Wolfgang Schroeder · Bernhard Weßels (Hrsg.) Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland
Wolfgang Schroeder Bernhard Weßels (Hrsg.)
Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland Ein Handbuch
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1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14195-4
Zu diesem Band
Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände sind ein wichtiger Bestandteil des Modells Deutschland. Sie bilden einen Pol im „Parallelogramm der Kräfte“. Im Zusammenspiel mit dem Staat, Gewerkschaften und anderen Interessenorganisationen sind sie an vielen politischen Entscheidungen beteiligt. Trotz dieses Einflusses ist das Wissen über die Unternehmensverbände in Deutschland unterentwickelt. Auch in der Forschung ist das Interesse an diesem Phänomen traditionell zurückhaltend. Ein Grund dafür mag die schwierige Materiallage sein. Dessen ungeachtet wurden im Laufe der Jahre doch einige Erkenntnisse über diesen Teil des Modells Deutschland angesammelt, aus denen der vorliegende Band schöpfen kann. Dieses Handbuch über die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der Bundesrepublik liefert eine aktuelle, umfassende und systematisch angelegte Wissens- und Forschungsbilanz zur komplexen Verbandslandschaft der deutschen Unternehmen. Damit wollen wir nicht nur wissenschaftliche Experten ansprechen, sondern auch Leserinnen und Leser aus der Praxis in Politik, Verbänden und Medien. Dementsprechend fasst der Band zwar den Stand wissenschaftlich fundierter Forschung zusammen, ist aber vor allem als gut verständliche Einführung und Lehrbuch über das Themenfeld konzipiert. Das einführende Kapitel gibt einen Überblick, der die Funktionen, Herausforderungen, Leistungen und Zukunftsperspektiven der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im Modell Deutschland systematisiert. Der Band ist auf diese Einleitung aufbauend in fünf Abteilungen gegliedert. Im ersten Teil werden Geschichte und Funktionen von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden behandelt. Der zweite Teil richtet die Perspektive auf die Binnensicht der Organisation und Struktur der Verbände. Angesichts der zu beobachtenden Verbandsflucht oder -abstinenz gilt hierbei ein besonderes Interesse der Mitgliederentwicklung und -struktur. Der dritte Teil widmet sich der „Außenwelt“ der Verbände und ihrer Einbettung in den politischen und gesellschaftlichen Kontext. Dazu gehört auch das Verhältnis der Unternehmerverbände zu den Gewerkschaften. Im vierten Teil werden Analysen zur Politik der Arbeitgeber- und Unternehmensverbände in den Politikfeldern Tarif-, Sozial-, und Umweltpolitik sowie zur Sozialpartnerschaftspolitik vorgelegt. Der letzte Teil des Bandes richtet das Augenmerk auf die europäische Ebene und den internationalen Vergleich. Im Vordergrund steht dabei die Frage, welche Folgen die Internationalisierung des Regierens für die Europäisierung und die Arbeit der Unternehmerverbände hat. Die insgesamt 23 Beiträge werden ergänzt durch einen ausführlichen empirischen Anhang mit Basisdaten zu Geschichte und Organisation der Verbände. Ein umfangreiches Sachregister ermöglicht es, sich zu interessanten Aspekten quer über die Beiträge hinweg zu informieren. In den Beiträgen dieses Buches wird deutlich, dass das „Modell Deutschland“, wie wir es einmal kannten, sich dramatisch verändert hat. Die Gründe liegen sowohl in den verschiedenen Aspekten des Wandels in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik als auch im Handeln und den Reaktionsweisen der Verbände auf diesen Wandel. Auch wenn diese Prozesse die Rolle, die Einbettung und das Leistungsangebot der Unternehmerverbände stark verändert haben, sind diese nach wie vor eine tragende Säule des Modells Deutschland, das sich
in einem Transformationsprozess befindet, der durch eine stärkere Europäisierung, Diversifizierung sowie sich regelmäßig neue justierende Aufgabenteilungen zwischen Staat, Unternehmen und Verbänden geprägt ist. Auch wenn die Wirtschaftskrise zur Kritik am Shareholder-Modell und zu einer partiellen Revitalisierung des Stakeholder-Modells und der Sozialpartnerschaft geführt hat, die auch von den Unternehmensverbänden getragen wird, werden sich die ehemals geltenden Randbedingungen des deutschen Modells angesichts der ökonomischen Globalisierung nicht wieder herstellen. Wie die Verbände der Wirtschaft sich dieser Herausforderung stellen und welche Konsequenzen sich daraus für die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft ergeben, ist die Grundfrage, die sich wie ein roter Faden durch diesen Band zieht. Wie viele ambitionierte Projekte hat auch dieser Band eine Geschichte, die uns alle länger beanspruchte als ursprünglich geplant. Insbesondere am Ende der über fünf Jahre währenden Entstehungszeit, die durch einen Autorenworkshop, unzählige Debatten und viele Helfer geprägt war, tauchte immer öfter die Frage auf, wann das Buch endlich erscheinen, ja ob es überhaupt erscheinen werde. Häufiger als uns lieb war, mussten verabredete Zeitpunkte revidiert, beste Vorsätze über Bord geworfen und neue Pläne ausprobiert werden. Umso glücklicher sind wir nach dieser Zeit, dass uns alle Autorinnen und Autoren die Treue gehalten haben. Für diese Geduld und Nachsicht möchten wir uns ausdrücklich bedanken. Unser ganz besonderer Dank gilt Katarina Pollner, die mit großer Kompetenz, Sprachgefühl und der notwendigen Akribie in enger Kooperation mit den Autorinnen und Autoren die Endredaktion der Manuskripte besorgte und die Druckvorlage des Bandes produzierte. Widmen möchten wir dieses Buch unserem Mitstreiter Prof. Dr. Franz Traxler von der Universität Wien, der im Frühjahr 2010 gestorben ist und durch seine Arbeit viele wichtige Anstöße für die Erforschung der Arbeitsbeziehungen gegeben hat. Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels, Berlin/Potsdam, April 2010
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Zu diesem Band .................................................................................................................... 5 Einleitung Die deutsche Unternehmerverbändelandschaft: vom Zeitalter der Verbände zum Zeitalter der Mitglieder Wolfgang Schroeder/Bernhard Weßels ................................................................................ 9 I.
Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
1.
Geschichte und Funktion der deutschen Arbeitgeberverbände Wolfgang Schroeder .................................................................................................. 26
2.
Geschichte und Funktion der deutschen Wirtschaftsverbände Werner Bührer .......................................................................................................... 43
3.
Die Industrie- und Handelskammern im politischen System Deutschlands Manfred Groser/Detlef Sack/Wolfgang Schroeder .................................................... 66
4.
Mittelstandsverbände in Deutschland Thomas Krickhahn .................................................................................................... 85
5.
Arbeitgeberverbände des öffentlichen Sektors Bernd Keller ............................................................................................................ 105
6.
Zentrale Theorien und etwas Empirie zur Analyse des kollektiven Handelns von Unternehmern Fred Henneberger ................................................................................................... 126
II.
Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
1.
Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft Martin Behrens ....................................................................................................... 148
2.
Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke der Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und Industrie- und Handelskammern Stephen J. Silvia ...................................................................................................... 169
3.
Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in neuen Branchen: IKT und Zeitarbeit Raphael Menez ........................................................................................................ 183
4.
OT-Mitgliedschaften und OT-Verbände Thomas Haipeter ..................................................................................................... 209
5.
Grenzen der politischen Kommunikation von Unternehmensverbänden Rudolf Speth ............................................................................................................ 220
8
Inhaltsverzeichnis
III. Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 1.
Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften Hagen Lesch ............................................................................................................ 236
2.
Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft Rudolf Speth ............................................................................................................ 260
3.
Global denken, lokal handeln. Die Aufgaben der regionalen Arbeitgeberverbände im föderalen System Christoph Strünck .................................................................................................... 280
4.
Gesellschaftlicher Wandel, Mediengesellschaft und Wirtschaft. Die Kommunikationsaktivitäten bundesweit agierender Interessenverbände der Wirtschaft Joachim Preusse/Sarah Zielmann ........................................................................... 298
IV. Politikfelder und Organisationshandeln 1.
Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik und im tarifpolitischen System der Bundesrepublik Hansjörg Weitbrecht ............................................................................................... 316
2.
Die Rolle der Arbeitgeber in der Sozialpolitik Thomas Paster.......................................................................................................... 342
3.
Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik Annette Elisabeth Töller/Michael Böcher ............................................................... 363
4.
Arbeitgeberverbände und Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie Walther Müller-Jentsch ........................................................................................... 395
V.
Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
1.
Europäische Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Hans-Wolfgang Platzer ........................................................................................... 420
2.
Unternehmerverbände im internationalen Vergleich Franz Traxler .......................................................................................................... 441
3.
Die Europapolitik der deutschen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände Werner Bührer ........................................................................................................ 457
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten Samuel Greef .................................................................................................................... 483 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis ............................................................................ 527 Über die Autoren ............................................................................................................. 529 Sachregister ..................................................................................................................... 535
Die deutsche Unternehmerverbändelandschaft: vom Zeitalter der Verbände zum Zeitalter der Mitglieder Die deutsche Unternehmerverbändelandschaft
Wolfgang Schroeder/Bernhard Weßels Einleitung
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Einführung
Zu den Unternehmerverbänden zählen sowohl die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände als auch die Industrie- und Handelskammern. Die deutschen Unternehmen sind nicht nur außerordentlich gut organisiert, auch die Zahl ihrer Verbände ist immens hoch. Warum sind diese Verbände so wichtig für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik? Und worin liegt das wissenschaftliche Interesse an diesem Gegenstand begründet bzw. warum sind sie ein so bedeutsamer Gegenstand der Forschung, dass darüber gleich ein ganzes Handbuch geschrieben werden kann? Die Antwort fällt nicht schwer: Die Selbstorganisation der Unternehmer und Unternehmen ist für den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft und des exportorientierten Wirtschaftsmodells ebenso wichtig, wie es die Selbstorganisation der Beschäftigten in den Gewerkschaften ist. Denn beide Verbandssektoren bilden kommunizierende Röhren, von deren Gegen- und Miteinander es maßgeblich abhängt, ob und wie wirtschaftliche Wachstums- und gesellschaftliche Integrationskonstellationen zusammenpassen. Aus einer forschungsorientierten Perspektive sind die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände deshalb spannend, weil sich für Unternehmen, die im Vergleich zu individuellen Arbeitnehmern aus eigener Kraft sehr ressourcenstark sind, in besonderer Weise die Frage nach der Motivation und Logik ihres kollektiven Handelns aufdrängt. Einfach gesagt: Warum setzen Unternehmen und Unternehmer, die auf den Märkten gegeneinander konkurrieren, mit ihrer Verbandmitgliedschaft auf kooperatives Verhalten? Wie lässt sich das Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation verstehen und wie hat es sich in den letzten Jahren verändert? Welche Auswirkungen hat dies auf die verbandliche Handlungsfähigkeit und wirtschaftliche sowie politische Steuerungsstrukturen? Aus den Wandlungsprozessen im verbandlichen System der Wirtschaft ergeben sich Fragen, die für die Zukunft des deutschen Modells einer kooperativen wirtschaftlichen und politischen Steuerung in zentralen Bereichen von entscheidender Bedeutung sind: Gibt es überhaupt noch ein deutsches Modell? Kann angesichts weit reichender Globalisierungsprozesse noch von einem deutschen Kapitalismus gesprochen werden? Aber vor allem: Was hat dies mit jenen Organisationen zu tun, die den Anspruch einer Selbstorganisation der Wirtschaft verfolgen? 2
Die Selbstorganisation der Wirtschaft als zentraler Pfeiler des Modells Deutschland
Was verstehen wir unter dem deutschen Modell? Der Begriff selbst ist nur als abgrenzende Kategorie sinnvoll, vor allem um die Differenzen und Besonderheiten im Vergleich zu anderen westlichen Industrienationen zu verstehen. Dabei geht es insbesondere darum,
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Einleitung
Unterschiede in den Organisationsformen politischer und wirtschaftlicher Institutionen zu anderen Staaten aufzuzeigen. Das deutsche Modell zeichnet sich durch prägnante Besonderheiten hinsichtlich der Wechselbeziehungen zwischen Märkten, Organisationen und Staat aus. Mit dem Modell Deutschland wird eine institutionell flankierte Produktions- und Wachstumskonstellation beschrieben, die nicht nur durch ausgeprägte Selbstkoordinationsformen der Wirtschaft geprägt ist, sondern ebenso durch vielfältige Koordinationsstrukturen zwischen Ökonomie und Staat. Mithin haben sich makroökonomische Steuerungsbedingungen und institutionelle Selbstkoordination zu einer spezifischen Variante des Kapitalismus verbunden (Soskice 1999; Hall/Soskice 2001). Makroökonomisch gehören hierzu insbesondere die stabilisierenden und den Arbeitsfrieden sichernden Bedingungen des Flächentarifvertrags sowie die von politischen Akteuren und Institutionen unterstützte starke Exportorientierung der deutschen Wirtschaft. Hinzu kommen allgemeine Steuerungsziele und -maßnahmen der Politik, die eine makroökonomische Balance im Sinne des magischen Vierecks von Preisstabilität, Wirtschaftswachstum, Außenhandelsgleichgewicht und Vollbeschäftigung, das 1967 im Stabilitätsgesetz festgesetzt wurde, gewährleisten sollen. Aus dieser Perspektive leisten die Arbeitgeberverbände als Akteure der Flächentarifvertragspolitik einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung einheitlicher Lebensverhältnisse, während die Wirtschaftsverbände und Handelskammern dazu beitragen, Produktions- und Ausbildungsstandards sowie die Bedingungen der Exportorientierung zu strukturieren. Zentral für die Spezifik des deutschen Produktionsmodells, das in starkem Maße durch eine außerordentlich leistungsfähige industrielle Basis geprägt ist, sind die duale Ausbildung und das Meisterprinzip. Gemeinsam sicherten sie über viele Jahrzehnte hinweg das spezielle Portfolio und die Qualität der deutschen Produkte im Sinne einer spezialisierten und diversifizierten qualitätsorientierten Massenproduktion („diversified quality production“). Dazu tragen die Wirtschaftsverbände und Kammern maßgeblich bei, indem sie Produktions- und Ausbildungsstandards setzen. Zum deutschen Modell zählt unter anderem die institutionelle Selbstorganisation wesentlicher Bereiche der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dies umfasst traditionell die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen, an der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in den Bereichen Gesundheit, Rente, Arbeitsmarkt und Unfall maßgeblich beteiligt sind. Trotz mancher Anfechtungen gestalten diese Akteure nach wie vor die Eckpunkte der Sozialversicherungszweige mit. Zugleich bestehen vielfältigste staatliche Institute und Gremien, in denen Vertreter wirtschaftlicher Interessenorganisationen nicht nur als Lobbyisten mitwirken, sondern auch ihre spezielle Expertise einbringen. Ihre Beteiligung in Ministerien und Parlamenten ist nach Kriterien von Relevanz und Betroffenheit in den Geschäftsordnungen geregelt. „Die Geschäftsordnungen des Bundestages und der Bundesregierung sehen ausdrücklich die Mitwirkung der Interessenverbände vor. Interessenvertreter können von Ausschüssen des Bundestages um Stellungnahme gebeten werden, sie können in öffentlichen Anhörungen (Hearings) Auskunft geben und in Enquete-Kommissionen berufen werden. Ministerien sind gehalten, bei der Vorbereitung von Gesetzen Vertreter der Spitzenverbände hinzuzuziehen. Tatsächlich wird der Sachverstand der Verbände regelmäßig in Anspruch genommen. Damit wird die Gefahr vermindert, dass Gesetze unvollständig oder fehlerhaft sind.“ (Pötzsch 2010).
Die konkrete Zahl der Beiräte, Kommissionen und Ausschüsse mit Verbandsbeteiligung ist nicht bekannt, aber traditionell hoch anzusiedeln.
Die deutsche Unternehmerverbändelandschaft
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Selbstorganisation und Selbststeuerung in zentralen Bereichen funktionieren auf unterschiedliche Weise: einerseits nach dem Prinzip der Subsidiarität oder durch die staatliche Delegation hoheitlicher Aufgaben an die Verbände; andererseits durch die Verschränkung und Koordination von verbandlichem und staatlichem Sektor (Korporatismus) (Glagow/ Schimank 1984). In dem Maße, wie die Verbände ihre Funktionen auf den verschiedenen Ebenen wahrnehmen können, leisten sie einen maßgeblichen Beitrag, um die Struktur der deutschen Wirtschaft im Sinne einer koordinierten Marktwirtschaft zu profilieren. Die Herausforderungen für das deutsche Modell ergeben sich aus den Wechselbeziehungen zwischen dem internationalen und dem nationalen System, die sich im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung und Europäisierung verstärkt haben. Mit diesen Herausforderungen stellt sich die Frage, welche nationalen Koalitionen und Institutionen heute noch einen Beitrag dazu leisten können, die herausgehobene Stellung der deutschen Wirtschaft in der Weltwirtschaft zu sichern. Angesichts der Wandlungstendenzen der Unternehmens- und Marktstrukturen in den letzten Jahrzehnten noch vom deutschen Modell zu reden, mag auf den ersten Blick realitätsfern erscheinen. Es gibt allerdings zwei plausible Gründe, diese Kategorie nicht voreilig fallen zu lassen. Zum einen war das deutsche Modell bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein im Wesentlichen unangefochten. Der Begriff des deutschen Modells kann daher zumindest als treffend formulierter zeitgeschichtlicher Referenzpunkt verstanden werden. Mit anderen Worten: Es handelt sich hierbei um eine geeignete Begrifflichkeit, um Veränderungsprozesse darzustellen und zu verstehen. Zweitens verweisen Erkenntnisse im Kontext der Varieties-of-Capitalism-Forschung darauf, dass trotz globaler Strukturveränderungen bestimmte Eigenheiten der Organisations- und Koordinationsformen zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft relativ persistent sind, weshalb die strukturellen Tendenzen zur Konvergenz eher schwach ausfallen (Kitschelt et al. 1999). Es stellen sich also folgende Fragen: Wie waren und wie sind die wirtschaftlichen Interessensverbände im deutschen Modell oder mindestens in dem, was davon übrig geblieben ist, zu verorten? Können sie selbst noch als Steuerungsakteure im Kontext einer globalisierten und europäisierten politischen Ökonomie verstanden werden, die den Wandel des deutschen Modells mitgestalten? 3
Differenzierung kollektiven Handelns: Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände sowie Industrie- und Handelskammern
Die wichtigste organisationspolitische Grundsatzentscheidung im Unternehmerlager bestand nach 1945 darin, das dreigliedrige Verbandssystem der Vorkriegszeit wieder herzustellen und die arbeitgeberverbandslose Zeit (1934í1945) zu beenden. Während sich vor allem in den exportorientierten Industrien die Trennung in Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände durchsetzte, etablierte sich in manchen eher binnenmarktorientierten Sektoren wie der Textil-, Bauund Holzindustrie eine andere Variante. Bereits gegen Ende der 1940er Jahre entstanden dort integrierte Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände. Die Trennung von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband auf der Ebene der nationalen Spitzenverbände ist indes umstritten. Partiell auftretende Spannungen zwischen dem BDI und der BDA anlässlich wichtiger sozialpolitischer Fragen ebenso wie die in manchen Bereichen vorhandene Doppelarbeit1 und die daraus 1
Darunter ist zu verstehen, dass einzelne Abteilungen in beiden Spitzenverbänden vergleichbare inhaltliche Themenstellungen bearbeiten. Darin sahen und sehen manche Kritiker nicht nur eine unnötige Res-
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Einleitung
resultierenden Reibungsverluste haben dazu geführt, dass diese Trennung wiederholt zur Disposition stand. Anfang der 1960er Jahre erfolgte ein erster ernsthafter Versuch, die Dachverbände BDI und BDA zusammenzuführen. Der vorläufig letzte Fusionsversuch scheiterte im Jahre 2008 ebenso wie seinerzeit die Überlegung, den Zusammenschluss zeitgleich mit dem Umzug der Verbände von Köln nach Berlin (1997) zu organisieren. Durch die Existenz konkurrierender Organisationen erscheinen die internen Querelen zwischen verschiedenen Personen, Interessen und Kapitalfraktionen immer auch als Konflikte zwischen formal eigenständigen Institutionen. Kennzeichnend für die Verbändelandschaft in der deutschen Wirtschaft ist also ihre funktionale und organisatorische Differenzierung. Die Trennung besteht zwischen einer güter- und einer arbeitsmarktbezogenen Verbandslandschaft – den Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden – sowie den auf Zwangsmitgliedschaft beruhenden Industrie- und Handelskammern. Die meisten anderen OECD-Länder kennen keine solche Differenzierung. Ursächlich für eine derart spezifische Arbeitsteilung zwischen den Verbänden sind neben historischen, zuweilen zufälligen Entwicklungsmustern durchaus auch funktionale Gründe. So vereinbaren die Arbeitgeberverbände mit den Gewerkschaften bindende Regelungen bezüglich Lohngestaltung und Arbeitsbedingungen (Tarifverträge), vertreten die sozialpolitischen Interessen der Mitgliedsfirmen gegenüber staatlichen und halbstaatlichen Organisationen und beteiligen sich an staatlichen Gremien sowie an der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen. Wirtschaftsverbände koordinieren die gütermarktbezogenen Interessen der deutschen Unternehmen gegenüber dem Staat und zunehmend auch auf der Ebene der Europäischen Union. Die dritte Säule des deutschen Modells der wirtschaftlichen Interessenvertretung durch Verbände bilden die Industrie- und Handelskammern, deren Mitgliedschaft verbindlich vorgegeben ist. Die Kammern übernehmen die Verantwortung für Güterund Ausbildungsstandards und erbringen diverse Dienstleistungen für ihre Mitglieder. Aus den geschilderten Aufgabenstellungen und Zielsetzungen von Arbeitgeberverbänden, Wirtschaftsverbänden und Industrie- und Handelskammern folgen im Umkehrschluss durchaus unterschiedliche Handlungslogiken dieser Akteure.
Arbeitgeberverbände haben primär die Aufgabe, die Arbeitsmarkt- und Arbeitskostengestaltung mit und gegen die Gewerkschaften („Gegenverbände“) zu organisieren und untereinander zu koordinieren. Ihr Handeln ist von der Vorstellung einer prinzipiellen Unvereinbarkeit zwischen politischer Demokratie und wirtschaftlicher Demokratisierung geprägt. In ihrem Verständnis ist Sozialpartnerschaft die gegenseitige Achtung von Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern als Ordnungsfaktoren im sozialen Raum bei gleichzeitiger Minimierung des unmittelbaren gewerkschaftlichen Einflusses im wirtschaftlichen und betrieblichen Entscheidungsraum. In diesem Sinne versuchen die Verbände, die Trennung zwischen Arbeitnehmern und Gewerkschaftern zu forcieren. Dabei setzen sie auf lohn- und sozialpolitische Konzepte, die eine Identifizierung der Arbeitnehmer mit dem Betrieb fördern und dazu angetan sind, die Leistungsbereitschaft der Beschäftigten zu verstärken, um selbige gegen offensive gewerkschaftspolitische Strategien zu immunisieren. Darüber hinaus sind die Arbeitgeberverbände bestrebt, Interventionen der Politik und des Staates in der wirtschaftlichen Sphäre zu minimieren. Die Garantie der Tarifautonomie, eine Konsequenz aus der in der Weimasourcenverschwendung, sondern auch eine Gefahr für die Durchsetzungsfähigkeit industrieller Interessenpolitik.
Die deutsche Unternehmerverbändelandschaft
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rer Republik verbreiteten Praxis staatlicher Zwangsschlichtung, schafft für einen wesentlichen Bereich – den der Lohnfindung – eine von politischer Seite wenig beeinflussbare Handlungsarena. Auch wenn die Arbeitgeberverbände einerseits das Konzept der Tarifautonomie begrüßen, scheuen sie andererseits – wie auch die Gewerkschaften – nicht davor zurück, den Gesetzgeber dann zu Eingriffen in ihrem Interesse aufzufordern, wenn sie sich davon Vorteile versprechen. Das gilt allerdings nicht für den gesetzgeberischen Bereich in den Feldern Arbeit und Soziales, wo es für Arbeitgeberverbände vor allem darum geht, die Interessen ihrer Mitglieder als Arbeitgeber gegenüber der Politik einzubringen. Wirtschaftsverbände sind hingegen weitestgehend mit der Gütermarktgestaltung im Sinne der Integration, Aggregation und Artikulation von Produzenteninteressen befasst. Hierzu zählen die Koordination mit der Politik, die Intervention in der Politik und auch die Abwehr von Politik, um für Produktmarktinteressen günstige allgemeinverbindliche Regelungen und – auch durch die Integration der Wirtschaftsakteure – verbindliche Standards zu setzen. Kammern sind primär regionalspezifische Akteure. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben besteht darin, die Standards für die berufliche Ausbildung festzusetzen. Sie leisten damit einen Beitrag zum potentiellen Ausbildungsstand von Arbeitskräften. Damit legen sie indirekt auch die Qualitätsstandards von Produkten und Leistungen der vorwiegend mittelständischen Wirtschaft fest. Gleichzeitig verstehen sie sich heute als moderne Dienstleistungsagenturen, die – zunehmend in Konkurrenz zu alternativen marktlichen Angeboten – ihren Mitgliedern spezielle Service- und Beratungsleistungen (rechtlich, betriebswirtschaftlich, organisatorisch) anbieten.
Mit unterschiedlichen Stoßrichtungen sind alle drei Organisationstypen zentrale Akteure, die übergreifend koordinierende Aufgaben übernehmen. Und zwar einerseits sowohl in ihren jeweiligen Subsystemen als auch darüber hinaus als zentrale Schnittstellen zu Staat und Politik. Sie bilden, nach je eigener Funktionslogik, die Agenturen für einen kooperativen Wettbewerb in der Wirtschaft der Bundesrepublik, der sich u. a. durch ein hohes Maß an Koordinierung und wettbewerbsneutralen Standards auszeichnet, die von den oder mit Hilfe der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände durchgesetzt wurden. Auf der Basis dieser Eigenschaften eines „gemäßigten Kapitalismus“ organisieren die Unternehmerverbände regionale Balancen, aber auch den Ausgleich zwischen großen und kleinen Unternehmen, zwischen Exportorientierung und Binnenmarktproduktion. Mit der Übernahme quasiöffentlicher oder staatlicher Funktionen setzen die Arbeitgeberverbände zusammen mit den Gewerkschaften die Standards für Löhne, Arbeitssicherheit, Produktqualität, Normung, Ausbildungsqualität etc. Bis in die 1980er Jahre hinein wurde den Verbänden der Wirtschaft von der Verbändeforschung eine erstaunliche organisatorische Stabilität attestiert. So schrieb der Politikwissenschaftler von Alemann noch 1985, dass Wandlungstendenzen hinsichtlich der Organisationsform kaum zu beobachten seien (von Alemann 1985), der Soziologe Weber konstatierte zwei Jahre später, dass die Arbeitgeberverbände für den größten und bedeutendsten Teil der Firmen ebenso unersetzbar wie unverzichtbar seien (Weber 1987). Beide Aussagen können aufgrund umfassender Veränderungsprozesse in der Gesellschaft, in der Weltwirtschaft, aber auch in den Verbänden selbst heute nicht länger in ihrer ursprünglichen Fassung aufrechterhalten werden.
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Einleitung Die Janusköpfigkeit der Globalisierung für die Interessenverbände der Wirtschaft
Wenn von wirtschaftlichem Wandel die Rede ist, dann wird meist sogleich von der Globalisierung gesprochen. Auffallend ist, dass die deutschen Unternehmerverbände vehemente Fürsprecher einer beschleunigten Globalisierung und Europäisierung sind. Doch entgegen mancher oberflächlichen Interpretation sind die Globalisierung der Märkte und Wirtschaftsstrukturen sowie die Internationalisierung der Politik Prozesse, die den Verbänden der Wirtschaft nicht nur zum Vorteil gereichen. Vielmehr haben wir es hierbei mit einer janusköpfigen Struktur zu tun. Denn einerseits sind die Verbände selbst die wesentlichen Treiber einer forcierten Internationalisierung der deutschen Wirtschaft und Politik. Analog zu den majoritären Interessen ihrer Mitglieder forcierten sie die Bedingungen globaler und liberalisierter Märkte. Andererseits werden die Unternehmerverbände durch liberalisierte Märkte und internationalen Wettbewerbsdruck selbst in verstärktem Maße herausgefordert. Denn diese Entwicklungen wirken sich in unterschiedlicher Weise auf die einzelnen Wirtschaftssektoren und Unternehmenstypen aus. So gibt es Gewinner und Verlierer der Globalisierung. Konkret kann dies die Interessensdifferenzen zwischen „alter“ und Hochtechnologieindustrie, zwischen Groß- und Kleinunternehmen, zwischen export- und binnenmarktorientierten, aber auch zwischen Dienstleistungs- und Industrieunternehmen vertiefen. Durch die Globalisierung verändert sich die Struktur des Wettbewerbs nachhaltig; damit nimmt jedoch auch die Interessendifferenzierung unweigerlich zu. In der Folge ergibt sich zum einen als Nachzugseffekt eine verstärkte Verbandskonkurrenz durch Neugründungen, zum anderen entstehen vor allem in neuen Branchen Vertretungs- und Repräsentationslücken. In diesem Sinne werden bestimmte Bereiche der Wirtschaft zu „Opfern“ von Veränderungen, die durch ihre kollektiven Interessenvertretungen selbst mitgestaltet worden sind. Für die Verbände bedeutet dies, dass das Management der Vielfalt und Heterogenität anspruchsvollere Anforderungen stellt. Zugleich entsteht ein Verlust an Handlungskapazität gegenüber Unternehmen, die als „Global Player“ agieren. Die lediglich national aufgestellten Verbände können global aufgestellten Unternehmen häufig nur begrenzte Leistungen anbieten, partiell können die Interessen von Unternehmen und Verbänden sogar kollidieren. Auf Seiten der Arbeitgeberverbände ergibt sich angesichts des internationalen Preiswettbewerbes das Problem, wie sie ihr wichtigstes Koordinations- und Gestaltungsmoment, den Flächentarif, zusammen mit den Gewerkschaften aufrechterhalten können. Auch wenn im Preiswettbewerb nicht die zentrale Ursache für die Schwächung der Funktionsfähigkeit des Flächentarifvertrages zu sehen ist, so gehen von der Internationalisierung durchaus Folgen aus, die dem Verbandsinteresse der Arbeitgeber zuwiderlaufen. In diesem Sinne ist offen, wie zukünftig Planungssicherheit, hohe Produktivität und Friedenssicherung (also keine Streiks) gleichzeitig im Rahmen der Tarifautonomie gesichert werden können. Ähnlich unsicher sind die Folgen der neuen internationalen Arbeitsteilung. Denn einerseits hat sich durch den verschärften internationalen Wettbewerb die Lage der einfach qualifizierten Erwerbstätigen in Deutschland signifikant verschlechtert. Andererseits trifft eine staatliche Politik, die als Reaktion auf diese Entwicklung per Gesetz Mindestlöhne festlegt, auf energischen Widerspruch der meisten Arbeitgeberverbände. Aber auch der Einfluss der Wirtschaftsverbände wird durch Globalisierung indirekt geschwächt. Denn mit der wirtschaftlichen Internationalisierung schwindet nicht nur die nationalstaatliche Gestaltungsmacht, es reduzieren sich auch die Möglichkeiten effektiver kooperativer Politikgestaltung zwischen Staat und Verbänden.
Die deutsche Unternehmerverbändelandschaft
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Der Strukturwandel in der Industrie, der lange vor der wirtschaftlichen Globalisierung einsetzte, aber dadurch entscheidend beschleunigt wurde, verschiebt zugleich die Kräfte zwischen den Wirtschaftssektoren und Branchen. Die Unternehmerverbände hatten und haben sich darauf einzustellen. Die früh in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte einsetzenden Verschiebungen zwischen Schwerindustrie und verarbeitender Industrie haben nicht allein regionale Verschiebungen zwischen dem Ruhrgebiet und Baden-Württemberg befördert, sondern zudem zu entsprechenden Machtverschiebungen in der Verbändelandschaft geführt. Vor allem die Automobilindustrie, der Maschinenbau, die Elektroindustrie und die Chemieindustrie haben an Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig haben sich die Wirtschaftsstrukturen differenziert, vor allem im Dienstleistungssektor. Die damit parallel laufende Internationalisierung der Märkte und Europäisierung der Politik haben die Wirtschaftsverbände geschwächt. Eine höhere Zahl an Verbänden bei abnehmenden (politischen) Handlungsressourcen bedingt, dass die Verbandsleistungen nicht mehr im früheren Umfang offeriert werden können. Die Interventions- und die Steuerungsmacht der Wirtschaftsverbände sind eingezwängt zwischen einer neuen Vielfalt und schwindenden Einflussressourcen; mithin drohen sie deutlich abzunehmen. Insbesondere die Interessensunterschiede zwischen Großunternehmen und kleinen sowie mittleren Unternehmen haben in den letzten Jahren fortwährend zugenommen, was die Integration divergierender wirtschaftlicher Interessen unter einem Dach schwieriger werden lässt. Der Mittelstand verfügt über eine zwar heterogene und vielfältige, aber zugleich schwach organisierte Verbandslandschaft. Der geleistete Beitrag zur Interessenvermittlung für den Mittelstand fällt dabei eher gering aus, dieser bleibt verwiesen auf die großen Wirtschaftsverbände, die ihrerseits stärker die Interessen großer Unternehmen im Blick haben. Angesichts des Umstandes, dass mehr als 90 Prozent aller Unternehmen zu den kleineren und mittleren zu rechnen sind, ergibt sich hier ein Repräsentationsproblem, das die Wirtschaftsverbände lösen müssen. Für die Arbeitgeberverbände gilt das in ähnlicher Weise, aber verschärft durch den Umstand, dass auch die für die kooperative Politiksteuerung notwendigen Partner, die Gewerkschaften, schwächer werden. Hinzu kommt, dass aus der Interessendifferenz zwischen kleinen und mittleren Unternehmen einerseits sowie Großunternehmen und „Global Player“ andererseits manifeste Konflikte erwachsen sind. Die Arbeitgeberverbände selbst können die notwendige Integrationsarbeit kaum mehr leisten. Widerspruch und Abwanderung sind die Folge. Die von den Großunternehmen dominierte Tarifpolitik treibt kleinere und mittlere Unternehmen in die Verbandsflucht oder -abstinenz. Für die Kammern und Kammerverbände stellen sich zumindest dem ersten Augenschein nach die Probleme der Mitgliedschaftslogik nicht. Die Zwangsmitgliedschaft sorgt dafür, dass dort mehr als 4,5 Millionen Unternehmer und Selbständige organisiert sind. Gleichwohl, die Kammern sind nicht unangefochten. Der Streit um die Zwangsmitgliedschaft ist längst entbrannt. Solange sie jedoch besteht, gibt es keine formale Möglichkeit zur Verbandsflucht. Doch bedeutet dies keineswegs, dass die Legitimität der Kammern und ihrer Verbände damit unbestritten bliebe und diese sich nicht verändern müssten. Im Gegenteil. Die wirtschaftliche Globalisierung schlägt in zweifacher Weise auf die Verbände zurück. Sie stellt sie einerseits vor die Aufgabe eines intensiveren Managements von größerer Mitgliederheterogenität, während sich andererseits die nationalen Einflussressourcen der Verbände relativieren, weil auch die Handlungspotentiale nationalstaatlichen Einflusses auf globale Entwicklungen begrenzt sind. Globalisierung und Internationalisierung schlagen sich
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Einleitung
zwar unterschiedlich stark, gleichwohl durchweg negativ auf die Handlungsmöglichkeiten von Verbänden im Rahmen der Mitgliedschafts- und Einflusslogik nieder. Die Frage ist, ob sich daraus eine Spirale ergibt, und zwar dergestalt, dass sich durch eine zunehmende Vielfalt und Fragmentierung der Wirtschaftsinteressen eine veränderte Struktur der Mitgliedschaftslogik entwickelt. Für die Verbandsführungen könnte dies bedeuten, dass dem von den Mitgliedern und ihren Interessen ausgehenden Erwartungsdruck immer weniger entsprochen werden kann. Dies vor allem auch deshalb, weil gleichzeitig die Ressourcen schwinden, mittels derer sich die Einflusslogik artikulieren kann, um wiederum das Organisationshandeln so auszurichten, dass sich daraus ein großer politischer Einfluss für die Verbandsspitzen ergeben kann (Streeck 1987). Die Folgen einer derartigen Spirale, die die Einflusslogik grundsätzlich limitiert, können letztendlich zur Erosion der Verbände der Wirtschaft und damit der kooperativen Marktwirtschaft führen, wenn es keine transformatorischen Gegenkräfte gibt. 5
Vom gesellschaftlichen Wandel zum Generationenwandel
5.1 Gesellschaftlicher Wandel Eine koordinierte Marktwirtschaft kommt ohne eine verbandliche Integrationsleistung innerhalb der Wirtschaft nicht aus. Schwindet die Integrationsfähigkeit der Verbände, so kann sich dadurch das gesamte Zusammenspiel zwischen Politik, Verbänden und Märkten verändern. Lange Zeit gelang es den Verbänden, die Gegensätze und Interessendifferenzen zwischen den kleinen und mittleren Unternehmen auf der einen und den Großunternehmen auf der anderen Seite zu überbrücken; ebenso jene zwischen den Endherstellern und Zulieferern sowie zwischen export- und binnenmarktorientierten Unternehmen. Die Organisationen konnten zwischen alten und neuen Industrien sowie staatsnahen und rein privatwirtschaftlichen Unternehmen vermitteln. Diese Integrationsleistungen sind nicht voraussetzungslos. Sie sind nur möglich aufgrund der existierenden verbandlichen Ressourcen, insbesondere ihrer traditions- und politikgestützten Anreizstrukturen, die Organisations- und Verpflichtungsfähigkeit herstellen. Eine wesentliche Ressource, die den Zusammenhalt in den Unternehmerverbänden der Bonner Republik stiftete, war die gemeinsame Lage und Erfahrung der Unternehmer nach dem 2. Weltkrieg sowie die Teilung Deutschlands. Da sich die Unternehmer und ihre Verbände aufgrund ihrer Stellung im Nationalsozialismus bis in die 1960er Jahre hinein mit heftiger Kritik konfrontiert sahen, waren sie immer wieder aufs Neue darum bemüht, solchen Vorwürfen entgegenzutreten. In einer 1962 von der BDA in Auftrag gegebenen Schrift über den Weg der deutschen Unternehmerverbände nach 1945 ist Folgendes zu lesen: „Die Lage des deutschen Unternehmers nach 1945 war einzigartig und keineswegs mit der nach 1918 vergleichbar. Die Anklage, die gegen ihn erhoben wurde, und durchaus nicht nur von den Besatzungsmächten, war summarisch und gehörte zu den von Jakob Burckhardt mit Recht als besonders gefährlich angeprangerten Simplifikationen der Geschichte. Was den deutschen Unternehmern vorgeworfen wurde, lief darauf hinaus, dass sie insgesamt getreue Gefolgsleute Adolf Hitlers gewesen wären, und die Vorwürfe steigerten sich in den Nürnberger Prozessen zu der grotesken Behauptung, sie hätten sich mit ihm zur Anzettelung eines zweiten Weltkrieges verschworen. Dabei wurde von mancher Seite wohlüberlegt so getan, als ob sie allein Hitler erwählt und an die Macht gebracht hätten, und außerdem unterstellt, dass es sich beim deutschen
Die deutsche Unternehmerverbändelandschaft
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Unternehmertum um so etwas wie einen in sich geschlossenen, fest zusammengefügten Verein gehandelt hätte – Vorstellungen, die man, milde gesagt, nur als kurios bezeichnen kann; wobei ganz außer acht gelassen werden soll, dass das Ausland Hitler Hilfestellung leistete, die es der Weimarer Republik so konsequent versagt hatte. Wie die deutschen Unternehmer diese Feindschafts- und Hasswelle durchstanden, wie sie aus verlorener Position den Kampf aufnahmen und den deutschen Wideraufbau zu den heute weltbekannten Erfolgen führten, das gehörte dann zu ihren Großleistungen. …“ (von Klass 1962: 84).
Die gesellschaftliche Defensive, in die die Unternehmer in den ersten Nachkriegsjahren durch öffentliche Kritik, Besatzungsmächte, Gewerkschaften und Politik gerieten, forcierte nicht nur ihre Bereitschaft zur verbandlichen Organisierung. Vielmehr erleichterten es ihnen diese Widerstände, auf die Gewerkschaften zuzugehen. Zugleich – und das mag vielleicht auf den ersten Blick als Paradox erscheinen – führte die innere Abgeschlossenheit der Unternehmerkreise, die als Reaktion auf die gesellschaftliche Defensive entstand, dazu, dass die eigenen Traditionen, Wert- und Institutionenmuster fortgeführt wurden. Gemildert wurde diese Defensive schließlich vor allem durch den schnellen Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft, die Verschiebung zwischen den Branchen und schließlich auch durch den Generationenwandel. Nicht zu unterschätzende Faktoren waren zudem der Kalte Krieg und die Teilung Deutschlands, die den Antikommunismus bzw. Antisozialismus zu einer verbindenden Klammer im Unternehmerlager machten. Mit der deutschen Einheit, sozialem und globalem Wandel sowie dem damit einhergehenden Generationenwandel verschlechterte sich jedoch der Zusammenhalt im Unternehmerlager und in den Verbänden, was sich nicht zuletzt an einer zurückgehenden Verbandsloyalität und der mangelnden Bereitschaft, Ehrenämter zu übernehmen, ablesen lässt. Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände wie auch die Kammern sind den Anfechtungen des allgemeinen Strukturwandels in Gesellschaft und Wirtschaft ebenso unterworfen wie andere gesellschaftliche, politische und verbandliche Bereiche. So lautet eine weit verbreitete These, dass Prozesse des sozialen Wandels wie die Individualisierung, die damit einhergehende Abnahme der Bindungsfähigkeit kollektiver Akteure und eine zunehmende Interessendifferenzierung die Bedingungen der auf die Mitglieder gerichteten Handlungslogik von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden (Mitgliedschaftslogik) beeinflussen. Wirtschaftlicher Strukturwandel hingegen tangiert stärker die Bedingungen ihres auf politischen Einfluss gerichteten Handelns (Einflusslogik). Verschiebungen in den Größen- und Kräfteverhältnissen zwischen Wirtschaftssektoren und Branchen, die Einbettung in die internationale Wirtschaftsstruktur und Märkte sowie die Veränderung der Regeln des Wirtschaftshandelns (Liberalisierung) bringen veränderte Handlungsmöglichkeiten der Arbeitgeberund Wirtschaftsverbände gegenüber dem Staat mit sich. Die strukturellen Wandlungsprozesse haben zudem Auswirkungen auf die Beziehung zwischen der Organisation und ihren Mitgliedern. Dabei muss zunächst offen bleiben, ob dafür soziale Wandlungsprozesse wie die Individualisierung oder sich verändernde Interessenkonstellationen und Nutzenkalküle verantwortlich sind. Wie auch immer die Erklärung ausfällt, Folgendes kann wohl festgehalten werden: Wenn die Nachkriegszeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als „Jahrhundert der Verbände“ bezeichnet wird – mancher Publikationstitel spricht dafür 2 –, könnte sich das 21. Jahrhundert vielleicht als das Jahrhundert der 2
Herrschaft der Verbände? (Eschenburg 1956); „Verbändestaat“ im Titel haben z. B. Wambach 1966; Weber 1980; Gusy 1981; Marin 1986; Schönbach 2002.
