Ausgrenzungen, die von diesen Kriterien ausgehen, können in extremen Fällen in relativ eindeutiger Weise erfolgen. Dazu gehören z.B. die Fälle, in denen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft rassistische oder diskriminierende Übergriffe auf Angehörige der Minderheitenbevölkerung verübt werden, aber auch die Fälle, bei denen von Angehörigen der Minderheiten Körperverletzungen in Form von Genitalverstümmelungen erfolgen, sowie Fälle, in denen ‚fundamentalistisch‘ oder terroristisch orientierte Bestrebungen existieren, die eigene Position gewaltsam durchzusetzen. Allerdings sind bei diesen Konsensbestimmungen und Grenzziehungen Probleme, Konflikte und Kontroversen im Einzelfall nicht ausgeschlossen (vgl. Bobbio 1998, 102 ff.; Schulte 2002, 72 ff.). Darüber hinaus sind Konflikte möglich, die nicht so sehr die Frage der Grenzen der Demokratie aufwerfen, sondern eher alltäglichen Charakter haben; dazu zählen z.B. solche, die den Bau von Moscheen in Wohngebieten und das religiös motivierte Tragen von Kopftüchern in der Schule betreffen. Diese Konflikte resultieren häufig aus dem offenen und heterogenen Charakter der Menschenrechte und/oder ihrer unterschiedlichen Nutzung. Zu ihrer Bewältigung müssen die jeweiligen Grundrechte einander zugeordnet und unter den Gesichtspunkten der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Grundrechtsbegrenzungen geprüft werden. Zu den Aufgaben Politischer Bil-
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dung gehört es von daher, bei ihren jeweiligen Adressaten die Bereitschaft zu fördern, Verfahrensregeln und grundlegende Werte der Demokratie als Minimalkonsens anzuerkennen, gleichzeitig aber auch Möglichkeiten einzuräumen, sich mit Problemen und Gefahren eines derartigen Minimalkonsenses auseinander zu setzen und für potentielle Spannungen zwischen ‚Konsens‘ und ‚Dissens‘ zu sensibilisieren. Die Bereitschaft und Fähigkeit zu einem gewaltfreien Austragen von Konflikten sollte zudem durch eine Politische Bildung gefördert werden, die sich als Erziehung zur Toleranz versteht. ‚Toleranz‘ kann sich dabei in einem engeren Sinne auf das Nebeneinander unterschiedlicher Religionen und politischer Anschauungen beziehen und in diesem Sinne einen Diskurs über die Wahrheit und die Kompatibilität verschiedener, auch gegensätzlicher Wahrheiten, implizieren. Die ‚Intoleranz‘, die bekämpft werden soll, besteht hier in einer Verabsolutierung der eigenen Wahrheitsauffassung. In einem weiteren Sinne bezieht sich ‚Toleranz‘ auf das Zusammenleben mit ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten sowie auf alle, die als ‚verschieden‘ oder ‚fremd‘ betrachtet werden. Toleranz in diesem Sinne bezieht sich auf Probleme des Vorurteils, die damit einhergehenden Diskriminierungen und Möglichkeiten zu deren Bekämpfung (Bobbio 1998, 87 ff.). Im Unterschied zur negativen Toleranz, die mit Gleichgültigkeit oder Prinzipienlosigkeit einhergeht, beinhaltet positiv verstandene Toleranz in einer eher passiven Bedeutung das Gelten- und Gewährenlassen, in einem eher aktiven und kreativen Sinn die Achtung oder freie Anerkennung andersartiger Anschauungen und Handlungsweisen. Auf der Basis dieses positiven und umfassenden Verständnisses wird so zum einen die Vielfalt rivalisierender Bekenntnisse, Weltanschauungen und politischer Programme als legitim respektiert, zum anderen schützt dieses Prinzip „die Minderheiten, Randgruppen, auch Einzelgänger vor Repressionen und Diskriminierungen eines unduldsamen Fanatismus, der, die eigenen Überzeugungen absolut setzend, sie anderen mit offener oder versteckter Gewalt aufzwingt.“ (Höffe 2002, 265 ff.) Schließlich sollten durch Politische Bildung Kompetenzen zu dialogischen Formen der Kommunikation und zur Verfügung über Techniken zur kommunikativen Bearbeitung von sozialen, politischen, kulturellen oder religiösen Konflikten gefördert werden (Schulte 2002, 78 ff.). Diese Verfahren sind darauf gerichtet, Politiken, die in erster Linie von staatlichen Institutionen ausgehen und getragen werden, durch vorstaatliche bzw. zivilgesellschaftliche Methoden der Konfliktbearbeitung (Konflikttraining, Mediation, Verhandlung usw.) zu ergänzen. Sie erfordern nicht selten die Einschaltung und konstruktive Tätigkeit eines ‚neutralen‘ Dritten sowie von den Konfliktparteien eine Perspektivenübernahme, also die Bereitschaft, Fähigkeit und Möglichkeit, sich in die Perspektive des anderen, also auch des Gegners, hineinzuversetzen und ihr – im Rahmen
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Axel Schulte
universalistischer Werte – eine prinzipielle Legitimität zuzubilligen. Zentrale Prämisse ist hierbei die Annahme, dass friedliche Konfliktregulierung zu den Verfahren gehört, die gelernt und gelehrt werden können.
Abschließende Bemerkung Die Entwicklung Europas zu einem Einwanderungskontinent geht mit neuen Herausforderungen und Aufgaben nicht nur für wissenschaftliche Analysen und politisches Handeln, sondern auch für pädagogische Interventionen und damit für die Politischen Bildung einher. Ob und in welcher Weise diese zu deren Bewältigung beitragen kann, hängt nicht zuletzt von ihrer jeweiligen konzeptionellen Fundierung und didaktisch-methodischen Umsetzung ab. Die Orientierung an den oben erläuterten Gesichtspunkten kann und soll dazu beitragen, dass Politische Bildung den genannten Aufgaben gerechter werden kann. Um diesem Anspruch näher zu kommen, sind allerdings vielfältige weitere Faktoren und Probleme im schulischen und außerschulischen Kontext zu berücksichtigen.
Literatur Auernheimer, G.: Einführung in die interkulturelle Pädagogik, 3. Aufl. Darmstadt 2003 Bade, K. J.: Einwanderungskontinent Europa: Migration und Integration am Beginn des 21. Jahrhunderts, Osnabrück 2001 Bobbio, N.: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, Berlin 1998 Breit, G./Schiele, S. (Hg.): Demokratie-Lernen als Aufgabe der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2002 Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Interkulturelles Lernen. Arbeitshilfen für die politische Bildung, Bonn 2000 Bundeszentrale für politische Bildung/Deutsches Institut für Menschenrechte/Europarat (Hg.): Kompass. Handbuch zur Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit, Berlin-Bonn-Budapest 2005 Claußen, B.: Mikro- und Mesopolitik: Subjektive Faktoren, interpersonale Beziehungen und Vermittlungsmodi im politischen Geschehen, in: Mohr, A. (Hg.): Grundzüge der Politikwissenschaft, München, Wien 1995, S. 327- 411 Höffe, O.: Toleranz, in: Höffe, O. (Hg.): Lexikon der Ethik, 6. Aufl. München 2002, S. 265-267 Holzbrecher, A.: Interkulturelles Lernen, in: Sander, W. 2005a, S. 392-406 Klafki, W.: Schlüsselprobleme der modernen Welt und die Aufgaben der Schule – Grundlinien einer neuen Allgemeinbildungskonzeption in internationaler/interkultureller Perspektive, in: Gogolin, I./Krüger-Potratz, M./Meyer, M. A. (Hg.): Pluralität und Bildung, Opladen 1998, S. 235249 Opitz, P. J.: Migration – eine globale Herausforderung, in: Opitz, P. J. (Hg.): Weltprobleme im 21. Jahrhundert, 5. Aufl. München 2001, S. 261-285 Sander, W. (Hg.): Handbuch politische Bildung, 3. Aufl. Schwalbach/Ts. 2005a
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Sander, W.: Theorie der politischen Bildung: Geschichte – didaktische Konzeptionen – aktuelle Tendenzen und Probleme, in: Sander, W. 2005a, S. 13-47 (2005b) Schulte, A.: Zwischen Diskriminierung und Demokratisierung. Aufsätze zu Politiken der Migration, Integration und Multikulturalität in Westeuropa, FrankfurtM. 2000 Schulte, A.: Integrations- und Antidiskriminierungspolitik in Einwanderungsgesellschaften: Zwischen Ideal und Wirklichkeit der Demokratie. Expertise im Auftrag der Friedrich-EbertStiftung, Bonn 2002 Schultze, R.-O.: Demokratie, in: Nohlen, D. (Hg.): Kleines Lexikon der Politik, München 2001, S. 51-54 Thunert, M.: Menschenrechte/Grundrechte/Bürgerrechte, in: Nohlen, D. (Hg.): Lexikon der Politik Bd. 1: Nohlen, D./Schultze, R.-O. (Hg.): Politische Theorien, München 1995, S. 333-348 Unabhängige Kommission „Zuwanderung“: Bericht: Zuwanderung gestalten – Integration fördern, Berlin 2001
Gerhard Himmelmann
Perspektiven europäischer Bürgerschaftsbildung in Einwanderungsgesellschaften: Beiträge zum European Year of Citizenship through Education
1. Anstöße Auf einer großen Konferenz in Sofia im Dezember 2004 hatte der Europarat das Jahr 2005 zum „European Year of Citizenship through Education” unter dem Motto „Democracy learning and living“ ausgerufen. In fast allen 42 Mitgliedstaaten des Europarates fanden als Folge dieser Initiative im Jahr 2005 zahlreiche Tagungen und Kongresse zum Thema Citizenship Education statt, die z. T. große Resonanz gefunden haben. Die Vorarbeiten des Europarates zu diesem „Year“ gehen schon auf das Jahr 1997 zurück. Seit dieser Zeit wurden in vielen Arbeitsgruppen des Rates für Kulturelle Kooperation des Europarates entsprechende Konzepte entwickelt und Übersichten zum Stand von Citizenship Education in den einzelnen Staaten erstellt (vgl. Dürr 2005, Himmelmann 2006). Man einigte sich in den Gremien des Europarates sehr früh auf den zentralen Begriff der Förderung von „Democratic Citizenship Education“. Dieser Leitbegriff wird in deutschsprachigen Übersetzungen mit „Demokratie-Lernen“, „Demokratie-Bildung“, „demokratische Bildung“ bzw. „demokratische Bürgerschaftsbildung“ bezeichnet. Aus bestimmten Gründen wählte man nicht den in Deutschland üblichen Begriff der „politischen Bildung“. Der Begriff der „politischen“ Bildung (political education) erschien den Teilnehmern der europäischen Debatte z. T. zu „eng“, zu „verdächtig“ oder auch zu „zweifelhaft“. Er ruft im englischsprachigen und osteuropäischen Ausland sehr oft Missverständnisse hervor, als sei damit eine Politisierung der Schule oder sogar eine politische Indoktrination verbunden. Dem Ausdruck politische Bildung fehlt nach der Meinung vieler europäischer Diskussionsteilnehmer die so wichtige zivilgesellschaftliche Deutung und die alltäglich-praktische Interpretation von Demokratie als Lebens- und Verhaltensform. Er scheint zudem zu eng auf den Staat bezogen zu sein, was dem empirisch-pragmatischen Verständnis vieler angloamerikanischer Autoren kaum gerecht wird.
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Unter dem so gesetzten Leitbegriff von „Democratic Citizenship Education“ lagen bereits im Jahre 2000 die wichtigsten Konzeptentwürfe des Europarates vor. Dazu gehören: x „Education for democratic citizenship: a lifelong learning perspective“, x „Basic concepts and core competencies for education for democratic citizenship”, x „Strategies for learning democratic citizenship” und x „Sites of Citizenship: Empowerment, participation and partnerships”. Diese und andere Texte des Europarates zur Demokratieerziehung sind im Internet unter http://www.coe.int/t/dg4/education/edc/Documents_Publications/ Adopted_texts einsehbar, können ausgedruckt werden oder sind auch in Druckversionen beim Europarat (z. T. auch in deutscher Sprache) zu beziehen. Betrachtet man den Inhalt dieser Texte, so sieht man: der Europarat legt Wert darauf, dass es sich bei dem Projekt der Förderung von Democratic Citizenship Education um ein Projekt des grundlegenden und lebenslangen Lernens handeln müsse. Er entwickelte dafür zugleich ein Basiskonzept mit detaillierten Kompetenzstandards. Er schlug Strategien vor, wie diese Kompetenzen zu erreichen seien und er bezeichnete schließlich die Räume/Orte, in denen diese Kompetenzen gefördert oder gelernt werden könnten. Die schulische Bildung hat dabei einen zentralen Stellenwert. Angesichts der Sprachen- und Deutungsvielfalt in den Mitgliedsländern hat der Europarat zugleich versucht, ein gemeinsames Verständnis darüber herbeizuführen, was unter bestimmten Begriffen zu verstehen sei – und zwar in Englisch, denn die vorherrschende Weltsprache ist nun einmal Englisch. In der englischen Sprache als der modernen „lingua franca“ konnte man sich auch in Europa am besten verständigen. Im Oktober 2003 erschien die Schrift x „Developing a shared understanding: A glossary of terms for education for democratic citizenship“ ( Quelle s. o.). Neben vielen weiteren Texten und Übersichten sticht im Jahre 2004 die Studie x „The school – a democratic learning community. The All-European Study on Pupils Participation in School” (Quelle s. o.) hervor. Eine Empfehlung des Minister-/Innenkommitees des Europarates an die Mitgliedstaaten zur Förderung der „demokratischen Bildung“ v. 16. Oktober 2002 gab dem Ansatz von „Democratic Citizenship Education“ den nötigen politischen Rückhalt. Die gut vorbereiteten Anstöße des Europarates überraschen eigentlich nicht. Auch in Deutschland gibt es seit dem Jahre 2001 eine intensive Diskussion zu einer verstärkten Demokratiebildung und Demokratieerziehung – und zwar explizit und nicht nur implizit sowie nicht nur in der Sekundarstufe II,
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Gerhard Himmelmann
sondern schon im Kindergarten und in der Grundschule, vor allem dann in den mittleren Schuljahrgängen. Zahlreiche Sozialisations- und Jugendstudien hatten die mangelnden Kenntnisse Jugendlicher über die Grundlagen der demokratischen Politik, die fehlenden Bereitschaften zum zivilgesellschaftlichen Engagement und das oft fehlende Bewusstsein über die Bedeutung von Beteiligung am gesellschaftlichen und politischen Geschehen aufgezeigt. Viele Untersuchungen zu den Problemen der zunehmenden Gewalt an Schulen, der Disziplinlosigkeit, des Rechtsextremismus und der Fremdenfeindlichkeit sowie des latenten Antisemitismus ergänzten die Sozialisations- und Jugendstudien. In gesellschaftlicher Perspektive hatte der Baden-Württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel bereits im Jahre 1996 auf eine alarmierende Weise gefragt: „Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?“ und mit dieser Frage eine intensive gesellschaftspolitische Debatte ausgelöst. Im Jahre 1999 fragte dann der amtierende Bundespräsident zusammen mit seinen noch lebenden Vorgängern: „Wo lernen Kinder und Jugendliche eigentlich Demokratie?“. Sie setzten einen speziellen Schwerpunkt auf das Erlernen der Demokratie als „Lebensform“, d. h. im konkreten Verhalten. In den erwähnten Analysen, Alarmrufen und Forderungen kamen die Probleme der oft fehlenden Orientierung der Menschen in der ungewissen Zeit nach dem Fall der Mauer, angesichts des nicht so einfachen Zusammenwachsens von Ost und West in Deutschland sowie angesichts der Phänomene von Individualisierung der Lebensverhältnisse einerseits und der Globalisierung andererseits zum Tragen. Es ist daher kein Zufall, dass im Jahre 2001 auch in Deutschland konkrete Konzepte vorgetragen wurden, die eine intensivere Demokratieerziehung forderten, um zu helfen, die bezeichneten Defizite aufzufangen. Dazu gehören: x das Förderprogramm „Demokratisch Handeln“ (Beutel/Fauser 2001), x das Programm der Bund-Länder-Kommission „Demokratie lernen & leben“ (Edelstein/Fauser 2001) sowie x die Initiative zum expliziten „Demokratie-Lernen“ innerhalb der politischen Bildung, im fächerübergreifenden Unterricht und in der Entwicklung einer neuen Schulkultur (Himmelmann 2001). Auf die Frage „Was fehlt der deutschen Schule und dem deutschen Bildungssystem“ geben die o. g. Konzepte deutliche Antworthinweise. Im Übrigen ist nicht zu übersehen, dass in den letzten zehn Jahren eine große Anzahl von freien Initiativen, Projekten und Wettbewerben angeregt, finanziert und eingeführt wurden, die an konkreten gesellschaftlich-bildungspolitischen Problemen anknüpfen und sich vielfach an der offiziellen Curriculum-Praxis der einzelnen Bundesländer vorbei direkt an die Schulen wandten, um zivilgesellschaftlich-
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demokratieorientierte Einstellungen, Verhaltensweisen und Erfahrungen zu fördern. Man kann hier schon fast von einer Art strategischer „Outsourcing“ zentraler Erziehungs- und Bildungsaufgaben der Schule sprechen. Zu nennen sind die vielfältigen Sonderprogramme der verschiedensten Ministerien, der Bund-Länder-Kommission, des Bundeskanzler- und Präsidialamtes, von privaten Stiftungen oder schlicht von lokalen Initiativen oder von Initiativen einzelner Lehrkräfte. Es sind zumeist fächerübergreifende und auf die Schulkultur einwirkende Projekte, die in aller Regel zivilgesellschaftlich-demokratische Zielrichtungen verfolgen (Anti-Gewalt- und Mediationsprogramme, Deliberationsforen, kooperatives Lernen, Verantwortungs-Lernen, schulische Simulation von Wahlen, Organisation von Klassenräten, Schulversammlungen, Einrichtung von Schülertutoren, Schülerfirmen, Veranstaltung von Sponsorenaktionen, Pflege von Senioren- und Behinderten-Patenschaften, Lernen durch Gefängniskontakte, Lernen an historischer Erinnerung vor Ort etc.). Die fast kaum mehr zu übersehende Zahl dieser Bemühungen zeigt, wie defizitär und „leblos“ die „formelle“ Schule als „Unterrichtsanstalt“ vielen Beobachtern und Teilnehmern erscheint und wie groß der Bedarf zur Förderung zivilgesellschaftlichdemokratieorientierter Kompetenzen offenbar ist.
2. Anlässe: Epochenwechsel 1989/90 Die tatsächliche oder auch nur „gefühlte“ Orientierungskrise in der Zeit nach 1989 hat aber nicht nur in Europa und in Deutschland, sondern weltweit Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es handelt sich also nicht nur um ein deutsches Problem, sondern es betrifft alle entwickelten Demokratien der westlichen Welt, vor allem aber auch die sog. „neuen Demokratien“, die nach 1989 entstanden sind. In den allermeisten Fällen wird auch in den internationalen Ansätzen zur Stärkung der zivilgesellschaftlichen bzw. der Demokratie-Erziehung (UN/UNESCO, OECD, Europarat, EU, England, USA …) zunächst auf die Gründe verwiesen, die es notwendig erscheinen lassen, zivilgesellschaftlichdemokratische Kompetenzen in Zukunft sehr viel stärker zu beachten, zu pflegen und zu fördern als bisher. Demokratisches Verhalten erscheint in diesen Ansätzen als „knappes Gut“, das nicht automatisch, nicht naturwüchsig und auch nicht in Überfülle zur Verfügung steht, sondern stets gefährdet ist und daher besonders gepflegt, gelehrt, gelernt und gelebt werden muss. Die Gründe, die angeführt werden, beziehen sich zumeist auf den rasanten und risiko-behafteten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wandel, auf den dynamischen Wandel zur „Wissensgesellschaft“, insbe-
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sondere aber auch auf den Wandel als Folge des politisch-wirtschaftlichen Epochenwechsels im Jahre 1989/90. Es wird u. a. auf die Trends der steigenden Multikulturalität und Liberalisierung einerseits und auf die Trends der Globalisierung und Standardisierung der Lebensverhältnisse andererseits verwiesen. Im Einzelnen werden folgende gesellschaftliche Probleme und Spannungen hervorgehoben: x x x x x x x x x x x
wachsende ethnische Konflikte und Nationalismus, globale Gefahren und Unsicherheiten (Terrorismus), wachsende Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Risiken, Entwicklung neuer Informations- und Kommunikationstechniken, weltweite Umweltprobleme, Bevölkerungsbewegungen und interkulturelle Herausforderungen, Schwächung des sozialen Zusammenhalts, neue Bedarfe an personaler Orientierung in einer Welt voller Unterschiede, ansteigendes Misstrauen gegenüber etablierten politischen Institutionen, wachsende Vernetzungen und Abhängigkeiten, lokal, regional, national und international, nachlassende Sicherheit in der Entwicklung von Lebensperspektiven für Jugendliche u.v.a.m.
Alle diese Trends drücken Veränderungen im natürlichen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Umfeld der Menschen aus und führen zu mentalen Unsicherheiten, denen ein Gegengewicht in Form der Democratic Citizenship Education entgegen gesetzt werden müsste. Für den internationalen Rahmen bleibt bedeutsam: Der „Sieg des liberalen Projekts“ im Jahre 1989 führte zu einem elementaren Wandel der politischen Geografie in der Welt und löste nach Samuel Huntington weltweit eine dritte Welle der Demokratisierung aus. Für die westlichen Länder war das Jahr 1989 aber nicht nur ein Sieg, sondern es brachte auch eine neuartige Belastung mit sich. Fortan war es nicht mehr so einfach möglich, die eigene Lebensrechtfertigung aus dem Dreiklang von Freiheit, Demokratie und Wohlstand im Westen zu ziehen und auf das Gegnersystem mit Unfreiheit, Diktatur und Armutsstagnation zu verweisen. Nicht nur die „neuen Demokratien“, die nach 1989 entstanden, müssen sich nach neuen Mustern der Daseinsexistenz jenseits ihrer bisherigen totalitären Praxis umsehen, sondern auch die Demokratien der westlichen Industriestaaten. Die Letzteren standen ab 1990 unter dem neuartigen Druck der gegnerfreien Selbstrechtfertigung angesichts neuer innergesellschaftlicher Probleme sowie als Folge des familialen Wandels, der freieren Sozialisation und der
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konsumorientierten Individualisierung sowie als Folge der sozialen (destabilisierenden) Rückwirkungen der Globalisierung und der neuen Weltlage. Die gefühlte Gefahr, dem neuen Zwang der Selbstlegitimation und dem Druck des sozialen Wandels nicht entsprechen zu können, führte zu einem regelrechten Boom in der Literatur zu: Bürgergesellschaft, Zivilgesellschaft, Ehrenamt, bürgerschaftliches Engagement u. v. a. m. Parallel dazu boomte international auch die Literatur zum Problem „Civic Education“, „Citizenship Education“ bzw. „Democratic Citizenship Education“. Heute wird in der internationalen Literatur energischer als früher von “Neuentdeckung der Bürgerschaftlichkeit” und von „Teaching Democracy Globally, Internationally, and Comparatively: The 21st-Century Civic Mission of Schools” gesprochen. Zwei Beispiele mögen die Entwicklung verdeutlichen: England (das „Mutterland“ der Demokratie, das doch bekannt ist für sein Motto: „Democracy begins at home“) führte im Jahre 1990 als Antwort auf zahlreiche innere soziale Probleme ein eigenes nationales Curriculum „Education for Citizenship” ein. 1996 folgte ein neues Education Act, 1998 erschien der grundlegende CrickReport und 1999 wurde dann ein verpflichtendes Curriculum für Citizenship Education eingeführt. Ab dem Jahre 2002 wurde schließlich Citizenship Education von der 1. Klasse (Key Stage 1/2) an bis hin zur Klasse 10 (Key Stage 3/4) in den Schulen verankert. In den USA wiederum veröffentlichte das neu gegründete Center of Civic Education in Calabasas, Cal./USA, im Jahr 1991 ein neuartiges „Framework for Citizenship”. Es folgten im Jahre 1994 die „National Standards for Civics and Government“. Von Spanien über Portugal, von Frankreich über Italien, von Griechenland über die Schweiz und Österreich bis hin nach Australien, Neuseeland und Hongkong wurden parallele Initiativen ergriffen, Citizenship Education in den jeweiligen Schulen zu verankern. Dazu gehören auch die Strategiekonzepte des Europarates und darüber hinaus Ansätze der OECD und der EU. Ergänzend haben sich zahlreiche international ausgerichtete Sonderorganisationen und Netzwerke wie CIVITAS, Politeia, Civnet, Civiced, Res Publica, DARE u. a. v. m. gegründet. Viele international ausgerichtete private Stiftungen engagieren sich seit Mitte der 90er Jahre, um das Projekt Democratic Citizenship Education national und international zu befördern. Der regelrechte „Boom“ von Konzepten zur zivilbürgerlichen Erziehung bzw. zur Demokratieerziehung weltweit kann durchaus als eine „Globalisierung im positiven Sinne“ (Andreas Schleicher) verstanden werden. Meist steht in den neu entwickelten internationalen Ansätzen die Bedeutungsebene der schulisch zu verantwortenden „Democratic Citizenship Education“ neben der Förderung entsprechender Kompetenzen bei Erwachsenen i. S. des lebenslangen Lernens. Dann wird sowohl auf die formalen wie auf die informalen („geheimer Lehrplan“) Ebenen von Civic Education an Schulen ver-
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wiesen. Schließlich rückt neben dem einzelnen Fach (wie etwa in Deutschland Sozialkunde/Gemeinschaftskunde/Politik) der Gesamtkomplex der „Civic Mission of Schools“ in den Vordergrund. Hier ergeben sich insgesamt wichtige Anschlüsse für die aktuelle Diskussion um Demokratieerziehung, Demokratiepädagogik und Lernen für die Zivilgesellschaft in Deutschland.
3. Perspektiven für die Schulen Betrachtet man Demokratie nicht nur als Regierungs- und Herrschaftsform und „Politik“ nicht nur als ein formal-systemisches Willensbildungs- und Entscheidungssystem, sondern auch als eine spezifische Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der miteinander geteilten Erfahrung, also als eine spezifische Form sozialer Beziehungen, so treten für eine nachhaltige Demokratieerziehung folgende Beziehungsebenen an Schulen in den Blickpunkt: 1. Eine entsprechende Gestaltung der Beziehungen zwischen den Lehrkräften und den Schülern(innen) (demokratischer Unterrichtsstil, gegenseitige Achtung, Respekt, Fairness und Disziplin als Standards für Schülerleistungen und als Verhaltensregeln für Lehrkräfte. Als bedeutsam gilt die Einhaltung von Regeln nach dem Motto: „be firm, fair, and friendly“ etc.). 2. Eine entsprechende Gestaltung der Beziehungen unter den Schülern(innen) (Umgang mit Konflikten und Emotionen, Integration statt Ausgrenzung, wechselseitiger Respekt, Toleranz, Selbstkontrolle, Selbstbeherrschung in Sprache und Gestik, Sicherung eines offenen Lernklimas in der Klasse etc.). 3. Das Zusammenwirken der Ebenen 2 und 3 in Form eines „demokratischen Klassenzimmers“ (Einrichtung eines Klassenrates, Aufstellung und Einhaltung von Klassenregeln, Selbstkontrolle der Klasse gegenüber Mobbing und Gewalt; Förderung der Integration von „Fremden“, Kooperation im Gruppenunterricht, Förderung von gegenseitigen Hilfen und Schülerpartnerschaften nach dem Motto „Die Starken helfen den Schwachen“, Förderung von Initiativen, Kreativität und Verantwortungsübernahme durch die Klassengemeinschaft etc.). 4. Die Art des demokratischen Schullebens (Verhältnis der Schülerschaft zum Kollegium, Vermeidung von Stundenausfällen, Festlegung von gegenseitigen Rechten und Pflichten, Einhaltung der Pünktlichkeit und Sauberkeit, Pflege des gemeinschaftlichen Engagements der Lehrkräfte für die Schule, Team-Teaching, Verpflichtung zur Anstrengung des Lernens bei den Schülern, Partizipation der Schüler(innen) auf verschiedenen Ebenen, Einrichtung von Stufen- und Schulversammlungen i. S. einer effektiven Schü-
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ler/innenvertretung, Förderung von Verantwortungsübernahme durch Lehrkräfte und Schülerschaft, Entwicklung der Schule als „embryonic society“, als „kleine Gesellschaft“, Gestaltung der Schulräumlichkeiten, Entfaltung von Initiativkraft der Schulleitung und des Kollegiums, Präsenz von Vorbildern, Entwicklung der Schule als „Ort der Begegnung“/ „Kulturzentrum“ etc.). 5. Die handlungsorientierten Angebote der Schule im Fachunterricht („neue Lernstandards“ einschließlich flexibler „Methoden“, „Animation“ zu experimentellem forschendem und entdeckendem Lernen, Kooperation der Schüler zu gemeinsamen Zwecken, Vielfalt von Projekten und öffentlichkeitswirksamer Aktionen von Schulen, Schaffung von Gestaltungs- und Aktionsräumen für Schüler/innen, Standhaftigkeit und Konsequenz in und außerhalb der Schule, Verleihung besonderer Zertifikate oder Zusatzqualifikationen etc.). 6. Wahrnehmung der Initiativfunktion des Faches Sozialkunde/ Gemeinschaftskunde/Politik für die Punkte 1-5, stärkere Betonung demokratierelevanter Inhalte im fächerübergreifenden Unterricht (z. B. „Landeskunde“ im Fremdsprachenunterricht, „Kulturkunde“ in Ethik und Religion, bessere Absprachen unter den Lehrkräften, Förderung von Team-Teaching und gemeinsamen Projekten etc.). 7. Die Teilhabe und Teilnahme an kommunalen Problemen und Ereignissen (Entwicklung von Stadtteilprojekten und Ausstellungen, Pflege von Nachbarschaften, Zusammenarbeit mit Vereinen, VHS-n, Jugendnetzwerken und Jugendgruppen, Übernahme von Patenschaften, Kooperation mit Kinderund Jugendparlamenten, Kontakt zu Gefängnissen oder Altenheimen; Beteiligung an Denkmalspflege an historischen (NS-) Orten). 8. Die Teilhabe/Beteiligung der Eltern am Schulleben (Unterstützungssysteme für Eltern und durch Eltern, Eltern-/Erziehungsberatung, Verantwortungsübernahme durch Eltern). 9. Kooperation der Schulen mit Sozial- und Jugendpädagogen, Sozial- und Jugendämtern, Kinder- und Jugenddelinquenz-Programmen, Kooperation mit der Polizei etc.). Für diese Ebenen der Verankerung einer lebendigen, offenen und kooperativen Demokratie im Schulalltag gibt es in der Literatur eine Fülle von Anregungen. Viele dieser Ebenen einer demokratischen Schulentwicklung umfassen und bieten den Schülern neue demokratierelevante Real-Erfahrungen i. S. von unterrichtlichen, schulischen und außerschulischen Lernmöglichkeiten („das Große am Kleinen lernen“) und „politisch-demokratischer Urteilsbildung“ im konkreten Verhalten und Klassenverband. Das Kerngeschäft der Schule und der Unterricht lässt sich, wie viele Reformschulen zeigen, nur dann effektiv betreiben,
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Gerhard Himmelmann
wenn die o. g. Einzelpunkte in ihren wesentlichen Punkten den entsprechenden partizipativen und kooperativen Rahmen schaffen. So verstehen sich die Ansätze von „Demokratisch handeln“, „Demokratie lernen & leben“ sowie „Demokratie-Lernen“ explizit auch als reformpädagogische Konzepte. Um Schülerinnen und Schüler wirklich zu erreichen, sind erfahrungsnahe und „niederschwellige“ Anregungen besonders bedeutsam. Dabei sollte der Zusammenhang von Demokratie als Lebensform, als Gesellschaftsform und als Herrschaftsform – soweit als möglich – Beachtung finden.
4. Schluss: Die besondere Aufgabe von Einwanderungsgesellschaften Es versteht sich von selbst, dass die soeben umrissene neue Form der Bürgerschaftsbildung, wie sie u. a. in den Konzepten des Europarates zum Ausdruck kommen, auch eine neue Form der Erziehung und Sozialisation in den Schulen selbst umfasst. Mit Sorge muss man verschiedene Entwicklungen in den Grundschulen und vor allem in den Haupt- und Realschulen sowie speziell in den Berufsschulen betrachten. Demokratie heißt im konkreten Verhalten nicht etwa „Demokratie ist, was ICH will!“, sondern setzt gegenseitigen Respekt, Toleranz und Anerkennung voraus, aber auch die Beachtung von gemeinsamer Verantwortung, Disziplin und Kooperation zu gemeinsamen Zwecken. Disziplinlosigkeit und mangelhafte Erziehung kann auch als „undemokratisches Verhalten“ gegenüber anderen gedeutet werden. Je mehr Unterschiede in Sprache, Verhalten, religiöser Einstellung sowie ethnischen Zugehörigkeiten oder Sitten und Gebräuchen in Einwanderungsgesellschaften, zu denen Deutschland unzweifelhaft gehört, bestehen, desto wichtiger bleibt die betont demokratischrechtsstaatliche Erziehung und Bildung, um das Zusammenleben zu stabilisieren und das Gesellschaftsprojekt Demokratie in einem wertgebundenen Balancezustand zu halten.
Literatur zur Vertiefung: Beutel, W./Fauser, P. (Hg.): Erfahrene Demokratie. Wie Politik praktisch gelernt werden kann. Opladen 2001 Dürr, K.: Die Europäisierung der Demokratiebildung. In: aus politik und zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B. 36/2005 Edelstein, W./Fauser, P.: Demokratie lernen und leben. Gutachten zum Programm. BLK-Materialien zur Bildungsplanung und Forschungsförderung, H. 96. Bonn 2001 Hepp, G./Schneider, H. (Hg.): Schule in der Bürgergesellschaft. Demokratisches Lernen im Lebensund Erfahrungsraum der Schule. Schwalbach/Ts. 1999
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Himmelmann, G.: Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Schwalbach/Ts. 2007³. Himmelmann, G.: Expertise zum Thema: Was ist Demokratiekompetenz? Ein Vergleich von Kompetenzmodellen unter Berücksichtigung internationaler Ansätze. In: Himmelmann, Gerhard: Leitbild Demokratieerziehung. Schwalbach/Ts. 2006, S. 120-187. Himmelmann, G./Lange, D. (Hg.): Demokratiekompetenz. Beiträge aus Politikwissenschaft, Pädagogik und politischer Bildung. Wiesbaden 2005 Lange, D./Himmelmann, G. (Hg): Demokratiebewusstsein. Interdisziplinäre Annäherungen an ein zentrales Thema der Politischen Bildung. Wiesbaden 2007.
Sanem Kleff
Europäische Identität durch direkte Beteiligung von jungen Bürgern: Das Projekt Schule ohne Rassismus
„Perspektiven europäischer Bürgerschaftsbildung in Einwanderungsgesellschaften.“1 Was ist damit gemeint? Wir suchen offenbar nach Perspektiven. Wofür? Für eine Bürgerschaftsbildung. Schon dies ist ein sehr unterschiedlich beschrieben und mit unterschiedlichen Inhaltengefüllen werden kann. Dann soll diese nicht klar definierte Bürgerschaftsbildung auch noch europäisch sein. Was aber bedeutet europäisch? Gibt es eine Definition, der sich alle in Europa anschließen könnten? Und schließlich soll diese unklare europäische Bürgerschaftsbildung in Einwanderungsgesellschaften umgesetzt werden. Soll sich jeder Nationalstaat seine eigene Definition festlegen und diese über eine Bürgerschaftsbildung weitergeben an die eigene Bevölkerung? Diese Fragen mögen auf den ersten Blick fast lächerlich wirken, spiegeln aber die Verschwommenheit des Anliegens, das uns bewegt, wieder. Ich gehe davon aus, dass wir auf der Suche danach sind, was uns Europäer außer den Verordnungen aus Brüssel noch verbindet. Wir suchen nach dem Gemeinsamen haben aber noch nicht geklärt, wie viel Gemeinsamkeit wir auf welchen Ebenen brauchen. Wir suchen nach einer europäischen Leitkultur, die wir allerdings erst schaffen müssen. Die bislang von Nationalstaaten angestrebten Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Sprache, die Religion oder gar die Herkunft sind im Kontext Europas nicht anwendbar. Der bloße Hinweis auf eine Art republikanisches Selbstverständnis des Europäischen ist unzureichend. Denn wir scheinen heute von einer gemeinsamen Identität weiter entfernt denn je. Laut Umfragen geben fast 60 Prozent der Menschen in Europa an, sie hätten kein Vertrauen in die EU und die europäische Verfassung wurde von den Bürgern in den Niederlanden und Frankreich abgelehnt.
1 So hieß der Titel einer an der Carl-von-Ossietzky Universität abgehaltenen Tagung im Oktober 2005
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Weil die EU-Kommission dem entgegenwirken will, hat sie vor einem Jahr die Schwedin Margot Wallström zur ersten EU-Kommunikations-Kommissarin ernannt. Die neue Kommissarin hat einen „Plan-D“ verkündet. „D“ steht für : Demokratie, Dialog, Debatte. Viel über den Inhalt sagt dies noch nicht. Der Mangel an Europäischem bei der Selbstdefinition der BürgerInnen Europas ist offensichtlich. Es stellt sich die Frage, warum die EU der Entwicklung einer solchen Identität bislang so wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Dass sehr wohl übergeordnete Identitäten gezielt geschaffen werden können, zeigen andere. Jedes Kind in der EU kann die Identität des Nike-Schuhträgers, der Cola-Trinkerin, des Camel-Rauchers bis in die Einzelheiten beschreiben. Aus der Sicht der Wirtschaft ist offensichtlich eine corporate identity, die sogar global funktioniert, plan- und machbar. In der Vergangenheit gab es auf der politischen Ebene zwar weniger Europa aber bereits erste Ansatzpunkte einer europäischen Identität. Zum Beispiel hat der „European Song Contest“ in den sechziger Jahren viel dazu beigetragen, in den Köpfen und Herzen zumindest ein gefühltes Europa zu erzeugen. Offensichtlich ist in den zurückliegenden Jahrzehnten zu wenig für die Entwicklung einer europäischen Identität unternommen beziehungsweise bewusst unterlassen worden. Den Hauptgrund sehe ich in einer tiefgehenden Verunsicherung der europäischen Bevölkerung. Wenn sich der bislang vertraute Nationalstaat als Bezugsgruppe auflöst, steht auch die bisherige Identität als Bürger Frankreichs, Belgiens oder Deutschlands nicht mehr zur Verfügung. Auf der Suche nach einer Alternative, die ein vergleichbares Zugehörigkeitsgefühl bietet, richten sich die Blicke einerseits nach einer größeren Einheit, also nach Europa, das aber über keine verbindende Identität verfügt und deshalb von vielen als untauglich beiseite geschoben wird. Andererseits driften die Blicke kleinteilig in die Regionen, die den Vorteil haben bereits über eigene Identitäten zu verfügen. Deshalb scheinen sie für einige die Ersatzfunktion des Nationalstaates befriedigend übernehmen zu können. Die dritte Option ist der Kampf um den Erhalt des Status Quo. In dieser Orientierungslosigkeit finden Gruppierungen Gehör, die den Nationalstaat überhöhen und erhalten wollen. Die Angst vor dem Unbekannten lässt den alten Nationalstaat als kuschelige Sicherheitszone erscheinen. In allen Regionen Europas nutzen nationalistische Gruppierungen die Verunsicherung der Bevölkerung, polemisieren gegen das vereinigte Europa und schüren ihre Ängste. Alle Nationalstaaten in Europa sind Einwanderungsgesellschaften. Allerdings mit sehr unterschiedlichen Vorgeschichten, Zuwanderergruppen, Integrationsmaßnamen und Aufnahmebereitschaften. Deutschland hat eine mit allen anderen Einwanderungsgesellschaften unvergleichbare Migrationsgeschichte. Ab 1955 wurde die gezielte Anwerbung
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Sanem Kleff
von Gastarbeitern betrieben. Diese kamen vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien, Italien und der Türkei. Deutschland hat eine andere Beziehung zu seinen Zugewanderten als zum Beispiel Frankreich, Großbritannien oder die Niederlande. Zwei Aspekte spielen dabei eine besondere Rolle. Zum einen stammen in diesen Ländern die meisten die Einwanderer aus ihren ehemaligen Kolonien und zum anderen kommen die meisten Zuwanderer muslimischen Glaubens aus arabischsprachigen Ländern beziehungsweise Pakistan, in denen die Religion einen großen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben hat. In Deutschland hingegen stammen die meisten muslimischen Einwanderer aus der Türkei, wo die Trennung von Staat und Religion seit Jahrzehnten bewusst betrieben wird. Deutschland hat allein schon aus diesen beiden Gründen die günstigsten Voraussetzungen, die Folgen der Migration im Interesse der gesamten Bevölkerung positiv zu gestalten. Allerdings hat Deutschland auch einzigartige Probleme. Durch die Vereinigung von Ost- und Westdeutschland wurden beide nach 1945 entstandenen Nationalstaaten faktisch aufgelöst. Die Bevölkerung beider deutscher Staaten wurde durch die politischen, ökonomischen und sozialen Umbrüche tief verunsichert. Dies gilt insbesondere für Ostdeutschland, das quasi von der Landkarte verschwand und für deren Bevölkerung sich alle Bereiche des Alltagslebens veränderten. Ehemalige Westdeutsche können ihren Alltag zwar weiterführen wie vor der Vereinigung aber auch sie spüren das Außerordentliche der Situation. Im Westen bleibt nachhaltig das Gefühl: Wir müssen immer mehr zahlen und werden wegen den Ossis immer ärmer. Im Osten bleibt das Gefühl: Wir verlieren alles und die Wessis profitieren davon. In den vergangenen 15 Jahren seit der Vereinigung ist es nicht gelungen, eine deutsche Identität für das vereinigte Deutschland zu entwickeln die von der Bevölkerung innerlich angenommen wird und sie verbindet. In dieser Situation der Verunsicherung wird um so dankbarer auf die vermeintlichen Gemeinsamkeiten aller Deutschen in Abgrenzung zu den Einwanderern zurückgegriffen. Das Wir soll in der Abgrenzung zu den Anderen entstehen. Bei der Suche nach unterschiedlichen Merkmalen der Anderen wird als scheinbare Gemeinsamkeit der Zuwanderer in Deutschland ihr muslimischer Hintergrund ausgemacht. Die Leidenschaft, mit der aktuell über Muslime und den Islam debattiert wird, ist nicht nur mit dem 11. September, den Anschlägen von Madrid und London oder der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo Van Gogh zu erklären. Diese Debatte hat eine wichtige Funktion bei der Suche nach der eigenen deutschen Identität. Da die bloße Benennung des muslimischen Glaubens bei der weitgehend religionslosen oder zumindest säkularen christlichen Bevölkerung keinen ausreichenden Abgrenzungsbedarf entstehen lässt, wird der Islam inhaltlich in
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seiner Differenz zum Eigenen beschrieben. Die zentrale Rolle spielt dabei die Frage nach dem Verhältnis von Mann und Frau, und letztlich die Frage des Umganges mit allen Aspekten der Sexualität. Zwangsheirat, Jungfräulichkeit bis zur Ehe, Ehrenmord und Homophobie bei den Muslimen. Gleichberechtigung von Mann und Frau, Anerkennung Gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und selbstbestimmte Sexualität für alle bei „uns“. Den Anderen werden stereotype Normen und Haltungen zugeordnet, viel wird über die Anderen gesprochen aber eigentlich gilt die Aufmerksamkeit dem Eigenen. Derartige Debatten werden aber nicht nur in dem Vereinten Deutschland geführt, das noch nach der Identität der vereinigten Deutschen sucht, sondern auch in nahezu allen europäischen Ländern. Die Vehemenz, mit der diese Debatten betrieben werden, zeigt, welch hohen Stellenwert sie offensichtlich für die Definition der eigenen Identität haben. Wird die künftige, verbindende europäische Identität unter anderem in der Abgrenzung zum Islam definiert werden? Unsere Erfahrungen im Rahmen des Projektes „Schule ohne RassismusSchule mit Courage“ werfen zusätzliche Schlaglichter auf die Problematik. Typisch für die Verfassung des heutigen Europas ist schon die Struktur des Projektes. Obwohl es 1985 in Belgien entwickelt und über die Niederlande 1995 nach Deutschland kam und sich weiter nach Österreich und Spanien ausweitete und somit heute in fünf europäischen Ländern existiert, gibt es keine gemeinsames Handeln auf europäischer Ebene. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die Schulstrukturen sind nicht miteinander vergleichbar, die politische Verantwortung für die Schulen ist in jedem Land unterschiedlich geregelt, ebenso die Curricula. Nicht zuletzt sind auch Nichtregierungsorganisationen wie die Träger der nationalen Projektleitungen nicht gewohnt grenzübergreifend dauerhafte Kooperationen einzugehen, verhalten sich also typisch europäisch. Einen wesentlichen Teil unserer Arbeit mit Schülerinnen und Schülern machen open space Veranstaltungen oder Workshops aus, bei denen diese selbst zu Wort kommen, ihre Meinungen, Einstellungen darstellen, diskutieren und austauschen können. Dabei kommt in verschiedenen Zusammenhängen auch das Thema Europa vor. Unser Resümee in Bezug auf die Einstellung der SchülerInnen zu diesem Thema ist recht niederschlagend. In der Regel verbinden die Kinder und Jugendlichen nur Schlagworte mit dem Begriff Europa aber keinerlei Vorstellung davon, um welche politischen Umstrukturierungen es dabei geht oder in welcher Beziehung diese zu ihrer Biographie stehen. Schüler an Berufsschulen wissen nicht, dass sie als deutsche Staatsbürger der Freizügigkeit in der EU unterliegen und zum Beispiel nach der Ausbildung als KFZ-Mechaniker in Frankreich, Spanien oder Belgien arbeiten oder gar eine Werkstatt eröffnen könnten. Die
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Vorzüge der Mobilitätserweiterung durch die EU spielen bei der Gestaltung ihrer Lebensplanung keine Rolle. Bei dem Thema Europa wird wieder einmal die Kluft zwischen den Gymnasialschülern und den Anderen deutlich. Eine entscheidende Barriere bildet bei SchülerInnen an Haupt-, Real- und Berufsschulen ihre für den europäischen Arbeitsmarkt unzureichende Sprachkompetenz. Gymnasialschüler dagegen verfügen über eine wesentlich bessere Sprachkompetenz mindestens in Englisch aber oft auch in ein oder zwei weiteren europäischen Sprachen. Sie wissen mehr über die politischen Hintergründe und Strukturen der Europäischen Gemeinschaft, beschäftigen sich durchaus kritisch mit diesen und werden auch aktiv bei Themen, die sie stärker interessieren, wie zum Beispiel der europäischen Verfassung. Auslandsaufenthalte über Austauschprogramme sind oft Bestandteil ihrer Schulzeit. Hinzu kommt, dass sie in der Regel ihre Ferien im Ausland verbringen und sich dadurch Erfahrungen mit anderen Sprachen und Alltagskulturen aneignen. Dies macht die Schere zwischen Kindern und Jugendlichen aus der unteren sozialen Schicht und denen aus bürgerlichen Kreisen deutlich. Kinder und Jugendliche aus den sozial schwachen Milieus sind nicht in der Lage, von den Vorzügen der EU zu profitieren. Ihre Wahrnehmung der Welt beschränkt sich oft auf ihre unmittelbare Umgebung, wobei diese auch so kleinteilig sein kann, dass sie sich nicht einmal im benachbarten Kiez auskennen und die Straßenzüge, in die sie hineingeboren wurden, bis zum Ende ihrer Schulzeit nur selten verlassen. Im starken Kontrast dazu steht ihre Affinität zu globalen und grundsätzlichen Welterklärungsmustern. Nationalistische Vorstellungen eines autarken Deutschlands, das konsequenterweise Ausländer und Einwanderer ablehnt, radikal kapitalismuskritische Positionen oder auch eine islamistische Vision der Gemeinschaft aller Muslime haben Hochkonjunktur. Gemeinsam ist den von ihnen favorisierten Vorstellungen die Sehnsucht nach einer Art der Gerechtigkeit, die sie in ihrem real erlebten Alltag offensichtlich vermissen. Die Vision eines vereinigten Europas wird von ihnen nicht als möglicher Weg zu mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit betrachtet. Die Lehrerinnen und Lehrer nehmen diese Haltung der Schülerinnen aus den unteren Schichten zwar oft wahr, gehen aber nicht immer produktiv damit um. Die Einstellungen dieser SchülerInnen unterscheiden sich so stark von ihren eigenen Lebenserfahrungen, Erwartungen und Visionen, dass eine Kommunikation darüber von selbst nur schwer in Gang kommt und gezielt entwickelt werden müsste. In der Praxis werden solche Themen dann gerade an Hauptschulen faktisch aus dem Unterrichtsalltag ausgeklammert. Die Folge: Gerade SchülerInnen mit Migrationshintergrund werden in Bezug auf Europa inkompetent.
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Die Suche nach den Inhalten und Wegen einer europäischen Bürgerschaftsbildung ist keineswegs eine intellektuelle Spielerei für interessierte Sozialwissenschaftler, sondern eine drängende politische Aufgabe. Bislang wurde die Entwicklung einer europäischen Identität vernachlässigt. Dieser fördert nicht nur nationalistische Gesellschaftsvisionen, sondern rückt auch die Muslime und den Islam ins Zentrum einer Debatten deren eigentliches Ziel die Selbstdefinition ist. Als Pädagogin setze ich auf Bildung, auf Maßnahmen, die auf die Köpfe der Jugend in Europa zielen. Dabei kann von der Wirtschaft gelernt werden. Auf persönlichen Kontakt, Austausch unter Jugendlichen, auf die Entwicklung einer corporate indentity in der EU. Die politische Bildung der Erwachsenen muss in die Überlegungen einbezogen werden. Der durchaus verbreitete Trend, politische Bildung für unnötig und altmodisch zu halten, kann gefährliche Folgen haben. Die Europäische Verfassung mag noch nicht ausgreift gewesen sein, die Argumente der meisten Ablehnungsbefürworter waren eindeutig von mangelhaftem Wissen und ideologischen Phrasen geprägt. Bürgerschaftsbildung kann nur so überzeugend sein, wie die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger real sind. Sie kann nur gelingen in einem Europa ohne eine gemeinsame Sprache, Religion oder Herkunft, wenn Diversität als Normalität auf allen Ebenen des Alltags anerkannt wird. Dazu können die Nationalstaaten viel beitragen. Eine europäische Bürgerschaftsbildung kann aber auch nur dann funktionieren, wenn neben den Köpfen auch die Emotionen vor allem der jungen Menschen für ein von ihnen angenommenes Selbstbild gewonnen werden kann. Ich wünsche Margot Wallström bei ihrer Arbeit als EU-KommunikationsKommissarin viel Erfolg. Sie hat ihr Ziel dann erreicht, wenn die Mehrheit der Europäer eines Tages auch die muslimisch dominierte Türkei als selbstverständlichen Teil Europas empfindet.
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Learning about migration – The functioning of Comenius 3 Networks
1. Introduction The phenomenon of migration is growing, and with it is also growing the challenge of living together across cultural boundaries. Not least are these challenges felt among teachers in their daily work in multicultural classrooms. Contrary to what one should believe, these challenges are not getting smaller with the greater knowledge and experience of intercultural education. Riots in Paris suburbs and other places is a warning that unless more efforts are put into this work such incidents may spread to other places. These challenges (and often they are problems more than just challenges) are important in education and research. So important, in fact, that we believe that the working together of teachers in local schools with teacher training institutions is essential to enhance intercultural education. Further, we believe that research should work closely with schools and teacher training institutions, and we also believe it is of importance that national, regional and local authorities should be involved in order to improve the present situation. This is the rational behind the starting of up of the present network and the organisational structure chosen. This was stated in the conference report from the 2nd annual conference of the Migration and Intercultural Relations (MIR) Com 3 network, Girona, 22 24 April 2004. The following will draw heavily on experience from coordinating two Comenius 3 network since 2002. The first of these two – MIR – finished its activities end of 2005. Parallell to this another network started running and will continue until the end of 2008: LearningMigration. The two networks have both had as its core to encourage the educational world to find better ways of learning about the phenomenon of migration and the corresponding challenge of integrating growing numbers of people from many different cultures into modern European societies. Sharing knowledge in this area is a great part of network activities.
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A great variety of activities have taken place at annual events organised by the two networks and their associates. By contract with the European Commission such networks must run annual conferences and be host of large web sites. During annual conferences activities like workshops, seminars and round tables will offer participants ample opportunities of presenting their work to an interesting adience.
2. The relationship between networks and projects Interestingly, some of the activities presented during workshops, have later matured into separate, independent projects with their own financial basis and organisational structure. The coordinators of these new projects (and many of the partners involved) will also be partners of the Comenius 3 network. Thus one can see that there may be a fruitful relationship between networks and projects, i.e. that dissemination activities during network conferences, and the parallel contact seminars for starting up new projects, can act as a catalyst for moving ideas to the demanding act of making a succesful application. This is certainly an important part of the rationale behind the Comenius 3 networks, as the EU Commission sees it, to be of service for existing projects, and to help start new ones. Many networks and projects within Socrates (Comenius, Erasmus etc) have established a solid pattern of collaboration. This collaboration is important when building sustainable activities in the area of intercultural education. There is an established difference between networks and projects. This difference is not always recognized, but it will be beneficial to do so in order to build strong alliances between players in the educational field: local schools, teacher training institutions, research groups, and educational authorities on different levels. Whereas a project works on a very focused area, i.e. testing learning material for migrant children or reflecting on pedagogical theories best suited to understand learning strategies in education for a minority group, the network will concentrate on creating and upholding a framework that might support the projects in their activities: running seminars and dissemination conferences, setting up (large) internet sites connecting many projects and initiatives etc. Ideally, a (thematic) network will work complementary with many projects, and will be listening to needs of project coordinators in their efforts. There is an increasing demand for sustainable results from the authorities that are supporting the many projects connected to the field of intercultural education. Sustainability can mean that the results and outcomes have users after the project is closed. Sustainability can also mean that the project group
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will continue their work, perhaps in a slightly different area, and perhaps with an adjustment of the partnership. Sustainability will always mean a continuation, and it will mean better use of invested resources, both financial and human. There is a particular need for collaboration in the intercultural field bearing in mind how complex the issues are and how many different subjects and specialists are involved in both theoretical and more practical work in the field. It is well worth studying how a well defined relationship and companionship between networks and projects in the Comenius area (school and teacher training) can make a difference in both carrying the administrative framework needed to keep together complex structures of institutions and specialists, and at the same time remain a fruitful and dynamic ground for best practice and interesting research on intercultural education.
3. Network structure and organising The network structure of the second of the two networks and the one that is now running, LearningMigration, is designed to be of such service in that it is organised into two different types of groups that have been given financial support in their work: x national groups (or: rather regionally based groups in each partner country) of (complementary) institutions working together: local schools connected to their teacher training college, liaising with researchers of migration didactics, and networking with educational authorities. x transnational (thematic) groups involving of one of the four types of institutions mentioned above: schools, or institutions of teacher training, or research institutions, or educational authorities. Both types of grouping are expected to be productive in converting ideas into sustainable actions through applying for financial support from external sources, and then making use of network events like conferences and seminars and teacher courses for disseminating their outcomes and products to a wider audience. Main objectives: LearningMigration is about sharing experience and best practice of how best to deal with the educational challenge of the increasing number of immigrants into Europe, and also the greater movement of people between European countries. LearningMigration is about integrating a better understanding of the phenomenon of migration into daily teaching in all parts of the educational commu-
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nity. LearningMigration is about setting up joint groups of staff from local schools and teacher training institutions, from educational authorities, NGOs, and from didactic research institutions in order to deal with these issues more efficiently. Target groups: x Primary groups: students, teachers and staff in local schools; students, teachers and staff in teacher training institutions; staff in pedagogical research institutions; staff in educational /public authorities x Secondary groups: NGOs in the area of migration and intercultural relations; groups more directly representing immigrant families; parents and families of immigrants. Main activities and types of activities: A: Activities organised by four transnational seminar groups (for schools, for teacher training, for research, for public authorities (education). This to be done through the running of annual thematic seminars comparing the situation in partner countries with the aim of producing guidelines and recommendations for improvements in: x local schools, x teacher training, x didactic research, x national policies and regulations B: Activities organised by the national groups of the network : x hold partner meetings in each country (national working groups) – e.g. before and after main events like annual conference (Spring) and before and after transnational seminar group meetings (Autumn) x run small seminars for local teachers x co-organize film or art festivals (intercultural events) x organise meetings with policy makers in the field of migration/inteculturality x discussing local funding (make a sustainable network) x production of brochures and flyers presenting own activity. Main outcomes: x Annual Conference and a pre-conference Contact Seminar Day: conference reports produced x Thematic Seminars: guidelines and recommendations produced
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Final Dissemination Seminar: final products exhibited WWW-site and database established Brochures and flyers; videos/DVD – produced as a result of other activities. Annual Reports from partner groups
Main events (especially during the first year): x First annual conference, Stavanger (Norway) May 12-14, 2006 x Setting up-meetings of transnational seminar groups (2005-06) x Annual conference and four parallel transnational thematic seminar groups each following year x Final dissemination seminar (2008) Expected impact: x Change of practice in school and teacher training x Increase contact between educational staff and public authorities, particularly educational authorities x Increase contact between teachers and NGOs The structure and organising of the Comenius 3 network allow a wide exchange of best practice and experiences in the specific thematic area of migration and integration in education which influences the more static and formalised institutions of education in a positive and innovative manner.
III. Historisch-politische Lernansätze für das Thema Migration
Bodo von Borries
Erfahrene Migration und historische Bildung. Eckpunkte und Perspektiven
Historisches Lernen und politisches Lernen sind keineswegs identisch, aber sie können sich – in hohem Maße – überschneiden, intensivieren und gegenseitig zuarbeiten (vielleicht auch gelegentlich hindern). Dieser Band geht über „Europäische Bürgerschaftsbildung“, also politisches Lernen. Die Geschichte hat hier – das sollte stets bewusst bleiben – nur eine Außenseiterstellung.
1.
Rechtfertigung des Themas „Historische Migrationen“
1.1. Generelle Legitimation „Migration“ als Thema im historischen Unterricht ist in hohem Maße legitimiert durch (1.) Fachwissenschaft, (2.) Gesellschaft und (3.) Lernende. Natürlich ist die Historiografie nicht von der Gesellschaft isoliert, sondern sie arbeitet – letztlich im Auftrag und auf Kosten der Gesellschaft, wenn auch relativ „frei“ – an Untersuchungen/Darstellungen vergangener Prozesse und Wandlungen im Hinblick auf gegenwärtige Schlussfolgerungen. Wanderungsbewegungen haben schon früher große Aufmerksamkeit gefunden, sind aber heute besonders im Fokus der Forschung. Mit der gestiegenen Mobilität der Gesellschaft ist einerseits intensivierte Kommunikation verbunden, andererseits aber auch eine weit erhöhte physische Bewegung auf Zeit oder Dauer, also auch Migration. Schließlich haben die im Fach Geschichte Lernenden in Deutschland zu einem großen Teil selbst einen „Migrationshintergrund“ und sind alle intensiv von Migration betroffen (vgl. Alavi 1998, v. Borries 2000, Alavi/v. Borries 2000, Körber 2001). Das alles ist trivial, wird aber selten deutlich genug gesehen und hoch genug bewertet. Nicht so trivial ist die Frage, inwieweit denn überhaupt „Geschichte“ („Historie“) noch zur „Orientierung“ beitragen kann, was Theoretiker fest behaupten (ja als „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ zum Hauptzweck von „Historie“ erklären), und inwieweit die Orientierungsbedürfnisse von Gesellschaft
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tatsächlich auf Schulcurricula des Faches Geschichte durchschlagen, was selbstverständlich gefordert wird. In beiden Fällen darf man eine erhebliche Skepsis entwickeln. Dennoch sind die aufgeworfenen Fragen hier nicht weiter zu erörtern. Wenn „Geschichte“ – wegen des radikalisierten und beschleunigten Wandels – nicht mehr zu Folgerungen und Entscheidungen für Gegenwart und Zukunft beitragen können sollte (natürlich geschieht das ohnehin stets nur indirekt!), dann würde das für alle Themen (also „Umweltschutz“ und „Friedenssicherung“ nicht weniger als „Wanderungsbewegungen“ und „Generationenverhältnis“) gelten. Dann aber wäre Historie – mindestens als Pflichtfach im Staatsschulwesen – delegitimiert. Da die Sache aber unspezifisch für das Thema „Migrationen“ bleibt, ist sie hier nicht im Detail zu durchdenken. In der Tat sieht es so aus, als wenn Geschichtslehrpläne aus „Traditionslinien“ und nicht aus „Krisenerfahrungen“ herausgesponnen und weiterentwickelt würden. Aber diese Traditionen sind – mit Weniger (1969) – als Definitionen von Zukunftsaufgaben durch die Zuständigen (die „politische Klasse“ oder „Staatsklasse“) zu verstehen, die die Form von „Geschichten über die Vergangenheit“ annehmen. Mit anderen Worten: Gerade wenn die Verantwortlichen/die Mächtigen Geschichtscurricula nicht ändern, sondern überkommene Themen festhalten und fortschreiben, versuchen sie damit – ob sie es wissen oder nicht, ob sie „Politik“ betreiben wollen oder einfach einen naiv„verdinglichten“ Geschichtsbegriff haben – „Orientierungen“ zu liefern, aber eben solche des 19., nicht des 21. Jahrhunderts (z.B. Nationalstaat, Wirtschaftswachstum, patriarchalische Familie).
1.2. Systematische Kategorien und Überlegungen zur Selektion Migrationen aller Art, friedliche und kriegerische, freiwillige und erzwungene, nahe und ferne, vorübergehende und andauernde, massenhafte und individuelle, wirtschaftlich motivierte und religiös angetriebene, planmäßige und panikartige, erfolgreiche und katastrophale, kontinentale und maritime, rational kalkulierte und eschatologisch begeisterte, haben das Leben der Menschen zu (fast) allen Zeiten massiv bestimmt. Dabei gab es natürlich – und das besonders häufig – auch jede Menge Übergangsphänomene und Mischungsverhältnisse zwischen den erwähnten Extremen. Dabei sollte – trotz der Unbestreitbarkeit des weltgeschichtlichen Beschleunigungsprozesses, der selbst ein Thema des Geschichtslernens sein müsste (vgl. v. Borries 1990, 73ff.) – das Ausmaß vormoderner Mobilität und Migration nicht unterschätzt werden. Man denke nur an Nomadentum (vor allem
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„Transhumanz“), Fernhandel („Karawanenwege“ und „Seehandelsnetze“), Pilgerstraßen (Mekka und Kerbela, Jerusalem und Rom, Santiago und Les Saintes Maries de la Mer, Canterbury und Köln), Kriegszüge („Hunnennot“, „Kreuzzüge“, „Mongolensturm“), kolonisierend-erschließende Bevölkerungs- und Ansiedlungspolitik („Ostkolonisation“, „Peuplierung“), religiöse Ausweich- und Vertreibungsbewegungen („ ‚Heiden‘ nach Island“, „Puritaner“, „Quäker“, „Hugenotten“), Deportationen (von Assyrien im archaischen Altertum über Sklavenhandel und „indentured servants“ bis Russland unter Stalin und Deutschland unter Hitler), Binnenwanderung und Auswanderung („Völkerwanderung“, Westexpansion als „manifest destiny“, „Kosakentum“). Fraglich ist nur, wie – im Rahmen sehr beschränkter Lernzeit des Faches, das schon längst nicht mehr durchgehend über zwei volle Wochenstunden verfügt – Phänomene so ausgewählt werden können, dass zugleich besonders spannende und typische Fälle aufscheinen und eine Art Systematisierung für die Kinder und Jugendlichen möglich wird, in die sich weitere geschichtliche und erst recht neu auftretende aktuelle Beispiele einordnen lassen, so dass die Lernenden mit ihnen kompetent umgehen können. Dabei heißt kompetent natürlich „tolerant“, ja „akzeptierend“, aber nicht „permissiv“ und sich selbst aufgebend. Vieles spricht dafür, dabei den umfassenden Begriff „Migration“ zwar nicht aufzugeben, aber sich praktisch auf Fälle von „Auswanderung“ und „Einwanderung“, d.h. Raum- und Staatswechsel auf Dauer, zu konzentrieren. Tatsächlich hängen „Migrationen“ aufs Engste mit einer Reihe anderer Erscheinungen zusammen, die für das unvermeidlich interkulturelle Geschichtsbewusstsein einer Einwanderungs-Gesellschaft wichtig werden. Durch Migrationen entstehen „Kulturzusammenstöße und Kulturkontakte“, außerdem „Minderheits- und Mehrheitsgruppen“ sowie „multikulturelle Gesellschaften“. Innerhalb derer müssen die einzelnen Gruppen sich im „Fremdverstehen“ üben und neue „Gruppen-Identitäten“ ausprägen, eben auch selbst einen Wandel durchmachen. Heute allerdings werden sie eben diese Aufgaben unter die Prinzipien der „Menschen- und Bürgerrechte“ – statt bloßer machiavellistischer Machtpolitik und Selbstdurchsetzung – stellen (müssen) (vgl. Alavi/v. Borries 2000). Diese Überschneidung und Vernetzung ist kein Nachteil, sondern ein Gewinn. Angesichts der immensen Anforderungen an das Geschichtslernen würde das engere historische Thema „Migration“ in einen heftigen Wettbewerb mit tausend anderen Innovationen (z.B. Umweltgeschichte, Frauengeschichte, „Historie der Altersklassen“, „Außereuropa“, „Europäisierung“) geraten, den es unmöglich gewinnen könnte. Nur im weiteren Verbund des „interkulturellen Geschichtslernens“ gibt es eine gewisse Chance auf Beachtung und Durchsetzung.
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2. „Migration“ im „alten“ und „neuen“ Geschichtslernen 2.1. „Wanderungen“ im stoffdominierten, problemorientierten und kompetenzfördernden Geschichtsunterricht Die ältere „stoffdominierte“ und „chronologische“ Geschichtsdidaktik hatte recht genaue Vorstellungen, welche Wanderungen zum „Geschichtsbild“ gehörten. Da war die „dorische Wanderung“ um 1200 v.Chr., die „Völkerwanderung“, die Wikinger-Expansion, die „Ostkolonisation“, die Auswanderung nach Amerika (besonders in die USA) und vielleicht noch die Besiedlung des Donauund Schwarzmeerraumes mit Deutschen (besonders im 18. Jahrhundert). Das waren, wenn man vom Sonderfall der Völkerwanderung als „deutscher Landnahme“ und der Aufnahme der Hugenotten einmal absieht, überwiegend deutsche Auswanderungsbewegungen. Hier sollte nicht nur Stolz auf deutsche „Sonderleistungen“ eingeimpft werden („ästhetischer Chauvinismus“), sondern die Tradition einer deutschen Grenzland- und Auslandsdeutschen-Politik blieb stets lebendig. Da ging es, nicht nur beim berühmten „Ostkunde-Erlaß“ der KMK von 1956 (vgl. Borcherding 1965, 90-94), um die Legitimation von Ansprüchen – oder wenigstens von erinnerungswürdigen und anerkennungsheischenden Leistungen. Mit anderen Worten: Das war ein zutiefst „affirmativ-nationalistisches“, wenn nicht „völkisches Projekt“. Heute sind diese Traditionen weitgehend abgestorben, jedenfalls soweit sie sich nicht in Überzeugungen von „der Geschichte selbst“ verwandelt haben. Man kann es auch anders sagen: Die Identifikationen waren jeweils ziemlich klar. „Wir“ konnten die deutschen Jugendlichen zu den Goten und Vandalen, zu den Ordensrittern und Hansekaufleuten, zu den Wolga-Deutschen, Donauschwaben und Pennsylvanian-Dutch sagen. Was die Römer und Gallier, die Pruzzen und Polen, die Ungarn und Russen, die „native Americans“ und „British Americans“ sich dachten, war weniger interessant.
2.2. Jüngere Geschichte des Geschichtsunterrichts Ehe man über eine Neubestimmung reden kann, muss ein kleiner historischer Exkurs gemacht werden. Es geht nämlich nicht einfach um eine Anpassung der Inhaltsauswahl an neue Bedürfnisse, auch wenn diese eine Rolle spielen. Vielmehr hat die (west-)deutsche Geschichtsdidaktik in den letzten Jahrzehnten zwei grundlegende Erneuerungen erdacht (wenn auch in der Praxis nicht durchsetzen können). An die Stelle des chronologisch angeordneten und angeblich einen
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„vollständigen“ Überblick umfassenden Stoffes sollte vielmehr – seit etwa 1970 – eine „Problemorientierung“ treten, d.h. die Jugendlichen sollten Kategorien zum angemessenen Umgang mit historischen Phänomenen und Meinungsverschiedenheiten gewinnen. Dabei lässt natürlich auch die Curriculumdebatte mit ihrem Umschalten von Kenntnissen auf Fähigkeiten grüßen. Für den Geschichtsunterricht wurde – in einem etwas engen Verständnis von „Wissenschaftsorientierung“ – vor allem in einem bisher unerhörten Maße „Quellenarbeit“ besonders an Textquellen vorgesehen. Tab. 1: Abfolge von Schulbuchtypen (und Unterrichtstypen) Zeit
Zielsetzung
Machart/Stil
Lernart
Beispiel
„Stofforientierung“
„Leitfaden“
„Grundriss der Geschichte“
„Erlebnisorientierung“
„Novellensammlung“ „Gemäßigtes Arbeitsbuch“
Reproduktion und Gedächtnis Modell und Imitation Einsicht und Entdeckung
„Die Reise in die Vergangenheit“ „Menschen in ihrer Zeit“
„Quellensammlung“
Einsicht und Entdeckung
„Fragen an die Geschichte“
„Projekt- und Spielanleitung“
Identität und Balance
„Mitmischen in Staat und Gesellschaft“
„Rohstoffvorrat und Werkzeugkasten“
Identität und Balance
„Wir machen Geschichte“
Vor ca. 1970
„Problemorientierung“ ca. 1970 - ca 1995
„Quellenorientierung“/ „Wissenschaftsorientierung“ „Schülerorientierung“/ „HandlungsorientieSeit ca. rung“ 1995 „Methodenorientierung“/ „Kompetenzförderung“ (v. Borries, unpubliziert)
Es dauerte relativ lange, bis das Ungenügen daran laut formuliert wurde. Von akademischer Praxisferne, methodischer Eintönigkeit, unzureichender Lesefähigkeit, sprachlicher Überforderung, fehlender Zusammenhangsherstellung, falscher Wissenschaftsimitation usw. war die Rede. Inzwischen kann man davon ausgehen, dass die „Quellenarbeit“ nicht abgeschafft, aber relativiert und reformiert werden soll (vgl. Schneider 1994, Pandel 1995). Dabei geht es einerseits darum, den jeweiligen Schwierigkeitsgraden sensibler nachzuforschen und die Lernaufgaben angemessen zu sequenzieren („entwicklungslogische Lernprogression“). Die zweite Revisionsmaßnahme besteht darin, nicht nur aus „Quellen“ geschichtliche Erzählungen (natürlich „Narrationen“ und nicht „Fiktionen“) zu produzieren, sondern auch bereits fertige Geschichtsgeschichten zu rezipieren, in ihren Tiefenstrukturen zu verstehen und auf Übernehmbarkeit oder Abwandlungsbedarf zu überprüfen (vgl. Schreiber 2003).
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Das bedeutet, wenn es denn endlich gelingen sollte, nicht mehr nur eine Auswechslung der Themen („Stoffe“) einerseits und der Wertungen („Loyalitäten“ und „Identifikationen“) andererseits, wie sie seit 1919 in Deutschland ungefähr fünfmal erfolgt ist, sondern einen Austausch der logischen und moralischen Figur des Denkens und Entscheidens selbst. Geschichte soll, wie Bergmann schon früh (1975) gefordert hat, nicht mehr dekretiert und angeordnet, sondern verhandelt und abgewogen werden. Diese grundlegend neue Figur – sie steht auch international einigermaßen allein, entspricht aber neuen kognitionswissenschaftlichen Überlegungen – galt schon in der Phase der „Problem- und Quellenorientierung“, wird neuerdings aber noch weit deutlicher herausgearbeitet. Man spricht dabei einerseits von „Reflektiertem und (selbst-)reflexivem Geschichtsbewusstsein“ und betont andererseits die fruchtbaren Momente in der neuen Debatte über „domänenspezifische Kompetenzen“ als eigentliche Aufgabe des Schulwesens. Für deren Erwerb müssen die Lernenden selbst durch den „eigenständigen Aufbau (= Konstruktion) einer sinnhaften Welt“, durch das eigene Angehen von „Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang“ eine entscheidende Mitverantwortung übernehmen (vgl. Trautmann 2004, Schenk 2005). Das heißt aber, dass man nicht mehr so einfach neue Stoffe in die Richtlinien schreiben kann wie vor 1968 und dann auch noch naiv darauf vertrauen, sie würden von Lehrenden tatsächlich umgesetzt und wirkten sich auf Lernende plangemäß positiv aus. Hier geht es nicht nur darum, dass „voluntaristische Setzungen“ – auch seitens der zuständigen Kultusminister – nicht mehr recht in die „demokratischer“ gewordene Landschaft passen, dass das Selektionsproblem also kaum mehr autoritativ und ideologisch gelöst werden kann. Auch auf der Abnehmerseite besteht kein Optimismus mehr: Schüler(innen) lernen nur das einigermaßen fest und dauerhaft, was sie lernen wollen, was sie als ihre Sache empfinden. Das macht größere Lebensweltnähe und größere Mitbestimmung nötig (ohne die Bedeutung von Expertise verschwinden zu lassen).
2.3. Prototypische Lernformen Natürlich geht es darum, die Lernformen der „Einsicht“ und „Erfahrung“ zu stärken, die der „Reproduktion“ und „Imitation“ zu schwächen oder wenigstens mit den höheren Formen zu integrieren. In gewisser Weise stellen die Lernformen dann auch eine zeitliche Abfolge dar. Seit 1968 spätestens ist wenigstens die theoretische Anforderung da, im Fach Geschichte zu „denken“ und nicht bloß zu „pauken“ (vgl. Mebus/Schreiber 2005).
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Tab.2 : Lernformen Lernform Reiz-ReaktionsLernen, Konditionierung
Imitationslernen, Modellübernahme
Einsichtslernen, Umstrukturieren
Erfahrungslernen („Lernen ist leben, Leben ist lernen“)
Psychologische Theorie „Behaviorismus“
Allgemeines Beispiel
Verstärkung/Auslöschung im „sozialen Lernen“ Kognitivismus
Anpassung leisten (z.B. „Spracherwerb“, „Fangemeinde beitreten“)
„Humanistische Psychologie“
Biografie erleben und meistern (z.B. „Trauerarbeit“, „Erfolg ohne Arroganz“)
Information verarbeiten und Reflexe einüben (z.B. „Vokabeldrill“, „Verkehrsregeln einprägen“)
Probleme lösen (z.B. „Versuch und Irrtum“, „Spuren entdecken und deuten“)
Geschichtsbezogenes Beispiel (z.B. zu „Außereuropa“) Jahreszahlen einprägen (z.B. chinesische Dynastien – mit Eselsbrücken – auswendig lernen, Sklavenstaaten und „Freie“ Staaten der USA 1861 kennen) Vorbilder nachahmen (z.B. Begeisterung für Juarez und Abscheu gegen Maximilian empfinden, „Ninya“Faszination) Zusammenhänge feststellen (z.B. „großen Dreieckshandel“ als System begreifen, „Kolonialgeschichte“ kritisch mit dem „Holocaust“ vergleichen) Identität prüfen und revidieren (z.B. „Rassismus“ und „Chauvinismus“ ablegen, Migrantenstatus verarbeiten)
(v. Borries, unpubliziert)
2.4. Historisch-anthropologische Fragestellungen Heute liegen die möglichen Lerngewinne beim Migrationsthema in einer anderen Richtung als vor 1968 und die Auswahl ist in einem anderen Verfahren – nicht mehr zwecks Stolz und Überlegenheitsgefühl der Deutschen – zu treffen. Die zu erwartenden Einsichten können als historisch-anthropologisch und historisch-soziologisch bezeichnet werden. Es erheben sich Fragen wie: x Was denken eigentlich die Einheimischen von den Neuankömmlingen und umgekehrt (Heterostereotype)? x Wie gehen beide Gruppen miteinander um (feindlich, freundlich, isolationistisch [sich gettoisierend], integrativ [heiratend])? x Wie ändern sich die Lebensweisen und Selbstdefinitionen („Identitäten“) beider Seiten? x Wie lange bleibt eine bestimmte Fremdheit, ein „Anderssein“ erhalten (und welche Rolle spielt dabei die Größe beider Gruppen)? x Was kann man als hauptsächliche Hindernisse eines friedlichen Zusammenlebens (gar völliger Verschmelzung) identifizieren, was als hauptsächliche
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Förderungen? Welche politischen (herrschaftlichen) Mittel wurden zu Gunsten und zu Lasten von Migrationen ergriffen und wie erfolgreich waren solche Maßnahmen? Welche Seite hat eigentlich Vorteile, welche Nachteile von Wanderungen? Wie sehen die Bilanzen für beide Seiten aus? Inwiefern haben sich das Migrationsverhalten und die Migrationsreaktionen im Verlaufe der Epochen verändert, inwiefern sind sie gleichgeblieben?
2.5. „Migrationsthema“ in der „Einwanderungsgesellschaft“ Vor einigen Jahren wurden versuchsweise vier Selektionskriterien unterschieden, nach denen „Einwanderungsgesellschaften“ – um eine solche handelt es sich nicht nur in Deutschland, sondern auch bei vielen seiner Nachbarländer – die Neuorientierung ihrer offiziellen Bearbeitung und Verarbeitung von Geschichte organisieren können. Das Schema sei hier noch einmal wiederholt, um die analytische Brauchbarkeit auch für das Thema „Migration“ zu prüfen. Vier Konzepte der Inhaltsauswahl für Geschichtslernen in der „Einwanderungsgesellschaft“.
Tab. 3: 4 Konzepte der Inhaltsauswahl Auswahlkriterium „Nationalgeschichte als Eintrittsbillet“ „Menschenrechtsgeschichte als Zivilreligion“ „Nahweltgeschichte als Orientierungshilfe“ „Mentalitätsgeschichte als Identitätserweiterung“
Leistung/Chance
Defizit/Risiko
Neues „nation building“, Einbürgerungs- und Inte-grationsbeitrag (ohne Homogenisierung), Identifikationsangebot Orientierung auf „Verfassungspatriotismus“, Universalismus, Demokratie- und Humanitätsbeitrag Lebenswelt- und Adressatennähe, manifeste „Betroffenheit“, Verwendbarkeit für Lernende
Soziozentrismus (wenn nicht Ethnozetrismus), Ab- statt Ausgrenzung, Desinteresse und Assimilationssorge der Betroffenen Normativität, Abstraktheit/Blutleere (Lebensweltferne), Versuch der Identitätsstiftung
„Fremdverstehen“ („Empathie“) und Selbstreflexion, Angebot/Beitrag zur Identitätsbildung, Erfahrung radikaler „Alterität“
(v. Borries 2004a, 80)
Ferne von den „sekundären Systemen“, Zersplitterung, Auslieferung an Partikulares, Desinteresse bloß zukunftsbezogener Lernender Kognitive und emotionale Überforderung, Schwierigkeit von Mentalitätsgeschichte, Verunsicherung/Entfremdung statt Hilfe zur Selbstdefinition
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Eine weise „Nationalgeschichte“ (neuer Art) würde selbst die Wanderungsund Integrationsprozesse nachvollziehen müssen, in denen aus Clans, Bevölkerungen und Stämmen langsam eine „Staatsnation“ einschließlich kultureller, religiöser oder sprachlicher Minderheiten entstanden ist. Das gilt für die älteren Epochen – das Zusammenwachsen der „Deutschen“ vorwiegend aus „Kelten“, „Germanen“ und „Slawen“ – ebenso wie für die Zeitgeschichte. Im deutschen Fall ist es auf Dauer wohl untragbar, die Verdoppelung oder Verdreifachung des Sprachgebietes – wir reden noch nicht von Nationalstaaten! – zwischen dem Jahre 1000 und dem Jahre 1800 ebenso wegzulassen wie die radikale Reduzierung im 20. Jahrhundert. Die „Nahweltgeschichte“ – z.B. von Betroffenen, ihren Familien und Gruppen, u.U. auch der Herkunftsstaaten – besteht geradezu aus den Migrationsprozessen und ihren Folgen, nämlich der ökonomischen Eingliederung und mentalen Verarbeitung. Für den deutschen Fall bedeutet das nicht nur die Einwanderungswellen seit den sechziger Jahren, sondern vor allem auch die – in fast allen Familien (jedenfalls Klassen) auffindbare – Verwirbelung durch den und infolge des Nationalsozialismus. Im Übrigen ist die Erfahrung der Fremdheit und Minderheit in den letzten ein bis drei Generationen vergleichbar wichtig wie die Herkunft aus – angeblich oder wirklich – fremden kulturellen Traditionen. Die Zugewanderten dürfen nicht einfach als „Türken“ oder „Russen“ re-ethnisiert werden („Ethnisierungsfalle“, vgl. Alavi 1998). „Mentalitätsgeschichte“ von Identitätsbildungsprozessen gibt es zwar auf allen Ebenen (z.B. „Geschlechterrollen“, „Standesideale“, „Parteiprogramme“), aber das Zusammentreffen von verschiedenen Gruppen aufgrund von Wanderungsprozessen liefert besonders eindrückliche – und vorzüglich dokumentierte – Beispiele. Werden – angesichts der Nicht-Erwähnung auch absolut zentraler kultureller Selbstverständlichkeiten in den meisten historischen Quellen – doch regelhaft erst Kontakte und Konflikte zum Anlass der Thematisierung, Aufzeichnung und Wandlung. Es geht immer um die Frage „Wer sind eigentlich ‚wir‘, wer sind ‚die Anderen‘ und was unterscheidet uns – nüchtern betrachtet – wirklich?“ Was schließlich hat „Migration“ mit dem Ausprägungs- und Durchsetzungsprozess neuer Werte und Normen universalistischer Art zu tun, den man „Menschenrechtsgeschichte“ nennen kann? Jedenfalls muss man feststellen, dass zunächst – von den „weißen“, freien, männlichen, vermögenden „Erfindern“ des Konzeptes – durchaus nicht an „Neger“, Sklaven, Frauen, „wilde“ Indianer oder besitzlose Tagelöhner gedacht war. Der Widerspruch von „universalistischer“ Argumentation („Rationalität“) und „partikularistischen“ Privilegien, d.h. „Interessen“, erweist sich als eine der
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Hauptantriebskräfte dieser Entwicklung. Und das ist von Wanderungen („Sklavenhandel“, „Vertragsknechte“, „Einwanderungswellen“) kaum zu trennen.
3. Beispielhafte, brauchbare Thematisierungen Wenn die bisherigen Überlegungen richtig sind, können die neuen Fragen praktisch an alle alten Stoffe gestellt werden, was noch nicht bedeutet, dass es bei allen alten Stoffen bleiben soll oder muss. Aber einige Themen bieten sich geradezu an.
3.1. „Unerwünscht!“ – Frühe deutsche Auswanderer in Pennsylvanien Bekanntlich waren die Pennsylvanian-Dutch (keine Niederländer, sondern Deutsche!) zeitweilig eine sehr große Minderheit, so dass es zu erheblichen Konflikten mit der Mehrheit (den britischen Einwanderern, nicht den „Einheimischen“) kam, die aber friedlich bereinigt wurden (vgl. v. Borries 2004b, 304309). Benjamin Franklin hat ausführlich für den Gouverneur gegutachtet und dabei die damaligen Vorurteile und Stereotypen über die Deutschen mustergültig abgebildet. Merkwürdig ist allerdings, dass der große Aufklärer und Revolutionär die negativen Bewertungen und Befürchtungen auch noch teilt. Den Deutschen wird von den britischen Pennsylvaniern vorgeworfen: x Überfremdung (drohende Zweisprachigkeit, gar Majorisierung im eigenen Land), x Unterbietung auf dem Arbeitsmarkt (unfaire Konkurrenz), x Hässlichkeit (besonders der Frauen), x Frauenunterdrückung, x Kulturlosigkeit (Aberglaube, Unaufgeklärtheit, Rückständigkeit, Gewaltneigung), x Verslumung (Bedürfnislosigkeit und Sinken von Grundstückspreisen und Mieten). Es ist natürlich höchst ironisch – und verunsichernd –, praktisch alle die negativen Urteile nachzulesen, die heute über Einwanderer nach Deutschland, z.B. Türken oder Jugoslawen, geäußert werden. Es zeigt sich auch, dass tendenziell „rassistische“ Tiraden keineswegs an die Existenz von „Rassen“ oder auch nur auffälligen Körperunterschieden gebunden sind. Gerade die Tatsache, dass heute kein Mensch auf die Idee käme, Engländer und Deutsche zwei „Rassen“
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zuzuteilen oder die nationale Zuweisung nach dem Äußeren zu bewerkstelligen, macht das Beispiel so fruchtbar. Damals wurden offenbar – wie heute – die kulturellen Unterschiede in naturalen Kategorien ausgedrückt (vgl. Lévi-Strauss 1972). Die vorgeschlagenen Abhilfsmaßnahmen von 1753/55 haben heute etwas Komisches. Diskriminierende Sondergesetze und quantitative Einwanderungsbeschränkungen wurden wohl zu allen Zeiten favorisiert. Dass sie u.a. nicht zu wirken pflegen, weil sie nicht recht kontrolliert werden können (schwache Exekutive), und dass es neben ängstlichen Konkurrenten auch gewinnsüchtige Interessenten gibt, wird zu wenig beachtet. Eine geplante Prämie auf „Mischehen“ (Soziologen würden „Konubium“ sagen) hält Franklin für unwirksam – oder unbezahlbar –, weil die „plumpen“/“hässlichen“ deutschen Frauen für kultivierte Engländer und die „arbeitsunfähigen“/ „faulen“ Engländerinnen für fleißige, aufstiegsbewusste Deutsche unzumutbar wären. Erwartet wird also eine „freiwillige Segregation“. Übrigens muss man zugestehen, dass der Konflikt eben nicht verbrecherisch und einseitig auf Kosten der Einwanderer gelöst wurde. Dabei spielt es wohl doch eine gewisse Rolle, dass inzwischen „Aufklärung“ und „Menschenrechte“ erfunden worden waren, die man offenbar Europäern nicht mehr völlig verweigern konnte. Die Krise ging vorüber, die Deutschen erwiesen sich im Unabhängigkeitskrieg als loyal (gegen Indianer und gegen Briten) und integrationsfähig. Inzwischen haben sie sich zu der – wenigstens einer – Lieblingsminderheit der USA entwickelt und sind eigentlich nur noch folkloristisch und museal festzumachen. Eine eigene Nation ist nicht daraus geworden; die Sorgen vor Majorisierung und Überfremdung haben sich als übertrieben herausgestellt.
3.2. „Eingeladen!“ – Vorteile von Multikulturalität in Ungarn Das andere Beispiel wird bewusst aus den Fällen deutscher Auswanderung nach Osten und Südosten im Mittelalter gewählt (v. Borries 2004b, 286-292, 292296) – ausgehend von der Überzeugung, dass die Verdoppelung und Halbierung des deutschen Sprachgebietes (nicht „Volksbodens“!) nicht einfach umstandslos vergessen werden, sondern als verarbeitete – und teilweise schmerzliche – Erfahrung aufgehoben werden sollten. So bleibt auch bewusst, warum Kant in Königsberg, Kafka in Prag, Eichendorf in Schlesien und Lenau in Ungarn geboren sind – und großenteils gelebt haben (selbst Studierenden ist das heute oft nicht recht klar!). Der ungarische Fall bietet sich besonders an, x gerade weil er zur Zeit nicht in der öffentlichen Debatte ist, also auch keine Empfindlichkeiten auslöst,
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weil es dort – und das nicht nur in Siebenbürgen/Transsylvanien – nicht bloß um zwei Gemeinschaften, sondern ausdrücklich um eine Vielzahl (z.B. Madjaren, Deutsche, Slawen, Juden, Sinti...) ging, weil dort lange eine ausgesprochen positive Bewertung bestand, die allerdings später vielfach in bittere Feindschaft umschlug, weil sich bei näherer Betrachtung reichliche Beispiele für Gettoisierungstendenzen wie für Assimilationsprozesse finden lassen...
Ob die älteren Quellenzeugnisse (z.B. die Mahnungen an König Emmerich von ca. 1038) zur positiven Bewertung – ja ausdrücklichen Programmatik – der Multikulturalität und der Privilegierung von Fremden als echt oder als später gefälscht angesehen werden müssen, ist relativ gleichgültig. Ihre Fälschung – noch im Mittelalter! – hat/hätte vielmehr selbst eine sehr hohen Informationsund Quellenwert.
3.3. Geschichtslogische Sinnbildungsfiguren (nach Rüsen) am Beispiel „Odsun“ (1945/47) Es genügt nicht, Quellen – auch „multiperspektivische“ – auszuwerten und Zusammenhänge – auch „kontroverse“ – herzustellen, also Geschichten erzählen zu lernen. Es kommt ja gerade darauf an, nach dem ersten Fokus auf den „Vergangenheitspartikeln“ und dem zweiten, der „Kontextualisierung“, auch den dritten, die „Orientierungsangebote“ und „Folgerungszumutungen“, überhaupt wahrzunehmen und dann plural auszugestalten. Aus einem gemeinsamen, u.U. ja durchaus überblickbaren Bestand an Zeugnissen wird eben durchaus nicht nur eine Version von Geschichte geschrieben und nur eine Folgerung gezogen. Hier könnten – ja sollten – experimentell die verschiedenen Sinnbildungsfiguren des traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Umgangs mit Geschichte (im Sinne von Rüsen 1994) ausprobiert und eingeübt werden: Warum ziehen verschiedene Menschen aus den „gleichen“ Ereignissen/Prozessen (die allerdings verschieden erzählt werden, also verschiedene „Geschichten“ sind) abweichende oder gegensätzliche Schlüsse? Man denke etwa an die Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945 (besonders aus den böhmischen Randgebirgen) sowie ihre langfristige Integration in die west- und ostdeutschen Gesellschaften. Dieser Prozess kann recht verschieden gedeutet und in Identität eingebaut werden:
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Tab. 4: Geschichtslogische Sinnbildungsmuster (nach Rüsen) Bezeichnung
Logik der Sinnbildung
„Traditionale“ Sinnbildung
Die Erklärung und Legitimation einer bis heute verbindlichen Regelung aus ihrer Gründung/Stiftung Ein auf neue Situationen/Probleme übertragbarer Fall einer bleibenden Regel Die Zurückweisung einer zugemuteten Verpflichtung, einer vorgeschriebenen Fallsubsumption oder einer behaupteten Entwicklung Eine Kontinuität des Ablaufes – d.h. Dauer im Wandel – trotz sich bisher und künftig ändernder Regeln
„Exemplarische“ Sinnbildung „Kritische“ Sinnbildung
„Genetische“ Sinnbildung
Beispiel „Odsun“ aus Böhmen (1945/47) „Die Entstehung des vierten Stammes im heutigen Bayern“
„Eine vorbildliche Gesetzgebung zum ‚Lastenausgleich‘ für Entschädigung und Integration“ „Nie wieder ‚ethnische Säuberung‘! Aber Versöhnung statt Vergeltung!“
„Ein großer Mobilitäts- und Modernisierungsschub für die Bundesrepublik“
Traditionale Sinnbildung ist die alte Grundfigur historischen Denkens, nämlich die Setzung eines vergangenen Geschehens als auf Dauer gültig und handlungsprägend (d.h. als Stiftung und Legitimation einer anhaltend verbindlichen Norm): x „Die Nazis haben mit Besatzung und Vertreibung angefangen. Da die Deutschen dann den Krieg verloren haben, mussten sie ihre Rechnungen Posten für Posten bezahlen...“ x „Die Sudetendeutschen sind nach 1945 – statt der verlorenen Rheinpfälzer – der vierte bayerische Stamm geworden.“ x „Wir Tschechen wurden durch den ‚Odsun‘ endlich – und erstmalig – wirklich Herren im eigenen Haus. Recht hin, Unrecht her – das erst vollendet die Gründung unseres Staates!“ Exemplarische Sinnbildung besteht in der Einordnung des einzelnen geschichtlichen Phänomens als Abwandlung und Beispiel einer allgemeineren Erscheinung, die gewöhnlich nach gleichem Muster abläuft (d.h. als Fall einer übergreifenden Regel für Erfolg und Misserfolg, Klugheit und Dummheit, Bewährung und Versagen): x „Für die Vertriebenen und Flüchtlinge wurden nach 1945 vorbildliche Gesetze zum ‚Lastenausgleich‘ geschaffen und umgesetzt.“ x „Diese beispielhafte Integrationsleistung wurde leider von den Arabern (hinsichtlich der Palästinenser) und auf dem südasiatischen Subkontinent
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(zwischen Indien und Pakistan) nirgends nachgemacht.“ „Die Tschechen haben uns im ‚Sudetenland‘ vorgemacht, wie wir Serben mit den Albanern im Kosovo umgehen müssen. Wenn es erst einmal passiert ist, kräht kein Hahn mehr danach.“
Kritische Sinnbildung nennt man einen Protest gegen das Übliche, gegen die Konvention (d.h. eine Wendung gegen eine abzuschaffende missbräuchliche Folgerung oder einen historischen Fehlschluss): x „Nie wiede ‚ethnische Säuberung‘! Aber Versöhnung statt Vergeltung!“ x „Die ‚Stunde Null‘ und die ‚vorbildlich-faire Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen‘ waren doch eine einzige Legende und Lüge. Tatsächlich kriegte die Bundesrepublik nur billige und qualifizierte Arbeitskräfte mit Deutschkenntnissen.“ x „Irgendwann muss mit Rache und Gegenrache, Vergeltung und Wiedervergeltung Schluss sein. Der Klügere gibt nach.“ Genetische Sinnbildung versteht sich als Einsicht in eine Kontinuität trotz sich historisch verändernder Regeln des Verhaltens (d.h. die Anerkennung als wichtiger Zwischenschritt auf einem langen und noch in die Zukunft hinein fortzusetzenden Weg): x „Die Vertriebenen bedeuteten einen großen Mobilitäts- und Modernisierungsschub für die Bundesrepublik.“ x „Der ‚Odsun‘ war Langfristfolge der Volkstumskämpfe des 19. Jahrhunderts (z.B. zwischen Griechenland und der Türkei) und Kurzfristfolge der NS-Vernichtungspolitik (z.B. ‚Generalplan Ost‘). Er steht aber auch, indem man sich in den post-jugoslawischen Kriegen nicht mehr auf ihn berufen durfte, am Übergang zu einem völkerrechtlichen Verbot des Genozid in der Form von Vertreibung/Deportation.“ x „Eine wirkliche Vergebung und Versöhnung kann erst erfolgen, wenn alle Beteiligten gemeinsam in einem ‚Zentrum gegen Vertreibungen‘ an diese moralische und menschliche Katastrophe erinnern und deren Wiederholbarkeit ausschließen.“ Es wird deutlich, dass es auf den gleichen Ebenen inhaltlich durchaus abweichende, ja gegensätzliche Sinnbildungen – auch politisch akzeptable und unakzeptable – gibt und auch an diese Orientierungen Kriterien der Triftigkeit (vgl. Rüsen 1983, 90-116) angelegt werden müssen. Dabei sind die Entscheidungen großenteils mehr theorie- und normenabhängig als durch abweichende Feststellungen von „Fakten“ verursacht.