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Einleitung
Mitglieder erweisen, die sich, in Anlehnung an die Formulierung von Albert O. Hirschmans „Exit, Voice, and Loyalty“, entweder der Verbandsführung gegenüber loyal verhalten oder aber potentielle Unzufriedenheit offen artikulieren und schlimmstenfalls sogar austreten. Die Wirtschaftsverbände und Organisationen sehen sich ebenso vom ökonomischen und sozialen Wandel herausgefordert wie andere Mitgliederorganisationen in Politik und Gesellschaft. Eine zentrale Frage dabei ist, ob die damit einhergehenden Veränderungsprozesse durch Transformation bewältigt werden können oder ob den Verbänden der Unternehmer Erosionsprozesse ins Haus stehen, die sogar das Funktionieren des kooperativen Wettbewerbs, der sozialen Marktwirtschaft und der kooperativen Politik mit dem Staat tangieren werden. Eine einheitliche Antwort auf diese Frage über die funktional und organisatorisch stark differenzierte Struktur der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände wird es wohl kaum geben können. Dafür sind die Rahmen- und Handlungsbedingungen der drei Säulen von Arbeitgeberverbänden, Wirtschaftsverbänden und Kammern zu unterschiedlich. Dazu gilt es, die spezifische Rolle und die spezifischen Funktionsanforderungen an die drei Säulen der wirtschaftlichen Interessenvertretung im deutschen Modell zu verorten, auf die spezifischen Auswirkungen des Strukturwandels mit seinen verschiedenen Dimensionen auf die Verbände einzugehen, Veränderung und Kontinuität zu beleuchten und erste Antworten auf die Frage nach der Perspektive der Verbände wirtschaftlicher Interessenverbände in einer sich national und international verändernden Umwelt zu geben. 5.2 Generationenwandel in den Verbänden Verbände sind nicht nur technisch-ökonomische Einheiten der individuellen Nutzenorientierung. Sie haben auch kulturelle, politische und gemeinschaftsbildende Ziele. Ohne minimale normative Vergemeinschaftungsstrukturen lassen sich freie Mitgliederorganisationen nicht verstehen. Letztlich hängt die Verfolgung gemeinsamer und gemeinschaftlicher Interessen von Personen ab, die in und stellvertretend für Organisationen handeln. Die Prägungen, vor allem die gesellschaftlichen und kulturellen Ideen der Unternehmer- und Verbandsfunktionäre haben massive Auswirkungen auf das Selbstbild der Unternehmerverbände, aber auch darauf, wie der innere Zusammenhalt und das nach außen gerichtete Handeln organisiert werden. Organisationen bilden differenzierte Funktionsrollen aus, die von Personen zum Leben erweckt werden. Der Generationenwandel und der wirtschaftliche Strukturwandel beeinflussen die Bereitschaft einzelner Personen, Verantwortung in kollektiven Interessenvertretungen zu übernehmen. Die Finanzialisierung und Managerialisierung der Wirtschaft sowie der Rückgang der Familien- und Personenunternehmen untergraben die Rekrutierungsbasis für verantwortliche Ehrenämter. Traditionell werden diese Funktionen von Eigentümerunternehmern ausgeübt. Angestellte Manager sind in verbandlichen Führungspositionen eher selten. Mit dem Schwinden von Familienunternehmen verringert sich die Zahl potentieller Führungspersönlichkeiten. Wie das Ehrenamt generell leidet auch das Ehrenamt der Verbände der Wirtschaft unter einer personellen Ausdünnung. Somit sind der Generationenwandel und der Wandel des Zusammenhalts in der Unternehmerschaft eine durchaus ernst zu nehmende Herausforderung für die verbandliche Handlungsfähigkeit. Thomas Köster, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Düsseldorf, schrieb am 10. März 2008 in einem Positionspapier, „(…) dass das unternehmerische Leit-
Die deutsche Unternehmerverbändelandschaft
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bild der Sozialen Marktwirtschaft, der persönlich haftende Eigentümer-Unternehmer, zunehmend aus dem Blick geraten ist. Dominiert wird das öffentliche Bild des Unternehmers heute einseitig von angestellten Managern, Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern.“ Zwar ist, wie Thomas Köster zu Recht fortfährt, der Anteil der Eigentümerunternehmen mit etwa 90 Prozent aller Unternehmen noch sehr hoch. Insgesamt ist aber ihre Bedeutung wirtschaftlich wie auch als Leitbild prägende Kraft eher zurückgegangen. In der Industrie liegt der Anteil der Familienunternehmen an den Unternehmen bei etwa 84 Prozent, bei Betrieben mit über 500 Beschäftigten aber lediglich bei etwa 30 Prozent und bei Aktiengesellschaften bei etwa 28 Prozent. Bei einem Anteil von über 90 Prozent an allen Unternehmen erwirtschaften Eigentümerunternehmen lediglich ca. 60 Prozent der Wertschöpfung. Das öffentliche Bild ist geprägt von den managergeführten Unternehmen. Seit den 1990er Jahren ist zudem eine Entflechtung der Deutschland AG mit ihrem dicht geknüpften Netz der Unternehmensverflechtung zu beobachten, die einer neuen finanzmarktorientierten Leitvorstellung Rechnung trägt. Kontrollmechanismen und Leitorientierungen des koordinierten Marktwirtschaftsmodells werden davon geprägt und verändert. Die veränderten Rationalitätskalküle von Unternehmen und Unternehmensführungen schaffen eine neue soziale Definition von Realität, die mit ihrer Finanzmarktorientierung deutlich von den (vielfach zu stark idealisierten) Vorstellungen der Eigentümerunternehmer abweicht. Netzwerke als Kontrollmechanismen werden zu Gunsten von Marktkräften zurückgedrängt (Beyer 2006). Im Gleichzug verlieren die etablierten Koordinationsmechanismen im Modell Deutschland an Bedeutung für die Unternehmen. Die Verbände sind hiervon insofern betroffen, als die Güter, die sie anbieten, – zu einem beachtlichen Teil Koordinationsleistungen – an Nutzen stiftender Wirkung einbüßen. Die Folgen sind absehbar und können teilweise bereits beobachtet werden: weniger Engagement in den Verbänden und höherer Druck auf die Verbandsführungen, während die individuellen Mitgliedsinteressen aufgewertet werden. 6
Unternehmerverbände im Transformationsprozess
Die vielfältigen Veränderungen in den Unternehmen, auf und zwischen den Märkten, im politisch-staatlichen System und in der Gesellschaft sind auch an den kollektiven Interessenorganisationen der deutschen Wirtschaft nicht spurlos vorübergegangen, wenngleich sie auf den ersten Blick den Eindruck äußerlicher Unversehrtheit vermitteln. Schließlich hat sich das dreisäulige System trotz mancher Anfechtungen gehalten. Doch dieser erste Eindruck trügt. Tatsächlich konnten die Verbände in vielen Kontexten nur reagieren und den Wandel der Umwelt kaum aktiv mitgestalten. Um den Wandel der Verbände sowie der Verbändelandschaft im Hinblick auf deren mögliche strategische Optionen besser verstehen zu können, sei noch einmal ein Blick auf die treibenden Kräfte der Veränderung gerichtet, die sich unter systematischen Gesichtspunkten in folgende Dimensionen unterscheiden lassen: 1.
Globalisierung und Europäisierung führen zu neuen Kräfteverhältnissen zwischen und innerhalb der Branchen, was von den Verbänden erhebliche Anpassungsstrategien verlangt. Einerseits erweitert sich dadurch der Handlungsrahmen der Verbände. So müssen sie nunmehr stärker denn je auch auf europäischer Ebene präsent sein. Andererseits lassen sich die divergenten Interessen der Mitglieder immer schwerer zu Erfolg versprechenden Strategien bündeln. Insbesondere große Unternehmen suchen zuneh-
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2.
3.
Einleitung mend nach eigenen, von den Verbänden unabhängigen und zu diesen komplementären Formen der Interessenvertretung, während sich mittlere und kleinere häufiger ganz von den etablierten Verbänden abwenden. Im politischen Bereich sind die Bedingungen der Kooperation zwischen Staat und Unternehmerverbänden komplexer, unüberschaubarer, ja unberechenbarer geworden, so dass einfachere Formen des Direktlobbyings zwar in besonderen Einzelfällen funktionieren können, aber nicht dem Regelfall entsprechen. Die Zeiten, in denen der BDI-Präsident sagen konnte, „ich brauche nur einmal zum Kanzler zu gehen, und die ganze Aufwertung ist endgültig vom Tableau“ 3 sind passé. Folglich bemühen sich die Unternehmen – in Reaktion auf zunehmend unsicher werdende tradierte Einflussformen – um neue Einflusspolitiken mit direkten Zugängen zu einzelnen politischen Entscheidungsträgern ebenso wie insgesamt um die Schaffung einer für sie günstigen Umwelt. Der ökonomische Strukturwandel hin zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wird davon begleitet, dass sich in den etablierten Verbandsstrukturen eine Repräsentationslücke eingeschlichen hat. Denn die Unternehmen aus diesen Bereichen sind seltener und deutlich schwächer in den verbandlichen Strukturen verankert. Auch wenn sie zuweilen eigene Kollektivorganisationen gründen, ist mit diesem Schritt ihr politischer Einfluss nicht automatisch gesichert. Zudem greifen die neuen Unternehmen häufiger auf private Angebote wie etwa individuelle Rechts- und Arbeitswissenschaftsberatungen zurück und können in einer zusätzlichen Verbandsmitgliedschaft keinen rechenbaren Nutzen erkennen.
Diese Repräsentationslücke könnte sich zu einer erheblichen Herausforderung für das deutsche Modell entwickeln. Um einen solchen Angriff auf die Grundmauern des deutschen Modells abzuwehren und eine auf das Gesamtsystem bezogene Handlungsfähigkeit sicherzustellen, drängt sich die Frage auf, wie das haupt- und vor allem das ehrenamtliche Personal, das für die Verbände essentielle Bedeutung besitzt, in Zukunft gewonnen werden kann. Dies bringt die Frage nach den selektiven Nutzenanreizen auf die Tagesordnung, die nach der Erosion eines unhinterfragten Dabeiseinwollens anders als vorher beantwortet werden wird. All diese Phänomene deuten darauf hin, dass wir gegenwärtig weniger Zeugen eines „Jahrhunderts der Verbände“ als eines Zyklus sind, in dem die Mitglieder mit ihren aktiven oder auch passiven Möglichkeiten und neben ihnen ebenso die Nichtmitglieder zunehmend den Ton angeben und das Handeln der Verbände strukturieren. Gegen diese These spricht auch nicht, dass in Krisenzeiten, wie in der Weltwirtschaftskrise 2009/2010, die Verbandsspitzen durch den Staat in stärkerem Maße krisenkorporatistisch einbezogen werden. Denn dies scheint eher ein strukturelles Seitenphänomen abzubilden, das für sich genommen unzureichend ist, um den aufgezeigten Trend, der die Verbandsspitzen und damit auch die Einflusslogik geschwächt hat, umzukehren. Das Zeitalter der Mitglieder scheint gleichermaßen die Kräfte von Markt und Staat zu stärken; zumindest aber schwächt diese Entwicklung die Selbstorganisationskräfte des koordinierten Kapitalismus des deutschen Modells. Welche Folgen haben diese Entwicklungen für die Unternehmerverbände in den drei Säulen wirtschaftlicher Interessenvertretung? Werden die Mitgliedschaftsentwicklungen betrachtet, zeigen sich deutliche Unterschiede. Kammern und Kammerverbände sind aufgrund der Zwangsmitgliedschaft bislang von keinen Veränderungen berührt. Zwischen 3
Fritz Berg, zitiert nach Eschenburg 1989: 115.
Die deutsche Unternehmerverbändelandschaft
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den Industrie- und Arbeitgeberverbänden sind die Unterschiede offensichtlich. Eine Erosion der Mitgliedschaft im eigentlichen Sinne lässt sich für die Wirtschaftsverbände nicht, wohl aber für die Arbeitgeberverbände konstatieren. Die Organisationsgrade bei den Industrieverbänden gehen kaum zurück, wenngleich es in manchen Fällen zu einer dramatischen Ausdifferenzierung gekommen ist (vgl. pharmazeutische Industrie). Anders sieht es bei den Arbeitgeberverbänden mit Tarifbindung aus. Diese haben durch die selbstverantwortete Bildung von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung den Weg in Richtung einer nachhaltigen De-Institutionalisierung eingeschlagen. Diese divergierenden Entwicklungen sprechen nicht dafür, dass ein allgemeiner Trend der Individualisierung und des sozialen Wandels für den Rückgang der Bindungswirkung verantwortlich zu machen ist. Unternehmer und Unternehmen als Mitglieder haben durchaus klare rationale Interessen, die ihnen eine Verbandsmitgliedschaft entweder vorteilhaft oder nachteilig erscheinen lassen. Die Mitgliedschaft muss Nutzen stiftend wirken. Das scheint bei den Arbeitgeberverbänden weniger der Fall zu sein als bei den Wirtschaftsverbänden. Hier macht sich bemerkbar, dass der Flächentarifvertrag von vielen kleinen und mittleren Unternehmen eher als ein Kostenfaktor denn als ein Vorteil betrachtet wird. Der Zugewinn durch die Schaffung einheitlicher Wettbewerbsbedingungen und die Reduktion von Transaktionskosten, die daraus folgt, dass einzelne Unternehmen keine internen Haustarife verhandeln müssen, scheint für einen beachtlichen Teil der Unternehmen geringer auszufallen als die Kosten, die sie für die Bindung an einen Flächentarifvertrag aufwenden müssen. Die Reaktionen auf die wachsenden Herausforderungen, vor denen die Verbände der Wirtschaft stehen, fallen entsprechend unterschiedlich aus. Gleichwohl kann festgehalten werden, dass die bisher eingeschlagenen Gegenstrategien zu schwach waren, um die Einfluss- und Durchsetzungsfähigkeit der deutschen Wirtschaftsverbände wieder nachhaltig zu stärken. Die Unternehmerverbände haben sowohl gegenüber den einzelunternehmerischen Aktivitäten wie auch gegenüber dem Staat und den supranationalen Akteuren an Bedeutung verloren. Zugleich können sie einerseits auf eine hohe institutionelle Kontinuität verweisen und andererseits haben sich ihre internen Strukturen, Erwartungen und Handlungsmöglichkeiten grundlegend modifiziert. Die Option Verband ist von einer herausragenden zu einer zusätzlichen, mühsam zu entwickelnden Option mutiert. Für den Zusammenhalt und die Steuerungsfähigkeit des deutschen Kapitalismus im europäischen Kontext kann diese Pluralisierung durchaus angemessen sein. Sie ergab sich aber weniger durch die aktiv gestaltende Hand der verbandlichen Kommandohöhen als vielmehr durch das individuelle Interesse und den Eigensinn einzelner Unternehmer. Damit hat sich nicht eine Politik der Individualisierung und Atomisierung durchgesetzt, sondern eine neue Mischung aus alten und neuen Verbänden, die fallweise ihre Möglichkeiten austarieren und auszunützen versuchen werden. Nichtsdestotrotz lässt sich insgesamt eine enorme Erosion der Selbststeuerungskompetenzen konstatieren. 7
Erosion des kollektiven Handelns – Ende des deutschen Modells?
Kollektives Handeln ist voraussetzungsvoll. Das gilt insbesondere im Bereich der Wirtschaft, wo nicht nur gegensätzliche Interessen wie die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufeinandertreffen, sondern zusätzlich eine extrem komplexe und vielfältige Interessenkonstellation der Akteure vorliegt. Das deutsche Modell, das sich – gestützt durch große
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Einleitung
Verteilungsspielräume infolge wirtschaftlichen Wachstums – aus der Nachkriegskonstellation entwickelte, galt lange Zeit als ein sehr erfolgreiches Beispiel der kooperativen Selbststeuerung in den Bereichen Wirtschaft und Arbeit; für einzelne, kritische Situationen war es mit moderaten staatlichen Flankierungsinstrumenten bestückt. Mit einer zunehmenden globalen Interdependenz der Volkswirtschaften und einer darüber hinaus zu beobachtenden Erosion der eigenen Strukturen steht das deutsche Modell jedoch auf dem Prüfstand. Fragen an seine Zukunft stellen sich in mehreren Dimensionen. Nicht nur die Strukturen der Verbände, sondern auch die des Marktes und des Staates sind in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen.
Angesichts einer zunehmenden EU-weiten Regulierung und Gesetzestätigkeit und der sich verstärkenden wirtschaftlichen Globalisierungstendenzen stellt sich zum einen die Frage, ob die für das deutsche Modell notwendige politisch-staatliche Flankierung noch funktioniert und weiterhin funktionieren kann. Da die Erosion der Mitglieder- und Organisationsbasis nicht nur Industrie- und Arbeitgeberverbände, sondern ebenso die Gewerkschaften betrifft, gilt es zu bedenken, ob die tradierten Formen kollektiver Handlungsmöglichkeiten ihren Zenit überschritten haben. Das deutsche Modell selbst ist auf ein relatives Gleichgewicht, also eine vergleichbare Stärke von Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, angewiesen, wenn es funktionieren soll. Sind die Verbände als „Leistungsorganisationen“ nicht mehr attraktiv genug, um ein kollektives Verständnis eines gemeinsamen Interesses zu entwickeln? Haben Generationenwandel und Individualisierungsprozesse dazu geführt, dass die Organisationen in die Zange zwischen sich reduzierenden politischen Interventionschancen angesichts der Europäisierung der Politik und zunehmenden Anforderungen ihrer Mitglieder und potentiellen Mitglieder geraten? Wenn sich andererseits die Repräsentationslücken, die die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände in bestimmten Branchen und hinsichtlich des Mittelstandes zu verzeichnen haben, schließen ließen, sich die Verbandsmitgliedschaft insgesamt also wieder erhöhte, ließe sich die aus dieser Entwicklung resultierende Vielfalt überhaupt kollektiv repräsentieren? Sind Tendenzen der De-Institutionalisierung kollektiver Interessenvertretung, wie sie sich in den OT-Verbänden ausdrücken, Zeichen der Schwächung oder können diese positiv als eine innovative, gelungene Organisationsreform, um Mitglieder zu halten, interpretiert werden?
Einfache Antworten werden sich für diese komplexen Sachverhalte wohl kaum finden lassen. Vielmehr gilt es diagnostisch auszuloten, was jeweils mögliche Implikationen und Lösungsmöglichkeiten sind. Ein gewisses Maß an Spekulation und Unsicherheit ist dabei unumgänglich. Was die staatliche Flankierung des deutschen Modells betrifft, sind die Zeiten auch für die nationalen Entscheidungsträger komplexer geworden. Gleichwohl bestehen auch weiterhin Handlungsspielräume auf nationaler Ebene. Globalisierung und Europäisierung verringern die nationalstaatlichen Handlungsmöglichkeiten weit weniger, als vielfach in den Debatten um Globalisierungsprozesse angenommen wird. Am Beispiel der Entgeltpolitik lassen sich durchaus ungenutzte Gestaltungsspielräume aufzeigen. Deutschland steht mit
Die deutsche Unternehmerverbändelandschaft
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einer Tarifbindung von 63 Prozent der Beschäftigten an13. Stelle in der EU, mit dem Organisationsgrad der Arbeitgeber an der 9. Stelle der EU-Länder. Dass der Flächentarifvertrag vielen Unternehmen als zu teuer und zu unflexibel erscheint, kritisieren auch die Arbeitgeberverbände – wohlgemerkt, sie beklagen die Kritik der verbandsfreien Unternehmen am Flächentarifvertrag, nicht den Flächentarifvertrag selbst. Die Allgemeinverbindlicherklärung ist in Deutschland zwar möglich, wird aber immer seltener genutzt. Gegenwärtig sind weniger als ein Prozent aller Tarifverträge allgemeinverbindlich. In anderen Ländern der EU wird die Allgemeinverbindlicherklärung hingegen häufig angewendet. In neun EUStaaten werden dabei sogar alle Beschäftigten einbezogen, ungeachtet dessen, ob sie einer Gewerkschaft angehören oder nicht. Eine politische Flankierung von Arbeitsgeberverbänden und Gewerkschaften z. B. durch die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, ist also möglich. Eine Verbandsflucht oder -abstinenz, die sich häufig auf die hohen Kosten durch die Tarifverträge beruft, würde sich dann nicht lohnen. Durch diese Aufwertung kollektiver Vereinbarungen könnten Arbeitgeberverbände ebenso wie ihr institutioneller Gegenpart, die Gewerkschaften, vermeintliche Leistungsdefizite auffangen, Integration erhöhen, durch die rechtliche Flankierung Verpflichtungsfähigkeit wiederherstellen und damit De-Institutionalisierungstendenzen wirksam entgegentreten. Allein mit diesem Schritt könnte natürlich den vorhandenen Repräsentationslücken und dem zunehmenden Desinteresse an verbindlichen kollektiven Organisationsformen und verbandlichem Engagement nicht beigekommen werden. Vielmehr bedarf es auch der Schaffung eines gemeinsamen Bewusstseins für den Nutzen, den die Selbstorganisation zwischen Markt und Staat in beide Richtungen entfalten kann. Die Erkenntnis dieser Nutzen bringenden Wirkung von Selbstorganisationsformen setzt allerdings voraus, dass zunächst ein Verständnis der gemeinsamen Interessen definiert werden kann. Die Bankenkrise bietet allen Anlass dazu, bloßer Finanzmarkt- und Shareholder-Value-Logik eine Absage zu erteilen und den deutschen Weg, die industrielle Basis weiterhin zu stärken, fortzusetzen, ohne die wissensgesellschaftlichen Grundlagen zu vernachlässigen. Das deutsche Modell war gerade deshalb so erfolgreich, weil es sich in der Vergangenheit nicht der Dominanz der Finanzmarktlogik angeschlossen hat, sondern einer industrialistischen Produzentenlogik folgte. Zugleich erwies sich die damit einhergehende, exportorientierte Institutionenordnung nicht als fähig, die Krise, die auch eine Krise des deutschen Modells ist, abzuwehren. Sie war weder hinreichend dazu in der Lage die finanzmarktgetriebenen Dynamiken einzudämmen noch das rasante Wachstum des Dienstleistungs- und Wissenssektors aufzuhalten. Wenn das deutsche Modell erhalten werden soll, so wird es sehr darauf ankommen, ob es gelingt, die kooperativen Beziehungen zwischen Verbänden und Staat wieder zu stärken. Nur so können die koordinierenden und korrigierenden Selbststeuerungspotentiale der Wirtschaftsakteure aufrechterhalten werden. Denn sicher ist, der Kapitalismus benötigt keine Verbände, die zwischen Markt, Staat und Gesellschaft vermitteln; das deutsche Modell und die soziale Marktwirtschaft hingegen können ohne handlungsfähige Verbände im Bereich Wirtschaft und Arbeit nicht überleben.
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Einleitung
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Teil I Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Geschichte und Funktion der deutschen Arbeitgeberverbände Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Wolfgang Schroeder
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Einleitung
Die Arbeitgeberverbände sind in Deutschland in der historischen Abfolge des Entstehens der unternehmerischen Kollektivakteure als Letztes geschaffen worden. Am Anfang standen Handelskammern und Wirtschaftsverbände. Neben den Wirtschaftsverbänden, deren zentrales Augenmerk den Gütermärkten gilt, und den eher regional operierenden Industrieund Handelskammern bilden die Arbeitgeberverbände die dritte Säule des kollektiven Handelns der industrie- und dienstleistungsorientierten Unternehmen in Deutschland. Ihr Aufgabenfeld konzentriert sich einerseits auf die interessenorientierte Gestaltung der Arbeitsmärkte und andererseits auf die lobbyistisch orientierte Beeinflussung staatlich organisierter Sozialpolitik. Als freiwillige Zusammenschlüsse von miteinander konkurrierenden Unternehmen, die sich im Hinblick auf ihre Ressourcenausstattung und Handlungsmöglichkeiten stark unterscheiden, haben sie gegenüber ihren Mitgliedern einen schwereren Stand als Wirtschaftsverbände und Handelskammern. Ihr Zweck ist es trotz divergierender Partialinteressen und trotz des ausgeprägten Strebens der Unternehmen nach Entscheidungsautonomie kollektives Handeln zu organisieren, das zumindest in Teilbereichen auch Vorgaben für unternehmerisches Handeln macht. Nachdem sie ursprünglich als Gegenverbände zu den Gewerkschaften gegründet wurden, entwickelten sie sich im Laufe der Zeit zu einem zentralen Akteur der deutschen industriellen Beziehungen, der zusammen mit den Gewerkschaften Tarifverträge aushandelt und die sozialen Interessen der Unternehmen gegenüber staatlichen und halbstaatlichen Organisationen vertritt. Zudem beteiligen sich Arbeitgeberverbände an staatlichen Gremien sowie an der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen. Bisher haben sie meist ihre Anpassungsfähigkeit an veränderte Rahmenbedingungen bewiesen. Gegenwärtig verfolgen sie zum Zweck der Umweltanpassung eine Strategie der verbands- und tarifpolitischen Differenzierung, die sich auch in Organisationsreformen niederschlug. Damit einher geht ein tarifpolitischer Paradigmenwechsel hin zu einer dezentralisierten und flexibilisierten Tarifvertragslandschaft. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich auch der Charakter und die Rolle der Arbeitgeberverbände im „deutschen Modell“ verändern beziehungsweise ob diese Anpassungsprozesse selbst ein Ausdruck der Veränderung des „deutschen Modells“ sind und welche Folgen sich daraus für die Arbeits- und Sozialbeziehungen ergeben. Versucht man festzuhalten, was Arbeitgeberverbände sind und welche Funktion sie haben, so lassen sie sich aus einer allgemeinen verbändewissenschaftlichen Perspektive als intermediäre Organisationen verstehen, die durch Interessenartikulation, Interessenaggregation sowie Interessenmobilisierung letztlich auch einen Beitrag zur Systemintegration leisten. Ihre Fähigkeit und Rolle bei der politischen Steuerung der Arbeits- und Sozialbeziehungen fußt darauf, dass sie strukturell eingebettet sind in das Zusammenspiel
I.1 Geschichte und Funktion der deutschen Arbeitgeberverbände
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zwischen Unternehmen, Gewerkschaften und staatlichen Institutionen. Die Wandlungsund Lernprozesse, denen die Arbeitgeberverbände derzeit unterliegen, sind ohne deren historische Entwicklung nicht zu verstehen. Dabei geht es um die Bestimmung von Etappen, die die Arbeitgeberverbände durchliefen: Wie haben sich Ziele, Aufgaben und die Organisation der deutschen Arbeitgeberverbände im Laufe der Zeit gewandelt; welche Art des Funktionswandels haben sie erlebt? 2
Stand der Forschung
Über die deutschen Arbeitgeberverbände liegt eine Reihe historischer, soziologischer und politikwissenschaftlicher Studien vor, gleichwohl fehlt bislang eine wissenschaftliche Gesamtmonographie. Einige der vorliegenden Studien stammen aus der Feder von Verbandsfunktionären. Dazu zählen insbesondere die Arbeiten von Ernst-Gerhard Erdmann (1966), Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) von 1949 bis 1963, der sich mit der Geschichte der deutschen Arbeitgeberverbände von ihrer Gründung bis einschließlich 1965 unter Berücksichtigung ihres sozialgeschichtlichen Hintergrundes auseinandersetzt. In der 1990 erschienen Festschrift anlässlich des hundertjährigen Bestehens von Gesamtmetall, dem Dachverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie, befasst sich Luitwin Mallmann, derzeit Hauptgeschäftsführer von METALL NRW, in ausführlicher und gründlicher Form mit der Geschichte des Verbandes. In einem Sammelband zum fünfzigjährigen Bestehen der BDA, herausgegeben von Reinhard Göhner (1999), dem Hauptgeschäftsführer der BDA, sind auch zwei Beiträge enthalten, die die Geschichte der BDA aus wissenschaftlicher Sicht betrachten. Diesen Schriften ist mehr oder weniger gemein, dass sie die Arbeitgeberverbände als gestaltungsorientierte Kräfte präsentieren, die auf der Grundlage eines festen ordnungspolitischen Verständnisses die Erfolgsgeschichte des deutschen Sozialstaates mitgetragen haben. Neben den historisch ausgerichteten Jubiläumsschriften, die wichtig sind, um die Selbstdefinition der Verbände, die Abfolge der Ereignisse und deren Zusammenhänge zu verstehen, gibt es auch wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten aus der Feder von Verbandsfunktionären wie jene von Martin Völkl (2002), die sich den Integrationsproblemen von Arbeitgeberverbänden in der mittelständischen Industrie widmet. Diese Arbeit spürt die Herausforderungen für ein kollektives Handeln der Arbeitgeberverbände an der Stelle auf, die sich in den letzten Jahren als am stärksten verwundbar erwiesen hat, nämlich bei der Vertretung von kleinen und mittelständischen Betrieben. Die vorliegenden wissenschaftlichen Einzelfallstudien beziehen sich vornehmlich auf die Metallindustrie. Achim Knips (1996) analysiert die Entstehung und Entwicklung der Arbeitgeberverbände zwischen 1888 und 1914 auf einer quellengesättigten Basis. Er berücksichtigt dabei auch die Einflüsse von Gewerkschaften und Staatspolitik sowie das Wechselspiel zwischen zentraler und regionaler Ebene. Zugleich gelingt es ihm, deutlich herauszuarbeiten, dass die Vertreter der Arbeitgeberverbände bereits frühzeitig internationale Beispiele studierten, um ihre eigenen Handlungspotentiale gegenüber Staat und Gewerkschaften zu erweitern. Claus Noé (1970) schrieb eine empirische Untersuchung, die sich dem Konflikt zwischen Gesamtmetall und der IG Metall im Frühjahr 1963 widmet. Hans-Hermann Hartwich (1967), der sich mit den Arbeitgeberverbänden der Berliner Metallindustrie in der Weimarer Republik befasst, stützt sich ebenfalls auf eine umfängliche Quellenbasis. Seine
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Fragestellungen gehen deutlich über verbandsbezogene Inhalte hinaus in den Bereich der Wechselbeziehungen zwischen Staat und Verbänden. Um die Problemlagen der Nachkriegsund Aufbauzeit besser zu verstehen, ist die Arbeit von Eva Moser (1990) sehr hilfreich, die den Wiederaufbau der bayerischen Metallarbeitgeberverbände zwischen 1947 und 1962 untersucht. Neben den historischen Studien liegt eine Reihe fundierter soziologischer und politikwissenschaftlicher Arbeiten vor. Roswitha Leckebusch (1966) sucht nach Antworten auf die Frage, wie sich die Arbeitgeberverbände im historischen Verlauf verändert haben. Während die Studie von Leckebusch eher beschreibend ausfällt, will die bis auf den heutigen Tag mit großem Gewinn zu lesende analytische Studie von Hansjörg Weitbrecht (1969), der die Konflikt- und Handlungsmuster der Metall-Arbeitgeberverbände in den 1960er Jahren untersucht, der Struktur kollektiven Handelns auf die Schliche kommen. Er knüpft mit seiner Studie an analytische Befunde der US-amerikanischen Forschung an, wie sie insbesondere John T. Dunlop (1958) und Clark Kerr et al. (1960) in dieser Zeit zu Tage gefördert haben. Die Studie von Hansjörg Weitbrecht bildet eine wichtige Brücke von den bis dahin eher historisch beschreibenden Studien hin zu den analytischen Arbeiten der modernen Sozialwissenschaften, die hinsichtlich der Handlungsdilemmata der Arbeitgeberverbände in den 1970er und 1980er Jahren – auf systemtheoretisch fundierter Basis – von Hajo Weber (1987) und Wolfgang Prigge (1987) vorgelegt wurden. Leider ist das von Wolfgang Streeck im Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in den 1980er Jahren geleitete Großprojekt „The Organisation of Business Interests“ nicht mit einer großen Monografie abgeschlossen worden. Gleichwohl hat Streeck mit seinen eigenen Arbeiten wesentlich zum Verständnis der deutschen Arbeitgeberverbände beigetragen. In der von Wolfgang Schroeder und Burkard Ruppert (1996) erarbeiteten Studie zu den Ursachen der Austritte aus Arbeitgeberverbänden wurde erstmals auf empirischer Basis dem Problem der Verbandsaustritte nachgegangen. Mit dieser Studie konnte deutlich gemacht werden, dass einseitige Erklärungsansätze nicht greifen, weil ein komplexes Ursachenbündel, eingebettet in die Transformation des deutschen Modells industrieller Beziehungen, die Rahmenbedingungen für die Organisationsfähigkeit auch von Arbeitgeberverbänden verändert hat. Dieses Ergebnis konnte auch in der Studie von Thomas Haipeter und Gabi Schilling (2006) bestätigt werden, die sich ebenfalls mit der Tarifbindung sowie der Organisations- und Strategiebildung der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie befasst. 3
Historische Entwicklung – Herausforderungen und Reaktionen
Wenn wir von den deutschen Arbeitgeberverbänden sprechen, stechen gemeinhin zwei Namen besonders hervor: einerseits der Dachverband der deutschen Privatwirtschaft, also die „Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände“ (BDA), andererseits Gesamtmetall, der Dachverband der Arbeitgeberverbände der deutschen Metall- und Elektroindustrie, des wichtigsten Bereichs der deutschen verarbeitenden Industrie. Dazwischen liegt ein außerordentlich weites Feld von Arbeitgeberverbänden, die sich auf rund 6.500 Verbände verteilen. Hinzu kommen weitere Verbände, die für den öffentlichen Sektor (vgl. Keller in diesem Band) zuständig sind oder solche, die sich der BDA nicht angeschlossen haben. Mitglieder der BDA sind die überfachlichen Landesverbände sowie die Bundesverbände der Arbeitgeber. Über die Mitgliedsverbände sind somit auch die Arbeitgeberver-
I.1 Geschichte und Funktion der deutschen Arbeitgeberverbände
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bände ohne Tarifbindung Mitglied in der BDA. Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände ist ein Verbändeverband. Dort organisieren sich also keine Einzelfirmen, sondern nur Verbände. Im Jahr 2010 sind dies insgesamt 14 überfachliche Landesvereinigungen und 58 Bundesfachspitzenverbände. Zu diesen Verbänden zählen Anfang 2010 nach Angaben der BDA etwa 1 Million Betriebe mit ungefähr 20 Millionen Beschäftigten. Die inhaltliche Koordinations- und die politische Lobbyarbeit findet in starkem Maße auf der Ebene des Dachverbandes und der Landesvereinigungen statt. Alleine auf der Ebene der BDA arbeiten gegenwärtig rund 75 Ausschüsse und Arbeitskreise, in denen sich Betriebspraktiker und Verbandsmitarbeiter austauschen und die Politik der BDA mit vorbereiten. Zudem sind in der BDA und den Landesvereinigungen auch die sozialpolitischen Aufgaben verankert, vor allem die Mitarbeit in der Selbstverwaltung des deutschen Sozialversicherungsstaates. Soweit ein kurzer Blick auf die gegenwärtige Organisationslandkarte der deutschen Arbeitgeberverbände; im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie sich diese Landkarte entwickeln konnte. Bevor es zur Entstehung von Arbeitgeberverbänden sowie der damit einhergehenden Arbeitsteilung mit den Industrieverbänden kam, existierten lediglich unternehmerische Standesvereinigungen sowie lose Zusammenschlüsse einzelner Unternehmen. Als erster groȕer industrieller Spitzenverband wurde 1876 der „Centralverband Deutscher Industrieller“ gegründet, dem 1895 mit dem „Bund der Industriellen“ eine handfeste Konkurrenz erwuchs. Mit der fortschreitenden Interessendifferenzierung der Unternehmen und der Unternehmerklasse erfolgte zugleich eine Ausdifferenzierung von Interessenverbänden: Branchenbezogene Arbeitsmarktinteressen lösten sich von Gütermarktinteressen. Häufig waren es Wirtschaftsverbände, die separate Arbeitgeberverbände gründeten, um den spezifischen Herausforderungen dieser Märkte nicht nur gütermarktbezogen, sondern auch bezogen auf die Arbeitsbeziehungen mit eigenen Verbänden erfolgreich begegnen zu können. Die zu dieser Zeit entstehende Arbeitsteilung zwischen den Organisationen der Unternehmer in Arbeitgeber- und Industrieinteressen existiert in den meisten anderen Ländern Europas so nicht. 3.1 Entwicklung bis 1945: vom Antistreikverband zum klassenorientierten Tarifakteur Anlass für die ersten Zusammenschlüsse von Arbeitgebern waren meist Streiks. Arbeitgeberverbände gründeten sich während eines Streiks oder danach, um sich für zukünftige Konflikte mit den Gewerkschaften besser zu wappnen. Ein entscheidender Anstoß für die flächendeckende Etablierung von Arbeitgeberverbänden ging vom Streik der Textilarbeiter im sächsischen Crimmitschau (1903/04) aus. Zwar konnte die Spaltung in Befürworter und Gegner einer Anerkennung der Gewerkschaften im Arbeitgeberlager damit nicht aufgehoben werden, aber der Weg hin zur flächendeckenden Bildung von eigenen sozialpolitischen Verbänden war damit vorgezeichnet. Allerdings war den spontan gegründeten Anti-Streikvereinen zunächst häufig nur eine kurze Lebensdauer beschieden (Knips 1996: 117). Für eine dauerhafte Institutionenbildung bedurfte es weiterer Faktoren. Dazu gehörte zum einen der stetige Zuwachs an gewerkschaftlicher Macht, vor allem in der Groȕindustrie (Zapka 1983: 214). Zum anderen forcierten staatliche Organisationshilfen den Prozess der Befestigung von Arbeitgeberverbänden. Dazu gehörten vor allem die unter Bismarck etablierten Sozialversicherungen, das Arbeitsrecht sowie Versuche, staatliche Aufträge nur noch an
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Unternehmen zu vergeben, die bereit waren, Tarifverträge abzuschließen (Knips 1996: 75). In der Frühphase des deutschen Kapitalismus stand der politische Charakter der Verbände im Vordergrund. So kann es auch nicht verwundern, dass nicht wenige Mitglieder den Arbeitgeberverband damals als ein Instrument begriffen, um die Gewerkschaften zu zerschlagen (ebd.: 95). Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, würde man die Bildung von Arbeitgeberverbänden nur als eine Reaktion auf staatliche und gewerkschaftliche Politik verstehen. Denn mit der Verbandsgründung legten die Arbeitgeber nicht nur die Grundlage für ein kollektives Handeln, das sich für Abwehrzwecke „gegen die unberechtigten Bestrebungen der Arbeitnehmer“ (zit. nach: Prigge 1987: 178) eignete – so die zeitgenössische Selbstdeutung eines Arbeitgeberverbandes –, sondern auch für eine überbetriebliche Kommunikation und Koordination zwischen den Unternehmen. Darin besteht sowohl eine wichtige Basis für die Selbstorganisationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft wie auch für die Tarifautonomie. Mit der 1904 gegründeten „Hauptstelle der deutschen Arbeitgeberverbände“, die eher großbetrieblich ausgerichtet war und in der sich die dem tarifpolitisch skeptischen Lager zugehörigen Branchen versammelten (insbesondere die Stahlindustrie), und dem tarifpolitisch aufgeschlosseneren „Verein deutscher Arbeitgeberverbände“ (1904) engagierten sich die ersten Dachverbände für die Vertretung sozialpolitischer Interessen. 1913 wurde mit der „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ diese Spaltung auf der Dachverbandsebene aufgehoben. Ausgehend von ihrer Genese werden die Arbeitgeberverbände in der Literatur häufig als „Gegenverbände“ (Leckebusch 1966) der Gewerkschaften beschrieben. Demzufolge war das wichtigste Instrument der Arbeitgeberverbände, um Mitglieder zu gewinnen und vorhandene Mitglieder enger an den Verband zu binden, zunächst nicht der Tarifvertrag, sondern der politische Wille, eine geschlossene „Abwehrfront“ gegen die Gewerkschaften aufzubauen. Maßnahmen, die zu diesem Zweck eingesetzt wurden, waren nicht nur Aussperrungen und schwarze Listen: Vielmehr mussten sich die Mitglieder im Falle eines Streiks – bei Androhung einer Konventionalstrafe – dazu verpflichten, „Schmutzkonkurrenz“ zu vermeiden und Streikarbeit nicht zu übernehmen. Bis heute besteht eine wichtige Aufgabe der Arbeitgeberverbände darin, zu entscheiden, wann und wie auf einen Streik mit einer Aussperrung reagiert werden soll. Durch diese Kompetenz ist das Instrument der Aussperrung der beliebigen Verfügbarkeit durch den Einzelunternehmer entzogen und einer verbändedemokratischen Kontrolle unterworfen (Knips 1996: 101). Vermutlich ist die Regulierung der Aussperrung eine wichtige Zivilisierungs- und Rationalisierungsleistung des arbeitspolitischen Konfliktfeldes, an die weiter gehende staatliche Einhegungen und Schritte der Verrechtlichung anknüpfen konnten. Durch die Übertragung quasi staatlicher Hoheitskompetenzen im ersten Weltkrieg (Hilfsdienstgesetz von 1916), eine tripartistische Verhandlungsstruktur (Zentralarbeitsgemeinschaft in den Jahren 1918í1922) und schließlich das kollektive Arbeitsrecht (1919) wurden die Arbeitgeberverbände gegenüber den Unternehmen aufgewertet. Weil dies aber noch keine hinreichende Basis bildete, um die Einflusskompetenz gegenüber den Mitgliedern im tarifpolitischen Bereich zu legitimieren, setzten die Verbände bereits in der Weimarer Zeit satzungstechnische Mittel ein, um den Einfluss der Verbandsführungen abzusichern. In der Zeit zwischen 1890 und 1933 schufen die meisten Arbeitgeberverbände ein landesweites Verbandsnetzwerk, das sowohl auf ehrenamtlicher wie auch auf professionell-
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bürokratischer Grundlage beruhte. Kennzeichnend für diese Mischung ist die formale Trennung zwischen ehrenamtlichen Repräsentanten, die in der Regel Eigentümerunternehmer waren, und einer mehrheitlich aus akademisch ausgebildeten Juristen und Volkswirten bestehenden Geschäftsleitung, die als neutrale, quasi treuhänderische Instanz von den konkurrierenden Mitgliedern akzeptiert wurde und die laufenden Kontakte zu den Mitgliedern wahrnahm. Dabei konnte man sich an der Struktur der industriellen Interessenverbände orientieren. Man spricht hier auch von einem „strengen Dualismus zwischen politisch verantwortlichen ehrenamtlichen Vorstandsmitgliedern und weisungsgebundenen hauptamtlichen Geschäftsführern“ (Streeck 1972: 142). Die strenge Weisungsgebundenheit der Geschäftsführer soll sicherstellen, dass nicht private Karriereinteressen, sondern der Wille der Mitgliedsunternehmen für ihr Handeln maßgebend ist. Stabilität erreichten die für die Verbandsarbeit notwendigen Verbindungen zwischen betrieblichen, lokalen sowie regionalen Akteuren und dem Spitzenverband darüber hinaus dadurch, dass auf den Führungsebenen traditionell ein hohes Maß an personeller Kontinuität bestand, das auch noch nach 1945 in der Bonner Republik anzutreffen war. Beispielsweise hatte der Gesamtverband der Metallindustrie von 1891 bis 1933 nur drei Vorsitzende und vier Hauptgeschäftsführer. Als 1933 die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände durch die NSDAP aufgelöst wurden, blieben die wirtschaftlichen Interessenvertretungen bestehen. Sie mussten jedoch vielfach organisatorische und nominelle Umstellungen bei ihrer Integration in das neue institutionelle Netzwerk des NS-Staates hinnehmen. Der Ideologie der Volksgemeinschaft folgend wurden die sozialpolitischen Aktivitäten der Arbeitgeber fortan durch die Deutsche Arbeitsfront (DAF) wahrgenommen. Dieser institutionellen Diskontinuität stand eine personelle Kontinuität gegenüber: Die Mehrheit derjenigen, die bis zu diesem Zeitpunkt für die Arbeitgeberverbände gearbeitet hatten, wurde von den Wirtschaftsgruppen, den Reichstreuhändern der Arbeit oder anderen NS-Organisationen wie der DAF übernommen (Moser 1990: 36 ff.). 3.2 Arbeitgeberverbände nach 1945: Konsolidierung als Tarifvertragspartei Nach 1945 wurde die bis heute bestehende arbeitsteilige Struktur von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband sowie Industrie- und Handelskammer in den meisten Branchen wieder aufgebaut und die arbeitgeberverbandslose Zeit während des NS-Regimes beendet. Mit einiger Verzögerung, die durch die Lizenzierungspolitik der Alliierten bedingt war, kam es zur offiziellen Wiedergründung der Dachverbände unter neuem Namen. Als Spitzenorganisation der Arbeitgeberverbände gründete sich am 28.1.1949 die „Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände“ (BDA), in der sich Bundesfachverbände und Landesvereinigungen von Arbeitgebern zusammenschlossen. Da die Kompetenz der Tarifpolitik bei den regionalen Arbeitgeberverbänden liegt, in denen Unternehmen Direktmitglieder sind, 1
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Neben Verbänden, in denen Branchenverbände und Unternehmen Mitglieder sind, gibt es auch Organisationen mit persönlicher Mitgliedschaft: Dazu gehören mittelständische, konfessionelle und geschlechtsspezifische Arbeitgeberverbände. So versteht sich etwa die „Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer“ (ASU) als Sprachrohr kleiner Unternehmen. Phasenweise gelingt es solchen Organisationen, eine hohe publizistische Aufmerksamkeit für ihre Positionen zu erreichen (vor allem auf dem Gebiet der Tarifpolitik). Ein Beispiel für eine konfessionelle Standesorganisation ist der Bundesverband Katholischer Unternehmer, der vor allem für die Interessen der Unternehmen innerhalb des Katholizismus wirbt. In seinen Reihen wurde
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
konzentriert sich die Arbeit der BDA auf die Mitgestaltung der Arbeits- und Sozialpolitik, die Vertretung der unternehmerischen Sozial- und Gesellschaftspolitik gegenüber dem politischen System, den Gewerkschaften und der Öffentlichkeit, Informations- und Beratungsarbeit und schließlich die Koordination der Lohn- und Tarifpolitik. Somit wurde nach 1945 wieder an das Organisationsprinzip angeknüpft, bei dem die Vertretung von Arbeitgeber- und Industrieinteressen getrennt voneinander erfolgt, so dass Wirtschaftsverbände die wirtschaftspolitischen Interessen gegenüber dem politischen System und Arbeitgeberverbände die sozialpolitischen Interessen der Mitgliedsfirmen gegenüber staatlichen und halbstaatlichen Organisationen vertreten. 2 Neben ihrer tarifpolitischen Funktion sind Arbeitgeberverbände durch ihre personelle Beteiligung an der sozialen Selbstverwaltung institutionell in das soziale Sicherungssystem eingebunden. Das Sozialversicherungsgesetz von 1952 (seit 1977 SGB IV) garantiert ihnen – in der Regel gemeinsam mit den Gewerkschaften – eine Vertretung in den Führungsgremien. Allerdings blieb die Trennung in einen Arbeitgeber- und einen Wirtschaftsverband in der Metall- und Elektroindustrie bis in die 1950er Jahre hinein umstritten. Zu diesen Spannungen trug nicht nur der Zustand während der nationalsozialistischen Zeit bei, sondern auch, dass manche Befürworter integrierter Verbände in der Metallindustrie auf die Textil-, Bau- und Holzindustrie verweisen konnten, wo es Ende der 1940er Jahre zur Bildung solcher Verbände gekommen war. Jedoch änderte sich nichts an der bis heute vorherrschenden (und zugleich umstrittenen) Arbeitsteilung auf der Bundesebene. Wegen der manchmal auftretenden inneren Spannungen zwischen BDI und BDA in wichtigen sozialpolitischen Fragen, aber auch wegen der in manchen Bereichen vorhandenen Doppelarbeit sowie der damit einhergehenden Reibungsverluste gab es immer wieder Versuche, diese Trennung zur Disposition zu stellen. Anfang der 1960er Jahre erfolgte der erste ernsthafte Versuch, die Dachverbände von BDI und BDA zu fusionieren, der ebenso scheiterte wie alle folgenden. Nach der durch den Einfluss der Besatzungsmächte verzögerten Wiedergründung stellten die 1950er Jahre ein „politisches Erprobungsjahrzehnt“ dar, in dem die Arbeitgeberverbände erst langsam an Interaktionskompetenz, Rollengewissheit und Interessenformulierungskapazität gewannen. Für die größten deutschen Arbeitgeberverbände, die in der Metall- und Elektroindustrie zu finden sind, wurde diese Phase erst mit dem Tarifkonflikt des Jahres 1963 abgeschlossen. Damals stellten sie mit der ersten Flächenaussperrung in der Nachkriegsgeschichte unter Beweis, dass sie auf der Ebene des kollektiven Handelns als ein der Industriegewerkschaft Metall ebenbürtiger Gegner agieren konnten, ohne den sozialen Frieden zu gefährden. Dieser Konflikt lieferte gewissermaßen eine Folie für die Selbstvergewisserung, ein nach innen und auȕen voll handlungsfähiger Akteur zu sein, der auf der Basis einer längerfristigen Strategie situationsadäquat agieren kann, mit Ideologieund Deutungskompetenz ausgestattet ist, aussperrungs-, verhandlungs- und verpflichtungsfähig ist und die Fähigkeit besitzt, Abweichler zu sanktionieren (Weitbrecht 1969; Noé 1970). Unter den Bedingungen eines exportorientierten, durch nationale Regulation beeinflussbaren Wirtschaftswachstums, das sich stetig und kaum von Krisen durchbrochen ent-
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1957 das Konzept der bruttolohnbezogenen Rente entwickelt (Schreiber-Plan). Die Vereinigung der Unternehmerinnen ist ein Beispiel für einen geschlechtsspezifischen Verband. Bei der Sozialgesetzgebung tritt die BDA seit Langem mit einer eigenen Programmatik hervor. Herausragende Beispiele dafür sind das im Jahre 1953 entstandene Programm „Gedanken zur sozialen Ordnung“ oder das Programm „Sozialstaat vor dem Umbau. Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit sichern“ aus dem Jahre 1994.
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wickelte, entfalteten sich die Arbeitgeberverbände zu dynamischen lohnpolitischen Akteuren. Dies beinhaltete auch eine Akzeptanz der Gewerkschaften, die über die rein formale Anerkennung hinausging und in Gestalt der sogenannten Sozialpartnerschaft, die die soziale Marktwirtschaft fundieren sollte, auch eine ideenpolitische Basis erhielt. Ein weiteres Element dieser fordistischen Konstellation, die das Wachstum und die Handlungsfähigkeit der Arbeitgeberverbände förderte, war die Situation des Kalten Krieges, die durch die klare Konfrontation von Systemalternativen einen positiven Einfluss auf die Organisationsbereitschaft der Unternehmen ausübte. Bis in die 1970er Jahre hinein konnten die Arbeitgeberverbände ihre Mitgliederzahlen somit stetig steigern und ihre Organisationsstrukturen ausbauen. Eine erste Zäsur, die auch Auswirkungen auf die Integrationsfähigkeit der Arbeitgeberverbände besaß, trat Mitte der 1980er Jahre durch die betriebliche Flexibilisierung der Arbeitszeit und den daraus resultierenden Trend einer Dezentralisierung der Arbeitsbeziehungen ein. Zu den veränderten Rahmenbedingungen gehörten auch ein deutlich verlangsamtes wirtschaftliches Wachstum sowie eine gewerkschaftliche Politik, die stark auf das Ziel einer Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit ausgerichtet war (Silvia 1997). Im Zuge der Konsolidierung begannen die deutschen Arbeitgeberverbände nicht nur auf der nationalen Ebene zu agieren, sondern auch auf der europäischen Ebene präsent zu werden. Dort ist vor allem der Dachverband, die „Vereinigung der europäischen Industrieund Arbeitgeberverbände“ (BUSINESSEUROPE, früher: UNICE), von Relevanz, der bereits seit 1958 existiert und mittlerweile 40 Mitgliederorganisationen aus 34 Ländern umfasst, zu denen die BDA als Gründungsmitglied zählt. Neben dem Dachverband bestehen auch europäische Branchenarbeitgeberverbände, die jedoch ähnlich wie der Dachverband nur über geringe Ressourcen verfügen und wenig politischen Einfluss besitzen. Auf der europäischen Ebene wird von den Arbeitgeberverbänden der branchenübergreifende soziale Dialog genutzt, um gemeinsam mit dem Europäischen Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP), der Europäischen Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe (UEAPME) sowie der European Trade Union Confederation (ETUC) Erklärungen und Empfehlungen zu Einzelthemen abzugeben. Getroffene Vereinbarungen können von der EU-Kommission in bindende Rechtsvorschriften überführt werden. Soziale Dialoge existieren in Europa auch auf der sektoralen Ebene für einzelne Wirtschaftszweige. An ihnen beteiligen sich europäische Branchenarbeitgeberverbände, die sich aus nationalen Arbeitgeberverbänden zusammenschließen. Die Sozialpartner können gemeinsame Erklärungen und Empfehlungen zu Einzelthemen abgeben. Bislang lässt sich festhalten, dass die vermehrten Aktivitäten der BDA nicht auf eine gemeinsame Regulation mit den Gewerkschaften zielten, sondern sich primär auf die Lobbyarbeit konzentrierten. 3.3 Entwicklung seit 1990: der Aufbau in Ostdeutschland und die Transformation des deutschen Modells Die organisationspolitische Herausforderung der Wiedervereinigung stellte die Arbeitgeber in Ostdeutschland vor große Aufgaben, warf aber gleichzeitig neue organisatorische Fragen auf (vgl. Schroeder 2000). Eine der Herausforderungen bestand darin, dass der Aufbau in Ostdeutschland ohne den Rückgriff auf DDR-Altverbände erfolgen musste, da die ostdeutschen Firmengründer weder auf eigenen verbandlichen Erfahrungen aufbauen konnten noch über hinreichende Kenntnisse der betriebswirtschaftlichen Praxis unter marktwirtschaftlichen Be-
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
dingungen verfügten. Sie waren weder Unternehmer noch Verbandsfunktionäre, sondern Vertreter des zerfallenden Staatsapparates und der Kombinatsspitzen. Der Verbändeaufbau in den fünf neuen Ländern war somit das Ergebnis ostdeutscher politischer Initiative und westdeutscher Lenkung. Die alternativlose Akzeptanz des westdeutschen Systems führte dazu, dass die bundesdeutschen Verbandsstrukturen eins zu eins übertragen wurden. Auf Arbeitgeberseite wurden zwar die ostdeutschen Funktionäre formal bestätigt; real wurde jedoch für einen nicht näher definierten Zeitraum ein paternalistisches Lehrer-Schüler-Verhältnis installiert, mit dem die faktische tarifpolitische Entscheidungskompetenz bei den westdeutschen Verbänden lag (Hoffmann 1997: 93í139). Auch wenn die verbandspolitischen Vorstellungen unter den ostdeutschen Verbändeinitiatoren nicht einheitlich waren, bestand zunächst Konsens darüber, keine von den westdeutschen Verbändestrukturen unabhängige Entwicklung einzuschlagen. Im Gegenteil: Sie wollten nicht auf die finanzielle, inhaltliche und personelle Unterstützung der westdeutschen Akteure verzichten. Die Gründung der Arbeitgeberverbände in Ostdeutschland kam zunächst losgelöst von der Mitgliederlogik marktwirtschaftlicher Unternehmen zustande und stellte eher eine politische Initiative dar, weshalb aus der Gründungsperspektive nur bedingt von einer solidarischen Selbsthilfe der neuen ostdeutschen Unternehmer gesprochen werden kann. Aus dieser Konstellation heraus entwickelte sich eine für die weitere Entwicklung folgenreiche Ungleichzeitigkeit von Mitglieder- und Einflusslogik. Mit der deutschen Einheit verloren die Arbeitgeberverbände ein wichtiges Element ihrer eigenen normativen Integrationsideologie: den Antikommunismus. Während es schon immer interne Integrations- und Koordinierungsprobleme zwischen dem Dachverband und dem Regionalverband bzw. zwischen den Regionalverbänden gegeben hatte, traten seit den 1980er Jahren massive Integrationsprobleme gegenüber den Mitgliedern in den Vordergrund. Für die Arbeitgeberverbände waren diese Integrationsprobleme durch einen Generationenwechsel in der Unternehmerschaft und im eigenen Funktionärskörper gravierender denn je geworden. Dem schnellen und mitgliederstarken Verbandsaufbau in Ostdeutschland folgten ebenso rasche Austritte aus den Arbeitgeberverbänden. Als sich abzeichnete, dass die Lohnentwicklung der Produktivität vorauseilte, nutzten viele Unternehmen dies, um den Verbänden den Rücken zu kehren. Die Konsequenz, mit der die ostdeutschen Arbeitgeberverbände auf diese zurückgehenden Mitgliederzahlen und die verbandliche Bindungsschwäche reagierten, bestand in der Bildung von rechtlich eigenständigen Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung (OT). Diese Verbände werden in der Regel in Personalunion von den Geschäftsführern des ordentlichen Arbeitgeberverbandes geführt; sie bieten Serviceleistungen und umfassen manchmal auch Unternehmen mehrerer Branchen. Zwar existierten solche Verbände in einzelnen Regionen Westdeutschlands schon länger (unter anderem in der Kunststoffindustrie), sie hatten aber bis zu diesem Zeitpunkt keine größere Bedeutung für die tarifpolitische Debatte und das Verhältnis zu den Gewerkschaften. Dies änderte sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre grundlegend. Mit der Gründung von OT-Verbänden suchte man nach neuen Wegen, um dem Mitgliederschwund zu begegnen, die Bindekraft gegenüber der eigenen Mitgliedschaft zu verbessern und die finanzielle Ressourcenausstattung des Verbandes aufrechtzuerhalten. Zudem konnte mit dieser Organisationsform ein Instrument gewonnen werden, um die Gewerkschaften strukturell unter Veränderungsdruck zu setzen. Somit verbanden sich mit der Einrichtung von OT-Verbänden sowohl das Ziel einer Flexibilisierung der Verbandsmitgliedschaft aus organisationspolitischen Gründen
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wie auch die strategische Vorstellung, die OT-Verbände zur offensiven Ergänzung der tarifvertraglichen Flexibilisierungsstrategie einsetzen zu können. Als Vorreiter für dieses Projekt wirkten ostdeutsche Regionalverbände, die durch offensive Werbung in relativ kurzer Zeit eine beträchtliche Zahl von Mitgliedern in die neu gegründeten OT-Verbände aufnehmen konnten. In deren Windschatten kam es sukzessive auch zur Gründung von weiteren OT-Arbeitgeberverbänden in Westdeutschland. Bei all dem ist zu berücksichtigen, dass diese Strategie innerhalb der eigenen Reihen anfangs sehr umstritten war, weshalb es auch vergleichsweise lange dauerte, bis dieses Konzept sich flächendeckend umsetzen ließ. Manche Funktionäre und Mitglieder sahen in der Einrichtung der OT-Verbände das Ende der Arbeitgeberverbände, wie wir sie kennen. Verschiedene, sich überlagernde Entwicklungen wie die deutsche Einheit, der Maastricht-Prozess seit 1992 und die wirtschaftliche Krise in den Jahren 1992 bis 1996 ließen in den Arbeitgeberverbänden Konflikte zum Ausbruch kommen, die bereits seit Längerem virulent gewesen waren. Zu den traditionellen Interessenunterschieden zwischen kleinen und großen Unternehmen oder zwischen Zulieferfirmen und Endherstellern traten nun neue hinzu, die auf die Veränderung von Branchenstrukturen und Wettbewerbsbedingungen zurückzuführen waren. Durch Outsourcing, Börsenkapitalisierung, Profitcenter und Fusionen gerieten die Tarifverträge in bisher nicht gekannter Weise unter Druck. Zudem wurden bestehende Verbandsmitgliedschaften von einer neuen Generation von Managern in Frage gestellt, die das Verhältnis ihres Unternehmens zu den Verbänden viel stärker als ihre Vorgänger unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten betrachteten. Insbesondere die Umwandlung von Familienunternehmen in professionelle Managerunternehmen, die oft zu Zweigniederlassungen großer Unternehmen wurden, ließ die Bereitschaft für eine verantwortliche Mitarbeit im Arbeitgeberverband stark sinken. Auf personeller Ebene lässt sich feststellen, dass heute nahezu alle Einflussakteure mehrere Funktionen wahrnehmen, d. h. gleichzeitig Ämter in ihren regionalen Arbeitgeberverbänden, im Branchenspitzenverband wie auch bei der BDA bekleiden (Mallmann 1990: 51, 158). Die Entwicklung der Arbeitgeberverbände wird ständig von der Schwierigkeit begleitet, ein den aktuellen Herausforderungen gewachsenes Führungspersonal zu finden. Die Querelen um die Nachfolge des GesamtmetallPräsidenten Hans-Joachim Gottschol – als kein Eigentümer-Unternehmer von Format bereit war, diese Funktion wahrzunehmen – waren dafür ebenso ein beredtes Beispiel wie die Tatsache, dass in verschiedenen Regionalverbänden der Metallarbeitgeber kein aktiver Unternehmer für das Amt des Verbandspräsidenten gefunden werden konnte. Werner Stumpfe beendete 1996 das etablierte Prinzip der dualen Führungsstruktur: Zwischen 1996 und 2000 vereinte er in seiner Person das Amt des Hauptgeschäftsführers und des Präsidenten. Die negativen Erfahrungen mit dieser Konstruktion führten dazu, dass nun wieder an das Prinzip der Ämtertrennung angeknüpft wird. Der seit den 1990er Jahren beschleunigt abnehmende Organisationsgrad der Arbeitgeberverbände bewirkte eine Durchsetzungsschwäche, die sich auf kaum einem anderen Gebiet so stark manifestiert wie in der Relation zwischen der Aussperrungs- und der Streikfähigkeit. Seit den 1990er Jahren nutzen die Arbeitgeberverbände das Mittel der Aussperrung kaum noch als eine Antwort auf gewerkschaftliche Streiks. Zwischen 1960 und 1990 gingen zwischen 43 und 53 Prozent aller ausgefallenen Tage, die auf Arbeitskonflikte zurückzuführen waren, auf das Konto von Aussperrungen. Dagegen sind diese seit Anfang der 1990er Jahre fast auf dem Nullpunkt gefallen. Da die traditionellen Binde- und Kampfmittel (Ideologie/ Streik und Aussperrung) erodiert sind oder sich nachhaltig modifizierten, mussten die Ar-
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beitgeberverbände nach neuen Mitteln und Wegen suchen. Die Etablierung von OTMitgliedschaften dient auch in diesem Zusammenhang dazu, Durchsetzungsschwäche zu kompensieren und Druck auf Gewerkschaften vor und während einer Tarifverhandlung aufzubauen. Zunehmend machen die Arbeitgeber, sowohl von Seiten der Unternehmensspitzen als auch der Verbandsspitzen, außerdem Druck mit der Androhung, die Produktion in das Ausland zu verlagern. Ein Beispiel für die weitreichenden Konsequenzen von Konflikten innerhalb der Arbeitgeberschaft und der Schwächung der Arbeitgeberverbände war die Tarifrunde 1995 in Bayern. Sie führte sogar zu einer Verbandskrise von Gesamtmetall: Das Ergebnis der Tarifverhandlungen mit der IG Metall, die von Streiks begleitet wurden, beinhaltete Lohnsteigerungen sowie das Inkrafttreten der 35-Stunden-Woche, womit das ursprüngliche Ziel der Arbeitgeberseite, nämlich Lohnerhöhungen mit Kostenentlastungen zu verknüpfen, nicht erreicht wurde. Dies hatte zur Folge, dass nicht nur Mitgliedsunternehmen unzufrieden mit der Taktik des Verbands waren, sondern auch Industrie- und Wirtschaftsverbände. In diesem Kontext drohten sogar führende Verbandsvertreter mit der Auflösung des Verbands, wenn die IG Metall sich nicht bereit erklären würde, Flächentarifverträge umzugestalten.3 Anhand dieser Episode lässt sich zeigen, wie labil das System der kommunizierenden Röhren von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften ist, wenn eine der beiden Organisationen mit ihrer Selbstauflösung droht. Tabelle 1: Aussperrung Zeitraum
Aussperrungs- Aussperrungs- Streikende plus Ausgefallene betroffene* betroffene in % AussperrungsArbeitstage aller Konfliktbetroffene durch betroffenen Aussperrung*
1950í1959
38.238
2,7
1960í1969
308.717
1970í1979
AussperrungsAusgefallene tage in % aller Arbeitstage*, Konfliktaus- ges. (Streik plus falltage Aussperrung)
1.395.898
791.183
8,05
9.831.075
37,83
815.967
1.371.377
43,44
3.157.249
679.278
34,26
1.982.781
6.224.646
53,44
11.647.753
1980í1989
172.119
12,33
1.395.903
2.698.875
44,26
6.098.410
1990í1999
275
0,01
2.151.507
2.591
0,08
3.378.265
2000í2008
0
0
1.100.000
0
0
1.428.000
* Effektiv beteiligte/betroffene Arbeitnehmer und effektiv ausgefallene Arbeitstage; ohne Doppelzählungen. Quelle: Statistisches Bundesamt; Bundesanstalt für Arbeit. Eigene Berechnungen.
Die vielfältigen neuen Problemkonstellationen wurden von den einzelnen Verbänden unterschiedlich bewältigt. Beispielsweise gelang es den Arbeitgeberverbänden der Chemie- und Textilbranche trotz zunehmenden Drucks, ihre Organisationen zunächst zu stabilisieren. Dagegen litten in den 1990er Jahren die Verbände der Druck-, Holz- und Metallindustrie nicht nur unter einem merklichen Mitgliederschwund, sondern sahen sich auch einem fortwährenden Druck der kleinen und mittleren Unternehmen wie der Arbeitsgemeinschaft 3
„Wenn die IG Metall auch vernünftige Vorschläge wegstreikt, bleiben uns nur zwei Alternativen – Reform oder Auflösung. Wir dürfen auf keinen Fall nochmals so starre Tariflösungen wie in diesem Jahr unterschreiben. Eher lösen wir die Verbände auf, als zum Mittäter an der Demontage unseres Standorts zu werden“. (Focus vom 24.07.1995).
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Selbständiger Unternehmer (ASU) oder des Verbandes der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) ausgesetzt, die temporär zu einer „radikalen Speerspitze“ im Kampf gegen die flächentarifliche Struktur des deutschen Modells wurden. Diesen Gruppen gelang es in den 1990er Jahren sogar zeitweise, den Ton in der öffentlichen Kontroverse maßgeblich zu bestimmen und damit den Druck auf Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und den Flächentarifvertrag zu erhöhen. Während man in der ökonomischen Krise zwischen 1992 und 1996 noch davon ausging, dass die Austritte aus den Verbänden vor allem ökonomische Ursachen und Unzufriedenheiten als Grundlage hatten, kann man diese These mittlerweile in Frage stellen. Denn auch die seit 1996 bis zur Weltmarktkrise im Jahr 2008 anhaltend günstige Konjunkturentwicklung führte nicht dazu, dass die Austritte aus den deutschen Arbeitgeberverbänden zurückgingen. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass es auch innerhalb der einzelnen Branchen unterschiedliche konjunkturelle Befindlichkeiten einzelner Sektoren und Betriebe gibt, so kann doch davon ausgegangen werden, dass auch ökonomische Motive eine Rolle spielen, diese aber nicht unbedingt ausschlaggebend für das Verlassen des Flächentarifs und des Arbeitgeberverbands sind. Mehrheitlich sind es sehr kleine, kleinere und einige mittelgroße Unternehmen, die den Arbeitgeberverbänden den Rücken gekehrt haben. Diese stellen zwar noch immer die Mehrheit der Mitglieder in den Arbeitgeberverbänden; gleichwohl sehen sie ihre spezifischen Interessen laut Selbsteinschätzung im Vergleich zu den anderen Mitgliedergruppen nicht hinreichend berücksichtigt. Dagegen sind Traditionsunternehmen ab einer gewissen Belegschaftsgröße, mit starker gewerkschaftlicher Präsenz und den typischen Gremien des deutschen Modells industrieller Beziehungen nach wie vor in hohem Maße verbandlich organisiert. Durch den zunehmenden Ausstieg der kleinen und mittleren Betriebe könnte das Bündnis zwischen den verschiedenen Größenklassen der deutschen Industrie geschwächt werden und schließlich sogar zerbrechen, womit sich auch die Frage nach der Weiterentwicklung des deutschen Flächentarifvertragssystems neu stellen würde. In den 1990er Jahren dominierte der abstrakte Appell nach mehr Dezentralisierung, Flexibilisierung und Differenzierung. Den Betrieben sollte nicht nur mehr Kompetenz in der Arbeitszeitgestaltung, sondern auch in der Entlohnung zugebilligt werden. Das wichtigste Dokument, in dem diese Linie festgeschrieben wurde, bildet die sogenannte „Frankfurter Erklärung zur Reform des Flächentarifs vom 17. November 1997“. Flankiert wurde der Kurs der Dezentralisierung von dem Versuch, die Konfliktfähigkeit der IG Metall weiter zu reduzieren. Das zentrale Schlagwort, auf dessen Grundlage dieser Prozess angebahnt wurde, lautet „Neue Partnerschaft”. Mit diesem Konzept sollten die ordnungspolitischen Problemlagen, die mit einer verstärkten Verlagerung von tarifpolitischer Entscheidungskompetenz auf die betriebliche Ebene verbunden sind, kompensiert und eingebunden werden. In diesem Konzept verbarg sich aber auch die Einsicht, dass in einem polarisierten Verhältnis zu den Gewerkschaften die angestrebten Ziele eher gefährdet denn gefördert werden. Daraus erklärte sich die große Entschlossenheit von Gesamtmetall und der BDA im Hinblick auf das Bündnis für Arbeit, die, wie BDA-Präsident Hundt betonte, mit dem letzten Tarifabschluss gerechtfertigt sei: „Die Rechnung ist aufgegangen, die Tarifpolitik zu einem zentralen Bestandteil des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit zu machen. Die BDA folgte dem niederländischen Vorbild und hat mit vollem Einsatz die Tarifpolitik in das Bündnis gebracht und damit diese Tarifrunde zur Nagelprobe der
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Reformfähigkeit der deutschen Tarifpolitik“ gemacht (Dieter Hundt: Handeln beim Verhandeln – welche Reformen braucht die Tarifautonomie, Stuttgart am 4.4.2000). Im Jahr 2000 wurde im Umfeld der BDA die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ angesiedelt, die durch die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird und sich als Sprachrohr der Arbeitgeber in der gesellschaftlichen Kommunikation versteht. Diese Initiative wird auch von gesellschaftlich relevanten Akteuren mit dem Ziel unterstützt, einen Diskurs über die zukünftigen Herausforderungen für den Arbeitsmarkt und den Sozialstaat zu ermöglichen, um für wirtschaftsfreundlichere Rahmenbedingungen zu werben. Damit die Initiative in der Öffentlichkeit als unabhängig und glaubwürdig angesehen wird, wird diese von Gesamtmetall an einer „langen Leine“ geführt (Speth 2004). Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass sich die Arbeitgeberverbände erstmals einer externen Plattform bedienen, um ihre Ansichten in der Öffentlichkeit zu kommunizieren, ohne dabei Arbeitgeber direkt als Initiatoren in Erscheinung treten zu lassen. Somit können auch Themen aufgegriffen werden, die nicht direkt zum Tagesgeschäft der Verbandsarbeit zählen, aber deren inhaltliche Kommunikation das eigene Umfeld positiv bestellt. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts stehen die organisationspolitischen Perspektiven der Arbeitgeberverbände zunehmend auf dem Prüfstand. Es stellt sich die Frage, ob diese dazu fähig sind, Veränderungen in ihrer Struktur vorzunehmen, um auch in Zukunft heterogene Interessenlagen erfolgreich vertreten zu können. Bislang ist es den Arbeitgeberverbänden nicht gelungen, die enormen Zentralisierungsleistungen der Gewerkschaften zu beantworten. In Deutschland gibt es heute annähernd 1.000 Arbeitgeberverbände. Anders als auf der Bundesebene ist die Trennung in Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände auf der Landesebene heute eher zur Ausnahme geworden. Lediglich in vier Bundesländern, nämlich in Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen, bestehen derzeit noch keine integrierten Landesvertretungen. Eine Fusion der beiden Dachverbände scheint dagegen auch gegenwärtig keine Aussicht auf Erfolg zu haben: Die immer wiederkehrenden Überlegungen, die Trennung zwischen dem BDI und der BDA aufzulösen, hatten während der 1990er Jahre einen Dämpfer erfahren, da ein Konflikt zwischen den Präsidenten Hans-Olaf Henkel vom BDI und Klaus Murmann von der BDA Mitte der 1990er Jahre die Zusammenarbeit beider Verbände belastete und somit auch Überlegungen in Hinblick auf eine Fusion erschwerte. Zwar sprachen sich Ende des Jahres 2006 Jürgen Thumann und Dieter Hundt für eine engere Zusammenarbeit der beiden Dachverbände aus, allerdings wurde kurz danach deutlich, dass eine Fusion aufgrund von Vorbehalten im BDI auch auf längere Zeit nicht in Aussicht stehen wird. 4 Durch die Existenz konkurrierender Organisationen erscheinen die internen Querelen zwischen verschiedenen Personen, Interessen und Kapitalfraktionen immer auch als Konflikte zwischen eigenständigen Institutionen. Zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften bestehen divergierende Organisationsstrukturen: Während die deutschen Gewerkschaften über lange Jahre als zentral ausgerichtete, intermediäre Massenorganisationen agieren konnten, waren Arbeitgeberverbände eher dezentral orientierte Honoratiorenorganisationen. Daraus resultieren unterschiedliche Handlungslogiken, die sich wiederum auf divergierende Strukturprinzipien zurückführen lassen. Zwar sind beide Akteure grundsätzlich in der Lage, auch zentrale Entscheidungen zu treffen, aufgrund der für die Zentrale ungünstigen innerverbandlichen Ressourcenverteilung
4
Vgl. Handelsblatt vom 2.11.2006 und 18.11.2006.
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ist diese Fähigkeit bei den Arbeitgeberverbänden jedoch geringer ausgeprägt.5 In organisatorischer Hinsicht verringert bei den Arbeitgeberverbänden die Konkurrenz zwischen den Regionalverbänden sowie zwischen den Regionalverbänden und dem Dachverband die Chancen zur Veränderung von Verbandsstrukturen. Diese internen Restriktionen der Arbeitgeberverbände, die sich bis hin zu Handlungsblockaden verstärken können, tragen dazu bei, dass Reformen eher von außen angestoßen werden. So wird die Handlungsfähigkeit der Arbeitgeberverbände nicht selten mittelbar durch staatliche und gewerkschaftliche Organisationshilfen gefördert. 4
Resümee
Arbeitgeberverbände sind ein wesentlicher Schlüssel für das Verständnis des deutschen Modells der Arbeitsbeziehungen. Während sich Arbeitgeberverbände in ihrer Entstehungszeit als antigewerkschaftliche Aktionen verstanden, entwickelten sie sich nach dem zweiten Weltkrieg zu sozialpartnerschaftlichen Akteuren, die darauf hinwirkten, die Ansprüche des Staates und der Gewerkschaften zu minimieren oder doch zu relativieren. Obwohl viele gewerkschaftliche und staatliche Forderungen durchaus im Interesse einzelner Unternehmen liegen und oft auf lange Sicht auch generell im Interesse der Unternehmen sind, mussten den Arbeitgeberverbänden nahezu alle sozialen Fortschritte abgerungen werden. Entscheidend ist aber weniger diese reaktiv abwehrende Verhandlungspolitik als vielmehr der durch diese Verhandlungen legitimierte strukturelle Rahmen. Dass diese aufs Ganze betrachtet konstruktive strukturelle Entwicklung kollektiven Handelns nicht irreversibel ist, kann gegenwärtig an unterschiedlichen Phänomenen studiert werden. Wesentliche Etappen auf dem Weg zu einem starken Akteur, der für Gewerkschaften und Staat eine verlässliche Bank darstellte, waren nach einer gewissen Rollenunsicherheit in den 1950er Jahren die regelmäßigen Tarifabschlüsse, die Mitarbeit in der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen, die Akzeptanz des Mitbestimmungsmodells und eine mit Augenmaß praktizierte Nutzung des Instrumentes der Aussperrung. 1963 konnten die Arbeitgeber der Metallindustrie mit einer großen Flächenaussperrung nicht nur ihre Handlungsfähigkeit demonstrierten, sondern auch unter Beweis stellen, dass Konflikte zwischen Arbeit und Kapital nicht den sozialen Frieden gefährden müssen, sondern vielmehr Instrumente sind, um den sozialen Frieden zu fördern. Während sich in den 1970er Jahren zunächst eine Mitgliederstagnation auf hohem Niveau einstellte, begann der Organisationsgrad Ende der 1970er Jahre sukzessive zu sinken. Hinter dem Wandel der Arbeitgeberverbände stehen säkulare Veränderungen, die eher den Rahmen bilden und weniger den konkreten Zeitpunkt der strukturellen Verschiebungen erklären können. Dazu zählen neben der Globalisierung und den damit einhergehenden Strukturveränderungen in und zwischen den Unternehmen vor allem die Individualisierung und der Generationenwandel. Mit dem Ende des Kalten Krieges verschwand auch der Antikommunismus, der bislang ein bedeutendes normatives Element der unternehmerischen Integrationsbasis darstellte. Seit den 1990er Jahren sind die Konflikte zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und auch die Interessenauseinandersetzungen innerhalb 5
Zwischen den beiden Tarifparteien besteht allerdings ein System kommunizierender Röhren, das u. a. dafür sorgt, dass die meist dezentral ausgerichteten Arbeitgeberverbände von der Zentralisierung der Gewerkschaften mittelbar profitieren.
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des Arbeitgeberlagers mehr als nur Verteilungskonflikte. Meist geht es auch um die Grundsatzfrage, wie die industriellen Beziehungen weiterentwickelt werden und welche Rolle die überbetrieblichen Verbände überhaupt noch spielen sollen. Während die Bedeutung des Flächentarifvertrags als einer für alle Beteiligten verbindlichen Regelung schon seit Längerem in Frage gestellt wird, diskutiert man zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum einen darüber, ob nicht generell das Ende der überbetrieblichen Tarifpolitik gekommen sei. Zum anderen stellt sich für die Arbeitgeberverbände das Problem ihrer organisationspolitischen Perspektiven. Sind die Verbände in der Lage, sich so zu verändern, dass sie auch weiterhin unterschiedliche Interessenlagen integrieren und so ihrer Aufgabe der Interessensaggregation und -artikulation nachkommen können? Angesichts der Entwicklung der letzten Jahre stehen die Organisations- und die Konfliktfähigkeit der Arbeitgeberverbände zur Disposition und damit jene Handlungskonstellation, die bis in die 1980er Jahre unbestritten ein Aktivposten innerhalb der politischen Ökonomie, aber auch des politischen Systems der Bundesrepublik war. Seit den 1990er Jahren verfolgen die Arbeitgeberverbände eine Doppelstrategie: Einerseits versuchen sie den Flächentarifvertrag grundlegend zu verändern, um eine Dezentralisierung, Differenzierung und Flexibilisierung der tariflichen Regelungsmuster zu erreichen. Andererseits setzen sie auf eine Flexibilisierung der Verbandsmitgliedschaft. Mit der Errichtung von sogenannten Mitgliedschaften ohne Tarifbindung (OT) gelingt es den Arbeitgeberverbänden gegenwärtig, sich eine zahlungskräftige Mitgliederzahl zu erhalten. Den Firmen wird eine gewissermaßen menüartige Auswahl zwischen verschiedenen Formen der Verbandsmitgliedschaft und ihren Leistungsangeboten ermöglicht. Mit den OT-Strukturen werden die traditionell vorhandenen Spannungen zwischen großen und kleinen Betrieben vertieft, womit auch das „historische Bündnis“ zwischen Betrieben unterschiedlicher Größe in den Arbeitgeberverbänden zur Disposition steht. Zwar sind die westdeutschen Arbeitgeberverbände nach wie vor handlungsfähige Einheiten, gleichwohl ist ihre Position gegenüber den Unternehmen in den letzten Jahren deutlich geschwächt worden. Rückblickend entwickelten sich die Arbeitgeberverbände von situativen Anti-Streik-Koalitionen, beziehungsweise Gegenverbänden, hin zu sozialpartnerschaftlichen Konfliktorganisationen, die gegenwärtig dabei sind, sich wieder neu zu positionieren. Ihr Kampfcharakter hat deutlich abgenommen, ihre Beratungs-, Kommunikations- und Koordinationsfunktion deutlich zugenommen. Dabei verschieben sich im Kontext einer Umgruppierung des deutschen Modells auch die Akzente, während sich die Bandbreite der Funktionen von Arbeitgeberverbänden in Übergangs- und Randbereichen vergrößert. Offen ist, ob sich durch neue Herausforderungen aufgrund des sich abzeichnenden Fachkräftemangels, demografischer Probleme oder gar einer weiteren Fragmentierung des deutschen Gewerkschaftsmodells neue Interessenlagen im Arbeitgeberlager ergeben können, die das kollektive Handeln von Arbeitgeberverbänden für die Unternehmen in einem veränderten Licht erscheinen lassen. Jedenfalls ist die weitere Entwicklung der deutschen Arbeitgeberverbände maßgeblich von den Interessen der Unternehmen abhängig. Bedeutsam können aber auch die Anreize werden, die Staat und Gewerkschaften entwickeln, um ein kollektives Handeln für Unternehmen zu motivieren.