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4. Stand der Einführung und Umsetzung 4.1. Verfügbare Vorarbeiten und Materialien Wie gezeigt, ist die Geschichtsdidaktik nicht untätig geblieben. In der „Migrationsfrage“ stehen wir keineswegs am Anfang. Experten werden bemerkt haben, dass manche der vorgestellten Beispiele trivial und andere bereits Praxis sind. Kolleg(inn)en (Demandt 1995, Pellens 1998, Erdmann 1999, Schreiber 2001, Körber 2001) haben eine Reihe von einschlägigen Sammelbänden vorgelegt, die allerdings nur selten Theoriebildung, geschichtswissenschaftliche Empirie und unterrichtliche Praxis miteinander zu verbinden suchen (so Körber 2001). Dafür muss man zusätzlich die Praxiszeitschriften (besonders „Praxis Geschichte“ und „Geschichte lernen“) heranziehen, die nicht nur eigene Themenhefte zur „Migration“ herausgebracht haben, sondern auch in zahlreichen anderen Heften einzelne brauchbare Beiträge abdrucken. Nicht zuletzt muss betont werden, dass das Thema „Migration“ sich durchaus für projekthafte Arbeit eignet. Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten hat nicht zufällig im Verlauf der Jahrzehnte das Rahmenthema schon zweimal – jeweils mit großem Erfolg – gestellt: „Unser Ort – Heimat für Fremde?“ (1988/89) und „Migration. Weggehen und ankommen“ (2002/03). Dazu gab es je zwei Hefte von „Spuren suchen“ (Nr. 2 [1988], Nr. 3 [1989], Nr. 16 [2002], Nr. 17 [2003]), zuletzt auch eine Sammlung von Unterrichtsideen („Weggehen – ankommen“ 2002). Natürlich darf man diesen Elitewettbewerb, an dem – regional und einzelschulisch sehr unterschiedlich – nur ein paar Promille der Altersjahrgänge teilnehmen, nicht einfach auf alle Lernenden hochrechnen. Es ist aber unverkennbar, dass „forschendes Lernen“ hier möglich und motivierend ist. Solange – wie empirisch nachweisbar (vgl. v. Borries u.a. 1995, 1999) – „Projekte“ im Fach Geschichte zwar die Theoriebücher und Ratgeberliteratur füllen, aber im Unterrichtsalltag über eine Außenseiterstellung nicht hinauskommen, kann man die Durchsetzung besser an Schulbüchern als an „FeiertagsDidaktiken“ überprüfen. Tatsächlich sind „Fallstudien“ zu Migrationen ebenso wie „Längsschnitte“ dazu keine Seltenheit mehr, zumal die Thematisierung sich – wie erwähnt – durchaus an altbewährte Stoffe, z.B. „Ostsiedlung“, „Industrialisierung (‚Ruhrpolen‘)“ oder „USA – Die wandernde Grenze“, anhängen kann. Solche Themen sind durchaus richtlinienkonform. Denn einzelne Bundesländer haben „Migration“ (u.U. auch ein Migrationsbeispiel) ausdrücklich in ihre Kanones aufgenommen oder jedenfalls unter den Kategorien und Kriterien genannt, nach denen die Auswahl erfolgen soll.
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4.2. Erkennbare Akzeptanz und Motivation Soweit bekannt, gibt es keine speziellen Informationen über die Reaktionen von Jugendlichen auf das Thema „historische Migrationen“. Natürlich lassen sich allgemeinere Studien auf die Frage hin auslegen, geradezu extrapolieren. Nachweislich ist, dass nicht nur bei den „Kleinen“ der 6. Klassenstufe, sondern auch noch bei den „Großen“ der 12. Klassenstufe abenteuerliche Stoffe eine besondere Vorliebe bilden. „Ausgrabungen früher Kulturen“ und „Entdecker“ werden bevorzugt, daneben die „Geschichte der eigenen Familie“ (vgl. v. Borries u.a. 1995, 97ff., 1999, 45ff.). Die Lehrer(innen) haben von diesen Präferenzen der Lernenden leider keine genaue Vorstellung. Sie unterschätzen völlig den Wunsch nach Spannung und Konkretheit und überschätzen bei weitem die „Reifung“ der Motivation im Verlauf des Heranwachsens (vgl. v. Borries u.a. 1995, 316ff., 1999, 47ff.). Das Migrationsthema hat – in diesem Sinne – relativ gute Karten, etwa im Vergleich mit Staatsform, internationalem System oder Wirtschaftsentwicklung, auch allen Abstraktionen und Systembildungen. Wo es natürlich überhaupt keine Bereitschaft gibt, mit Geschichte umzugehen, wo die Orientierungsfunktion wie die Unterhaltungsfunktion niemals entdeckt worden sind, weil ein verdinglichter Geschichtsbegriff („die wichtigsten Fakten“) im Wege stand, da sind Hopfen und Malz verloren. Aber das ist ein anderes, hier nicht zu erörterndes Problem. Die Vorteile des Migrationsthemas liegen auf der Hand: x Es geht – vor allem in den älteren Fällen – um spannende, abenteuerliche Prozesse, bei denen durchaus Imagination und Fiktion eine Rolle spielen können. Fantasie und Fernweh der „Kleinen“, auch ihr neugieriger Tatsachenhunger, ihre Sammelleidenschaft für Fremdes und Seltenes („Raritäten“), lassen sich perfekt bedienen, ja instrumentalisieren, müssen aber nicht missbraucht werden. x Migrationsthemen lassen sich an konkreten Individuen, Personen, Familien, Nachbarschaften, Dörfern aufzeigen, so dass lebende Menschen vorkommen können, mit denen man sich identifizieren, an denen man wenigstens Empathie üben kann. Lähmender Abstraktion kann man leicht ausweichen. x Im lebensweltlich zugänglichen und interessanten Nahbereich hat Migration stattgefunden. Mit den eigenen Familiengeschichten – wie erwähnt, nachweislich besonders motivierend – fängt es an. Wenn in einer Klasse die Geburtsorte der Großeltern und Urgroßeltern an einer Weltkarte mit Fähnchen ausgesteckt werden, dürfte meist bereits die ganze Erdkugel umspannt sein. x Übrigens lassen sich auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – das macht den Begriff „Geschichte“ aus – ziemlich leicht verknüpfen. Viele Ju-
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gendliche werden ja – ängstlich oder hoffnungsvoll – selbst mit eigener Migration, nicht notwendig als dauernde Ein- und Auswanderung, aber jedenfalls als Ausbildungs- und Arbeitsmigration, rechnen. Da gibt es doch kaum noch eine gymnasiale Oberstufenklasse ohne zwei oder drei Lernende mit einem Jahr Auslandserfahrung.
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Dirk Lange
Historisch-politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft. Lernen aus der Migrationsgeschichte1
Das 20. Jahrhundert gilt als ein Jahrhundert der Migration (vgl. Castles/Miller 1993). Allein in der deutschen Geschichte lassen sich vielfältige Belege für diese Aussage finden. Die Bevölkerungsverschiebungen in und nach den beiden Weltkriegen, die Emigration politisch und rassistisch Verfolgter während des Nationalsozialismus, die „West-Flucht“ während der Systemkonfrontation, und die Arbeitsmigration seit den fünfziger Jahren sind nur einige Wegmarken, die anzeigen, dass Flucht, Vertreibung, Umsiedlung und Wanderung herausragende Phänomene der jüngeren Geschichte darstellen. Sowohl die Menge der mobilisierten Menschen als auch die staatlichen Versuche, deren Bewegungen zu kontrollieren und zu regulieren, lassen Migration als zentrales Merkmal des vergangenen Jahrhunderts und der vergangenen Jahrhunderte erscheinen. Migration ist daher ein Grundbestandteil der menschlichen Geschichte (vgl. Han 2005, 1). Aber schon heute ist sichtbar, dass Wanderungen nicht nur ein historisches Phänomen darstellen. Sie werden (ob erwünscht oder nicht) auch die Prozesse und Strukturen der modernen Gesellschaften des 21. Jahrhundert prägen (vgl. Treibel 2003, 11ff.).
Was ist Migration? Als Migration lassen sich alle Bewegungen von Menschen begreifen, die den Lebensmittelpunkt in eine andere Umgebung verlagern (vgl. Angenendt 1997, 9). Um Missverständnisse zu vermeiden ist es sinnvoll, den Migrationsbegriff von der touristischen und saisonalen Verlagerung des Lebensmittelpunktes abzugrenzen. Denn diese Formen räumlicher Mobilität unterliegen von vornher-
1 Der Beitrag basiert auf: Dirk Lange, Migrationsgeschichte lernen. Zur Einführung in ein Problemfeld der historisch-politischen Didaktik, in: Praxis Geschichte Jg. 16, H. 4/2003, 4-10.
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ein einer zeitlichen Begrenzung. Von Migration sollte erst dann gesprochen, wenn eine Dauerhaftigkeit zu erkennen ist. Das heißt nicht, dass die Wanderung unumkehrbar sein muss. Im Gegenteil: In den Lebensplanungen von Auswanderern spielt die Möglichkeit der Remigration in die Heimat eine große Rolle. Die erste Migrationsphase ist in der Regel von der Hoffnung getragen, dass sich die gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen wandeln und so eine Rückkehr möglich wird. Erst mit der schrittweisen Integration in die Aufnahmegesellschaft schwindet die Rückkehrerwartung und verstetigt sich die Trennung. Die Migrationsgeschichte der „Russland-Deutschen“ zeigt, dass die Rückkehroption selbst nach Jahrzehnten räumlicher und kultureller Trennung bedeutsam werden kann. Das Verlassen der vertrauten Lebenswelt ist höchst unterschiedlich motiviert. Historisch lassen sich jedoch zwei Grundmotive erkennen. Entweder wird versucht, unbefriedigenden und bedrohlichen Existenzbedingungen zu entkommen, oder es wird beabsichtigt, sich besseren und verheißungsvolleren Lebensverhältnissen zuzuwenden. Menschen werden „angelockt und fortgetrieben“ (Pandel 1998). In der Migrationsforschung werden diese motivationalen Ausgangslagen als Schubfaktoren, die am Abwanderungsort wirksam sind, und als Sogfaktoren, die vom Aufnahmeort ausgehen, angesprochen. In einer konkreten Lebensentscheidung zur Migration werden diese „Push- und Pullfaktoren“ mit Argumenten abgewogen, die gegen eine Abwanderung sprechen. Das ist in der Regel ein höchst diffiziler Prozess, der keine schnellen und eindeutigen Entscheidungen zulässt. Eine Entscheidung zur dauerhaften Wohnsitzverlagerung bewegt sich zudem zwischen den Polen von Freiwilligkeit und Zwang. Migrationen lassen sich danach unterscheiden, ob sie über einen eher selbstbestimmten oder eher gewaltsamen Charakter verfügen. Arbeitsplatzwechsel und Familiennachzug wird ebenso erfasst wie Vertreibung und Deportation. Diese begriffliche Offenheit eröffnet unterschiedlichste historische Sinnbildung zu den Wanderungsbewegungen. Der Beitrag geht der Frage nach, ob und wie das Lernen aus der Migrationsgeschichte einen kompetenten Umgang mit Problemlagen der heutigen Einwanderungsgesellschaft befördern kann. Welche spezifischen Erkenntnischancen eröffnet das Lernen aus der Migrationsgeschichte? Im Mittelpunkt steht die Frage nach den sinnvollen Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten, die durch die Auseinandersetzung mit historischen Wanderungen aufgezeigt werden können.
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Von der Chronologie zur Problemorientierung Der alltägliche Geschichtsunterricht führt die Schülerinnen und Schüler noch immer auf der „staubigen Straße der Chronologie“ (Koselleck) in die Vergangenheit. Im Laufe eines solchen Durchgangs durch die Geschichte werden Themen der Wanderung, Flucht und Vertreibung in den unterschiedlichsten Epochen angesprochen. Die Unterrichtseinheiten zur „griechischen Kolonisation“, zur „Völkerwanderung“, zu den „Glaubensflüchtlingen in der Neuzeit“ oder zu den „Zwangsumsiedlungen nach dem 2. Weltkrieg“ behandeln das Thema jedoch meist nur im Kontext der jeweiligen Epoche und verzichten auf eine gegenwartsbezogene Reflexion. Aus Sicht einer historisch-politischen Didaktik der Migration ist diese beiläufige Form der Beschäftigung mit dem Thema unbefriedigend (vgl. Lange 2007). Denn für einen problemorientierten Zugriff wird die Vergangenheit dadurch lernrelevant, dass sie zum Verständnis und zur Bewältigung eines gegenwärtigen Phänomens beiträgt. Worin liegt aber die Gegenwartsbedeutung der Migrationsthematik? Bevölkerungswanderungen nach Deutschland und Europa werden höchst unterschiedlich beurteilt. In den aktuellen öffentlichen Debatten kommen Ängste und Hoffnungen zugleich zum Ausdruck. Die Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern wird als Wohlstandsbedrohung (angesichts eines enger werdenden Arbeitsmarkts) wie als Wohlstandsgarant (angesichts unsicher werdender Sozialsysteme) gedeutet. Mal werden die möglichen Neubürger als Störfaktoren einer nationalen Leitkultur, mal als Hoffnungsträger einer transnationalen Multikultur wahrgenommen. Mal wird eine „Flut“ von Immigrationswilligen befürchtet, mal wird die Einreise ausländischer Spezialisten befördert. Die Widersprüchlichkeit der Prognosen und Deutungen zeigt, dass es sich bei dem Thema „Migration“ um ein vielschichtiges und offenes Problemfeld handelt. Es ist politisch und gesellschaftlich umstritten, wie gegenwärtig und zukünftig auf Migrationen reagiert werden soll. Ganz fraglos werden migrationsbezogene Fragestellungen auch in Zukunft politische Kontroversen hervorrufen.
Sinnbildungsformen migrationgeschichtlichen Lernens Wie können nun „historische Erfahrungen und aktuelle Probleme“ (Bade 2001, 5) so vermittelt werden, dass Lernenden Orientierung und Handlungsfähigkeit erschlossen wird? Welche Möglichkeiten bietet das Problemfeld Migration um Vergangenheit und Gegenwart in einen Sinnzusammenhang zu bringen? Migrationsgeschichtliches Lernen kann auf verschiedenen Wegen stattfinden. Mit der zirkulären, linearen und punktuellen Sinnbildung können drei Formen unter-
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schieden werden, in denen zeitdifferente Migrationserfahrungen aufeinander bezogen werden (vgl. Lange 2005). Migrationsgeschichte dient dabei entweder - als Repräsentant eines überzeitlichen Grundphänomens, - als Vorgeschichte der Gegenwart oder - als Analogie eines gegenwärtigen Problems.
Migration als Repräsentant eines überzeitlichen Grundphänomens Im ersten Fall setzt migrationsgeschichtliches Lernen an dem Umstand an, dass es zu allen Zeiten Formen der Wanderung gegeben hat. Demnach stellt die geographische Mobilität keinen Spezialfall irgendeiner Epoche, sondern eine geschichtliche Konstante dar. In dieser zirkulären Variante historisch-politischen Lernens interessiert nicht die einzelne Migration in der Vergangenheit. Vielmehr werden eine oder mehrere historische Wanderungen genutzt, um aus ihnen eine allgemeine Lehre zu entwickeln. Die Migrationen verschiedenster Zeiten werden vergegenwärtigt, um sie als Repräsentanten eines wiederkehrenden Grundphänomens menschlicher Existenz zu erinnern. Welche grundlegenden Einsichten können durch die Beschäftigung mit Migration gewonnen werden? Die soziologische Begriffsbestimmung verbietet eine normative Aufladung von Migrationen. Allein das Vorhandensein einer geographischen Beweglichkeit von Menschen erlaubt noch keine Rückschlüsse auf die Anerkennungswürdigkeit der Lernchancen. Aus der Migrationsgeschichte lässt sich vieles lernen. Es finden sich historische Beispiele dafür, dass Flüchtlinge Opfer ungerechter Verhältnisse waren, aber auch dafür, dass Migranten handelnde Akteure und Triebkräfte in Modernisierungsprozessen waren. Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung lässt sich ebenso als überzeitliches Grundphänomen darstellen wie die Erfahrung von Solidarität und Toleranz. Welche migrationsgeschichtlichen Lernziele lassen sich also legitimieren? Durch migrationsgeschichtliches Lernen kann sichtbar gemacht werden, dass Wanderungen eine Grundkonstante menschlicher Existenz darstellen. Seit jeher befindet sich die Menschheit in Bewegung. Aus der Erkenntnis, dass sich die migrationsbedingenden Faktoren über die Jahrtausende kaum gewandelt haben, kann die Einsicht gewonnen werden, dass sie auch zukünftige Wanderungen verursachen werden. So kann durch die historische Betrachtung ein grundlegendes Verständnis dafür entwickeln werden, dass Menschen ihr Zuhause verlassen und sich andernorts niederlassen. Dieser Zugang entdramatisiert gegenwärtige und zukünftige Einwanderungen und macht Migration als eine legitime Form der Lebensgestaltung sichtbar (vgl. Pellens 1998).
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Indem die historische Normalität von Migrationen erkannt wird, können auf Lernendenseite Ängste vor dem „Fremden“ abgebaut werden. (vgl. Erdmann 1999) Aus der Geschichte von Migrationen lässt sich erlernen, dass das „Eigene“ und das „Fremde“ historisch geworden ist und einem permanenten Wandel unterliegt (vgl. Bielefeld 1992). So wird Fremdheitserfahrung nicht nur als Bedrohung, sondern als Befruchtung der eigenen historischen Identität kenntlich. Auch von Schülerinnen und Schülern wird erlebte Unzufriedenheit dadurch kompensiert, dass Fremde für sie verantwortlich gemacht werden. Das stereotype Muster funktioniert, indem Flüchtlinge, Asylsuchende oder andere Einwanderergruppen in eine „Sündenbockfunktion“ geschoben werden. Verdrängt werden hierbei die nachvollziehbaren Motive der Menschen. Die historische Beschäftigung mit Migration kann den Schülerinnen und Schülern einen Perspektivenwechsel ermöglichen. Das Verständnis für die Situation von Flüchtlingen kann der Akzeptanz von rassistischen Erklärungsmustern entgegenwirken. So kann die Beschäftigung mit historischen Migrationserfahrungen einen Beitrag zum Demokratie-Lernen leisten. Betrachtet man die Reaktionen der Aufnahmegesellschaft, zählen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu den wiederkehrenden Folgeerscheinungen von Migrationen. Sie stellen aber keine anthropologische Gegebenheit dar. Vielmehr zeigt die Geschichte der Migration auch, dass Toleranz, Anerkennung und Solidarität als Prinzipien menschlichen Zusammenlebens wirksam waren. So findet eine an den Menschenrechten ausgerichtete Flüchtlingspolitik ihre Legitimation in den historischen Erfahrungen mit Migranten.
Migration als Vorgeschichte der Gegenwart Die zweite Form migrationsgeschichtlichen Lernens beschäftigt sich mit historischen Wanderungen, insofern diese die Entstehung der Gegenwart verständlich machen können. Dabei entsteht der Erkenntnisgewinn dadurch, dass gegenwärtige Bedingungen linear mit historischen Migrationen verknüpft werden. So erklärt vergangenes Wanderungsgeschehen die Entwicklung und den Zustand heutiger Gesellschaften. Migrationen, als Vorgeschichte der Gegenwart, können aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. In der einen Blickrichtung stellt eine Familie, ein Dorf, eine Region oder eine Gesellschaft in der Vergangenheit den Ausgangspunkt des Forschens dar. Von einem historischen Ausgangspunkt aus wird untersucht, welche Emigrationserfahrungen die Mitglieder der Gruppen gemacht haben. So entsteht für die Gegenwart eine Streuung, die in der Vergangenheit einen gemeinsamen Ursprung hat.
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114 Abb.1: Vergangenheit
Gegenwart Migration
Die deutsche Russland- und Amerikaauswanderung, die Wege von NSFlüchtlingen und -Emigranten aber auch die Umsiedlungen und Vertreibungen aus den ehemaligen ostdeutschen Gebieten sind klassische Themen dieser Diasporaforschung. In der anderen Perspektive richtet sich das Interesse auf soziale Gruppierungen der Gegenwart. Es wird gefragt, welche historischen Migrationen zur Entstehung gegenwärtiger sozialer Formationen beigetragen haben. Scheinbar homogene Gemeinschaften können so ihres „Naturcharakters“ entkleidet und als (vorübergehende) Produkte von Wanderungsbewegungen kenntlich gemacht werden. Abb.2: Vergangenheit
Gegenwart Migration
Dieser Perspektive gewinnt für eine Einwanderungsgesellschaft an Bedeutung. Kulturelle gesellschaftliche Vielfalt als eine Folge von Migrationen drückt sich
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auch in den Lerngruppen der Schule aus. Durch migrationsgeschichtliches Lernen lassen sich die verstreuten „Wurzeln“ von sozialen Gruppen und Gesellschaften rekonstruieren. Migration ist für Schülerinnen und Schüler kein abstraktes Themengebiet, sondern Bestandteil ihrer alltäglichen Lebenswelt. In der Familie, der Schule oder dem Wohnumfeld haben sie bereits Erfahrungen mit Fragen der Flucht, Vertreibung und Einwanderung gesammelt. Historisch-politisches Lernen kann an diese Vorerfahrungen anknüpfen und die Migrationsgeschichte der eigenen Lebenswelt erforschen. In Anbetracht einer modernisierten Staatsbürgerschaftsverständnisses muss sich die deutsche Geschichtsschreibung dafür migrationsgeschichtlich erweitern. Deutsche Identitäts- und Nationenbildung kann dabei nicht „völkisch“ rekonstruiert werden, sondern muss im Sinne eines rationalen und republikanischen Nationenverständnisses die Geschichte der tatsächlich hier lebenden in den Blick nehmen. Hierfür müssen die Prozesse und Strukturen der Immigration sowie die Erfahrungen der Neubürger in das kollektive Geschichtsbewusstsein integriert werden. Ein Blick in aktuelle Schulbücher lässt vermuten, dass die diesbezügliche Geschichtsdarstellung im Unterricht noch immer erhebliche Defizite besitzt. Für die historisch-politische Didaktik stellt es eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre dar, die interkulturellen Aspekte unserer Gegenwartsgesellschaft auch in der historischen Selbstvergewisserung zu verankern (vgl. Alavi 1998; Alavi/Borries 2000; Körber 2001).
Migration als Analogie eines gegenwärtigen Problems Die dritte Grundform migrationsgeschichtlichen Lernens greift Erfahrungen der Vergangenheit punktuell auf, um sie mit gegenwärtigen Problemstellungen zu vergleichen. Es werden historische Analogien zur aktuellen gesellschaftlichen Situation gesucht. Historische Analogien können einer gegenwärtigen Problemanalyse neue Facetten hinzufügen, indem Handlungsalternativen beziehungsweise -restriktionen am historischen Fall exemplarisch verdeutlicht werden. Bei dieser Form der historischen Sinnbildung geht es um die Frage, wie unser aktuelles Denken und Handeln durch Vergangenheitsbezüge aspekthaft erweitert werden kann. Dabei lassen sich vergangene Problembewältigungen und -bedingungen niemals eins zu eins auf die Gegenwart oder Zukunft übertragen. Der diachrone Vergleich darf nicht mit der historischen Gleichsetzung verwechselt werden. Um Gleichsetzungen zu vermeiden, sollten historische Analogien immer kriteriengeleitet entwickelt werden. Wie Kriterien für einen
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methodisch kontrollierten Vergleich gewonnen werden können, wird im Folgenden am Beispiel von Migrationsursachen und Migrationsfolgen dargestellt. Migrationsursachen Am Beispiel jeder historischen Migration kann die Frage untersucht werden, was Menschen veranlasst, ihre Wohnsitze dauerhaft zu verlassen. Unabhängig von der historischen Epoche lassen sich Ursachen von Migrationen systematisch strukturieren. Zunächst ist zwischen ökologischen und gesellschaftlichen Faktoren zu unterscheiden. In ökologischer Hinsicht können Wandlungen in der natürlichen Umwelt des Menschen eine Migrationsentscheidung hervorrufen. Langsame Änderungen (Versteppungen, Klimaänderungen u.ä.) aber auch plötzliche Einschnitte (Unwetter, Brände, Überschwemmungen u.ä.) erschweren dann Lebensmöglichkeiten in einer Region und verursachen Wanderungen. Die gesellschaftlichen Ursachenfaktoren entstammen der sozialen und nicht mehr der natürlichen Umwelt (auch wenn bedacht werden muss, dass der Wandel der natürlichen Lebensgrundlagen immer stärker durch menschliche Einflussnahme bedingt wird). Inhaltlich können die gesellschaftlichen Ursachen von Wanderungsbewegungen in politische, ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte gegliedert werden: x Politische Faktoren liegen vor, wenn ungerechte Herrschaftsverhältnisse Menschen zur Auswanderung bewegen. Verfolgungen, Einschränkungen der Meinungsfreiheit, Menschenrechtsverletzungen oder Organisationsverbote zwingen Menschen in das politische Exil. Nicht nur die politische Unterdrückung in Tyranneien und Diktaturen, auch die Bedingungen im potenziellen Aufnahmeland spielen eine Rolle. Die Gewährung von politischem Asyl, liberale Gesetzgebungen, aber auch politische Ideologien stellen Anreizfaktoren im Einwanderungsland dar. x In ökonomischer Hinsicht werden Wanderungen durch Armut, Arbeitslosigkeit und materielle Verschlechterungen verursacht. Eine wirtschaftliche motivierte Migration kann durch Verelendungstendenzen erzwungen sein. In der Regel spielen aber auch Sogfaktoren eine Rolle, die im Zielland Einkommen, Wohlstand und eine Verbesserung der Lebenslage versprechen. x Andere Ursachen liegen vor, wenn dass Verlassen des Wohnsitzes durch einen Wandel der Sozialstruktur bedingt wird. Demographische Veränderungen in der Folge eines rapiden Bevölkerungswachstums oder einer sinkenden Sterberate sind soziale Faktoren, die eine Migrationsentscheidung hervorrufen können. Die Erosion von traditionellen Sozialstrukturen im Ausreiseland und die Erwartung einer besseren beziehungsweise anderen sozialen Integration in der Aufnahmeregion stellt dabei das Hauptmotiv für
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die Ausreise dar. Zu dem sozialen Ursachenbereich sind auch diejenigen Wanderungen zu zählen, die auf die Zusammenführung von Familien oder auf die Verbesserung der Statuszugehörigkeit abzielen. Einen weiteren Komplex stellen Wanderungen, die durch soziale Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis verursacht werden. x Zu den wichtigsten kulturellen Migrationsursachen zählt die Verfolgung und Unterdrückung auf Grund religiöser Überzeugungen. Glaubensflüchtlinge kennt die Geschichte zu allen Zeiten. Sie setzen sich in Bewegung, wenn sie ihre Vorstellungen nicht mehr äußern, ihre Symbole nicht mehr zeigen oder ihre Rituale nicht mehr praktizieren dürfen. Neben dem Leidensdruck wird eine kulturelle Migration durch die Erwartung und das Versprechen religiöser Freiheit im Zielland motiviert. Abenteuerlust, Neugier und die Suche nach kultureller Identität sind weiter Faktoren kulturell verursachter Migration. Die Ursachen von Migrationen können als Druck im Ausreiseland und als Anreiz im Aufnahmeland wirksam werden. Wanderungsbewegungen lassen sich in der Regel nicht nur einem Ursachenbereich zuordnen. Was Menschen zum Verlassen ihrer Wohnsitze motiviert, stellt meistens Ursachenbündel aus mehreren Faktoren dar. Die Gründe variieren dabei zwischen den Polen der Freiwilligkeit und des Zwangs. Migrationsfolgen Auch die Folgen, die Migrationen in den Aufnahmeländern mitbringen, lassen sich systematisieren. Die migrationsbedingte Neuformierung der Gesellschaft kann sehr unterschiedlich aussehen. Mit der Segregation, Diskrimination, Integration und Assimilation lassen sich vier Formen unterscheiden, in denen Einheimische und Einwanderer zusammenleben. x Die Segregation bezeichnet eine gesellschaftliche Struktur, in der die Einwanderer eindeutig von den Einheimischen getrennt leben. Die Migranten tradieren dabei ihre Gebräuche, ihre Lebensweise und ihre Sprache in der neuen Heimat. Dadurch bilden sie eine parallele Gesellschaftsstruktur aus. Diese Entwicklung kann einerseits durch Ausgrenzungen Aufnahmegesellschaft bedingt sein. Sie kann aber auch der Versuch von Immigranten sein, sich durch Selbstgettoisierung die eigene Identität zu bewahren. x Bei der gesellschaftlichen Diskrimination schwächt sich die Ausgrenzung zur Abgrenzung ab. Diese drückt sich aus, wenn Einwanderer als Minderheit diskriminiert werden und ihnen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe verwehrt werden. Sie liegt aber auch dann vor, wenn sich Immigranten gegenüber Integrationsangeboten verschließen und sich eine kulturelle Eigenständigkeit bewahren.
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In der Regel gehen gesellschaftliche Abgrenzungen mit Inklusionsprozessen einher. In der Schule, am Arbeitsplatz oder im Wohnumfeld findet dabei ein schrittweiser Einschluss der Neubürger in die Aufnahmegesellschaft statt. Die Integration bezeichnet die Verbindungsstellen, die zwischen Einwanderern und Einheimischen entstehen. x Erst mit der Assimilation lösen sich aber die beiden separaten Gesellschaften auf. Dabei wird eine gemeinsame Identität gebildet. Diese kann auf einer Verleugnung der Migrationserfahrungen basieren. In der Regel jedoch, gibt die Minderheitskultur ihre Identität nicht einfach auf, sondern bringt ihre Erfahrungen in den gesellschaftlichen Schmelzprozess ein. Migrationen bringen für die Aufnahmegesellschaften eine Vielzahl von Problemen und Ängsten mit sich. Ihre Folgen sind aber nicht nur negativer Art. Denn Einwanderer sind zugleich Träger von Innovationen und Entwicklungsprozessen. Beim historisch-politischen Lernen können Migrationen der Vergangenheit als Analogien für gegenwärtige Problemlage genutzt werden. Dabei kann aus punktuellen historischen Beispielen gelernt werden, ohne dass lineare Bezüge zur Gegenwart hergestellt werden. Wichtig ist aber, dass die Methoden des historischen Vergleichens durch Kriterien geleitet wird, wie sie hier beispielhaft für die Ursachen und die Folgen von Migrationen entwickelt wurden.
Fazit Die Relevanz des Lernens aus der Migrationsgeschichte wird deutlich, wenn man sich einige wichtige gesellschaftliche Problemfelder der letzten Jahre vergegenwärtigt. In den Diskussionen und Auseinandersetzungen um die Reduzierung des Grundrechts auf Asyl, den Anstieg des rechtsextremistischen Einstellungs- und Verhaltenspotenzials, die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft oder die Höhe des zukünftigen Einwanderungsbedarfs wurden immer auch Migrationsfolgen mit verhandelt. Aber nicht nur im nationalen, auch im europäischen und globalen Kontext zählen migrationsbedingte Problemstellungen zu den großen gesellschaftlichen Gestaltungsaufgaben. Bei all diesen Debatten wird die Zukunftsbedeutung der Migrationsproblematik ersichtlich. Der Umgang mit Migration (in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen) wird in den nächsten Jahrzehnten ein zentrales Problemfeld der Weltgesellschaft darstellen. Bei der Bewältigung der dabei entstehenden Fragestellungen und Problemlagen wird entscheidend sein, wie antihumanistische und totalitäre Deutungs- und Lösungsmuster zurückgedrängt und ein an den Prinzipien der Menschenrechte orientiertes Handeln befördert werden
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können. Lernen aus der Migrationsgeschichte soll die Fähigkeit anbahnen, in diesem zentralen zukünftigen Problemfeld sozial und politisch zu partizipieren.
Literatur Alavi, Bettina: Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft. Eine fachdidaktische Studie zur Modifikation des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen, Frankfurt a.M., 1998 Alavi, Bettina/Bodo v. Borries: Geschichte, in: Hans H. Reich/Alfred Holzbrecher/Hans Joachim Roth (Hrsg.), Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch, Opladen 2000, 55-91. Angenendt, Steffen: Zur Einführung, in: Ders. (Hg.), Migration und Flucht. Aufgaben und Strategien für Deutschland, Europa und die internationale Gemeinschaft, Bonn 1997 Bade, Klaus J.: Historische Erfahrungen und aktuelle Probleme, in: Migration in Europa, hrsg. v. d. Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 2001, 5-19 Bielefeld, Uli (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg 1991 Castles, Stephen/Miller, Mark J.: The Age of Migration. International Population Movements in the modern World, London 1993 Erdmann, Elisabeth (Hrsg.): Verständnis wecken für das Fremde. Möglichkeiten des Geschichtsunterrichts, Schwalbach/Ts. 1999 Han, Petrus: Theorien zur internationalen Migration, Stuttgart 2005 Körber, Andreas (Hrsg.): Interkulturelles Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung, Münster 2001 Lange, Dirk: Migrationsgeschichte lernen. Zur Einführung in ein Problemfeld der historischpolitischen Didaktik, in: Praxis Geschichte Jg. 16, H. 4/2003, 4-10 Lange, Dirk: Politikgeschichtliches und geschichtspolitisches Lernen. Die Grundformen historischpolitischer Sinnbildung, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik Jg. 33, H. 1/2 2005, S. 20-28 Lange, Dirk: Historisches Lernen, in: Volker Reinhardt (Hrsg.), Inhaltsfelder der Politischen Bildung (Basiswissen Politische Bildung Bd.) , Baltmannsweiler 2007, S. 103-110 Pandel, Hans-Jürgen (Hrsg.): Angelockt und fortgetrieben. Migration in der Neuzeit, in: Geschichte aus erster Hand, Jg. 1, H. 3/1998 Pellens, Karl (Hrsg.): Migration. Lernchancen für den historisch-politischen Unterricht, Schwalbach/Ts. 1998 Treibel, Annette: Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht. 3. Aufl., Weinheim und München 2003
Antonius Holtmann
Die Ideale der Aufklärung als historischer Ausgangspunkt für eine europäische Bürgerschaftsbildung
„Man muss keine Jugendfehler ins Alter hineinnehmen; denn das Alter führt seine eigenen Mängel mit sich“. So zitiert Johann Peter Eckermann den 75jährigen Johann Wolfgang von Goethe im Jahre 1824 (Eckermann o. J. 1824, 122). Und so mag in diesem kurzen Beitrag der Mangel zum Gewinn werden: der Verzicht auf detaillierte Rechtfertigungen (die jungen Wissenschaftlern abverlangt, alten aber nicht mehr aufgezwungen werden) zur Chance für die Lesenden, sich auf wissenschaftstheoretische Binsenweisheiten im Gefolge der europäischen Aufklärung nachdenklich einzulassen. Um sie zu legitimieren hilft abermals der 75-jährige Goethe, notiert vom Protokollführer: „Man treibt auf Akademien viel zu viel, und gar zu viel Unnützes. Auch dehnen einzelne Lehrer ihre Fächer gar zu weit aus, bei weitem über die Bedürfnisse der Hörer[…]. Das eine wird über das andere unterlassen und vergessen. Wer klug ist, lehnet daher alle zerstreuenden Anforderungen ab“ Johann Peter Eckermann hatte ihn zu dieser Altersweisheit, die durchaus ihre „Mängel mit sich führt“, provoziert: „Ich habe“, hatte er zu Goethe gesagt, „bei Heeren alte und neue Geschichte gehört, aber ich weiß davon kein Wort mehr“. (Eckermann o. J., 85/86) Darum soll hier zugespitzt formuliert und mehr als hinreichend zitiert, also Nachdenklichkeit provozierende didaktische Reduktion angeboten werden. Walter Laqueur hat ein düsteres Szenario entworfen (Laqueur 2005). Europa werde im Jahre 2050 „ein vergreister Kontinent sein“. Bisherige Zuwanderung werde den rapiden Bevölkerungsrückgang nicht aufhalten können, auch nicht die aus Osteuropa, die sich des eigenen Rückgangs wegen zum „Rinnsal“ ausdünne. Afrika und der Nahe Osten mit ihren Geburtenüberschüssen würden die Einwandernden stellen, vor allem muslimischer Konfession in Frankreich und Deutschland, die dann als starke tatkräftige und vorerst noch fruchtbare Minderheit den Ton angäben. Viele von ihnen seien nicht an Integration, sondern an parallelgesellschaftlicher Abgrenzung, wenn nicht gar an selbstbewusster Konfrontation interessiert, die sich mehr oder weniger vorerst noch religiösfundamentalistisch absichere. Sie seien noch stark benachteiligt und viele von ihnen wenig qualifiziert, also „ein Sammelbecken, aus dem radikalislamische
Die Ideale der Aufklärung als historischer Ausgangspunkt
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Prediger ihre Rekruten fischen können“. Ein diesen Prozess flankierender „Exodus […] der begabtesten und unternehmungslustigsten (einheimischen) jungen Leute […] aus Europa“ habe bereits begonnen. „Rettung“ sei „kaum von einer neuen multikulturellen Synthese zu erwarten, etwa zwischen […] den geistigen Mentoren des radikalen Islamismus auf der einen Seite, Kant und Rousseau und der europäischen Aufklärung auf der anderen […]. Europäische Kultur und wahhabitischer Islam sind nicht zu versöhnen.“ Dies Szenario mag zu düster geraten sein; seine Versatzstücke lassen sich aber nicht leugnen, erst recht nicht, wenn die Problematik des evtl. Beitritts der Türkei zur EU in die Überlegungen einbezogen wird. Zur stetig zunehmenden Zahl (15 Millionen) muslimischer Migranten in Europa und deren Nachkommen kämen dann noch mehr als 70 Millionen hinzu, bei einem sich beschleunigenden Rückgang des „christlich-laizistischen“ Bevölkerungsanteils. Recep Tayyip Erdogan hat im Oktober 2005 gesagt, nur der Beitritt der Türkei mache Europa zu einem „globalen Akteur“, andernfalls verkümmere der Kontinent zum abgehängten „Christenclub“. Gleichzeitig merkte ein türkischer Politiker nicht ohne Ironie an, man sei zweimal militärisch vor Wien gescheitert (1529 / 1683), nun müsse es aber gelingen, in Brüssel friedlich aufgenommen zu werden. Politiker könnten dabei auf die „historisch kulturellen Gemeinsamkeiten“ setzen (Jung 2004). Und ein afrikanischer Emigrant, der es auf dem Weg in die EU zunächst nur bis Marokko geschafft hatte, sagte europäischen Fernseh-Reportern, im 19.und 20. Jahrhundert habe Europa den afrikanischen Kontinent ausgeplündert; jetzt wolle man teilhaben an dem, was daraus geworden sei. Brüssels prunkvolle Architektur des späten 19. Jahrhunderts, das überkommene, von Leopold II (1865-1909) brutal angeeignete koloniale Erbe, legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Möglichkeiten europäischer Bürgerschaftsbildung skizziere ich nun auf dem Hintergrund und im Rückgriff auf den Fundus eigener langjähriger schulischer und universitärer „Forschung und Lehre“, also im Rückgriff auf migrationsgeschichtliche und wissenschaftstheoretische Einsichten (www.dausa.de; www.uni-oldenburg.de/politik/holtmann/index.html). 1. Ein historischer Vergleich mit der Einwanderungsgesellschaft USA kann Chancen und Grenzen von Akkulturation und Integration im heutigen Europa veranschaulichen, von der vielfältigen europäischen Auswanderung in die USA bis hin zur heutigen lateinamerikanischen Einwanderung und zur Situation der Nachkommen erzwungener afrikanischer Einwanderung im 18. Jahrhundert. 2. Dabei sollte es darauf ankommen, die aus der europäischen Migration erwachsenen transatlantischen Gemeinsamkeiten zu befragen: von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung bis hin zur Menschenrechtserklärung
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der Vereinten Nationen als Derivate der europäischen Aufklärung. In diesem Kontext sollte die Zuordnung von Glaube und Vernunft, von Religion und Staat in einer säkularen Demokratie zwischen den Kulturen diskutiert werden. 3. „Klar im Kopf ist der Mann, der […] dem Leben ins Gesicht sieht, der sich eingesteht, dass alles darin fragwürdig ist, und der sich verloren fühlt[…]. Der Wert unserer Gedanken hängt davon ab, wie sehr wir uns vor einer Frage verloren fühlen, wie gut wir ihre Problematik sehen und erkennen, dass übernommene Meinungen, Methoden, Theorien oder Terminologien uns nicht helfen können. Wer eine neue wissenschaftliche Wahrheit entdeckt, muss vorher fast alles, was er gelernt hat, zerstören.“ Der spanische Philosoph und streitbare liberale Europäer José Ortega y Gasset (18831955) hat dies 1929 geschrieben und diese Aussage noch kategorisch zugespitzt: „Jeder Zweifel ist die Frage nach einer Methode“. Und dazu hat er die politische Entsprechung benannt: „“Die liberale Demokratie“ zeige „die Bereitschaft zur Anerkennung des Mitmenschen.[…] Der Liberalismus […] (sei) die äußerste Großmut; […] das Recht, das die Majorität der Minorität einräumt“. Er sei „europäisches Gemeingut, […] eine schöne, geistreiche, halsbrecherische […] Sache […] schwierig und verwickelt“. (Ortega y Gasset 1952, 81, 171/72, 198; Vargas Llosa 2006) Aus dieser meiner ersten und mir immer noch gültig erscheinenden gymnasialen philosophischen Lektüre des Jahres 1953 leite ich eine theoretisch bewusste und methodologisch orientierte europäische Bürgerschaftsbildung ab, die sich den wissenschaftstheoretischen und den entsprechenden politischen Traditionen der Aufklärung verpflichtet, sich ihrer Postulate immer wieder zeitgemäß vergewissert und sie derzeitigen und künftigen Einwandernden dialogisch anbietet. Europäische Aufklärung hat im 19. und 20. Jahrhundert vor allem durch säkularisierte politische Fundamentalismen faschistischer und kommunistischer Couleur, Ortega y Gasset nennt sie 1929 den „Aufstand der Massen“ im 20. Jahrhundert (Ortega y Gasset 1952, 202-205), ihre eigene Kehrseite frei gesetzt, aber doch auch die Chance eröffnet, den vernunftrechtlich legitimierten demokratischen Verfassungsstaat attraktiv erscheinen und die dazu gehörenden Menschenrechte als Deklaration der Vereinten Nationen schon 1948 universale gesellschaftlich wirksame Geltung beanspruchen zu lassen. (Bundeszentrale 1991; United Nations 1978 und 2003) Aber gefährdet bleiben Chancen allemal, weil die „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 1971, zuerst 1944) unabgeschlossen und auch religiös-fundamentalistisch mit entsprechenden politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen gefährdet bleibt. Mehr oder weniger können aber auch die Freiheit des Individuums zu Egoismus, Solidarität zu herablassender notdürftiger Fürsorge, Gleichheit zur bloßen Möglichkeit ver-
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kommen und der all die hehren revolutionären Postulate bergende Verfassungsstaat formalistisch erstarren. Schon Lucius Annaeus Seneca (4.v. Chr. - 65 n. Chr.) hat geschrieben, dass (republikanische) Tugenden, Humanität und Verfassung immer auch „die Flut auf den Fersen“ haben und „in ungeheurer Gefahr eines Rückfalls“ stehen. Hilfreich erschienen ihm wohl Ovids (43 v. Chr. - 17 n. Chr.) „Heilmittel gegen die Liebe“: „Wehren wir also dem Anfang!“ (Seneca 1965, Brief 72, 11; Ovidius Naso 1999, Remedia amoris 91). Dieser klassisch-antiken Ermunterung sei nun eine wegweisende aufgeklärte Empfehlung zugeordnet: Gotthold Ephraim Lessings (1729 - 1781) „Ringparabel“ aus dem Jahre 1779, geschrieben zwischen amerikanischer Unabhängigkeitserklärung (1776) und französischer Revolution (1789) im verschlafenen herzoglich-braunschweigischen Wolfenbüttel auf der Grundlage der 3. Geschichte des ersten Tages des „Decamerone“ von Giovanni Boccaccio (13131375). (Lessing 2000, III, 7; Overath u. a. 2003; Boccaccio 1999, 1, 3 ) Der Ring „hatte die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug“. Der Vater ließ ihn „von seinen Söhnen dem geliebtesten“. Und als dann einem der Väter alle drei Söhne liebste waren, gab dieser zwei Kopien in Auftrag, die so gut gelangen, dass „selbst der Vater seinen Musterring nicht unterscheiden konnte“. Und „was nun folgt, versteht sich ja von selbst: […] Der echte Ring war nicht erweislich: fast so unerweislich als uns itzt der rechte Glaube“. Religionen (Judentum, Christentum, Islam) seien doch wohl zu erkennen an „Kleidung,.[…] Speis und Trank“, wirft der Muslim Saladin ungeduldig und verärgert ein: „Ich hör! Ich hör! – Komm mit deinem Märchen nur bald zu Ende! – Wird`s?“. Der Jude Nathan reagiert unverfroren für mittelalterliche Kreuzzugszeiten und mutig für das späte 18. Jahrhundert in Europa: „Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht.Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! – Und Geschichte muss doch wohl allein auf Treu Und Glauben angenommen werden?“ Da bleibt nur die humane Möglichkeit, an die Echtheit des je eigenen Rings nur zu glauben und nicht um sie zu wissen, um damit der „Tyrannei des einen Rings“ zu entgehen: „Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe jeder […] um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag Zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
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Mit innigster Ergebenheit in Gott Zu Hilf`!“ Lessing hat zu dieser Verhaltensmaxime 2 Jahre zuvor in einem theologischen Disput die erkenntnistheoretische Entsprechung formuliert: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“ (Bahr 2002, 43) Ambiguitätstoleranz hat man das in den 1970er Jahren genannt, als „Emanzipation“ (Greiffenhagen 1973) auch noch unbefangen so genannt wurde und Lessings schlichtes „Märchen“ schon mal in Vergessenheit geraten konnte. Mehrdeutigkeiten auszuhalten, in dem Bewusstsein zu leben, nur unzulänglich oder auch gar nicht über Wahrheiten zu verfügen, sie anderen auch zuzutrauen und sich mit ihnen darüber zu verständigen „mit herzlicher Verträglichkeit“. Toleranz ist, wenn Humanität gewollt wird, zwingende Konsequenz angesichts der Unerweislichkeit des rechten Glaubens durch all unser wissenschaftliches Bemühen. Da bleibt nur ein aufgeklärter profaner menschenrechtlicher Konsens: Diskurs, Demokratie und säkularisierte Rechtsstaatlichkeit. Dies in Europa und in Deutschland tragfähig und belastbar und immer auch gefährdet zu etablieren hat 170 Jahre gedauert, seit Lessing seinen Muslim Saladin durch seinen Juden Nathan märchenhaft überzeugen ließ (Saladin: „Herrlich! Herrlich!“). Wissenschaftler sind nicht müßig gewesen, diese schlichte hintergründige metaphysische Pointe zu bedenken und ihr säkularisierendes Nach-Denken der Wissenschaft, Politik und Pädagogik mehr oder weniger verständlich verfügbar zu machen. (Radikale) Konstruktivisten, zum Beispiel Wolf Singer, sehen in Geschichte eher Geschichten: „datengestützte Erfindungen“. „Wahrnehmung“ sei „ein […] hypothesengesteuerter Interpretationsprozess […], der das Wirrwarr der Sinnessignale nach ganz bestimmten Gesetzen ordnet und auf diese Weise die Objekte der Wahrnehmung definiert“. Jeder individuelle, aber auch gesellschaftlich geprägte „Wahrnehmungsapparat“ trachte danach, eigene „stimmige, in sich geschlossene und in allen Aspekten kohärente Interpretationen zu liefern“. Das geschehe auch „auf der Ebene der Bedeutungszuweisung und der Zuschrei-
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bung von Kausalbezügen“, so dass „aus gleichen Abläufen völlig verschiedene Schlussfolgerungen gezogen“ werden könnten. Prinzipiell wisse man nicht, „welcher der möglichen Rekonstruktionsversuche der vermuteten ‚wahren‘ Geschichte am nächsten“ komme. (Singer 2000, 10) Thomas S. Kuhn (1922 - 1996) hat „Paradigmenwechsel“ durch millionenfache Auflage zum geflügelten Wort werden lassen, um Gleichzeitigkeit und Ablösung von Erklärungsansätzen, Theorien und Weltbildern in den Naturwissenschaften in den Griff zu bekommen (Kuhn 1976). Es liegt nahe, seine Überlegungen auch auf die Sozialwissenschaften und auf den Alltag zu übertragen. Paradigmata wären in diesen Kontexten Wahrnehmungsmuster, die plausibel erscheinen, überzeugend wirken, als (universal) gültige Wahrheiten auftreten, kritisiert und mehr oder weniger widerlegt werden, aber auch im Wettstreit miteinander stehen (bleiben), deren Wahrheitsansprüche aber nicht zwingend erwiesen werden können. Hier geht es wohl meist um einander ergänzende und miteinander zeitgleich konkurrierende, einander nicht unbedingt überwindende Akzentuierungen – ohne verlässliches Fortschreiten zur Wahrheit. Max Weber (1864 - 1920) hat uns gelehrt, dass Wissenschaft werturteilfrei zu arbeiten habe und „der Prophet und der Demagoge nicht auf das Katheder eines Hörsaals gehören“. Die eine Wahrheit sei weder metaphysisch noch rational, weder durch Mythen noch durch wissenschaftliche Weltanschauungen wiederzubeleben: „Die alten […] Götter sind entzaubert“. Wissenschaft könne man nur noch in die je „eigene Stellungnahme zum Leben“ einfügen, betrieben „um ihrer selbst willen“. Ihr „Beruf“ sei es, „Kenntnisse über die Technik, wie man das Leben durch Berechnung beherrscht“, und „Methoden des Denkens“ zu vermitteln, „zur Klarheit zu verhelfen“ und „Rechenschaft . . . (zu) geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns“. (Weber 1995, 26, 30, 34, 38). Sir Karl Raimund Popper (1902 - 1994) hat immer wieder gesagt und geschrieben, dass Theorien sich nicht allgemein und zeitlos gültig über den Tag hinaus verifizieren lassen, wohl aber immer wieder Falsifikationsbemühungen ausgesetzt, also angezweifelt werden müssen. Sie seien immer nur gültig bis heute, vorläufig, immer verdächtig, unzulänglich oder gar falsch. Glaubens- und Moralvorstellungen seien notwendig für uns Menschen, aber sie seien nicht falsifikationsfähig, könnten folglich auch keinen universalen Geltungsanspruch über subjektive Postulate hinaus erheben. (Miller 1995) Paul Feyerabend (1924 - 1994), das Enfant terrible unter den Wissenschaftstheoretikern des 20. Jahrhunderts, hat sein provozierendes „Anything goes!“ am Ende seines Lebens diskursiv und human relativiert: „Wenn ich mir ansehe, wie viel die Kulturen voneinander gelernt und wie unbefangen sie das gesammelte Material übernommen haben, dann komme ich zu dem Schluss, dass jede Kultur potentiell alle Kulturen in sich birgt und dass bestimmte kultu-
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relle Züge nichts anderes sind als die wandelbaren Ausdrucksformen einer einzigen menschlichen Natur. Dieser Schluss hat wichtige politische Folgen. Er läuft darauf hinaus, dass kulturelle Besonderheiten nicht sakrosankt sein können. Es gibt keine ‚kulturell gerechtfertigte‘ Unterdrückung und keinen ‚kulturell gerechtfertigten‘ Mord. Es gibt nur Unterdrückung und Mord, und beide sollten als solche behandelt werden, und wenn nötig, mit Entschiedenheit. Diese Veränderbarkeit jeder Kultur führt aber auch zu der Einsicht, dass wir uns selbst für Änderungen öffnen müssen, bevor wir andere zu ändern versuchen.“ (Feyerabend 1997, 205; Feyerabend 1980; Feyerabend 1983) Jürgen Habermas darf da nicht fehlen mit seinem Versuch, „profane Moral“ aus den Verständigungsansprüchen menschlicher Sprache herauszulesen und sich dabei am „herrschaftsfreien Diskurs“ zu orientieren. Der Versuch sei im „Westen […] im vernunftrechtlich konstruierten Gebäude des demokratischen Verfassungsstaates“ im Ansatz gelungen und verfassungsrechtlich verbindlich geworden. Dieser diskursive „Legitimationstyp“ sei nicht schon der bestmögliche. Die Erweiterung des Diskurses über den Westen hinaus mache „auf normative Gehalte aufmerksam“, die „in den stillschweigenden Präsuppositionen eines jeden auf Verständigung zielenden Diskurses enthalten“ seien. Dann würden auch die „schamlosen Instrumentalisierungen der Menschenrechte für eine universalistische Verschleierung partikularer Interessen“ decouvriert. Menschenrechte könnten so verstanden und verwirklicht werden, dass sie allen Kulturen gerecht würden und westliche individualistische Konfliktorientierung und nichtwestliche Gemeinschafts- und Konsensorientierung einander ergänzten. In seiner Friedenspreis-Rede hat Jürgen Habermas (Oktober 2001) auf „religiöse Wurzeln“ europäischer „profaner Moral“ verwiesen und deren „Festlegung“ als „kooperative Aufgabe“ im Kontext von Glauben und Vernunft skizziert. Weder Gläubige noch Nichtgläubige dürften einander ignorieren, auch wenn staatliche Einrichtungen nur auf säkularer Grundlage entscheiden und handeln dürften. Religion könne säkularistische Verhärtungen überwinden helfen. (Habermas 1998; Habermas 2001; Habermas 2004; Habermas 2005) Christliche Selbstgerechtigkeit und aufgeklärte Unbedingtheit hatten über Jahrhunderte Fronten verhärtet, die dann erst im 20. Jahrhundert bis in den Alltag hinein aufgebrochen wurden. Die päpstlichen Enzykliken des 19. Jahrhunderts verurteilten die Religionsfreiheit. Es widerspreche der Gerechtigkeit und der Vernunft, verkündete Leo XIII im Jahre 1888, „dass der Staat […] sich gegenüber den verschiedenen Religionen auf gleiche Weise“ verhalte. Es „sei keinesfalls erlaubt, Gedanken-, Rede-, Lehr- und unterschiedslose Religionsfreiheit zu fordern, als seien dies Rechte, die dem Menschen die Natur“ gebe (Böckenförde 2005, 39). Erst die „Erklärung über die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae)“ (1965) des II Vatikanischen Konzils hat die Kehrtwende politisch
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verbindlich gemacht: Die Wahrheiten des katholischen Glaubens werden nicht mehr als Rechtsverpflichtungen für Staat und Gesellschaft verstanden. Das Recht auf Religionsfreiheit, d. h. nach seinem Gewissen zu handeln, wird nun für alle Bürger und Religionsgemeinschaften anerkannt: „Es muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird.“ (Rahner 1966, 661-675) Dieses Recht wird jetzt aus dem Wesen der menschlichen Natur abgeleitet (Menschenrecht) und naturrechtlich begründet, die Position Leos XIII also für naturrechtswidrig erklärt. (Böckenförde 2005, 39) Also verzichtet auch die Enzyklika „Fides et Ratio“ (Glaube und Vernunft) aus dem Jahre 1998, eine selbstbewusste theologische und erkenntnistheoretische Vergewisserung römisch-katholischen Glaubens, auf universale Durchsetzung; sie vertraut auf die eigene Überzeugungskraft. Andersgläubige werden nicht mehr (schon gar nicht gewaltsam) beansprucht; auch ihnen wird die Chance eingeräumt, in ihren Gewissensentscheidungen vor Gott gerechtfertigt zu sein. 1800 Jahre hat es gedauert, bis im europäischen (katholischen) Christentum erst im 20. Jahrhundert „der Gedanke der Heilsmöglichkeit der außerhalb der Kirche Stehenden […] zögernd hervortritt“. Die von Rom übernommene Überzeugung z. B. des Cyprianus von Carthago (200-258), dass es außerhalb der Kirche kein Heil gebe („Salus extra ecclesiam non est.“), verblasst zunehmend. Die brutale Geschichte christlich-europäischer, universaler und religiös-weltlicher Geltungs- und Verfügungsansprüche ist seit der europäischen Aufklärung nur noch wenigen christlichen „Fundamentalisten“ eine Glaubensgewissheit. Die letzten Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls von 1965 und 1998 atmen nicht mehr den Geist der aufklärungsfeindlichen und antiliberalen Lehrverkündigungen des 19. Jahrhunderts, die darin gipfelten, dass katholischen Priestern von 1910 - 1967 der „fundamentalistische“ Antimodernisteneid abverlangt wurde. Sie sind immerhin schon mehr oder weniger dem Geist der Ringparabel des Freimaurers (Papst Leo XIII,1884: „Königreich des Satans“) Gotthold Ephraim Lessing verpflichtet. (Neuner /Roos 1957, 53-56; Ott 1959, 377; Papst Johannes Paul II 1998) Im Jahre 1784, 5 Jahre nach der „Ringparabel“ und 5 Jahre vor Beginn der französischen Revolution, die USA waren gerade 8 Jahre unabhängige Republik, hat Immanuel Kant (1724 - 1804) die Frage eines Preisausschreibens („Was ist Aufklärung?“) beantwortet („Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit […]“). Recht verschmitzt und ein wenig subversiv hat er den Untertanen seines Königs (Friedrich der Große, 1712 - 1786) Mut gemacht, Widerständen gute Seiten abzugewinnen: „Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft, und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinen Ver-
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mögen auszubreiten. Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird), und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln“. (Bahr 2002, 17) 1795 (Napoleon beginnt soeben, Europa 20 Jahre lang mit Krieg zu überziehen) veröffentlicht Immanuel Kant die philosophische Rechtfertigung der (alleinigen) Friedensfähigkeit demokratisch verfasster Gesellschaften („Zum ewigen Frieden“): „1. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein. 2. Das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein. 3. Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“. (Kant 2005; Rohrauer 2004) Warum nicht auch noch Friedrich Hölderlin (1770 - 1843) in dieser illustren Runde: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“ (Hölderlin 1952, 409). „Mäßigung mit Leidenschaft zu verbinden“ hat der israelische Schriftsteller Amos Oz, Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels (1992), gefordert, „Mäßigung mit Leidenschaft“ im Umgang mit dem „chauvinistischen Extremismus“ im Kontext „der arabischen Kultur“, des „jüdischen Israel“ und „gewisser christlicher Gesellschaften“. Amos Oz hat mit Skepsis formuliert: „Das Problem ist nur, dass Gemäßigte nicht dazu neigen, Fanatikern mit Leidenschaft gegenüber zu treten. Besitzen sie diese Leidenschaft, verlieren sie leicht Ihre Mäßigung.“ Chauvinisten seien nicht „mit dem Knüppel zu bezwingen“. Wir sollten „überall die Gemäßigten unterstützen“, die „schweigenden Mehrheiten“, die „pragmatischen Kräfte“. (Oz 2003) In der 2. Sitzung des Parlamentarischen Rates (8. September 1948) hat der sozialdemokratische Völkerrechtler Carlo Schmid (1896-1979) Maßstäbe gesetzt, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich verbindlich geworden sind. Er verstand die „Grundrechte […] als Rechte, die der Staat schon antrifft, wenn er entsteht, und die er lediglich zu gewährleisten und zu beachten hat“, aber mit einer „immanenten Schranke […] Es soll sich jener nicht auf die Grundrechte berufen dürfen, der von Ihnen Gebrauch machen will zum Kampf gegen die Demokratie und die freiheitliche Grundordnung“. Man müsse „den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen“. (Präsident 1969, 14) Barbara John, Berlins engagierte Ausländerbeauftragte von 1981 - 2003, hat dazu als „Ordnungsrahmen“, als „verbindliche Hausordnung“ die vor allem der europäischen Aufklärung zu verdankenden philosophischen und demokratischen Verfassungstraditionen empfohlen, die „aus längst profanisierten Quel-
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len“ (Habermas 2001) antiker, jüdischer, christlicher, aber auch kultureller islamischer Traditionen gespeist werden. 1999 hat sie gesagt, der muslimische Religionsunterricht müsse dieselbe Funktion wie der christliche oder jüdische haben. „Er setzt Kinder und Jugendliche in die Lage, sich kritisch und distanzierend mit Glaubenstraditionen auseinanderzusetzen“. (Herbert Quandt-Stiftung, 1999, 58-61) Dies scheint mir ein im Indikativ formuliertes Postulat zu sein – für europäische Bürgerschaftsbildung überhaupt.