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
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Geschichte und Funktion der deutschen Wirtschaftsverbände Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Werner Bührer
Theodor Eschenburg, einer der Stichwortgeber der Verbandsforschung nach 1945, sprach in einer 1989 erschienenen Veröffentlichung vom vergangenen Jahrhundert als dem „Jahrhundert der Verbände“ (Eschenburg 1989). Obwohl gerade für das 20. Jahrhundert mittlerweile eine nicht geringe Zahl konkurrierender Bezeichnungen kursiert, ist diese Etikettierung keineswegs aus der Luft gegriffen. Verbände, zumal die in der politischen Öffentlichkeit stark präsenten Wirtschafts- bzw. Unternehmerverbände, haben das wirtschaftliche und politische Leben mitgeprägt. Dies könnte den Schluss nahe legen, dass dies für das 21. Jahrhundert möglicherweise nicht mehr gilt. Und in der Tat scheinen die Wirtschaftsverbände – übrigens ebenso wie die Gewerkschaften – im Zeitalter der Globalisierung an Bedeutung verloren zu haben. Bevor die aktuellen und möglichen künftigen Herausforderungen für die Wirtschaftsverbände erörtert werden, soll jedoch zunächst Bilanz gezogen werden. 1
Forschungsstand
Wirtschaftsverbände nehmen in der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Verbandsforschung seit jeher großen Raum ein. Waren es bis in die 1930er Jahre überwiegend ehemalige oder noch aktive Verbandsmitarbeiter, die sich, oft in Form unkritischer Festschriften, um eine Darstellung „ihrer“ Verbände bemühten (z. B. Bueck 1902í1905; Winschuh 1932), so nahmen sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch und in steigendem Maße Sozialwissenschaftler, Historiker und Ökonomen des Themas an. Hatte die breit rezipierte und oft zitierte Schrift von Theodor Eschenburg aus dem Jahr 1955 mit dem Titel „Herrschaft der Verbände?“ den Wirtschaftsverbänden erstaunlicherweise nur wenige Seiten gewidmet, rückten sie seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre immer mehr ins Blickfeld der einschlägigen Forschung. Um mit der Geschichtswissenschaft zu beginnen: Entstehung und Entwicklung, Struktur und Politik der Wirtschaftsverbände im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Gegenstand der Arbeiten von Kaelble (1967), Erdmann (1968), Stegmann (1970), Winkler (1972), Nipperdey (1976, 1979), Ullmann (1976), Mielke (1976), Best (1980) und Bührer (1997), die zumindest teilweise maßgeblich von der Debatte über den „organisierten Kapitalismus“ (Winkler 1974; Puhle 1984) inspiriert waren und die Rolle der Verbände in diesem Kontext erörterten. Für die Zeit des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik sind vor allem die Arbeiten von Zunkel (1974), Feldman (1977, 1985), Nocken (1979), Neebe (1981), Grübler (1982), Turner (1985) und Wolff-Rohé (2001) zu nennen. Diese Monografien gingen insbesondere der Frage nach, welchen Anteil die Unternehmerverbände an der anfänglichen Stabilisierung und späteren Destabilisierung der Weimarer Demokratie hatten. Während ihnen für die Anfänge der Republik eine zwar der eigenen Machterhaltung dienende, aber gleichwohl positive Funktion zugeschrieben wurde, fielen die
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Urteile für deren Ende eher negativ aus, weil sich weder der Reichsverband der Deutschen Industrie noch bedeutende Branchenvertretungen zu einer entschlossenen Verteidigung der Weimarer Demokratie hatten durchringen können. Wenig erforscht ist nach wie vor der Einfluss der Wirtschaftsverbände im „Dritten Reich“. Während für die Anfangsjahre immerhin einige aktengestützte Studien existieren – Wengst (1980), Hüttenberger (1981) –, mangelt es an Arbeiten, die die nationalsozialistische Epoche zur Gänze in den Blick nehmen; eine Ausnahme stellt die allerdings eher rechtshistorisch angelegte Studie von Kahn (2006) über die Reichsgruppe Industrie dar. Strittig ist für diese Phase insbesondere, ob die Interessenvertretungen der Wirtschaft, wenngleich unter neuem Namen, ihre Autonomie einigermaßen wahren konnten oder ob sie mehr oder weniger vollständig in das nationalsozialistische Herrschaftssystem integriert wurden. Etwas günstiger fällt die Forschungsbilanz für die Besatzungsjahre und die „alte“ Bundesrepublik aus: Zu nennen sind hier vor allem Berghahn (1985), Berghahn/Friedrich (1993), Bührer (1989, 2004, 2008), Bührer/Grande (2000), Plumpe (1987, 2000) und Brackmann (1993). In diesen Arbeiten standen zumeist Programmatik und Politik der Spitzenverbände in Mittelpunkt, selten deren Binnenstrukturen oder deren Personal. Anders als die bemerkenswert breit rezipierte, vom Konzept des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ inspirierte Studie von Simon (1976), die ihre These bereits im Titel – „Macht und Herrschaft der Unternehmerverbände“ – verkündete, relativierten die zuvor genannten Autoren die Bedeutung der Unternehmerverbände mehr oder weniger stark. Seltenheitswert haben noch immer monografische Arbeiten über einzelne Branchenverbände, sieht man von Pohl/Markner (1992) und Uebbing (1999) ab, die den VDMA bzw. die stahlindustriellen Verbände untersuchten. Geschichts- und politikwissenschaftliche Verbandsforschung zu verbinden und mit den Ansichten von Verbandsvertretern zu konfrontieren, ist Anliegen des von Bührer und Grande (2000) herausgegebenen Sammelbands, in dem sowohl dem Pluralismus als auch dem (Neo-)Korporatismus verpflichtete Standpunkte vertreten sind. Teilweise vor, teilweise gleichzeitig mit der beginnenden geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit den Wirtschaftsverbänden – in diesem Fall aber meist ohne sonderlich von ihr Notiz zu nehmen – entstanden zahlreiche sozialwissenschaftliche und staatsrechtliche Studien, die zunächst allerdings ganz allgemein der Bedeutung von Interessenverbänden unterschiedlichster Art für die politische Willensbildung (Breitling 1955; Kaiser 1956; von Bethusy-Huc 1962), deren vermeintlich „staatsgefährdender“ Wirkung (Huber 1958) und deren Ideologien (Hondrich 1963) nachspürten. Die erste speziell dem BDI gewidmete politikwissenschaftliche Monografie, die schon deshalb nach wie vor als Meilenstein der (Wirtschafts-)Verbändeforschung zu werten ist, stammt aus der Feder des amerikanischen Politologen Braunthal. Seine Darstellung geht kurz auf die organisatorischen Vorläufer des BDI ein und analysiert anschließend die Organisationsstruktur, Praktiken und Adressaten der Einflussnahme sowie die wichtigsten Politikfelder, auf denen sich der BDI Gehör zu verschaffen versuchte: Wirtschaftspolitik sowie Außenwirtschafts- und Außenpolitik. Braunthals Befund entspricht der damals in der Verbändeforschung dominierenden pluralistischen Sicht: „Granted that the BDI is a powerful and prestige-laden association with many victories on its record, and granted that it operates in a political climate favorable to its interests, nevertheless it is not the only group of which this is true, but one that faces rivals with an equal appetite for power“ (Braunthal 1965: 349). Etwa zur selben Zeit erschienen als Ergebnis eines wirtschaftswissenschaftlich verankerten Forschungsvorhabens und in Reaktion auf die verbandsfeindlichen Tendenzen in der konserva-
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tiven Staatslehre in einer Schriftenreihe des „Vereins für Socialpolitik“ mehrere Studien zum Zusammenhang zwischen Verbandshandeln, verbandlichem Selbstverständnis und Ordnungspolitik (u. a. Esenwein-Rothe 1965; Schmölders 1965). Eine erste, allerdings nicht auf die Wirtschaftsverbände beschränkte Zwischenbilanz der politikwissenschaftlichen Interessengruppenforschung zog Weber (1977). Mitte der 1970er Jahre leiteten die Arbeiten von Schmitter und Lehmbruch (Schmitter 1974; Schmitter/Lehmbruch 1979; Lehmbruch/Schmitter 1982) sowie von von Alemann und Heintze (1979) einen Paradigmenwechsel vom Pluralismus zum Neokorporatismus ein, der viele andere Politikwissenschaftler beeinflusste (vgl. Czada 1994; Grande 2000: 17; Schubert 2005), allen voran Wolfgang Streeck, der sich wiederholt mit dem Verhältnis zwischen Staat und (Wirtschafts-)Verbänden auseinandersetzte (1994, 1999; Streeck et al. 2005). Er war es allerdings auch, der unlängst das Ende des Korporatismus proklamierte und den „Lobbyismus“ zum neuen Paradigma erhob (Streeck 2006; vgl. zuvor auch schon von Alemann 2000). Ob dieser Versuch Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten, zumal der Begriff bislang für eine bestimmte Methode der Interessenwahrnehmung reserviert und eher „pluralistisch“ konnotiert war, also eine Rückkehr zum früheren Paradigma bedeuten würde. Eine Ausnahme innerhalb des lange vorherrschenden, korporatistisch argumentierenden Mainstreams stellte insbesondere die einem pluralistischen Verständnis verpflichtete Studie eines ehemaligen Hauptgeschäftsführers des BDI über „seinen“ Verband dar (Mann 1994), nach Braunthals 30 Jahre früher publizierter, englischsprachiger Arbeit erst die zweite – und erstaunlicherweise die erste deutschsprachige –, die sich auf diesen Spitzenverband konzentrierte. Noch breiter angelegt als die ältere Studie und bis in die frühen 1990er Jahre reichend kam Mann in seiner differenzierten, theoretisch reflektierten und von seinen Insiderkenntnissen profitierenden Dissertation gleichwohl zu ähnlichen Ergebnissen. Auch er verstand seine Erkenntnisse als Bestätigung der pluralistischen Theorie, nach der das Wirken selbst eines so bedeutenden Spitzenverbands wie des BDI nicht nur von „Macht“, sondern auch von „Ohnmacht“ gekennzeichnet sei. Speziell mit der Öffentlichkeitsarbeit des BDI beschäftigten sich Müller-Vogg (1979) und Berger (2004), während Burgmer (1999, 2002) vor dem Hintergrund der von ihr konstatierten Erosionsprozesse in der Verbändelandschaft aktuelle und künftige Aufgaben des BDI im Besonderen und der Wirtschaftverbände im Allgemeinen thematisierte, darunter die Fragen einer Reorganisation des Verbands mit dem Ziel einer Konzentration auf „Kernaufgaben“ sowie einer Fusion mit anderen Verbänden zum Zweck der Kostensenkung und der Konzentration der Kräfte. In jüngster Zeit erschienen schließlich mehrere Überblicksdarstellungen, die entweder das deutsche Verbändesystem insgesamt zum Gegenstand haben (Sebaldt/Straßner 2004; von Winter/Willems 2007; Lösche 2007), aber den Wirtschaftsverbänden einen prominenten Platz einräumen (besonders Lang/Schneider 2007) oder das deutsche Wirtschaftsverbandssystem im europäischen Vergleich untersuchen (Grote/Lang/ Traxler 2007). 2
Interne Organisationsstruktur
Vier Organe bilden, wenngleich mit wechselnden Bezeichnungen, die Pfeiler der Architektur der Wirtschaftsverbände seit ihren Anfängen: die Mitgliederversammlung, der Ausschuss bzw. Vorstand, das Direktorium bzw. Präsidium und die Geschäftsführung. Zur
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Beratung bestimmter fachlicher oder Querschnittsfragen dienen Fachausschüsse und Arbeitskreise, manche Spitzenverbände lassen Landesvertretungen zu. Besonders seit der „Demokratisierung“ des deutschen Verbandswesens nach 1945 gilt die Mitgliederversammlung als oberstes Beschlussorgan. Allerdings kam und kommt sie nur selten über die Rolle eines Akklamationsorgans hinaus, d. h. die Macht innerhalb eines Verbands teilen sich das Präsidium bzw. der Präsident und die Geschäftsführung. Für das Verhältnis zwischen diesen beiden Machtzentren gilt der Grundsatz, dass der ehrenamtliche Präsident dem angestellten und dotierten (Haupt-)Geschäftsführer übergeordnet ist und Letzterer im Konfliktfall nachgibt oder seinen Posten räumt. Allerdings lassen sich gelegentliche Verstöße gegen diese Regel konstatieren; zu den spektakulärsten Fällen zählt der Rücktritt Heinrich Weiss’ als Präsident des BDI im Jahr 1992, nachdem er sich aufgrund fehlender Unterstützung seitens seiner Präsidiumskollegen nicht gegen den Hauptgeschäftsführer Ludolf von Wartenberg hatte durchsetzen können (Bührer 2004: 295). Je nach Verbandstyp setzt sich die General- oder Mitgliederversammlung aus Vertretern einzelner Unternehmen, Fach- oder Branchenverbände zusammen. Sie tritt in der Regel einmal pro Jahr zusammen, die Stimmenzahl der einzelnen Mitglieder richtet sich nach der Zahl der repräsentierten Beschäftigten. Die Mitgliederversammlung entscheidet über Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung einschließlich Satzungsänderungen, genehmigt den Verbandsetat und die Beitragsordnung, wählt den Präsidenten sowie die Vizepräsidenten und beschließt über die Entlastung der Leitungsgremien. Der Ausschuss oder Vorstand besteht aus dem Präsidenten und den Vizepräsidenten sowie den Vorsitzenden der Mitgliedsunternehmen bzw. -verbände und ist für alle Verbandsangelegenheiten zuständig. Das Präsidium setzt sich im Fall des BDI aus dem Präsidenten, seinem gewählten Nachfolger, seinem unmittelbaren Vorgänger und etwa einem Dutzend Vizepräsidenten zusammen, ferner können zwischen 30 und 40 weitere Mitglieder hinzugewählt oder kooptiert werden. Die Regelung, die jeweiligen direkten Vorgänger und Nachfolger in die Arbeit des Präsidiums einzubinden, soll personelle Kontinuität an der Spitze sichern helfen; andererseits dürfte die hohe Zahl der Präsidiumsmitglieder der Arbeitsfähigkeit dieses Gremiums nicht unbedingt förderlich sein. Nachdem der erste Präsident des BDI, Fritz Berg, von 1949 bis 1971 amtiert und damit auch verbandsintern für wachsenden Unmut gesorgt hatte, wurde per Satzungsänderung eine zweijährige Amtsperiode mit der Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl für weitere zwei Jahre beschlossen. Obwohl die Satzung des BDI den Präsidenten nicht als eigenes Organ nennt, gilt der jeweilige Amtsinhaber „nach außen und innen“ als „höchster Repräsentant nicht nur des industriellen Spitzenverbands, sondern auch der industriellen Unternehmerschaft schlechthin“ (Mann 1994: 52). Seine Macht leitet der Präsident hauptsächlich aus seiner Erfahrung und seinem Standing als aktiver Unternehmer ab. Ob es sich um einen Eigentümer-Unternehmer oder einen Manager-Unternehmer handelt, spielt dabei heute keine ausschlaggebende Rolle mehr. Unter den Präsidenten, die seit der Gründung des BDI amtierten, dominiert zwar der erste Typ, doch lässt sich daraus keine Präferenz für den Eigentümer-Unternehmer ableiten. Wichtiger als diese juristische Frage sind auf jeden Fall die persönliche Reputation und die des jeweiligen Unternehmens sowie eine gewisse politische Erfahrung und Eignung. Allerdings fällt auf, dass im Gegensatz zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik die klangvollen Namen der deutschen Industrieelite an der Spitze des BDI und der Branchenverbände eher selten zu finden sind. Der Geschäftsführung obliegt die Erledigung der laufenden Geschäfte des Verbands. Der oder die – oft zwei – Geschäftsführer, früher auch Syndizi oder Generalsekretäre genannt
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und seit dem späten 19. Jahrhundert meist akademisch qualifiziert, werden vom Präsidium auf Vorschlag des Präsidenten berufen und müssen vom Vorstand bestätigt werden. Wie bereits erwähnt, ist die Mitgliederversammlung, demokratischen Grundsätzen entsprechend, laut Satzung das wichtigste Gremium eines Verbands. De facto konzentriert sich die „Macht“ jedoch im Präsidium, in der Regel beim Präsidenten bzw. Vorsitzenden, und in der Geschäftsführung, d. h. beim Hauptgeschäftsführer; zusammen bilden sie die eigentliche Verbandsexekutive. Die Mitgliederversammlung dient diesen beiden Machtzentren hauptsächlich als Akklamations- und Legitimationsinstanz (Teubner 1978; für die Weimarer Jahre Ullmann 1988: 136). Je nachdem, ob ein „starker“ oder „schwacher“ Präsident an der Spitze steht, kann sich das Machtgefüge in Richtung Geschäftsführung verschieben. Zu erklären ist die starke Stellung der Geschäftsführung zum einen damit, dass sie kontinuierlich Informationen sammelt und auswertet und dank dieses Informationsvorsprungs Entscheidungen des Präsidiums beeinflussen kann; zum anderen verkörpern die Verbandsfunktionäre als hauptamtliche Mitarbeiter im Gegensatz zum nur für wenige Jahre gewählten Präsidenten Kontinuität und können sich voll auf die Verbandsarbeit konzentrieren, während sich der ehrenamtliche Präsident oft „nebenher“ noch um sein Unternehmen kümmern muss. Dennoch entspricht es dem Selbstverständnis der Spitzenfunktionäre, in der Öffentlichkeit nicht zu häufig und eindrucksvoll in Erscheinung zu treten – der „gute Syndikus“, so drückte es Gustav Stein vom BDI einmal aus, agiere „immer in der zweiten Linie“ (Bührer 2004: 293). Der Verbandsbürokratie des BDI – ein Begriff, der von den Mitarbeitern aus Gründen der Abgrenzung gegenüber staatlichen und gewerkschaftlichen Bürokratien abgelehnt wird – gehörten Anfang der 1950er Jahre etwa 60 Personen an, zu Beginn der 1990er Jahre waren es über 200; heute liegt die Zahl bei etwa 150 hauptamtlich Beschäftigten. Dieser Personalabbau dürfte auch als eine Reaktion auf Kritik aus der Mitgliedschaft an einem „aufgeblähten“ Apparat zu deuten sein: Das Leitbild des „schlanken Unternehmens“ hinterließ auch im Verband seine Spuren. Das hatte und hat zur Folge, dass der BDI im Zuge des Outsourcings unter anderem die technischen Dienste einem externen „Facility-Management“ übertragen hat (BDI 2005: 67). In diesem Zusammenhang gewann auch die Rolle des organisatorisch selbständigen „Instituts der Deutschen Wirtschaft“ als publizistisch-wissenschaftlicher Dienstleister für den BDI (Mann 1994: 153í154) an Bedeutung. Die Leitungsgremien und Bürokratien der Unternehmerverbände waren lange Zeit fast ausschließlich Männerdomänen. Erst in jüngster Zeit hat sich das Bild etwas gewandelt. Da Frauen häufiger als noch vor 10 oder 15 Jahren an die Spitze von Unternehmen gelangen, nehmen sie neuerdings auch vereinzelt ehrenamtliche Verbandsaufgaben wahr. Zwar hat es noch keine Frau, anders als etwa in Frankreich 1, an die Spitze einer der drei großen Dachorganisationen geschafft, doch wurden mit Maria-Elisabeth Schaeffler und Bettina Würth im Dezember 2008 erstmals zwei Unternehmerinnen in das BDI-Präsidium gewählt (BDIInfo-Service 19/2008). Etwas günstiger fällt die Bilanz auf der hauptamtlichen Ebene aus: Mit Cornelia Yzer und Hildegard Müller stehen zurzeit erstmals Frauen an der Spitze der Geschäftsführung zweier Mitgliedsverbände des BDI, von 2005 bis 2008 übte Heike Maria Kunstmann das gleiche Amt beim wichtigen Arbeitgeberverband Gesamtmetall aus. In den Verbandsbürokratien unterhalb der Leitungsebene sind Frauen hingegen seit längerer Zeit keine Ausnahmen mehr. So liegt der Frauenanteil beim wissenschaftlichen Personal des
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Seit 2005 führt Laurence Parisot den französischen Arbeitgeberverband Medef; vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.7.2006.
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BDI bei etwa 30 Prozent. Gleichwohl notierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Herbst 2008: „Die Spitzenverbände der Wirtschaft werden von Männern beherrscht“. 2 3
Geschichte der Wirtschaftsverbände
Eine Betrachtung der Geschichte der Wirtschaftsverbände in Deutschland muss sich, will sie nicht unübersichtlich werden, angesichts einer Zahl von gegenwärtig über 1000 bundesweit, regional oder nach Industriezweigen organisierten Verbänden in exemplarischer Absicht auf deren Dachorganisation sowie auf einige einflussreiche Branchenspitzenverbände konzentrieren: also auf den „Bundesverband der Deutschen Industrie“ (BDI) und auf die Verbände wichtiger Industriezweige wie Kohlenbergbau, Eisen und Stahl, Chemie, Maschinenbau und Textil, seit den 1990er Jahren vor allem die Informations- und Telekommunikationsbranche. Dieser Überblick über die Verbandshistorie beginnt mit einem kurzen Rückblick auf die Entstehung, Konsolidierung und Veränderung des deutschen Verbandswesens bis 1945. Der zweite Abschnitt widmet sich der Phase des Wiederaufbaus bis zum Abschluss der Reorganisation des deutschen Verbandssystems 1949/50 und der Frage, warum der im 19. Jahrhundert eingeschlagene organisatorische Pfad nicht verlassen wurde. Der dritte Abschnitt setzt sich mit dem wechselhaften Verhältnis zwischen den Wirtschaftsverbänden und der „Politik“ in der Bundesrepublik auseinander, 3 ehe abschließend nach eventuellen Veränderungen im Gefolge der deutschen Einheit im Jahr 1990 gefragt wird. Wirtschaftsverbände von den Anfängen bis 1945 Die Ursprünge des heutigen Verbandswesens lassen sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Den Hintergrund und die auslösenden Faktoren für die ersten Gründungen bildeten die Ablösung der feudalistisch-ständisch organisierten durch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung und die damit einhergehende Verwirklichung der Assoziationsfreiheit, die beginnende Industrialisierung sowie die auf eine nationale Einigung gerichteten Bestrebungen (Ullmann 1988: 22í31; Sebald/Straßner 2004: 73í75; Kleinfeld 2007: 52í56). Staatliche Instanzen spielten in diesem Konstituierungsprozess von Anfang an eine entscheidende Rolle: Entweder wirkten sie selbst bei der Gründung der ersten Vereinigungen mit oder Unternehmer und Kaufleute schlossen sich zusammen, um ihre Interessen gegenüber diesen Instanzen besser zu Gehör bringen zu können. Entsprechend ihrem Verhältnis zum Staat – zunächst zu Preußen und den übrigen deutschen Einzelstaaten, später auch zum Deutschen Bund – lassen sich solche Vereinigungen, die auch öffentlichrechtliche Aufgaben übernahmen und deshalb von staatlicher Seite besondere Förderung erfuhren, und staatsunabhängige, „freie“ Interessenvertretungen unterscheiden (Ullmann 1988; Bührer 1997; Sebaldt/Straßner 2004). Beide Verbandstypen – für den Ersteren bürgerte sich der Name „Handelskammer“ bzw. „Industrie- und Handelskammer“ ein – entwi2 3
„Männer-Wirtschaft“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.9.2008. Die DDR spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, da in der dortigen Planwirtschaft für „freie Unternehmer“ und damit auch für Unternehmerverbände im westlichen Sinne kein Platz war; vgl. dazu Großbölting/ Schmidt 2002, besonders S. 24í32.
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ckelten sich parallel, wobei personelle Verflechtungen keineswegs ungewöhnlich waren. Vor allem die „freien“ Verbände erfreuten sich anfangs allerdings nur einer sehr kurzen Lebensdauer, denn eigentlich widersprach es dem Prinzip unternehmerischer Freiheit, mit anderen Fabrikanten und Kaufleuten, also den Konkurrenten auf dem Markt, eine gemeinsame Organisation zu bilden. Der Konflikt zwischen dem Wunsch, die eigene Autonomie zu wahren, und der Notwendigkeit, gegenüber staatlichen Stellen und bald auch gegenüber den sich zu Gewerkschaften zusammenschließenden Arbeitern „mit einer Stimme“ zu sprechen, endete deshalb anfangs meist mit dem raschen Zerfall solcher Zusammenschlüsse. Der bedeutendste dieser frühen Interessenverbände war der 1819 gegründete „Deutsche Handels- und Gewerbeverein“, der einen „einheitlichen deutschen Binnenmarkt und seine Abschirmung durch Schutzzölle“ forderte und mit diesem Programm rund 2000 Mitglieder – überwiegend Kaufleute, Verleger und Fabrikanten aus dem süddeutschen Raum – gewann, sich aber schon 1821 wieder auflöste (Ullmann 1988: 25í26). Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die oft nur lokal oder regional operierenden Vereine von langlebigeren, überregional und nach Branchen organisierten Verbänden abgelöst. Ihr Vorteil gegenüber den Kammern bestand aus Sicht der Industriellen darin, dass keine Kompromisse mit den Interessen anderer Branchen nötig waren. Eine Vorreiterrolle bei dieser Organisationsform spielte neben der Textilindustrie vor allem die Schwerindustrie, und daran sollte sich bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nichts ändern (Przigoda 2002). Zu nennen sind hier insbesondere der „Zollvereinsländische Eisenhütten- und Bergwerks-Verein“ von 1852 und der sechs Jahre später entstandene „Verein für die bergbaulichen Interessen des Oberbergamtsbezirks Dortmund“, kurz „Bergbau-Verein“. Gründe für die Pionierrolle der Montanindustrie waren die geringe Zahl an Unternehmen, die starke regionale Konzentration und die geringe Produktpalette (Plumpe 1996: 379). Die erste Gründung eines Dachverbands, die von Dauer war, glückte jedoch den Industrie- und Handelskammern in Gestalt des 1861 aus der Taufe gehobenen „Deutschen Handelstags“, der allerdings im Unterschied zu seinen Mitgliedsorganisationen, den Handelskammern, als „freier“ Verband ohne öffentlich-rechtliche Aufgaben fungierte. Auf die Zentralisierung der Staatsgewalt im Zuge der Reichseinigung im Jahr 1871 und den Anstieg staatlicher Interventionen in das Wirtschaftsleben, der mit der zwei Jahre später einsetzenden tiefgreifenden Wirtschaftskrise einherging, sowie auf die Beschleunigung der Industrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts reagierten die „freien“ Verbände 1876 mit der Bildung des „Centralverbands Deutscher Industrieller“ (CDI) (Kaelble 1967). Dort gaben die Schwer- und die Textilindustrie mit einem auf die Abschirmung der heimischen Märkte zielenden Programm den Ton an. Zusammen mit den entsprechenden Branchenverbänden versuchte der CDI mittels publizitätsträchtiger Kundgebungen, Eingaben an die befassten Ministerien oder direkter Kontakte mit Regierungsvertretern bis hinauf zum Reichskanzler seine Ziele durchzusetzen. Neben zoll- und handelspolitischen Anliegen brachten die immer selbstbewusster auftretenden Verbände auch verkehrs-, währungs- und sozialpolitische Themen zur Sprache. Da sie den staatlichen Stellen ihren wirtschaftlichen Sachverstand und statistisches Material anboten, stießen sie dort auch in wachsendem Maße auf Gehör, wie nicht zuletzt der zollpolitische Kurswechsel der Reichsregierung im Jahr 1879 in Richtung Protektionismus eindrucksvoll unterstrich. Stärker freihändlerisch eingestellte verarbeitende Industriezweige, die einen hohen Anteil an kleinen und mittelgroßen Betrieben aufwiesen und eher im Süden und Südosten des Deutschen Reiches beheimatet waren, sahen in den folgenden Jahren im Centralverband ihre
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Interessen immer weniger vertreten und schlossen sich deshalb 1895 zum „Bund der Industriellen“ zusammen (Ullmann 1976). Auch wenn dessen Einfluss nicht an den des CDI heranreichte, existierten damit zwei wirtschaftspolitisch ausgerichtete Spitzenverbände, die beide den Anspruch erhoben, die gesamte industrielle Unternehmerschaft zu repräsentieren – eine Anomalität im deutschen Verbandswesen, die erst nach dem Ersten Weltkrieg endgültig überwunden werden konnte. Ungeachtet dieser noch andauernden Spaltung der wirtschaftspolitischen Säule hatte das Verbandssystem zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Gestalt der 1913 gegründeten „Vereinigung der deutschen Arbeitgeber“ und des DIHT auch an der Spitze bereits zu jener dreigliedrigen Form gefunden, die für Deutschland charakteristisch blieb. Und zumindest die Führung des Centralverbands achtete bei aller Bereitschaft zur Kooperation mit den Regierungen auf Reichs- und Länderebene stets darauf, dass die eigene Handlungsautonomie nicht zu stark eingeschränkt wurde. In den gut vier Jahrzehnten zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg bildete sich somit „das deutsche Verbandswesen in seinen Grundzügen und in seiner ganzen Differenziertheit“ heraus, „wie es bis in die 1970er Jahre hinein im wesentlichen Bestand hatte“ (Lösche 2007: 26). Kennzeichen dieser Entwicklung waren insbesondere eine Differenzierung und Akzentuierung der Interessen nicht zuletzt als Reaktion auf den Aufstieg des Interventionsstaates, eine Anpassung der Verbandsorganisation an die veränderten politischen Rahmenbedingungen und eine Professionalisierung der Verbandsapparate (Sebaldt/ Straßner 2004: 78í79). Eine engere Zusammenarbeit der rivalisierenden „freien“ Verbände kam erst während des Ersten Weltkriegs im „Kriegsausschuss der Deutschen Industrie“ zustande (Zunkel 1974). Sie hofften, ihre Interessen gegenüber Regierung, Bürokratie, Parlament und Militär so wirkungsvoller vertreten zu können. Gleichzeitig wurden sie von der Regierung mit kriegswirtschaftlichen Aufgaben wie der Auftragsvergabe oder der Rohstofflenkung beauftragt. Diese partielle „Verstaatlichung“ der autonomen Verbände überdauerte das Kriegsende jedoch nicht und sollte deshalb nicht als eine Unterbrechung der freien und evolutionären Entfaltung des Verbändewesens (Sebaldt/Straßner 2004: 79) interpretiert werden, zumal der CDI, der „Bund der Industriellen“ und die anderen involvierten Verbände ihre Handlungsspielräume zu verteidigen suchten. Die vorübergehende, erzwungene Zusammenarbeit der Spitzenverbände scheint den Weg zur Verstetigung ihrer Kooperation geebnet zu haben: 1919 gelang endlich die Vereinigung zum „Reichsverband der Deutschen Industrie“ (Ullmann 1988: 134í136). Bei Kriegsende herrschte jedoch zunächst große Unsicherheit über die Zukunft der kapitalistischen, auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln gründenden und durch den Markt regulierten Wirtschaftsordnung und damit zugleich über das Schicksal der Unternehmer und ihrer Organisationen. Da die Regierung in der Zeit der revolutionären Unruhen als verlässlicher Partner ausfiel, arrangierten sich führende Großindustrielle hauptsächlich aus der Schwer-, Elektro- und Chemieindustrie, zunächst unter Umgehung ihrer Verbände, mit den Gewerkschaften. Beide Seiten einte das Ziel, weitergehenden revolutionären Bestrebungen durch sozialpolitische Verbesserungen wie die Einführung des Achtstundentags zuvorzukommen. Diese „Zentralarbeitsgemeinschaft“ wird oft als Paradebeispiel für den deutschen Korporatismus angesehen. Diese Deutung erscheint allerdings zweifelhaft, da der Staat als Garant der zwischen Unternehmern und Gewerkschaften getroffenen Vereinbarungen fehlte und die Unternehmerverbände das aus der Not geborene Bündnis nur halbherzig trugen, ehe es 1924 endgültig zerbrach (Feldman/Steinisch 1985).
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Das Verhältnis zum Staat erfuhr in den Jahren der Weimarer Republik jedenfalls keine grundlegenden Veränderungen: Zwar verloren die Unternehmerorganisationen ihren privilegierten Zugang, zumindest solange Sozialdemokraten an der Regierung beteiligt waren, und die per Verfassung garantierte Koalitionsfreiheit schützte auch die Gewerkschaften. Auf die gewachsene Bedeutung des Parlaments reagierten die Unternehmerorganisationen mit verstärktem Lobbying gegenüber den bürgerlich-liberalen und national-konservativen Parteien. Es fehlte auch nicht an Möglichkeiten, direkte Kontakte zur Regierung herzustellen, nicht zuletzt durch die gängige Praxis, ehemalige hohe Beamte als Geschäftsführer einzustellen. Demgegenüber spielte der Reichswirtschaftsrat, ursprünglich als eine Art „Wirtschaftsparlament“ geplant, keine nennenswerte Rolle für die Wirtschaftsverbände. Von größerer Bedeutung als Ausdruck korporatistischer Konfliktregulierung, wenngleich in ihren Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit und die politische Stabilität der Republik umstritten, war die staatliche Zwangsschlichtung, also die Berechtigung eines von der Regierung bestellten Schlichters, einen Tarifstreit per Dekret zu beenden (Bähr 1989). Obwohl unternehmerische Interessen insgesamt keineswegs benachteiligt wurden, war die Einstellung gegenüber der Weimarer Demokratie von Anfang an zwiespältig. Am Ende gewannen vor allem in den schwerindustriellen Verbänden jene Kräfte die Oberhand, die entweder eine autoritäre Lösung der Staats- und Wirtschaftskrise – bis hin zu einer Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten – favorisierten oder zumindest keine Neigung zeigten, die Weimarer Demokratie zu verteidigen (Wolff-Rohe 2001; Neebe 1981). Auch in organisatorisch-struktureller Hinsicht war das Verbandsgefüge nach der Gründung des Reichsverbands trotz der zahlenmäßigen Expansion im Wesentlichen durch Kontinuität gekennzeichnet. Im Binnenverhältnis fand allerdings in den ersten Jahren der Weimarer Republik eine Machtverschiebung von der Schwerindustrie zur verarbeitenden Industrie mit den Leitbranchen Elektro, Chemie und Maschinenbau statt. Seit Mitte der 1920er Jahre konnte die Schwerindustrie, nicht zuletzt dank eines Abkommens mit den eisenverbrauchenden Industrien, ihre frühere Macht teilweise wiederherstellen und zumindest eine „Vetoposition“ (Weisbrod 1978: 17 et passim) gegen den in der Wirtschafts- und Staatskrise der frühen 1930er Jahre „gemäßigten, kooperationsbereiten Kurs“ des konkurrierenden Chemie-Elektro-Flügels behaupten (Ullmann 1988: 137í143). Auf den ersten Blick scheint es, als habe die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur tief greifende Veränderungen zur Folge gehabt. So wurden beispielsweise die sozialpolitischen Unternehmerorganisationen gemeinsam mit den „Vertretungen“ der Arbeiter und Angestellten in die „Deutsche Arbeitsfront“ eingegliedert und die wirtschaftspolitischen Industrieverbände auf Reichs- und Branchenebene nach einem kurzen „ständischen“ Experiment in „Reichs-“ bzw. „Wirtschaftsgruppen“ reorganisiert, mit sechs anderen Reichsgruppen in einer „Reichswirtschaftskammer“ zusammengefasst und formal dem Reichswirtschaftsministerium unterstellt. Schließlich setzte die Regierung neue organisatorische Richtlinien durch: Ausschließlichkeit, d. h., für jeden Industriezweig war nur eine Organisation erlaubt, die Zwangsmitgliedschaft aller Unternehmen einer Branche und das Führerprinzip (Ullmann 1988: 192í201; Kleinfeld 2007: 69í75). Der Staat „markierte die wirtschaftspolitischen Ziele“, die die Wirtschaft verwirklichen sollte. So gerieten die Verbände in eine „Zwitterstellung“ als „Sprachrohr der Industrie einerseits und Transmissionsstelle staatlichen Willens andererseits“ (Volkmann 2003: 76). Ungeachtet dieses Formwandels vermochten insbesondere die kriegswirtschaftlich wichtigen Unternehmerorganisationen, an ihrer Spitze die „Reichsgruppe Industrie“ (vgl. Kahn 2006), ein hohes Maß an
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personeller und funktionaler Kontinuität zu bewahren. Mit anderen Worten, die Verbände gingen keineswegs völlig in der NS-Wirtschaftsverwaltung auf, wie in der industrienahen Literatur oft behauptet (Kannapin 1966). Dank ihrer dringend benötigten fachlichen Kompetenz gelang es ihnen, auch unter den Bedingungen der „gelenkten Marktwirtschaft“ 4 des „Dritten Reiches“ ihren Einfluss zu verteidigen. Reorganisation auf alten Pfaden, 1945í1950 Den wirtschaftlichen Sachverstand der Verbände wollten auch die westlichen Besatzungsbehörden nutzen. So enthob beispielsweise die britische Besatzungsregierung die Wirtschaftsgruppen zwar ihrer Aufgaben, gestattete aber zugleich die Gründung neuer Organisationen, sofern diese auf den Grundsatz der Zwangsmitgliedschaft verzichteten und sich lediglich um „unpolitische“ Angelegenheiten kümmerten. Als erste Unternehmervertretungen konstituierten sich jedoch die Industrie- und Handelskammern, deren lokale oder regionale Einzugsbereiche oft mit den Verwaltungsbezirken der Militärregierungen in ihren jeweiligen Besatzungszonen übereinstimmten; die Militärbehörden griffen auch deshalb gerne auf die Wirtschaftskammern zurück, weil sie, anders als die Wirtschaftsgruppen, im „Dritten Reich“ eher im Hintergrund agiert hatten und deshalb als weniger belastet galten. In der britischen und in der französischen Zone durften sie sogar ihre öffentlich-rechtlichen Zuständigkeiten behalten, während die Amerikaner auf privatrechtlichen Vereinigungen ohne Zwangsmitgliedschaft bestanden. Die von alliierter Seite gewünschten Schrittmacherdienste beim Aufbau von Fachverbänden konnten die Kammern indes nicht leisten, weil sich die Leitungsstäbe der Wirtschaftsgruppen ebenfalls rasch und mit Erfolg darum bemühten, direkte Kontakte zu den Besatzungsbehörden zu knüpfen. Bereits seit dem Spätsommer 1945 wurden in der britischen Zone entsprechend den von der Militärregierung vorgegebenen Grundsätzen „freie“ Verbände für alle wichtigen Industriezweige errichtet. Dabei war eine Zwangsmitgliedschaft ebenso verboten wie eine politische Betätigung. Erlaubt war ausschließlich die organisatorisch-technische Beratung. Die Gründungsanträge unterlagen der Genehmigungspflicht seitens der zuständigen Militärbehörde (Bührer 1986: 32í33). Da in den Geschäftsführungen zunächst „vielfach die gleichen Damen und Herren wie vor 1945“ tätig waren (Herrmann 1978: 91), fiel manchen der Abschied von den Prinzipien und Praktiken der nationalsozialistischen Zeit nicht leicht. Lediglich Neulinge wie der erste Vorsitzende der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie Günter Henle plädierten dafür, dass sich die Wirtschaft von der „in der jüngsten Zeit eingetretenen Bevormundung befreien“ müsse, gleichgültig, ob „diese Vormundschaft von ursprünglich selbst geschaffenen Organisationen oder von staatlichen Einrichtungen“ ausgeübt werde. 5 Das Verhältnis zur staatlichen Gewalt blieb auch auf der Tagesordnung, als mehrere zonenweite Branchenverbände – darunter die Vertretungen für Eisen und Stahl, Automobil, Bau, Chemie, Elektro, Maschinenbau und Textil – im Sommer 1946 erste Versuche zur Gründung eines branchenübergreifenden „Verbands der Verbände“ unternahmen, allerdings zunächst erfolglos, da die britische Militärregierung damals lediglich Zusammenschlüsse von Unternehmen eines Industriezweiges erlaubte. Von diesem Verbot ließen sich die Verbandsspitzen jedoch nicht sonderlich beeindrucken: Auf informeller Basis tra4 5
Vgl. zur Begrifflichkeit Buchheim/Scherner 2003. Günter Henle im August 1945, zitiert nach Bührer 1986, S. 36.
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fen sich beispielsweise die Geschäftsführer der Vereinigungen der Eisen- und Metallindustrie und „benachbarter“ Industriezweige ungeachtet der fehlenden offiziellen Erlaubnis. Als die mittlerweile errichtete deutsche „Verwaltung für Wirtschaft“ im Auftrag der Amerikaner und Briten im Frühjahr 1948 im Wirtschaftsrat, dem Vorläufer des Bundestags, einen Gesetzentwurf vorlegte, der eine rigide staatliche Aufsicht über die Verbände vorsah, 6 reagierten die Betroffenen recht heftig und klagten über eine drohende staatliche „Überwachung“, die sich „mit den Rechten einer modernen Demokratie und der in ihr wurzelnden Koalitionsfreiheit nicht mehr in Einklang bringen“ lasse. 7 Mit anderen Worten: Die Vertreter der „freien“ Verbände sprachen sich für eine klare Trennung staatlicher und verbandlicher Aufgaben aus. Das zweite Problem, das es nach dem Ende des Krieges zu klären galt, betraf die Struktur des Verbandssystems. Nachdem nahezu gleichzeitig Industrie- und Handelskammern und autonome wirtschaftspolitische Verbände gegründet worden waren, harrte noch die Frage der sozialpolitischen Zuständigkeiten auf eine Antwort. Bei dem gescheiterten Versuch der Gründung eines Dachverbands vom August 1946 hatte eine Zweidrittelmehrheit der Anwesenden gegen eine entsprechende Ausweitung des Aufgabenbereichs der Wirtschaftsverbände votiert. Eine definitive Entscheidung stand zwar noch aus, aber mit dem Aufbau der ersten Arbeitgebervereinigungen auf regionaler oder Branchenebene wurden bereits die Weichen in Richtung der Rückkehr zum vertrauten, dreigliedrigen System gestellt (Bührer 1989: 143 f.). Die Arbeitgeberverbände waren die Ersten, die sich im April 1949 offiziell zu einer einheitlichen Spitzenorganisation zusammenschließen durften. Am 19. Oktober folgten die wirtschaftspolitischen Verbände – zunächst noch unter dem bescheiden klingenden Namen „Ausschuss für Wirtschaftsfragen der industriellen Verbände“ –, zuletzt, am 27. Oktober 1949, konstituierte sich der DIHT. Gut vier Jahre nach Kriegsende erlebte das traditionelle deutsche Verbandswesen seine Wiedergeburt. Die Gründe dafür, dass dies ohne größere Debatten und teilweise sogar gegen den Wunsch alliierter Stellen geschehen war, dürften darin zu sehen sein, dass sich dieses System in der Vergangenheit aus der Sicht von Unternehmern und Verbandsfunktionären bewährt hatte und Organisationen bekanntlich über ein beträchtliches Beharrungsvermögen verfügen. Die Verbandsstrategen knüpften mit teils „altem“, teils „neuem“ Personal an das Verbändesystem der Weimarer Zeit an. Und zumindest in der Phase der „Neugründung“ konnte die Schwerindustrie ihre traditionelle Dominanz restaurieren. Keine Neuauflage erlebte hingegen die traditionelle Demokratieskepsis oder sogar -feindschaft in Unternehmerkreisen, wenngleich der Prozess des Umdenkens und der Anpassung nicht mit der Gründung der Bundesrepublik beendet war. Wirtschaftsverbände in der Bundesrepublik Die Entwicklung der Wirtschaftsverbände in der 40-jährigen Geschichte der „alten“ Bundesrepublik wies verschiedene Charakteristika auf: Zunächst fällt das Bemühen dieser Verbände auf, gegenüber dem Staat – ungeachtet wiederholter korporatistischer Experimente – ihre Autonomie zu wahren; wie robust und demonstrativ dieses Bemühen jeweils ausfiel, hing im Wesentlichen, aber nicht ausschließlich davon ab, ob „bürgerliche“ Parteien oder die Sozialdemokratie die Regierung stellten bzw. dominierten. Von einer „Herrschaft der 6 7
Entwurf eines Gesetzes über Wirtschaftsverbände, ohne Datum, Archiv des BDI, RA 4. Vermerk Froehlich vom 23.3.1948, ebd.
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Verbände“, wie sie Theodor Eschenburg Mitte der 1950er Jahre befürchtete (Eschenburg 1955; 1989), 8 konnte, dies sei vorweg betont, freilich weder damals noch später die Rede sein. Außerdem setzte sich die seit den 1920er Jahren zu konstatierende Machteinbuße der Schwerindustrie in der Verbändelandschaft zugunsten des Maschinenbaus, der Chemie-, Automobil- und Elektroindustrie fort. Damit verbunden waren eine stetige Ausdehnung und sektorale Differenzierung etwa in der pharmazeutischen Industrie und im Dienstleistungssektor (Lang/Schneider 2007), die teilweise durch neue Probleme wie Umweltschutz oder die zunehmende Europäisierung ausgelöst wurden. Erwähnung verdienen ferner wiederholte, aber letztlich erfolglose Bemühungen um eine Konzentration der Kräfte mittels engerer Kooperation bis hin zur Fusion der Verbandsapparate sowie dezidierte Versuche verschiedener Verbände, das Image der Branche bzw. der Unternehmerschaft insgesamt durch Public-Relations-Aktivitäten aufzubessern. Schließlich lässt sich eine Normalisierung des Verhältnisses zu den Gewerkschaften konstatieren. Zunächst zum Verhältnis der Wirtschaftsverbände zum Staat. In den 1950er Jahren standen eine Reihe wichtiger wirtschafts- und sozialpolitischer Entscheidungen an, und die Interessenvertretungen der Unternehmer, allen voran der BDI, bemühten sich nach Kräften und in teilweise ausgesprochen „hemdsärmeliger“ Art, darauf Einfluss zu nehmen. Schon im Frühjahr 1950 beschwerte sich etwa Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard über den Geschäftsführer des BDI, weil dessen Briefe und Auftreten den Anschein erweckten, „als ob die Geschäftsführung des BDI berufen sei, das Wirtschaftsministerium zu führen“. 9 Der Ausgang der ersten großen Kraftproben mit den Gewerkschaften und der Regierung beispielsweise wegen der Frage der Montanmitbestimmung 1950/51 oder mit dem Bundeswirtschaftsminister wegen der Frage des Wettbewerbsgesetzes ließ die Wirtschaftsverbände, an der Spitze den BDI, keineswegs als strahlende Sieger dastehen. 10 Ihr Machtzuwachs im Zusammenhang mit der Sicherung der Rohstoffversorgung zur Zeit der Korea-Krise, als sie unter der Maxime der „Mobilisierung der Selbstverantwortung der Wirtschaft“ Lenkungsaufgaben übernahmen, war nur von kurzer Dauer. 11 Schließlich ließen die Wirtschaftsverbände auch die Gelegenheit verstreichen, in Gestalt eines Bundeswirtschaftsrates korporatistische Strukturen zu etablieren. Dieses für die 1950er und frühen 1960er Jahre zu konstatierende Desinteresse hatte einen triftigen Grund: Vor allem der BDI – oder genauer sein erster, langjähriger Präsident Fritz Berg – verfügte über privilegierte Beziehungen zum Bundeskanzler. Deshalb zeigte der mächtigste industrielle Spitzenverband keinerlei Interesse an korporatistischen Arrangements, die doch nur die anderen beiden Spitzenverbände oder gar die Gewerkschaften ins Spiel gebracht hätten (Bührer 2000: 44í47). Mit der Bildung der Großen Koalition Mitte der 1960er Jahre gingen die Zeiten eines gewissermaßen „natürlichen“ Einverständnisses mit der Regierung in Fragen der Wirtschafts- und Ordnungspolitik, mit Abstrichen auch der Sozialpolitik, zu Ende. Die Unternehmerverbände sahen sich plötzlich gezwungen, ihr Verhältnis zur nunmehr christlichsozialdemokratischen Regierung und insbesondere zum sozialdemokratischen Wirtschafts8 9 10 11
Eschenburg hatte allerdings nicht nur die Unternehmerverbände im Visier. Einen knappen Überblick über die Hintergründe der Verbändediskussion bietet Grande 2000. So jedenfalls die Information des BDI-Präsidiumsmitglieds Hermann Reusch im Mai 1950, zitiert nach Bührer 1989, S. 144. Vgl. zur Mitbestimmungsproblematik (aus gewerkschaftsnaher Sicht) Müller 1991, zum Wettbewerbsgesetz (aus neoliberaler Sicht) Mierzejewski 2005, bes. S. 170í216. Anders Abelshauser 2004, S. 162í174, der diese Episode als Rückkehr zur korporativen Marktwirtschaft deutet.
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minister Karl Schiller neu zu regeln. Die Möglichkeit dazu bot die „konzertierte Aktion“, die gemäß Stabilitätsgesetz vom Mai 1967 die Voraussetzungen für ein gleichzeitiges, aufeinander abgestimmtes Verhalten der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmerverbände schaffen sollte, indem wirtschafts- und sozialpolitische Orientierungsdaten erörtert wurden. Schon bald regte sich auf Unternehmerseite Widerstand gegen eine Ausweitung der Beratungsthemen und insbesondere gegen die Versuche des Wirtschaftsministers, den sogenannten Lohnleitlinien ein höheres Maß an Verbindlichkeit beizumessen, als dies nach Ansicht der Arbeitgeber – und auch der Gewerkschaften – mit der Tarifautonomie verträglich war. Bereits anderthalb Jahre nach Beginn der „konzertierten Aktion“, im Herbst 1968, stand für den BDI deshalb fest, dass der Versuch, sie auf Dauer „zu einem institutionalisierten Beratungsgremium der Bundesregierung auszubauen (…), nicht zweckmäßig“ sei. 12 Obwohl die „konzertierte Aktion“ erst 1977 aufgelöst wurde, hatte sie ihre Bedeutung doch bereits Ende der 1960er Jahre eingebüßt, weil zumindest die Unternehmerseite jedwede Einengung ihres Handlungsspielraums nicht hinnehmen wollte. Daran änderte sich auch in späteren Zeiten nichts, mochte es auch wiederholt Anläufe zur Wiederbelebung korporatistischer Verfahren und Instanzen geben. Weder der „soziale Trialog“ Mitte der 1980er Jahre noch die verschiedenen Anläufe zu einem „Bündnis für Arbeit“ in den späten 1990er Jahren waren von Erfolg gekrönt (Schroeder 2001; Fickinger 2005). Zumindest der BDI ließ keinen Zweifel an der „Notwendigkeit autonomer, vom Staat und den Parteien unabhängiger Verbände in der Gesellschaft“ aufkommen: „Versuche, die Mitwirkung der Verbände am staatlichen Willensbildungsprozess unter Verwischung der Verantwortung staatlicher Organe zu institutionalisieren“, gefährdeten das Gemeinwohl und vertrügen sich nicht mit einer pluralistischen Ordnung (BDI 1986: 36, 27). Dieser Standpunkt gilt, sieht man von den für die Arbeitgeberverbände aus ihren tarifpolitischen und für die Industrie- und Handelskammern bzw. den DIHK aus den öffentlichrechtlichen Verpflichtungen herrührenden Besonderheiten ab, auch für die anderen industriellen Verbände. Obgleich die Pflege der Beziehungen zu den Gewerkschaften, anders als bei den Arbeitgeberverbänden, nicht zu den vorrangigen Aufgaben der Wirtschaftsverbände zählte und zählt, intervenierten sie wiederholt, wenn sie wichtige wirtschafts- oder allgemeinpolitische Interessen tangiert glaubten. So fiel es insbesondere den Verbänden der Schwerindustrie und, unter deren Einfluss, auch dem BDI anfangs recht schwer, sich mit der institutionalisierten Mitbestimmung der Gewerkschaften in der Montanindustrie abzufinden, das Verhältnis normalisierte sich jedoch im Laufe der 1950er und 1960er Jahre deutlich. Dazu trug nicht zuletzt der direkte und kontinuierliche Kontakt im Rahmen der bereits erwähnten „konzertierten Aktion“ bei. Dieser Normalisierungsprozess wurde aber immer wieder von gegenläufigen Tendenzen unterbrochen. Dies war beispielsweise in den frühen 1970er Jahren der Fall, als einige Gewerkschaften unter dem Eindruck der ambitionierten Reformprogramme der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung unter Rückgriff auf mitunter klassenkämpferische Rhetorik zeitweise in die Offensive gingen (Kempter 2003; Remeke 2005). Das vermeintliche Machtdefizit im Vergleich zu den Gewerkschaften lieferte auch eines der Hauptargumente zugunsten einer Fusion bestimmter Verbände. Am weitesten gediehen diese Pläne in den 1970er Jahren unter der Federführung des damaligen BDIPräsidenten Hans-Günther Sohl. Dieser verfolgte unter dem Mantel der Verschwiegenheit 12
Protokoll der Präsidiumssitzung des BDI am 20.9.1968, Archiv des BDI, Pro 18; vgl. dazu Bührer 2000, S. 48í50.
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gemeinsam mit seinem Wunschkandidaten Hanns-Martin Schleyer diesen Plan. In der von Schleyer praktizierten Doppelpräsidentschaft beim BDI und der BDA sah man die erste Stufe einer späteren organisatorischen Fusion der beiden Dachverbände. Das schnelle Scheitern dieser Pläne lässt sich nicht allein mit der späteren Entführung und Ermordung Schleyers durch ein RAF-Kommando erklären, sondern auch mit den Zweifeln und Widerständen in den Apparaten der beiden Verbände sowie schon bald nach seinem Amtsantritt sogar bei Schleyer selbst (Bührer 2008: 236í237). Hatte bis Mitte der 1960er Jahre, wie erwähnt, im Großen und Ganzen ein mehr oder weniger stillschweigendes Einverständnis zwischen Regierung und Wirtschaftsverbänden geherrscht, sahen sich Letztere in der zweiten Hälfte jenes Jahrzehnts mehr und mehr unter Rechtfertigungsdruck seitens der Öffentlichkeit. Der VDA beispielsweise reagierte auf diese ungewohnte Situation mit einer Intensivierung seiner Öffentlichkeitsarbeit. Um das in die Kritik geratene Produkt Automobil zum Symbol für Mobilität und Freiheit umzudeuten und zugleich gegen eine „‚ideologisch‘ überformte und damit unwägbar gewordene Verkehrpolitik“ zu protestieren, ging man in die Offensive (Tilly 2008: 232). Auch der BDI und die BDA sahen die Unternehmerschaft in der Defensive und von Imageproblemen geplagt. Während der BDI dem schwindenden Ansehen mit einer Public-RelationsOffensive zu begegnen versuchte, stellte sich der BDA-Präsident Schleyer bspw. der Illustrierten „Stern“ für eine „Homestory“ zur Verfügung (Hachmeister 2004: 311). Deutsche Einheit, Globalisierung, Europäisierung und ökonomischer Strukturwandel: Auswirkungen auf die Verbände Die im Zuge des Einigungsprozesses aufkommende Frage nach den Perspektiven der Unternehmerverbände im vereinten Deutschland hätte durchaus zu einer Neuordnung des Verbandssystems führen können, zumal die Verbände und ihre überkommenen Strukturen in der „alten“ Bundesrepublik keineswegs unumstritten waren. Der Wunsch von Unternehmen, Kosten zu sparen, eine sinkende „Bindungsbereitschaft“ in der jüngeren Unternehmergeneration und die geringe „Transparenz von Verbandsleistungen, vor allem des formellen und informellen Lobbying für die Unternehmen“, äußerten sich in einer zunehmenden „Verbandsmüdigkeit“ bis hin zur Verbandsflucht (von Wartenberg 2000: 161). Doch bekanntlich blieben die gewohnten Strukturen im Wesentlichen erhalten, das westdeutsche Verbandswesen wurde im Zuge des „Institutionentransfers“ auf Ostdeutschland übertragen. Mit anderen Worten, die „westdeutschen Verbände dienten als blueprint, um dieses Modell in Ostdeutschland zu implementieren“ (Lehmbruch 2000: 92). Der Umbruch hatte jedenfalls keine nennenswerten Auswirkungen auf die Programmatik und Organisation der Wirtschaftsverbände. Dies lässt sich von drei anderen, eng miteinander verwobenen Wandlungsprozessen nicht behaupten: Die Globalisierung, die in den 1990er Jahren mehr und mehr ins öffentliche Bewusstsein trat, die sich in diesem Jahrzehnt ebenfalls intensivierende Europäisierung und der ökonomische Strukturwandel, der mit der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1973 eingesetzt hatte und nun eine Beschleunigung erfuhr, verstärkten die Tendenzen, die bereits die Verbandsszenerie der 1980er Jahre gekennzeichnet hatten. Insbesondere der Trend zur sektoralen Ausdifferenzierung hielt an. Deutlichstes Beispiel ist die Informations- und Kommunikationsbranche als neues Gravitationszentrum des Dienstleistungssektors. Hier stieg die Zahl der selbständigen Organisationen, die keinem zentralen Dachverband ange-
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hören, besonders stark an. 1999 entstand als bislang größter dieser Verbände der „Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien“ (BITKOM) infolge der Fusion dreier zuvor unabhängiger Organisationen. BITKOM schloss sich im selben Jahr dem BDI an. Eine Hierarchisierung, wie sie in fast allen anderen Industriezweigen anzutreffen ist, fand im Informations- und Kommunikationssektor bislang dennoch nicht statt. Als sein Merkmal lässt sich festhalten, dass „Verbände an den Schnittstellen ehemaliger Sektoren neu entstehen oder aus Fusionen von Verbänden hervorgehen“ (Lang/Schneider 2007: 231). Die feste Verankerung des Verbändewesens in bestimmten Branchen, die für das deutsche Verbandswesen von Anfang an kennzeichnend war, löst sich also allmählich auf. Resistent zeigten sich die großen Spitzenverbände allerdings bislang gegenüber Forderungen – auch aus den eigenen Reihen – nach einem organisatorischen Zusammenschluss. Wie ist dieses bemerkenswerte Beharrungsvermögen zu erklären? Warum scheiterten die Versuche zu einer Fusion insbesondere der wirtschafts- und der sozialpolitischen Verbände, von einigen Ausnahmen auf Landesebene abgesehen? Ludolf von Wartenberg, damals Hauptgeschäftsführer und Präsidiumsmitglied des BDI, verwies anlässlich des 50-jährigen Jubiläums seines Verbands auf die „bewährte Arbeitsteilung“ zwischen BDI, BDA und DIHT: In einer „pluralen Mediendemokratie“ sei eine „stark zentralisierte wirtschaftspolitische Interessenvertretung weniger schlagkräftig“ als eine „optimierte Zusammenarbeit der Spitzenverbände mit ihrer unterschiedlichen Klientel“. Außerdem praktiziere man bereits eine engere Kooperation mit den beiden anderen Verbänden und verspreche sich überdies vom „Bezug des gemeinsamen Hauses“ in Berlin eine Stärkung der „vorhandenen Synergien“ (von Wartenberg 2000: 162). Gleichwohl blieb das Thema „Fusionen“ auf der verbandspolitischen Agenda, und in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre schlossen sich mehrere wirtschafts- und sozialpolitische Unternehmerverbände auf Landesebene – beispielsweise in Bayern und Sachsen – sowie auf Branchenebene – etwa in der Stahlverarbeitung – zusammen. Die Fusionspläne zweier einflussreicher Spitzenverbände – des VDMA und des ZVEI – scheiterten hingegen (Burgmer 1999: 211í220). Insofern überraschte es, dass Mitte 2006 erneut mehr oder weniger öffentlich über eine Fusion auf Dachverbandsebene nachgedacht wurde. Erstaunlicherweise waren es zunächst der BDI und der DIHK, die Synergieeffekte nutzen und ihre Schlagkraft mittels einer intensiveren Kooperation bis hin zu einem organisatorischen Zusammenschluss erhöhen wollten. 13 Dieser Verstoß blieb indes ebenso ohne konkretes Ergebnis wie die etwa ein Jahr später kursierenden Überlegungen zur Fusion von BDI und BDA. Der Hauptgrund dürfte darin zu sehen sein, dass der BDI ungeachtet gelegentlich aufkommender Kritik in der Presse glaubt, sich noch einer vergleichsweise großen Zustimmung erfreuen zu können. 14 In der Rückschau weist das unternehmerische Verbandswesen in Deutschland tatsächlich ein erstaunlich hohes Maß an Kontinuität auf, und zwar vor allem mit Blick auf die „Drei-Säulen-Struktur“, aber auch im Verhältnis zum Staat. Seit Mitte der 1970er Jahre das „Goldene Zeitalter“ des Booms der Nachkriegsepoche zu Ende gegangen war, suchten Unternehmen und Unternehmer insbesondere aus jenen Branchen, die von der Krise besonders hart getroffen wurden, mitunter nach eigenen und direkten Wegen der Interessenpolitik an „ihren“ Verbänden vorbei. Letztere büßten damit indes ihre Bedeutung keineswegs ein. 13 14
Vgl. „BDI und DIHK prüfen Fusion“ und „Ungleiches Paar“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.9.2006; „Die Wirtschaftsverbände wollen schlagkräftiger werden“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.9.2006. Vgl. BDI-Pressemitteilung vom 20.7.2007.
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Erstaunlich mutet diese Kontinuität nicht zuletzt deshalb an, weil sie der ansonsten gerne betonten Bereitschaft der Unternehmer widerspricht, neue Möglichkeiten zu erproben. Selbstverständlich passten sich die Wirtschaftsverbände neuen Organisationsmodellen und Managementleitbildern an: „Verschlankung“ der Verwaltung, „flache Hierarchie“ oder „Outsourcing“ – all dies wird nicht nur propagiert, sondern auch praktiziert. Ebenso reagierten sie auf die Veränderungen in der industriellen Architektur der Bundesrepublik. Allerdings dominieren im Kern Elemente der Kontinuität. Eine Zusammenfassung dieses Rückblicks auf die Entwicklung der Wirtschaftsverbände seit dem frühen 19. Jahrhundert unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktionen steht vor dem Problem, dass Funktionszuschreibungen mit den jeweiligen theoretischen Orientierungen der einschlägigen Forschung variieren. Generell lässt sich konstatieren, dass klassische „Dienstleistungen“ wie die Aggregation, Selektion und Artikulation von Interessen, Integration und Partizipation, Lobbying oder Serviceleistungen für die Mitglieder (vgl. Straßner 2006) noch immer, wenn auch weniger intensiv, nachgefragt werden. Auf keine dieser Funktionen haben die Wirtschaftsverbände indes einen „Exklusivanspruch“, vielmehr konkurrieren sie mit anderen Akteuren wie Parteien, sozialen Bewegungen und Vereinen (Willems/vonWinter 2007: 24í26) oder neuerdings mit Rechtsanwaltskanzleien und Beratungsfirmen (Burgmer 2002). Schenkt man einer vom BDI in Auftrag gegebenen Befragung Glauben, dann schätzen Mitglieder und Unternehmen vor allem die wirtschaftspolitische Expertise des BDI, in der Präsident Thumann denn auch „das größte Kapital“ seines Verbandes sieht.15 Vergleicht man jedoch den Einfluss, den die Verbände im 19. und auch noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts auf die Wirtschaftspolitik hatten – sei es in außenwirtschaftlichen Fragen wie dem Schutzzoll, sei es in binnenwirtschaftlichen Fragen wie der Ordnungsoder der Finanzpolitik –, mit ihrer heutigen Rolle, dann ist ein Bedeutungsverlust nicht zu übersehen. Die Zahl der „Mitspieler“ auf nationaler und vor allem internationaler Ebene ist merklich gewachsen, große Unternehmen intervenieren auch oder mitunter ausschließlich direkt, europäische und internationale Institutionen schränken die Handlungsspielräume „nationaler“ Politik immer mehr ein. Auch ihre Rolle als ordnungspolitisches „Gewissen“ können sie zurzeit nicht mehr in gewohnter Weise ausfüllen, seit die Marktwirtschaft unter wachsendem Legitimationsdruck steht: „Wir sind und bleiben die Stimme der ökonomischen Vernunft“, behauptet zwar BDI-Hauptgeschäftsführer Werner Schnappauf (BDI 2008: 17), doch findet diese Stimme seltener Gehör. Viele der einst wichtigen Funktionen der Wirtschaftsverbände sind für ihre Mitglieder entweder nicht mehr „lebensnotwendig“ oder können von den Verbandsapparaten nicht mehr im früheren Umfang offeriert werden. Kurzum, sowohl die „Blockademacht“ als auch das „Steuerungs- und Selbststeuerungspotential“ sind schwächer geworden (Grande 2000: 20). Dass den Verbänden indes mittels einer „richtigen“ Wirtschaftspolitik die Daseinsberechtigung entzogen werden würde, so die vor allem für die Verbandsbürokratien provozierende Behauptung des damaligen BDIPräsidenten Hans-Olaf Henkel (Henkel 2000: 10) – von diesem Zustand scheint die Bundesrepublik noch weit entfernt. 4
Aktuelle und künftige Herausforderungen
Die Herausforderungen, vor denen Interessenverbände zurzeit generell stehen, – die wachsende Zahl von Verbänden, die Individualisierung, Pluralisierung und Heterogenisierung 15
Vgl. Fußnote 14.
I.2 Geschichte und Funktion der deutschen Wirtschaftsverbände
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von Interessenorientierungen, der beschleunigte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wandel, die Veränderung der Formen und Inhalte von Politik sowie deren Medialisierung (Willems/von Winter 2007: 26í33) – betreffen Wirtschaftsverbände nur zum Teil. Ein nennenswerter Anstieg der Zahl der Verbände beispielsweise ist nur in neuen Sektoren wie der Information und Telekommunikation zu konstatieren, konkurrierende Neugründungen wie in der pharmazeutischen Industrie (Schroeder 2003: 296í297) stellen bislang eher die Ausnahme dar. Der Trend zur Individualisierung und Pluralisierung trifft die Spitzenverbände meist nur indirekt, da viele keine Einzelmitgliedschaften von Unternehmern kennen oder solche Einzelmitgliedschaften nicht sonderlich ins Gewicht fallen. Von einer Verbandsflucht wie bei den Arbeitgeberverbänden kann deshalb (noch) keine Rede sein. Auf die Medialisierung der Politik versuchen die Wirtschaftsverbände zu reagieren, doch hängen Erfolge oder Misserfolge immer auch sehr stark von den jeweiligen Verbandsrepräsentanten ab. Ein „Medienstar“ wie der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel blieb bislang eine Ausnahme. Begreift man die gegenwärtigen Aktivitäten und Stellungnahmen des BDI 16 als Reaktion auf mehr oder weniger deutlich erkennbare aktuelle und künftige Aufgaben oder Probleme, dann lassen sich im Wesentlichen fünf Felder erhöhter Aufmerksamkeit unterscheiden:
die Steigerung der „Schlagkraft“, die weitere Europäisierung und Internationalisierung, die Standortsicherung im Zeitalter der Globalisierung, die innerwirtschaftliche Integration und die Erhöhung der gesellschaftlichen Akzeptanz des Unternehmertums.
1.
Obwohl die Bemühungen um eine Fusion der Spitzenverbände zurzeit nachgelassen haben, ist dieses Thema keineswegs von der Agenda verschwunden. Die BDI-Spitze ist entschlossen, die enge Zusammenarbeit mit der BDA und den anderen Spitzenverbänden fortzusetzen und nach Möglichkeit zu vertiefen, denn ein geschlossenes Auftreten gilt in vielen Fragen als unerlässliche Voraussetzung erfolgreicher Interessenpolitik. Ob im Gefolge dieser Zusammenarbeit in tagespolitischen und strategischen Fragen auch eine organisatorische Fusion wieder auf die Tagesordnung gerät, bleibt abzuwarten. Bislang scheinen die Vorteile des bewährten dreigliedrigen Systems gegenüber eventuellen Nachteilen – Doppelarbeit, unnötige Kosten – noch zu überwiegen. Die größten Aussichten, sich auf dem umkämpften Feld der Interessenpolitik zu behaupten, haben bekanntlich „Mehrebenenspieler“ (Lang/Schneider 2007: 236). Der BDI forciert daher seine Präsenz auf der nationalen, vor allem aber auf der internationalen Ebene, weil die Mitglieder dort einen größeren Nachholbedarf sehen. So intensiviert er durch zahlreiche Delegationsreisen und gemeinsame Tagungen die bilateralen Kontakte insbesondere nach Asien mit den wichtigen Wachstumsmärkten Indien und China und sorgt auf diese Weise für eine stärkere Vernetzung. Die Sicherung des Standortes Deutschland angesichts der Globalisierung zählt der BDI seit Längerem zu seinen wichtigsten Aufgaben. Obwohl die deutsche Industrie nach Ansicht des Verbandes ihre Wettbewerbsfähigkeit weltweit bislang überzeugend zu demonstrieren vermochte, setzt sich der BDI mit Nachdruck für günstige politische Rahmenbedingungen ein, also für offene Märkte und Investitionsfreiheit. Zugleich
2.
3.
16
Vgl. hierzu und zum Folgenden: BDI 2008 und 2009.
60
4.
5.
Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände bemüht er sich, das Bildungssystem an die „Wissensintensität der Volkswirtschaft“ anzupassen und so ein geeignetes Klima für Forschung, Technik und Innovation zu schaffen. Die Integration sowohl der mittelständischen Industrie als auch des Dienstleistungssektors stellt eine wichtige Aufgabe dar. Nur wenn es dem BDI gelingt, diese Aufgabe zu lösen, kann er seinem Anspruch, Interessenvertretung für den Mittelstand und Familienunternehmen – immerhin 98 Prozent der vom BDI vertretenen Industrieunternehmen zählen zum Mittelstand – sowie für industrienahe Dienstleister zu sein, gerecht werden. „Ohne gesellschaftliche Akzeptanz ist das Unternehmertum auf Dauer zum Scheitern verurteilt“, lautet die Erkenntnis des BDI. Er unterstützt deshalb mit Nachdruck die Bemühungen einzelner Unternehmen, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, und zwar im In- und Ausland. Zu den unter dem Stichwort Corporate Social Responsibility laufenden Aktivitäten zählt der BDI insbesondere „Mitarbeiterfürsorge“, eine „langfristig angelegte Unternehmenspolitik“, die „Pflege der natürlichen Ressourcen“ und die „Förderung karitativer, kultureller oder sportlicher Aktivitäten“. Allerdings beharrt er auf der Freiwilligkeit entsprechender Initiativen (BDI-Jahresbericht 2008: 66).
Ob die Erledigung dieser Agenda ausreichen wird, das Überleben der Wirtschaftsverbände langfristig zu garantieren, bleibt abzuwarten. Angesichts der wachsenden Bedeutung zivilgesellschaftlicher Akteure stehen die Chancen nicht schlecht. Dass die Bundesrepublik dem weltweiten Trend in Richtung Tertiarisierung etwas hinterherhinkt, könnte sich für die Stabilität der Verbände vorübergehend sogar als vorteilhaft erweisen. Eine stärkere Verankerung in der expandierenden Dienstleistungs- und Wissensökonomie erscheint gleichwohl unabdingbar, um den drohenden Niedergang abwenden zu können. Literatur Grundlegende Literatur Berghahn, Volker R. (1985): Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bührer, Werner/Grande, Edgar (Hrsg.) (2000): Unternehmerverbände und Staat in Deutschland. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. Lang, Achim/Schneider, Volker (2007): Wirtschaftsverbände. Verbandspolitik im Spannungsfeld von divergierenden Interessen und hierarchischer Integration. In: von Winter, Thomas/Willems, Ulrich (Hrsg.): Interessenverbände in Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 221í243. Mann, Siegfried (1994): Macht und Ohnmacht der Verbände. Das Beispiel des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e. V. (BDI) aus empirisch-analytischer Sicht. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. Ullmann, Hans-Peter (1988): Interessenverbände in Deutschland. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
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I.2 Geschichte und Funktion der deutschen Wirtschaftsverbände
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
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I.2 Geschichte und Funktion der deutschen Wirtschaftsverbände
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Die Industrie- und Handelskammern im politischen System Deutschlands Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Manfred Groser/Detlef Sack/Wolfgang Schroeder
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Einleitung
Die öffentlich-rechtlichen Wirtschafts- und Berufskammern gelten neben den Wirtschaftsund Arbeitgeberverbänden als dritte Säule der organisierten Vertretung von Unternehmerinteressen im deutschen politischen System. Da es sich um öffentliche Körperschaften handelt, denen man qua Gesetz angehört und denen gesetzlich hoheitliche Aufgaben übertragen wurden, weisen die deutschen Wirtschafts- und Berufskammern Besonderheiten auf, die sie wesentlich von den anderen Unternehmerorganisationen unterscheiden, die in dem vorliegenden Band thematisiert werden. Die Kammern operieren im Spannungsfeld zwischen delegierten öffentlichen Aufgaben und unternehmerischer Interessenvertretung. Sie definieren z. B. berufliche Bildungsstandards, organisieren Prüfungen, stellen Zeugnisse aus, erstellen Fachgutachten und entscheiden über Berufszulassungen und deren Entzug. Zugleich vertreten sie die unternehmerischen Interessen ihrer Pflichtmitglieder, strukturieren die interne Interessenvermittlung und bieten ihren Mitgliedern Dienstleistungen an. Es handelt sich um Organisationen in „halbamtlicher Zwitterstellung“ (Sebaldt/Straßner 2004: 219). Unter den deutschen Kammern organisieren die derzeit 80 regionalen Industrie- und Handelskammern (IHKn) mit ihren ca. 3,6 Mio. Mitgliedern (2009) bei Weitem die meisten Unternehmen. Als Dachverband fungiert der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK). IHKn sind regional ausgerichtete Selbstverwaltungsorganisationen der gewerblichen Wirtschaft und Körperschaften des öffentlichen Rechts auf Grundlage des Gesetzes zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern von 1956 (IHKG). In der knappen Definition von Wülker (1972: 6) ist die Industrie- und Handelskammer eine „Selbstverwaltungskörperschaft öffentlichen Rechts, die mit Ausnahme der zur Organisation des Handwerks Zählenden alle Gewerbetreibenden umfasst und deren Aufgabe es ist, das wirtschaftliche Gesamtinteresse der Unternehmer ihres Bezirkes wahrzunehmen“. Damit sind gegenüber den sonstigen Organisationen, die Unternehmensinteressen vertreten, folgende Besonderheiten zu identifizieren: Die IHKn übernehmen hoheitliche Aufgaben, sie sind aufgrund der Pflichtmitgliedschaft nicht mit Rekrutierungsproblemen konfrontiert, sie haben eine starke regionale Stellung und sie vermitteln intern und branchenübergreifend zwischen unterschiedlichen Unternehmensinteressen. Zugleich wird die Legitimität des Organisationshandelns aufgrund des ‚halbamtlichen‘ Charakters durchaus kritisch diskutiert (Kluth 1997). So ist etwa umstritten, in welchem Umfang sich IHKn interessenpolitisch äußern dürfen: Nach dem IHKG gehört die „Wahrnehmung sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Interessen“ nicht zu den Aufgaben der Industrie- und Handelskammern (§ 1 Abs. 5 IHKG). Soweit sozialpolitische oder arbeitsrechtliche Fragen wirtschaftliche Konsequenzen haben – und das wird in der Regel der Fall sein –, sind die
I.3 Die Industrie- und Handelskammern im politischen System Deutschlands
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Kammern jedoch nicht gehindert, sich dazu zu äußern. In den laufenden rechtlichen Auseinandersetzungen um das „allgemeinpolitische Mandat“ der IHKn unterschied der Hessische Verwaltungsgerichtshof Anfang 2009 zwischen einem „Kernbereich der Wirtschaftspolitik“ sowie anderen öffentlichen Angelegenheiten, bei denen Forderungen und Lösungsvorschläge einen eher allgemeinen Charakter haben sollten (Urteil vom 5.2.2009, Aktenzeichen: 8 A 1559/07). In der Darstellung der IHKn nehmen wir zunächst den Forschungsstand in den Blick, um nach einem geschichtlichen Abriss auf die Organisation der IHKn einzugehen. Wir beschäftigen uns sodann mit aktuellen Entwicklungstendenzen, von denen die IHKn betroffen sind. Dazu gehören insbesondere der wirtschaftliche Strukturwandel und die Konflikte um die Pflichtmitgliedschaft. Abschließend skizzieren wir die organisatorischen Anpassungsprozesse und weisen die flexible Stabilität der IHKn aus, die nichtsdestotrotz unter merklichem ex- und internen Legitimationsdruck stehen. 2
Forschungsstand
Gemessen an den ebenso stereotypen wie berechtigten Bemerkungen von Autoren zur dünnen Besiedlung der politologischen, rechtlichen und ökonomischen Kammerforschungslandschaft bis in die Mitte der 1990er Jahre (Adam 1979: 31; Stober 1992: 25; Schmidt-Trenz 1996: 7) kann heute von einer zunehmenden Bedeutung der Kammerforschung gesprochen werden. Auf institutioneller Ebene sind die Gründung des Instituts für Kammerrecht e. V. (Halle) und die jährlich stattfindenden Kammerrechtstage zu vermelden, die in den Jahrbüchern des Kammer- und Berufsrechts (Kluth 2003 ff.) dokumentiert werden. Auch widmet sich neben einzelnen Publikationen das Jahrbuch Recht und Ökonomik des Dritten Sektors (Schmidt-Trenz/Stober 2006/2008) kontinuierlich kammerspezifischen Fragestellungen. Ein wichtiges Merkmal der bisherigen Forschung ist die zunehmende Kombination von juristischen und institutionenökonomischen Betrachtungsweisen. Begründungen der Pflichtmitgliedschaft belassen es zum Beispiel in der Regel nicht mit dem Hinweis auf deren verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit, sondern bemühen zunehmend ökonomische, soziologische und demokratietheoretische Argumente (Kluth 1997; Goltz 2006). In der Forschung werden Konzepte mit einem hohen Integrations- und Differenzierungspotenzial (z. B. funktionale Selbstverwaltung, Dritter Sektor) ebenso bevorzugt wie Konzepte und Schlüsselbegriffe mit einem weiten Anwendungsbereich (kollektives Handeln, PrinzipalAgent-Beziehung, Transaktionskosten). Es wird vorzugsweise ein weites, problem- und anwendungsorientiertes Themenspektrum bearbeitet, seien es z. B. Beiträge zu Doppelmitgliedschaften in verschiedenartigen Kammern, zum Rechnungswesen, zum Betrieb von Einrichtungen, zu Wettbewerbs- und Steuerfragen oder auch zu Fragen der Reichweite des politischen Mandates und des Nutzens der Pflichtmitgliedschaft. Die Verbindung einer Analyse mit Empfehlungen charakterisiert viele neue Publikationen zu den Kammern, am deutlichsten wohl im kammerrechtlichen Schrifttum. Pragmatische Vorschläge für Kammerreformen reichen etwa von der gesetzlichen Verankerung erweiterter Anhörungsrechte (Stober 1992: 135) über die Zulassung grenzüberschreitender Kooperationen auch bei gesetzlichen Pflichtaufgaben und eine körperschaftliche Rechtsform für den DIHK (Biernert 2006: 93 bzw.177) bis zur Fusion von IHKn und Handwerkskammern (Schmidt-Trenz/
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Stober 2008; skeptisch: Tettinger 1997: 246; Sack/Schroeder 2008) und zur Anhebung des rechtlichen Schutzniveaus für die Kammern im Länder- und Bundesrecht (Kluth 2005b). Insbesondere das Institut der Pflichtmitgliedschaft eröffnet jedoch das Feld für grundsätzlichere Fragestellungen (Groser/Hilbert/Voelzkow 1986: 5): So rechtfertigt Flothow in einer institutionenökonomischen Untersuchung, die neben dem Kriterium öffentlicher Güter auch die Transaktionskosten berücksichtigt, die Pflichtmitgliedschaft aufgrund ihres Nutzens für die Interessenvertretung und bei hoheitlichen Aufgaben (Flothow 2004). Kluth legitimiert die funktionale Selbstverwaltung auf normativer, grundgesetzlicher Basis (1997). SchmidtTrenz (1996, 2006) zeigt, dass die Pflichtmitgliedschaft in den IHKn zwar das Trittbrettfahrerproblem im Sinne von Olsons Theorie des kollektiven Handelns löst (Kontributionsproblem), zugleich aber das Problem auftritt, dass die mit der Bereitstellung des Kollektivgutes Beauftragten ihre eigenen Interessen über die Präferenzen der Pflichtmitglieder stellen könnten (Delegationsproblem). Während sich also juristische wie institutionenökonomische Publikationen den benannten Fragen zunehmend widmen, ist für die empirisch orientierte politik- wie sozialwissenschaftliche Forschung festzuhalten, dass die wenigen (und selektiven) Studien, die es zu den IHKn gibt (Adam 1979; Groser/Hilbert/Voelzkow 1986; Diederich/Haag/Cadel 2000), mittlerweile zum großen Teil nicht mehr auf dem neuesten Stand sind. Die politikwissenschaftliche Verbändeforschung befasste sich in den letzten Jahren mit grundlegenden strukturellen Eigenschaften und Problemen der IHKn im Überblick. So wurden etwa im Anschluss an Ullmann (1988: 22í23) und Triesch/Ockenfels (1995: 137í143) die Geschichte und Funktionen der Wirtschaftskammern treffend skizziert und aktuelle Probleme angerissen – das Disziplinierungspotential gegenüber den Mitgliedern aufgrund hoheitlicher Aufgaben, die Diskussion um die Pflichtmitgliedschaft, die mögliche Disposition infolge europäischer Rechtsharmonisierung und die „Verzerrung lobbyistischer Chancengleichheit“ aufgrund der guten Ressourcenausstattung (Sebaldt/Straßner 2004: 218í222). Jedoch hat sich trotz der erheblichen Bedeutung der IHKn bzw. der Wirtschaftskammern, die sich allein aus dem durch die Pflichtmitgliedschaft gewährleisteten hohen Organisationsgrad ergibt, und trotz eines zunehmenden medialen Interesses an den Problemen der IHKn bislang keine empirische politik- bzw. sozialwissenschaftliche Forschungspraxis etablieren können (Sack 2009). 3
Geschichte der IHKn
Übereinstimmend datieren Wirtschaftshistoriker die Entstehung der IHKn in Deutschland, damals noch unter der Bezeichnung Handelskammer, auf den Beginn des 19. Jahrhunderts. Einigkeit besteht auch darüber, dass sie zwei Wurzeln haben: die Handelskammer napoleonischen Typs als staatliche Hilfsbehörde und die kaufmännischen Korporationen, die ihre Vorstände durch Wahlen bestimmten und sich als Interessenvertretungen verstanden (zum Folgenden: Fischer 1964; Wülker 1972). Die ersten Handelskammern nach französischem Vorbild entstanden in den 1801 an Frankreich abgetretenen Gebieten, 1802 in Mainz sowie 1803 in Köln (Fischer 1964: 14), im Zuge der Reetablierung der französischen Kammertradition, die vom revolutionären Frankreich 1791 unterbrochen worden war. Intermediäre Organisationen waren mit dem jakobinischen Ideal nicht vereinbar. Dass sie in Frankreich bereits 1801 wiederkehrten, mag
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als geschichtliches Indiz für ihre Funktionalität gelten, auch als ein Hinweis auf Bruchstellen im Mythos der jakobinischen Kontinuität in Frankreich und als ein Lebenszeichen der Zivilgesellschaft (Rosanvallon 2004: 384í391). Auf deutschem Boden konnten sie relativ nahtlos an Vorgängerorganisationen (Handelsvorstände etc.) anknüpfen. Wirtschaftshistoriker wie Fischer warnen davor, die „Arbeitsweise und Selbsteinschätzung dieser im französischen Rechtsbereich entstandenen Kammern nach dem Buchstaben des Gesetzes zu beurteilen. Der Intention des Gesetzgebers nach hätten auch die Handelskammern, wie ihre kurzlebigen Vorläufer, die Handelsräte, lediglich beratende Institutionen sein sollen, die in Fragen der wirtschaftlichen Gesetzgebung, des Zollwesens und der Gewerbeförderung der Regierung die Meinung des Handelsstandes unterbreiteten und ihr bei der Erhebung statistischer Notizen halfen“ (Fischer 1964: 16).
Darüber hinaus hätten die Kammern aber auch regionale Interessen ihrer Lokalität mit Nachdruck vertreten. Das korporative Element sei auch in den ältesten Handelskammern dieses Typs immer zu spüren gewesen. Die zweite Wurzel der IHKn liegt in den kaufmännischen Korporationen im östlichen Preußen, die keine privaten Vereine waren, sondern einen deutlich öffentlich-rechtlichen Charakter und öffentliche Befugnisse aufwiesen. Organisationsrechtlich zeigten sie einige wichtige Merkmale des modernen Selbstverwaltungsgedankens, die sie vom napoleonischen Kammertyp unterschieden, vor allem die Wahl von „Ältesten bzw. Vorstehern der Kaufmannschaft“ mit ausgedehnten Handlungs- und Entscheidungsrechten (Hendler 1984: 25 f.) In der Ausübung staatlich übertragener Aufgaben unterschieden sich Kammern und Korporationen kaum. In der Folge verwischten die Unterschiede mehr und mehr. Zudem gewann die Idee einer Pflichtmitgliedschaft auch in Handelskreisen an Boden und die Alternative freier Vereine nach englischem Vorbild wurde schon in den 1830er und 1840er Jahren nicht mehr ernsthaft verfolgt. Fischer sieht die Gründe in der französisch-deutschen Staatstradition, die sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg im Kammergesetz von 1956 durchsetzte und die vereinsrechtlichen Kammern des amerikanischen Besatzungsgebietes zur Episode machte (Fischer 1964: 34). Eine Zäsur der 200-jährigen deutschen Kammergeschichte erfolgte in der Mitte des 19. Jahrhunderts, genauer 1848 mit dem preußischen Kammergesetz, das für andere Länder zum Vorbild werden sollte. Darin war auch eine obligatorische Kammerzugehörigkeit mit Beitragspflicht festgelegt (Hendler 1984: 27). Dennoch waren die Rechtsverhältnisse weiterhin uneinheitlich, zumal die neuen Regeln nur zum Teil auf die zuvor gegründeten Handelskammern angewendet wurden und die kaufmännischen Korporationen bestehen blieben. Neu hinzukommende Gebietsteile mit anderen Kammerverfassungsvarianten steigerten die Uneinheitlichkeit, eine Neuordnung mit dem Zweck der Vereinheitlichung folgte 1870 und bestätigte das System der öffentlich-rechtlichen Organisation von Handel und Gewerbe. Hendler verweist darauf, dass das Gesetz von 1870 im Zeichen liberaler Strömungen keineswegs unumstritten war. „Denn dieses System widersprach der politischen Doktrin des Liberalismus, welche eine strenge Trennung von Staat und Gesellschaft forderte. Die liberalen Kräfte traten daher für eine ‚Privatisierung‘ des Handelskammerwesens ein. Ihren Vorstellungen entsprach eher ein Modell privatrechtlicher, auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhender Vereine, denen die Kammerfunktionen überlassen werden sollten. Die Handelskammern selbst setzten sich in dieser grundsätzlichen Streitfrage für die Beibehaltung ihrer öffentlich-rechtlichen Organisationsform ein, durch die ihr
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände amtlicher Charakter dokumentiert wurde, der sie aus dem Kreis gewöhnlicher privatrechtlicher Interessenvertretungen heraushob. Ihnen ging es ferner um die Stärkung ihrer Selbständigkeit und Eigenverantwortung sowie um die Übertragung weiterer, bisher von den Staatsbehörden wahrgenommener Aufgaben im Bereich von Handel und Gewerbe.“ (Hendler 1984: 29).
Wirtschaftsgeschichtliche Darstellungen des Kammerwesens warnen davor, die preußischen Institutionen als die deutschen schlechthin zu betrachten und die Vielfalt von Kammersystemen im außerpreußischen Deutschland zu übersehen, wenn diese auch vor der Gründung des Deutschen Reiches noch ausgeprägter war als danach (Fischer 1964: 43 ff., 84 ff.) Mit dem Reichsgesetz von 1897 über die Bildung von Handwerkskammern 1 schuf das Reich unmittelbar geltendes neues Recht und die Grundlage für die heute noch geltende Abgrenzung in der wirtschaftlichen Selbstverwaltung. Ansonsten „waren der Fortdauer lokaler und regionaler Traditionen, bei aller Tendenz zur Anpassung an das preußische Modell, keine Grenzen gesetzt“ (Fischer 1964: 96). In der Gesamtschau zeigt sich auch, dass die Kammern im 19. Jahrhundert nicht nur in Zoll- und Handelsfragen, sondern auch in Verkehrsfragen ein „hohes Maß an regionalem Egoismus und wirtschaftlichem Kampfgeist“ (Wülker 1972: 31) aufwiesen. Die Zerrissenheit in der Außenwirtschaftspolitik stellte auch den 1861 gegründeten Deutschen Handelstag (DHT) vor eine schwierige Situation, die sich 1885 zur Krise zuspitzte und zum Austritt zahlreicher Kammern führte (Wülker 1972: 57; Fischer 1964: 104 f.). Der Kampf zwischen Freihändlern und Schutzzöllnern wurde für den DHT zur Existenzfrage, zumal er sich innerhalb des Handelstages zwischen Vertretern des Handels und Teilen der Industrie abspielte, aber auch zwischen dem DHT und dem 1876 gegründeten „Centralverband Deutscher Industrieller CDI“ (Pohl 1987: 58). Dieser bestritt die Legitimation des DHTs, für die Industrie zu sprechen. In den sozialpolitischen Streitfragen des ausgehenden 19. Jahrhunderts kam es ebenfalls zu einer Konfrontation mit dem CDI, der dem DHT und den Handelskammern eine zu nachgiebige Haltung gegenüber den Arbeiterinteressen und eine Nähe zum „Kathedersozialismus und Sozialmoralismus“ vorwarf (Born 1987: 67). Die Tatsache, dass der DHT, anders als der spätere DIHT/DIHK, auch freie Verbände als Mitglieder zuließ, die ihrerseits dem CDI angehörten, verschärfte die Problematik: 1
Die Bildung von Handwerkskammern, mit der das Reich einen lang gehegten Wunsch des Handwerks erfüllte, setzte dem Lavieren von Gliedstaaten und Kammern in der Frage der Eingliederung des Handwerks ein Ende. Symptomatisch für die Unsicherheit, Vorläufigkeit und Unzufriedenheit waren die Verhältnisse im Königreich Bayern, wo der Status des Handwerks („Gewerbsstand“) innerhalb von sieben Jahren (1843 bis 1850) dreimal unterschiedlich festgelegt wurde: erst innerhalb der Handelskammer, dann in einer Gewerbekammer, dann wieder in Gewerbe- und Handelskammern (Winkel 1990: 9). Für die Kasseler Kammer wiederum galt preußisches Kammerrecht, das Handwerker und Kleingewerbetreibende ausschloss. Die Probleme auf der Ebene der „Mitgliederlogik“ waren damit aber nicht ausgeräumt, da die Kammer zwar das Wahlrecht an einen Gewerbesteuermindestbetrag gebunden hatte, diesen aber so niedrig ansetzte, dass ein großer Teil des Einzelhandels wahlberechtigt war und die Majorisierung des Großgewerbes zum Problem wurde. Allerdings machte die Masse der Einzelhändler von ihren Möglichkeiten gar keinen Gebrauch (Brandt 1960: 86í87). Ähnliche Probleme zeigten sich im Verhältnis der Handelskammern zur Industrie. In Hamburg stritten sich Handelskammer und Gewerbekammer Ende des 19. Jahrhunderts, wer sie zu vertreten hätte (Böhm 1981: 272). Von noch größerer Bedeutung für das Kammersystem waren die grundsätzlichen Interessendivergenzen zwischen dem Handel, der Industrie und den Agrariern, wie sie sich in wechselnden Konstellationen und auf unterschiedlichen Ebenen (regional, im Zollverein, in den Einzelstaaten und im Reich) manifestierten. Dabei konnten ein Wandel in der Haltung eines Akteurs, z. B. des Zollvereins in Richtung einer freihändlerischen Position für eine dem Freihandel verbundene Kammer wie Hamburg, eine Entspannung des Verhältnisses bedeuten und „Bismarcks schutzzöllnerische Wendung“ (Böhm 1981: 67) eine Verschärfung des Konfliktes.
I.3 Die Industrie- und Handelskammern im politischen System Deutschlands
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„Zusätzlich kontrollierten diese Verbände durch eine enge personelle Verflechtung auch die Handelskammern des Ruhrgebiets, die wiederum Mitglied im CDI waren – 1897 waren 30 deutsche Handelskammern im CDI vertreten, 1903 noch immer 14. Der CDI kämpfte somit auf drei Schauplätzen gegen den DHT: einmal von außen, daneben durch die von ihm kontrollierten Handelskammern und schließlich durch die freien Verbände im DHT.“ (Lichter 1996: 20).