Literatur Bahr, E. (Hg.): Was ist Aufklärung?, Thesen und Definitionen, Stuttgart, 2002 Boccaccio, G.: Das Decameron, Frankfurt/Main, 1999 Böckenförde, E.-W.: Rom hat gesprochen, die Debatte ist eröffnet. Wenn Enzykliken nicht unfehlbar sind, dann laden sie ein zur Kritik: Das päpstliche Lehramt im Lichte der Religionsfreiheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Dezember 2005 Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bonn, 1991 Eckermann, J. P.: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823-1832, Leipzig, o. J. Feyerabend, P.: Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt/Main, 1980 Feyerabend, P.: Wider den Methodenzwang, Frankfurt/Main, 1986 Feyerabend, P.: Zeitverschwendung, Frankfurt/Main, 1997 Greiffenhagen, M. (Hg.): Emanzipation, Hamburg, 1973 Habermas, J.: Zur Legitimation der Menschenrechte, in: ders.: Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/Main, 1998, S. 170-192 Habermas, J.: Glaube und Wissen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Oktober 2001 Habermas, J.: Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften X, Frankfurt/Main, 2004 Habermas, J.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main, 2005 Hölderlin, F.: Gedichte, Hyperion, Empedokles, Briefe, Stuttgart, 1952 Horkheimer, M. / Adorno, Th. W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main, 1971 Jung, D.: Politik oder Religion? Die islamische Türkei und die europäische Integration, in: Neue Politische Literatur 3/2004, 365-384 Kant, I.: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart, 2005 Kuhn, Th. S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main, 1976 Laqueur, W.: Europa im 21. Jahrhundert, in: Merkur 6/2005, S. 653-666 Lessing, G. E.: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, Stuttgart, 2000 Neuner, J. / Roos, H. (Hg.): Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, Regensburg, 1958 Ortega y Gasset, J.: Der Aufstand der Massen, Stuttgart, 1952 Ott, L.: Grundriss der katholischen Dogmatik, Freiburg 1959 Overath, A. u. a.: Toleranz. Drei Lesarten zu Lessings Märchen vom Ring im Jahre 2003, Göttingen, 2004 Ovidius Naso, P.: Liebeskunst /Heilmittel gegen die Liebe, München, 1999 Oz, A.: Mäßigung und Leidenschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. August 2003
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Papst Johannes Paul II: Enzyklika Fides et Ratio, Bonn, 1998 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 135) Popper, K.: Lesebuch. Ausgewählte Texte zu Erkenntnistheorie, Philosophie der Naturwissenschaften, Metaphysik, Sozialphilosophie, Tübingen, 1995 Präsident des Deutschen Bundestages (Hg.): Parlamentarischer Rat. Stenographische Berichte über die Plenarsitzungen, Bonn, 1969 Rahner, K. / Vorgrimler, H. (Hg.): Kleines Konzilskompendium. Alle Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Zweiten Vaticanums in der bischöflich beauftragten Übersetzung, Freiburg, 1966 Rohrauer, M.: Demokratietheorie nach Kant, Frankfurt/Main, 2004 Seneca, L: A.: Briefe an Lucilius, Gesamtausgabe I, Briefe 1-80, Reinbek 1965 Singer, W.: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. September 2000 Singer, W.: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt/Main, 2002 United Nations (Hg.): The International Bill of Human Rights, New York, 1978 United Nations (Hg.): The United Nations and Human Rights, New York, 1978 United Nations (Hg.): The Globalization of Human Rights, New York, 2003 Vargas Llosa, M.: Europa wird die Ultranation sein. Buch der Prophezeiungen: José Ortega y Gasset und „Der Aufstand der Massen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Januar 2006 Weber, M.: Wissenschaft als Beruf, Stuttgart, 2002
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In-Geschichte(n)-verstrickt: Biographische Geschichten als Gegenstand interkulturellen Lernens in der Migrationsgesellschaft
In der Absicht, die Notwendigkeit interkulturellen Geschichtslernens in der Migrationsgesellschaft zu begründen, wird im Folgenden der Versuch unternommen, einige theoretische Schneisen durch das Dickicht der aktuellen gesellschaftspolitischen und pädagogischen Diskurse zum Themenkomplex „Migration, Erinnerung und historisch-politische Bildung“ zu schlagen. Zunächst gehe ich der Frage nach den veränderten Bedingungen historischer Identitätsbildung in Einwanderungsgesellschaften nach. In diesem Zusammenhang werden einige Aspekte des Verhältnisses von Migration und Geschichte aus erkenntnistheoretischer Perspektive skizziert. Sodann wird das Phänomen der Globalisierung von Erinnerung im Spannungsfeld von Nationalisierung und Pluralisierung kollektiver Gedächtnisbildung diskutiert. Das Beispiel der Universalisierung der Holocaust-Erinnerung dient der Veranschaulichung dieses Phänomens. Schließlich diskutiere ich die Bedeutung und das didaktische Potential von (Migrations)-Geschichte(n) für die Gestaltung interkulturellen Geschichtslernens in der deutschen Einwanderungsgesellschaft am konkreten Beispiel von zwei Bildungsprogrammen: (1) „Mehrheit Macht Geschichte – Materialien zum interkulturellen Geschichtslernen“ und (2) „Migrationsgeschichten als Gegenstand interkulturellen (Geschichts)Lernens.“
Historische Identitätsbildung in Migrationsgesellschaften Generationenwechsel, Migrationsprozesse und Globalisierung bedingen einen Wandel von Geschichts- und Erinnerungskultur. Denn in allen modernen Migrationsgesellschaften müssen sich vielfältige kollektive Erzählungen und Erinnerungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen (Migranten, Minderheiten, Mehrheitsgesellschaft) untereinander verständigen. Die durch Zuwanderung sichtbar werdende – im Grunde aber immer schon vorhandene – gesellschaftliche Pluralität fordert die althergebrachte Geschichtskultur, eingeschliffene Erin-
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nerungsmuster und vermeintlich vertraute Formen des Geschichtsbewusstseins heraus. Denn in Einwanderungsgesellschaften entsteht ein neuer Verhandlungsraum, in dem viele Geschichten koexistieren, miteinander in Dialog treten, sich gegenseitig provozieren und nicht zuletzt auch konkurrieren. Der amerikanische Kulturwissenschaftler James I. Young spricht mit Blick auf die amerikanische Einwanderungsgesellschaft von einer „Culture of Competing Catastrophes“ (Young 1999). Er zeigt, wie unterschiedliche ethnische Gruppen in den USA die kollektive Vergangenheit ihrer Gruppe identitätspolitisch wenden und um Repräsentation ihrer spezifischen Geschichte im öffentlichen Raum kämpfen. In diesem Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen minoritären Gruppen und der Mehrheitsgesellschaft geht es um Repräsentation, Anerkennung, Integration und schließlich auch um eine geschichtspolitische Inklusion in die große Erzählung „Amerika.“ Auch in Deutschland zeichnen sich jüngst erste Bestrebungen von Einwanderern ab, zumindest ihre Migrationsgeschichte in Deutschland zu einem Gegenstand des öffentlichen Gedächtnisses zu machen, etwa in Form eines Migrationsmuseums (Eryilimaz 2004). Zeitgleich nimmt auch in der Wissenschaft die Erkenntnis zu, dass man sich bisher unzureichend mit dem kollektiven Gedächtnissen der Zuwanderer befasst hat: In der drei Bände umfassenden Reihe Deutsche Erinnerungsorte (2001) räumen die Herausgeber Etienne Francois und Hagen Schulze im Vorwort ein, dass sich das Neuentstehende, wie sich etwa das kollektive Gedächtnis der jungen DeutschTürken, der Spätaussiedler, der Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber ihrem Blick entziehe, eben weil es noch im Entstehen begriffen sei. Wir stehen in Deutschland, was die empirische Forschung zu den Gedächtnisaffinitäten und Geschichtskonstruktionen der Zugewanderten und Zuwandernden angeht, offenbar noch ganz am Anfang. Auch der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau verwies am Deutschen Historikertag 2002 genau auf dieses Forschungsdesiderat: Was bedeutet Geschichte als Quelle der Identifikation und Identität in einer Gesellschaft, in der Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Kultur zusammenleben? Wie kommt es zu einem Wir in einer solchen Gesellschaft? Welche geschichtlichen Wurzeln, welche Vergangenheit hat diese unsere bunte Gesellschaft? Muss es viele Geschichten geben oder müssen sich die vielen die eine Geschichte zu eigen machen? [...] Wahrscheinlich werden sich die Hinzugekommenen auf ihre Weise die Geschichte zu eigen machen, und gemeinsam werden wir einst eine neue, gemeinsame Geschichte erzählen. (Motte/Ohliger 2004, 9)
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Es ließe sich weiterfragen: Wie viele Dimensionen von Geschichte gibt es in der Einwanderungsgesellschaft und wie beeinflussen diese sich gegenseitig? Die Dimensionen sind schnell benannt – die Wechselwirkungen und Interdependenzen dagegen hochkomplex und bisher weitgehend unerschlossen. Deshalb bleibe ich zunächst bei den Dimensionen von Geschichte in Einwanderungsgesellschaften, von denen ich vier Grundtypen hervorheben möchte: 1. Die Geschichte des Einwanderungslandes selbst, die als Nationalgeschichte verfasst ist. 2. Die familiär tradierten Geschichten und „Geschichtsgeschichten“ von Gruppen der Mehrheitsgesellschaft 3. Die Geschichte der Herkunftsländer und Regionen der Einwanderer, die sich in den spezifischen Biographien der Migranten und ihrer jeweiligen Gruppengeschichte brechen. 4. Die neue gemeinsame Geschichte der Beziehung von Einheimischen und Zugewanderten und die Geschichte der Integration der zugewanderten Gruppen (Minderheiten). In Migrationsgesellschaften gerät Geschichte in Bewegung, wird Gegenstand von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen im zeitlichen und kulturellen Wandel sowie unter dem Dach der intergenerationellen Tradierung. Erinnerungs- und Geschichtspolitik werden hier zu Diskursfeldern, in denen das Verhältnis von Zentrum (Dominanz) und Peripherie (Marginalisierung) sowie Homogenität und Diversität ausgetragen wird (Zimmer 2006, 39). Im Einwanderungskontext, so möchte ich mit dem amerikanischen Sozialphilosophen Michael Walzer argumentieren, kann Nationalgeschichte verknüpft mit einer hegemonialen nationalen Erinnerungskultur zu einem Instrument des Ausschlusses von Minderheiten werden, die sich auf andere Kollektivgeschichten beziehen.: Die meisten Staaten, aus denen die internationale Gemeinschaft heute besteht, sind Nationalstaaten. Sie als solche zu bezeichnen, heißt nicht, daß sie national (ethnisch oder religiös) gesehen aus homogenen Bevölkerungen bestünden.[...] Es heißt vielmehr, daß eine einzelne dominante Gruppe das öffentliche Leben in diesen Staaten so organisiert, daß ihre spezielle Geschichte und spezielle Kultur sich darin widerspiegeln und fortgeführt werden [...] Es sind diese Absichten, die den Charakter des allgemeinen Bildungssystems, die Symbole und Zeremonien des öffentlichen Lebens, den Staatskalender mitsamt den Feiertagen in diesen Staaten bestimmen. Mit anderen Worten: Der Nationalstaat ist gegenüber der Geschichte und Kultur der ihn konstituierenden Gruppen nicht neutral. (Walzer 2000, 220 Hervorhebung vom Autor)
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Exklusivität herstellende und homogenisierende Tendenzen sind für den nationalstaatlichen Umgang mit kultureller und geschichtlicher Diversität, wie Walzer schreibt, charakteristisch. Ob Denkmäler, oder Staatsfeiertage, Geschichtsunterricht oder Gedenkorte, es ist in der Regel immer die nationalstaatlich gewachsene und gebundene Erinnerungs- und Geschichtskultur, die den öffentlichen Raum und den Diskurs maßgeblich prägt. Auf diese Weise wird eine Auswahl bestimmter national codierter Geschichten legitimiert, andere verblassen oder geraten gar nicht erst in den Blick. Es sind diese offiziell legitimierten Geschichten die nationale Identifikation erzeugen und stabilisieren (sollen). Genau hier entstehen aber auch die Exklusionseffekte nationaler Gedächtnisbildung. Denn nationale Erinnerungskulturen repräsentieren vor allem Geschichte(n), die legitimatorische, identitätsstiftende und handlungsorientierende Funktion erfüllen (Assmann 1999), d.h. dass widersprüchliche, gegenläufige oder partikularistische Erinnerungen, wie sie in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen anzutreffen sind, meist maginalisiert oder ganz ausgeschlossen werden (Zimmer 2006, 39). Damit entsteht das Bild einer statischen, homogenen, in sich gefestigten nationalen Erinnerungskultur. Es gerät aus dem Blick, dass auch diese Gegenstand von gesellschaftlichem Wandel ist und deshalb prozesshaft, heterogen und dynamisch vorgestellt werden muss. Dabei geht es gerade im Einwanderungskontext um nichts Geringeres als die Aushandlung von Deutungsmacht und Teilhabe am kommunikativen und kulturellen Gedächtnis (Assmann 1995).
Geschichte und Migration Im Folgenden sollen einige erkenntnistheoretische Aspekte des Verhältnisses von „Geschichte und Migration“ in Form von Hypothesen und Leitfragen entwickelt werden. (1) Geschichte als Migrationsgeschichte Die Erkenntnis, dass Geschichte immer auch Migrationsgeschichte ist, setzt sich in vielen Bereichen maßgeblich durch. Migration wird in diesem Sinne verstanden als Prozess von Ab- und Zuwanderung, der jeweils ganz spezifische Wanderungsbewegungen erzeugt, die von Kultur, Milieu, Religion, Geschlecht einerseits und Migrationsgrund (etwa Flucht, Vertreibung, Kolonisierung, Arbeitsmigration) andererseits abhängig sind. Jede Migrationsform kann in sich sehr unterschiedliche Varianten aufweisen. Arbeitsmigration etwa kann langfristig oder kurzfristig (Pendelmigration, Saisonarbeit) ausgerichtet sein. Jenseits
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solcher notwendiger Klassifizierungen von Wanderungsformen ist es wichtig zu unterstreichen, dass die Geschichte der Menschheit seit jeher durch Wanderungsbewegungen charakterisiert ist; Migration daher als historischer Normalfall begriffen werden kann. Diese Betrachtungsweise hat sich bislang immerhin als Spezialisierung innerhalb der Geschichtswissenschaft etabliert (Gogolin/Krüger-Portratz 2006, 28). Allerdings sind die vielfältigen Facetten der Wanderungsbewegungen aus und nach Deutschland im kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft bis heute wenig präsent. (2) Geschichte(n) im Gepäck Was geschieht mit Geschichte, wenn Menschen migrieren? Nehmen Menschen ihre Geschichte(n) gewissermaßen im Gepäck mit? Wenn ja, wann und wo packen Sie Ihre Geschichtenkoffer aus? Wie und wem werden die Geschichten erzählt (Traditionsbildung)? Gibt es Geschichten, die im Migrationskontext an Kraft verlieren oder Bedeutung gewinnen? Wenn ja, wie lässt sich das erklären? Der französische Soziologe Maurice Halbwachs betont in seinen Arbeiten zum kollektiven Gedächtnis, dass der Erhalt eines spezifischen kollektiven Gedächtnisses einer Gruppe vom „sozialen Rahmen“ abhängig ist, d.h. dass es nur durch Interaktionen von Mitgliedern dieser Gruppe, also den Trägern dieser spezifischen Erinnerungen gesichert werden kann (Halbwachs 1991, 6). Ließe sich hieraus für die Migrationssituation folgern, dass Migranten, sofern sie durch Migration aus bestimmten Traditionszusammenhängen herausgelöst werden, zur Gedächtnis- bzw. auch Geschichtslosigkeit neigen (Georgi 2003, 35)? Überlagert das dominante kollektive Gedächtnis – das nationale Narrativ der Aufnahmegesellschaft – die kollektiven Erinnerungen von Einwanderern aus unterschiedlichen Herkunftsgesellschaften? Entwickeln Migranten hybride Gedächtnisformen, in denen die „alten“ und die „neuen“ Geschichten zu einer dritten – postnationalen/postethnischen – Einheit verschmelzen (Georgi 2003, 305)? Gibt es Erinnerungsorte, an denen sich die Geschichte(n) der Einwanderer niederschlagen? Wie können heterogene Erinnerungen in die Einwanderungsgesellschaft integriert werden? Die empirische Forschung, die sich diesen Gegenstandsbereichen zuwendet, ist zumeist jüngeren Datums (Ohliger 2006) und weist noch beträchtliche Lücken bezogen auf die formulierten Fragen sowie unterschiedlichen Gruppen von Zuwanderern auf.
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136 (3) Geschichte, Migration, Ethnizität
Welche Rolle spielt Geschichte für die Herausbildung von Ethnizität in der Einwanderungsgesellschaft? In Theorien zur Ethnizitätsbildung wird die gruppenbildende und identitätsstiftende Wirkung von gemeinsamen Geschichtskonstruktionen sowie Vorstellungen gemeinsamer Herkunft, Kultur und Erfahrungen hervorgehoben (Heckmann 1991). Es zeichnet sich aber immer deutlicher ab, dass es gerade im Migrationskontext nicht mehr um eine essentialistische Bestimmung von kultureller und historischer Identität gehen kann, sondern vielmehr um eine temporäre bzw. auch strategische Verortung innerhalb der hegemonialen Narrative nationalstaatlich verfasster Einwanderungsgesellschaften. Der britische Kulturwissenschaftler und prominenter Vertreter der Postcolonial Studies Stuart Hall beschreibt dieses Phänomen der strategischen Selbstverortung über die Behauptung kultureller und geschichtlicher Identität daher als positioning: Cultural Identity is a matter of becoming as well as of being. It belongs to the future as much as to the past […] The past continues to speak to us. But it no longer addresses us as a simple “factual” past, since our relation to it, like the child’s relation to the mother, is always already “after the break.” It is always constructed through memory, fantasy, narrative and myth. Cultural identities are the points of identification, the unstable points of identification or stature, which are made within the discourses of history and culture. Not an essence but a positioning. (Hall 1990, 225) Es sind also die jeweils spezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und geschichtspolitischen Diskurse, die im Prozess der Herausbildung kultureller und historischer Identität in der Migration wirksam werden und entsprechend spezifische Positionierungen erzeugen. Diese Positionierungen sind als dynamische Konstruktionen zu verstehen. Sie sind im Fluß, also veränderbar. Individuen verorten sich mittels solcher (strategischer) Positionierungen im sozialen und historischen Raum und schaffen damit temporäre Identifikationen. Auch die Frage, warum Geschichte und Ethnizität unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen zu einer Einheit verschmolzen und politisch aufgeladen oder sorgfältig auseinander gehalten werden, lässt sich über die Notwendigkeit von Identitätsstiftung durch positioning in modernen Einwanderungsgesellschaften beantworten.
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NS-Geschichte im Einwanderungskontext In Deutschland steht außer Frage, dass der Nationalsozialismus und die Erinnerung an ihn für die politische Kultur und das demokratische Selbstverständnis konstitutiv sind (Dubiel 1999), auch wenn es sich hierbei um eine Form „negativer Identitätsbildung“ (Zimmer 2006, 38) handelt. Der Historiker Norbert Frei (1996) schreibt der Vergangenheitsbewältigung deshalb eine normativeinheitsstiftende Bedeutung zu. Die bis heute andauernde konfliktreiche „Vergangenheitsbewältigung“ präsentiert sich allerdings meist ausschließlich als Angelegenheit einer durch Abstammung begründeten deutschen Schicksals-, Verantwortungs- oder Haftungsgemeinschaft. Deshalb drängt sich grundsätzlich die Frage auf, ob eine solche national-geschichtlich „fixierte“ Gesellschaft, Erinnerungen und Geschichten von Menschen aus anderen Traditionszusammenhängen integrieren kann. Gleichzeitig muß gefragt werden, ob man von Einwanderern die Bereitschaft erwarten kann, das negative Erbe Auschwitz anzunehmen und sich in der Rolle des citizen der historischen Verantwortung zu stellen. Beide Betrachtungen spielen aufgrund des sich gegenwärtig vollziehenden Übergangs vom kommunikativen Kurzzeitgedächtnis zum kulturellen Langzeitgedächtnis (Assmann 1995, 52) eine wichtige Rolle. Denn es ist die Suche nach angemessenen Formen der Darstellung und Tradierung der historischen Ereignisse sowie des Gedenkens an die Opfer der NS-Verbrechen, die heute im Vordergrund steht. Es geht also heute weniger darum, was tatsächlich geschah, als vielmehr darum, wie das Geschehene erzählt und vergegenwärtigt wird bzw. werden soll (Jeismann 2001, 73). Es ist eben dieser kritische Übergangspunkt der kollektiven Gedächtnisbildung, der die Frage der Teilhabe von Migranten an der Erinnerung sowie die Frage der Repräsentation und Integration der „eigenen“ Geschichte(n) im Kontext der Narrative der Mehrheitsgesellschaft (Nation) zu einem zentralen identitäts- und geschichtspolitischem Thema verdichtet, mit dem sich die deutsche Migrationsgesellschaft gegenwärtig und zukünftig auseinandersetzen muß.
Jenseits lokaler Geschichtsrezeption: Globalisierung von Erinnerung Die nationalen Bezugsrahmen historischer Identitätsstiftung und kollektiver Gedächtnisbildung erweisen sich als zu starr und zu eng. Der Raum kollektiver Erinnerung ist längst kein nationaler mehr. Zeigen lässt sich dies am Beispiel der Diskurse um Europäisierung (Jeismann 2001, 73) und Globalisierung der Holocausterinnerung (Levy/Sznaider 2001). Im Zuge der Universalisierung der „negativen Erinnerung,“ wird der Holocaust zu einem signifikanten Bezugs-
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punkt von „vergessenen“ oder gegenwärtigen Opfergruppen der Menschheitsgeschichte. Es ferner ist zu beobachten, dass in geschichtspolitischen Debatten die Überwindung nationaler Narrative im Geschichtsunterricht und Geschichtsbüchern (Schissler/Soysal 2005) sowie die Herausbildung transnationaler oder auch kosmopolitischer Gedächtnisse (Levy/Sznaider 2001) an Gewicht gewinnen. Empirisch unterstrichen wird dies durch die zunehmende Zahl von Menschen, die sich gleichzeitig in unterschiedlichen nationalen und kulturellen Kontexten bewegen und dabei multiple Identitäten und Loyalitäten entwickeln. (Osler/Starkey 2003). Hinzu kommt, dass durch Globalisierung und Migration, im westlichen Erinnerungsdiskurs bislang marginalisierte Vergangenheiten, wie etwa der Kolonialismus relevant werden und nach Aufarbeitung verlangen (Messerschmidt, 2006, 9). Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien Europas bringen die verdrängte Kolonialgeschichte „nach Hause“ (Ostindie, 2006). Es gilt deshalb m. E. unbedingt in Rechnung zu stellen, dass die Herausbildung von Identität – auch von historischer Identität sich nicht mehr nur im Rahmen des „Lokalen“ – etwa innerhalb der territorialen Grenzen eines Nationalstaates vollzieht. Im global village, einer grenzüberschreitenden Kommunikations-, Informations- und Medienwelt wird Geschichte nämlich unabhängig von Akteuren und Ereignisorten in einem erweiterten Rezeptions- und Reproduktionszusammenhang betrachtet (Georgi 2003, 23). Ergebnis ist die Konstruktion hybrider Geschichtsbilder, die mehrere kollektive Gedächtnisse miteinander verknüpfen. Die politisch-historische Bildung ist an dieser Stelle herausgefordert, den Lernenden einen offenen und zugleich kritischen Umgang mit vielfältigen geschichtlichen Zeugnissen zu ermöglichen. Mehr denn je scheint die in der Geschichtsdidaktik immer wieder eingeforderte Multiperspektivität und Kontroversität als Strukturprinzip und Methode historischen Lernens zukunftsweisend. Von Borries resümiert in diesem Zusammenhang: Multikulturelle Gesellschaften sind zum interkulturellen Geschichtslernen verpflichtet und verurteilt: Sie dürfen aber nicht versuchen, jeweils eine einheitliche verpflichtende Deutung/Bewertung für die historischen Erscheinungen durchzusetzen. Sie müssen vielmehr versuchen, die gegenseitige Anerkennung von authentischer Verschiedenheit und relative Berechtigung kontrastierender Geschichtsdeutungen in einem Prozeß des Verhandelns („bargaining“) einzuüben. (v. Borries 2000, 138)
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In-Geschichten-Verstrickt-Sein und aus Geschichten lernen Die Fähigkeit zur wechselseitigen „Anerkennung von authentischer Verschiedenheit“ von Geschichtskonstruktionen lässt sich meines Erachtens besonders gut durch eine didaktisierte Auseinandersetzung mit Geschichten entwickeln und fördern. Geschichten sind ein wichtiger Gegenstand der politischhistorischen Bildung. Wenn das Dasein zeitlich ist, dann ist das Erzählen (von Geschichten) die Modalität, durch die Zeit erfahren wird. Durch das Erzählen und Verstehen von Geschichten wird eine Orientierung in der Zeit begünstigt, also die Grundlage für die Herausbildung von Geschichtsbewusstsein gelegt. Den theoretischen Ausgangspunkt bildet hier eine Geschichtenhermeneutik, wie sie von dem Soziologen Gerd Vonderach in Anlehnung an Wilhelm Schapp’s Überlegungen „In Geschichten verstrickt: Zum Sein von Mensch und Ding (1953)“ entworfen worden ist. Mit Schapp geht Vonderach davon aus, dass Menschen immer in Geschichten verstrickt sind, weshalb die Sinnzusammenhänge menschlichen Lebens geschichtsförmig organisiert sind (Vonderach 1997, 167). Geschichten sind das Medium, durch das wir Zugang zur individuellen und kollektiven Identität von Menschen bekommen: Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter. Geschichte und InGeschichte-Verstrickt-Sein gehören so eng zusammen, dass man beides vielleicht nicht einmal in Gedanken trennen kann. Die größten Werke der Menschheit haben Geschichten und Verstrickt-Sein in Geschichten zum Gegenstande […] Wir wollen nicht behaupten, dass die Weltgeschichte, wenn es so etwas gibt, oder die Geschichte irgendeiner Nation oder eines Zeitalters nur aus Geschichten bestehe oder nur eine Aneinanderreihung von Geschichten sei, aber jedenfalls stehen Einzelgeschichten im engsten Zusammenhang mit der Weltgeschichte. Eine Weltgeschichte, die nicht als wesentlichen Ausgangspunkt Geschichten hätte, lässt sich kaum vorstellen. (Schapp 1976, 1) Geschichten sind sowohl als biographische Erzählungen einzelner Individuen als auch als kollektive Geschichten (z.B. Familiengeschichten) zu verstehen. Geschichten sind zugleich intersubjektive Gebilde, in die zumeist mehrere Menschen verstrickt sind. Geschichten können einschließende (gemeinschaftsstiftende) und ausschließende Funktionen für Individuen und Gruppen haben. Schapp macht auch darauf aufmerksam, dass das Verstehen einer Geschichte ein Mindestmaß an „Mitverstricktsein,“ also Empfänglichkeit und Empathie auf der Seite der Zuhörenden voraussetzt (Schapp 1976, 136). Außerdem weisen Geschichten eine Doppelstruktur auf: Einerseits bewahren sie und andererseits
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transformieren sie ihre Inhalte. Sie bewahren, indem sie Erlebtes in eine sinnhafte Struktur bringen. Sie schaffen aber auch Neues, weil sie das Potential besitzen, über das Bewahrende hinauszuweisen (Georgi 2003, 68). Sie verfügen also über Emergenz und Transformationspotential. Geschichten können miteinander konkurrieren oder in ihrer Vielfalt nebeneinander existieren. In ihnen kann Multiperspektivität und Kontroversität zum Ausdruck kommen. Mit dem Erzählen und Verstehen von Geschichte(n) werden Identitäten konstruiert bzw. Positionierungen vorgenommen. Wer wir an einem bestimmten Punk in unserem Leben sind, wird durch Erzählungen definiert, die Vergangenheit und Gegenwart mit Blick auf die Zukunft einen (Benhabib, 1988, 169). Geschichten sind der Schlüssel zum „Selbst“ und zum „Anderen“. Das macht sie pädagogisch ungeheuer wertvoll. Das „Lernen aus Geschichten“ ist m. E der beste Weg hin zum „Lernen aus der Geschichte“. Sich diese Erkenntnis für die Gestaltung von historisch-politischen Lernprozessen in multiethnischen Gesellschaften zu Nutze zu machen, erscheint naheliegend. Im Folgenden sollen deshalb zwei aktuelle Programme aus der Bildungspraxis dargestellt werden, die die Auseinandersetzung mit Geschichten ins Zentrum ihrer Konzeption historisch-politischer Bildung gerückt haben.
Praxisbeispiele „Lernen aus der Geschichtenvielfalt“ Praxisbeispiel 1: Mehrheit Macht Geschichte – Materialien zum interkulturellen Geschichtslernen Das Konzept von Mehrheit Macht Geschichte zeigt neue Wege differenzierter Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft auf. Es basiert auf den empirischen Alltagserfahrungen des Anne-Frank Zentrums in Berlin, wonach Geschichte besonders gut über die Auseinandersetzung mit Biographien gelernt werden kann. Diese Erkenntnis war der Ausgangspunkt für die Entwicklung von Bildungsmaterialien, in deren Zentrum unterschiedliche multimedial aufbereitete Lebensgeschichten stehen, die Jugendliche mit ihren vielfältigen Lebenswelten und kulturellen Hintergründen ansprechen sollen. Bereits durchgeführte Testseminare weisen darauf hin, dass diese Rechnung aufgeht und sich die Jugendlichen tatsächlich stark von den Einzelschicksalen angesprochen fühlen. Mit Hilfe von Lebensgeschichten, in denen Themen wie Migration, Krieg und Nationalismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus biographisch bearbeitet werden, wird die Geschichte von Konflikten und Wanderungsbewegungen exemplarisch illustriert und für Jugendliche zugänglich gemacht. Schließlich ist die Darstellung von Kontinuität gesellschaftlicher Marginalisierung und Dis-
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kriminierung von Minderheiten, wie etwa der Sinti und Roma, im Programm angelegt. Die Jugendlichen (anvisiert wird die Zielgruppe zwischen 14 und 18 Jahren) erhalten zahlreiche Anregungen, sich zu den portraitierten Personen in Beziehung zu setzen, Mechanismen von Ausgrenzung zu erkennen und kritisch zu reflektieren sowie ihre eigene(n) Geschichte(n) – etwa die eigene Familiengeschichte – zum Gegendstand der Diskussion zu machen. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass die Biographien immer auf der Matrix des zeitgeschichtlichen Hintergrunds entwickelt werden. Es soll nämlich keinesfalls der Eindruck entstehen, dass man Geschichte einfach in viele Einzelerzählungen auflösen könne. Außerdem gilt es, das historische Gefüge von Ursache und Wirkung im Blick zu behalten. Erklärende Hintergrundtexte und andere Stimmen aus dem jeweiligen historischen Zeitraum kontextualisieren deshalb die Einzelgeschichten. Multiperspektivität wird im Programm groß geschrieben und entsteht dadurch, dass Einzelpersonen das oft konflikthafte Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Zu den sieben didaktisch und medial aufbereiteten Biographien, die jeweils mit thematischen Überschriften versehen sind, gehören (Rhode 2006, 60):
Nationalsozialismus und Antisemitismus: Anne Frank Krieg und Nationalismus: Zlatla Filipovic Diskriminierung der Sinti und Roma: Petra Rosenberg Arbeitsmigration: Gülay Cedden Homophobie, Verfolgung Homosexueller in Nationalsozialismus: Stefan Kosinki Kolonialismus, Widerstand: Rudolf Duala Manga Bell
Das Material, welches für schulisches und außerschulisches Geschichtslernen gleichermaßen geeignet ist, soll Jugendliche zu eigenen Aktivitäten und Engagement anregen, etwa zur Durchführung lokal-historischer Projekte. Die demnächst im Verlag an der Ruhr erschienenden Lernmaterialien bestehen aus einem pädagogischen Methoden- und Materialordner, einem Satz von kleinen Büchern mit bebilderten Kurzgeschichten aus dem Leben der ausgewählten Personen sowie einer DVD mit Bild- und Tonmaterial (siehe www.annefrank.de).
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Beispiel 2: Migrationsgeschichten als Gegenstand interkulturellen (Geschichts)Lernens Das zweite Beispiel stammt aus dem Praxishandbuch „Zuwanderung und Integration“ (2003) von Viola B. Georgi und Marc Schürmeyer. Hierbei handelt es sich – wie im Titel angelegt – um eine Handreichung mit konkreten Anregungen zur Gestaltung von interkulturellen Lernprozessen bezogen auf das Thema Einwanderung. Dabei zielt das in vier Module und einen Serviceteil untergliederte Programm auf einen Integrationsbegriff, der Integration als einen „Kulturprozess auf Gegenseitigkeit“ begreift. Das Prinzip der Multiperspektivität sowie das Prinzip der Kontroversität werden deshalb sowohl in der thematischen Auswahl (vom Heimatbegriff über Einwanderergeschichten zum „Kopftuchstreit“) als auch in der methodischen Durchführung (etwa Fishbowls, Rollenund Planspiele) groß geschrieben. Die Interkulturalität der Lernprozesse stellt sich dann quasi durch die spezifische Zusammensetzung der jeweiligen Lerngruppe her. Grundsätzlich soll das Programm, Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren, einen möglichst offenen, vielfältigen (interkulturellen), aber auch kontroversen Zugang zu den Themen Einwanderung, Migration und Integration ermöglichen. Dies geschieht einerseits durch relative „Offenheit“ des ausgewählten Materials, andererseits durch den Einsatz interaktiver, kooperativer, selbstreflexiver und ergebnisoffener Lernformen. Das Programm Zuwanderung und Integration (download unter http://materialien.fgje.de/zuwanderung/index.htm) verfolgt folgende Ziele:
Kontakt und Information zum Abbau von Unkenntnis und daraus resultierender Distanz zwischen „Einheimischen“ und „Zugewanderten“ Wahrnehmung von Differenz und Umgang mit Differenz bei gleichzeitigem Herausarbeiten und Erkennen von Gemeinsamkeiten Auseinandersetzung mit den politischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen von Zuwanderung (z.B. Ressourcenverteilung und Repräsentation im öffentlichen Raum) Reflexion eigener (kultureller) Muster und Wahrnehmung anderer (kultureller) Deutungsmuster Konstruktiver Umgang mit Konflikten Anerkennung des Anderen und dessen Recht auf freie Entfaltung
Im Folgenden soll als Beispiel für das Lernen mit und aus Migrationsgeschichten, eine Übung aus dem Modul II des Handbuchs vorgestellt werden. Modul II besteht aus (a) einer Übung mit dem Titel Migrations-ABC, (b) einer Zeitleiste
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mit Fakten über migrationsgeschichtliche Aspekte und Wanderungen auf deutschem Territorium, (c) einem Zuwanderungsquiz, (d) einer Übung zu den Ursachen und Beweggründen (Push- und Pullfaktoren) von Wanderungen und (e) einer Übung zur Auseinandersetzung mit Migrationsgeschichten. Letztere soll vertiefend dargestellt werden. Durch die Auseinandersetzung mit exemplarischen Biographien von jungen Menschen aus unterschiedlicher Einwanderergruppen und Wanderungsphasen, die ihre Migrationsgeschichten erzählen, soll ein möglichst authentischer und altersgemäßer Zugang zu Migrationserfahrungen angeboten werden. Folgende zehn – auf der Grundlage empirischer Interviews und Recherche – rekonstruierte Geschichten stehen zur Auswahl: (1) Über Nacht von Teheran nach Frankfurt (Geschichte eines jungen Iraners, der aufgrund der islamischen Revolution 1979 im Alter von einem Jahr mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen ist) (2) Als Hugenotte vertrieben: Von Frankreich nach Preußen (Geschichte eines jungen Hugenotten, der 1685 als Glaubensflüchtling den Schutz der preußischen Krone sucht und findet) (3) Als Bürgerkriegsflüchtling von Bosnien nach Deutschland (Geschichte einer jungen Bosnierin, die als Bürgerkriegsflüchtling 1993 nach Deutschland kommt) (4) Von der ostpreußischen Provinz in den Ruhrpott. (Geschichte eines jungen Polen, der 1880 als Bergarbeiter angeworben wird) (5) Aus Angola in die DDR (Geschichte einer jungen Angolanerin, die 1985 als Vertragsarbeiterin in die DDR kommt) (6) Weltreise nach Berlin (Geschichte eines jungen Spaniers, der 2001 seine große Liebe in Berlin findet) (7) Langer Weg aus Kasachstan nach Deutschland (Geschichte eines jungen Aussiedlers, der 1996 mit seiner Familie nach Deutschland einwandert) (8) Als „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Deutschland (Geschichte eines jungen Türken, der 1961 als Arbeitsmigrant nach Deutschland kommt) (9) Wurstbrot und Pasta: Von Palermo nach Hamburg (Geschichte einer italienischen Arbeitsmigrantin, die 1955 nach Hamburg kommt) (10) Aus Liebe von Brasilien nach Bayern (Geschichte einer Brasilianerin, die 1996 in Deutschland eine Familie gründet) Im Vordergrund stehen das Nachvollziehen der Auswanderungsmotive und die Sensibilisierung für Herausforderungen, denen sich viele Migranten im Migrationsprozess stellen müssen (z.B. Erwerb einer neuen Sprache, Rassismus, etc.). Die Jugendlichen setzen sich in Gruppenarbeit mit jeweils einer Geschichte auseinander und erstellen ein Identitätsposter. Auf Grundlage der Lektüre der
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Kurzbiographien werden folgende Informationen über die Person zusammengetragen: (a) Herkunftsland und dortige Situation, (b) Auswanderungsgrund (Push- und Pullfaktoren), (c) Erfahrungen im Aufnahmeland und (d) Zukunftsperspektiven. Das Poster wird mit Zeitungsmaterial, Bildern und Zeichnungen nach dem Prinzip der Collage gestaltet und im Raum aufgehängt. Auf einem „Galleriespaziergang“ (Gallery Walk) geht die Gruppe dann von Poster zu Poster. Die für die jeweiligen Poster Verantwortlichen skizzieren die Migrationsgeschichte ihrer Person. Die Lernenden werden aufgefordert zu beurteilen, welche Rolle Push- und Pullfaktoren für die jeweils spezifische Migrationsentscheidung ihrer Person gespielt haben. Da sich Push- und Pullfaktoren häufig überschneiden, kann die Komplexität von Migrationsentscheidungen diskutiert werden. Die Migrationsgeschichten werden schließlich der Zeitleiste (Fakten zu Wanderungbewegungen) zugeordnet und damit historisch kontextualisiert. Im Gesamtbild werden strukturelle Ähnlichkeiten und Differenzen von Migrationserfahrungen über die Zeit deutlich. Einwanderungs- und Auswanderungsentscheidungen von Menschen und deren jeweilige soziale, politische und kulturelle Kontexte werden in ihrer Mehrdimensionalität sichtbar und nachvollziehbar. Einwanderungsprozesse erhalten ein individuelles Profil. Statistiken werden in persönliche Geschichten verwandelt.