Auch wenn die Mitgliedschaft freier Verbände und damit von Sonderinteressen im DHT zunehmend als Problem erkannt wurde, kam es erst 1918 im Zusammenhang mit der Umbenennung in DIHT zu einem Ausschluss der privaten Verbände (ebd.: 22). Zur Entflechtung zwischen Arbeitgeberverbänden, Wirtschaftsverbänden und Kammern gehörte auch die Anerkennung der Tarifautonomie und damit der Aufgabendomäne von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in der Weimarer Republik. Für die Kammern und den DHT war das eine Entlastung von kaum konsensfähigen Themenfeldern. Wülker (1972: 85) bezeichnet es als die wichtigste Veränderung gegenüber der Kaiserzeit, „dass der sozialpolitische Bereich nach 1918 praktisch nicht mehr zu den Kompetenzen der Kammern gehört. Vor allem die Tarifpolitik, aber auch der übrige Bereich des Arbeitsrechts wurde in die Hände der Gewerkschaften auf der einen und der Arbeitgeberverbände auf der anderen gelegt. Die Vorgänge im November 1918 hatten zu einer Anerkennung der Gewerkschaften als Kontrahenten bei Arbeitsfragen geführt. Die Arbeitgeberverbände hatten sich im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts formiert und standen für sozialpolitische Aufgaben zur Verfügung.“ Damit war das eingangs erwähnte dreiteilige System der unternehmerischen Interessenvertretung formiert und eine Abgrenzung von Interessensphären geleistet, die bis zur nächsten Jahrhundertwende Bestand haben sollte. Die nächste reichsgesetzliche Regelung von 1934, die die Handelskammern unmittelbar betraf, bedeutete mit der Gleichschaltung der Kammern und der Einführung des nationalsozialistischen Führerprinzips zugleich das vorläufige Ende der IHKn als Selbstverwaltungsorgane. Nach unterschiedlichen Regelungen durch die Besatzungsmächte nach 1945 wurde das Recht für die IHKn der Bundesrepublik 1956 mit dem noch heute gültigen IHKG einheitlich geregelt, mit nur noch geringen Spielräumen für die Landesgesetzgebung. Mit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 erfolgte die Übernahme dieses Kammersystems durch die neuen Bundesländer (Diederich/Haag/Cadel 2000). 4
Rechtsgrundlagen und Organisation
Der Ursprung der zunächst seltsam anmutenden Kennzeichnung des IHKG von 1956 als Gesetz zur vorläufigen Regelung der Industrie- und Handelskammern liegt in der Paritätsproblematik. Anders als bei den Handwerkskammern, bei denen nach der geltenden Handwerksordnung die Gremien zu einem Drittel von Vertretern und Vertreterinnen der Arbeitnehmer besetzt werden, kennt das IHKG keine Präsentation der Beschäftigten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden vor allem von Gewerkschaftsseite Forderungen nach einer paritätischen Besetzung bzw. Mitbestimmung erhoben, die an wirtschaftsdemokratische Konzepte der Weimarer Republik anknüpften (Lack 1996: 56 ff.). Sie konnten sich politisch jedoch nicht durchsetzen, lediglich im Saarland und in Bremen wurden Arbeitnehmerkammern eingerichtet. In Deutschland existieren derzeit (2009) 80 regionale IHKn als öffentlich-rechtliche Körperschaften der wirtschaftlichen Selbstverwaltung. Mitglieder und Kammerzugehörige
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
sind nach Gesetzeslage „natürliche Personen, Handelsgesellschaften, andere Personenmehrheiten und juristische Personen des privaten und des öffentlichen Rechts, welche im Bezirk der Industrie- und Handelskammer eine Betriebsstätte unterhalten“ (IHKG § 2 Abs. 1). Aus den übertragenen Aufgaben, dem Auftrag, das regionale Gesamtinteresse der Wirtschaft zu vertreten, und dem Institut der Pflichtmitgliedschaft, ergibt sich eine demokratische Grundstruktur der Selbstverwaltungskörperschaft: Qua Wahl konstituieren die Mitgliedsunternehmen die Vollversammlung als formal höchstes Entscheidungsorgan (IHKG §4), die z. B. über die Satzung, die Wahl-, Beitrags- und Gebührenordnungen, über die Besetzung des Präsidiums, die Bestellung der Hauptgeschäftsführung und die Erteilung der Entlastung bestimmt sowie Regional- und Fachausschüsse besetzt. Die Wahlsystematik wird durch ein Prinzip der doppelten Repräsentation bestimmt, was die Vertretung des Gesamtinteresses der regionalen Wirtschaft gewährleisten soll. Zum einen werden Wahlgruppen entlang der statistischen Systematik der Wirtschaftszweige, z. B. Einzelhandel, Versicherungsgewerbe oder Bauwirtschaft gebildet. Zum zweiten erfolgt die Wahl entlang geografischer Wahlbezirke, z. B. entlang von Land- oder Altkreisen. Die Größe der Wahlgruppen in den jeweiligen Bezirken wird nach Gewerbeertrag, Beschäftigtenzahl und Mitgliederzahl ermittelt. Präsident und Hauptgeschäftsführer übernehmen qua IHKG (§ 6í7) und jeweiliger Kammersatzung die rechtsgeschäftliche und gerichtliche Vertretung der IHK sowie das administrative Tagesgeschäft und die Lobbyarbeit. Bei formaler organisatorischer Gleichheit ist die faktische Heterogenität der IHKn ein Grundmerkmal der deutschen Kammerlandschaft. Dies verdeutlichen einige Eckdaten (Stand: 2005): So hatten acht IHKn jeweils mehr als 100.000 kammerzugehörige Unternehmen, während 23 IHKn jeweils weniger als 24.000 Mitgliedsunternehmen aufwiesen. Die laufenden Einnahmen variierten zwischen ca. 44 Mio. € und knapp 2 Mio. € pro Jahr. Die Größe und Leistungsfähigkeit der IHKn unterscheidet sich also sehr stark. Dass die regionale Wirtschaftsstruktur die jeweilige IHK prägt, ist kaum erklärungsbedürftig. Ein signifikantes Detail mag zur Illustration genügen: Der Jahresbericht der Handelskammer Hamburg enthält einen Lagebericht in mehreren Sprachen, darunter Chinesisch. Ähnliche Leistungsangebote sind gerade für kleine IHKn in ländlichen Regionen kaum zu leisten. In der Debatte haben sich weitere strukturelle Differenzierungen eingebürgert: So wird zwischen Ballungsraum- und Flächenkammern unterschieden. Andere Unterschiede sind schwieriger zu fassen. So gibt das Gesetz zwar einen Rahmen für die Kammerorgane vor, der dem Hauptgeschäftsführer eine starke Stellung einräumt. Wie er diese ausfüllt und welche Dynamik die Kammer entfaltet, ist wiederum regional ungleich. Diederich/Haag/ Cadel unterscheiden in ihrer Studie zwischen dem „charismatischen“ und „visionären“ Hauptgeschäftsführer (Diederich/Haag/Cadel 2000: 71 f.) sowie der „Präsidentenkammer“ (ebd.: 113). Neben der Wirtschaftsstruktur und den Persönlichkeiten ist die Organisationsphilosophie ein Bestimmungsfaktor des Kammerprofils. In der Detailuntersuchung ostdeutscher Kammern werden auch unterschiedliche Gewichtungen der traditionellen Aufgabenfelder Interessenvertretung, Dienstleistung und hoheitliche Aufgaben herausgearbeitet, z. B. die „politische Kammer“, die ihren Schwerpunkt in der Politikberatung sieht, weniger bei den Dienstleistungen (ebd.: 96). Unterschiede zeigen sich grundsätzlich zwischen ostdeutschen und westdeutschen Kammern, aber auch z. B. innerhalb der ostdeutschen Kammern, etwa in der Interpretation und Umsetzung der Aufgabe „Wirtschaftsförderung“. Vielfalt kennzeichnet auch die Kooperationsbeziehungen zwischen den Kammern und ihre wirtschaftliche Betätigung (Beteiligung an Einrichtungen etc.) im gesetzlichen Rahmen. Wo
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durch die Übertragung hoheitlicher Aufgaben (im Berufsbildungsbereich, im Außenhandel, bei Fachkundeprüfungen etc.) eine Homogenität im Leistungsspektrum gegeben ist, endet diese bei der Gebührengestaltung (Flothow 2004: 91; siehe auch Abschnitt 6). Die IHKn sind sämtlich Mitglieder des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), der als privatrechtlich organisierter Dachverband fungiert und aufgrund der Pflichtmitgliedschaft „der größte wirtschaftspolitische Spitzenverband in Deutschland“ ist (Lang/Schneider 2007: 224). Der DIHK sieht sich selbst als Sprecher der Wirtschaft und als Repräsentant des wirtschaftlichen Gesamtinteresses. Aufgrund der branchenübergreifenden Heterogenität seiner Mitgliedschaft, des öffentlich-rechtlichen Status der regionalen IHKn und der gesetzgeberisch gesicherten Pflichtmitgliedschaft ist für den DIHK die Unabhängigkeit von Einzelinteressen und der Ausgleich von Interessen zwischen Unternehmen, Branchen und Organisationen eine zentrale Legitimationsgrundlage und das Unterscheidungsmerkmal zu Branchenverbänden und deren Dachorganisationen. Ansprechpartner in der Politik sind einerseits die Entscheidungsträger in der Bundespolitik – Bundestag, Bundesregierung, Bundesbehörden –, andererseits die europäischen Institutionen – das Europäische Parlament und die EU-Kommission. Der DIHK ist Mitglied im europäischen Dachverband Eurochambres und in der Internationalen Handelskammer. Die Präsenz des DIHK und der IHKn im europäischen und internationalen Raum wird zudem in hohem Maße durch die beim DIHK angesiedelten Auslandshandelskammern (AHKn) gewährleistet, die nach dem Prinzip der Bilateralität agieren und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Unternehmen im Gastland und in Deutschland in beide Richtungen stärken sollen (Biernert 2006: 186í195). Knapp 40.000 Firmen sind Mitglieder dieser Kammern, davon zwei Drittel ausländische Unternehmen. Einen Großteil ihrer Einnahmen erwirtschaften sie durch Dienstleistungen, deren Marketing zu den Aufgaben des DIHK zählt. Sie sind nach dem Recht des jeweiligen Gastlandes organisiert. Weltweit finden sich rund 120 AHK-Büros in über 80 Ländern (Stand: 2009). Ergänzt werden sie durch Delegiertenbüros und Repräsentanten der deutschen Wirtschaft. Der Präsident des DIHK muss Unternehmer und zugleich Präsident oder Vizepräsident einer IHK sein, der Vorstand wird von den Landesarbeitsgemeinschaften der IHKn gestellt. Der Hauptgeschäftsführer wird von der Vollversammlung des DIHK bestellt. Das Verhältnis zu den IHKn sieht der DIHK durch das Gegenstromprinzip verkörpert – Informationen sollen in beide Richtungen fließen. Zu den Koordinierungs- und Abstimmungsaufgaben des DIHK zählt auch die Schaffung einer Corporate Identity 2 sowie die Wissensdiffusion innerhalb der Kammerlandschaft, etwa bei Rechtsfragen oder Verwaltungsmodernisierungen der IHKn. Der DIHK beschäftigte 2007 in Berlin und Brüssel 184 hauptamtliche Mitarbeiter. Die Aufwendungen für den DIHK wurden zu ca. 70 % durch Grundbeiträge und Umlagen der IHKn getragen. Der Rest wurde durch Bundeszuwendungen im Rahmen der Außenwirtschaftsförderung, Projekt- und Fördermittel sowie Erträge von Finanzanlagen finanziert. Nicht in den genannten Zahlen enthalten sind die Mitarbeiter im Bereich der Auslandshandelskammern (AHKn). Die AHKn werden vom DIHK betreut und erhalten im Rahmen der Außenwirtschaftsförderung des Bundes Zuwendungen, im Durchschnitt 10 Prozent der Einnahmen (DIHK 2008: 49í52).
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Im Rahmen der Corporate-Identity-Initiative bündelt der DIHK die Aktivitäten der IHKn zu drei Aufgabenkomplexen: Anwalt des Marktes – Dienstleister der Wirtschaft – Partner der Politik (www.dihk.de, zuletzt besucht am 13.11.2009).
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Zum politischen Einfluss der IHKn
Es besteht eine Reihe von vor allem historisch zu erklärenden Besonderheiten der IHKn, die sich auch auf die Interessenvertretungsfunktion auswirken. Dazu gehören die Pflichtmitgliedschaft, die interne branchenübergreifende Interessenvermittlung, die auch Unternehmen sehr unterschiedlicher Größenordnungen umfasst, sowie der regionale Charakter der IHKn. Zugleich kommt den IHKn eine maßgebliche Leistungserbringungsfunktion im Bereich hoheitlicher Aufgaben zu (Berufsbildung, Schieds- und Sachverständigenwesen, Information für Unternehmen), die für die Interessenvermittlungsfunktion die wichtige Rückwirkung haben, dass die IHKn in der Politikumsetzung teilweise eine gewisse Eigenständigkeit aufweisen, ihrerseits aber eng mit dem politisch-administrativen System vernetzt sind, sodass das Konfliktniveau nur begrenzt steigerungsfähig ist. Den Einfluss der IHKn und des DIHT untersuchte auf drei Ebenen (Kommunen, Länder und Bund) und anhand typischer Fälle die Studie von Adam (1979). Dabei wurden bewusst kontroverse Bereiche gewählt: auf kommunaler Ebene die Festsetzung der Hebesätze für die Gewerbesteuer, auf der Länderebene die Regional- und Landesplanung sowie auf der Bundesebene die Berufsausbildung und das Bundesimmissionsschutzgesetz. Auf kommunaler Ebene war der Einfluss in Steuerfragen sehr gering bzw. nicht vorhanden. Der politische Einfluss der Kammern auf der Länderebene war ebenfalls als gering zu veranschlagen. Am weitesten reichte der Einfluss der Kammern über den DIHT auf der Bundesebene, wo es ihm gelang mit dazu beizutragen, unternehmerische Dispositionsrechte zu schützen. Die Erfolgschancen des DIHT stiegen, wenn er von potenten anderen Wirtschaftsverbänden, insbesondere dem BDI, in seinen Anliegen gestützt wurde. Eine Studie zur Industriepolitik und Landesplanung in Bayern in den Jahren 1958 bis 1970 bestätigte den begrenzten Einfluss von Kammern und Industrieverbänden in kontroversen Strukturfragen. Während die Staatsregierung die Ansiedlung neuer Industriebetriebe verstärkt fördern wollte, vertraten die Kammern und Verbände eine Position der Stärkung bereits ansässiger Betriebe. „Den Industrie- und Handelskammern erklärte [der Wirtschaftsminister] Otto Schedl, dass sie keine wirtschaftsordnenden im Sinne von wirtschaftslenkenden Aufgaben hätten, und dass sie nicht die zentrale wirtschaftspolitische und gesellschaftliche Macht darstellten, die die Strukturpolitik zu gestalten habe.“ (Hofmann 2004: 278). Diese empirischen Befunde für den politischen Einfluss der IHKn lassen sich durch interne bundesweite Umfragen bei den Mitgliedsunternehmen komplettieren, die vom DIHK in Auftrag gegeben wurden: Vergleichsweise hohe Unzufriedenheitswerte für den Bereich der Interessenvertretungsarbeit traten dabei in einer 2005 durchgeführten Umfrage zu Tage. In Bezug auf die politische Aufgabe der IHKn fallen zwei Daten auf: Ein Gutteil der Befragten (19í35 %) äußert sich dazu nicht und die Unzufriedenheitswerte variieren zwischen 41 % (Eintreten der IHKn für niedrigere Abgaben und Bürokratieabbau) und 29 % (Einsatz für fairen Wettbewerb). Es ist also festzuhalten, dass auch in der Sichtweise der Mitgliedsunternehmen die Interessenvertretungstätigkeit als nicht besonders erfolgreich wahrgenommen wird. Es handelt sich dabei jedoch um Selbstbeschreibungen, die mit der Auffassung anderer politischer Akteure nicht kontrastiert werden können. Insgesamt ist der Forschungsstand zur politischen Einflussnahme der IHKn jedoch weitgehend überholt, da die benannten Studien in einem historischen Kontext durchgeführt wurden, der sich mit der Durchsetzung eher angebotsorientierter und fiskal-austeritärer Wirtschaftspolitik seit den 1980er Jahren deutlich in Richtung einer größeren Offenheit für
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die Anliegen der IHKn verändert haben dürfte. Jedoch ist damit keinesfalls gesagt, dass sich die IHKn mit ihren Interessen auch flächendeckend durchsetzen können. So fanden in den Jahren 2007 bis 2009 in Deutschland beispielsweise Verhandlungen zur Umsetzung der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie statt. In diesem Verfahren plädierten die IHKn dafür, den Einheitlichen Europäischen Ansprechpartner, eine administrative Anlaufstelle für Unternehmen aus den Mitgliedsstaaten, bei den Wirtschaftskammern anzusiedeln. Im deutschen Föderalismus konnten sich die IHKn bis Anfang 2009 nur in sechs Bundesländern durchsetzen: Dabei war ihr politischer Einfluss nicht gänzlich auf die parteipolitische Zusammensetzung der jeweiligen Regierungskoalition zurückzuführen. Zwar leitete die CDU alle Landesregierungen, die ein Kammermodell beim Einheitlichen Europäischen Ansprechpartner durchsetzten. Jedoch handelt es sich dabei nicht um eine hinreichende Bedingung zur Erklärung des politischen Einflusses der IHKn, da andere CDU-geführte Landesregierungen gegen ein Kammermodell optierten. Jenseits dieses Beispiels stehen systematische Untersuchungen zur politischen Einflussnahme der IHKn in dem veränderten ökonomischen und politischen Kontext seit Beginn der 1990er Jahre aus. 6
Entwicklungstendenzen der IHKn seit den 1990er Jahren
Die frühen 1990er Jahre markieren auf unterschiedliche Weise eine Zäsur der deutschen Kammerentwicklung. Von Belang sind insbesondere der Prozess der deutschen Einheit, die Veränderung der Unternehmenslandschaft, die zunehmende Bedeutung von Regionalisierung und Europäisierung wie auch die Debatte um die Pflichtmitgliedschaft. Mit dem Institutionentransfer im Zuge des Einigungsprozesses ging der Aufbau von IHKn in den fünf neuen Bundesländern einher. Auch wenn diese im selben Rechtssystem handeln und dieselben Aufgabenkreise (Interessenvertretung, Dienstleistungen, Hoheitsund Pflichtaufgaben zur Selbstregulierung der Wirtschaft) bearbeiten, waren und sind sie doch spezifischen Legitimationsproblemen ausgesetzt. Der Druck im Bereich der Dienstleistungen und Interessenvertretung war in der Aufbauphase der 1990er Jahre gleichermaßen hoch, und in beiden Bereichen war „immer nur ein prekäres Gleichgewicht möglich, das ständig neu austariert werden muss und wird. Dies zeigen u. a. die mehrfachen und z. T. gravierenden Umorganisationen deutlich. Denn die Erwartungen an die Kammern, den Dienstleistungsbereich ebenso wie den Interessenvertretungsbereich zu beachten, sind sowohl bei ihrer Klientel als auch bei den anderen mit der Wirtschaftsförderung betrauten Institutionen sehr ausgeprägt“ (Diederich/Haag/Cadel 2000: 53).
Das daraus entstehende „Kapazitätsproblem“ wird dadurch verstärkt, dass es den Kammern nicht gelang, dem „funktionalen Erfordernis einer intensiven Vernetzung“ ausreichend zu entsprechen (ebd.). Wenn die Autoren einer Studie zum Aufbau ostdeutscher IHKn darauf verweisen, dass diesen die „symbolische Repräsentanz im Bewußtsein ihrer Klientel als Vertreter des ideellen Gesamtinteresses der Wirtschaft“ (ebd.: 52) weitgehend fehle und sie überwiegend auf ihre instrumentelle Funktion beschränkt seien, dann ist jedoch auch zu fragen, ob sich mittlerweile nicht ein ähnliches Problem in den alten Bundesländern zeigt (s. u.). Unter den alten und neuen Herausforderungen, die sich Kammern stellen (Stober 1992: 7í17) ragt der ökonomische Strukturwandel naturgemäß in besonderem Maße heraus. Die
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
zunehmende Ausdifferenzierung der Unternehmenslandschaft wirkte sich auf zweierlei Weise aus. Zum einen sind innerhalb der IHKn erhebliche Polarisierungen zwischen transnational agierenden Unternehmen und kleinen Selbständigen zu konstatieren. Die IHKn stehen hier vor ähnlichen strukturellen Problemen wie die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände. Die wirtschaftliche Denationalisierung, ökonomische Strukturkrisen mit erhöhtem Konkurrenzdruck zwischen Unternehmen und Volkswirtschaften sowie betriebliche Reorganisationsprozesse haben zu einer verschärften Interessendivergenz im Unternehmerlager geführt; etwa zwischen Zulieferern und Herstellern, zwischen international operierenden, technologisch autorisierten Unternehmen und lokal verankerten KMUs (Willems/von Winter 2007: 30í31). Diese Veränderungen äußern sich aufgrund des Instituts der Pflichtmitgliedschaft und damit der fehlenden Exit-Option der Unternehmen nicht in Erosionsprozessen, wie sie etwa am schwindenden Beschäftigtenorganisationsgrad von Arbeitgeberverbänden abzulesen sind (Schroeder 2007: 209í211), sondern durch interne Konflikte in den IHKn sowie deutlicher werdende Kritik am Institut der Zwangsmitgliedschaft (s. u.). Somit stehen die IHKn intern vor neuen Herausforderungen der Interessenvermittlungen und -aggregation. Zudem verlagerten sich – und dieser Trend hält an – Unternehmenstätigkeiten in Richtung der Dienstleistungsproduktion; es entstanden neue Branchen und Berufsbilder, die traditionelle Grenzen betrieblicher Aktivitäten auflösten. Dies hat – verschärft durch die Lockerung des Meisterzwangs für das Handwerk – insbesondere neue Tätigkeits- und Dienstleistungsprofile bei handwerksähnlichen Betrieben zur Folge und damit Abgrenzungsprobleme bei der Zuordnung zu einer der beiden Wirtschaftskammern. Zunehmend vermehren sich die Hinweise, dass die historisch geronnene Trennung zwischen diesen beiden Kammern nicht mehr durch strukturelle Differenzen zwischen den jeweiligen Mitgliedsunternehmen zu rechtfertigen sei. Damit sind Domänenkonflikte programmiert. Zum ökonomischen Strukturwandel der frühen 1990er Jahre im Zeichen der ökonomischen Globalisierung zählt jedoch auch eine zunehmende Bedeutung der lokalen Verankerung von Unternehmen. Die regionalökonomische Literatur (Bracyk/Cooke/Heidenreich 1998; Storper 1997) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Unternehmen aus den ortsnahen Zulieferbeziehungen und Kontakten sowie der Passgenauigkeit der Infrastruktur erhebliche Transaktionskostenvorteile ziehen können. Regionale Milieus und Spezialisierungen im Sinne der Clusterbildung haben zu einer Aufwertung regionaler Wirtschafts- und Strukturpolitik geführt. Im bundesdeutschen Föderalismus hatten die Kammern wegen ihres Zuschnittes und ihrer Ressourcenausstattung einen Startvorteil bei der Formulierung der entsprechenden Entwicklungsstrategien (Heinze/Voelzkow 1997). Aufgrund der Aufwertung der Region als Wirtschaftsraum und ihrer „ausgeprägten regionalen Einbindung“ haben IHKn „wachsende Gestaltungschancen“ (Diederich/Haag/Cadel 2000: 12). In der inhaltlichen Ausgestaltung der regionalen Wirtschafts- und Strukturpolitik sowie bei der Gründung entsprechender Initiativen und Einrichtungen, etwa regionaler Entwicklungsagenturen, Technologie- und Gründerzentren sowie Kooperationen mit Wissenschaftseinrichtungen, haben die IHKn – dies lässt sich an Fallstudien gut dokumentieren (Bullmann/Heinze 1997; Sack 2005) – durchaus an Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten gewonnen. Die wachsende Rolle von ‚Wettbewerbsregionen‘ oberhalb der kommunalen Gebietskörperschaften und unterhalb der Länder hat zu einer Aufwertung der regionalen Kammertätigkeit geführt. Im Zuge des europäischen Integrationsprozesses erwies sich das die Vereinbarkeit der Pflichtmitgliedschaft mit dem Gemeinschaftsrecht für die IHKn immer weniger als Problem (Waldhorst 2005: 228í230; Biernert 2006: 205 ff.). Auch wurden (im weitesten Sinne)
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zivilgesellschaftliche Organisationen der funktionalen Selbstverwaltung durch die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips und die Betonung einer „European Governance“ (Europäische Kommission 2001) legitimatorisch aufgewertet. Die Beratung über europarechtliche Bedingungen unternehmerischen Handelns gehört mittlerweile zum Kerngeschäft der IHKn. Des Weiteren wurden im Zuge der Umsetzung europäischer Richtlinien, etwa auf dem Feld der Versicherungsvermittler oder der Dienstleistungsrichtlinie, den IHKn neue Aufgaben zugewiesen. So weitete sich das administrative Tätigkeitsfeld der öffentlichrechtlichen Körperschaften durchaus aus. Für die Interessenvertretung in den stark vergemeinschafteten Feldern der Wirtschafts- und Umweltpolitik zeigt sich jedoch, dass der DIHK und die 1958 gegründete staatenübergreifende Vereinigung der europäischen Industrie- und Handelskammern Eurochambres das Handikap branchenübergreifender Wirtschaftsverbände teilen, die aufgrund breiter Domänen und heterogener Interessenlagen in europäischen Lobbyprozessen eher eine untergeordnete Rolle spielen. Angesichts der Interessenunterschiede europäischer Kammern wurde bereits die Verabschiedung einer „Charta of the European Chambers of Commerce and Industry“ im Jahr 1999 als Erfolg bewertet (Biernert 2006: 197). Festzuhalten bleibt, dass die deutschen IHKn und der DIHK aufgrund des Europäisierungsprozesses nicht in ihrer administrativen, sondern in ihrer politischen Funktion herausgefordert sind. In den 1990er Jahren verschärfte sich zudem ein Konflikt, der bereits Mitte der 1980er Jahre virulent war (Groser/Hilbert/Voelzkow 1986), nämlich der Konflikt um die Pflichtmitgliedschaft. Ausschlaggebend dafür, dass diese auf die politische Agenda kam und Protest mobilisierte, war eine Entwicklung, die etwa auf die Jahre 1992 und 1998 fällt (Flothow 2004, S. 77í86). Bis 1990 wurde die Finanzierung der IHKn von etwa 30 % der Mitglieder geleistet (Flothow 2004: 77). Veranlasst wurde der aktuelle Konflikt durch eine Gesetzesänderung zum Beitragsrecht der IHKn von 1992, die ihrerseits auf ein Monitum des Bundesverwaltungsgerichts von 1990 zurückging, das die „Gefahr einer unangemessenen Verzerrung der Beitragslast zwischen den Kammerangehörigen“ sah (Tettinger 1997: 202). Mit der gesetzlichen Neuregelung im Jahr 1992 sollte durch die Einbeziehung bisher beitragsfreier Mitglieder, überwiegend Kleingewerbetreibender, für mehr Gerechtigkeit gesorgt und allen Kammermitgliedern ein Beitrag zur Finanzierung auferlegt werden. In der Folge kam es – zumindest in Einzelfällen – zu deutlichen Beitragssteigerungen für KMUs, sodass die Pflichtmitgliedschaft offen in Frage gestellt und politisiert wurde. 1995 gründete sich beispielsweise in Dortmund der bundesweit tätige Verein „IHK-Verweigerer“, der seit 1996 als Bundesverband für freie Kammern firmiert (www.kammerjaeger.org, zuletzt besucht am 13.11.2009). Dieser fordert eine Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in Industrie-, Handels- und Handwerkskammern. Aus diesem Spektrum wurde in der Folge auf der Bundesebene Lobbyarbeit gegen die Pflichtmitgliedschaft in die Wege geleitet, beispielsweise durch Briefaktionen im Vorfeld von Bundestagswahlen. Im Bundestag machte sich die SPD zum Fürsprecher der Gruppe der Pflichtmitgliedschaftsgegner und forderte die Zurücknahme der Reform (Gesetzeslage vor 1992, Gesetz von 1992 und Gesetzesentwurf der SPD von 1995 dokumentiert in: Schmidt-Trenz 1996: 238í250). 1998 erfolgte eine neuerliche gesetzliche Änderung, die erhebliche Teile der Reform von 1992 wieder zurücknahm (Frentzel/Jäkel 1999: 203). In einigen Vollversammlungen wurde Protest gegen die regionale Kammertätigkeit und die mangelnde Transparenz der Entscheidungs- und Abwägungsprozesse formuliert. Es kam zu juristischen Klagen gegen ein strukturpolitisches Engagement der IHKn bzw. gegen inte-
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ressenpolitische Äußerungen sowie gegen die Pflichtmitgliedschaft an sich. Das Bundesverwaltungsgericht stellte mit seinem Urteil vom 21.7.1998 schließlich die Verfassungsmäßigkeit der Pflichtmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer fest. Diese Entscheidung wurde vom Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluss vom 7.12.2001 bestätigt (Druschel 2007: 56). Damit war die Diskussion um die Kammerfinanzierung keinesfalls beendet, sondern verlagerte sich wieder in den politischen Raum. Zwischen 2005 und 2007 gab es eine Reihe von Initiativen im Deutschen Bundestag und in den Parteien, die auf die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft abzielten. Bemerkenswert ist dabei etwa, dass sich die FDP auf ihrem Parteitag in Rostock vom 13.5.2006 nach deutlichen internen Debatten lediglich mit einer 60 %-Mehrheit für die gesetzliche Mitgliedschaft in den Kammern positionierte (zusammenfassend: Sack/Schroeder 2008: 161í163). 7
Anpassungsprozesse und relative Stabilität – Fazit
Anhand der IHKn als öffentlich-rechtlichen Körperschaften kann besonders gut untersucht werden, wie staatliche Bestandsgarantien oder sonstige Privilegien bei den inkorporierten Instanzen organisationsintern aufgenommen werden und ob sie tatsächlich das bewirken, was sie bewirken sollen. Es lässt sich zeigen, dass „die staatliche Sonderausstattung der Kammern für diese nicht nur problemlösend, sondern im Hinblick auf die Mitgliedermobilisierung auch problemgenerierend wirkt“ (Groser/Hilbert/Voelzkow 1986: 5). Dessen eingedenk lassen sich vor dem Hintergrund der Entwicklungen seit Beginn der 1990er Jahre für die IHKn durchaus ambivalente Organisations- und Rollenveränderungen konstatieren. So gewinnt die Funktion der Leistungserbringung eher an Gewicht. Auch der Bedeutungsgewinn regionaler Wirtschafts- und Strukturpolitik stärkt die relative Position der IHKn. Dagegen machen sich insbesondere bei der Interessenvertretung neue Herausforderungen bemerkbar. Zentral sind dabei eine zunehmende Heterogenität der internen Interessen angesichts der Ausdifferenzierung der ‚glokalen‘ Unternehmenslandschaft und der Europäisierung zentraler Politikfeder, auf die die IHKn und der DIHK ersichtlich weniger Einfluss nehmen können. Schließlich zielt die anhaltende, mal im politischen, mal im juristischen Raum stattfindende Debatte um die Pflichtmitgliedschaft schlussendlich auf das zentrale Prinzip der Ressourcenallokation der IHKn ab, das Institut der Pflichtmitgliedschaft. Dieses bleibt weiterhin auf der politischen Agenda. In der Diskussion um die Pflichtmitgliedschaft wurden vielfach Umfrageergebnisse herangezogen, die eine Unzufriedenheit von Kammerzugehörigen mit dem Beitrags-/Leistungsverhältnis ihrer IHK und den Wunsch nach einer Austrittsmöglichkeit belegten. Flothow weist darauf hin, dass „ein Teil der erheblichen Kritik an Industrie- und Handelskammern in den letzten Jahren darauf zurückzuführen [ist], dass die Mitglieder kein entsprechendes Leistungsäquivalent wahrnehmen.“ (2004: 111). Distanz und Kritik seitens der Mitglieder werden in kammereigenen Umfragen durchaus geäußert, z. B. in der ‚Karlsruher Befragung‘ im Herbst 1994 (Schmidt-Trenz 1996: 175). Danach konnten sich nur 50 Prozent der befragten Mitglieder mit der Kammer identifizieren, 67 Prozent hielten die Pflichtmitgliedschaft für problematisch und nur 48 Prozent bejahten die Frage, ob die IHK ihr Geld wert sei (Schmidt-Trenz 1996: 264í265). Unzufriedenheiten zeigten sich einer IHK-Umfrage von 2005 zufolge insbesondere bei Unternehmen mit unter 20 Beschäftigten, während 69 % der Handelsregisterfirmen mit 20 bis 199 Beschäftigten und 77 % der Unter-
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nehmen mit über 200 Beschäftigten mit ihrer IHK sehr zufrieden bzw. eher zufrieden waren. Diese Werte unterscheiden sich je nach Region, nach in Anspruch genommen Serviceleistungen und nach Bereichen, die abgefragt werden. Die Interessenvertretung wurde insgesamt eher skeptisch eingeschätzt. Diese Umfrageergebnisse zeigen, dass es zwar durchaus interne Kritik an den IHKn in einem bemerkenswerten Umfang gibt, von einem allgemeinen Schwund der diffusen Unterstützung jedoch nicht die Rede sein kann. Gleichwohl haben die IHKn seit den 1990er Jahren eine Reihe von Anpassungsprozessen vorgenommen. Zu nennen sind erstens Verwaltungsreformen wie die Errichtung von Controlling und Qualitätsmanagementeinheiten, die Orientierung am strategischen Management, Verbesserungen im Marketing sowie eine veränderte Nutzung von IuK-Technologien und eine andere Personalpolitik, d. h. es wurden entsprechend dem veränderten Aufgabenprofil der Kammern zunehmend Personen mit ingenieur- bzw. naturwissenschaftlichem sowie internationalem Hintergrund eingestellt bzw. die Personalausstattung verringert. Flächenkammern gingen in den vergangenen Jahren dazu über, ihre regionsinternen Servicestellen auszubauen und somit mit organisatorischer Dezentralisierung auf die Nachfrage in Mittelstädten und im ländlichen Raum zu reagieren. Zwischen den IHKn fand ein Prozess der arbeitsteiligen Spezialisierung statt, der ebenfalls Rationalisierungspotentiale realisierte. Die Spezialisierung erfolgte entlang bestimmter Länder und Regionen sowie entlang technologischer Entwicklungen und Arbeitsbereiche, sodass einzelne IHKn zunehmend als Informationsbörsen und Kontaktvermittlungsagenturen innerhalb der IHK-Landschaft fungieren. Zwischen den IHKn wurde sodann ein Prozess des Benchmarkings in die Wege geleitet, der durch wechselseitige Vergleiche und die Kenntnisse über Best Practices Lernprozesse induziert. Auch hat es Fusionen einzelner IHKn gegeben. Zweitens brachen in der Haushaltspolitik der IHKn Streitfragen zum Verhältnis zwischen Beiträgen und Gebühren, zur Rechtfertigung der Beitragserhebung generell und zur Beitragsverwendung im Besonderen auf (Franz 2005: 334í342). In einigen IHKn wurde und wird einer zunehmenden Gebührenfinanzierung das Wort geredet. Eine einheitliche Haushaltspolitik der Kammern zeichnet sich derzeit jedoch nicht ab: Bei 18 IHKn beträgt der Anteil der Gebühren an den Einnahmen mehr als 16 %, bei 25 liegt er zwischen 15 und 10 %, bei weiteren 29 IHKn unter 9 % (Stand: 2005). Eine weitere ‚Stellschraube‘ der Haushaltspolitik sind die Personalausgaben. Wiederum variiert das entsprechende Haushaltsgebaren der IHKn deutlich: Der Anteil der Personalausgaben am Haushalt liegt bei 11 IHKn über 65 %, bei 26 zwischen 60 und 64 %, bei weiteren 19 zwischen 55 und 59 % und schließlich bei 26 IHKn bei unter 54 %. Derzeit sind also in zentralen, kammerspezifisch zu bestimmenden Haushaltspolitiken (noch) keine klaren Tendenzen auszuweisen. Es bestätigt sich wiederum der Befund einer erheblichen regionalen Varianz der IHKn. Drittens fand in der letzten Dekade eine zunehmende Öffnung der IHK-Vollversammlungen statt. Mittlerweile erlauben rund die Hälfte der IHK-Satzungen öffentliche Beratungen in der Vollversammlung. Damit wurde der wachsenden Kritik an den vorherigen Entscheidungsprozessen ebenso Rechnung getragen wie der augenscheinlich niedrigen Wahlbeteiligung (Nullmeier 2009). Zugleich wurden Initiativen zur Förderung des Ehrenamtes intensiviert, um das bürgerschaftliche Engagement in den IHK-Gremien zu stärken. Viertens sei auf eine aktuelle Debatte verwiesen, die tatsächlich eine grundsätzliche Neuerung in der Kammerlandschaft bedeuten könnte: die Diskussion um die Wirtschaftskammer als einem Zusammenschluss von IHKn und Handwerkskammern (Schmidt-Trenz/ Stober 2008). Zwischen den beiden Kammern gibt es einige institutionelle Ähnlichkeiten
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(gesetzlicher Auftrag, Pflichtmitgliedschaft, eine ehrenamtliche, hauptamtlich ergänzte Führungsstruktur, die interne demokratische Willensbildung sowie die Leistungserbringung in der Aus-, Fort- und Weiterbildung), die der Möglichkeit einer Wirtschaftskammer eine reale Basis verleihen (Flothow 2004: 21í22). Wir haben bereits auf die Veränderungen in Unternehmensstrukturen verwiesen, die einen latenten Druck in Richtung einer entsprechenden Fusion entfalten könnten. Zugleich ist zu konstatieren, dass entsprechende Fusionen mit erheblichen Transaktionskosten verbunden sind – so stehen 80 IHKn 54 Handwerkskammern mit anderem geografischen Zuschnitt gegenüber. Zudem sind die Bewertungskriterien für derartige Fusionen vielfältig: Neben Effizienzüberlegungen – ein Zusammenschluss der Kammern kann quantitative wie qualitative Synergieeffekte mit sich bringen – spielen Aspekte der Sozialintegration eine Rolle, die in erheblich vergrößerten und heterogeneren Organisationen geringer ausfallen mag. Insgesamt ist die Fusion zu einer Wirtschaftskammer derzeit jedoch unwahrscheinlich (Sack/Schroeder 2008). Es handelt sich letztlich um Anpassungsprozesse, die keinen grundlegenden Wandel der IHKn markieren oder durch die ihr Zweck in Frage gestellt wird. Mit den benannten Reformen verfolgen die IHKn eine doppeltes organisationsstrategisches Ziel: Die relevanten, jedoch nicht dominanten Unzufriedenheitspotentiale sollen nicht in eine Stärkung der politischen Bewegung der Kammer- und Pflichtmitgliedschaftskritiker und Unmut innerhalb der politischen Parteien umschlagen, in deren Folge die Pflichtmitgliedschaft als zentrales Prinzip der Ressourcenallokation vom Parlament abgeschafft werden könnte. Die IHKn stehen gegenüber der Politik in der Pflicht, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Sie laufen jedoch auch Gefahr, dass sich die Balance zwischen ihrer Funktion als öffentlich-rechtlicher Körperschaft einerseits und Vertreter des Gesamtinteresses der Wirtschaft andererseits zugunsten der ersten Funktion verschiebt, sie also zunehmend zu einer ‚Verwaltung‘ werden. Mit dem Legitimierungsdruck nach außen ist der nach innen verbunden. Die Pflichtmitgliedschaft wird von der Stärke zur Schwäche, wenn sie zur „inneren Kündigung“ der Mitglieder führt (Groser 1992: 135), d. h. sich die Mitglieder nicht mehr mit ihrer Organisation identifizieren, Partizipationschancen nicht nutzen, die Ressource Ehrenamt zurückhalten und den Kammern die aktive Mitarbeit bei zentralen Aktivitäten (z. B. Berufsausbildung, Sachverständigen- und Schiedsgerichtswesen) verweigern. Ein deutlicher Entzug der Kooperations- und Gemeinschaftsressourcen seitens der Mitglieder würde die IHKn gleichsam von innen ‚aushöhlen‘ und damit wiederum negativ auf ihre Legitimation rückwirken. Dementsprechend ist das zweite organisationsstrategische Ziel der IHKn, die Unterstützung durch ihre Mitglieder und deren bürgerschaftliches Engagement zu stärken. Insgesamt haben sich die IHKn trotz der benannten durchaus ambivalenten Entwicklungstrends seit Beginn der 1990er Jahre und des erheblichen Legitimationsdrucks bislang als anpassungsfähig und relativ stabil erwiesen. Diese Einschätzung steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass die politikwissenschaftliche Verbändeforschung sich in den letzten Jahren kaum mit der Entwicklung der IHKn und des DIHK befasst hat. Das ist umso erstaunlicher, als diese als dritte Säule des deutschen Systems der Interessenvertretung anerkannt sind und durch die Pflichtmitgliedschaft den weitaus höchsten Organisationsgrad aufweisen. Wir schließen unseren Beitrag daher auch mit dem Hinweis, dass hinsichtlich der regional und organisationsspezifisch besonderen Entwicklungen der IHKn im Kontext des 21. Jahrhunderts noch einige empirische und kausalanalytische politik- und sozialwissenschaftliche Forschung zu leisten sein wird.
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I.3 Die Industrie- und Handelskammern im politischen System Deutschlands
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84
Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Wülker, Gerda (1972): Der Wandel der Aufgaben der Industrie- und Handelskammern in der Bundesrepublik. Hagen: von der Linnepe Verlagsgesellschaft.
Mittelstandsverbände in Deutschland Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Thomas Krickhahn
1
Einleitung
Der Mittelstand ist in der heutigen Bundesrepublik Deutschland zu einem allgegenwärtigen Bezugspunkt avanciert. Er steht im Zentrum gesellschaftspolitischer und vor allem wirtschaftspolitischer Diskussionen. Dabei wird dem Mittelstand nachgesagt, dass er wesentlich zur Entwicklung von Kultur und Wohlstand beitrage. Er stelle die meisten Arbeitsplätze, den weitaus größten Teil der Ausbildungsplätze, trage am meisten zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei, habe den größten Anteil an allen gezahlten Steuern in Deutschland und verfüge über ein erhebliches politisches Wählerpotential. Doch der Mittelstand steht gegenwärtig unter Druck. So gehen jährlich Zehntausende von mittelständischen Unternehmen in Konkurs, mit entsprechenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen für die betroffenen Regionen (hohe Arbeitslosigkeit, Steuerausfall, Nachfragerückgang, erhöhte öffentliche Sozialleistungen etc.). Damit stellt sich die Frage, wie die Interessen dieser gesellschaftlich bedeutsamen Gruppierung in Deutschland repräsentiert und vertreten werden. Die organisierte Interessenvertretung durch Verbände bietet diesbezüglich eine wesentliche Möglichkeit. Seit geraumer Zeit wird jedoch immer wieder behauptet, dass der Mittelstand in Deutschland keine wirkliche Lobby habe und in der Verbändelandschaft der Republik unterrepräsentiert sei (vgl. z. B. Greve 1999). Angesichts der skizzierten Relevanz des Mittelstands erscheint dieser Befund aber nicht nachvollziehbar. Mit diesem Beitrag soll daher der Frage nachgegangen werden, welche Verbände für den Mittelstand in Deutschland eintreten und wie diese Vertretung heute einzuschätzen ist. Hierzu folgt nach einer Skizze zum Forschungsstand zunächst eine inhaltliche Abgrenzung des Mittelstands sowie der mittelständischen Interessengruppe. Obwohl der Mittelstand in aller Munde ist, existieren sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, wer überhaupt zum Mittelstand gehört. Auch in der Forschung wird dieser Terminus keineswegs einheitlich verwendet. Auf der Basis der Begriffsanalyse wird die Bedeutung, die dem Mittelstand im Zusammenhang mit den Wirtschaftsinteressen in Deutschland beigemessen werden kann, noch einmal aufgezeigt und nach Anhaltspunkten gesucht, die die Wichtigkeit der organisierten Interessenvertretung durch eigene Verbände für diese Interessengruppe beleuchten. Anschließend werden die Mittelstandsverbände mit Blick auf die Fragestellung, inwiefern der Mittelstand in der Verbändelandschaft der Bundesrepublik Deutschland adäquat repräsentiert ist, vorgestellt. Des Weiteren erfolgt eine vertiefende Analyse, in der die Befunde zur Bestandsanalyse noch einmal reflektierend betrachtet werden, sowie eine Erörterung aktueller Probleme, die sich den Mittelstandsverbänden heute stellen. Die Zufriedenheit des Mittelstands mit seinen Verbänden, das Verhältnis der Verbände zueinander, die Rolle des Staates für die Mittelstandsverbände und der „Mehrwert“ bzw. die Leistungen der Verbände sind u. a. Themen in diesem Zusammenhang. Vor diesem Hintergrund werden Schlussfolgerungen gezogen, die die künftige Entwicklung der verbandlichen Interessenvertretung des Mittelstands in Deutschland betreffen.
86 2
Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Zum Forschungsstand
Die Verbände des Mittelstands in Deutschland sind in ihrer Gesamtheit nach wie vor kaum in der Forschung analysiert worden. In der Forschung kommen Mittelstandsverbände nur hinsichtlich bestimmter Teilaspekte (z. B. bezüglich der Tarifautonomie, siehe Völkl 2002), bezüglich einzelner Organisationen in bestimmten Branchen (z. B. bei Wein 1968) oder im Kontext nicht unmittelbar auf die Verbände selbst bezogener Untersuchungszusammenhänge vor. Beispiele für Letztere sind die von Greenwood (2002) herausgegebene englischsprachige Arbeit zur Wirksamkeit der europäischen Wirtschaftsvereinigungen und die Arbeit von Bean (2001) zur Rolle der für kleine und mittlere Unternehmen zuständigen Verwaltung in den Vereinigten Staaten von Amerika. Weiterhin gibt es inzwischen empirische Verbändestudien, die (neben anderen Verbänden) auch mittelstandsbezogene Verbände einbeziehen, jedoch ebenfalls vorwiegend der „Praxisberatung“ dienen und nur mittelbar mit den theoretischen Entwicklungen in der Verbändeforschung zusammenhängen (z. B. die Studie „Excellence Barometer Verbände 2004“ der forum! GmbH marketing + communications). Sehr selten stehen die Mittelstandsverbände insgesamt als solche im Zentrum der Analysen (beispielsweise in der historischen Arbeit von Ullmann 1988). Daneben gibt es eine Reihe von Arbeiten zur Mittelstandspolitik (z. B. Röhl 2005) oder über die mittelständischen Unternehmen (z. B. Hamer 1988). Geradezu eine Fülle von Untersuchungen liegt inzwischen hinsichtlich diverser betriebswirtschaftlicher Aspekte von mittelständischen Unternehmen vor (wie z. B. zur Personalpolitik, zum Marketing, Rechnungswesen, Controlling, zur Führung usw.). Viele dieser Arbeiten sind von Praktikern mit eher lockerem Bezug zum wissenschaftlichen Kontext verfasst worden. Die Mittelstandsverbände unmittelbar betreffend offenbart sich demnach ein erheblicher Mangel bzw. Bedarf an theoretisch und empirisch fundierten wissenschaftlichen Analysen. Das mangelnde Forschungsinteresse erstaunt umso mehr angesichts der Allgegenwart des Mittelstands in den heutigen gesellschafts- und wirtschaftspolitisch motivierten Debatten in Deutschland. Gründe hierfür sind in der „Sperrigkeit“ des Untersuchungsgegenstandes, die u. a. mit der weiter unten behandelten Begriffsproblematik zusammenhängt, zu suchen. Eine andere Begründung für die geringe Zuwendung kann in der Gemeinschaft der Verbandsforscher selbst gefunden werden. Diese setzt sich überwiegend aus Soziologen, Historikern und Politologen zusammen, die offenbar eine gewisse thematische Distanz zum unternehmerischen Mittelstand haben. Zudem dominierte in der Verbandsforschung auch in Bezug auf die Wirtschaftsverbände in Deutschland bis in die jüngste Zeit hinein das sogenannte Korporatismusmodell, was eine Konzentration des Forschungsinteresses auf die „mächtigsten“ bzw. die größten Verbände mit sich brachte. Mittelständische Verbände werden nicht in diesem Kreis vermutet und sind daher aus dem Blickfeld gefallen. Allerdings dürfte ein Teil der zentralen Thesen und Erkenntnisse, die die Verbandsforschung im Zusammenhang mit der Erklärung und Beschreibung von anderen Wirtschaftsbzw. Interessenverbänden bisher hervorgebracht hat, auch auf die Mittelstandsverbände übertragbar sein (wie z. B. die Theorie des kollektiven Handelns von Olson 1985 [1968]). Derart integrierende Arbeiten stehen jedoch noch weitgehend aus. Entscheidende Erkenntnis- und Empiriedefizite sind deshalb in der unzureichenden Erkundung der Besonderheiten der Mittelstandsverbände zu sehen. Die Behandlung der speziellen mittelständischen Aspekte hängt aber nicht zuletzt auch davon ab, wer zum Mittelstand gezählt wird bzw. wie der Mittelstand begrifflich abgegrenzt wird.
I.4 Mittelstandsverbände in Deutschland 3
87
Der Mittelstand, wer ist das und braucht er eigene Verbände?