Ergebnisse und Ausblick Die Erfahrungen mit den beiden Bildungprogrammen dokumentieren, dass sich die didaktische Aufbereitung von Migrationsgeschichten lohnt. Es hat sich gezeigt, dass diese Geschichten – vermittelt über eine konsequente Methodik der Kontroversität und Multiperspektivität – sowohl ein Interesse für die Geschichten der „anderen“ als auch für die „eigene Geschichte“ wecken konnten. Besonders in multiethnischen Lerngruppen erwies sich die gezielte Thematisierung von Migrationsgeschichten als „Türöffner“ für die Darstellung eigener Lebens-, Familien- oder Gruppengeschichte. Damit einher ging die von vielen Jugendlichen als positiv hervorgehobene Erfahrung, dass die „eigene“ Geschichte – die Geschichte „ihrer“ historischen Bezugsgruppe – plötzlich einen Ort hatte, an dem sie erzählt werden konnte und Zuhörer unter den Mitschülern fand, die bereit waren, sich in ihre Geschichten zu „verstricken.“ Es entstanden nicht nur spannende familiengeschichtliche Recherchen und Interviewprojekte sondern auch kleine Ausstellungen über die komplexen Migrationsgeschichte(n) von Familien einzelner Schülerinnen und Schüler bzw. deren Familien. Dokumentiert wurden sehr differente, aber auch sehr ähnliche Verarbeitungsweisen von Migrationserfahrungen. Ganz im Sinne interkulturellen Lernens konnten wichti-
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ge Unterschiede thematisiert, aber auch Gemeinsamkeiten jenseits spezifischer Gruppenerfahrungen (z.B. Asyl, Flucht, Arbeitsmigration) herausgearbeitet werden. Betonen möchte ich die Bedeutung der Selbstthematisierung der Migrationsgeschichte(n) durch die Jugendlichen und ihre Motivation, das Thema eigenständig weiter zu erkunden und mit unterschiedlichen Präsentationsformen (z.B. Theater, Erzählcafé, Video) zu experimentieren. Problematisch wäre es hingegen gewesen, wenn man den Lernenden, Geschichte(n) qua unterstelltem Herkunftsland (auf Grund der Generationslage meist das Herkunftsland der Eltern und Großeltern) zugeschrieben hätte. Auch das kommt nämlich im Rahmen wohlmeinender interkultureller Bildungsbemühungen vor, mit dem Effekt, dass die Anderen über die historische Zuschreibung und Verortung in einer unterstellten „Heimat“ erst zu Anderen gemacht werden (Appiah 1996, 90). Im angelsächsischen Kontext hat man für solche Prozesse den Begriff „othering“ gefunden. Kurz: Historische, wie ethnische bzw. national-kulturelle Zuschreibungen nach dem Prinzip „Cem repräsentiert die türkische Kultur, Dragan das serbische Geschichtsbild“ könnten zu einer zusätzlichen Ethnisierung von Erinnerung und Geschichtsbewusstsein beitragen und damit zu einer Manifestation von Unterschieden, die es im Einwanderungskontext zu Gunsten eines inklusiven, universalistisch-orientierten „moralischen Gedächtnisses“ (Margalit 1999) zu überwinden gilt. Nur auf diese Weise können wir der unaufhaltsamen Pluralisierung und Fragmentierung von Geschichtsbildern und Erinnerungsmustern adäquat begegnen. Denn auch hier muß „Einheit in der Vielfalt“ handfest gemacht werden und dies funktioniert meiner Ansicht nach vor allem über eine Orientierung am normativen Konzept der Menschenrechte. Um einem Zerfallen in verschiedene, nicht miteinander verbundene Erinnerungsgemeinschaften vorzubeugen, bedarf es daher in der Gestaltung einer zeitgemäßen historischpolitischen Bildung der systematischen Herausarbeitung von Interdependenzen, Überschneidungen und Zusammenhängen unterschiedlicher Kollektivgeschichten. Übergreifende, unterschiedliche Geschichten verbindende biographische Erzählungen könnten hier eine Schlüsselrolle einnehmen. Der nationalstaatliche Rahmen bleibt zwar der Raum, in dem diese strukturellen Verbindungen sichtbar gemacht und in dem unterschiedliche Kollektivgeschichten und Formen von Gedächtnisbildung verhandelt werden müssen; zugleich aber ist er auch der Raum, den es zu überschreiten gilt, will man sich zu den Geschichte(n) der anderen in Beziehung setzen. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von einer Demokratisierung der Erinnerung sprechen, einer Erinnerung, die pluralistisch und partizipatorisch, aber nicht beliebig ist, nicht-zentralistisch, sondern dezentral, gesellschaftlich verankert und international vernetzt (Faulenbach 2002, 88).
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Ob eine demokratische Öffnung und Reflexion von Erinnerungsarbeit zu einer „Einheit in Vielfalt“ bezogen auf die nationalstaatlich orientierte kollektive Gedächtnisbildung beitragen kann oder gar die Entstehung eines „kosmopolitische[n] Gedächtnisses“ (Levy/Sznaider 2001) begünstigt, bleibt abzuwarten. Zunächst muß es aber darum gehen, die Vielfalt der Migrationsgeschichten überhaupt sichtbar zu machen und ihnen Anerkennung im öffentlichen Raum zu verschaffen, etwa in Form von Repräsentation im Schulbuch, in den Medien oder auch kulturellen Objektivationen. All dies könnte einen Beitrag dazu leisten, dass Migrationsgeschichte auch in Deutschland schon bald als „Normalfall“ betrachtet wird: Zweifelsohne ein Meilenstein für die künftige Ausrichtung der historisch-politischen Bildung.
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Béatrice Ziegler
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Europäische Bürgerschaftsbildung und Familienforschung Der Impetus politisch mündiger Bürgerinnen und Bürger, in der Zivilgesellschaft aktiv zu sein, setzt eine stabile Herausbildung von Identität voraus. Auf ihrer Basis, in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Verortung der eigenen Person also gewinnen Personen Handlungssicherheit. Dabei kommt für alle, Erwachsene wie Kinder, der Zugehörigkeit zu einer – wie auch immer definierten – Familie eine grundlegende Bedeutung zu. Als primärer Sozialisationsraum schafft Familie gesellschaftliche Verankerungen und Grundhaltungen bezüglich sozialer Bindungen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familie, ihrer Bedeutung in der eigenen Existenz, auch in der Gegenüberstellung zu anderen sozialen Verankerungen – wie Altersgruppen, schichtspezifische Gruppierungen, berufsgebundene Zusammenschlüsse, nationalitätsbezogene Zugehörigkeit – ist deshalb sowohl individualpsychologisch wie politisch von hoher Relevanz. In einem Europa, das als (Ein-)Wanderungskontinent eine zunehmend heterogene Gesellschaft aufweist, ist die öffentliche Thematisierung der Heterogenität von Identitäten und kulturellen Praktiken eine längst erkannte Notwendigkeit. Damit soll ein produktiver Umgang mit unterschiedlichen persönlichen und gruppenspezifischen Verankerungen und Abgrenzungen im Rahmen einer als gemeinsamen Bezugsgröße zu verstehenden Zivilgesellschaft erreicht werden. So sollen die Kohäsion dieser Zivilgesellschaft und das Engagement der Einzelnen in und für sie gestärkt und gesichert werden. Aus diesem produktiven Umgang sollen Verständnis beziehungsweise Toleranz gegenüber Heterogenität, aber auch kritische Auseinandersetzung und Klärung gemeinsamer Werthaltungen resultieren.
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Migrationspädagogische Ziele der Familienforschung In Gesellschaften mit hoher Migration gewinnt für die Einzelnen die Auseinandersetzung mit der Familie an Brisanz. Die hohe Attraktivität der Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen mit der eigenen Familie basiert vor allem auf den folgenden Momenten: x Persönliche Identitätsfindung, gesellschaftliche Verankerung x Emotionalität, persönliche Bindungen und Prägungen x Verbindung von schulischer Tätigkeit mit familiärem Umfeld x Eröffnung eines Netzes von gesellschaftlichen Bezügen in Zeit und Raum x Identitätsaufbau durch Zugehörigkeit zu einem sozial (und politisch) beschriebenen Kollektiv Familienforschung berührt diese Bereiche und löst damit vergleichsweise hohe Betroffenheit aus. Welcher Art diese Betroffenheit ist, kann aber im Vorfeld nur schwer abgeschätzt werden. Auch wenn grundsätzlich von positiver Gestimmtheit bei Schülerinnen und Schülern ausgegangen werden kann, wenn sie sich mit der eigenen Familie beschäftigen, kann es durchaus Einzelne geben, für die diese Auseinandersetzung schmerzhaft ist, oder für die es Momente in ihrer Beschäftigung mit Personen und Schicksalen in der Familiengeschichte gibt, die mit Belastungen,Wut oder Trauer verbunden sind. Lehrkräfte, die sich die Beschäftigung der Schüler und Schülerinnen mit ihren Familien(geschichten) vornehmen, werden im Vorfeld abzuschätzen versuchen, inwiefern das Thema bei einzelnen Schülerinnen und Schülern zu belastend sein könnte und wie damit umgegangen werden könnte. Außerdem ist es angezeigt, dass Lehrpersonen den Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern während ihrer Beschäftigung in der Familienforschung inhaltlich pflegen, auch wenn sie diese Beschäftigung als Projektarbeit organisieren. Trotz dieser Vorbehalte ist in heutigen Gesellschaften, in denen äußerst viele Jugendliche in einem Migrationszusammenhang stehen, die Beschäftigung einer Klasse mit den jeweiligen Familiengeschichten besonders interessant. Dies deshalb, weil neben den bereits genannten allgemeinen Punkten weitere Momente hinzukommen: So lässt sich die familiäre Erfahrung des Lebens in verschiedenen Räumen und zwischen verschiedenen Räumen bearbeiten. Der Umgang mit kulturellen Feldern, mit der Erfahrung von Fremdheit und Vertrautheit, mit politischen Feldern und Partizipationsmöglichkeiten eröffnet den Jugendlichen Perspektiven für Handlungsoptionen und auf Handlungsräume. Da alle diese emotionsgeladenen Felder mit den Geschichten der Familie verquickt sind, entsteht eine sehr intensive Lernsituation. Familienforschung ist also ein dankbares Lernfeld für Jugendliche heutiger multi-ethnischer Gesellschaften.
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Familienforschung als genealogische Forschung Unter Familienforschung ist Verschiedenes zu verstehen. In einer weiteren Fassung des Begriffs Familienforschung wird die wissenschaftliche Beschäftigung mit vielerlei Fragen zur Familie angesprochen. Dabei geht es um unterschiedliche Zugänge zum Phänomen Familie (vgl. weiter hinten). In der engen Fassung des Begriffs ist unter Familienforschung die genealogische Forschung, das heißt die Erforschung der Abstammung von Personen und Familien zu verstehen. Volkstümlich wird sie auch als Ahnenforschung bezeichnet. Der wissenschaftliche fremdsprachige Begriff heißt Genealogie und bezeichnet wörtlich die „Lehre von der Abstammung“. Die genealogische Forschung ist vielfach motiviert durch den persönlichen Wunsch, eigene Identität über ein Zeit und Raum durchschreitendes zurück Verfolgen der Ahnen zu begründen. Es wird damit eine persönliche Identität aufgebaut, die sich auf ein Kollektiv, nämlich die eigene Familie, bezieht. Die Zugehörigkeit zu einer Familie, deren Mitglieder man über Generationen kennt, erlaubt es einzelnen Personen, sich in der Gesellschaft zu verankern und eine unverwechselbare und auch nicht verlierbare Identität aufzubauen. Diese Identitätskonstruktion kann durchaus rechtliche und politische Motive und Konsequenzen besitzen: Der Nachweis zu einer bestimmten Familie zu gehören kann in gewissen adeligen und großbürgerlichen Familien die Konsequenz haben, dass man als Einzelner oder Einzelne Zugang zu einem Familienstipendienfonds, zu einer Familienstiftung erlangt, die etwa dann über ein Darlehen eine teure Ausbildung in Reichweite rückt. In regierenden Adelshäusern klärt die genaue Genealogie die Ansprüche Einzelner auf den Thron beziehungsweise die Rangordnung der Thronfolge. Bei migrierten Personen einer Familie kann der wiederentdeckte Ursprung und damit der Heimatstaat beziehungsweise das Erfahren des verlorenen Heimatortes einen rechtlichen oder aber auch humanitären Anspruch auf Hilfe durch die alte Heimat begründen. So hatten in der jüngsten schweren Wirtschaftskrise Argentiniens, wo Familien in großer Zahl verarmten und keine Beschäftigung mehr fanden, Argentinier und Argentinierinnen schweizerischer Abstammung Möglichkeiten, an die Hilfsbereitschaft der Schweiz beziehungsweise der Heimatgemeinde zu appellieren. Sofern sie den schweizerischen Pass als Doppelbürger noch besitzen, war ihnen die – vorübergehende – Rückkehr in die Schweiz ohne Probleme möglich. Ohne diesen Ausweis waren sie auf solidarische Interventionen von Schweizern angewiesen, die zum Beispiel für sie bürgten. Dass sich im Kanton Wallis, aus dem ehemals sehr viele Familien und einzelne Personen ausgewandert waren, in vielen Gemeinden das Bewusstsein für familiäre Bande und Solidarität stark erhalten hatte, kam diesen schweizerisch-argentinischen Familien zugute.
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Traditionellerweise waren die Methoden der genealogischen Familienforschung ausgerichtet auf eine geringe Mobilität und eine hohe administrative Erfassung der Bevölkerung. Aufgrund dieser Voraussetzungen ist die Rückwärtsverfolgung einer Familie über mehrere Generationen einigermaßen einfach über Archivarbeit möglich: Insbesondere Pfarrbücher sind hierfür die geeigneten Quellen. Unter diesen Voraussetzungen hat sich die genealogische Erforschung anfänglich darauf konzentriert, Stammbäume zu erstellen. Dabei werden die Mitglieder der Familie mit ihren Namen, Geburts- und Todesdaten verzeichnet. Sie werden in der Abstammung von ihren Eltern gezeigt und es wird angefügt, mit wem sie sich verehelichten und wieder Kinder zeugten. Diese wohl allgemeine Einigkeit erzielende Beschreibung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei der Darstellung von Stammbäumen nicht quasi naturbedingte Abstammungen dargestellt, sondern auf – dienliche, aber so gesehen willkürliche – Kriterien abstellende Kunstprodukte erzeugt werden. Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu einer im Stammbaum zusammengefügten Familie beruht auf gesellschaftlichen Prinzipien (zum Beispiel einer patriarchalen Ordnungsstruktur: vgl. unten Stammbaum Bach) und Überlegungen zum Darstellungsziel (die elementare Bedrohung einer ganzen Familie durch die Shoa, vgl. unten Stammbaum Mildenberg). Dies sollen die eben genannten Beispiele illustrieren. Zwei der Prinzipien, denen bei der Darstellung der Stammtafel der Familie Bach (s. Abb. 1) gefolgt wurde, sind offensichtlich. Außer den beiden Ehefrauen des Johann Sebastian und einer Tochter sind keine Frauen genannt. Im Wesentlichen wird also die männliche Abstammung verfolgt. Ohne Zweifel geht es hier darum zu zeigen, wie sich die Tätigkeit als Musiker bei Mitgliedern der Familie Bach verfolgen lässt. Kriterien der Herstellung von Stammbäumen, aber auch Kriterien ihrer Interpretation müssen kritisch befragt werden. So eignet sich diese Darstellung des Stammbaums trotz landläufiger und auch eugenischer Interpretationen in diese Richtung nicht dazu, die theoretisch ohnehin unklare Weitergabe von Musikalität wirklich zu verfolgen. Dafür müssten jeweils alle Kinder eines/r Bach aufgeführt werden und es müsste ein anderes Kriterium gefunden werden, als die Tätigkeit als Musiker, da Frauen dieser Beruf nicht offen stand.
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File:///D:stammbaumFamilie%20Bach.gif (vgl. auch www.bach.de/leben/chronik.html)
Abb. 1
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Abb. 2
www.synagoge-voehl.de/Juden_in_V%F6hl/personen/stammbäume/mildenberg.htm
Beim zweiten Beispiel handelt es sich um die Familie Mildenberg aus Voehl (s. Abb. 2). Der Stammbaum folgt vorerst dem patriarchalen Prinzip, indem es die Personen – Männer wie Frauen – zeigt, die auf einen Mayer Michel Mildenberg (1875-ca.1848) zurückgehen und den Namen Mildenberg getragen haben. (Die Spur führt zwar weiter zurück, aber wird dort unsicher.) Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verfolgung – die Pfeile markieren ermordete Personen, mit denen Familienlinien abbrechen – werden in den jüngeren Generationen auch weibliche Linien sichtbar gemacht, weil nur über sie überhaupt die Familie des Michel Mildenberg heute noch lebende Mitglieder aufweist. Mit diesen beiden Beispielen soll verdeutlicht werden, dass Stammbäume beziehungsweise die genealogischen Arbeiten immer voraussetzen, dass man sich überlegt, welche Sachverhalte denn durch die Konstruktion des Stammbaums hervorgehoben werden sollen. Auf den oben angesprochenen Prozess der Konstruktion von Identität über Familiezugehörigkeit bezogen ist daher zu betonen, dass familiäre Identität auch über Auslassung und Abgrenzung hergestellt wird. Die Reflexion zu diesem Sachverhalt ist äußerst bedeutsam, auch wenn in der Schule Schülerinnen und Schüler beginnen, sich mit ihrer familiären Abstammung zu befassen.
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Béatrice Ziegler
Die Erstellung eines Stammbaumes allein ist für Jugendliche nur bedingt interessant. Dafür kommt dieser den Bedürfnissen, die hinter dem Interesse an der eigenen Familie stecken, viel zu wenig entgegen. Es kann aber ein lohnender Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Familie sein
Vielfältige Ausprägung von Familienforschung Im Bereich der Familienforschung können neben den genealogischen Interessen weitere Themen verfolgt werden: Die Familie kann in ihrer räumlichen Dimension beschrieben werden, indem kartographisch dargestellt wird, in welchen Räumen und welchen Ortschaften sich Mitglieder der Familie befunden haben. Allenfalls kann dies kombiniert werden mit einer zeitlichen Entwicklung, um das Ausgreifen in den geographischen Raum über die Zeit hinweg zu beschreiben. Dabei ist vielfältiges Material verwendbar (Briefe, Familiendokumente, Geschäftspapiere, Interviews u.a.m.). Berufliche Spezialisierung und Sozialisation kann über Generationenfolgen nachvollzogen werden. Sozialer Wandel kann am Beispiel einer Familie gezeigt werden. Je nach Verfügbarkeit von aussagekräftigen Quellen sind auch Werthaltungen und ihre Veränderung aufzeigbar. Politisches Engagement als Teil einer familiären Sozialisation und einer familiären Kultur kann verfolgt werden. Alle diese Forschungsrichtungen orientieren sich letztlich an soziologischen oder historischen Teildisziplinen und ordnen sich in den entsprechenden Fachdiskurs ein. Nichtsdestoweniger können diese Themenstellungen für die Beschäftigung mit Familienforschung in der Schule genutzt werden.
Didaktische Umsetzungen der Familienforschung Es sind kleine Formen der Auseinandersetzung mit Familie denkbar, etwa wenn jedes Kind ein Foto zu einer Person oder einer Familie mitbringt und den Auftrag hat, dazu zu sprechen. Auch kann das Fundament des Stammbaums in einer Klassenstunde gelegt werden und dann aufgefordert werden, die bekannten Familienmitglieder in dieser Weise zu ordnen. Dies eignet sich auch in der Vorbereitung einer Projektarbeit, wie sie unten vorgeschlagen wird. Speziell geeignet für die Familienforschung ist die Projektarbeit bzw. das entdeckende oder forschende Lernen. Dabei ist es wie immer in diesem Typ Lernanlage notwendig, Jugendliche mit methodischen Anleitungen zu begleiten. Sie benötigen, je nach dem welche Quellengrundlage sie für ihre Projektarbeit finden und sich erschließen können, unterschiedliche Techniken. Denn metho-
Familienforschung und Migrationspädagogik
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disch erfordert gerade die Zuwanderungsherkunft von vielen Jugendlichen ein Wechsel weg von den traditionellen Archivarbeiten hin zu vielgestaltigen Quellenbeständen: x offizielle Kanäle/Archive (bleiben zwar relevant, aber nicht für alle gleich nutzbar) x Familiendokumente wie Briefe, alte Ausweise, autobiographische Dokumente x Fotosammlungen, Fotoalben x Karten der Auswanderungsregion x Lebende Mitglieder der Familie, allenfalls auch Bekannte, Arbeitgeber usf. (Oral History) Je nach Quellengattung benötigen die Jugendlichen die Interviewtechnik, Recherchetechniken, Techniken zur Bild- und Kartenanalyse usw. Dieser Bedarf muss im Rahmen einer Konzepterarbeitung und -besprechung diskutiert und vorbereitet werden. Die Unterlagen zur Aneignung dieser Techniken müssen von der Lehrperson zur Verfügung gestellt und mit den Jugendlichen im Einzelgespräch oder in Gruppen von Jugendlichen mit gleichen Vorgehensweisen besprochen werden. Insbesondere aber ist eine Klärung der eigentlichen Zielsetzung nötig, die in der einzelnen Arbeit verfolgt wird. Diese Klärung kann durch eine Anfangssequenz der Beschäftigung mit der eigenen Familie vorbereitet werden. Einen Vorschlag für eine solche Anfangssequenz folgt hier: Jede/r SchülerIn schreibt auf vorbereitete Zettel die Namen der ihm/ihr bekannten Verwandten. Dann werden farbige Zettel mit Erinnerungswertem zu einzelnen Verwandten beschriftet. Dabei werden für Orte, für Berufe, für Ereignisse, für Geschichten (die mit einem Stichwort angedeutet werden), für Daten je eine Farbe gewählt. Nun werden die weißen Zettel auf ein Flipchart-großes Blatt geheftet. Mit einer Schnur werden diejenigen Personen untereinander verbunden, die in engem Bezug zueinander stehen. Dann werden die farbigen Zettel den Personen zugeordnet. Wenn alle Jugendlichen ihr Blatt gestaltet haben, wird im Plenum eines dieser Blätter besprochen, allenfalls auch dasjenige, das die Lehrperson für ihre eigene Familie gestaltet hat. Die Besprechung soll vorerst ganz unstrukturiert danach fragen, wo Aufmerksamkeit erzeugt wurde, welche Sachverhalte Ideen entstehen lassen, wo Unklarheiten bestehen. In einer zweiten Phase der Besprechung soll gezielt darauf geschaut werden, welches dominante Bezüge sind, die auffallen: Etwa, dass die Familienmitglieder an ganz verschiedenen Orten sich aufhalten, oder etwa, dass mit den Familienmitgliedern sehr viele Geschichten verbunden sind. Es kann danach gefragt werden, ob die Schnüre enge verwandtschaftliche Beziehungen bezeichnen (also eine Vorstrukturierung eines Stammbaums darstel-
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Béatrice Ziegler
len) oder ob sie von einer engen emotionalen Beziehung zeugen usf. Vielleicht sind auch bei einer Person viele Zettel zu Geschichten zugeordnet. Diese zweite Phase soll darauf abzielen, den Jugendlichen bei der zu formulierenden Zielsetzung zu helfen, die die Projektarbeit haben wird. Denn – wie bereits gesagt – es kann nicht sein, dass Jugendliche in ihrer Projektarbeit eine ganz trockene Stammbaumübung durchführen sollen, wenn andere Themen – etwa die kulturelle Unterschiedlichkeit – in der eigenen Familie und anderes mehr, sie viel mehr interessierten. Es kann jedoch sein, dass ein Jugendlicher im Klassenkontext nun von der eigenen Familie gelangweilt ist, weil diese in seinem Wissen seit sehr langer Zeit in der gleichen Gegend wohnt und scheinbar nichts Spannendes erlebt hat. Dort müssen den Jugendlichen Perspektiven gegeben werden. Vielleicht ist gerade seine Familie (ablesbar an den Zetteln zu den Berufen) ein gutes Beispiel für den sozialen Aufstieg, den die Familie im sozialen Wandel der vergangenen Jahrzehnte oder des vergangenen Jahrhunderts gemacht hat. Diesen mit der Familiengeschichte zu dokumentieren ist nicht weniger spannend als eine Migrationsgeschichte. Es sollte keinesfalls der Eindruck entstehen, dass nur Migrantinnen und Migranten eine spannende Familienvergangenheit besitzen. Wie auch immer der Einstieg in das Projekt erfolgt, ob mit dem referierten Anfang oder anders, wichtig ist, dass die Jugendlichen begreifen, dass ihr Familienforschungsprojekt ein von ihnen gesuchtes Ziel haben soll und dass sie ihr Projekt aufgrund dieses Ziels formulieren. Die Lehrkraft wird die von den Jugendlichen zu erstellende Projektskizze im Einzelgespräch besprechen müssen. Dort sollen Ziel oder auch zentrale Frage, Quellen-Material, Methode der Erschließung, Informationsmaterial zur Interpretation des Quellen-Materials, Zeitplan thematisiert sein. Ist dann das Vorgehen gutgeheißen und steht das Material zur Verfügung, kann die zentrale Frage und der Zeitplan präzisiert werden, sowie die Form der Präsentation des Projekts bestimmt werden. Sobald die Materialien erschlossen sind, wird der Aufbau der Präsentation (bei einer schriftlichen Arbeit die Gliederung, bei einem Poster die wesentlichen Darstellungsteile, bei einem Video die Sequenzen) formuliert und mit der Lehrkraft besprochen werden. Bei der Konzeptarbeit wie in der Arbeitsphase ist die Lehrperson Beraterin. Gleichzeitig wird sie sich aber auch nicht scheuen dürfen, mit Einfühlungsvermögen allfällige psychische Barrieren oder Schwierigkeiten, denen Jugendliche während einer solchen Arbeit zur eigenen Familie ausgesetzt sind, anzusprechen. Es ist nicht allzu selten, dass die Projektarbeit des/der Jugendlichen nicht nur ihn oder sie, sondern auch Eltern, Verwandte und Geschwister emotional beansprucht. Geschichten zu erzählen, sich an Vorfälle zu erinnern, nach Zusammenhängen gefragt zu werden, alte Fotos wieder anzuschauen und zu kom-
Familienforschung und Migrationspädagogik
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mentieren sind nicht immer problemlose Vorgänge. Die Ideen und Interpretationen der Jugendlichen zur Familiengeschichte sind manchmal nicht in Übereinstimmung mit der Sicht, die die älteren Mitglieder der Familie von ihr haben. Dies kann Spannungen, ja Streit auslösen, kann aber auch dazu führen, dass Jugendliche nicht alles präsentieren, was sie herausgefunden und interpretiert haben. Trotz solcher emotionaler Klippen und vielleicht auch gerade wegen der Betroffenheit sind solche Familienforschungsprojekte eine äußerst lohnende Angelegenheit, die es ermöglicht, die Verschiedenartigkeit gesellschaftlicher Identität, die es in Klassen gibt, zu zeigen und zu würdigen. Gerade dafür muss aber auch der Frage, wie die Präsentation der Arbeiten vor sich gehen soll, Bedeutung gegeben werden. Eine Visualisierung des Ergebnisses (kommentierte Fotoserie, Poster und ähnliches) ist speziell günstig dafür, dass in der Klasse alle Arbeiten und damit alle Jugendlichen zur Kenntnis genommen werden können. Gerade das respektvolle gemeinsame Gespräch über Familiengeschichten ist geeignet, den Kindern und Jugendlichen im Klassenverband die Anerkennung ihrer eigenen Verankerungen zu verschaffen und gleichzeitig Differenzen in Sichtweisen deutlich zu machen. Damit wird Verständnis und Toleranz praktiziert, allenfalls erfolgen aber auch distanzierende und Unterschiede betonende Rückmeldungen. Diese Spiegelung eigener Familienidentität in den Kommentaren der KlassenkameradInnen muss gut und mit Regeln der Offenheit und des Respekts begleitet werden. Damit wird den Schülerinnen und Schülern eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Situierung von sich selbst, der eigenen Familie in der Zivilgesellschaft möglich.
Literatur Erben, Max: Das geheimnisvolle Foto. Eine Einführung in Familienkunde für Jugendliche, Limburg/Lahn 1992 (Grundriss der Genealogie 10). Gestrich, Andreas/Knoch, Peter/Merkel, Helga (Hg.): Biographie – sozial-geschichtlich. Göttingen 1988. Holzbrecher, Alfred: Interkulturelles Lernen, in: Sander, Wolfgang (Hg.): Handbuch politische Bildung, Schwalbach/Ts 2005 (3. Aufl.), S. 392-406. Prodolliet, Simone (Hg): Blickwechsel. Die multikulturelle Schweiz an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Luzern 1998. Ribbe, Wolfgang/Henning, Eckart: Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, 12.Aufl., Neustadt /Aisch 2001.
Andrea Schmelz/Anne von Oswald
Das Lernportal “The Unwanted” – Zwangsmigrationen in der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert online lernen und verstehen: http://lernportal.the-unwanted.com Nur das Wissen um eine gemeinsame Vergangenheit ermöglicht es, eine gemeinsame europäische Zukunft aufzubauen, in der für den Erhalt der Menschenrechte und die Überwindung von Nationalismen eingetreten wird
Einführung: Lernen über Zwangsmigrationen auf dem Weg der Europäisierung Flucht, Vertreibung und Völkermord sind ein prägendes Merkmal der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert, die mit Krieg, Gewalt und der Idee des ethnisch homogenen Nationalstaates einhergehen (Naimark, 2004). Die Bilder von massenhafter Flucht und Vertreibung innerhalb Europas sind infolge der Bürgerkriege und der Neubildung von Staaten im zerfallenden Jugoslawien in den 1990er Jahren erneut aktuell geworden. Zugleich zeigt sich in Deutschland und den betroffenen Nachbarländern seit knapp einem Jahrzehnt ein großes öffentliches Interesse an der Erinnerung und Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung, die ursächlich mit der Gewaltherrschaft, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und vielfacher Menschenrechtsverletzungen der Nationalsozialisten zusammenhängt. In der Forschung wie in der politischen Bildung wird ein europäisch vergleichender Ansatz der Zwangsmigrationen vielfach gefordert, aber noch selten umgesetzt. Das Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg hat bislang im deutschsprachigen Raum den einzigen Versuch einer didaktischen Lehrerhandreichung zum Thema Zwangsmigration in vergleichender europäischer Perspektive unternommen (Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg, 2002). Es besteht weithin Konsens darin, dass ein Ansatz der Erinnerung in gesamteuropäischer Perspektive wünschenswert ist (Kruke, 2006; Bingen u.a., 2003). Zugleich wird angesichts der Komplexität der Phänomene der Zwangsmigration und ihrer jeweiligen Kontexte eine didaktische Aufbereitung der Thematik mit europäischen Lernperspektiven als verfrüht angesehen, stattdessen wird die intensive Erforschung der Einzelphänomene auf nationaler und lokaler Ebene gefordert (Haslinger, 2006, S. 77ff).
Das Lernportal “The Unwanted”
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In den letzten Jahren hat es mehrere Wellen heftiger Auseinandersetzung um Konzeption und Perspektiven der Erinnerung an Zwangsmigration gegeben, die sich an dem vom Bund der Vertriebenen und seiner Vorsitzenden Erika Steinbach, vorgelegten Konzept eines „Zentrums gegen Vertreibung“ entzündeten.1 Als Gegenentwurf hat sich ein Netzwerk „Erinnerung und Solidarität“ gegründet, das sich für die dezentrale Erinnerung an Zwangsmigrationen in gesamteuropäischer Perspektive einsetzt. Das Lernportal “The Unwanted” versteht sich als Angebot einer europäischen Bürgerschaftsbildung, das Fragen zum Thema (Zwangs-)Umsiedlung, Flucht und Vertreibung anhand von ausgewählten Beispielen sowohl aus nationaler als auch aus transnationaler vergleichender Perspektive behandelt, um zu einer europäischen Erweiterung über den nationalen Kontext hinaus beizutragen. Im Zentrum des Lernportals stehen hörbare Geschichten von Zwangsmigrationen aus fünf europäischen Ländern bzw. Regionen: x Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch in den 1920er Jahren x Vertreibungen und Umsiedlungen der polnischen und deutschen Bevölkerungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg x Die „ethnische[n] Säuberungen" in Bosnien der 1990er Jahre Der folgende Beitrag möchte von den genannten Fallbeispielen ausgehend einen Überblick über die didaktische Konzeption sowie über das Angebot an didaktischen Szenarien der Lernstationen geben.
I. Die Fallbeispiele Griechisch-türkischer Bevölkerungsaustausch Die Geschichte der Zwangsmigrationen beginnt in Europa mit den Balkankriegen (1912/13), als erstmals im 20. Jahrhundert massenhaft Menschen vertrieben wurden. Dies betraf anfänglich vor allem die Muslime. Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und der griechisch-türkische Krieg 1920-1922 führten zu einer territorialen Neuordnung der gesamten Region und zu systematisch durchgeführten Bevölkerungsverschiebungen. Grundlage dafür war das Abkommen von Lausanne zwischen Griechenland und der Türkei aus dem Jahre 1923, in dem die Zwangsumsiedlung von ca. 1,3 Millionen Griechen aus Kleinasien und
1 Von August bis Oktober 2006 ist im Berliner Kronprinzenpalast die Ausstellung „Erzwungene Wege“ zu sehen, die im Auftrag des Bundes der Vertriebenen erarbeitet wurde und erneut zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Erinnerung an Zwangsmigrationen geführt hat.
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dem Pontos sowie ca. 400 000 Türken bzw. Muslime aus Griechenland beschlossen wurde.
Deutsche und polnische Vertreibung und Umsiedlung Nach dem Zweiten Weltkrieg führten Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung zu einer der größten Völkerwanderungen in der europäischen Geschichte. In Europa waren vor allem Polen und Deutschland davon betroffen. Als die Grenzen Polens im Jahr 1945 nach Westen verschoben wurden, mussten Millionen Polen und Deutsche ihre Heimat verlassen: Aus dem polnischen Osten, der nun zur Sowjetunion gehörte, wurden die Polen nach Westen umgesiedelt, in die ehemals deutschen, nun an Polen abgetretenen Gebiete. Von dort wiederum wurde die deutsche Bevölkerung vertrieben, sofern sie nicht schon vor der heranrückenden Roten Armee geflohen war, und durch polnische Neusiedler ersetzt, die meisten von ihnen Umsiedler aus ihrer verlorenen Heimat in Ostpolen.
„Ethnische Säuberung“ in Bosnien Im Frühjahr 1992 begann mit dem Krieg in Bosnien-Herzegowina ein Völkermord mitten in Europa: Bis zum Kriegsende im Jahr 1995 wurde knapp die Hälfte der 4,35 Millionen Einwohner Bosnien-Herzegowinas zu Flüchtlingen und Vertriebenen. Von den fast zwei Millionen Betroffenen konnten bis heute mehrere Hunderttausend aus dem Ausland oder aus anderen Landesteilen in ihre Heimat zurückkehren. Die Rückkehrer stehen vor der schwierigen Herausforderung, die das friedliche Zusammenleben von Muslimen und Serben heute darstellt.
II. Didaktische Konzeption Das Lernportal “The Unwanted” ist eine Lern- und Arbeitsumgebung für den handlungs- und projektorientierten Unterricht und die politische Bildung außerhalb der Schule. Eigenständig können Schülerinnen und Schüler sowie sonstige Nutzerinnen und Nutzer in Gruppen oder in Einzelarbeit sich den Themenbereich Zwangsmigration im 20. Jahrhundert aus verschiedenen Perspektiven erschließen.
Das Lernportal “The Unwanted”
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Wie ist das Lernportal zu benutzen? Das Lernportal “The Unwanted” ist für offene Unterrichtssituationen und zum Selbstlernen konzipiert und bietet sich als ergänzendes mediales Lernangebot im regulären Unterricht an. Auch ganze Unterrichtsprojekte können im Lernportal durchgeführt werden. Nutzerinnen und Nutzer in der außerschulischen politischen Bildung finden hier Anregungen zum Selbstlernen und für weiterführende Projektaktivitäten. Gliederung des Lernportals Die einzelnen Themenbereiche sind in vier Lernstationen gegliedert, die wiederum mindestens drei Arbeitsaufträge anbieten. Jeder einzelne Arbeitsauftrag ist eine in sich abgeschlossene Unterrichts- bzw. Lerneinheit von in der Regel 90 Minuten. Aufgabenstellung, Materialangebot und Vorschläge zur Präsentation der Ergebnisse gliedern den Arbeitsauftrag. Das Material besteht je Arbeitsauftrag aus Interviewauszügen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in Form von Audiofiles, Fotos, Texten oder Arbeitsmaterialien, die als Download bereit liegen und offline verwendbar sind. Zudem stehen themenspezifische Literatur- und Linktipps und online-Notizblätter zur Verfügung, auf denen Überlegungen bzw. Ergebnisse gespeichert werden können. Mediennutzung und eigenständiges Lernen Die interaktive Mediennutzung schafft attraktive Lernanreize für Schülerinnen und Schüler im historisch-politischen Unterricht. Schülerinnen und Schüler können ihre Medienkompetenzen erweitern und vertiefen, indem sie die Aufgabenstellungen des Lernportals bearbeiten. Dabei recherchieren sie durch vorgebene Web-Adressen angeleitet, fachliche Informationen, die sie sich inhaltlich selbstständig erschließen. Speziell in den Arbeitsphasen, in denen Gruppenarbeit vorgesehen ist, wird partnerschaftliches Arbeiten im Team gefördert. Erzählte Erinnerung Die Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus den unterschiedlichen Ländern stehen als Audiodateien zur Verfügung. Die besonderen Lernchancen der „hörbaren“ Migrationsgeschichten bestehen darin, dass das Unterrichtsthema individualisiert und durch die persönliche Erzählung für Schülerinnen und Schüler ein emotionaler Zugang zum Thema ermöglicht wird. Es handelt sich um Erinnerungsinterviews, die die subjektiven Erfahrungen einzelner Menschen wiedergeben. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich damit auseinander, wie das Erlebte zustande kommt und welche Faktoren die Erzählung beeinflusst. Sie lernen unterschiedliche individuelle Verarbeitung
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von Geschichte und verschiedene gesellschaftliche Deutungen von Ereignissen kennen. Europäische Lernperspektiven In vielen Schulklassen finden sich Schülerinnen und Schüler, deren Familiengeschichten selbst mit den Fallregionen verknüpft sind oder deren Familien andere Erfahrungen von Zwangsmigration gemacht haben. Es kann daher eine Verbindung von Geschichte und eigener Lebenswelt hergestellt und in ihren europäischen Zusammenhängen verdeutlicht werden. Über die Zeitzeugenberichte aus unterschiedlichen Ländern werden historische und gegenwärtige Probleme und Themen nahegebracht und die persönliche Auseinandersetzung mit der Geschichte unterschiedlicher Länder in Europa angeregt. Es wird eine Reflexion über nationale Geschichtsdeutungen ermöglicht, die Schülerinnen und Schüler für gesamteuropäische Lernperspektiven sensibilisiert. Rolle der Lehrerinnen und Lehrer Es ist vorgesehen, dass Lehrerinnen und Lehrer den Lernprozess als Moderatorinnen und Moderatoren begleiten. Dabei können die Arbeitsaufträge frei und ohne eine vorgegebene Reihenfolge anhand der Übersichten zu den Lernstationen gewählt werden. Es gilt zu beachten, dass einige Arbeitsaufträge für die Einzel- oder Gruppenarbeit im Unterricht, andere hingegen als Referatsthema oder als Hausarbeit vorgesehen sind. Arbeitaufträge, die in mehrere Aufgabenstellungen unterteilt sind, bauen inhaltlich aufeinander auf und sind daher i.d.R. zusammenhängend zu bearbeiten.
III. Inhalte und Aufbau der Lernstationen Jede Lernstation bietet: x eine Einführung in die Lernstation x eine Übersicht über die einzelnen Arbeitsaufträge der Lernstation x die Arbeitsaufträge x ausgewählte Literatur & Quellen zur jeweiligen Thematik der Lernstation Die Einführung erschließt die Ziele der Lernstation. Die Materialien in den Arbeitsaufträgen liegen zum Download bereit und sind offline verwendbar. Die wichtigen Begriffe in den Lernstationen sind markiert und mit dem Lexikon verlinkt. Zur Vertiefung und Weiterarbeit sind themenspezifische Literatur- und Linktipps verfügbar.
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Themen der Lernstationen Einführung: Lernstation 1 führt Schülerinnen und Schüler methodisch in das Lernportal ein, um den Umgang mit Zeitzeugenerzählungen und Fotos einzuüben. Ursachen klären: Lernstation 2 befasst sich mit den Ursachen von Zwangsmigrationen in den einzelnen Fallregionen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu verdeutlichen. Ablauf und Zusammenhänge aufzeigen: Lernstation 3 behandelt den Verlauf und die Kontexte von Zwangsmigrationen, die den einzelnen Ländern bzw. Fallregionen gemeinsam sind bzw. sich voneinander unterscheiden. Folgen interpretieren: Lernstation 4 fragt nach Herausforderungen, die sich für Vertriebene und Flüchtlinge selbst und für die jeweiligen Gesellschaften nach erfahrener Zwangsmigration ergaben. Themen der Arbeitsaufträge Das Lernportal bietet eine Vielzahl von Unterrichtsvorschlägen in Form von so genannten Arbeitsaufträgen zu den vier Lernstationen des Lernportals. Die Arbeitsaufträge richten sich an die Schülerinnen und Schüler. Die unterschiedlichen inhaltlichen Aspekte erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler selbstständig. Welche bzw. wie viele Aufgaben bearbeitet werden, bleibt dabei der Lehrkraft überlassen. Die Arbeitsaufträge sind gegliedert in: x eine Aufgabenstellung x ausgewähltes Arbeitsmaterial in Form von Audiofiles, Texten zum Download, Fotos zum interpretieren und Linktipps x Vorschläge zur Präsentation vor der Klasse oder in der Gruppe Anhand der Übersicht der einzelnen Lernstationen können Lehrkräfte den thematischen Zuschnitt und den zeitlichen Umfang des Unterrichts planen. Je nach Themenschwerpunkt könnten Arbeitsaufträge innerhalb oder übergreifend zwischen den einzelnen Lernstationen kombiniert werden.
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Lernstation 1 Die Lernstation 1 bietet insgesamt drei Arbeitsaufträge an, die als methodische Einführung für die Arbeit mit dem Lernportal dienen. Sie haben das Ziel, den Umgang und die Arbeit mit Zeitzeugenerzählungen und Fotos zu erleichtern. Tab. 1: Übersicht Lernstation 1 Titel/Thema Einführung ArbeitsaufErzählte Erintrag 1 nerung: Umgang mit erzählter Erinnerung ArbeitsaufFotos und trag 2a Wirklichkeit: Umgang mit Fotos als Quelle Arbeitsauftrag 2b Arbeitsauftrag 3
Darstellungen von Flucht und Vertreibung Geschichten und Gedächtnis: Übertragene Erinnerungen
Arbeitsmaterial Ausgewählte Zeitzeugenberichte/ Audiodateien Text: Interpretationen über das Foto als Quelle
Anzahl
Zeit
Empfehlung der Weiterarbeit Arbeit in 45 Eigenständige vier Min. UnterrichtseinGruppen heit
Arbeit in 30 Weiterarbeit mit DreierMin. Arbeitsauftrag gruppen 2b
Ausgewählte Fotos Ausgewählte Fotos Text: Das Gedächtnis der Vertriebenen in Deutschland nach 1945
Arbeit in drei Gruppen Paararbeit
15 Vorarbeit mit Min. Arbeitsauftrag 2a 45 Eigenständige Min. Unterrichtseinheit
Lernstation 2 Die Lernstation 2 bietet insgesamt drei Arbeitsaufträge an, die sich nochmals in kleinere Unterrichtseinheiten unterteilen. Ziel dieser Lernstation ist es, die gemeinsamen und unterschiedlichen Ursachen von Zwangsmigrationen anhand von folgenden Beispielen zu analysieren: x x x
Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch in den 1920er Jahren; Vertreibungen und Umsiedlungen der polnischen und deutschen Bevölkerungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg; Die „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien der 1990er Jahre.
Das Lernportal “The Unwanted”
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Die Arbeitsaufträge 1 und 2 der Lernstation bieten übergreifende Aufgabenstellungen an, die unterschiedliche Ereignisse in verschiedenen Ländern vergleichen. Die Unterrichtseinheiten des Arbeitsauftrags 3 konzentrieren sich auf Einzelphänomene in einem Land.
Tab. 2: Übersicht Lernstation 2 Ursachen klären Arbeitsauftrag 1a
Titel/Thema
Arbeitsmaterial
Anzahl
Zeit
Empfehlung der Weiterarbeit
Überblick über Text: Zwangsmigrationen Von Lausanne bis Jugoslawien – Zwangsmigrationen und „ethnische Säuberungen“ im Europa des 20. Jahrhunderts ArbeitsZeitzeugen erinnern Ausgewählte auftrag 1b sich: Ursachen und ZeitzeugenbeMotive von richte/ Zwangsmigrationen Audiodateien ArbeitsVergleichbarkeit Texte: Vier auftrag 2 von Holocaust und Thesen zur ethnischer SäubeVergleichbarkeit rung?