Obwohl oder gerade weil der Ausdruck „Mittelstand“ eine allgegenwärtige Kategorie in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Erörterungen, Auseinandersetzungen und Diskussionen in Deutschland geworden ist, gehört er doch zu jenen Phänomenen, für die oft vielfältige und unbestimmte Begriffe verwendet werden. Das Wort Mittelstand ist ein originär deutsches Wort, das ursprünglich im 17. Jahrhundert geprägt wurde und den mittleren Stand zwischen Adel und den Unterschichten bezeichnete. Der sogenannte alte Mittelstand umfasste zunächst die Handwerker und bezog in der Folge auch Händler, Bauern und kleinere Gewerbetreibende ein. Mit dem Aufkommen der modernen Industriegesellschaft wurde der Begriff des neuen Mittelstands geprägt, dem die Angestellten und Beamten zugeordnet wurden. In einer sehr weiten soziologischen Begriffsvorstellung umfasste der Mittelstand schließlich alle Angehörigen der mittleren sozialen Schicht in der Bundesrepublik Deutschland. Nach der Nivellierungsthese von Helmut Schelsky (1955) befand sich die noch junge Bundesrepublik Deutschland bereits auf dem besten Wege zu einer reinen Mittelstandsgesellschaft. In den heute geführten Debatten wird mit dem Ausdruck Mittelstand dagegen überwiegend auf die kleinen und mittleren Unternehmen und insofern wieder auf den wirtschaftlichen bzw. alten Mittelstand Bezug genommen. Doch auch diese Einschränkung führte nicht zu einer eindeutigen und allgemein verwendeten Begriffsbestimmung des wirtschaftlichen Mittelstands. So kommen quantitative (z. B. Jahresumsatz, Anzahl der Beschäftigten, Gewinn etc.) wie qualitative Abgrenzungskriterien (z. B. Rechtsform der Unternehmen, Führungsstil, Produktionsform etc.) oft auch kombiniert mit jeweils unterschiedlichen Größenabgrenzungen der Unternehmen zur Bestimmung des wirtschaftlichen Mittelstands zum Einsatz. Sehr verbreitet ist in Deutschland die vom Bonner Mittelstandsinstitut (IfM) geprägte Definition des wirtschaftlichen Mittelstands (siehe Tabelle 1). Danach werden zum wirtschaftlichen Mittelstand alle Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten und bis zu 50 Millionen Euro Jahresumsatz gezählt. Relativ jung ist die nunmehr auf EU-Ebene verwendete Mittelstandsdefinition (siehe Tabelle 2). Da an diese Definition die Vergabe von Fördermitteln wie auch gesetzliche Regelungen anknüpfen, ist davon auszugehen, dass sie auch in Deutschland eine sehr viel größere Verbreitung finden und Wirkung entfalten wird. Darin wird zusätzlich zu der Beschäftigtenanzahl, dem Jahresumsatz und der Bilanzsumme auch auf qualitative Abgrenzungsmerkmale abgestellt, u. a. insbesondere darauf, ob es sich um selbständige bzw. beteiligungsfreie Unternehmen handelt. Neben den gewerblichen Unternehmen in den verschiedenen Wirtschaftszweigen werden in der Regel auch die freien Berufe zum wirtschaftlichen Mittelstand gezählt. Hingewiesen sei ferner darauf, dass je nach Problemstellung und analytischer Perspektive verschiedene Größenabgrenzungen der Unternehmen sinnvoll erscheinen. Wenn beispielsweise über die Stellung eines Unternehmens im Wettbewerb diskutiert wird, so mag ein Unternehmen eine monopolistische Stellung mit erheblichen Einflusspotentialen auf die Preisgestaltung und die Beschäftigung in einer bestimmten Region einnehmen, im internationalen Kontext kann es aber einem intensiven Wettbewerb ausgesetzt sein und mit seinen Produkten eine untergeordnete Rolle auf dem Markt spielen. Das Unternehmen wäre sehr groß relativ zur betrachteten Region und sehr klein im Kontext einer globalisierten Wirtschaft. Ähnliches trifft zu, wenn die Analyse auf bestimmte Wirtschaftszweige fokussiert wird. Was im Zusammenhang mit der Produktion von Automobilen oder der Energiepro-
88
Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
duktion vergleichsweise kleine Unternehmen sein mögen, wären bezogen auf das Handwerk Giganten, würde man die gleichen Größenkriterien und Größenordnungen heranziehen. Wie immer die Grenzlinie zwischen großen und kleinen Unternehmen gezogen wird, sie ist vor dem Hintergrund des jeweils betrachteten Kontextes zu relativieren. Tabelle 1: Mittelstandsdefinition in Deutschland seit Einführung des Euro (1.1.2002) Unternehmensgröße
Zahl der Beschäftigten
Umsatz €/Jahr
Klein Mittel
bis 9 10 bis 499
bis unter 1 Million 1 bis 50 Millionen
Quelle: IfM 10/2005.
Tabelle 2: Mittelstandsdefinition der EU (seit 1.1.2005) Unternehmensgröße
Zahl der Beschäftigten
Umsatz €/Jahr
Bilanzsumme €
Kleinstunternehmen Kleine Unternehmen Mittlere Unternehmen
bis 9 10 bis 49 50 bis 249
bis 2 Millionen bis 10 Millionen bis 50 Millionen
bis 2 Millionen bis 10 Millionen bis 43 Millionen
Quelle: European Commission 10/2005.
Bei der Anwendung der Mittelstandsdefinition des IfM auf die einzelnen Branchen zeigt sich, dass vor allem das Handwerk mit einer durchschnittlichen Größe von elf Beschäftigten pro Unternehmen, der Einzelhandel, in dem neun von zehn Unternehmen weniger als zehn Mitarbeiter beschäftigen, sowie die freien Berufe dem wirtschaftlichen Mittelstand zuzurechnen sind (siehe z. B. Statistisches Bundesamt 2003: 107 ff.). Warum der wirtschaftliche Mittelstand eine dermaßen die wirtschaftspolitischen Themen durchdringende Bedeutung hat, kann der Tabelle 3 entnommen werden. Die großen Unternehmen stellen danach nur 0,3 Prozent und der wirtschaftliche Mittelstand den Rest der Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland. Mehr als 70 Prozent der Beschäftigten und mehr als 80 Prozent der Auszubildenden rekrutieren sich aus den kleinen und mittleren Unternehmen. Damit bilden die kleinen und mittleren Unternehmen zusammengenommen das Rückgrat des deutschen Beschäftigungs- und Ausbildungssystems. Tabelle 3: Zur wirtschaftlichen Bedeutung des unternehmerischen Mittelstands Anteil des Mittelstands an: Unternehmen (2003) Umsatz (2003) Beschäftigung (2003) Ausbildung (in Betrieben, 2003) Bruttowertschöpfung der Unternehmen (1999) Bruttoinvestitionen der Unternehmen (2003)
99,7 % 40,8 % 70,2 % 81,9 % 48,8 % 51,5 %
1 Im Jahr 2003 betrug die Gesamtzahl der Unternehmen 3,268 Millionen. Die Zahl der Selbständigen liegt um ca. 250.000 höher bei 3,563 Millionen im Jahr 2004 (IfM 10/2005). Quelle: Statistisches Bundesamt; Bundesagentur für Arbeit; Zentralverband des Deutschen Handwerks; Institut für Freie Berufe; Berechnungen des IfM Bonn, 07/2005.
I.4 Mittelstandsverbände in Deutschland
89
Andererseits lassen sich an den Werten in Tabelle 3 ebenso die gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung sowie das politische Einfluss- und Machtpotential der großen Unternehmen ausmachen. Deutlich weniger als 1 Prozent der Unternehmen beschäftigen immerhin knapp 30 Prozent aller Arbeitnehmer, tätigen nahezu 60 Prozent der Umsätze, erzielen über 50 Prozent der Bruttowertschöpfung und stellen fast die Hälfte der Bruttoinvestitionen der privatwirtschaftlichen Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland. Aller Mittelstandsrhetorik zum Trotz resultiert daraus sicherlich auch die besondere Zuwendung zu den und Konzentration auf die großen Unternehmen seitens der politischen Verantwortungsträger. Nicht von ungefähr werden drohende Insolvenzen und Produktionsverlagerungen von Großunternehmen in den Medien, aber auch in der Politik mit besonderem Interesse wahrgenommen. Hinzu kommt, dass die großen Unternehmen in der Regel erheblich mit kleinen und mittleren Unternehmen vernetzt sind. Wenn ein großes Unternehmen in Schwierigkeiten gerät, so betrifft das oft viele Zulieferer- und Abnehmerbetriebe sowie unternehmensnahe Dienstleister. Der wirtschaftliche Mittelstand ist insofern „nur“ in seiner Gesamtheit von erheblicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung (vor allem was die Anzahl der Beschäftigten und Ausbildungsplätze betrifft). Einzelne große Unternehmen können allein aufgrund ihrer Größendimensionen in bestimmten Regionen oft selbständig einen erheblichen Einfluss gegenüber dem interessenvertretungspolitisch relevanten politisch-administrativen System entfalten. Wenn ein großes Unternehmen Tausende von Arbeitsplätzen bereitstellen oder auch abschaffen kann, so wird ihm bereits dadurch ein bedeutsames Macht- und Einflusspotential beigemessen werden können. Zudem existieren viele kleine und mittlere Zulieferer- und Abnehmerbetriebe nur aufgrund der Existenz von großen Unternehmen (z. B. durch Outsourcing oder Franchising). Organisationsstrukturell ist des Weiteren zu berücksichtigen, dass einzelne kleinere Unternehmen im Vergleich zu den großen Unternehmen in der Regel nicht die Ressourcen für ein aktives Interessenvertretungsengagement in den Verbänden, geschweige denn für eine eigene effektive Interessenvertretung mobilisieren können. Das gilt insbesondere für die Verfügung über Zeit und Personal. So können kleinere Unternehmen kaum auf eigene Öffentlichkeitsabteilungen oder „Juristen im Hause“ zurückgreifen, die entsprechende Projekte oder Maßnahmen vorbereiten und umsetzen. Die Beauftragung von privatwirtschaftlichen Lobby-Agenturen für diesen Zweck durch einzelne Unternehmen ist aus Kostengründen und der Kollektivgutproblematik der Interessenvertretung (siehe hierzu: Olson 1985) ebenfalls tendenziell unrealistisch. Um gegenüber dem politisch-administrativen System eine wirksame Interessenvertretung entfalten zu können, ist der wirtschaftliche Mittelstand daher auf eine gemeinsame, durch Verbände organisierte Interessenvertretung angewiesen. Die Notwendigkeit einer solchen Interessenvertretung ergibt sich aber vor allem aus den vielfältigen und erheblichen Konsequenzen sozial- und wirtschaftspolitischer Entscheidungen des politisch-administrativen Systems für die Bedingungen des wirtschaftlichen Mittelstands in seinen diversen Interessenlagen. Nun gelten gerade die unternehmerischen Interessen gegenüber dem politischadministrativen System relativ zu anderen gesellschaftlichen Gruppierungen als hervorragend organisiert und durchsetzungsfähig. Doch trifft das auch auf den wirtschaftlichen Mittelstand zu? In der Vergangenheit wurden hierzu aus verschiedenen Richtungen immer wieder Zweifel geäußert. Dieser Frage widmete sich der Autor dieses Beitrags bereits Anfang der neunziger Jahre und kam zu einem differenzierten Ergebnis, an das, verbunden mit
90
Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
der Fragestellung, was sich in der Zwischenzeit wesentlich verändert hat, im Folgenden bezüglich der ausgewählten Aspekte angeknüpft werden soll (Krickhahn 1995). 4
Bestandsaufnahme: die Mittelstandsverbände
Für die organisierte Interessenvertretung und Interessenvermittlung des wirtschaftlichen Mittelstands kommen grundsätzlich verschiedene Formen in Frage. Die Palette der Möglichkeiten reicht von firmeneigenen Repräsentanzen in der Regierungsmetropole, extern beauftragten Lobbyisten- oder Rechtsanwaltsfirmen oder Agenturen für Public Affairs über parteinahe Organisationen, mittelstandsorientierte Forschungsinstitute und Kammern bis hin zu den auf den Mittelstand ausgerichteten Verbänden. Tabelle 4 fasst die wichtigsten Verbandsformen in diesem Zusammenhang mit einer kurzen Charakteristik zusammen.1 Vorzumerken ist dabei, dass die mittelständischen Verbände im Wesentlichen wirtschaftspolitische und nicht tarif- und sozialpolitische Funktionen, die den Arbeitgeberverbänden obliegen, ausüben. Die einzelnen Organisationen innerhalb und zwischen den verschiedenen Formen agieren auch nicht ohne jede Verbindung untereinander, sondern können auf vielfältige Weise miteinander in Netzwerken verwoben sein. 2 Gegenseitige organisatorische Mitgliedschaften, Kooperationen in gemeinsamen Kommissionen und Projekten, regelmäßiger Informationsaustausch oder öffentliche gegenseitige Unterstützungsaktionen in den Medien zu bestimmten politischen Themen sind Beziehungsdimensionen, über die Netzwerke zwischen den Organisationen entstehen können. Netzwerke können sich aber auch über Beziehungsdimensionen wie die Reputation hinsichtlich des politischen Einflusses oder auch, negativ gewendet, über Gegnerschaften konstituieren. Diese Beziehungsnetzwerke können prinzipiell alle möglichen Akteure (Verbände, Unternehmen, staatliche Institutionen etc.) im mittelstandspolitisch relevanten Interessenvertretungssystem einschließen. Will man informationshaltige Aussagen über das gesamte organisierte Interessenvertretungssystem des wirtschaftlichen Mittelstands treffen, dann sind Einsichten in die Strukturen und Prozesse dieser Netzwerke und deren Bedingungsfaktoren zweckmäßig. Soweit der Fokus des analytischen Interesses auf die Verbände gerichtet wird, die jeweils für sich genommen bereits die Interessenvertretung des wirtschaftlichen Mittelstands insgesamt anstreben, d. h. branchenübergreifende und überregionale auf den wirtschaftlichen Mittelstand ausgerichtete Organisationen sein wollen, sind damit die hier als „allgemeine Mittelstandsverbände“ bezeichneten Organisationen gemeint. Insgesamt beansprucht ein Dutzend allgemeiner Mittelstandsverbände, die Interessen des wirtschaftlichen Mittelstands kollektiv zu vertreten. Indessen haben sich in ihnen zusammengenommen rund 294.000 Mitglieder organisiert, was einem Organisationsgrad von etwas unter 10 Prozent entspricht. 3 Über den Zeitraum der letzten 12 Jahre ist die Gesamt1
2 3
Wobei Kammern oft und Parteien selbst nicht zu den Verbänden gerechnet werden, auch wenn sie teilweise gleichartige Funktionen übernehmen. Besonders die Multidimensionalität und -funktionalität lässt eine einheitliche und eindeutige begriffliche Abgrenzung der Verbände als voraussetzungsvoll erscheinen (vgl. z. B. Witt/Seufert/Emberger 1996: 414 ff.). Vgl. ausführlich zur Vernetzung der auf den wirtschaftlichen Mittelstand bezogenen Organisationen Krickhahn 1995: 244 ff. Vorausgesetzt, dass der Anteil von Doppelmitgliedschaften der Unternehmen in diesen Verbänden vernachlässigbar ist.
I.4 Mittelstandsverbände in Deutschland
91
zahl der organisierten Mitglieder damit von etwa 270.000 um 24.000 bzw. um etwa 9 Prozent gestiegen. Bezüglich der Entwicklung der Mitgliederzahlen sind die Verbände aber unterschiedlich erfolgreich gewesen. Aufsteiger sind vor allem der DMB und der BVMW. Die Verbände mit den höchsten angegebenen Mitgliederzahlen sind die AWM, der BDS und der BVMW (siehe Tabelle 5). Tabelle 4: Organisationstypen der Mittelstandsverbände Organisationsart
Beschreibung
Allgemeine Mittelstandsverbände
Verbände, die den wirtschaftlichen Mittelstand insgesamt vertreten wollen, z. B. nicht ausschließlich auf eine Branche oder Region bezogene Interessen vertreten.
Branchen- und Fachverbände
Verbände mit einer vorwiegend fachlichen und/oder auf einen bestimmten Wirtschaftszweig bezogenen Ausrichtung, die gleichwohl von kleinen und mittleren Unternehmen dominiert werden und sich deren Interessen annehmen (z. B. im Einzelhandel und Handwerk)
Territorialverbände
Verbände mit einem spezifischen regionalen Wirkungskreis (Orts-, Regional-, Landes-, Bundes- oder Europaverbände bzw. internationale Interessenorganisationen)
Mitgliederverbände
In Mitgliederverbänden sind die Interessenten (das sind die Unternehmen, Einzelpersonen bzw. Selbständige, mithin die Betroffenen selbst, um deren Interessenvertretung es geht) direkt organisiert.
Dachverbände
Dachverbände sind dagegen übergreifende Verbände, denen andere Verbände angeschlossen sind und in denen in der Regel eine direkte Einzelmitgliedschaft nicht vorgesehen ist. Dachverbände sind oft auch überregionale und/oder fachund branchenübergreifende Bundesverbände.
Kammerverbände
Während Verbände überwiegend in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins verfasst sind, haben Kammern die Rechtsform einer Körperschaft öffentlichen Rechts. Kammern nehmen damit eine Zwischenstellung als Dienstleistungs- bzw. Interessenorganisation für ihre Mitglieder auf der einen Seite und für den Staat (demgegenüber sie öffentliche Funktionen erfüllen, wie z. B. Informationsbereitstellung) auf der anderen Seite ein. Kammerverbände sind Dachorganisationen der Kammern.
Parteiverbände
Verbände, die aus bestimmten politischen Parteien hervorgehen und einen auf den Mittelstand bezogenen Interessenvertretungszweck haben. Die Besonderheit dieser Organisationen ist, dass sie gewissermaßen in das politische System hineinreichen und nicht von außen, wie Verbände als intermediäre Organisationen zwischen Markt, Gesellschaft und Staat, darauf einwirken.
Hinsichtlich des Bestands und der Entwicklung dieser Organisationen ist festzustellen, dass die meisten in den 1970er und 1980er Jahren gegründet worden sind, d. h. dass die Gründungen mit der Ausweitung der Rolle des Staates in der Bundesrepublik zusammenfallen und die Verbände sich über den Zeitraum der letzten 20 bis 30 Jahre in der Verbändelandschaft etablieren konnten (vgl. Krickhahn 1995: 223 ff.). Seit Beginn der neunziger Jahre
92
Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
sind allerdings auch kleinere Organisationen, wie z. B. die Mittelstandsinitiative Deutschland „mid“ oder die Bundes-Schutz-Vereinigung der mittelständischen Wirtschaft „BSV“, aus diesem Kreis ausgeschieden. Beides waren sehr kleine Verbände, die es offenbar nicht geschafft haben, ihren Bestand zu erhalten. Tabelle 5: Allgemeine Mittelstandsverbände in Deutschland und ihre Mitglieder Allgemeine Mittelstandsverbände
2005
1993
Mitglieder- Angeschlos- Mitglieder- Angeschlossene Organisene Organizahl zahl sationen sationen Aktionsgemeinschaft Wirtschaftlicher Mittelstand (AWM)
100.000
89
120.000
120
Bundesverband der Selbständigen (BDS)
80.000
20
80.000
20
Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW)
53.000
40
20.000
34
Verband Selbständiger und Gewerbetreibender
19.744
7
23.000
7
Deutscher Mittelstands-Bund (DMB)
18.000
0
5.694
0
Union mittelständischer Unternehmen (UMU)
15.000
11
10.600
11
8.500
1
10.200
1
Unternehmerverband mittelständische Wirtschaft (UMW)
720
–
–
–
Vereinigung Mittelständischer Unternehmen
300
–
320
7
74
3
–
–
–
–
–
–
293.618
170
269.814
200
Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU)
Interessenverband Selbständiger KMU-Verband der Klein- und Mittelstandsunternehmen Summen
Quellen: Oeckl 2004: 510; Deutscher Bundestag 10/2005; Krickhahn 1995.
Bei den angeschlossenen Organisationen kann es sich um Suborganisationen der Verbände (Regionalorganisationen, Teilverbände), „befreundete“ Verbände, Kooperationsorganisationen etc. handeln, wodurch sich der Kreis der jeweils vertretenen Interessenten teilweise erheblich erweitert. Nicht weniger als 170 andere Organisationen haben sich den allgemeinen Mittelstandsverbänden derzeit angeschlossen, wenngleich mit rückläufiger Tendenz.4 Schon auf dieser Basis lässt sich die eingangs gestellte Frage, ob der wirtschaftliche Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland im politischen System über eine eigenständige Verbandsorganisation verfügt, wie folgt beantworten: Der wirtschaftliche Mittelstand ist nicht ohne organisierte Interessenvertretung. Es gibt vielmehr eine Anzahl konkurrierender allgemeiner mittelständischer Verbände. Der Blick auf die verschiedenen oben angeführten Verbandsformen zeigt deren Vielfalt und die Schwierigkeit, von eindimensionalen Klassifikationen der Verbände zu eindeutigen Zuordnungen zu gelangen. Die allgemeinen Mittelstandsverbände sind in der Mehrzahl Dachverbände, Mitgliederverbände und Bundesverbände gleichermaßen. In ihnen sind Regional- und Landesverbände, Fachverbände, andere Bundesverbände sowie Unternehmen und/oder Selbständige als Einzelmitglieder zusam4
Diese Zahl gibt nur einen ersten Einblick in die organisatorische Verflechtung, weil den angeschlossenen Organisationen wiederum weitere Organisationen angeschlossen sein können. Es wird dadurch sozusagen nur der Gipfel des Eisbergs sichtbar. Die bloße Zahl der direkt angeschlossenen Organisationen ist deshalb außerdem anhand der jeweiligen Bedeutung der angeschlossenen Organisationen zu relativieren.
I.4 Mittelstandsverbände in Deutschland
93
mengeschlossen. Entsprechend sind weitere organisatorische Verbindungen auch bei den angeschlossenen Mitgliedsverbänden vorzufinden. Neben den allgemeinen Mittelstandsverbänden gibt es die Branchen- und Fachverbände, die sich explizit auf den wirtschaftlichen Mittelstand beziehen, was u. a. darin zum Ausdruck kommt, dass der Bezug zum Mittelstand bereits im Verbandsnamen deutlich gemacht wird. Beispiele sind die Bundesvereinigung Mittelständischer Bauunternehmen (BVMB), der Bundesverband mittelständischer Mineralölunternehmen (UNITI) oder der Bundesverband mittelständischer Privatbrauereien (vgl. Deutscher Bundestag 10/2005). Wenn alle Fach- und Berufsverbände der besonders durch kleinere Unternehmen geprägten Wirtschaftszweige, nämlich des Handwerks, des Handels und der freien Berufe, noch hinzugerechnet werden, ergibt sich ein sehr viel weitläufigeres Bild. Diese Verbände haben sich ihrerseits weitgehend in ihren Dachverbänden zusammengeschlossen. Allein im Dachverband des Einzelhandels, dem Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE), sind neben 15 Landesverbänden weitere 27 Bundesfachverbände zusammengeschlossen, die etwa 100.000 Unternehmen repräsentieren. 5 Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), der Dachverband des Handwerks, umfasst außer 54 Handwerkskammern 43 Zentralfachverbände, denen jeweils weitere Fachverbände angeschlossen sind. Insgesamt werden durch den ZDH 846.588 Handwerksbetriebe vertreten. Im Bundesverband der Freien Berufe (BFB) sind 16 Landesverbände und 70 Berufsverbände bzw. Körperschaften/Kammern 6 organisiert, die die ebenfalls mehr als 800.000 Selbständige zählende Gruppe der freien Berufe vertreten. In der Studie des Verfassers wurden ausgehend von öffentlichen Verbändedokumentationen (u. a. der Lobbyliste des Bundestages) durch ein Schneeballverfahren die soeben genannten zentralen Dachverbände zunächst als mittelstandsorientierte Verbände erfasst und sodann im Rahmen eines Reputationsansatzes (d. h. aufgrund von Reputationsnennungen unter den befragten Verbandsrepräsentanten) von Peers auch als herausragende Mittelstandsorganisationen bestätigt. 7 Als besonders mittelstandsorientiert wurde daneben noch der Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels (BGA), dem heute 27 Landesund Regionalverbände sowie 48 Branchen- und Funktionsverbände angehören, die rund 124.000 Unternehmen dieses Wirtschaftszweigs repräsentieren (siehe BGA 2005), eingestuft. Tabelle 6 führt die Verbände auf, die aufgrund der durchgeführten Reputationstechnik die meisten Reputationsnennungen als mittelstandsrelevante Verbände auf sich vereinen konnten. Neben den Dachverbänden der mittelstandsnahen Wirtschaftszweige (ZDH, HDE, BFB) sind zumindest drei der allgemeinen Mittelstandsverbände (AWM, BDS, ASU) und darüber hinaus der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) 8 als Dachverband der Industrie- und Handelskammern sowie die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU (MIT) als einzige parteinahe Verbandsorganisation von den Peers als besonders mittelstandsorientiert eingeschätzt worden. Allein diese als zentrale Mittelstandsverbände bezeichneten und identifizierten Interessenvertretungen des wirtschaftlichen Mittelstands repräsentieren gegenwärtig zusammen über 5,6 Millionen Unternehmen und/oder Selbstän5 6 7 8
Beispielsweise reicht die Palette vom Bundesverband des Deutschen Briefmarkenhandels e. V. bis hin zum Verband des Deutschen Zweiradhandels e. V. (Oeckl 2004: 484 ff.). Zu diesen Kammern gehören u. a. die Bundesärztekammer, Bundessteuerberaterkammer und die Bundesarchitektenkammer (vgl. BFB 10/2005). Als Peers fungierten Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder der Verbände (Krickhahn 1995: 101 ff.). Inzwischen umbenannt in Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK).
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
dige als Mitglieder. 9 Bemerkenswert ist, dass allein in den Kammern deutlich mehr als 4,5 Millionen Selbständige und Unternehmen organisiert sind, die durch den DIHK, den ZDH und den BFB vertreten werden. Wenn diese drei Dachverbände aus der Betrachtung herausgenommen werden, werden durch die verbleibenden 6 Verbände jedoch immerhin noch über 450.000 Unternehmen bzw. Selbständige und gut 240 angeschlossene Organisationen repräsentiert. Tabelle 6: Die zentralen Verbände des Mittelstands 2005 Repräsentierte Mitglieder
Angeschlossene Organisationen
Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK) Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) Bundesverband der Freien Berufe (BFB) Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels (BGA) Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE) Aktionsgemeinschaft Wirtschaftlicher Mittelstand (AWM) Bundesverband der Selbständigen (BDS) Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU (MIT) Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer e. V. (ASU)
3.500.000 846.588 816.558 124.000 100.000 100.000 80.000 35.000 8.500
81 97 86 75 42 89 20 16 1
Summen
5.610.646
506
Quellen: Oeckl 2004; DIHK 10/2005; MIT 10/2005; Krickhahn 1995.
Es ist schon angemerkt worden, dass nicht nur die in vertikaler Sicht angeschlossenen Organisationen die organisatorische Verbundenheit signalisieren, sondern auch die in horizontaler Ebene vorhandenen gegenseitigen Mitgliedschaften und Austauschbeziehungen sowie die in vertikaler Hinsicht ggf. bestehenden jeweils eigenen Mitgliedschaften in anderen Organisationen. So sind der ZDH, der HDE, der DIHK und der BFB (als Gast) noch mit den anderen Dachverbänden der deutschen Wirtschaft im Gemeinschaftsausschuss der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft 10 zusammengeschlossen. Hier zeigt sich die tiefe organisatorische Einbindung der mittelständischen Interessenvertretungen nicht nur in die Landschaft der Wirtschaftsverbände, sondern auch in das korporativ geprägte deutsche Interessenvermittlungssystem, das gekennzeichnet ist durch die Kooperation und wechselseitige Abstimmung der zentralen Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft mit dem politisch-administrativen System.
9 10
Die Zahl der insgesamt repräsentierten Mitglieder enthält Doppelmitgliedschaften. Zu relativieren ist auch die Zahl der Mitgliederorganisationen in Anbetracht der weiteren Suborganisationen bzw. der indirekt über die angeschlossenen Organisationen vertretenen Organisationen. Der Gemeinschaftsausschuss ist das zentrale Koordinationszentrum der gewerblichen Unternehmen in Deutschland, in dem neben dem HDE, der BGA und dem DIHK sowie dem BFB als Gastorganisation noch elf weitere Spitzenverbände der Wirtschaft, wie z. B. die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber (BDA) oder der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), verbunden sind.
I.4 Mittelstandsverbände in Deutschland
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Mit der MIT als parteinaher Organisation der CDU/CSU ist der wirtschaftliche Mittelstand unmittelbar mit dem politischen Parteiensystem verflochten. Die MIT bezeichnet sich dabei selbst als den einflussreichsten politischen Verband für den Mittelstand in Deutschland (siehe MIT 10/2005). Auf allen Ebenen – Kreis/Stadt, Land, Bund und Europa – ist die MIT für die Mittelständler und ihre Unternehmen präsent. Im Parlamentskreis Mittelstand (PKM), der wiederum mit der MIT eng verbunden ist, waren im Jahr 2005 121 Abgeordnete innerhalb der Bundestagsfraktion von CDU und CSU für die Lösung mittelständischer Probleme im Einsatz. Wenn auch die CDU/CSU-Mittelstandsorganisation programmatisch den wirtschaftlichen Interessenlagen des Mittelstands besonders nahe stehen mag und im Verfahren des Reputationsansatzes von den befragten Experten der Mittelstandsstudie des Verfassers unter die bedeutsamsten Mittelstandsverbände gewählt worden ist, so haben sich nichtsdestoweniger auch anderen Parteien nahestehende Organisationen auf den Mittelstand ausgerichtet. Das trifft insbesondere auf die Bundesvereinigung Liberaler Mittelstand e. V., aber auch auf die Arbeitsgemeinschaft Selbständige in der SPD (AGS) zu. Mit dem Offenen Wirtschaftsverband von klein- und mittelständischen Unternehmen (OWUS) besitzt selbst die Linke bzw. die frühere PDS eine auf den (wenn auch vornehmlich in den neuen Bundesländern angesiedelten) wirtschaftlichen Mittelstand abzielende Organisation. Zumindest zum Zeitpunkt der Befragung spielten aus Sicht der Peers die anderen Parteiverbände für den Mittelstand aber keine mit der der MIT vergleichbare Rolle. Mit der Zunahme des Umfangs und der Bedeutung der europäischen Ebene für die nationalen Volkswirtschaften bekommen auf Europa ausgerichtete Verbände eine größere Bedeutung, auch auf nationaler Politikebene. Zudem sind die Europaverbände über die Mitglieder bei der Interessenformation auf die nationale Ebene zurückgebunden und der europäische Interessenvertretungsansatz erfolgt oft über die nationalen Regierungen und Administrationen. Dieses Feld ist nicht unbestellt gelassen worden von europaorientierten Verbänden mit explizit mittelständischem Interessenvertretungsanspruch. Hierzu gehören beispielsweise die für die mittelständischen Unternehmen sehr bedeutsame European Association of Craft, Small and Medium-sized Enterprises (UEAPME) und die der CDU/CSU nahestehende Europäische Mittelstands-Union (EMSU) ebenso wie der Europaverband der Selbständigen (BvD). Unabhängig davon haben zumindest auch die einschlägigen zentralen Dachverbände des wirtschaftlichen Mittelstands eine eigene Niederlassung in Brüssel. Darüber hinaus gibt es in Brüssel weitere Institutionen, Organisationen und Einrichtungen wie das Haus der Europäischen Wirtschaft oder das Haus der Europäischen Kammern, in denen die zentralen Verbände des Mittelstands präsent sind. Mit den bisher aufgeführten Verbänden ist die verbandliche Interessenvertretung des wirtschaftlichen Mittelstands in Deutschland aber immer noch nicht erschöpfend umrissen. Schon der Sachverhalt, dass nach der Mittelstandsdefinition des IfM allein über 80 Prozent der Unternehmen (sowohl nach dem Kriterium Umsatz bis zu 1 Million Euro als auch nach dem Kriterium Beschäftigtenanzahl bis 9 Beschäftigte im Jahre 2001) zu den kleinen Unternehmen zu zählen sind, lässt darauf schließen, dass praktisch alle großen Wirtschaftszweige, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, von den kleinen und mittleren Unternehmen zahlenmäßig dominiert werden. So ist erklärbar, dass nicht nur explizit mittelstandsbezogene Wirtschaftsverbände mittelstandspolitisch aktiv sind. Beispielsweise ist im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die Mittelstandspolitik ein Schwerpunktthema, dem dort zudem eine eigene Abteilung gewidmet ist. In vielen anderen Wirtschaftsverbänden,
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
die nicht in erster Linie auf die Unternehmensgröße abheben, finden mittelstandsrelevante Themen ebenso ihren organisatorischen Niederschlag. Der Situs (d. h. der Interessenbereich, aus dem heraus die jeweilige Organisation gegründet wurde) und der Objektbereich (d. h. der Interessenbereich, in den hinein die Organisation tatsächlich wirksam ist) sind eben oft nicht identisch (vgl. Sahner 1988). Viele Dach- und Fachverbände sind mit ihren Aktivitäten in den Bereich der Mittelstandspolitik hinein expandiert. Auf diese Weise ziehen sich die mittelständischen Anliegen quer durch die Landschaft der Wirtschaftsverbände. Eine klare Abgrenzung von nicht auf den Mittelstand bezogenen Interessenverbänden der Wirtschaft ist unter diesen Umständen ein willkürliches Unterfangen. Die Frage „Wer sind die mittelständischen Verbände und welcher Verband kann beanspruchen, als originäre Interessenvertretung zu gelten?“ ist insofern nicht einfach zu beantworten und kann nur zu einem graduell abgestuften Urteil im Ergebnis führen. Anhand der Auswahlverfahren und Kriterien
explizite Ausrichtung der Verbände auf den wirtschaftlichen Mittelstand und auf die Interessenvertretung für die KMU, Reputation als einflussreicher und mittelstandsorientierter Interessenverband unter Verbandsexperten, Interessenverband einer Branche, die besonders durch kleine Unternehmen geprägt ist,
lässt sich sozusagen ein Kern oder Zentrum einschlägiger Interessenverbände des wirtschaftlichen Mittelstands ausmachen, wobei dieser Kern jedoch eingewoben ist in ein übergreifendes (nicht nur die Wirtschaftsverbände einschließendes) Interessenvertretungssystem in Deutschland. Der Gesamtblick auf die organisierten Interessenverbände mit Bezug auf den wirtschaftlichen Mittelstand führt ganz entgegen der eingangs aufgeführten These von der Unterrepräsentanz mittelständischer Interessen in der Verbandslandschaft der Bundesrepublik zu dem Eindruck, dass der Mittelstand in jeder Hinsicht gut vertreten ist. Jedem kleinen und mittleren Unternehmen stehen gleich mehrere Verbände sozusagen zur Seite und konkurrieren um die Mitgliedschaft des betreffenden Unternehmens. Die meisten Unternehmen werden so auch gleich mehrfach durch die Verbände repräsentiert. Zur Pflichtmitgliedschaft in einer Kammer kommt zumeist die Mitgliedschaft in einem mittelständischen Fachoder Branchenverband. Viele Unternehmen sind darüber hinaus auch in parteinahen Mittelstandsverbänden oder in einem der allgemeinen Mittelstandsverbände organisiert. 5
Analyse: der Befund und aktuelle Entwicklungen
Allein die Betrachtung der Anzahl der für den wirtschaftlichen Mittelstand aktiven Verbände legt die Folgerung nahe, dass der wirtschaftliche Mittelstand nicht nur hinlänglich, sondern mehr als ausreichend durch Verbände vertreten wird. Doch wie ist dieser Befund im Hinblick auf eine ideal organisierte Interessenvertretung des wirtschaftlichen Mittelstands zu beurteilen? Über die Qualität der Interessenvertretung, die Wirksamkeit der organisierten Anstrengungen oder über die Rahmenbedingungen, unter denen die Verbände arbeiten, wird mit den Angaben über die Anzahl der Verbände allein nicht informiert. Wenn die Adressaten des Verbändelobbyings redundante Informationen oder widersprüchliche Forderungen
I.4 Mittelstandsverbände in Deutschland
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von einer Vielzahl von Verbänden erhalten, kann sich das auf das gemeinsame Anliegen sogar negativ auswirken. Eine starke Konkurrenz unter den Verbänden kann gleichfalls dazu führen, dass Ressourcen von den eigentlichen Aufgaben abgelenkt und zur Profilierung gegeneinander eingesetzt werden. Zu viele Interessenverbände mit dem gleichen Zielund Wirkungsbereich können außerdem allein aufgrund von Doppelarbeiten tendenziell eine ineffiziente und ineffektive gemeinsame Interessenvertretung zur Folge haben. Zweckmäßiger ist dagegen ein arbeitsteiliges, kooperatives und den anliegenden Aufgaben und Problemlagen angemessenes Interessenorganisationssystem. Die Anzahl der Verbände sagt zudem nichts über deren Legitimation aus. Hier helfen die Informationen über die Anzahl der Unternehmensmitglieder und des Organisationsgrades weiter. Die Zahlen der repräsentierten Mitglieder geben Hinweise auf die jeweils verfügbaren Ressourcen und das Machtpotential 11 der Verbände. Allerdings bedeutet eine hohe Mitgliederzahl nicht unbedingt, dass auch die vertretene Interessengruppe umfassend durch die Organisation repräsentiert wird. Umgekehrt verhält es sich mit dem Organisationsgrad, der das Verhältnis der potenziellen Mitgliederzahl zur tatsächlichen Anzahl der Mitglieder zum Ausdruck bringt. Ein hoher Organisationsgrad bedingt nicht gleichzeitig auch eine stattliche Anzahl von Mitgliedern und Ressourcen. Was die Anzahl der Mitgliedsfirmen und den Organisationsgrad betrifft, kommen die Dachverbände der Kammern mit Pflichtmitgliedschaften auf stattliche Mitgliederzahlen und Repräsentationsgrade. Aber auch die Branchen- und Fachverbände des Mittelstands haben in den meisten Fällen einen sehr ansehnlichen Organisationsgrad erreichen können (in der Regel mehr als die Hälfte der in Frage kommenden Unternehmen). Erheblich geringer fällt der Organisationsgrad dagegen bei den allgemeinen Mittelstandsverbänden aus. Selbst die zentralen allgemeinen Mittelstandsverbände können nur einen niedrigen Prozentsatz des wirtschaftlichen Mittelstands als Mitglieder aufweisen, was jedoch auch mit der im Vergleich zu den wirtschaftszweigspezifischen Verbänden erheblich größeren potenziellen Mitgliedschaft zusammenhängt. Zusammenfassend zeigt sich, dass nur im Fall einer Zwangsmitgliedschaft12 eine vollständige Organisation der Unternehmen erreicht werden kann, und darüber hinaus, dass die spezielleren fachlichen, branchenspezifischen und beruflichen Interessen besser organisierbar sind als die umfassenderen allgemeinen Interessenlagen, die sich an die qualitativen und quantitativen Kriterien der Unternehmensgröße knüpfen. Die allgemeinen Mittelstandsverbände haben gegenüber den spezifischer ausgerichteten Verbänden vor allem den strukturellen Nachteil, dass Ihre Interessengruppe zwar besonders groß ist, sie dafür aber die Interessen einer deutlich heterogeneren Mitgliedschaft artikulieren, synthetisieren und aggregieren müssen. Dabei besteht die Gefahr, dass der Interessenbezug der Verbandsaktivitäten (nicht nur) aus Sicht der Unternehmen weniger eindeutig ausfällt. Mit der Heterogenität gehen vielmehr oft sogar konfliktäre Interessenlagen einher, was dann bei Entscheidungen zu einer Tendenz auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner führt. Die auf das Beziehungsnetzwerk der Verbände bezogenen Analysen (vgl. Krickhahn 1995) haben die allgemeinen Mittelstandsverbände zwar im Brennpunkt mittelständischer 11
12
Für eine komparative Analyse wäre diesbezüglich auch noch in Betracht zu ziehen, dass der Einfluss auch mit den repräsentierten Unternehmen variieren kann. Im Vergleich zu Verbänden, die vielleicht nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von großen Unternehmen repräsentieren, können reine Mittelstandsverbände mit einer großen Mitgliederzahl durchaus noch als machtpolitische Zwerge dastehen. Die Kammern insistieren darauf, dass es sich um „Pflichtmitgliedschaften“ handelt, an dieser Stelle soll jedoch die Intensität des Mitgliedschaftsanreizes, die durch die Pflicht bedingt wird, betont werden.
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Interessenlagen verortet, nicht jedoch im Mittelpunkt des diesbezüglichen Netzwerks. Bei Einbeziehung verschiedener Ebenen (Kommunikations-, Einfluss-, Unterstützungsebene etc.) in die Netzwerkanalysen erhärtete sich der Eindruck, dass die meisten allgemeinen Mittelstandsverbände im Vergleich zu den Spitzenverbänden der Wirtschaft miteinander und zu den anderen Verbänden nur locker in der Verbandslandschaft verbunden und integriert sind. Von einer arbeitsteiligen, netzwerkgestützten Schlagkraft der allgemeinen Mittelstandsverbände im Verbund miteinander konnte bislang also nicht ausgegangen werden. Im Gegenteil, sie stehen in dem oben erläuterten gegenseitigen Ignoranz-, wenn nicht Wettbewerbsverhältnis zueinander. 13 Hinzu kommt, dass der auf nationaler, europäischer und weltweiter Ebene stattfindende soziale, technische und wirtschaftliche Strukturwandel den wirtschaftlichen Mittelstand wie auch seine Verbände vor besondere Herausforderungen stellt. Zu diesen Entwicklungstrends gehören zuvorderst die Internationalisierung der Märkte und der technische Fortschritt mit ihren Konsequenzen für die regionalen Wirtschaftsbedingungen, unter denen die kleinen und mittleren Unternehmen agieren müssen. Die Unternehmen müssen nicht nur mit dem daraus hervorgehenden Druck auf Qualität, Kosten und Preise fertig werden, aus Sicht vieler kleiner Unternehmen in Deutschland sind auch die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen im Vergleich zu anderen Ländern ungünstig. Vor allem die vielen bürokratischen Regulierungen und Auflagen und die besonders wegen der Lohnnebenkosten und Tarifabschlüsse zu hohen Arbeitskosten, die Steuer- und Abgabenlast, bestimmte arbeitsrechtliche und tarifliche Regelungen (Kündigungsschutz, Mitbestimmung etc.) sowie die zurückgehende Qualität der Bildung und Qualifikation der Arbeitnehmer werden als Standortnachteil für den Mittelstand in Deutschland wahrgenommen (vgl. z. B. ZDH 10/2005). Einerseits bilden insbesondere die durch staatliche Aktivitäten hervorgerufenen Entwicklungen und Bedingungen wesentliche Interessenkristallisationspunkte mittelständischer Unternehmen für die gemeinsame Interessenvertretung durch Verbände. Andererseits lässt der zunehmende Druck auf die Unternehmen die Zahl der Insolvenzen, der Auslandsverlagerungen wie auch die Opportunitätskosten für Verbandsmitgliedschaften hochschnellen, d. h. die Unternehmen achten jetzt sehr viel genauer darauf, welche Gegenleistung sie von den Verbänden für ihre Mitgliedsbeiträge erhalten. Während jedoch die Leistungserwartungen an die Verbände steigen, wird, bedingt durch das Ausmaß der Verschuldung, der Handlungsspielraum öffentlicher Haushalte und damit auch die Möglichkeit der Wirtschaftsverbände eingeschränkt, etwas für die Unternehmen im politischen Interessenvermittlungsprozess bewirken zu können. Die Grenzen der Macht der unternehmerischen Verbände zeigen sich etwa an der begrenzten Durchsetzungsfähigkeit bei zentralen Forderungen. Beispielsweise konnten selbst die Spitzenverbände der Unternehmen bisher kein einfacheres Steuerrecht für die Unternehmen erreichen. Das Ergebnis ist eine vermehrte Unzufriedenheit besonders der kleinen Unternehmen mit ihren Verbänden, die zu einem geringeren unternehmerischen Verbandsengagement bzw. zu Austritten und damit zu einer weiteren Schwächung der Verbände führen kann. Diese Tendenzen werden eindrucksvoll durch jüngere Studien belegt. Nach einer repräsentativen Unternehmerbefragung, die vom Münchner ifo Institut für Wirtschaftsforschung im Auftrag der WirtschaftsWoche (WiWo) im Jahr 2004 durchgeführt wurde, be13
Erst seit einigen Jahren ist es zu vereinzelten Kooperationen vor allem zwischen den zentralen allgemeinen Mittelstandsverbänden (AWM, BDS, ASU) gekommen. Auch im Verhältnis der allgemeinen Mittelstandsverbände zu den großen Wirtschaftsverbänden ist treffender von einer Nichtbeziehung zu sprechen.