Einzel- 15 arbeit Min. Diskussion
Weiterarbeit mit Arbeitsauftrag 1b
Arbeit in zwei Gruppen Einzelarbeit Diskussion
45 Min.
Vorarbeit mit Arbeitsauftrag 1a
45 Min.
Eigenständige Unterrichtseinheit
ArbeitsDeutsche Besatauftrag 3a zungspolitik in Polen
Einzel- 2 x arbeit 45 Diskus- Min. sion
Eigenständige Unterrichtseinheit
Einzel- 45 arbeit, Min. Gruppenarbeit Diskussion
Eigenständige Unterrichtseinheit
ArbeitsEthnische Homoauftrag 3b genisierung und Kollektivschuld nach Kriegsende: Analyse des ethnisch homogenen Nationalstaats
Recherche und ausgewählte Texte im Internet Zeitzeugenberichte/ Audiodateien Texte als Download zum Bevölkerungstransfer
Andrea Schmelz/Anne von Oswald
166 ArbeitsWas ist ein Flüchtauftrag 3c ling, was ein Vertriebener?: Unterscheidung der Begriffe Flüchtling und Vertriebener ArbeitsMinderheitenauftrag 3d schutz: Entwicklung des Minderheitenschutzes nach dem II. Weltkrieg und Entwicklung in BosnienHerzegowina während des Bürgerkrieges ArbeitsFlüchtlinge heute auftrag 3e
Zeitzeugenberichte/ Audiodateien
Einzelarbeit
45 Min.
Eigenständige Unterrichtseinheit
Text: Minderhei- Einzeltenschutz im arbeit östlichen Europa
2x 45 Min.
Eigenständige Unterrichtseinheit
Recherche Im PaararInternet: Website beit und Statistiken des UNHCR
2x 45 Min.
Eigenständige Unterrichtseinheit
Lernstation 3 In der Lernstation 3 finden Sie vier Arbeitsaufträge. Es geht darum, die Abläufe sowie die Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Zwangsmigrationen aufzuzeigen. Der Arbeitsauftrag 1 bietet übergreifende Aufgabenstellungen an, die unterschiedliche Ereignisse in verschiedenen Ländern vergleichen. Die Arbeitsaufträge 2 bis 4 konzentrieren sich auf Einzelphänomene in einem Land. Tab. 3: Übersicht Lernstation 3 Ablauf und Zusammenhänge Arbeitsauftrag 1
Titel/Thema
Arbeitsmaterial
Anzahl
Zeit
Empfehlung der Weiterarbeit
Tragödie der Vertreibung: Erinnerungen von Zeitzeugen
Ausgewählte Zeitzeugenberichte/ Audiodateien
Einzel2 x 45 Eigenständiarbeit Min. ge UnterArbeit in richtseinheit zwei Gruppen
Das Lernportal “The Unwanted”
Arbeits„Ethnische Säubeauftrag 2a rung“ im Bosnienkrieg (1992-1995) – Phasen und Hintergründe ArbeitsZeitzeugen berichauftrag 2b ten: Systematische Menschenrechtsverletzungen in Prijdor/ Bosnien ArbeitsDer Zusammenauftrag 3 hang zwischen polnischer und deutscher Zwangsmigration: Arbeitsauftrag 4
Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und Türkei in Folge des Lausanner Abkommens von 1923
167 Ausgewählte Texte zum Download zum Thema „ethnische Säuberung“ in Jugoslawien Ausgewählte Zeitzeugenberichte/ Audiodateien
Hausarbeit Kurzreferat
60 Min.
Weiterarbeit mit Arbeitsauftrag 2b
Paararbeit Diskussion
45 Min.
Vorarbeit mit Arbeitsauftrag 2a
Ausgewählte Texte Karten Zeitzeugenberichte/ Audiodateien Ausgewählte Texte zum Bevölkerungstransfer Karten, Zeitzeugenberichte/ Audiodateien
Einzel2 x 45 Eigenständiarbeit Min. ge UnterArbeit in richtseinheit zwei Gruppen Einzelarbeit Paararbeit
2 x 45 EigenständiMin. ge Unterrichtseinheit
Lernstation 4 Die Lernstation 4 bietet sechs Arbeitsaufträge an. Ziel ist es, die vielfältigen Herausforderungen zu begreifen, die sich für Vertriebene und Flüchtlinge selbst und die Gesellschaft insgesamt nach erzwungener Migration ergaben. Die Arbeitsaufträge 1 und 3 befassen sich mit übergreifenden Fragen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten der gesellschaftlichen Folgen von Zwangsmigrationen herauszuarbeiten. Arbeitsauftrag 2 setzt sich mit der aktuellen Situation von Flüchtlingen in Deutschland auseinander. Die Arbeitsaufträge 4-6 stellen vertiefende Aufgaben zu der spezifischen Situation in den jeweiligen Fallregionen Bosnien, Deutschland/Polen und Griechenland/Türkei.
Andrea Schmelz/Anne von Oswald
168 Tab. 4: Übersicht Lernstation 4 Folgen interpretieren Arbeitsauftrag 1
Titel/Thema
Arbeitsmaterial
Arbeitsauftrag 2
Flüchtlinge heute Text: Flüchtling in Deutschland heute Ausgewählte Links
Arbeitsauftrag 3
Konflikte in den Ausgewählte ZeitAufnahmegesell- zeugenberichte/ schaften Audiodateien
Arbeitsauftrag 4a
DaytonAbkommen und Rückkehr
Arbeitsauftrag 4b
Zeitzeugen erzählen
Arbeitsauftrag 5a Arbeitsauftrag 5b
Integration im Nachkriegsdeutschland Zeitzeugen erzählen
Arbeitsauftrag 6a
Lausanner Abkommen
Arbeitsauftrag 6b
Erfahrungen Ausgewählte Zeitnach Umsiedlung zeugenberichte/ Audiodateien
Integrationsprob- Ausgewählte Zeitleme zeugenberichte/ Audiodateien
Ausgewählte Texte zu Politik und Praxis der Rückkehr in Bosnien Karte Ausgewählte Texte Karten Zeitzeugenberichte/ Audiodateien Text: Integrationspolitik in Deutschland Ausgewählte Zeitzeugenberichte/ Audiodateien
Anzahl Zeit Empfehlung der Weiterarbeit
Arbeit in zwei Gruppen Hausarbeit
45 Mi n.
Eigenständige Unterrichtseinheit
90 Mi n.
Eigenständige Unterrichtseinheit
Arbeit in zwei Gruppen Hausarbeit
45 Mi n.
Eigenständige Unterrichtseinheit
45 Mi n.
Weiterarbeit mit Arbeitsauftrag 4b
Paarar- 60 beit/Di Mi skussi- n. on
Vorarbeit mit Arbeitsauftrag 4a
Hausarbeit
Weiterarbeit mit Arbeitsauftrag 5b Vorarbeit mit Arbeitsauftrag 5a
30 Mi n. Paarar- 45 beit/ Mi Disn. kussion Ausgewählte Texte Einzel- 45 zum Lausanner arbeit Mi Abkommen und der n. Flüchtlingssituation Einzel- 45 arbeit Mi n.
Weiterarbeit mit Arbeitsauftrag 6b Vorarbeit mit Arbeitsauftrag 6a
Das Lernportal “The Unwanted”
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Ausblick Die Relevanz des Themas (Zwangs-)Migration wird deutlich, wenn man sich die Diskussionen und Auseinandersetzungen um migrationsbedingte gesellschaftliche Problemfelder der letzten Jahre vergegenwärtigt. Die Debatten um die Höhe des Einwanderungsbedarfs, die Asylfrage, den Anstieg von fremdenfeindlichen und rassistischen Einstellungen und Verhalten sowie um Integration zählen nicht nur im nationalen, sondern auch im europäischen und globalen Kontext zu den großen Herausforderungen. Entsprechend ist für die Schülerinnen und Schüler Migration kein abstraktes Thema, sondern Bestandteil ihrer alltäglichen Lebenswelt. Die Erprobung des Lernportals hat deutlich gemacht, dass die gegenwartsbezogene Reflexion der Thematik von besonderer Bedeutung für die Schüler ist. Insbesondere die Unterrichtseinheiten, in denen der aktuelle Bezug bzw. der persönliche, familiäre Bezug besonders naheliegend ist (siehe die Unterrichtseinheiten zu den Vertreibungs-, Minderheiten- und Flüchtlingserfahrungen) rief das Interesse und die Bereitschaft hervor, historische Erfahrungen mit gegenwärtigen Problemstellungen zu vergleichen. Die Auseinandersetzung mit persönlichen Erfahrungen der (hörbaren) Zeitzeugenerzählungen über Flucht-, Ausgrenzungs-, Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen leistet bei den Nutzerinnen und Nutzern des Portals einen Beitrag zum Toleranz- und Demokratie-Lernen. Für den zukünftigen Ausbau des Lernportals ist in diesem Themenfeld, eine stärkere Vertiefung mit Ansätzen aus der Menschrechtsbildung und der interkulturellen Bildung erstrebenswert, um das Bewusstsein für Menschenrechte und das Verständnis für und den Umgang mit kultureller Vielfalt zu stärken. Des Weiteren bietet das Lernportal “The Unwanted” über die Darstellung unterschiedlicher Formen von Zwangsmigrationen in der europäischen Geschichte die Chance, historische Phänomene nicht auf eine bestimmte Epoche oder eine bestimmte Region zu reduzieren, sondern in einem europäischen wie auch globalen Rahmen zu erweitern. Es bietet sich an, die Unterrichtseinheiten mit aktuellen Fallbeispielen aus Krisenregionen in der Welt, die von Flucht, Vertreibung und Genozid betroffen sind, zu ergänzen, um zu einem besseren Verständnis über die Ursachen von ethnisch motivierten Konflikten innerhalb und zwischen den Nationen zu gelangen. Das Portal “The Unwanted” bietet somit keine statischen Lernangebote, sondern soll inhaltlich und methodisch durch Ansätze der Menschenrechts- und Friedenserziehung sowie des Globalen Lernens kontinuierlich erweitert werden.
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Andrea Schmelz/Anne von Oswald
Über Kommentare und Anregungen zum Lernportal freuen sich die Autorinnen. Kontakt:
[email protected] Literatur Bingen, Dieter/Borodziej, Wolodzimierz Borodziej/Troebst, Stefan (Hg.): Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen: Vergangenheitspolitik – Zukunftsvisionen, Wiesbaden: Harrassowitz 2003 Haslinger, Peter: „Flucht und Vertreibung“ europäisieren? Zur Frage einer didaktischen Aufbereitung von Zwangsmigrationen im gesamteuropäischen Kontext, in: Kruke (Hg.), 2006, S.7782. Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg (Hg.): Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als internationales Problem. Zur Geschichte eines europäischen Irrweges, Stuttgart 2002. Kruke, Anja (Hg.): Zwangsmigration und Vertreibung – Europa im 20. Jahrhundert, Bonn: Dietz Verlag 2006. Naimark, Norman M.: Flammender Hass: Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck Verlag 2004. Schlögel, Karl: Wie europäische Erinnerung and Umsiedlung und Vertreibungen aussehen könnte, in: Kruke (Hg.), 2006, S.49-68.
Simone Eick
Migrationsgeschichte erleben und erlernen. Politische Bildung im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven Abb. 1 : Das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven,
( Foto: Werner Hutmacher) Das Deutsche Auswandererhaus ist ein privatwirtschaftlich geführtes Themenmuseum mit einem besonderen Erlebnischarakter für die Besucher. In seiner Dauerausstellung zeigt und vermittelt es historische Auswanderung und Aspekte aktueller Migration. In Sonderausstellungen und Veranstaltungen werden regelmäßig Spezialthemen aus den Bereichen Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik rund um das Thema Migration vorgestellt. Seit der Eröffnung des Deutschen Auswandererhauses am 8. August 2005 sind über 400.000 Besucher in das Themenmuseum gekommen.1 Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt zwei bis drei Stunden. Der Erfolg des Hauses zeigt, dass auch ein ernstes Thema ein breites Publikum finden kann. Und: Es besteht offenbar ein allgemeines Interesse am Thema Migration. Im Rahmen des Bildungsauftrages des Deutschen Auswandererhauses stellt sich die Frage, worin dieses Interesse besteht und wie man es för-
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dern kann. In einer Evaluation und in verschiedensten Gesprächsrunden2 wurden Besucher des Deutschen Auswandererhauses befragt, was sie am Thema Migration interessiert und welche Facetten sie besonders faszinieren.
Die persönliche Beziehung zum Thema Warum sind bestimmte Menschen gegangen? Was ist aus ihnen geworden? Diese beiden Fragen sind die ersten, die Nicht-Wissenschaftler stellen, sobald es um das Thema Migration geht. Danach folgen sehr schnell persönlichere Fragen: Würde ich auch auswandern, wenn es mir wirtschaftlich schlecht geht? Würde ich fliehen, wenn ich aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen verfolgt werde? Und dann die letztendliche Frage: Welche Hoffnungen habe ich selbst für mein Leben? Beim Thema Migration lässt sich aufgrund dieser implizierten Fragestellungen eine persönliche Beziehung zwischen dem Thema und der eigenen Person herstellen. Und ohne die Ergebnisse der Evaluation und der Besuchergespräche psychologisieren zu wollen, scheint es so, dass bei den meisten Besuchern nur ein sehr starkes Interesse entsteht, wenn es diese persönliche Bindung gibt. Ergänzend gibt es noch einen weiteren Faktor, der ein Interesse am Thema Migration weckt: Es gibt in der Familie Vorfahren, die ausgewandert sind. Einige wenige deutsche oder US-amerikanische Besucher sind ausgewiesene Genealogen, verfolgen den Familienstammbaum über Jahrhunderte hinweg und haben ein ausgesuchtes Interesse daran, auch die in die Neue Welt emigrierten Vorfahren zu erfassen. Natürlich besteht vor allem bei ihnen ein großes Interesse an den genealogischen Datenbanken, die im Deutschen Auswandererhaus den Besuchern zur Verfügung stehen, und den Lebensbedingungen von Auswanderern zu der Zeit als ihre eigenen Vorfahren Deutschland verließen. Die meisten Besucher jedoch wissen nicht genau, ob sie einen ausgewanderten Vorfahren haben. Viele entdecken einen solchen in einer der Datenbanken. Zunächst die Überraschung und dann die Freude darüber, jemanden gefunden zu haben, löst oft ein stärkeres Interesse am Thema Migration aus, denn
2 Es findet jeweils eine Winter- (November – März) und eine Sommerbefragung (April – Oktober) statt. Die Evaluationsbögen liegen an der Kasse aus und werden von den Besuchern selbst ausgefüllt. Insgesamt lagen bis jetzt für jeden Untersuchungszeitraum immer über 1000 Bögen für die Auswertung vor. Gespräche mit den Besuchern finden vor allem während der Führungen sowie im Raum „Forum Migration” statt, in dem man in Datenbanken nach ausgewanderten Vorfahren suchen kann.
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durch die familiäre Beteiligung fühlt man sich dem Phänomen Migration verbunden. Wie erfolgt nun die persönliche Ansprache der Besucher durch die Konzeption der Dauerausstellung des Deutschen Auswandererhauses? Dabei spielen vor allem vier Faktoren eine Rolle:
1. Die Biographien Jeder Besucher erhält beim Eintritt in das Deutsche Auswandererhaus einen „Boarding-Pass”. In diesem Pass befindet sich ein RFID-Ticket, mit dem der Besucher verschiedene Medienstation auslösen kann. Zu diesen gehören auch die Biographiestationen. Jeder Besucher folgt bei seinem Rundgang durch das Haus dem Lebensweg eines historischen Auswanderers oder Flüchtlings. Ein Portrait, der Name und das Auswanderungsjahr der Person, die ein Besucher durch die Ausstellung begleitet, befinden sich auf dem Boarding Pass. Die Biographie und die Lebenswege der Nachfahren werden in der Dauerausstellung an vier Stationen erzählt: 1. 2. 3. 4.
Station: Leben in der alten Heimat (Sozialisation), Auswanderungsgründe und -ursachen Station: Überfahrt Station: Ankunft, Einwanderungsformalitäten in der neuen Heimat, Weiterreise zum Zielort Station: das Leben in der neuen Heimat bis zum Tod, Lebenswege der Nachfahren (Akkulturation)
Jede Biographie wird aus der Perspektive des Auswanderers bzw. Flüchtlings geschildert. Neben der Lebensgeschichte können sich die Besucher in Vitrinen und Schubladen persönliche Exponate ihrer Biographie anschauen. Jede einzelne spiegelt einen bestimmten Auswanderertypus einer bestimmten Epoche wieder. Es ist Zufall, ob ein Besucher den Bauern Johann Dietel, der 1848 auswanderte, das tschechische Dienstmädchen Alzbeta K., die 1927 versuchte über Ellis Island einzureisen, aber abgewiesen wurde, die jüdische Ärztin Hertha Nathorff, die 1939 floh oder Manfred Schnetzer, der 1952 mit seinen Eltern in die USA ging, begleitet. Die Kassierer verteilen die Boarding-Pässe an die Besucher beim Eintritt in das Museum. Es sind zur Zeit 15 Biographien von Auswanderern und Flüchtlingen vorhanden, die die Besucher begleiten. Insgesamt besitzt das Deutsche Auswande-
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rerhaus eine Sammlung von 1000 Kurzbiographien und etwa 150 ausführlicheren Auswandererbiographien. Im Deutschen Auswandererhaus wird beim Thema historische Auswanderung der Zeitraum gezeigt, in dem Auswanderer und Flüchtlinge aus Deutschland und Osteuropa von Bremerhaven aus in die Neue Welt aufgebrochen sind (1830 - 1974). Dieser Zeitraum wiederum ist unterteilt in fünf historische Epochen, in denen jeweils unterschiedliche Auswanderungsursachen im Vordergrund stehen: 1. 2. 3. 4. 5.
1830 - 1870: Landmangel, Arbeitslosigkeit, Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft, Kettenwanderung 1871 - 1913: Arbeitslosigkeit , Kettenwanderung, Pogrome in Russland 1919 - 1932: Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Kettenwanderung 1933 - 1945: rassische und politische Verfolgung 1946 - 1974: Nachkriegsdepression, Displaced Persons, Vertriebene
Entsprechend den Migrationszahlen stammen die meisten Biographien (7) aus den ersten beiden Zeiträumen. Die Biographien werden von Besuchern sehr persönlich angenommen. Schon nach wenigen Minuten sind die Besucher per Du mit „ihrer” Biographie. Das gilt für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Oft sind Sätze zu hören wie „Ich bin Martha, wer bist du?” oder „Meiner ist nach Brasilien gegangen!” und ähnliches. Dabei gibt es zwei unterschiedliche Verhaltensweisen: Die einen adoptieren „ihre” Biographie, während sich die anderen für die Dauer ihres Aufenthaltes im Deutschen Auswandererhaus sehr stark damit identifizieren. So ermöglichen die Biographien einen schnellen und persönlichen Zugang zum Thema. Ziel des Deutschen Auswandererhauses ist es, dass die Lebensgeschichten der historischen Auswanderer und Flüchtlinge die Besucher für die Lebenswege heutiger Migranten sensibilisieren. Bisher zeigen die Erfahrungen im Deutschen Auswandererhaus, dass konkrete Informationen über Lebensbedingungen (Löhne, Überfahrtskosten, Arbeitsplatzchancen in der Neuen Heimat) am meisten interessieren und sofort mit den eigenen Lebensbedingungen verglichen werden.
2. Detaillgenaue Rekonstruktionen und historische Inszenierungen Ein weiteres Element des Deutschen Auswandererhauses, das dazu führt, dass sich Besucher persönlich berührt fühlen, sind die historischen Inszenierungen
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mit ihren detaillgenauen Rekonstruktionen. Sie versetzen die Besucher in historische Räume und an historische Orte. Sieben Räume und Orte, die die Auswanderer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erlebten, sind nachgebaut worden: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Warteraum der 3. Klasse in der Wartehalle des Norddeutschen Lloyd von 1869 Die Kaje am Neuen Hafen in Bremerhaven im Jahr 1888 Ein Teil des Zwischendecks des Segelschiffes „Bremen“ aus dem Jahr 1854 Ein Teil des Zwischendeckes des Dampfschiffes „Lahn“ aus dem Jahr 1887 Eine Kabine der 3. Klasse des Liners „Columbus“ aus dem Jahr 1929 Ein Ausschnitt des Speisesaals der 3. Klasse des Liners „Columbus“ aus dem Jahr 1929 Ein Ausschnitt der „Registry Hall“ auf Ellis Island aus dem Jahr 1907
Weiterhin gibt es den Raum „Galerie der 7 Millionen“ der einer traditionellen Bibliothek nachempfunden ist und auch ein Archiv beinhaltet. Alle inszenierten Räume werden von den Besuchern sehr positiv bewertet. Um den Moment des Abschiedes den Besuchern vermitteln zu können, wurde der Raum „An der Kaje“ erschaffen, in dem eine Szene in Bremerhaven im Jahr 1888 am Neuen Hafen gezeigt wird: Das Dampfschiff „Lahn“ ist kurz vor dem Ablegen und die Auswanderer warten darauf, an Bord gehen zu können. Gepäck und Proviant stehen auf der Kaje und müssen noch verladen werden. Was haben die Auswanderer gemacht, während sie warteten? Sie haben gelacht, geweint, versucht ihr Gepäck vor Taschendieben zu schützen, darauf acht gegeben, dass die Kinder nicht ins Hafenbecken fielen, kurzum, haben sich die Zeit bis zur Abfahrt des Schiffes vertrieben. Aber vor allem haben Sie Abschied genommen: Von der Heimat, von der Familie, von Freunden und Bekannten und von ihrer Muttersprache. Sie waren nun ganz allein auf sich gestellt. Die Atmosphäre dieses Momentes sollte im Raum „An der Kaje“ eingefangen und vermittelt werden.
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Abb. 2: „An der Kaje“
(Foto: Werner Hutmacher) Dazu wurden unterschiedlichste Mittel eingesetzt: Dunkelheit, Auswandererfiguren stehen mit dem Rücken zu den Besuchern, die Schiffswand bewegt sich sanft auf und ab und man ist einer sehr eindringlichen Geräuschkulisse ausgesetzt, die sich aus Hafen- und Schiffsgeräuschen zusammensetzt. Besucher können mit ihrem RFID-Ticket Audiostationen auslösen, so dass zusätzlich im Raum noch Zitate von Auswanderern zum Thema Abschied zu hören sind. Sie wurden aus Auswandererbriefen zusammengestellt. Diese Zitate werden in allen Sprachen, die in Bremerhaven gesprochen wurden, wiedergegeben: Von den 7,2 Millionen Auswanderern, die über Bremerhaven in die Neue Welt gingen, stammten 3,4 Millionen aus Osteuropa. Dementsprechend sind Zitate in Deutsch (in unterschiedlichsten Dialekten), Russisch, Jiddisch, Polnisch und Tschechisch zu hören. Die Wirkung des Raumes auf die Besucher ist zunächst eine sehr körperliche: Viele bekommen Gänsehaut, fühlen sich zunächst orientierungslos. Später spüren die meisten Ergriffenheit und Bewunderung für den Mut, den die Auswanderer besaßen.
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Abb. 3: „Im Zwischendeck“
(Foto: Studio Andreas Heller) Der Schritt auf die Schiffsgangway war der Schritt in ein Neues Leben. Heute wird die Risikobereitschaft der Auswanderer bewundert. Die Bewunderung steigt noch einmal, wenn man Besucher in den Nachbau des Zwischendecks eines Segelschiffes führt. Segelschiffe fuhren von Bremerhaven zwischen 1830 bis 1860 in die Neue Welt. Aber auch in den 1860er Jahren reisten noch viele Auswanderer auf Segelschiffen, weil sie sich die teuren Dampfschiffe nicht leisten konnte. Im Deutschen Auswandererhaus wurde ein Teilbereich des Zwischendecks des Segelschiffes „Bremen“ aus dem Jahr 1854 nachgebaut. Vier Kojen sind nachgebaut worden; in einer Koje schliefen fünf Erwachsene und die mit ihnen reisenden Kinder. Außerdem befinden sich in dem Raum die Gepäckstücke, Geschirr (man aß bei schlechtem Wetter unter Deck), Latrineneimer und mit Salzwasser gewaschene Wäsche hängt zum Trocknen auf der Leine. Auch in diesem Raum überwiegen bei den Besuchern zunächst die körperlichen Gefühle: Beklemmung, Platzangst und Orientierungslosigkeit dominieren im ersten Moment. Meist wird man in Führungen mit einer gewissen Aufgeregtheit nach der Todesrate und dem Essen an Bord gefragt.
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In allen inszenierten Räumen werden den Besuchern Sachinformationen durch Thementafeln, Schaukästen, Filme, Hörstationen und andere Medien angeboten. Nachdem sich die Besucher in den Räumen orientiert haben, beschäftigen sich die meisten ausführlich mit diesen Sachinformationen. Je länger sich die Besucher in den inszenierten Räumen aufhalten desto deutlicher wird ihnen, dass sie selbst Teil der Inszenierung werden: Sie stehen nun auch an der Kaje, sie bücken sich selbst um unter der im Zwischendeck von der Decke hängenden Wäsche unterdurchgehen zu können. Insgesamt lösen die historischen Inszenierungen bei den Besuchern starke Emotionen aus.
3. Genealogische Datenbanken Abb. 4: „Forum Migration“
(Foto: Studio Andreas Heller) Das Auffinden eigener ausgewanderter Vorfahren schafft die engste persönliche Bindung zum Thema Migration. Die besten und schnellsten Ergebnisse erzielt man dabei mit genealogischen Computerdatenbanken. Im Deutschen Auswan-
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dererhaus sind die drei weltweit größten vertreten: „ancestry.com“, „family search“ und „Ellis Island Records“, die alle Daten zur Einwanderung in die USA enthalten. Zusätzlich werden noch die „Bremer Passagierlisten“ angeboten, die auch die Zielländer in Südamerika und Australien enthalten. Zwar sind die Datenbanken außer derjenigen von „ancestry.com“ kostenfrei im Internet zugänglich, aber die wenigsten Besucher wissen davon. Woher auch? Den meisten wird erst im Deutschen Auswandererhaus klar, dass ihre Familie einen Migrationshintergrund haben könnte. Wenn sie dann ihren Nachnamen in eine der Datenbanken eingeben, bekommt der Großteil einen Treffer, denn fast jeder deutsche Familienname ist entweder in den US-amerikanischen Passagierlisten oder in den Volkszählungslisten der USA vorhanden. Die meisten entscheiden dann, dass sie mit „dem da“ irgendwie verwandt sein müssten. Die Verwandtschaft mit einem in die USA Ausgewanderten wird sehr, sehr positiv beurteilt. Noch größer ist natürlich die Freude bei denjenigen, die nachweislich einen ausgewanderten Vorfahren in den Datenbanken finden. Der Satz „Vielleicht habe ich doch einen reichen Onkel in den USA“ ist sicherlich nirgends so häufig zu hören, wie im „Forum Migration“ des Deutschen Auswandererhauses.
4. Authentischer Standort Zwischen 1830 und 1974 gingen 7,2 Millionen Auswanderer und Flüchtlinge von Bremerhaven in die Neue Welt. Die Stadt an der Wesermündung war der größte deutsche Auswandererhafen.3 Aufgrund ihrer Geschichte stellt die Stadt Bremerhaven einen authentischen Standort für ein Museum zum Thema Auswanderung dar. Bremerhaven wurde 1827 von der Hansestadt Bremen gegründet. Zunächst als Handelshafen geplant, entwickelte es sich vor allem ab den 1840er Jahren sehr schnell zum großen Auswandererhafen: Das erste Hafenbecken, eröffnet 1830, reichte bald nicht mehr aus, um den Strom der Auswanderer einschiffen zu können. 1852 wurde der Neue Hafen eröffnet, ab 1876 folgten die Kaiserhäfen.
3 Hamburg etablierte sich relativ spät als Auswandererhafen: Erst Ende der 1840er Jahren entdeckte die Stadt das Auswanderergeschäft, fördernd war dabei die Gründung der „HamburgAmerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft” (Hapag). Ab 1889 fuhren die Schiffe der Hapag nicht mehr von Hamburg, sondern größtenteils von Cuxhaven, das zu Hamburg gehörte, ab. Insgesamt fuhren fünf Millionen Menschen auf Schiffen unter Hamburger Flagge ab. Leider liegen noch keine Zahlen darüber vor, wie viele der Passagiere Auswanderer und wie viele Geschäftsleute oder Touristen waren.
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Nachdem 1857 der Norddeutsche Lloyd (NDL) in Bremen gegründet worden war, nahm er die erste regelmäßige Dampfschiffverbindung zwischen Deutschland und den USA in Betrieb. Heimathafen des NDL war Bremerhaven. Er stieg bald zu einer der weltweit größten Passagierdampfschifffahrtsgesellschaften der Welt auf. 1971 fusionierten die Hapag und der NDL zur HapagLloyd AG. Für die Abfertigung der Passagiere entstanden Wartehallen, die alle über einen eigenen Gleisanschluss der Bahnstrecke Bremen-Bremerhaven verfügten. Außerdem betrieb der Norddeutsche Lloyd Werften, die die Auswandererschiffe warteten und reparierten. Nachfolgerin dieser Werften ist heute die Lloyd-Werft in Bremerhaven, die sich vor allem durch Schiffsverlängerungen einen Namen gemacht hat. Das Deutsche Auswandererhaus befindet sich an der südöstlichen Seite des Neuen Hafens (Abb. 1). An gleicher Stelle befand sich im 19. Jahrhundert ein Lagerschuppen des Norddeutschen Lloyd, in dem Proviant, Matratzen und andere Ausrüstungsgegenstände für die Auswandererschiffe gelagert worden sind. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens lag die erste Wartehalle des Norddeutschen Lloyd, die 1869 eröffnet worden ist. Noch heute steht der Simon-Loschen-Leuchtturm, der seit 1852 als Leuchtfeuer dient und nördlich der Wartehalle errichtet wurde. Der Leuchtturm war das letzte Zeichen, das die Auswanderer von Bremerhaven sahen, wenn sie die Weser in Richtung hinauf zur Nordsee fuhren. Weiterhin befand sich am Neuen Hafen ein Doppeltrockendock, das zur Wartung und für Reparaturarbeiten an den Schiffen des Norddeutschen Lloyd genutzt wurde. Das Gebiet, auf dem sich das Doppeltrockendock befand, ist erhalten geblieben und wird heute für Freilichtveranstaltungen genutzt. Wenn auch in den letzten Jahren einige Baudenkmäler Bremerhavener Auswanderergeschichte abgerissen worden sind, so bietet der Neue Hafen noch heute für Besucher einige Elemente, die an die Zeit der Auswanderer erinnern. Das wichtigste sind jedoch die Auswanderer selber: Allein vom Neuen Hafen in Bremerhaven fuhren über eine Millionen ab. Die Tatsache, dass nur 20 Meter vom Deutschen Auswandererhaus entfernt, Auswanderer an der Kaje standen und ihre Schiffe beladen wurden und abgefahren sind, gibt dem gesamten Erleben, das die Besucher im Deutschen Auswandererhaus haben, einen authentischen Hintergrund. Die Authentizität des Ortes verleiht dem Thema eine Wahrhaftigkeit, die die Besucher spüren und die zum Verstehen beiträgt .
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Erleben und Erlernen von Migrationsgeschichte Das Deutsche Auswandererhaus ist beides: Themenmuseum und außerschulischer Lernort. Für beide Zwecke möchte das Haus seinen Bildungsauftrag erfüllen. Dafür sind bei der Konzeption der Dauerausstellung verschiedene Elemente entwickelt worden, die sich jetzt, nachdem das Haus knapp zwei Jahre in Betrieb ist, als erfolgreich erwiesen haben: Nur durch einen persönlichen Zugang zum Thema Migration gelingt es, dass sich Besucher mit solch einem ernsthaften Thema überhaupt auseinandersetzen. Einen persönlichen Bezug erhalten die Besucher durch die Auswandererbiographie, die sie durch die Ausstellung begleitet und die eine persönliche Bindung an einen Migranten schafft. die historischen Inszenierungen und Rekonstruktionen von Orten und Räumen. Sie berühren die Besucher aufgrund ihrer Eindringlichkeit körperlich und emotional. das Auffinden von eigenen ausgewanderten Vorfahren, das eine familiäre Bindung an das Thema entstehen lässt. den Standort des Deutschen Auswandererhauses, der das Erleben authentisch werden lässt. Alle Faktoren zusammen führen dazu, dass Besucher sich auch lange nach ihrem Besuch noch mit dem Thema Migration verbunden fühlen und sich mit dem Thema auseinandersetzen.
IV. Bildung in der Einwanderungsgesellschaft Chancen für Migranten?
Ayça Polat
Multikulturalismus und Bildungsgleichheit in Kanada – Vorbild für die migrationspolitische Bildung in Deutschland?
“Spread Peace...Plant Respect… Nurture Belonging…Be an active citizen!” (Minister of Public Works 2004).
1. Einleitung Die Ergebnisse des Mikrozensus 2005 haben verdeutlicht, dass Deutschland zu den bedeutendsten Einwanderungsländern der Welt gehört. Ein Fünftel der gesamten deutschen Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund und schaut man sich die Situation in den Großstädten noch genauer an, hat sogar mehr als jedes vierte Kind bzw. jeder vierte Jugendliche in Deutschland einen Migrationshintergrund (vgl. Bildungsbericht 2006, Beauftragte 2005). Auf politischer Ebene hat man sich mit der Vorstellung, ein Einwanderungsland zu sein, nur sehr spät anfreunden können. Daher wurde erst fünfzig Jahre nach der ersten Gastarbeiteranwerbung ein Zuwanderungsgesetz verabschiedet. Dieses Verkennen der Zuwanderungsrealität in Deutschland hat gravierende Folgen für die strukturelle Integration von Zuwanderern und ihrer Nachfolgegenerationen (vgl. Prenzel et al. 2004, Beauftragte 2005, Gestring et al. 2006). Im Vergleich zu Deutschland gehört Kanada zu den Ländern, die relativ erfolgreiche Ergebnisse hinsichtlich der strukturellen und sozialen Integration von Einwanderern und deren Nachfolgegeneration aufweisen können. Kanada hat sich als erstes Land der Welt gezielt auf die veränderten Bedingungen in einer Einwanderungsgesellschaft eingelassen und das Experiment des politischen Multikulturalismus gewagt. Welche Perspektiven auf kulturelle Heterogenität in der kanadischen Gesellschaft vorherrschen, wie die Bildungssituation von Einwandererkindern aussieht und welche Maßnahmen zur Herstellung von Bildungsgleichheit zur Verfügung gestellt werden, sind die zentralen Fragestellungen dieses Beitrages.
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Dazu wird zunächst in kurzer Form der kanadische Multikulturalismus vorgestellt und auf Perspektiven auf Einwanderung in Kanada eingegangen. Daran anschließend werden am Beispiel des Bildungssystems Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit beschrieben. Im vierten Abschnitt wird schließlich die Schulsituation von Einwandererkindern genauer vorgestellt.
2. Einheit in der Vielfalt – Multikulturalismus in Kanada Zwischen 1991 und 2000 wanderten über 2 Millionen Menschen nach Kanada ein. Als Konsequenz dieser Zuwanderungsentwicklung wies der letzte kanadische Zensus (2001) die höchste Rate von im Ausland Geborenen von 18,4 Prozent in den letzten 70 Jahren aus (vgl. Statistics Canada 2003). Die Einwanderung macht etwa 53 Prozent des Bevölkerungszuwachses von Kanada aus. Diese Entwicklung manifestiert sich auch in der ethnischen Zusammensetzung der kanadischen Gesellschaft. So ließen sich aus den Angaben der im Zensus Befragten zu ihrer ethnischen Herkunft 200 Ethnizitäten entnehmen. Eine Übersicht über die ethnische Zusammensetzung der kanadischen Bevölkerung findet sich in Abbildung 1. Während noch in den 1960er Jahren die Nachfahren der britischen und französischen Gründernationen rund 60 Prozent bzw. 30 Prozent der Bevölkerung ausmachten, gaben im Zensus von 2001 nur noch ein Drittel der Befragten an, aus rein britischen, französischen oder kanadischen Familien abzustammen (vgl. Statistics Canada 2003). Neben den Kanadiern britischer und französischer Herkunft gehören die Nachfahren von deutschen, italienischen, chinesischen und südasiatischen Einwanderern zu den größten ethnischen Gruppen in Kanada. Europäische Einwanderer kamen vor allem Ende des 19. Jahrhunderts und machten bis 1961 etwa 90 Prozent der Neuzuwanderer aus. Seitdem ist ihr Anteil stetig zurückgegangen. Nachdem die zuvor rassistischen Einwanderungsvorschriften 1962 gelockert wurden, konnte jeder, der die beruflichen und sprachlichen Kriterien erfüllte, nach Kanada einwandern. Die neuen Einwanderungsregelungen führten dazu, dass in den Folgejahren viele Menschen aus Asien, der Karibik, Afrika und dem mittleren Osten nach Kanada immigrierten. In den 1990er Jahren kamen 40 Prozent aller Neuzuwanderer aus China, Indien, Hong Kong, Sri Lanka, Pakistan und Taiwan. 11 Prozent kamen aus der Karibik (Jamaica, Trinidad und Tobago), Guyana und Zentral- und Südamerika. Aus den europäischen Ländern waren in diesem Zeitraum vor allem Einwanderer aus Polen, Großbritannien und Rumänien zu verzeichnen.
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Abb. 1: Das ethnische Mosaik Kanadas
Quelle: Geißler 2003 Die Zuwanderung hat eine stetige kulturelle Heterogenisierung der kanadischen Gesellschaft zur Folge. Die Stadt Toronto gehört zu den ethnisch heterogensten Städten der Welt. 44 Prozent der Bewohner Torontos sind nicht in Kanada geboren. Damit ist der Anteil der Zuwanderer an der Gesamtbevölkerung in Toronto höher als in Miami (40 Prozent) oder Los Angeles (31 Prozent) (Statistics Canada 2003). Neben Toronto sind Vancouver und Montréal Hauptzuwanderungsziele aller Neuzuwanderer. Die Nähe zu Familienangehörigen und Freunden ist für die Meisten der Hauptgrund sich in Toronto oder in den beiden anderen Metropolen niederzulassen.
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Derzeit gibt es drei Formen der Einwanderung nach Kanada: als qualifizierte Fachkraft bzw. als Geschäftsmann, als Familienangehöriger eines Zuwanderers oder als Flüchtling. Die kanadische Einwanderungspolitik funktioniert nach einem Punktesystem. Einwanderungswillige mit hohen Bildungsabschlüssen, beruflichen Erfahrungen und guten Sprachkenntnissen haben die besten Chancen als Fachkräfte eine Bewilligung zu bekommen. Aber auch das Alter und Kontakte zu kanadischen Firmen können ausschlaggebend sein. Im Folgenden soll kurz auf die Entstehungsgeschichte des kanadischen Multikulturalismus eingegangen werden.
2.1 Zur Entstehungsgeschichte des Multikulturalismus Kanada proklamierte 1971 unter dem Premierminister Pierre Trudeau als erstes Land der Welt den Multikulturalismus als Staatskonzept. Dieser Proklamation waren lange Streitigkeit zwischen den politischen Kräften der Nachfahren der britischen und französischen Gründernationen und der so genannten „dritten Kraft“, die hauptsächlich aus den nicht-britischen und nicht-französischen Einwanderern bestand, vorausgegangen. Die Frankokanadier hatten Bestrebungen, sich unabhängig zu machen, da sie sich von den Anglokanadiern zu stark dominiert fühlten. Um den Frankokanadiern entgegenzukommen, wurde 1969 die offizielle Zweisprachigkeit für alle bundesstaatlichen Institutionen eingeführt. Alle nicht-frankophonen oder nicht-anglophonen Einwanderer fühlten sich durch dieses Vorgehen ignoriert und befürchteten, durch den Bikulturalismus zu Bürgern zweiter Klasse degradiert zu werden. Da sie politisch zu einer bedeutenden Kraft geworden waren, mussten auch ihnen gegenüber Zugeständnisse gemacht werden. Als Folge dessen wurde 1971 das Konzept des Multikulturalismus offizielles Staatskonzept Kanadas. 1982 ist der Multikulturalismus in die „Canadian Charter of Rights and Freedoms“ aufgenommen worden und seit 1988 hat Kanada ein nationales Multikulturalismusgesetz, das den Multikulturalismus als einen fundamentalen Bestandteil (Kulturerbe) der kanadischen Gesellschaft betrachtet und ihr eine integrale Rolle bei politischen Entscheidungsprozessen zuspricht. Das Multikulturalismus-Gesetz zielt auf die Wahrung und Stärkung der kulturellen Vielfalt Kanadas ab und betrachtet die Multikulturalität als eine besondere Ressource der kanadischen Gesellschaft. Zudem geht es bei diesem Gesetz um die Förderung der Mitwirkungs- und Teilhabechancen von ethnischen Minderheiten auf verschiedenen institutionellen und politischen Ebenen. Nach und nach wurden deshalb weitere Gesetze eingeführt, die neben der Förderung der kulturellen Vielfalt der Diskriminierung und Ungleichbehandlung von „sichtbaren Minderheiten“ entgegenwirken sollen. Als wichtigste
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Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung sind hier zu nennen: „The Canadian Human Rights Act“ und „The Employment Equity Act“. Der Multikulturalismus ist in der kanadischen Gesellschaft nicht unumstritten. Kritische Stimmen sind der Ansicht, dass durch die Politik des Multikulturalismus Diskriminierungen gegenüber ethnischen Minderheiten nicht behoben werden können. Andere meinen, dass die Politik des Multikulturalismus kulturalisierend ist, da es Menschen auf ihre Zugehörigkeit zu ihrer ethnischen Herkunft festlegen würde. Kritiken dieser Art mögen z.T. ihre Berechtigungen haben, allerdings ist es das Verdienst der Multikulturalismus-Politik, dass kulturelle Vielfalt in der kanadischen Gesellschaft positiv konnotiert ist und Einwanderer nicht als Problem wahrgenommen werden. Das kanadische Staatsverständnis ist inklusiv und beruht auf dem „individuellen Loyalitätsbekenntnis“ des Einzelnen. Im Gegensatz dazu ist das Staatsverständnis Deutschlands auf dem Konzept der „Kulturnation“ begründet, welches im wesentlichen Nation als eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Abstammung, Sprache, Kultur, Tradition und Religion versteht (vgl. Rommelspacher 2002: 179). Das multikulturalistische Staatskonzept erteilt Vorstellungen einer offiziellen kanadischen Kultur eine klare Absage. Daher ist eine politische LeitkulturDebatte in der kanadischen Gesellschaft genauso wenig vorstellbar wie eine Instrumentalisierung von Einwanderthemen für politische Wahlkampfzwecke. In Deutschland muss vor jeder anstehenden Wahl befürchtet werden, dass Einwandererthemen politisch instrumentalisiert werden könnten. Es kann auch festgestellt werden, dass sich das Prinzip der Förderung der Mitwirkungs- und Beteiligungschancen von Minderheitengruppen in der Gesellschaft vielerorts durchgesetzt hat. Jeder Beobachter der kanadischen Gesellschaft kann feststellen, dass auf verschiedenen institutionellen Ebenen und gesellschaftlichen Bereichen Angehörige ethnischer Minderheiten vertreten sind. D.h. es wird nicht nur über Mitwirkungsrechte von Minderheiten gesprochen, sie werden auch praktiziert und gefördert. Daher dürfte es auch kein Zufall sein, dass das höchste politische Amt, das man in Kanada bekleiden darf, nämlich das Amt des General Governeurs, von einer Frau ausgeübt wird, die eine Migrantin der zweiten Generation ist. Vor ihr wurde dieses Amt ebenfalls von einer Frau mit Migrationshintergrund ausgeübt. Die Reaktionen der Zuwanderer auf solche Entscheidungen sind, wie zu erwarten, positiv. Die Bekleidung solcher hoher offizieller Ämter durch Personen mit Migrationshintergrund, aber auch allgegenwärtige offizielle „Statements“ des Landes (die größte kanadische Stadt Toronto hat bspw. das offizielle Leitbild „Vielfalt ist unsere Stärke“) können für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft eine enorme symbolische Bedeutung haben. Die Zuwanderer bekommen signalisiert, dass sie willkommen sind und werden nicht unter einen Assimilationsdruck
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gestellt. Den Kanadiern selber wird damit signalisiert, dass sie stolz auf eine Landespolitik sein können, die für Toleranz und Offenheit steht. Die Akzeptanz der offiziellen Multikulturalismus-Politik ist innerhalb der kanadischen Bevölkerung nach wie vor groß. Nach einer Bevölkerungsumfrage antworteten 83 Prozent der Befragten, dass kulturelle und religiöse Vielfalt gut für ein Land ist und 73 Prozent waren davon überzeugt, dass Einwanderer einen positiven Einfluss auf die Geschehnisse im Land haben (Minister of Public Works 2005). Auch auf das Zugehörigkeitsgefühl von Einwanderern scheint die Einwanderungspolitik des Landes einen positiven Einfluss zu haben. Zumindest äußern 92 Prozent der Befragten Einwanderer in einem repräsentativen Survey einen Einbürgerungswunsch und 72 Prozent geben an, ein hohes Zugehörigkeitsgefühl zur kanadischen Gesellschaft zu haben (Statistics Canada 2005). Die hohen jährlichen Einbürgerungszahlen (ca. 150.000 pro Jahr) dürften sicher auch auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass Kanada die doppelte Staatsbürgerschaft akzeptiert und Einwanderungswillige somit nicht gezwungen sind, ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft abzulegen.1 Die hohe Einbürgerungsbereitschaft, aber auch der Anstieg des Anteils derjenigen, die sich als Kanadier sehen, sprechen dafür, dass sich das Prinzip „Einheit in der Vielfalt“ positiv auf die Identifikation von ethnischen Minderheiten mit dem Land Kanada auswirkt. Da keine assimilativen Forderungen an Migranten gestellt werden und ihre Kultur und Lebensweisen als gleichwertig anerkannt sind, solange sie nicht der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Kanadas widersprechen, können sie sich auch eher mit Kanada identifizieren. Die Multikulturalismus-Politik wird auf verschiedenen Ebenen praktiziert und gefördert. Im Folgenden soll auf den Bereich Multikulturalismus und Gleichstellung im kanadischen Bildungssystem eingegangen werden.
3. Gleichstellung und Multikulturalismus an kanadischen Schulen Multikulturelle Bildung und die Förderung von Chancengleichheit gehören zu den Eckpunkten der kanadischen Bildungspolitik. In den Bildungsgesetzen der einzelnen Provinzen ist ein Artikel verankert, der Schulen zur Durchführung von antirassistischer Erziehung und der Aufhebung aller institutionellen und
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In Deutschland sind die Einbürgerungszahlen zwischen 2000 und 2005 rapide zurückgegangen (von ca. 180.000 Einbürgerungen im Jahr auf etwa 130.000) (vgl. Statistisches Bundesamt 2006).
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individuellen Barrieren, die zu Bildungsungleichheit führen können, verpflichtet (vgl. Government Ontario 1992). Verfolgt wird damit nicht nur das Ziel der Gleichbehandlung und der Förderung der Potentiale jedes einzelnen Schülers. Es geht auch darum, die Schüler auf die wachsende Heterogenität der kanadischen Gesellschaft vorzubereiten und ihnen die Vorteile einer heterogenen Gesellschaft bewusst zu machen. Um die Umsetzung dieses Artikels zu gewährleisten, sind die jeweiligen Schulbehörden dazu verpflichtet, den Anforderungen entsprechend Schulkonzepte zu entwickeln und sie den Vertretungen der Bildungsministerien zuzuschicken. Zudem müssen Schulen in ihren Jahresberichten gesondert über die Durchführung multikultureller Bildung und Maßnahmen zur Wahrung bzw. Herstellung von Bildungsgleichheit berichten. Darüber hinaus führen Vertreter aus den Ministerien regelmäßige Kontrollen an den Schulen durch. Um den Schulen bei der Erstellung ihrer Konzepte Orientierungshilfe zu geben, haben einzelne Provinzen wie z.B. British Columbia oder Ontario Richtlinien zur Umsetzung von Antirassismus und Bildungsgleichheit an Schulen entwickelt. Die Richtlinien der größten kanadischen Provinz Ontario haben ihre Schwerpunkte in den folgenden zehn Bereichen (vgl. Ministry of Education and Training 1993): Organisation der Schulstruktur, Leitbild und Zielvorstellungen der Schule In diesem Bereich geht es um die Berücksichtigung der Weltanschauungen und Bedürfnisse aller Schüler (insbesondere derer, die potentiell häufiger von Benachteiligung betroffen sein können) in den Schulstrukturen und im Leitbild der Schule. Schulleitung Damit wird die besondere Verantwortung der Schulleitung hervorgehoben. Sie sollen die Umsetzung des Artikels im Schulkonzept und im Schulalltag durch das Personal sicherstellen. Erwartet wird zudem eine Zusammenarbeit der Schulleitung mit den Eltern, den ethnischen Communities in den jeweiligen Stadtteilen, Universitäten und anderen Einrichtungen, die bildungsrelevant sein können. Öffnung der Schule zum Stadtteil Schulen sollen sich den Bedürfnissen der stetig heterogener werdenden Stadtteile stellen. Dies soll durch die aktive Einbeziehung von Elterngruppen und Angehörigen ethnischer Communities in die Entwicklung, Durchführung und Kontrolle des Schulleitbildes bzw.-konzeptes geschehen.
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Curriculum Hierbei geht es sowohl um konkrete Lerninhalte, als auch um Aspekte, die sich auf das allgemeine Schulklima beziehen, wie die Beziehung zwischen den Schülern und zwischen Lehrern und Schülern. Die Lerninhalte sollen Schülern Werte und Anschauungen vermitteln, die nicht eurozentristisch sind und sie in die Lage versetzen, Respekt gegenüber anderen Kulturen und Lebensweisen zu zeigen und sie als Bereicherung in ihrem Leben wahrzunehmen. Die Schüler sollen mit dem nötigen Wissen im Umgang mit einer wachsenden Heterogenität und Komplexität in der kanadischen Gesellschaft ausgestattet werden. Die besondere Stellung interkultureller Erziehung zeigt sich auch darin, dass das kanadische Ministerium für Staatsbürgerschaft und Immigration selber zahlreiche Materialien für Lehrer an Schulen und Jugendsozialarbeiter heraus gibt bzw. auf den Internetseiten zur Verfügung stellt. Besonders hervorzuheben ist die Reihe „Belonging“ (vgl. http://www.classroomconnections.ca/en/ccc. html). Sprachunterricht Die Vermittlung einer der beiden offiziellen Landessprachen (Englisch und Französisch) hat eine sehr hohe Priorität und soll bei Migrantenkindern gezielt gefördert werden. Ein spezielles ESL-Programm (Englisch als Zweitsprache) soll neuzugewanderten Kindern den schnellstmöglichen Einstieg in den regulären Unterricht erleichtern. Gleichzeitig wird aber auch auf die hohe Bedeutung der muttersprachlichen Kenntnisse von Migrantenkindern hingewiesen. Diese dürften nicht als Hindernis gesehen werden und sollen ebenfalls gefördert werden. Solide Kenntnisse der Muttersprache werden als ein wichtiges Fundament für das Erlernen einer Zweitsprache und Basis einer normalen emotionalen Entwicklung wahrgenommen. Zudem wird auf die Vorteile von Mehrsprachigkeit im zukünftigen Berufsleben der Schüler hingewiesen. Hier werden Unterschiede zum deutschen Integrationsdiskurs deutlich, während hierzulande muttersprachlicher Unterricht umstritten ist, wird er an den meisten kanadischen Schulen in ethnisch segregierten Quartieren (mit einem hohen Anteil an Neuzuwanderern) zur Wahrung des explizit multikulturellen „kanadischen Kulturerbes“ gefördert. Prüfungs- und Testverfahren von Schülerleistungen Erwartet wird hierbei, dass durchgeführte Prüfungs- und Testverfahren: x keine Stereotypisierungen beinhalten dürfen, x das aus den Herkunftsländern mitgebrachte Schulwissen und
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x x
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die Sprachkenntnisse von Migrantenkindern in der Testsprache ausreichend berücksichtigen und dass Eltern in die aus den Testergebnissen hervorgegangenen Schullaufbahnentscheidungen einbezogen werden.
Soziale Unterstützung und Beratung Das Personal, das für die spezielle soziale Unterstützung und Beratung der Schüler zuständig ist, soll für diskriminierende bzw. stigmatisierende Vorgehensweisen sensibilisiert werden und den Schülern eine an ihren individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten orientierte Betreuung bieten. Zudem sollen sie Partnerschaften zwischen den Schulen, den Eltern, der Industrie und Wirtschaft aufbauen und dabei sicherstellen, dass den Eltern, die nicht über ausreichende Englischkenntnisse verfügen, Information in ihrer eigenen Sprache zur Verfügung gestellt werden. Bekämpfung von Diskriminierung bzw. Belästigung aufgrund des Aussehens bzw. der ethnischen Herkunft Es wird auf die verschiedenen Formen und Bereiche aufmerksam gemacht, in denen Diskriminierung aufgrund von bestimmten äußerlichen Merkmalen einer Person (hier wird im angloamerikanischen Sprachgebrauch oftmals der Begriff Race2 verwendet) und/oder seiner ethnischen Herkunft in Schulen auftreten kann. Zudem wird auf die gravierenden Folgen von Diskriminierung für das Selbstbewusstsein und die Chancen von Betroffenen hingewiesen. Die Schulen haben hierbei die Aufgabe gegenüber solchen Vorgehensweisen sensibilisiert zu sein und effektive Maßnahmen gegen die Personen durchzuführen, die sich diskriminierend bzw. rassistisch verhalten haben. Arbeitsbedingungen des Schulpersonals und Einstellungspraxis der Schulen Unter diesem Punkt sind Forderungen enthalten, die darauf abzielen, in den Schulen Rahmenbedingungen zu schaffen, die diskriminierende Praktiken bei Einstellungsverfahren, Beförderungen und Weiterbildungsmöglichkeiten verhindern. Zudem sollen die Beschäftigten an den Schulen die ethnische Zusammensetzung der kanadischen Gesellschaft angemessen reflektieren.
2 Der Begriff „Race“ ist in diesem Zusammenhang als eine soziale Kategorie zu verstehen, die die Gruppierung von Menschen nach biologischen Merkmalen wie Hautfarbe, Gesichtszügen und Beschaffenheit der Haare beinhaltet.
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Weiterbildung des Personals Um benachteiligende Organisationsstrukturen und diskriminierende Vorgehensweisen zu beheben, wird auf die Weiterbildung aller Schulangehörigen in den hierfür nötigen Kompetenzbereichen ein besonderes Augenmerk gelegt. Die Lehrerfortbildung spielt allgemein im kanadischen Schulsystem eine sehr wichtige Rolle. In manchen Provinzen sind Lehrende verpflichtet, sich 40 Tage im Jahr fortzubilden. Häufig arbeiten Schulbehörden bei der Lehrerfortbildung eng mit den erziehungswissenschaftlichen Fachbereichen der Universitäten zusammen. Ein Beispiel für ein Institut, das recht erfolgreich mit Schulbehörden in Ontario zusammenarbeitet, ist das Ontario Institute for Studies in Education an der Universität Toronto (OISE/UT). Das Beispiel der Richtlinien zur Umsetzung von Antirassismus und Bildungsgleichheit an Schulen der Provinz Ontario verdeutlicht, dass man von staatlicher Seite darum bemüht ist, den Schulen möglichst viel Orientierung und Hilfestellung bei der Herstellung von Bildungsgleichheit und Vermittlung interkultureller Erziehung zu geben. Dass diese Bemühungen ihre Früchte tragen, zeigt sich zum einen in der breiten Akzeptanz von Zuwanderern in der Bevölkerung zum anderen aber auch darin, dass Kanada bei internationalen Schülerleistungsvergleichen immer zu den erfolgreichsten Ländern gehört und sich die soziale bzw. ethnische Herkunft der Schüler nicht in dem Maße in ihrem Schulerfolg niederschlägt wie z.B. in Deutschland.
4. Zur Bildungssituation von Einwandererkindern und -jugendlichen Bevor auf die Bildungssituation von Einwandererkindern in Kanada eingegangen wird, soll zum besseren Verständnis in kurzer Form das kanadische Bildungssystem vorgestellt werden. Das Bildungssystem Kanadas ist föderal strukturiert und in fast allen 16 kanadischen Provinzen besteht Unterrichtspflicht vom 6. bis zum 16. Lebensjahr. Es handelt sich um ein Gesamtschulsystem ohne eine Differenzierung in unterschiedliche Schulformen. Nach der Primarstufe (primary school), die in der Regel bis zur 6. Klassenstufe geht, folgt der Sekundarbereich (secondary school). In der Primarstufe findet prinzipiell eine Versetzung statt. Für leistungsschwache Schüler werden Sprachkurse bzw. Förderunterricht in den relevanten Fächern erteilt. Die Selektion in verschiedene Bildungsstufen erfolgt in den meisten Provinzen erst ab der 10. Klasse. Nach der 10. Klasse kann die Schulausbildung je nach Berufsorientierung und Leistung an hochschulvorbereitenden oder berufsbildenden Bildungsgängen fortgesetzt werden, wobei hier auch durch die Fächer-
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wahl Überschneidungen zwischen diesen Bildungsgängen möglich ist. Die Sekundarstufe endet in fast allen Provinzen mit der 12. Klassenstufe. Nach Abschluss der Sekundarstufe kann ein Studium an einer Universität oder einem College aufgenommen werden (siehe Abbildung 2). Abb.2: Das kanadische Bildungssystem
Quelle: AG Internationale Vergleichsstudie 2003 Da die Schulpflichtzeit unter der Zeit liegt, die erforderlich ist, um einen anerkannten Schulabschluss zu erreichen, hat Kanada mit 30 Prozent einen hohen Anteil an Schulabbrechern. Um diese Defizite zu kompensieren, werden Erwachsenen verschiedene Möglichkeiten angeboten, ihren Schulabschluss nachzuholen. Zudem gibt es eine Reihe von school-to-worktransition-programs, die den erfolgreichen Übergang von der Schule in den Ausbildungsmarkt gewährleisten sollen (vgl. AG Internationale Vergleichsstudie 2003).
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4.1 Zur Schulsituation der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Durch die Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten hat sich auch der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund an den kanadischen Schulen erhöht. In den größeren kanadischen Städten wie Toronto oder Vancouver hat mehr als jedes vierte Kind bzw. Jugendlicher einen Migrationshintergrund (siehe Abb. 3). Etwa ein Fünftel dieser jungen Zuwanderer hat eine andere Muttersprache als Englisch oder Französisch (CESC 2006). Abb. 3: Anteil der Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund der Altersgruppe 5-24 Jahre in kanadischen Städten (1991, 1996, 2001)
Quelle: Statistics Canada 2004 Es gilt als eine zentrale Aufgabe in der kanadischen Bildungspolitik Kindern mit Migrationshintergrund den Anschluss an die Leistung der einheimischen Kinder zügig zu ermöglichen.
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Aus verschiedenen nationalen und internationalen Studien geht hervor, dass die Kinder von Einwanderern sich hinsichtlich ihres Bildungserfolgs nach einer bestimmten Zeit dem Niveau der Kinder und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund annähern (Boyd 2002, Reitz 2003, Aydemir et al. 2005). Häufig erreichen sie noch während der Grundschulzeit die gleichen Bildungsabschlüsse oder gar bessere Schulabschlüsse als die Einheimischen. Die Abbildung 4 verdeutlicht die sukzessive Anpassung des Leistungsniveaus von Migrantenkindern der zweiten Generation an das von Kindern, deren Eltern beide in Kanada geboren worden sind.
Abb. 4: Lesekompetenzen Zeitverlauf
von
Schülern
mit
Migrationshintergrund
im
Quelle: Statistics Canada 2004, Ottawa Im Gegensatz dazu, lässt sich aus der PISA-Studie 2003 für Deutschland entnehmen, dass die Schulleistungen der Kinder der ersten Generation besser sind als die der zweiten Migrantengeneration (vgl. Abbildung 5).
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Abb. 5: Testleistungen Mathematik und Lesen bei 15-Jährigen (PISA 2003) nach Migrationsstatus in ausgewählten Staaten (in Kompetenzpunkten)
Quelle: Bildungsbericht 2006 Als Erklärung für das gute Abschneiden der kanadischen Schüler mit Migrationshintergrund wird oftmals der hohe Bildungshintergrund ihrer Eltern angeführt (über 60 Prozent der Einwanderer, die in den 90er Jahren nach Kanada eingewandert sind, hatten einen postsecondary-Abschluss). Allerdings zeigt sich in der PISA-Studie von 2003, dass mit dem Bildungshintergrund und dem ökonomischen Hintergrund der Eltern alleine die Leistungsunterschiede nicht zu erklären sind. Die Abbildung 6 verdeutlicht, dass auch unter Berücksichtigung des Bildungsniveaus und des beruflichen Status der Eltern in Kanada keine signifikanten Leistungsunterschiede in Mathematik zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund festzustellen sind.
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Abb. 6: Leistungsunterschiede zwischen Schülern mit und ohne Migrantionshintergrund in Mathematik unter Berücksichtigung des Bildungsniveaus und des beruflichen Status der Eltern
Quelle: OECD 2006: 68 Dieses Ergebnis ist ein Hinweis darauf, dass andere Faktoren wie z.B. die strukturellen Rahmenbedingungen an Schulen und gezielte Fördermaßnahmen für
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den Bildungserfolg mindestens genauso wichtig zu sein scheinen, wie die soziale Herkunft. Während in den meisten europäischen Ländern Schüler mit Migrationshintergrund Schulen besuchen, die über unzureichende Ressourcen verfügen und in denen das Leistungsniveau allgemein niedrig ist, werden in Kanada Schulen mit einem hohen Anteil an Immigrantenkindern besonders gefördert. In der Provinz British Columbia bekommen Schulen mit vielen Einwandererkindern jährlich 1100 CAD pro Schüler mit Migrationshintergrund. In der Provinz Ontario werden für spezielle Sprachkurse den Schulen Fördergelder bzw. zusätzliches Personal zur Verfügung gestellt. Das kanadische Beispiel verdeutlicht, dass ein hoher Immigrantenanteil an Schulen sich nicht negativ auf das Bildungsniveau der Schüler auswirken muss. Mehr als 40 Prozent der kanadischen Schüler mit Migrationshintergrund besuchen Schulen mit einem Migrantenanteil von mindestens 50 Prozent (vgl. OECD 2006). Als Konsequenz des Bildungserfolgs von Migrantenkindern zeigt sich, dass sich die Arbeitsmarktsituation der zweiten Generation in Kanada nicht wesentlich von der, der gleichaltrigen Kanadier unterscheidet und zwischen der ersten und zweiten Generation eine intergenerationelle Aufwärtsmobilität festzustellen ist (Aydemir et al. 2005).
5. Fazit Erfolgreiche Integration von Einwanderern und deren Nachfolgegenerationen hängen in entscheidendem Maße von den Chancen ab, die ihnen die (Bildungs-) Institutionen des Aufnahmelandes gewähren. Am kanadischen Beispiel wird deutlich, wie sich das Selbstverständnis des Landes als multikulturelles Land auch erfolgreich in den Schul- und Integrationskonzepten niederschlägt. In Deutschland hing bis zu dem „PISA-Schock“ der Bildungserfolg von Kindern aus Einwandererfamilien und aus sozial schwachen Familien entscheidend vom Engagement der Eltern, einzelner Lehrer oder einem besonders ehrgeizigen bzw. hartnäckigen Charakter des jeweiligen Schülers bzw. der Schülerin ab. Erst seit den für Deutschland verheerenden Ergebnissen der PISA-Studie werden auf bildungspolitischer Ebene Überlegungen darüber angestellt, durch Reformen und Maßnahmen etwas gegen die Bildungsbenachteiligung von Kindern aus Migrantenfamilien und sozial schwachen Familien zu unternehmen. Gerade im Hinblick darauf, dass die wissenschaftliche Forschung seit Anfang der 80er Jahre innovative Ansätze sowohl zum Umgang mit kultureller Heterogenität an den deutschen Schulen, als auch zur Herstellung von Chancengleichheit bot,
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stellt sich die Frage, warum erst so spät ernsthaft über Reformen und Fördermaßnahmen an deutschen Schulen nachgedacht wird (vgl. Auernheimer 1981). In Deutschland muss noch sehr viel getan werden, um Chancengleichheit herzustellen. Die Tatsache, dass die Bildungssituation von Migrantenkindern, die in Deutschland geboren sind, z.T. schlechter ist, als die von später eingewanderten, drängt auf eine zügige Lösung dieser Probleme. Trotz der schwierigen Umstände weisen Schüler mit Migrationshintergrund überwiegend eine hohe Bildungsmotivation auf, die z.T. sogar höher ist, als bei Schülern ohne Migrationshintergrund (vgl. OECD 2006). Auf diese generell positive Einstellung zum Lernen sollte mit angemessenen Maßnahmen eingegangen werden, um wichtige Potentiale nicht zu vergeuden. Hierbei hilft es von den Erfahrungen erfolgreicher Länder wie Kanada zu lernen. Erforderlich ist aber auch ein Migrationsdiskurs, der differenziert und sachlich ist und Einwanderung nicht als ein Problem versteht. Der alleinige Blick auf die Probleme von Einwanderern ist eine zu stark verkürzte Sichtweise, denn es verkennt die Integrationsleistung von vielen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, die – trotz der z.T. schwierigen Ausgangsbedingungen – sich einen Platz in der deutschen Gesellschaft verschafft haben.
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Einwanderer(kinder) und die europäisch-kosmopolitische Bildung. Konzept einer europäischen Schule
Krise der EU und die Globalisierung Der doppelte Schock, den die Ablehnung der europäischen Verfassung durch die Franzosen und die Niederländer bei Europapolitikern ausgelöst hat, verlangt nach einer Denkpause. „Neoliberaler Minimalismus oder demokratische Offensive?“ – das ist die Alternative, wie sie der alternative Ökononom Jörg Huffschmid formuliert. Die neoliberale Integrationspolitik sei gescheitert. Der vom Europäischen Rat im Juni 1985 beschlossene revolutionäre Ansatz der Deregulierung (Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes bzw. „negative Integration“) mit der Vereinheitlichung von über 100 000 unterschiedlichen Regelungen auf nur noch rund 300 mit Gültigkeit dann für alle Mitgliedsländer, der das „Verhältnis von Politik und Gesellschaft auf der einen und Markt und Wirtschaft auf der anderen Seite weitgehend auf den Kopf stellt“, verlieh der Konkurrenz einen „völlig neuen Stellenwert in der Gesellschaft und der Politik“. (Huffschmid 2005, 33). Die versprochenen Wachstums- und Beschäftigungswirkungen seien von dieser umfassenden Aufwertung von Markt und Konkurrenz und der umfassenden Abwertung staatlicher Konjunktur- und Wachstumspolitik nicht ausgegangen. Ganz im Gegenteil: „Der doppelte Teufelskreis aus Wachstumsschwäche, hoher Arbeitslosigkeit und Umverteilung von unten nach oben hat sich mittlerweile verfestigt. Er kann nicht durch die Dynamik von Märkten, sondern nur durch energisches politische Eingreifen durchbrochen werden. Hierzu hat sich die EU selbst unfähig gemacht.“ (Huffschmid 2005, 34) Auch politisch sei das Modell gescheitert, weil es die „Demokratisierung der Integration verhindert“ und sich der Möglichkeiten beraubt habe, „Integration ausdrücklich durch große soziale, kulturelle und politische Projekte zu gestalten und einen europäischen Zusammenhalt zu schaffen, der für die Menschen sichtbar und attraktiv ist und von ihnen daher als Grundlage europäischer Identität akzeptiert wird.“ Der Beitritt ökonomisch weniger entwickelter Länder mit geringerem Lebensstandard und weniger sozialer Sicherheit habe statt dessen
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„Verunsicherung und Angst ausgelöst, die vielfach in versteckte und gelegentlich in offene Aggressivität und Fremdenfeindlichkeit umschlugen“. (Huffschmid 2005, S. 34/35) Die Relevanz der Einwanderung und Migrationspolitik ist bei der Diskussion der Neugestaltung Europas und seiner Wirtschaftsgemeinschaft zu gering bewertet worden. Europa, die EU, auch die ehemals ökonomisch peripheren Staaten Südeuropas, ist als ganzes zum Einwanderungsland geworden. Selbst Italien, das im Jahrhundert seit der nationalen Einigung innerhalb eines Jahrhunderts ebenso viele Auswanderer entließ wie es Menschen an Bevölkerung zählte, nämlich 60 Millionen, ist mittlerweile zum Zielland von Einwanderern und Flüchtlingen, gerade aus Afrika, geworden, rund 800 000 im Jahr, – wie etwa auch Griechenland und Spanien, dessen afrikanische Enklave Ceuta von afrikanischen Flüchtlingen trotz Stacheldraht unter Lebenseinsatz gestürmt wird und dessen Küsten an der Meerenge von Gibraltar Flüchtlinge nächtens unter hoher Gefahr mit Booten zu erreichen versuchen. Deutschland tut sich nach der „Rückwanderung“ von rund 4 Millionen Aussiedlern nach dem Systemwechsel 1989 im ehemals staatssozialistischen Ostblock immer noch schwer, die rund 10 Prozent Einwanderer insgesamt als Neubürger, d.h. als politisches Faktum zu akzeptieren. Hunderte von Autos, die das Jahr über und dann phasenweise immer wieder, auch in der Silvesternacht, in geballten Wutausbrüchen in den Vorstädten Frankreichs „abgefackelt“ werden, bekunden, dass die Integration von Fremden auch dort ein ungelöstes europäisches Problem darstellen. Bezüglich der Wirtschaftsmigration schon – wirtschaftliche sind mit politischen, kriegsbedingten und neuerdings auch ökologischen Migrationsursachen die häufigsten – hat die EU gegenwärtig „kein kohärentes Konzept“ für Einwanderung und Integration. In den EG-Gründungsverträgen von 1957 war eine gemeinsame Migrationspolitik nicht vorgesehen. Erstmals wurde das Problem dann in der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 thematisiert, wo der europäische Binnenmarkt mit freiem Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr grundgelegt wurde. Personenfreizügigkeit von Angehörigen von Drittstaaten blieb ungeklärt. Zur Asyl- und Migrationspolitik herrscht bis heute kein Konsens: „Eine geplante Richtlinie scheiterte. Im Vertrag von Maastricht wurde 1992 dann erstmals eine gemeinsame Einwanderungspolitik erwähnt. Diese wurde jedoch in die dritte Säule übertragen, indem lediglich zwischenstaatlich zusammengearbeitet werden sollte. Die gegenwärtigen rechtlichen Grundlagen wurden im Vertrag von Amsterdam 1997 festgeschrieben. Die Einwanderungspolitik wurde in den EG-Vertrag und damit in die sogenannte erste Säule übergeführt, in der mehrheitlich nach dem Einstimmigkeitsprinzip entschieden wird. Weil aber einige Mitgliedsstaaten nicht zum Souveränitätsverzicht bereit waren, gilt bis heute entgegen der üblichen Praxis das Einstimmigkeitsverfahren im
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Rat. Jedes Mitglied kann somit Vorstösse [!] in Richtung einer gemeinsamen Einwanderungspolitik blockieren.“ (von Lebedur, NZZ, 21.12.05, 7) Auf dem EU-Sondergipfel von Tampere 1999 wurde ein gemeinsames Konzept zur Steuerung der Migrationsströme gefordert. 2002 scheiterte eine entsprechende Richtlinie. Im Haager Programm 2004 wurden, ähnlich wie in Tampere, Eckpfeiler benannt. Die Kommission will demnächst ein Weißbuch auf der Grundlage des Grünbuchs 2005 herausbringen. „Zunächst vermögen die darin aufgestellten grundlegenden Annahmen zu überzeugen. Die Behauptung beispielsweise, dass Europa längst zum Einwanderungsland geworden ist, wird durch zahlreiche Statistiken gestützt. Von der Mehrzahl der Autoren wird auch die Annahme, dass die legale Einwanderung in die EU die Wirtschaftsentwicklung positiv beeinflusst, geteilt. Ebenso leuchtet die Stossrichtung [!]des Grünbuchs zu einer gemeinsamen europäischen Einwanderungspolitik ein. Die Schaffung eines offenen europäischen Arbeitsmarktes ist aus ökonomischer Sicht Bedingung, um die Vorteile des Binnenmarktes ausschöpfen zu können. Der Wegfall der Binnengrenzen wiederum macht eine gemeinsame Migrationspolitik unumgänglich.“ Wenn nicht aus Kooperation in Sachen Wirtschaftsmigration damit gleichzeitig auch eine gemeinsame Asylpolitik einhergehe, sei als „Resultat ein Umlenken der Migrationströme in die Illegalität“ zu erwarten. „Die momentane Lösung wird dem Problem nicht gerecht“, wird aus dem Migrationsbericht von 2004 gefolgert. Institutionelle Reformen werden angemahnt entgegen der derzeit „äußerst restriktiven Einwanderungspolitik“. Das Potenzial von hochqualifizierten Einwanderern beispielweise werde unterdurchschnittlich genutzt. Ein Perspektivenwechsel sei notwendig. (von Lebedur, NZZ 21.12.05, 7) Die europäische Migrationspolitik muss wie die Politik der EU und der in ihr zusammengeschlossenen Nationalstaaten im Zusammenhang der Globalisierung und der Errichtung des neoliberalen Regimes gesehen werden, das von Finanz- und Industriekapital ausgeübt wird. Die „Arbeitsgruppe europäischer WirtschaftswissenschaftlerInnen für eine andere Wirtschaftspolitik in Europa“ (Euromemorandum-Gruppe) hat Anfang Dezember 2005 ihr achtes Memorandum zur europäischen Wirtschaftspolitik vorgelegt. Das Memorandum wird von 300 kritischen Ökonominnen und Ökonomen unterstützt. Die anhaltende wirtschaftliche Schwäche, soziale Polarisierung und ökologische Zerstörung in der EU werden auf die einseitig marktorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückgeführt. Als Alternative zum neoliberalen Regime wird die Entwicklung eines „europäischen Sozialmodells“ vorgeschlagen, „in dem ökonomische, soziale und ökologische Ziele den gleichen Stellenwert haben und mit einer koordinierten europäischen Politik verfolgt werden.“ (Das Europamemorandum 2005, 2006, 118). Einwanderung wird explizit nicht angesprochen, Bildung nur knapp erwähnt. Die EU ziehe sich nun auf minimale Ziele der Märkteliberali-
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sierung, Wettbewerbsregelung und Flexibilisierung der Arbeit zurück. Soziale und ökologische Ziele würden nach Lissabon zurückgestellt. Dem sei aber eine „neue demokratische Offensive“ mit einem „stärkeren Gewicht politischer – makroökonomischer, struktureller sowie den Außenhandel betreffender – Intervention und Kontrolle entgegenzusetzen“. „Zweitens müssen die Sozial- und Umweltpolitik auf der politischen Tagesordnung der Europäischen Union stark aufgewertet werden, und ihnen muss im Vergleich zu den rein wirtschaftlichen Erwägungen – Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und der Position auf den internationalen Märkten – Vorrang eingeräumt werden.“ (a.a.O., 119) Instrumente und Programme wie für eine andere Steuerpolitik, Umverteilung von Einkommen und Reichtum bis hin zur Umweltsanierung durch den öffentlichen Sektor werden als schwierig durchsetzbar, aber als dringend eingefordert. In die soziale Dimension werden einbezogen „die Vollbeschäftigung, gute Löhne und hohe Lebensstandards, gute Arbeitsbedingungen, Gleichberechtigung, das Ende der Armut und Obdachlosigkeit, soziale Sicherheit, der Zugang zu öffentlichen Gütern und demokratische Mitbestimmung.“ (ebd.) Sozialpolitik solle zwar in den Händen der Mitgliedsstaaten belassen werden, aber es seien festzulegen „bei den entscheidenden Sozialeinrichtungen – Bildung, Gesundheitsversorgung, sozialer Wohnungsbau – Mindeststandards, die für alle Mitgliedsstaaten verpflichtend sind.“ (a.a.O., 121) Im Jahr 2001 veröffentliche der Europarat (nicht die EU!) einen „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen“ . Dort wird der Rahmen umrissen, auf den sich in Zukunft Sprachprüfungen beziehen sollten – in deutlichem Gegensatz zum traditionellen nationalstaatlichen Fremdsprachenunterricht. Neben der Diskussion der Niveaus und Profile und der Relativierung von Sprachenlernen als tendenziell unabschließbarem Prozess wird die Entwicklung einer sprachlichen Handlungsfähigkeit in multilingualen Kontexten [kursiv im Text] eingefordert. „Menschen sollen lernen, sich in einer multilingualen Welt zugehörig zu fühlen und in einer multilingualen Welt zurecht zu kommen.“ Der Referenzrahmen orientiere sich nicht an der Beherrschung einer oder mehrerer Nationalsprachen, sondern ziele auf das mühelose Wechseln zwischen mehreren Sprachen und den Transfer zwischen den Sprachen. (vgl. Dirim 2005, 92). Nach meiner Vorstellung hätten die europäischen Schulen auch in die Problematik der Dialekte (wie Schwitzerdytsch in Basler Schulen) einzuführen und in jeweils eine Sprache der großen europäischen Sprachfamilien – der germanischen, der romanischen und der slawischen – mitsamt den Transformationsregeln zwischen ihnen. Stattdessen ist in Deutschland – wie in Vor-Wahlkampfzeiten üblich – ohne Not Streit zur Einwandererpolitik entfacht worden: bezüglich der Einbürgerungsstrategie und über die Familiensprache der Einwanderer in der Schule, in
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diesem Fall (Zufall?) über Türkisch in einer Berliner Grundschule. 44 Fragen haben Stuttgarter Ministerialbürokraten ausgesonnen, die in einem Fragebogen den Einbürgerungswilligen vorgelegt werden sollen u.a. mit einer Frage, die in Anspielung auf eine Koransure (Zufall?) die Haltung zur Gewalt gegen Frauen abtesten soll. Als ob man nicht wissen könnte, dass in USA beispielweise Erfahrungen vorliegen und üblicherweise landeskundliches Wissen über Geschichte, Verfassung und politische Gegenwart der Vereinigten Staaten abgefragt wird. Und als ob nicht in Zuwandererkursen von 30 Stunden solches mittlerweile auch in Deutschland vermittelt würde. (vgl. Schmid, FASonntagsZ 15.01.06,. 13) Die Frankfurter Rundschau titelt: „Kontroverse über die Deutschpflicht“. Ein Schaubild verschleiert, dass mittlerweile Aussiedlerkinder rund 20 Prozent der Migrantenkinder ausmachen. (Vgl. FR 27.01.06,. 4) Nicht diskutiert wird, ob der Streit auch gegenüber Spanisch und Italienisch auftreten würde. Dass italienischstämmige Kinder von EU-Bürgern, die größten „Bildungsversager“ bzw. Benachteiligten im deutschen Bildungswesen sind, ist selbst den PISAForschern verborgen geblieben. Delikater Weise wird auf derselben Zeitungsseite im Einspalter „Mehrheit der Deutschen empfindet EU als Gefahr“ berichtet, dass einer Umfrage im Auftrag der EU zufolge 84 Prozent „Angst davor haben, dass Arbeitsplätze in EULänder mit niedrigeren Lohnkosten verlagert werden. 64 empfänden zudem den Verlust von sozialen Standards und Sozialleistungen als ein Problem.“ Gut 60 Prozent der befragten Deutschen seien gegen die Aufnahme weiterer Länder, im europäischen Durchschnitt nur 49 Prozent. „Gegen die Aufnahme reicher westlicher Länder wie die Schweiz, Norwegen oder Island hätten die Deutschen jedoch nichts einzuwenden.“ (FR 27.01.06, 4) Und um im Zeitungstheater noch eins drauf zu setzen – Augusto Boal hätte seine Freude dran! – wird auf derselben Zeitungsseite berichtet, dass die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) sich gegen die Übergriffe von Polizei auf Info-Stände beklagt habe, an denen Aufkleber und Flugblätter mit Symbolen wie durchgestrichenen Hakenkreuzen verteilt worden waren. Junge Leute mit solchen Symbolen auf den Jacken seien verfolgt und in Handschellen abgeführt worden. Das Verwaltungsgericht Stuttgart habe eine Klage abgewiesen. Bildung als Menschenrecht und Produktivfaktor „Bildungsverlust heißt Innovationsverlust und damit Wohlstandsverlust“, sagt McKinsey Chef Jürgen Kluge in einem Interview unter dem Titel „Bildung schafft Wachstum“: „Investitionen in Bildung rentieren sich. In frühkindlicher Bildung stecken die meisten Potenziale. Da erreichen Sie eine Verzinsung des
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eingesetzten Geldes von zehn bis zwölf Prozent, weil besser ausgebildete Menschen auf dem Arbeitsmarkt mehr leisten, sich auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen und weniger staatliche Unterstützung benötigen.“ (FR 31.12.05, 12) Der Sozialstatistiker Gösta Esping-Andersen mahnt Reformen in der Bildungs- und Familienpolitik an, um den Negativ-Saldo sozialer Vererbung bei Armut zur durchbrechen. „Wenn die Kinder sehr mangelhaft ausgerüstet mit kognitiven Fähigkeiten, Lernmotivation usw. in die Schule kommen, kann die Schule an dieser frühen Ungleichheit nicht wirklich etwas ändern.“ Er plädiert für Programme früher kindlicher Stimulierung, gerade auch wegen des demografischen Faktors, und argumentiert, dass in Europa der Wohlstand bei zunehmender Überalterung nur durch gute Ausbildung der jungen Generation gesichert werden könne. (Esping-Andersen 2006) Der Mehrsprachigkeit und Interkulturalität in den pluralen Gesellschaften widmet eine Einführung in die Vergleichende Erziehungswissenschaft ein ganzes Kapitel. „In vielen Lebensbereichen in und außerhalb der Arbeitswelt macht sich die Notwendigkeit bemerkbar, sich die kulturellen und sprachlichen Kenntnisse und Verhaltensweisen anzueignen, die über das hinausreichen, was im Rahmen einer Familiensprache und -kultur erworben werden kann. Spezifische sprachliche, sozio-kulturelle und interkulturelle Kompetenzen sind in der internationalisierten und transnationalen Arbeitswelt sowie auch außerhalb der beruflichen Tätigkeiten gefragt, und es gehört zum Auftrag von Bildung und Erziehung, jene Kompetenzen aufzubauen [...], was wiederum eine adäquate Professionalisierung der Lehrpersonen voraussetzt“. (Allemann-Ghionda 2004, 86/87) Der renommierte Friedensforscher Johan Galtung formuliert Hypothesen und Prognosen zu allgemeinen Richtungen der Migration. Migrationen sind zu erwarten x aus überbevölkerten in unterbevölkerte Regionen x aus ressoucenarmen in ressorcenreiche Regionen x aus Regionen mit hohem in solche mit niederem Bevölkerungswachstum x aus solchen mit niedrigen in solche mit hohen Menschenrechtstandards x aus Regionen mit niedrigen in solche hohen Wohlstands x aus Regionen mit niedriger in Regionen mit hoher kultureller Identität. Die Konstellation spricht für hohen Einwanderungsdruck auf den Nord-Westen mit EU und USA. 80 Prozent der Weltbevölkerung leben im armen Süden mit Bevölkerungsüberschuss. Die Länder mit demokratischer Verfassung ziehen Menschen aus Ländern mit niedrigeren Menschenrechtsstandards an. Die Relevanz der Hautfarbe nimmt bei den Einwanderungen zwar ab, tendenziell verschärfen jedoch ethnische und religiöse Unterschiede immer noch die sozialen Konflikte, die aus den Diskrepanzen zwischen Armut und Reichtum resultieren. (Vgl. Galtung 2000, 11-15)
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Für Europa ist nach diesem Szenario weiterhin mit anhaltenden Einwanderungsströmen zu rechnen. Und Europa braucht qualifizierte Zuwanderung. Bildung ist ein Wohlstands- und Produktivfaktor. Das Tor zum Menschen ist Kommunikation und Sprache. Unterricht in der Herkunftssprache und in der geltenden Landessprache erst – zusätzlich zur üblichen Landessprache – bewirken gesellschaftliche Integration. Linguisten haben auf die Gefahr doppelseitiger Halbsprachigkeit aufmerksam gemacht, die bei benachteiligten Einwandererkindern aus der unteren sozialen Schicht zu erwarten ist (Tove SkutnabbKangas). Die Förderung in der Familiensprache wird eingeklagt, um alle Bildungspotenziale auszuschöpfen, aber auch aus menschenrechtlichen Gründen, um den Sprach- und Kulturkonflikt in den Einwandererfamilien zu entschärfen. Bildungspolitik wäre innerhalb der EU als ein wesentlicher Bereich der Sozialpolitik und europäischer Integration erst eigentlich noch zu entdecken. Modelle sind im Bildungsbereich zu entwickeln und zu verbreiten, erste Anfänge zu stärken. Der in München und London lehrende Soziologe Ulrich Beck plädiert für ein kosmopolitisches Europa. Die Forderung nach einem „Dialog der Kulturen“ möge gut gemeint sein, sei aber irreführend, ja gefährlich: „als existierte ‚der‘ Islam und ‚der‘ Westen in exklusiven Räumen, die nun endlich das Gespräch miteinander suchen müssten. Wo bleibt dann ‚Londistan‘ – die Metropole des Islam außerhalb der islamischen Welt? Wo die westlichen Muslime, das arabische Bürgertum, die orientalischen Christen, die israelischen Araber, die zweite und dritte Generation der muslimischen Einwanderer in allen westlichen Ländern und so weiter?“ Er wendet sich gegen „territoriale Sozialanthropologie“ und wirbt für Anerkennung der „empirischen Signifikanz“ beim Wendepunkt nach dem Holocaust. „Wer ein christlich-abendländisches Abstammungsprinzip aus den Massengräbern Europas auferstehen lässt, verkennt also die innere Kosmoplitisierung Europas. Man leugnet die Wirklichkeit der rund 17 Millionen in der EU lebenden Menschen, die dieses ethnisch-kulturelle Erbe des `Europäischseins´ nicht für sich in Anspruch nehmen können, etwa weil sie Muslime oder Farbige sind, sich aber kulturell und politisch als Europäer verstehen und organisieren. [...] Verkannt wir auch der weltgeschichtliche Mikrokosmos Europa. In der Welt des 21. Jahrhunderts gibt es keinen geschlossenen Raum des christlichen Abendlandes mehr. […] Der Begriff des kosmopolitischen Europa ermöglicht eine nichtnostalgische, nichtnationale, sozusagen radikal europäische Kritik der EU-Wirklichkeit. Die Kritik lautet: Vieles am Zustand der EU ist uneuropäisch. Daher lahmt Europa. Zuwenig Europa – so die Krisendiagnose, und die Therapie: mehr Europa – richtig verstanden, nämlich kosmopolitisch!“ (Beck 2004: 248-252) Und er fährt Seiten später fort: „Der erste Grundsatz des kosmopolitischen Realismus besagt: Europa wird niemals als Produkt nationa-
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ler Homogenität möglich. [...] Nur ein kosmopolitisches Europa, das (wie seine Grünungsväter wollten) seine nationale Tradition zugleich überwindet und anerkennt – überwindet, indem sie es anerkennt (also ein großnationales Europa ausschließt, aber die Vielfalt des Nationalen als Wesensmerkmal Europas zelebriert) –, ist sowohl europäisch (im Sinne von nicht-national) als auch national, weil plural-national, also europäisch.“ (a.a.O., 259) Der nationale Multikulturalismus wie in den USA sei in Europa ausgeschlossen aufgrund der Entstehung aus vielen Nationen. „Der Siegeszug des kosmopolitischen Europa spricht völlig unzweideutig die Sprache des politischen Mehrwerts, der durch die kooperative Verschmelzung der Nationalstaaten entsteht und dadurch die nationalen Staaten nicht entmächtigt. Dem Verantwortungszusammenhang der Weltrisikogesellschaft kann sich niemand entziehen.[../..] Um ihre Macht zu bewahren und zu mehren, müssen die Staaten (a) kooperieren, (b) internationale Regeln aushandeln und (c) entsprechende internationale Institutionen gründen. Mit anderen Worten: Weil Staaten überleben wollen, müssen sie zusammenarbeiten. Dauerhafte Kooperation jedoch verändert die Selbstdefinition von Staaten in ihrem Kern. Ihr Egoismus des Überlebens und der Machterweiterung zwingt sie zum Zusammenschluss und zur Selbsttransformation: Nicht Rivalität, sondern Kooperation maximiert die sozialen Interessen.“ (a.a.O., 265) Mit dem kosmopolitischen Blick ergibt sich ein anderes Konzept auch der modernen Europäischen Schule. Es kann nicht mehr um ein Entweder-Oder beim Sprachenerwerb gehen. Offenheit und Neugier gegenüber der Andersheit von Gewohnheiten, Traditionen, Kulturen und regionaler und nationaler Geschichte der Zuwanderer sowie die Reflexion der eigenen Verfasstheiten aus dem Blick der Zuwanderer(kinder) bringen den Mehrwert der Europäischen gegenüber den nationalen Schulen mit ihrem monolingualen Charakter. Das Gespräch um die moderne Europäische Schule voran zu treiben und entsprechende Bildungspolitiken zu fördern, wie es etwa in aller Unterschiedlichkeit der Kantone in der Schweiz geschieht, wäre hervorragende Aufgabe europäischer Bildungs- und Sozialpolitik, die der Verständigung und dem Zusammenleben in Europa und der Europäer dient. Die Migrantenkinder sind in Person die Herausforderung in den Schulen, die kommunikative Zuwendung und Begegnung auf gleicher Augenhöhe fordern und die eine Lernchance darstellen: dass alle von allen mit allen über alle lernen.
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Die moderne europäische Schule: sprachenvielfältig, kulturoffen, solidarisch Im Folgenden soll aus den Erfahrungen in Deutschland, in der Schweiz, aber auch in den USA und Kanada ein Baukastensystem für die sprachenvielfältige, kulturoffene und solidarische Europäische Schule dargestellt werden, das an mehreren Kriterien und der Optimierung der Konstellation interessiert ist: 1. Die Bilinguismusforschung in Kanada, USA und Schweden legt nahe, der Familien- oder Erstsprache einen höheren Stellenwert einzuräumen, als dies in den europäischen nationalstaatlichen Bildungssystemen geschieht. In Schweden haben Migrantenkinder seit 1977 das Recht auf Unterricht in der Familiensprache. Schwedens vorderer Rang in der PISA-Studie ist meines Erachtens auch darauf zurückzuführen. Aber auch in Essen und Basel wird dieser Weg erfolgreich beschritten. Team Teaching wird in bilingualem Unterricht praktiziert. Mit Unterrichtsmaterialien in den 12 häufigsten Herkunftssprachen würden 90 Prozent der Lerner erreicht. DVDs mit mehreren Tonspuren wären als Unterrichtsmaterialien zu entwickeln – Lieder im Kindergarten, für Gruppen – oder individuelles Lernen. So könnte der Heterogenität entsprochen, die Zustimmung der Einwanderer erhöht und die Fremdenangst der Eingesessenen durch spielerische Mehrsprachigkeit abgebaut werden. Im Integrationshaus Wien werden Vorschulkinder mit ihren Sprachen wertgeschätzt und auch gefördert. Mit der Interdependenzhypothese der Bilinguismusforschung kann man erwarten, dass mit der Erstsprache zugleich auch die Voraussetzungen zum Erwerb der Zweitsprache gefördert werden. Aus dem Integrationshaus – Kindergarten in Wien wird berichtet, dass Kinder bei Interesse und ohne forciertes Zutun der Erzieherinnen Zugang auch zu dritten Sprachen und Mehrsprachigkeit finden. Zweisprachige lernen aus einem gemeinsamen Think Tank bzw. Gehirnareal und werden durch didaktische Muster der Einsprachigkeit benachteiligt. 2. Dass die Förderung in der Zweitsprache (sc. Deutsch) einen höheren Grad an Professionalisierung verlangt, ist in der Forschung vielfach moniert worden. Die Didaktik des Deutschen als Zweitsprache hat sich zu orientieren an den pragmatisch-politischen Generalfragen „Wie verständige ich mich in sprachlichen Handlungen – mündlichen und schriftlichen – richtig? Welche sprachlichen Mittel benötige ich, um meine Bedürfnisse und persönlichen und gesellschaftlichen Interessen auszudrücken und mein (Menschen)Recht auf Auskunft, Anerkennung und Respekt zur Geltung zu bringen?“ Die soziale Progression an alltäglichen Kommunikationssituationen geht vor sprachlicher Richtigkeit. Fehlervermeidung hintertreibt Lernerfolg. Eine zu rigide kognitive Überwachung behindert den Lernfortschritt, ein Mittelmaß zwischen Korrektheit und Formulierungsrisiko ist anzuraten (Crashen: Monitortheorie). Schulor-
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ganisatorisch ist nur eine kurze Phase der Trennung von einheimischen SchülerInnen zu tolerieren (Vorbereitungsphase oder -klasse), baldige Eingliederung in die Regelklasse ist angeraten, scheitert aber oft an dem Unwillen von Lehrkräften, die Andersartigkeit anzuerkennen und den höheren Förderungsaufwand bei eingewanderten Kindern aufzubringen.Vorbildlich ist das Basler Modell in der Orientierungsschule Dreirosen (Haupt- und Realschule sind in Klasse 5 bis 7 vereinigt), wo DaZ-Lehrkräfte beim Zweitsprachenerwerb einzelner SchülerInnen in der Regelklasse individualisierend fremdsprachigen Lernern im laufenden Unterricht Brücken im Deutschen bauen. 3. Zur zweisprachigen Erziehung gibt es verschiedene Modelle schon von früher Kindheit an. So wurde von den RAA (Regionale Arbeitsstellen für Zuwanderer, ehemals Ausländer) in Nordrhein-Westfalen das in den Niederlanden entwickelte RUCKSACK-Programm adaptiert, das jetzt schon in rund 140 deutschen Städten eingesetzt wird. Im Kern ist es ein Programm zur Fortbildung von Eltern, meist Müttern, wie die Entwicklung von Zweisprachigkeit zu bewerkstelligen ist - in Zusammenarbeit mit dem Kindergarten. Von sogenannten Stadtteilmüttern werden die Mütter eingewiesen, ihre Kinder in der Erstsprache zu fördern zu Themen und bei Aktivitäten, die dann im Kindergarten auf Deutsch aufgegriffen werden. Vereinzelt wurden auch Versuche gemacht (ACLI Freiburg), zweisprachige Kompetenz bei in diesem Fall italienischen Auszubildenden parallel zur üblichen Berufsausbildung auszubauen. Teil des Programms waren auch berufsspezifische Praktika in Italien. 4. Das Sprachencurriculum könnte in verschiedener Weise variiert werden: Einwandererkinder könnten, wie angedeutet, zweisprachig lesen und schreiben lernen. Parallel könnte die Erste Fremdsprache begonnen werden. Eine der beiden, auch Niederländisch in Nordrhein-Westfalen, Dänisch in NordSchleswig, Slowenisch im Burgenland, Italienisch in Bayern oder Französisch in Baden, Rheinland-Pfalz und im Saarland, aber auch Migrantensprachen wie Russisch, Türkisch oder Italienisch könnten ab Klasse 3 als Begegnungssprache gelernt werden. Englisch als Weltsprache wäre auf jeden Fall im Programm. Dass 30 Prozent des englischen Wortschatzes romanischer Herkunft sind, bedeutet, dass Englisch und romanische Sprachen sich produktiv ergänzen. Eine Migrantensprache, vorzugsweise Türkisch, könnte – wie gesagt – in der Sekundarstufe kennen gelernt werden. Eine große Kultursprache wie das Arabische oder Chinesische könnte fakultativ am Ende der Mittelstufe oder in der gymnasialen Oberstufe oder in einer beruflichen Schule in vielleicht nur zwei Schuljahren angebahnt werden mit Sprechakten wie Vorstellen, nach dem Weg fragen, Fahrkarten kaufen und Speisekarte lesen. In Düsseldorf, wo rund 4000 Japaner leben, könnte Japanisch angeboten werden. Fakultativ sollten auch
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afrikanische Sprachen anwählbar sein oder etwa im Deutschunterricht Märchenbücher Bantu-Portugiesisch vergleichend vorgeführt werden (Language Awareness). Es kann Sinn machen, im 8. Schuljahr in das Chinesische oder Arabische nur hinein zu „schnuppern“ – je nach Ressourcen im schulischen Feld oder Umfeld – und bei Gefallen den Lernprozess später in der Volkshochschule fortzusetzen. Zu fragen ist, ob im Gymnasium an dem Bildungsziel Studierfähigkeit für Philologie festzuhalten ist. Die „alten“ Sprachen Latein und Griechisch haben als alteuropäische Grundlagensprachen und als produktive Wissenschaftssprachen in einem Europäischen Sprachencurriculum weiterhin ihren Stellenwert. 5. Geschichte wurde als universitäres und Schulfach im Zuge der Etablierung des Nationalstaates zu dessen Legitimation eingerichtet. Die kulturoffene Europäische Schule geht jedoch auch davon aus, dass die Menschen von Anbeginn über die Erde gewandert sind, in verschiedenen Regionen der Erde verschiedene Kulturen in Auseinandersetzung mit natürlicher Umwelt und Klima geschaffen haben und dass sie sich schon in frühester Zeit kulturelle Errungenschaften in Waren- und Kulturaustausch, Eroberungen, Unterwerfungen und Exogamie angeeignet haben. Der Kapitalismus verbreitete sich schließlich als effiziente Warenproduktions- und Erwerbsform in mehreren Wellen von Europa nach Amerika und ergreift nun auch in einer zweiten Welle – nach dem Kolonialismus und Sklavenhandel – in globalisierter und digitaler Strategie Asien und Afrika. Dass Europa und der Westen aus der arabischen Kultur bereits in den Kreuzzügen und in der Renaissance, in der Epoche des Handelskapitalismus, sich empirische Denkweise und Grundlagen moderner Wissenschaft von Medizin, Chemie sowie aus dem Osmanischen Reich auch die Regierungskunst in ministeriellen Ressorts aneigneten, dass die literarischen Einflüsse bis hin zur Etablierung des Endreims in der europäischen und deutschen Dichtkunst führten und dass der Marienkult auf die Mutterverehrung („magna mater“) des vorchristlichen Mittelmeerraumes aufsockelt – solche großen kulturellen Linien könnten im historisch-kulturellen-sozialwissenschaftlichen Lernbereich entwickelt werden. Die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Einwanderern und Etablierten – wäre zu begreifen – sind möglicher Weise nicht zuerst aus unterschiedlichen Religionen bedingt, sondern nehmen ab, wenn der Übergang von nomadischen und bäuerlichen Kulturen zu den Stadt- und Herrenkulturen insbesondere auch kapitalistischer Provenienz reflektiert wird. Dass Kriege weitgehend wirtschaftliche Ursachen haben und Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Antisemitismus beispielsweise, mit wirtschaftlichen Krisen und Aneignung fremden Reichtums, ja Ausbeutung, verbunden sind, könnte immer wieder an unterschiedlichen Beispielen entdeckt werden. In der kulturoffenen Schule würden
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kulturelle Unterschiede wirtschaftgeschichtlich rekonstruiert und als feste Blöcke aufgelöst und es würden in fremden Lebenswelten Parallelen zur eigenen Lebenswelt entdeckt. Die globale Welt wäre zu verstehen als Ensemble von funktionalen kulturellen Institutionen, die der Reproduktion (Familienformen), dem Lernen und Problemlösen (Initiation, Schule und Wissenschaft), der Produktion (Wirtschaft), der Lust am Schönen und der Bewegung (Künste, Regeneration), der Sinnfindung (Religionen und Mythen) und insgesamt dem Überleben der Gruppe(n) und Gattung dienen. 6. Die moderne Europäische Schule legt den Zusammenhang zwischen Bildung/Schule und Beruf/Erwerbswelt offen und versteht Lernen als Befähigung zum Problemlösen, das immer wieder zu Innovationen führt, die zur gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Weiterentwicklung und Krisenbewältigung befähigen. Dass Wettbewerb, Marktprinzip und freier Handel zumindest nicht das einzige Entwicklungsmoment darstellen, sondern dass friedliche globale Kommunikation und Kooperation und schließlich auch gesetzliche Regelungen – zu verstehen möglicher Weise immer auch auf Zeit – Voraussetzungen gesellschaftlichen, verlässlichen Handelns sind, wäre die Erkenntnis, die das volle moralische und historische Bewusstsein ausmacht. Auch die Menschenrechte würden – so besehen – als historische und weiter zu entwickelnde Vereinbarungen verständlich. 7. Bei der optimalen Entwicklung von Schul- und Bildungssystemen wären je nach lokalen Bedingungen der Zusammensetzung der Bevölkerung nach Alt- und eingewanderten Neubürgern, in Abhängigkeit auch von der Größe der Stadt und der Stadtteile, der ökonomischen und historisch gewachsenen Strukturen institutionelle Konstruktionen des Sprachencurriculums, der Kulturfächer und der anderen Lernbereiche (naturwissenschaftlicher, ästhetischer, der Gesundheit und Bewegung) vorzunehmen. Das schließt die Erkenntnis ein, dass einfache Übertragung von erfolgreichen Modellen von einer Stadt zur anderen, von einem Land zum anderen ohne Weiteres nicht möglich sind, sondern dass die sozioökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen ausschlaggebend ins Kalkül gezogen werden müssen. Das meint aber auch, dass die Akteure, LehrerInnen, Eltern, SchülerInnen, kommunale und staatliche Verwaltungen aus den verschiedenen Elementen eine neue Schule erfinden, die sich an Kommunikation, Kooperation und Menschenrechten orientiert und die dynamische Entfaltung der Potenziale der jungen Menschen und ihre Selbstbestimmung je nach sozialen Möglichkeiten und zur Korrektur von Benachteiligungen zur Richtschnur nimmt. 8. Reformpädagogische Konzepte sind zu diesem Zweck weiter zu entwickeln. Die Eigenaktivität des Kindes sollen Platz greifen und die Entwicklungsphasen des Kindes sollen berücksichtigt werden (Montessori). Unterricht soll
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schon in der Grundschule demokratisch gestaltet werden, indem Individualisierung anhand von Lernmaterialen, Erkundung des eigenen sozialen und kulturellen Umfelds, Produktion von Freien Texten, Netzwerkbildung unter den PädagogInnen und Korrespondenz mit anderen Klassen in der weiten Welt sowie Mitbestimmung des Unterrichts im Klassenrat verbunden werden (Freinet). Nach der Projektmethode vor allem neben dem erlebnisreichen und dramatischen Frontalunterricht wäre zu unterrichten, indem Gruppen zusammenarbeiten und auch (Interessen-)Konflikte so regulieren, dass zum Schluss ein gemeinsames Produkt geschaffen oder ein kulturelles Ereignis inszeniert ist. Darin werden auch Möglichkeiten der Mitbestimmung im Produktionsprozess erprobt und entsprechende Kompetenzen der Planungs- und Organisationsfähigkeit eingeübt (Dewey). An solchen Reformpädagogischen Konzepten und ihrer Weiterentwicklung müsste sich eine moderne Europäische Schule unter Bedingung der Einwanderung und Globalisierung messen lassen. Zu reformulieren wären diese reformpädagogischen Konzepte aus der Bildungsphilosophie von Paolo Freire, der die Existenz des Menschen aus der Entwicklung durch Problemlösen im Verbund von Sprache (Wort), Handlungsfähigkeit (Aktion) und Reflexionsfähigkeit (Bewusstwerdung) begründet. Kommunikationsfähigkeit, Handlungsfähigkeit und Reflexionsfähigkeit benötigen die Einwanderer, um sich in den Einwanderungsgesellschaften zu integrieren wie die Integriertheit der bereits Ansässigen darin erwächst. Integriert ist also – pädagogisch-gesellschaftlich definiert –, wer in einer Gesellschaft sich verständigen, handeln und sich reflektieren kann. 9. Oft wird die Lebenswelt jugendlicher Einwanderer als ein „Sitzen zwischen zwei Stühlen“ konstruiert. Die Zugehörigkeit zu europäischer, deutscher Lebenswelt und anderen familiären Lebenswelten wird als konflikthaft gesehen – im Gegensatz zur türkischen etwa. Ausschließen muss sich die Zugehörigkeit nur unter assimilativem Interesse und der Vorstellung, dass die Kulturen homogen und ohne Brüche seien, dass Akkulturation unter Übernahme einzelner Elemente nicht genüge und dass die verschiedenen Kulturen nichts miteinander zu tun hätten. Aus konstruktiver Sicht geht es aber um Verständigung und Kooperation für ein friedliches Zusammenleben. Warum soll ein türkischer oder koreanischer Jugendlicher sich nicht als Weltbürger verstehen, der die Menschen und Lebensweisen bis hin zu den politischen Regulierungen als Versuch zur Einrichtung von Institutionen und Organisation und zu Gestaltung von Prozessen und Verhältnissen versteht, die verbessert werden können im Austausch von Erfahrungen – und das weltweit? Als Sendboten der Welt und als Lernpartner für eingesessene und zugewanderte MitschülerInnen wären die Migranten(kinder) die Garanten und Anlässe zum Erwerb des kosmopolitischen Blicks, von dem Ulrich Beck spricht.
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Dazu hätte eine moderne Europäische Schule – sprachenvielfältig, kulturoffen und solidarisch – zu befähigen, die sich der Weiterentwicklung des europäischen Sozialmodells verpflichtet weiß. Ein solches schulisches Integrationsmodell würde Möglichkeiten europäischer Integration anbahnen. Die EUKommission wäre gut beraten, den Bildungsbereich nicht den nationalen Restriktionen zu überlassen. Es ist dargelegt worden, dass sich ein einziger Schultyp verbietet und Varianten entworfen und erprobt werden sollten. Die Perspektiven der Sprachenvielfalt, Kulturoffenheit und Solidarität wären als verbindlich anzugeben. Entsprechende Bildungsstandards wären einzufordern und die Qualität wäre an pädagogischen Konzepten mehr zu messen als an Evaluationen der Effizienz.
Literatur Allemann-Ghionda, Cristina: Einführung in die Vergleichende Erziehungswissenschaft. Weinheim und Basel: Beltz 2004 Beck, Ulrich (2004): Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt/M: Suhrkamp 2004 Butterwegge, Christoph/ Gudrun Hentges (g.): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Opladen: Leske+Budrich 2003 (2. aktual. u. überarb. Aufl.) Das Europamemorandum 2005 (Auszüge) (2006). In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 2006, H. 1, S. 119 - 122 Datta, Asit (Hg.): Transkultururalität und Identität. Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion. Frankfurt-London: IKO 2005 Esping-Andersen, Gosta: Kinder und Rente: Welchen Wohlstandsstaat brauchen wir? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 2006, H. 1, S. 52-64 Frankfurter Rundschau, 27.01.06, S. 4: Kontroverse über die Deutschpflicht (Vera Gaserow) ebd.: Umfrage: Mehrheit der Deutschen empfindet EU als Gefahr ebd.: Baden-Württemberg Nazi-Gegner rügen Übergriffe der Polizei Galtung, Johan: Globale Migration. In: Butterwegge/Hentges 2003, S. 11-21 Huffschmid, Jörg (2005): Neoliberaler Minimalismus oder demokratische Offensive? Die Krise und Zukunft der EU. In: FORUM Wissenschaft. 22. Jg., Nr. 4 Dezember 2005, S. 33-37 Inci, Dirim: Verordnete Mehrsprachigkeit. In: Asit Datta 2005, S. 83-97 Schmid, Thomas: Wer sind wir selbst? Zwei Stuttgarter Leitfäden zeigen, dass.... Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.01.06, S. 13 von Lebedur, Michael: Der Traum vom nützlichen Einwanderer. Die EU ringt um eine gemeinsame Migrationspolitik, Neue Zürcher Zeitung, 21.12.05, S. 7
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Die ignorierte Elite – zur prekären Lage hochqualifizierter Einwanderer und der Entwicklung von Studienangeboten zu ihrer beruflichen Integration
Lässt man die wechselvolle deutsche Geschichte der Auswanderungen, Zuwanderungen, Einwanderungen, Durch- und Abwanderungen Revue passieren, so gab es bereits im 17. Jahrhundert eine Einwanderungsgruppe, die wegen ihrer hohen Bildung und besonderen Qualifikationen zur Immigration in das damalige Deutschland umworben wurde. Es handelte sich um die reformierten Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, die Hugenotten. Diese Flüchtlinge waren als Einwanderer in allen Nachbarstaaten hoch begehrt: Sie galten als die wissenschaftliche, künstlerische, militärische und – vor allem – als merkantile Elite ihrer Zeit. Besonders erfolgreich bei der Akquisition der begehrten Asylsuchenden war Friedrich Wilhelm I., Kurfürst von Berlin-Brandenburg. Etwa. 20.000 Hugenotten folgten im Jahre 1685 seinem Aufruf im „Potsdamer Edikt“, in dem er ihnen zahlreiche Privilegien zusagte (vgl. Birnstiel/Reinke 1990, 33 ff.). Dem vom Dreißigjährigen Krieg stark verwüsteten und entvölkerten Land verschafften die Hugenotten in kurzer Zeit einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung: Sie brachten vor allem das Textil- und Bekleidungsgewerbe mit ihrem Know-how auf neuesten Stand und gründeten zahlreiche Manufakturen. Durch Hugenotten entstanden 46 neue Berufszweige, z.B. der des Perückenmachers oder Strumpfwirkers (vgl. Birnstiel/Reinke 1990, 111). Sie führten den Anbau von Tabakpflanzen, Spargel, Artischocken, Blumen- und Rosenkohl ein. Die Märker lernten von den Flüchtlingen die Züchtung von Seidenraupen und die Herstellung von Rohseide. Die Seidenspinnerei war so ertragreich, dass der Kurfürst Anweisung gab, massenhaft Maulbeerbäume, auf denen die Seidenraupe lebt, an Wegen, auf Kirchhöfen und allen größeren Gehöften anzupflanzen (vgl. Provinzialausschuss o. J., 11 ff.). Die französischen Einwanderer verstanden sich auf die Anfertigung von eleganten Lederwaren und Hüten, aber auch auf die Produktion anderer hochwertiger Konsumgüter wie Tafelbestecke, Schmuck, Uhren und Waffen. Die Arbeiten von Paul de Lamerie, Daniel Bau-
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desson zählten zu den Spitzenleistungen des Kunsthandwerks im 18. Jahrhundert (vgl. Beneke/Ottomeyer 2005, 285). Kurzum: die hugenottischen Immigranten trugen maßgeblich und nachhaltig zur wirtschaftlichen und kulturellen Prosperität Berlin-Brandenburgs bei (vgl. Birnstiel/Reinke 1990, 124 ff.). Ohne die Ansiedlung, ohne den Modernitätsschub durch die hugenottischen Refugiés wäre Berlin-Brandenburg mit Sicherheit nicht zur Geburtsstätte des mächtigen Preußens und zum bedeutendsten Hegemonialstaat nach Österreich im Reich aufgestiegen. Sieht man von dieser Einwanderung vor über 320 Jahren ab, so dienten die Immigrationen in der Folgezeit im Wesentlichen dem Zweck, „zur Verrichtung der niederen Arbeit anspruchslose ausländische Arbeiter“ nach Deutschland zu holen. Auf einer Versammlung der deutschen Arbeitgeberverbände 1908 wurden die Vorzüge hervorgehoben: „Diese Zuwanderung bringt ... Vorteile mit sich“, da sich „unsere Arbeiterschaft unbestritten zu einer höheren Kulturstufe und höherem wirtschaftlichen Niveau aufgeschwungen hat (…). Dabei entsprechen die Leistungen der Ausländer bei diesen Arbeiten, die an Kraft und Ausdauer besondere Anforderungen stellen, vollkommen denen der einheimischen… Des weiteren kommt noch das Moment hinzu, dass es bei einer Erleichterung auf dem Arbeitsmarkt oder im Falle einer wirtschaftlichen Krise leichter sein wird, ausländische Elemente abzustoßen“ (Regierungsassessor Dr. Bodenstein am 27. Juni 1908, zit. nach: Geschichte 1966, 24). Hier hat der Vertreter der Arbeitgeber die Funktion ausländischer Arbeitskräfte als Lohndrücker, Streikbrecher und Konjunkturpuffer, als „Industrielle Reservearmee“ (vgl. Marx 1968, 657 ff.) präzise auf den Begriff gebracht. Zur Deckung des Marktes an unqualifizierter Arbeitskraft hat man disponible, billige, anspruchslose, weitgehend nicht mit gleichen Rechten wie deutsche Staatsangehörige ausgestattete Arbeitskräfte seither nach Deutschland geholt. Das gilt für die polnischen Arbeitsmigranten, die sog. „Ruhrpolen“ und „Wasserpollaken“, die nach dem ökonomischen Aufschwung nach der Reichsgründung 1871 in den rheinisch-westfälischen Kohlebergwerken, Stahl- und Eisenhütten dringend gebraucht wurden (vgl. Spaich 1981, 139 ff.). Dies gilt in besonders rigider Form auch für die Millionen ausländischen Kriegsgefangenen des Ersten und Zweiten Weltkrieges, deren Arbeitskraft rigoros ebenso gewaltsam ausgebeutet wurde wie die der Zwangs- und Fremdarbeiter in der Zeit des Nationalsozialismus (vgl. Herbert 2003, 85 ff.). Auch die Ausländer, die ab 1955 aus den Armenkammern Europas, aus den mediterranen Anrainerstaaten (Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Jugoslawiens, später auch Türkei, Marokko und Tunesien) systematisch angeworben und euphemistisch Gastarbeiter genannt worden sind, kamen zur Verrichtung gering qualifizierter Arbeit in die Bundesrepublik.
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In dieser Phase des „organisierten Unterschichtenimports“ (Bade 2006, 25) fand eine starke Substituierung statt: Viele Deutsche profitierten von der Einstellung der ArbeitsmigrantInnen, indem sie in bessere berufliche Positionen gelangten. Zwischen 1960 und 1970 sind etwa 2,3 Millionen Deutsche von Arbeiter- in Angestelltenpositionen aufgestiegen (vgl. Meier-Braun 2002, 35). Das Ende der Arbeitskräftesanwerbung war mit dem Ölembargo und der weltweiten Wirtschaftkrise 1973 erreicht. Die Bundesregierung erließ am 27. November 1973 den sog. Anwerbestopp. Rund 14 Mio. Ausländer waren seit 1955 bis zu diesem Zeitpunkt nach Deutschland gekommen (ca. 80% von ihnen, 11 Millionen, waren aber auch wieder zurückgekehrt, vgl. Bade 1994 a, 54). Der Anwerbestopp erwies sich – so paradox es erscheinen mag – als Beginn einer faktischen und kontinuierlichen Einwanderung. Der Grund liegt darin, dass es für AusländerInnen, die von nun an Deutschland verließen, keine Chance mehr gab, in die Bundesrepublik legal wieder einzureisen. Die fehlende Rückkehroption führte dazu, dass viele (trotz Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit) in Deutschland blieben und ihre Familienangehörigen nachholten. Durch den Familiennachzug und die zu dieser Zeit noch hohe Fertilität ging die Anzahl der AusländerInnen deshalb nach 1973 nur kurzfristig zurück und stieg ab 1976/77 kontinuierlich wieder an (vgl. Bericht 2002, 423, Tab. 11). Trotz dieser eindeutigen Entwicklung gab die offizielle Politik ihre Fiktion, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, aber nicht auf – die politische Klasse übe sich in einer „defensiven Erkenntnisverweigerung“, spottete Klaus Bade (1994, 40). An diesem Dogma sollte sich erst mit Bildung der rot-grünen Regierungskoalition 1998 etwas ändern. Bis weit in die 1990er Jahre hinein beherrschte in der Bundesrepublik das monolithische Bild vom ungebildeten, kulturell rückständigen, unqualifizierten Zuwanderer die öffentlichen Diskussionen. Erst im Rahmen der Globalisierungsdebatten zu Beginn des neuen Jahrtausends traten Forderungen nach der Öffnung der Grenzen für Menschen mit hohen Qualifikationen aus dem Ausland in den Vordergrund. Der „Kampf um die besten Köpfe“ wurde ausgelöst durch alarmierende Prognosen: Das Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit – später auch andere renommierte Forschungseinrichtungen – hatten prognostiziert, dass zur Abdeckung des Arbeitskräftebedarfs in den nächsten 20 Jahren der Wirtschaft rd. 1,2 Millionen Hochschulabsolventen sowie 4,2 Millionen Facharbeiter fehlen würden. Ohne eine gezielte Akquisition und Einwanderung sehr gut ausgebildeter Ausländer drohe die Bundesrepublik im „sich verschärfenden Wettbewerb um knappes internationales Humankapital“ hoffnungslos zurückzufallen. Es sei daher eine jährliche Zuwanderung von mindestens 700.000 Menschen notwendig (vgl. SPIEGEL 2001, 77).
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Auch wegen der demographischen Entwicklung Deutschlands – steiler Anstieg der Zahl alter Menschen bei stetig abnehmender Geburtenrate – wurden Forderungen nach einer offenen und flexiblen Immigrationspolitik laut. Die Bevölkerung Deutschlands mit gegenwärtig ca. 83 Millionen Menschen könnte selbst bei einer jährlichen Nettozuwanderung von 200.000 Ausländern bis zum Jahr 2050 auf einen Stand von 75 Millionen zurückfallen; damit sei die Finanzierung der Sozialsysteme nicht mehr sicher. Die Initialzündung zur Aufgabe der strikten Anwerbestopp-Politik ging von einer auch für Insider überraschenden Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf der CeBIT-Messe am 23. Februar 2000 in Hannover aus. Der Kanzler kündigte an, die Bundesregierung wolle ausländischen Spezialisten aus der Informationstechnologie, die auf dem deutschen Markt dringend benötigt würden, die Einreise zur Arbeit in der Bundesrepublik ermöglichen. Ganz offenbar ging es dem Kanzler um ein klares Signal zur Überwindung einer bis daher starren, realitätsfremden, den ökonomischen Interessen Deutschlands diametral entgegenstehenden Migrationspolitik. Außerordentlich schnell wurde die Forderung des Kanzlers verwaltungstechnisch umgesetzt: Schon am 1. August 2000 trat die „Verordnung über Aufenthaltserlaubnisse für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie (IT-ArGV)“ in Kraft. Diese Maßnahme, die fortan als Greencard bezeichnet wurde, ermöglichte es IT-Fachkräften aus Ländern außerhalb der EU, eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in der Bundesrepublik zu erhalten. Diese Möglichkeit wurde allerdings auf maximal fünf Jahre beschränkt. Die Greencards wurden ausschließlich an Spezialistinnen und Spezialisten der IT-Branche vergeben, die einen entsprechenden Hochschulabschluss vorweisen oder einen Verdienstnachweis von mindestens jährlich 50.000 Euro erbringen konnten. Maximal sollte 50.000 Expertinnen und Experten die Einreise gestattet werden. Das Greencard-Angebot erwies sich wegen dieser Restriktionen als wenig attraktiv: Als Ende 2004 das Programm auslief, waren nur knapp 12.000 ausländische IT-Fachkräfte im Besitz einer Greencard (vgl. Venema 2004, 5). Die Green Card-Regelung hat zwar nicht den erhofften Erfolg gezeigt, wohl aber zu einer Reihe weiterer politische Schritte geführt. Sie wurden von weiten Teilen der Öffentlichkeit nur mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, fanden sie doch vor dem Hintergrund einer vorher völlig anderen Diskussion statt. Bis dato hatten die Regierungen immer wieder betont, Deutschland sei kein Einwanderungsland und könne keine weiteren Menschen aufnehmen. Hinzu kam, dass bisher jahrelang in den pejorativen und emotional aufgeheizten Debatten nur von „Asylantenfluten“ und „Asylschnorrern“ etc. die Rede gewesen war. Nicht zuletzt durch die öffentlichen Debatten und medialen Diskurse
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war durch eine „kalkulierte Hysterie“ (Gebauer u.a. 1993, 69) ein riesiges Bedrohungsszenario aufgebaut worden, das sich ab Herbst 1990 in einer ganzen Kette von Pogromen entladen hatte (vgl. Meinhardt 2005, 44 f.). Im September 2000 wurde von Innenminister Schily, der bis dahin jede Form weiterer Zuwanderungen mit der Behauptung vehement abgelehnt hatte, das „Boot ist voll!“, eine unabhängige Kommission berufen. Diese Kommission unter der Leitung von Rita Süssmuth hatte von der Bundesregierung den Auftrag, ein Konzept zukünftiger Zuwanderungs- und Integrationspolitik zu entwickeln. Der im Juli 2001 vorgelegte Bericht enthält als einen zentralen Kernpunkt die Empfehlung, hochqualifizierten ausländischen Arbeitskräften die Zuwanderung nach Deutschland zu gestatten. Ausgewählt werden sollten sie nach kanadischem Vorbild nach einem genauen Punktesystem. Kriterien waren Ausbildung, Berufserfahrungen, Sprachkenntnisse und Alter (vgl. Bericht 2001, 90 ff.). Auch der Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration kommt in seinem Jahresgutachten 2004 zu der Empfehlung, den Zugang nach Deutschland für 25.000 gut ausgebildete Fachkräfte zu öffnen: „Nur so können die weltweit qualifiziertesten Migranten auch für den Standort Deutschland gewonnen werden“ (Jahresgutachten 2004, 225). Diese Vorschläge haben im Zuwanderungsgesetz, das am 1. Januar 2005 in Kraft trat, keinen Zugang gefunden – allzu sehr waren die alten ideologischen Grabenkämpfe zwischen Regierung und Opposition im Streit um das Zuwanderungsgesetz wieder aufgeflammt und hatten einen Konsens verhindert, der noch 2001 bei allen politischen Parteien bestand. Auch die Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Kirchen und Verbände der freien Wohlfahrtspflege hatten den Entwurf ausdrücklich begrüßt. Heribert Prantl, kritischer Kommentator der Süddeutschen Zeitung, sprach im Hinblick auf das Zuwanderungsgesetz zunächst noch von einem „Jahrhundertwerk“, Guido Westerwelle von einem „Quantensprung“, die SPD-Bundestagsfraktion von einem Beginn eines „Jahrzehnts der Integration“. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 dominierten dann Befürchtungen die Debatten, das Zuwanderungsgesetz könnte zum Einfallstor für Terroristen werden. Damit wurde mit dem Entwurf des Zuwanderungsgesetzes und seiner Implementation 2005 ein Paradigmenwechsel „eingeleitet und zugleich angehalten und abgebrochen“ (Süssmuth 2006, 104). In den Diskussionen blieb und bleibt weitgehend unberücksichtigt, dass es nach der „Anwerbestoppausnahmeverordnung“ (ASAV) durchaus möglich war und ist, ausländische Hochqualifizierte für maximal fünf Jahre Arbeit in der Bundesrepublik zu beschäftigen. So wurden im Jahre 2000 über 20.000 befristete Arbeitserlaubnisse erteilt: u.a. für hochqualifizierte Wissenschaftler, Spitzen-
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köche, Top-Fußballer usw. (vgl. Hunger 2003, 45). Die Zahl der Hochqualifizierten, die über die ASAV in die Bundesrepublik kamen, reduzierte sich im Jahr 2005 allerdings auf 911 Ausländer (vgl. Süssmuth 2006, 105). Das Interesse an hoch spezialisierten Arbeitskräften hatte bis zu diesem Zeitpunkt den Blick auf die Frage der Zulassung von Spezialisten gerichtet, die noch im Ausland waren. Beinahe völlig übersehen wurde dabei, dass sich in der Gruppe der Immigranten – vorwiegend in der Gruppe der jüdischen Einwanderer – „die gesuchten Computer-Spezialisten zum Teil schon im Land“ befanden (vgl. Gruber 2002). Die Forschung hat sich erst sehr spät und zögernd dem Thema „hochqualifizierte Einwanderer“ intensiver zugewandt. Ich vermute, die Lage der Hugenotten ist genauer und differenzierter erforscht als die der qualifizierten Immigranten in den letzten 10 Jahren. Die Forschungslage ist durch eine völlig unzureichende empirische Datenbasis gekennzeichnet. In einer der ersten Arbeiten, die den Zusammenhang von Immigration und Arbeitsmarkt systematisch analysierte, monierte Velling 1995 ( 125), dass über die Qualifikationen der MigrantInnen seit dem Anwerbestopp bisher so gut wie gar nichts bekannt sei. Kühne/Rüßler (2000, 24) kritisierten, dass Studien zur Arbeitssituation selbst der Flüchtlinge mit Aufenthaltsstatus so gut wie gar nicht existieren. Auch Winkelmann (2002, 283) beklagt, dass „erhebliche Probleme schon bei der einfachen Bestandsaufnahme auftreten“. Aufgrund der schlechten Datenlage sind wir auf Schätzungen im Hinblick auf die Qualifikation der Immigranten angewiesen. Maur (2005 b, 5) geht von 5-10% AkademikerInnen bei den (Spät-)AussiedlerInnen aus. Frick/Wagner rechnen bei der Gruppe der Flüchtlinge mit knapp 20%, die einen Fachhochschul- bzw. Universitätsabschluss haben (vgl. Kühne/Rüßler2000, S. 320, und Kühne 2001, 58). Den weitaus höchsten Anteil an akademisch ausgebildeten Einwanderern sehen zahlreiche WissenschaftlerInnen bei den jüdischen Emigranten: ihr Anteil wird mit ca. 70% angenommen (vgl. Maur 20005 b, 5; Gruber/Rüßler 2002, 35 f.; Schoeps u.a. 1999, 43 ff. und Haug 2005, 3). Diese hohe Quote bei den jüdischen Einwanderern erscheint nicht zu hoch, weil sie „als die am besten gebildete, mobilste, urbanste und in sprachlicher Hinsicht am meisten russifizierte nichtrussische Bevölkerungsgruppe der UdSSR“ gelten und Juden aus historischer Erfahrung den Weg zu ihrer Emanzipation von Marginalisierung, Diskriminierung und Verfolgung vorwiegend in einer möglichst guten, hohen Bildung sahen und sehen (vgl. Gruber/Rüssler 2002, 21 ff.). Eine erste grundlegende, materialreiche empirische Studie zur Lage von hochqualifizierten Migrantinnen und Migranten in Nordrhein-Westfalen haben Sabine Gruber und Harald Rüßler 2002 vorgelegt. Diese Studie bezog sich al-
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lerdings ausschließlich auf die Gruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge in diesem Bundesland (vgl. Gruber/Rüßler 2002). Auf einer breiteren empirischen Basis führte das IBKM – finanziert durch den Europäischen Flüchtlingsfond – in den Jahren 2002/2003 eine Untersuchung zur Lage hochqualifizierter Migrantinnen und Migranten in Niedersachsen durch. Erfasst wurden 260 anerkannte AsylbewerberInnen und jüdische Kontingentflüchtlinge. Mit dieser Studie wurden erstmals umfassend „harte“ Daten zu den Qualifikationsprofilen, den Sprachkenntnissen, aber auch zu den sozialen Kontakten und der Zufriedenheit der Hochqualifizierten gewonnen (vgl. Hadeed 2004). Unter Personen mit „hohen Qualifikationen“ wurden in der IBKM-Studie alle die Einwanderer erfasst, die in ihren Herkunftsländern eine Zugangsberechtigung zu einem Hochschulstudium erlangt bzw. ein Studium begonnen bzw. beendet hatten und z.T. auch schon über langjährige Berufserfahrungen verfügten. Die Oldenburger Studie kam zu einem überraschenden und paradoxen Ergebnis: Obwohl diese Gruppe der Immigranten über einen festen Aufenthaltstitel und über hohe Bildungsabschlüsse verfügt, weist sie eine exorbitant hohe Arbeitslosigkeit auf: Knapp 67% haben keine Beschäftigung, 11% sind lediglich in Teilzeit- oder 325-Euro-Jobs tätig (vgl. Hadeed 2004, 93). „Hochqualifiziert und arbeitslos“, so lässt sich die Situation der Hochqualifizierten treffend zusammenfassen (vgl. auch Gruber/Rüßler 2002). 86% der Befragten waren in ihren Herkunftsstaaten berufstätig, 72% davon im erlernten Berufsfeld (vgl. Hadeed 2004, 58). Der Vergleich mit ihrer Situation in Deutschland macht deutlich, dass für den weit überwiegenden Teil der befragten Flüchtlinge die Migration zu einem radikalen Bruch mit ihren bisherigen Berufsbiographien geführt hat. Aus der Benachteiligung bei der Erwerbstätigkeit resultieren häufig schlechte materielle Lebensbedingungen. Selbst diejenigen, die durch Arbeit für ihren Lebensunterhalt aufkommen, verfügen über ein nur geringes monatliches Nettoeinkommen. Die Mehrzahl der Befragten ist also in hohem Maße von Armuts- und Unterversorgungsrisiken betroffen, die sich insbesondere in zentralen Lebensbereichen wie Beschäftigung, Einkommen und Wohnen zeigen. Selbst in Berufsfeldern, in denen in Deutschland ein großer Fachkräftebedarf besteht, haben Flüchtlinge kaum eine Chance, Arbeit zu finden. So absolvierten rd. 7% ein Studium für den EDV-Bereich und 8% für medizinische Berufe (vgl. Hadeed 2004, 52). Die hohe Arbeitslosigkeit lässt sich im Wesentlichen auf folgende Ursachen zurückführen:
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Die Abschlusszeugnisse der Herkunftsländer werden von deutschen Ämtern häufig nicht anerkannt. Wessen Abschluss nicht anerkannt wird, gilt trotz hoher Qualifikationen bei den Behörden formal als ungelernte Arbeitskraft. x Die erworbenen beruflichen Qualifikationen und vorhandenen sozialen und kulturellen Kompetenzen (soft skills) finden keine ausreichende Berücksichtigung bei der Vermittlung in den deutschen Arbeitsmarkt. x Einwanderer mit guten Bildungsabschlüssen bleiben bei Qualifizierungsmaßnahmen der Arbeitsvermittlungen zumeist unberücksichtigt. Auch Bildungseinrichtungen bieten für diese Gruppe kaum Angebote, die den mitgebrachten Kompetenzen Rechnung tragen. x Es besteht bei den ImmigrantInnen ein hohes Informationsdefizit hinsichtlich der ihnen offen stehenden Angebote an Eingliederungsmaßnahmen. x Die bestehenden Beratungsangebote genügen den Anforderungen der beruflichen Integration nicht. x Viele der ImmigrantInnen verfügen nicht über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse. Trotz hoher Motivation zum Erlernen stagniert der Sprachlernprozess, wenn nicht im Anschluss eine Arbeitsstelle gefunden wird (vgl. Hadeed 2004). Wer keinen Abschluss nachweisen kann, gilt in der Bundesrepublik als ungelernte Arbeitskraft (vgl. Hefele/Menz 2006, 302). Eine nicht selten geübte Praxis der zuständigen kommunalen Ämter besteht darin, dass sie nicht bereit sind, angemessene Weiterbildungsmaßnahmen zu finanzieren, sondern darauf insistieren, dass hochqualifizierte Immigranten irgendeine Arbeit annehmen, für die sie völlig überqualifiziert sind (wie Lager-, Band- oder Bauarbeiter) – um Sozialhilfekosten einzusparen. Eine solche Praxis führt nicht nur langfristig zu einer Dequalifizierung und zu Statusverlusten bei den Emigranten, sondern auch zu einer tiefgreifenden Kränkung und Demotivierung der betroffenen Menschen. Die Ergebnisse der Untersuchung machen deutlich: Hochqualifizierte Einwanderer sind im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik noch nicht angekommen – und dies trotz der wirtschaftstheoretischen Faustregel, die besagt: Je höher die Qualifikation von Migranten, desto größer deren positiver Effekt auf das Bruttoinlandsprodukt (vgl. Merschmann 2007). Dies gilt nicht nur für die Institutionen der Arbeitsvermittlung, sondern auch für die wissenschaftlichen Diskurse über Immigration und Inklusion und für die Situation an den Hochschulen. Hier herrscht ein großer Nachholbedarf an geeigneten Studienangeboten zur möglichst zielgenauen Qualifizierung für den hiesigen Arbeitsmarkt.
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Diese ignorante Praxis gegenüber den Ressourcen von einer keinesfalls kleinen Minderheit – es betrifft mehrere hunderttausend Einwanderer – wird völlig zu Recht als „Brain Waste“, als Verschleuderung von Kompetenzen, kritisiert (vgl. Mesghena 2005, 33). Aus der empirischen Studie der Universität Oldenburg gingen verschiedene Initiativen zur konkreten Änderung der desolaten Situation hervor. Zunächst wurde vom IBKM eine Broschüre für hochqualifizierte Einwanderer zusammengestellt, die über die zuständigen Institutionen zur Anerkennung von Abschlüssen in Niedersachsen in fünf Sprachen informierte (vgl. Wegweiser 2004). Da die Untersuchung ergeben hatte, dass von den Probanden ohne Arbeit 18% aus pädagogischen oder sozialen Berufen stammten, eröffnete das IBKM 2004 ein einjähriges Kontaktstudienangebot für eingewanderte Flüchtlinge aus diesen Bereichen unter dem Titel „Interkulturelle Kompetenz in pädagogischen Arbeitsfeldern“. Dieses Modellprojekt – wiederum aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds finanziert – orientierte sich an den Ressourcen der TeilnehmerInnen. Ziel war es, die besonderen Erfahrungen und Fähigkeiten aufgrund der Migrationsbiographien explizit zu berücksichtigen und für die späteren Tätigkeiten in pädagogischen und sozialpädagogischen Arbeitsfeldern zu nutzen. Dieser erste Studiengang, der mit einem Zertifikat endete, hat die Chancen auf einen angemessenen Arbeitsplatz für die Absolventinnen und Absolventen signifikant verbessert: Wie in einer Begleituntersuchung ermittelt wurde, haben über 70% der Studierenden nach Abschluss des Kontaktstudienganges eine entsprechende Beschäftigung gefunden (vgl. Schaumann 2007, 136). Ein zweiter Studiendurchgang ergab ähnlich hohe Erfolgsquoten und führte zu dem Entschluss der Universität Oldenburg, einen weiterbildenden BAStudiengang „Interkulturelle Bildung und Beratung“ ab dem Wintersemester 2006 anzubieten. Zielgruppe sind höherqualifizierte Einwanderer – deutsche und ausländische Staatsangehörige – mit festem Aufenthaltsstatus und einer Hochschulzugangsberechtigung, die das deutsche Bildungssystem nicht durchlaufen haben. Das Studium qualifiziert für Tätigkeiten in den Praxisfeldern von Sozialer Arbeit, Beratung und Erziehung, in der Bildungs- und Jugendarbeit, speziell in allen Bereichen der Integration von Migrantinnen und Migranten. Sehr gut denkbar wäre auch ihre Übernahme als LehrerIn in den 30stündigen Integrationskursen nach dem Zuwanderungsgesetz (für die die deutschen SprachdozentInnen, die bisher diese Kurse durchführen, nur selten ausgebildet sind). Das Angebot dieses Studienganges – der erste seiner Art in Europa – stieß bei der Zielgruppe auf eine enorme Resonanz: Innerhalb weniger Wochen erreichten das IBKM aus der gesamten Bundesrepublik hunderte von Anfragen hochqualifizierter Einwanderer. 46 von ihnen schickten ihre Bewerbungsunter-
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lagen; 24 Studienplätze wurden schließlich an Hochqualifizierte aus 13 verschiedenen Herkunftsstaaten vergeben. Der große Bedarf an solchen Weiterbildungsangeboten, aber auch die hohe Motivation der Studierenden zeigen sich darin, dass mehrere von ihnen ihren Wohnsitz (u.a.von Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen) nach Oldenburg verlegt haben, weil es sich um ein Präsenzstudium handelt. Nicht nur bei den Einwanderern, sondern auch bei den Medien traf der Studiengang auf starkes Interesse. Mehr als 20 Printmedien überregionaler Bedeutung (wie Süddeutsche Zeitung, ZEIT, SPIEGEL-Online, Frankfurter Rundschau etc.) sowie etwa gleich viele Radio- und TV-Senderberichteten über den Studiengang (vgl. Dokumentation 2006). Angesichts der Abwanderungen von hochqualifizierten Deutschen ins Ausland und einem steigenden Bedarf an kompetenten Fachkräften sind die Forderungen nach Öffnung des Zuwanderungsgesetzes zur Anwerbung von entsprechendem Personal wieder stärker geworden (vgl. Gaserow 2006). Nach Angaben der Deutschen Industrie- und Handelskammer fehlen gegenwärtig 20.000 Spezialisten in der IT-Branche (sic!), denen durch Lockerung des Zuwanderungsgesetzes der Zugang in die Bundesrepublik ermöglicht werden müsse (vgl. Frankfurter Rundschau vom 05.03.2007). Das Land Niedersachsen hat im Januar 2007 dem Bundesrat einen Gesetzentwurf zugeleitet, der die Senkung der Hürden für den Zuzug ausländischer Fachkräfte zum Ziel hat (vgl. Spiegel vom 02.01.2007, 13). Wie groß das Interesse potenzieller Arbeitgeber an Hochqualifizierten mit Migrationshintergrund ist, wird daraus deutlich, dass schon zahlreiche verschiedene Institutionen bei der Universität angefragt haben, wann die Studierenden des BA-Studienganges für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden (etwa zur Arbeit in Berufsschulen und Kindertagesstätten mit hohem Anteil von Migrantenkindern und -jugendlichen). Wie alle einschlägigen Analysen zeigen, benötigt Deutschland auch in Zukunft die Einwanderung hochqualifizierter Menschen. Langsam setzt sich aber offensichtlich die Einsicht durch, dass wir Immigranten mit hohen Kompetenzen in der Wissensgesellschaft dringend brauchen und ihre Ressourcen nicht weiter verschleudert werden dürfen. Wie die ersten Ergebnisse der Oldenburger Studienangebote zeigen, ist die erfolgreiche akademische Weiterbildung dieser Menschen zur Integration in den Arbeitsmarkt relativ schnell und kostengünstig zu bewerkstelligen und kann zu einer echten Win-win-Situation führen: Die Immigranten können durch ein relativ kurzes Studium ihre Potenziale in den Arbeitsmarkt einbringen und ein selbstbestimmtes Leben führen, der Sozialstaat wird von Abgaben entlastet. Auch die Hochschulen und Universitäten können durch die Aufnahme hochqualifizierter Einwanderer profitieren, denn sie führt
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zur Verstärkung und Beschleunigung der Internationalisierungsprozesse sowie in den Lehrveranstaltungen zu echten interkulturellen Diskursen. Sicherlich ist der Studiengang in Oldenburg nur ein erstes Angebot für eine Gruppe innerhalb der bisher ignorierten Elite der Einwanderer. Ihm müssten viele weitere Studienangebote auch aus anderen Fachdisziplinen deutscher Hochschulen und Universitäten folgen.
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Der Beitrag stellt die erweiterte Fassung eines Vortrages dar, den der Verfasser auf der internationalen Tagung „Hochschule und hochqualifizierte MigrantInnen – bildungspolitische Konzepte zur Integration in den Arbeitsmarkt“ am 1.12.2005 in Oldenburg gehalten hat.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Borries, Bodo von Prof. Dr., Jg. 1943, promovierter Wirtschaftshistoriker und gelernter Gymnasiallehrer, seit 1976 Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Didaktik der Geschichte (Universität Hamburg); Arbeitsschwerpunkte: Alternative Unterrichtsmodelle, Schulbuchanalysen, Empirie zu Geschichtslernen und Geschichtsbewusstsein, Theoriebeiträge zu Lernorten und Lernarten. Daatland, Dan D. Prof. Dr., Associate Professor (1. amanuensis), University of Stavanger. Faculty of Humanities, Institute for Teacher Training Main teaching area: history/ teacher training Research information:
[email protected], http://www.migrationhistory.com. Eick, Simone Dr., Direktorin des Deutschen Auswandererhauses Bremerhaven. Das Deutsche Auswandererhaus präsentiert seinen Besuchern historische und aktuelle Migration in seiner Dauerausstellung und in Sonderausstellungen und Veranstaltungen. Es ist der Gewinner des European Museum Award 2007. http://www.dah-bremerhaven.de,
[email protected] Georgi, Viola B. Prof. Dr. Sie ist Juniorprofessorin für Interkulturelle Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie studierte Erziehungswissenschaften und Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, der University of Bristol (GB) und der Harvard University (USA). Sie arbeitete mehrere Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin am Centrum für angewandte Politikforschung der Ludwig Maximilians-Universität München. Zu ihren Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören u.a.: Interkulturelle Bildung, Citizenship Education, Demokratiepädagogik, Geschichtsbewußseinsforschung, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Holocaust Education. Gosewinkel, Dieter Dr., Priv.-Doz., Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung; Arbeitsschwerpunkte: Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Geschichte der Staatsbürgerschaft und Zivilgesellschaft; Geschichte der deutschfranzösischen Beziehungen.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Himmelmann, Gerhard Prof. Dr. rer. Pol., Politische Wissenschaft und Politische Bildung am Institut für Sozialwissenschaften der Technischen Universität Braunschweig, Bienroder Weg 97, 38106 Braunschweig, E-Mail:
[email protected]. Holtmann, Antonius Prof. Dr., Universität Oldenburg, Arbeitsschwerpunkte: deutsche Migration in die USA; Didaktik der politischen Bildung (www.dausa.de). Kleff, Sanem Pädagogin und Projektleiterin von „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ Lange, Dirk Prof. Dr., Universitätsprofessor für die Didaktik der Politischen Bildung am Institut für Politikwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Herausgeber der Zeitschrift “Praxis Politik” und Bundesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB). Meinhard, Rolf Prof. Dr. phil. habil., Professor am Interdisziplinären Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen (IBKM) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zahlreiche Forschungsarbeiten im Bereich der Sozialund Bildungsarbeit mit Migrantinnen und Migranten; Leiter vieler Projekte (wie Dezentrale Flüchtlingssozialarbeit und Kooperative Migrationsarbeit in Niedersachsen, Interkulturelle Qualifizierung von LehrerInnen aus dem Kosovo). Gegenwärtiger Arbeitsschwerpunkt: Entwicklung universitärer Weiterbildungsangebote für hochqualifizierte Einwanderer Münz, Rainer Prof. Dr., Senior Fellow am Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) und leitet die Forschung der Ersten Bank. Seine Hauptforschungsgebiete sind Migration und Bevölkerungsentwicklung, Migrationspolitik sowie Konsequenzen der demographischen Alterung. Kontakt:
[email protected] [email protected] Oswald, Anne von Dr., Historikerin und Sozialwissenschaftlerin, Seit 1999 Projektentwicklung und Management im Bereich europäische Migration, interkulturelles Zusammenleben, Menschenrechte und Bildung; Freie Mitarbeit beim Schulbuchverlag Cor-
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nelsen und bei der Bundeszentrale für politische Bildung; Evaluation von Projekten über die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationhintergrund (BLK-Projekt FörMig). 2001 Gründungsvorstand des Netzwerks Migration in Europa e.V. Polat, Ayça Dr. rer. pol., Studium der Interkulturellen Pädagogik und Sozialwissenschaften. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Oldenburg seit September 2005, Institut für Soziologie, Postfach 2503, 26111 Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Migrations-, Jugend-, Bildungs-, und Stadtsoziologie. E-Mail:
[email protected] Schmelz, Andrea Frida Dr., Sozialwissenschaftlerin und Historikerin; Projektberaterin und Organisationsentwicklerin mit Schwerpunkt in der internationalen Zusammenarbeit; Durchführung von Trainings in den Bereichen Jugend, Soziales, Bildung und Kultur; interkulturelle Organisationsberatung und -entwicklung, Sozialmarketing und -management; 2001 Gründungsvorstand des Netzwerks Migration in Europa e.V. Schmitt, Guido Dr., Er lehrt Erziehungswissenschaft und forscht an der Pädagogischen Hochschule Freiburg (Forschungsstelle Migration und Integration/ FoMI) und gibt die Zeitschrift „INTERKULTURELL und GLOBAL“ heraus. Schulte, Axel Prof. Dr. phil. habil., Apl. Professor und Wiss. Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hannover, Schneiderberg 50, D-30167 Hannover Arbeitsgebiete: Politische Theorie, insbesondere Demokratietheorie; Migration, Integration und Multikulturalität in Europa; Politische Bildung und Interkulturelles Lernen. Kontakt:
[email protected] Vogel, Dita Dr. rer. Pol., Dipl. Volkswirtin, seit September 2007 Forschungsmitarbeiterin der Migration Research Group am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut. Von 1998 bis 2007 wissenschaftliche Tätigkeit in Forschung und Lehre der Universität Oldenburg, zuletzt Leitung einer Studie zum gesellschaftlichen Engagement von Zuwanderern in 25 europäischen Ländern am Interdisziplinären Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen (gemeinsam mit Rudolf Leiprecht). 1989 bis 1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Sozialpolitik der Universität Bremen. Zahlreiche Studien und Veröffentlichungen zu migrationspolitischen, -soziologischen und -ökonomischen Themen, insbesondere zu Kontrollpolitiken und Illegalität sowie zur gesellschaftlichen Partizipation von Zuwanderern im internationalen Vergleich Ziegler, Beatrice Prof. Dr., Forschungsschwerpunkt Individuum und Geschichte, Zentrum politische Bildung, Institut Forschung und Entwicklung, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Schwerpunkte: Geschlechter- und Migrationsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Geschichte der Nachkriegszeit, Geschichtsdidaktik und Politische Bildung.