I.4 Mittelstandsverbände in Deutschland
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werten 30 Prozent der kleinen Unternehmen (mit einer Anzahl von bis zu 49 Mitarbeitern) die Dienstleistungen ihrer Verbände als mangelhaft oder ungenügend. Bezogen auf alle Unternehmen äußern knapp 16 Prozent der Fälle eine entsprechende Einschätzung. 14 Nur 5 Prozent der kleinen Unternehmen schätzen den Einfluss der Wirtschaftsverbände auf die Politik als sehr hoch oder hoch ein, knapp 60 Prozent meinen demgegenüber, dass dieser Einfluss gering oder sehr gering sei. Auf der Notenskala von sehr gut bis ungenügend schneiden die Wirtschaftsverbände bei den kleinen Unternehmen mit einem eher ausreichenden und bei allen mit einem insgesamt befriedigenden Ergebnis ab. Besonders alarmierend für die Wirtschaftsverbände ist, dass sich gegenwärtig jedes vierte kleinere Unternehmen und jedes fünfte Unternehmen insgesamt mit dem Austritt aus einem Verband trägt, wobei knapp drei Viertel der kleineren Unternehmen in mindestens einem Wirtschaftsverband eine freiwillige Mitgliedschaft haben. 15 Die kleinen Unternehmen sind am unzufriedensten mit ihren Verbänden und trauen ihnen am wenigsten zu. Die Kritik richtet sich nicht unbedingt auf die gesamte Arbeit der Verbände. Unmut kommt allerdings konzentriert bei bestimmten Problemen auf (z. B. über die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern oder die Bindung an als zu belastend empfundene Tarifabschlüsse). Die Verbände fungieren teilweise auch als Blitzableiter für den allgemeinen Frust der Unternehmen über die heutigen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen. Teilweise mag dem Unmut der Selbständigen dabei ein gewisses Unverständnis gegenüber der Funktionsweise ihrer eigenen Verbände und den politischen Entscheidungsprozessen zugrunde liegen. Unklar ist indessen, inwieweit die allgemeinen Mittelstandsverbände davon betroffen sind. Der Zuwachs an Mitgliedern während der letzten 10 Jahre beim BVMW, DMB und bei der UMU (siehe Tabelle 5) kann auch als Protesthaltung der Unternehmen gegenüber den etablierten Wirtschaftsverbänden interpretiert werden. Wie die Zahlen zur Mitgliederentwicklung gleichwohl aufweisen, ist dieser Trend jedoch nicht einheitlich. Der Wettbewerbsdruck und die Desillusionierung der Mitglieder über die organisierte Interessenvertretung haben scheinbar in der letzten Dekade auch bei einigen allgemeinen Mittelstandsverbänden zu Mitgliedereinbußen oder gar zur Existenzaufgabe geführt. Art, Qualität und Inhalte der Verbandsleistungen und deren wirksame und wirtschaftliche Bereitstellung sind organisationsintern bedingte Faktoren, die für die Gewinnung neuer Mitglieder und für den Erhalt des Mitgliederbestands und insofern auch für den Verbandserfolg 16 relevant sind. Neben der Interessenvertretung bieten denn auch die allgemeinen Mittelstandsverbände ein ganzes Spektrum von Serviceleistungen teilweise ausschließlich, d. h. als selektive Anreize, für ihre Mitglieder. Das Angebot für die Mitglieder reicht von Informationsdiensten (Info-Veranstaltungen, Rundschreiben, Homepage) über Schulungsmaßnahmen, Versicherungs- und Beratungsleistungen bis hin zu geselligen Veranstaltungen. Die Hauptaufgabe liegt jedoch in der Interessenvertretung gegenüber dem politischadministrativen System und der für die Interessendurchsetzung relevanten Öffentlichkeit. Zentrale Funktionen der mittelständischen Verbände sind die Formierung, Artikulation, 14 15 16
Dem Verfasser wurden freundlicherweise die entsprechenden Daten aus dieser Studie für die weitere Auswertung von der WirtschaftsWoche zur Verfügung gestellt. Insgesamt sind 83 Prozent der befragten Unternehmen freiwillig in einem Wirtschaftsverband organisiert (Quelle: ifo-Unternehmerbefragung im Auftrag der WiWo 2004). Wobei die Erfolgsquelle der Interessenvertretung im konkreten Einzelfall oft nur schwer eindeutig lokalisierbar ist. Der Verbandserfolg wird in der Regel durch vielfältige Strukturen und Prozesse multifaktoriell hervorgebracht (siehe hierzu z. B. Weber 1977).
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Bündelung und Durchsetzung der Interessen ihrer Mitgliedschaft. Auf diese Weise können sie vielfältige Informationen für das politisch-administrative System liefern, zum Bestandserhalt des wirtschaftlichen Mittelstands und dessen Leistungen für die Gesellschaft (Arbeits-, Ausbildungsplätze etc.) und mithin zur gesellschaftlichen Konfliktregulation, Integration und zu einer lebhaften demokratischen Gesellschaft beitragen. Der funktionale Beitrag der allgemeinen Mittelstandsverbände wird diesbezüglich im Kontext der anderen Wirtschaftsverbände vermutlich weiterhin relativ bescheiden ausfallen. Bedingt durch die Gruppengröße und außerordentliche Heterogenität der mittelständischen Wirtschaft ist die Kollektivgutproblematik (siehe Olson 1985) der organisierten Interessenvertretung für diese Verbände ein besonders nachhaltiges Hindernis. Nicht nur dezimiert die Heterogenität des wirtschaftlichen Mittelstands die Basis für übergreifende gemeinsame Interessenlagen deutlich, auch die Herausbildung eines durchgängigen mittelständischen Milieus, wie es in jüngster Zeit propagiert wird (siehe z. B. Hofmann/Rink 1998: 149 ff.), ist vor diesem Hintergrund nicht sehr wahrscheinlich. Zu groß dürften dafür die Differenzen zwischen Handwerksmeistern in kleinen Handwerksbetrieben, Rechtsanwälten in Rechtsanwaltskanzleien, Besitzern von kleinen Softwarefirmen, selbständigen Unternehmensberatern oder Inhabern von „Tante-Emma-Läden“ sein. Das typische mittelständische Milieu, an das die mittelständischen Verbände anknüpfen könnten, ist daher substanzlos. Die Übereinstimmung von Unternehmensführung und Inhaberschaft bzw. die Eigenverantwortung und persönliche unmittelbare Haftung, die allen Mittelständlern neben ihrer kleinen Unternehmensgröße noch am ehesten gemeinsam sind, sind für die Bildung eines solchen landläufigen Milieus nicht hinreichend. Das aus der Eigenverantwortung resultierende Ethos der Unabhängigkeit bringt tendenziell vielmehr eine gewisse verbandskritische Haltung und größere Distanz gegenüber staatlichen Eingriffen mit sich. Fazit ist, dass die Vorstellung von „dem mittelständischen Milieu“ nicht den anzutreffenden Verhältnissen entspricht und daher aufgegeben werden sollte. Fraglich ist im Hinblick auf die Interessenvertretungsleistungen der mittelständischen Verbände ferner, ob eine Interessendifferenzierung im Verhältnis zu den großen Unternehmen in jedem Fall zutreffend oder sinnvoll ist. Was den Kontrast der Interessen von kleinen und großen Unternehmen betrifft, gibt es diesen sicherlich in bestimmten Beziehungen, wie etwa bezüglich der Konzentrationsprozesse im Einzelhandel. Besonders im Verhältnis zwischen großen Unternehmen und den oft von ihnen abhängigen kleinen Zulieferer- und Abnehmerbetrieben können sich deutliche Interessenkonflikte offenbaren. Als ebenso problematisch kann die, evtl. durch die Lobbytätigkeit großer Unternehmen mitbewirkte, Benachteiligung des Mittelstands bei bestimmten Gesetzen und Fördermaßnahmen des Staates angesehen werden. Für den Mittelstand kaum tragbare Tarifabschlüsse sind ein weiteres Konfliktfeld, wenn die Tarifabschlüsse entscheidend von großen Unternehmen mitbestimmt worden sind. Dennoch: Antiliberale gesellschaftliche Strömungen, die tarifpolitischen Gegner 17 und vor allem der Staat mit seinen Eingriffen, Regelungen und Bevorzugungen können einen mindestens gleichermaßen ausgeprägten Gegenpol zu den Interessenlagen des wirtschaftlichen Mittelstands bilden wie „die Großindustrie“. Nicht nur sind 17
Die tarifpolitische Enthaltsamkeit der Mittelstandsverbände bedeutet auch nicht, dass diese Themen für sie nicht bedeutsam sind. Nur gibt es hier schon die historisch gewachsene Arbeitsteilung mit den Arbeitgeberverbänden. Die allgemeinen Mittelstandsverbände hätten diesbezüglich außerdem kaum eine ausreichend große Reichweite und Legitimationsbasis, denn dazu wäre ihr Organisationsgrad (noch) zu niedrig. Die tarifpolitischen Bindungen mit den Tarifpartnern ständen möglicherweise aber auch einer wirtschaftspolitisch kompromissloseren Ausrichtung dieser Verbände entgegen.
I.4 Mittelstandsverbände in Deutschland
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große und kleine Unternehmen vielfach über Leistungs-, Wettbewerbs- und Austauschprozesse verknüpft, sie haben z. B. gegenüber dem Staat auch ein überwiegend gemeinsames Interesse an Deregulierungen und geringeren Steuer- und Abgabenlasten. Auch in Bezug auf die grundsätzliche Position zwischen dem Modell einer freien Markt- bzw. Wettbewerbswirtschaft einerseits und dem Modell einer staatlich geprägten Industriepolitik mit ihren Regulierungen und Verteilungsmaßnahmen (mit vielfältigen Steuer- und Abgabenforderungen wie auch Förderinitiativen) andererseits dürften große und kleine Unternehmen mehr Gemeinsames als Trennendes aufweisen. Unabhängig von dieser staatskritischen Position haben staatliche Rahmenbedingungen die Entwicklung der organisierten Interessenvertretung des Mittelstands immer maßgeblich mitgeprägt. Schon früh in der Geschichte der Nationalstaaten spielte der Staat in Deutschland für die mittelständischen Verbände eine wichtige Rolle. Beispielsweise sind viele ursprüngliche Verbandsgründungen von Gewerbetreibenden und Unternehmen im Kontext der Einführung der Gewerbefreiheit und der Vereinigungsfreiheit im 19. Jahrhundert entstanden. Auch der Bund der Selbständigen (BDS), als ältester unter den allgemeinen Mittelstandsverbänden, hat in dieser Zeit seine Wurzeln. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist seit ihrem Beginn durch vielfältige staatliche Eingriffe in wirtschaftliche Zusammenhänge geprägt, die die Interessen des wirtschaftlichen Mittelstands tangieren. Unmittelbar an den Mittelstand richten sich die Mittelstandspolitik und die damit verbundene Mittelstandsförderung. Allein im Bundeshaushalt 2005 betrug die Gesamtförderung für mittelständische Unternehmen 674,9 Mio. € (SPDBundestagsfraktion 2005: 31). Die jährliche Gesamtentlastung der mittelständischen Unternehmen durch staatliche Maßnahmen wird mit 17,2 Mrd. € veranschlagt (ebd.: 33). Nicht weniger als 41 Programme aus den Schwerpunktbereichen Technologieförderung, Existenzgründungs- und KMU-Förderung sowie Beratungsförderung stehen hierzu zur Verfügung (Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit 2003: 2). Für die gesamte Wirtschaftsförderung von Bund, Ländern und Gemeinden werden noch erheblich größere Summen eingesetzt. Die angespannten Finanzverhältnisse der öffentlichen Haushalte lassen aber für die Zukunft merkliche Einschränkungen dieser Förderpraxis erwarten. Mit den dargelegten Verhältnissen ist schließlich der Widerspruch erklärbar, dass mittelständische Verbände ordnungspolitisch einerseits die Einhaltung der Grundprinzipien einer freien Markt- bzw. reinen Wettbewerbswirtschaft mit staatlicher Enthaltsamkeit in der Wirtschaft einfordern und andererseits gleichermaßen staatliche Fördermittel und für ihre Klienten günstige wirtschaftspolitische Regelungen anstreben. 6
Schlussfolgerungen
Um die Anforderungen in Zukunft erfüllen zu können, werden die Verbände ihre Schlagkraft erhöhen und ihren Service qualitativ noch verbessern und günstiger anbieten müssen, d. h. noch effektiver und effizienter in ihrer Leistungsbereitstellung werden. Hierzu können die Verbände sich grundsätzlich der verfügbaren betriebswirtschaftlichen Managementansätze bedienen (vgl. z. B. Schwarz et al. 2005). Die Anzahl allgemeiner Mittelstandsverbände, Fach- und Branchenverbände sowie deren Spitzenverbände legt es zwecks Vermeidung von Doppelarbeiten und für eine effektivere und effizientere Nutzung der Ressourcen nahe, auch Verbesserungen in der gesamten Arbeitsteilung in Betracht zu ziehen. Gegensei-
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tige Wahrnehmung und ein abgestimmtes Verhalten sowie evtl. gemeinsame Aktionen und Kooperationen im Sinne des Mottos „getrennt marschieren, vereint schlagen“ sind mögliche Schritte auf dem Weg zu einer Erhöhung der Schlagkraft mittelständischer Verbände. 18 Aktuell in der Diskussion sind Verbandsfusionen, mit denen Kosten reduziert und die gemeinsame Interessenvertretungsarbeit wirksamer werden sollen. Immerhin 63 Prozent der Unternehmen halten Fusionen auf der Ebene der Spitzenverbände für sinnvoll (siehe ifo-Erhebung im Auftrag der WiWo 2004). Mit der zunehmenden Überlappung der Grenzen zwischen Industrie und Handwerk sowie Dienstleistungen bilden sich die dafür günstigen gemeinsamen Anknüpfungspunkte und Interessenfelder heraus. Solche Fusionen sind jedoch nicht problemlos. Divergierende Interessenlagen in und zwischen den Organisationen können dem Zusammenschluss entgegenstehen. Kollisionen mit den Interessen der involvierten Verbandsfunktionäre und Mitarbeiter, die sich diesen Prozessen verweigern, weil sie dadurch ihre Positionen oder gar ihre Existenzgrundlage gefährdet sehen, sind möglich. Entsprechendes lässt sich auch über die Zusammenarbeit zwischen den allgemeinen mittelständischen Verbänden vermuten. Es besteht ein Eigeninteresse am Bestandserhalt bei jedem der Verbände. Der optimalen Ausgestaltung der gemeinsamen organisierten Interessenvertretung des Mittelstands stehen somit nicht nur inhaltliche Divergenzen zwischen den einzelnen Verbänden gegenüber, sondern auch Eigeninteressen der Organisationsrepräsentanten und Mitarbeiter. Dem Vorteil einer größeren Flexibilität und Reaktionsschnelligkeit kleiner, homogener Verbände wirkt einerseits entgegen, dass Verbände auf Wachstum angewiesen sind, denn nur mit einem gewissen Bestand von beitragszahlenden Mitgliedern können erforderliche Ressourcen 19 aufgebracht und eine Legitimationsbasis für die Interessenvertretungsansprüche gegenüber dem politisch-administrativen System geschaffen werden. Je größer andererseits aber die Verbände werden und je weitläufiger der Interessenvertretungsbereich ist, desto heterogener wird die Zusammensetzung der Mitglieder und desto schwieriger und langwieriger werden die organisationsinternen Interessenvermittlungsprozesse sein. Für die Zukunft lässt sich erwarten, dass die mittelständischen Verbände Rationalisierungsprozesse durchlaufen, ihre Leistungen qualitativ und quantitativ neu ausrichten, die selektiven Anreize für die Unternehmen erhöhen und mithin ihr Preis-Leistungs-Verhältnis zu verbessern bestrebt sein werden. Bei einigen Fach- und Branchenverbänden des Mittelstands sowie bei den betreffenden Dachverbänden sind, u. a. aufgrund der gegenseitigen Durchdringungsprozesse in einigen Branchen (Handwerk, Industrie, Dienstleistungen), vermehrte Kooperationen, wenn nicht Fusionen wahrscheinlich. Hinsichtlich der allgemeinen Mittelstandsverbände ist es allerdings fraglich, ob und inwiefern sie die organisatorische Zusammenarbeit zwecks Erhöhung der gemeinsamen Schlagkraft intensivieren werden. In der Situation noch relativ geringer Organisationsgrade werden sie zunächst den Organisationsbestand zu erhalten und auszubauen bestrebt sein, was bedeutet, dass sie mehr oder weniger in einem Konkurrenzverhältnis zueinander verhaftet bleiben werden. Bedingt durch die Unzufriedenheit von Teilen der mittelständischen Unternehmerschaft mit ihren angestammten Branchen- und Arbeitgeberverbänden wird den allgemeinen Mittelstandsverbän18
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Prototypisch hierfür ist die Arbeitsgemeinschaft Mittelstand, in der zentrale Mittelstandsverbände (u. a. der ZDH, der BGA und der HDE) zusammenkommen, um gemeinsame Positionen gegenüber dem politischadministrativen System und der Öffentlichkeit zu beziehen (siehe http://www.arbeitsgemeinschaftmittelstand.de). Das wäre nicht der Fall, wenn große, zahlungskräftige Unternehmen als Mitglieder vorhanden wären; dann würde es sich aber auch nicht um einen „reinen“ Mittelstandsverband handeln.
I.4 Mittelstandsverbände in Deutschland
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den auch künftig ein gewisser Zulauf sicher sein. Im Zuge der Verschärfung der verbandspolitischen Rahmen- und Handlungsbedingungen, beispielsweise dadurch, dass zunehmend politisch relevante Entscheidungen für den Mittelstand auf europäischer Ebene gefällt werden, wird sich jedoch die innerdeutsche Bedeutung vor allem der kleinen und jungen allgemeinen Mittelstandsverbände, die keine europäische Ausrichtung haben, verringern. Hier wird es aus den genannten Gründen bei einer entsprechenden Fluktuation unter den Verbänden bleiben. Während sich die allgemeinen Mittelstandsverbände in ihrem Auftreten relativ zersplittert zeigen, hängt die Situation bei den zentralen Branchenverbänden des Mittelstands davon ab, inwiefern es ihnen gelingen wird, auf dem Wege von Rationalisierungsprozessen und neuen organisatorischen Arrangements Kräfte zu bündeln. Aus pluralismustheoretischer Perspektive mag eine Vielfalt unterschiedlicher, konkurrierender Interessenverbände auch eines Interessensegments vorteilhaft erscheinen, für die zugrunde liegenden Interessenlagen gilt dies aber nicht unbedingt. Fraglich ist, ob die Konkurrenz zwischen gleichgerichteten Verbänden überhaupt unter marktwirtschaftlichen Wettbewerbsverhältnissen stattfinden und zu entsprechenden Effizienzvorteilen führen kann. Nur ein funktional aufeinander abgestimmtes, arbeitsteiliges organisatorisches Interessenvertretungssystem kann, so ist zu vermuten, den kleinen und mittleren Unternehmen eine optimale Interessenvertretung in Relation zu den anderen gesellschaftlichen Interessengruppierungen bringen. Literatur Bean, Jonathan (2001): Big Government and Affirmative Action. The Scandalous History of Small Business Administration. Lexington: University Press of Kentucky. Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (2003): Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit zur Transparenz und Konsistenz der Mittelstandsförderung. Berlin. Chesi, Valentin (1966): Struktur und Funktionen der Handwerksorganisation in Deutschland seit 1933. Berlin: Dunker & Humblot. Greenwood, Justin (Hrsg.) (2002): The Effectiveness of EU Business Associations. Basingstoke et al.: Palgrave. Greve, Uwe (1999): Der schleichende Abstieg des Mittelstandes. Titelinterview. In: Zeit-Fragen Nr. 54, 1. 2. 1999, S. 1. Hamer, Eberhard (1988): Das Mittelständische Unternehmen. Stuttgart: Poller Verlag. Hofmann, Michael/Rink, Dieter (1998): Das Problem der Mitte. In: Berger, Peter A./Vester, Michael (Hrsg.): Alte Ungleichheiten – Neue Spaltungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 149í170. Krickhahn, Thomas (1995): Die Verbände des wirtschaftlichen Mittelstands in Deutschland. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. Oeckl, Albert (2004): Taschenbuch des öffentlichen Lebens – Deutschland 2005. Bonn: Festland Verlag. Olson, Mancur (1985): Die Logik des kollektiven Handelns. Tübingen: Mohr Siebeck (2. Aufl.; 1. Aufl. 1968). Röhl, Klaus-Heiner (2005): Mittelstandspolitik. Eine wirtschaftspolitische Agenda zur Stärkung mittelständischer Unternehmen. Köln: Deutscher Instituts-Verlag. Sahner, Heinz (1988): Die Interessenverbände in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Klassifikationssystem zu ihrer Erfassung. Arbeitsberichte des Fachbereichs Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Hochschule Lüneburg, Nr. 41. Lüneburg: Hochschule Lüneburg. Schelsky, Helmut (1955): Wandlungen in der deutschen Familie in der Gegenwart. Stuttgart: Enke (3., durch einen Anhang erw. Aufl..).
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
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Arbeitgeberverbände des öffentlichen Sektors Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Berndt Keller
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Einleitung und Problemstellung
Die Arbeitsbeziehungen des öffentlichen Dienstes (im Folgenden ÖD) sind wie die der Privatwirtschaft „dualer“ Natur; sie sind allerdings durch relevante Besonderheiten gekennzeichnet (Keller/Henneberger 1999). Die beiden Ebenen sind formalrechtlich getrennt, weisen aber faktisch enge Beziehungen bzw. wechselseitige Abhängigkeiten auf. Auf der betrieblichen bzw. Dienststellenebene stellen Personalräte, die über eine eigenständige gesetzliche Grundlage in Form der Personalvertretungsgesetze von Bund und Ländern verfügen, das funktionale Äquivalent zu den Betriebsräten der Privatwirtschaft dar (Keller/ Schnell 2003, 2005). Auf der überbetrieblich-sektoralen Ebene bestehen auf Seiten der Arbeitnehmer Gewerkschaften und Interessenverbände, deren Dachverbände der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und der Deutsche Beamtenbund (DBB) sind. Die Informationen und Kenntnisse über Arbeitgeber(verbände) als korporative Akteure der Arbeitsbeziehungen sind nach wie vor lückenhaft, was u. a. auf deren defensive Informationspolitik und mangelnde Öffentlichkeitsarbeit zurückzuführen ist. Auch die seit den frühen 1990er Jahren intensiv geführte Diskussion um die Einführung neuer Steuerungsmodelle bzw. eines New Public Management (Naschold/Bogumil 2000) hat diese Wissenslücke nicht beseitigt. Dieses Kapitel stellt einen Beitrag zum Abbau dieses Defizits dar. Neben einer Reihe von Gemeinsamkeiten der Arbeitgeberverbände in Privatwirtschaft und ÖD bestehen wesentliche Eigenheiten, die sich durch die spezifischen rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen erklären lassen. Im Mittelpunkt stehen die kommunalen Arbeitgeber, weil auf dieser Ebene wegen der vergleichsweise großen Zahl korporativer Akteure am ehesten verbandliche Strukturen vorhanden sind (Abschnitt 2). Auf der Ebene der Länder besteht eine Arbeitgebervereinigung, die wir ebenfalls kurz behandeln (Abschnitt 3). Auf der Ebene des Bundes ist traditionell der Bundesminister des Innern mit der Interessenwahrnehmung beauftragt (Abschnitt 4). Nach der Behandlung der „logic of membership“ geht es um theoretische Erklärungen (Abschnitt 5) sowie um die „logic of influence“ (Abschnitt 6). Von entscheidender Bedeutung für die Organisation der Arbeitgeber und damit für die Arbeitsbeziehungen des ÖD insgesamt (Keller 1983, 1993) ist der Rechtsstatus der Beschäftigtengruppen mit dem „Dualismus“ des privatrechtlichen Arbeitnehmerstatus von Angestellten und Arbeitern und öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses der Beamten:
Die Arbeitsbedingungen von Angestellten und Arbeitern werden wie in der Privatwirtschaft durch das Arbeitsrecht, vor allem durch Tarifverträge, geregelt, die die Arbeitgeber(verbände) mit den zuständigen Gewerkschaften abschließen. 1
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Dabei ist traditionell vor allem zu unterscheiden zwischen Lohn- bzw. Vergütungstarifverträgen und Manteltarifverträgen (u. a. Bundesangestelltentarifvertrag – BAT, Manteltarifvertrag für die Arbeiter des Bundes – MTB II, der Länder – MTL II und der Gemeinden – BMT-GII). Der 2005 abgeschlossene „Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst“ – TVöD führt ein einheitliches Entgeltsystem für Arbeiter und Angestellte ein.
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Demgegenüber erfolgt die Festlegung der Dienstverhältnisse der Beamten auf der Basis der „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ (Art. 33 Abs. 5 GG) ausschließlich durch Gesetze. 2 Die Dachverbände der Beamten, DBB und DGB, sowie deren Mitgliedsverbände, die auf Basis der in Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Koalitionsfreiheit bestehen, sind nach herrschender Rechtsprechung und -lehre weder zur Führung von Tarifverhandlungen berechtigt noch verfügen sie über das wichtigste kollektive Druckmittel, das Streikrecht.
Die Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf den Tarifbereich mit dem Regelungsmechanismus Tarifvertrag, da Arbeitgeberverbände nur in diesem Teil des ÖD vorhanden sind. Wir analysieren neben den Mitgliederstrukturen jeweils auch die Interessenpolitik der Verbände und gehen (für die kommunale Ebene) sowohl auf die Mitgliedsverbände als auch auf den Dachverband ein. Die Organisation der Arbeitgeber folgt strikt der rechtlich vorgegebenen und für den gesamten Aufbau eines föderalistischen Staates wesentlichen Unterscheidung in Bund, Länder und Gemeinden und damit letztlich dem Regionalprinzip der horizontalen Integration; das ansonsten geltende Fachprinzip der vertikalen Integration wird ausschließlich verbandsintern befolgt. Der „Staat“ hat eine Doppelfunktion, da er zugleich Arbeitgeber und damit an der kollektiven Aushandlung der Arbeitsbedingungen unmittelbar beteiligt ist. 2
Die verbandliche Organisation der Kommunen
2.1 Kommunale Arbeitgeberverbände Auf der Ebene der Kommunen bestehen als rechtsfähige Vereine des privaten Rechts kommunale Arbeitgeberverbände (KAV) als Vereinigungen von Arbeitgebern im Sinne des Tarifvertragsgesetzes. Die Verbandsgrenzen sind mit denen der Bundesländer identisch. Die von der Beschäftigtenzahl (Arbeiter und Angestellte) her größten und dadurch vom Stimmanteil in der Spitzenorganisation, der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VkA), her wichtigsten KAV sind die der größten Bundesländer (NordrheinWestfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen). Die KAV erfüllen ebenso wie ihr Dachverband ausschließlich Arbeitgeberaufgaben hinsichtlich der Angestellten und Arbeiter, nehmen jedoch nicht die Aufgaben der Kommunen als Dienstherren von Beamten wahr. Für diesen gut 177.000 Personen umfassenden und damit vergleichsweise kleinen Bereich ist der kommunale Spitzenverband zuständig, bei dem der jeweilige Dienstherr Mitglied ist. Der Zweck der KAV besteht in der Wahrung der gemeinsamen Interessen ihrer Mitglieder als Arbeitgeber und im Interessenausgleich zwischen ihnen sowie mit ihren Arbeitnehmern. Diese Aufgaben erfüllen die KAV insbesondere durch den Abschluss von Tarifverträgen und durch Hilfe und Beratung für ihre Mitglieder in allen Fragen des Arbeits- und Tarifrechts sowie bei Rechtsstreitigkeiten vor den Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgerichten. Die Mitgliedschaft einer KAV, die wegen der privatrechtlichen Basis freiwillig ist, können satzungsgemäß u. a. erwerben: Gemeinden; Gemeindeverbände; Zweckverbände 2
U. a. Art. 33 Abs. IV GG, Beamtenrahmengesetz, Bundesbeamtengesetz, Bundesbesoldungsgesetz, Beamtenversorgungsgesetz.
I.5 Arbeitgeberverbände des öffentlichen Sektors
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und Verwaltungsgemeinschaften; öffentliche Spar- und Girokassen; Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts. Damit ist infolge einer großen organisatorischen Breite eine gewisse Heterogenität der Interessen vorgegeben, die durch innerverbandliche Vorkehrungen und Mechanismen reduziert bzw. vereinheitlicht werden muss. Die für die interne Politikformulierung und -koordinierung zuständigen Organe eines KAV können laut Verbandssatzung sein: Mitgliederversammlung, Hauptausschuss, Vorstand und Gruppenversammlungen bzw. -ausschüsse. Hierbei können Unterschiede zwischen den KAV hinsichtlich der Zusammensetzung und Aufgaben der Organe bestehen. Statuarische und exekutive Funktionen werden stets deutlich voneinander getrennt. Die Mitgliederversammlung setzt sich aus je einem Vertreter der Verbandsmitglieder oder den Mitgliedern der Gruppenversammlungen bzw. -ausschüsse plus Vorstand zusammen; sie wird vom Vorstand mindestens einmal pro Jahr einberufen. Das Stimmrecht kann nach der Anzahl der beschäftigten Arbeitnehmer gestuft sein. 3 Derartige differenzierte Stimmrechte sind auch von Unternehmensverbänden der Privatwirtschaft bekannt, bei denen u. a. Unternehmensgröße, Beschäftigtenzahl und Umsatz als Kriterien herangezogen werden können (Rampelt 1979: 8 f.). Zum Aufgabenbereich gehören vor allem Beschlüsse der Regularien wie die Genehmigung des Haushaltsplans, die Abnahme der Jahresrechnung und Bestellung der Rechnungsprüfer, die Beschlussfassung über Änderungen der Satzung, aber auch die Wahl des Vorstands. Die Mitgliederversammlung ist, u. a. aufgrund der langen Abstände zwischen ihren Tagungen und wegen ihrer Größe, nicht als das entscheidende Gremium verbandlicher Willensbildung anzusehen; sie dient eher der formaldemokratischen Legitimation der Verbandsführung als der faktischen Entscheidungsfindung bei aktuellen Problemen. Der Haupt- oder Verhandlungsausschuss setzt sich im Wesentlichen aus dem Vorstand und den Vorsitzenden der Gruppenversammlungen bzw. -ausschüsse zusammen; er ist damit ein im Vergleich zur Mitgliederversammlung kleines Gremium. Dieser Ausschuss trifft die anstehenden tarifpolitischen Entscheidungen, vor allem diejenigen, die mehrere Verbandsgruppen betreffen und daher einheitliche Regelungen notwendig machen. Er hat insbesondere Tarifverträge vorzubereiten und abzuschließen sowie die spezifischen Interessen der Gruppen zu koordinieren und über deren Vorschläge zu entscheiden. Der Hauptausschuss stellt aufgrund seiner Größe und satzungsrechtlichen Kompetenzen ein wichtiges Beschluss- und Lenkungsgremium dar. Die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedergruppen werden bei der innerverbandlichen Willensbildung dadurch berücksichtigt bzw. eingebunden, dass neben dem Vorstand auch die Gruppenversammlungen bzw. -ausschüsse entweder durch Mitglieder oder durch ihren Vorsitzenden im Hauptausschuss vertreten sind. Durch diese institutionell abgesicherte Breite der Zusammensetzung wird das gesamte Interessenspektrum der Mitglieder in dieser „kleinen Mitgliederversammlung“ als handlungsfähigem Entscheidungsorgan repräsentiert. Der Hauptausschuss ist das entscheidende Koordinationsgremium für die Gruppenversammlungen bzw. -ausschüsse. Der Vorstand wird von der Mitgliederversammlung oder dem Hauptausschuss auf Zeit, d. h. für vier Jahre, gewählt und soll bei einer geringen absoluten Größe repräsentativ 3
Typisch ist eine Regelung wie die folgende: 1í500 Arbeitnehmer eine Stimme, 501í1000 Arbeitnehmer zwei Stimmen, mit mehr als 1000 Arbeitnehmern für je angefangene 1000 Arbeitnehmer je eine zusätzliche Stimme. Solche Regelungen führen im Übrigen zu einer Vormachtstellung der großen Mitglieder („Verbandsoligarchie“).
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hinsichtlich der Mitgliedergruppen zusammengesetzt sein, was deren Integration sowie den Interessenausgleich zwischen ihnen erleichtert. Der Vorstand erfüllt zum einen formale Aufgaben, u. a. die Wahl des Vorsitzenden, Entscheidung über Aufnahmeanträge, Vorbereitung und Einberufung der Mitgliederversammlung; zum anderen entscheidet er häufig in den übrigen Gremien mit, wobei die satzungsrechtlich abgesicherte Mitgliedschaft in verschiedenen Verbandsorganen ebenso hilfreich ist wie die repräsentative und daher austarierte Zusammensetzung. KAV sind wie Arbeitgeberverbände der Privatwirtschaft „encompassing organizations“ (Olson 1982) und von den Interessenlagen ihrer Mitglieder her keinesfalls homogene Gruppierungen. Das zentrale Problem besteht darin, dass die heterogenen Interessen, die innerhalb von sowie vor allem zwischen großen Mitgliedergruppen bestehen, mediatisiert und vereinheitlicht werden müssen, um kollektives Handeln zu ermöglichen bzw. um die externe Handlungsfähigkeit des Verbandes zu sichern. Innerhalb der KAV wählen deshalb die Gruppenversammlungen, d. h. die Versammlungen aller Mitglieder einer Gruppe, für die Dauer von vier Jahren die Mitglieder der sogenannten Gruppenausschüsse nach differenziertem Stimmrecht. Gruppenausschüsse, die eine horizontal-innerverbandliche Differenzierung der Willensbildung bezwecken bzw. bewirken, bestehen als ständige Ausschüsse u. a. für folgende Bereiche: Verwaltung (einschließlich Flughäfen), Sparkassen, Versorgungsbetriebe, Häfen, Nahverkehr, Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten. Ihre Anzahl und Aufgaben differieren geringfügig nach regional-länderspezifischen Besonderheiten sowie im Zeitablauf. Generell besteht neben einer grundsätzlich eng begrenzten Anzahl eine weitgehende inhaltliche Parallelität zu den noch zu behandelnden Gruppenausschüssen der Dachorganisation, dem „Verband der Verbände“, wodurch interne Komplikationen vermieden werden. Die funktionale Differenzierung der Gruppenausschüsse erlaubt eine arbeitsteilig-kooperative Strategie des Verbandes. 4 Die Gruppenausschüsse bearbeiten und beraten die besonderen, vor allem tarifpolitischen Angelegenheiten ihrer Gruppenmitglieder bzw. ihres Fachgebiets und unterbreiten den Verbandsorganen Vorschläge; insofern erfüllen sie wichtige Zulieferer- und Vorbereitungsfunktionen. Häufig führen die Gruppenausschüsse in eigener Verantwortung die Tarifverhandlungen, die ausschließlich ihre Mitglieder betreffen. Sie verfügen sowohl satzungsrechtlich als auch tatsächlich über weitgehende Entscheidungskompetenz und -autonomie hinsichtlich der Behandlung von Problemen ihrer Verbandsgruppe, wobei sie als Randbedingung ihres Handelns das allgemeine Tarifgefüge wahren müssen. Die übrigen „legislativen“ Verbandsorgane, also der Hauptausschuss bzw. die Mitgliederversammlung, mit denen zwischenzeitlich Absprachen getroffen werden, legitimieren später die in den Gruppenausschüssen gefallenen Sachentscheidungen. Im Vergleich zum Gesamtverband sind Gruppenausschüsse von der Interessenlage her relativ homogene Organe der Entscheidungsfindung und -absicherung, was Probleme der Interessenvereinheitlichung wesentlich mildert. Diese innerverbandliche Entscheidungsdezentralisierung in fachlich begrenzten Sachfragen hat mehrere Funktionen: Zum einen garantiert sie einen hohen Beteiligungsgrad der Mitglieder an der Willensbildung und erleichtert deren Integration durch die Verpflichtung auf gemeinsame Beschlüsse; zum anderen lässt sie potentielle Bewertungsunterschiede frühzeitig deutlich werden und ermöglicht die 4
KAV und deren Gruppenausschüsse können Gastmitglieder ohne Stimmrecht haben, etwa kommunale Spitzenverbände oder Unternehmen, bei denen die öffentliche Hand keine Majorität hat, wie bestimmte Krankenhäuser oder Lebenshilfeorganisationen.
I.5 Arbeitgeberverbände des öffentlichen Sektors
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Konfliktbewältigung durch internes Interessenclearing. Die langjährigen Erfahrungen mit dieser Organisationsstruktur werden von den Verbandsvertretern durchweg sehr positiv beurteilt (Keller 1987a). Personelle und institutionelle Verflechtungen von Verbandsgremien in horizontaler und vertikaler Richtung erleichtern die Formulierung eines einheitlichen Verbandswillens durch Integration der Teilentscheidungen. Eine ursprünglich auf die Arbeitgeberverbände der Privatwirtschaft gemünzte Aussage gilt auch für die des ÖD: „Durch die Differenzierung der Verbandsorganisation in Subsysteme, deren Bezugsrahmen sich an mitgliederrelevanten Interessendimensionen orientiert (z. B. Fachgruppen), wird deren zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Einbeziehung in den Ablauf der Politikformulierung gewährleistet.“ (Traxler 1980: 8). Abstimmungen sind nach übereinstimmender Auskunft in der Regel nicht kontrovers. Diese Angaben decken sich mit der allgemeinen Erkenntnis (Rampelt 1979: 59 f.), dass bei Verbänden mit freiwilliger Mitgliedschaft Kampfabstimmungen ebenso selten sind wie Fraktionsbildungen, u. a. weil solche Strategien solidarisches Handeln kaum gewährleisten könnten. Stattdessen setzen sie auf „Konsensbildung als Vereinheitlichungsstrategie“ (Traxler 1985: 62). 5 Formale Abstimmungen ratifizieren häufig nur bereits auf konsensualer Basis gefallene Entscheidungen. 2.2 Der Dachverband Die rechtlich selbständigen KAV haben sich zu einer Spitzenvereinigung im Sinne des Tarifvertragsgesetzes zusammengeschlossen, der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA). Mitglieder können nur Verbände, nicht hingegen einzelne Arbeitgeber über direkte Mitgliedschaft werden; ähnlich verläuft die vertikale Integration bei den „Verbänden der Verbände“ in der Privatwirtschaft. Der tarifpolitische und arbeitsrechtliche Dachverband VKA verfolgt den Zweck, als Spitzenvereinigung „die gemeinsamen Angelegenheiten ihrer Mitglieder und der diesen angeschlossenen Arbeitgeber auf tarif-, arbeits- und sozialrechtlichem Gebiet gegenüber Gewerkschaften, staatlichen Stellen und anderen Organisationen zu vertreten, insbesondere hat sie 1. 2. 3. 4. 5.
die Grundsätze der Tarifpolitik festzulegen, Tarifverträge abzuschließen, verbindliche Richtlinien festzulegen oder zu vereinbaren, für den Abschluss von Tarifverträgen durch die Mitglieder verbindliche Grundsätze festzulegen oder zu vereinbaren, den Erfahrungsaustausch zwischen den Mitgliedern zu vermitteln“ (VKA 2003: § 2).
Die VKA erfüllt wesentliche Koordinationsaufgaben; sie befasst sich mit allen Fragen von allgemein-überregionalem Interesse. Die für die interne Willensbildung zuständigen Organe sind Mitgliederversammlung, Präsidium und Vorstand. 5
Ähnlich bei einem internationalen Vergleich: „(…) there is universally strong preference for consensual decision-making in association affairs and a correspondingly strong disinclination to let internal differences be exposed to public view or to the scrunity of union strategies.“ (Windmuller 1984: 14).
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Die Mitgliederversammlung als oberstes Organ tagt satzungsrechtlich jährlich mindestens einmal, tatsächlich jedoch häufiger, vor allem während der Tarifverhandlungen. Ihre Aufgaben bestehen vor allem in grundlegenden Entscheidungen, insbesondere dem Abschluss und der Kündigung von Tarifverträgen. Die Mitgliederversammlung besteht aus den Vertretern der Mitgliedsverbände, deren Stimmanteil nach ihrer Größe gestaffelt wird, was zu einer Vormachtstellung der Verbände aus den bevölkerungsstarken Bundesländern führt. Bei der internen Willensbildung wird auf breite Zustimmung Wert gelegt, die durch intensive „Überzeugungsarbeit“ erreicht wird und die innerverbandliche Durchsetzung von Beschlüssen erleichtert. 6 Das engere, für tarifpolitische Entscheidungen maßgebende Gremium ist das Präsidium, das sich aus den Vorsitzenden der Mitgliedsverbände, den Vorsitzenden der Gruppenausschüsse und dem Hauptgeschäftsführer zusammensetzt. Die laufenden Geschäfte führt der Vorstand. Die Mitglieder der VKA sind ebenso wie die der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (vgl. Abschnitt 3) nur in begrenztem Umfang berechtigt, selbständige Tarifverträge oder sonstige arbeitsrechtliche Vereinbarungen abzuschließen. Sie treten aufgrund formaler Regelungen in den Verbandssatzungen (VKA 2003: § 6; TdL 2005: § 5) mit dem Erwerb der Verbandsmitgliedschaft wesentliche Rechte aus dem Kanon ihrer Tarifhoheit für die Fälle ab, in denen die Spitzenorganisation Verträge abschließt oder sich den Abschluss vorbehält (sogenannter Verbandszwang). Ähnlich ist die Situation in der Privatwirtschaft (Bunn 1984: 175). Im Binnenverhältnis zwischen Mitgliedsverbänden und Spitzenorganisation hat in langfristiger Perspektive ähnlich wie bei anderen Arbeitgeberverbänden 7 eine innerorganisatorische Zentralisierung der Entscheidungskompetenzen stattgefunden: Der Dachverband schließt die wesentlichen, d. h. bundesweit geltenden Tarifverträge ab; er wahrt und sichert faktisch die Einheitlichkeit der Tarifpolitik durch Kontrolle der tarifpolitischen Willensbildung, obwohl er formal keinerlei Weisungsbefugnisse gegenüber den Mitgliedsverbänden hat (Erhöhung der Effektivität der Verhandlungen). Gruppenausschüsse sind nicht nur bei den Mitgliedsverbänden, sondern auch beim Dachverband eingerichtet. Gemäß VKA-Satzung (§ 16) bestehen folgende Ausschüsse: Flughäfen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Nahverkehrsbetriebe und Häfen, Sparkassen, Verwaltung, Versorgungsbetriebe (zu Einzelheiten http:/www.vka.de/vka/home/fachbereiche.shtml). In diese von der Mitgliederversammlung eingerichteten Gruppenausschüsse entsendet jeder Mitgliedsverband ein ordentliches sowie ein stellvertretendes Mitglied; in der Regel sind dies die Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden der Gruppenausschüsse der einzelnen KAV. Durch eine sorgsame Austarierung der personellen Zusammensetzung wird eine Repräsentation aller größenbedingten, regionalen, gruppenspezifischen und sonstigen Partikularinteressen im jeweiligen Gruppenausschuss der Spitzenorganisation erreicht sowie die Verpflichtungsfähigkeit der Mitglieder (Weitbrecht 1969) erhöht. Die im Vergleich 6 7
Aufgaben der Mitgliederversammlung sind u. a.: die Wahl des Vorsitzenden der VKA und dessen Stellvertreters, die Bildung und Auflösung der Gruppenausschüsse, der Beschluss über den Abschluss und die Kündigung von Tarifverträgen, Beschlüsse über Richtlinien. Allgemein gilt: „Decision-making in employers associations is generally a centralized matter, rather removed from the reach of individual member firms except for local or regional associations. Insofar as this situation indicates a concentration of authority in relatively small boards and in top association officials, it reflects the fact that participatory democracy as a form of internal government is not characteristic of employers associations.“ (Windmuller 1984: 16).
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zu anderen Gremien geringe Größe verstärkt die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit im Rahmen einer flexibel gehaltenen Arbeitsteilung. Die Gruppenausschüsse sind auch auf VKA-Ebene Fachausschüsse, die die inhaltliche Verbandsarbeit faktisch weitgehend leisten und infolge ihrer Besetzung über „Sachverstand“ und „Kompetenz“ verfügen. Die auch auf dieser Ebene dezentralisierten Befugnisse sind recht weitgehend. 8 Diese Vertretungen der Fachinteressen sind aufgrund ihrer relativen Autonomie als funktionale Äquivalente zu „Fachverbänden“ anzusehen. Sie werden bei Verhandlungen, die ihren Zuständigkeitsbereich betreffen, einbezogen und erteilen fachlichen Rat. Die Häufigkeit der Zusammenkünfte richtet sich nach dem Arbeitsanfall; in der Regel tagen die Ausschüsse ein- bis zweimal jährlich. Die Mitarbeit erfolgt ehrenamtlich. Dadurch wird die Verpflichtungsfähigkeit der Gruppenmitglieder erhöht, was in Anbetracht der Wichtigkeit der Beschlüsse notwendig ist: Die Gruppenausschüsse fällen de facto Entscheidungen, die innerverbandlich umgesetzt werden müssen. Durch die Mitarbeit in den Gruppenausschüssen treten keine Probleme auf. Schwierigkeiten wegen der zusätzlichen zeitlichen Belastung durch intensive Mitarbeit im Verband sind in der Privatwirtschaft größer, wo „die firmeninterne Tätigkeit allemal höhere Priorität als die Mitarbeit im Verband“ (Traxler 1985: 62; ähnlich Windmuller 1984: 14) besitzt. Im ÖD wird die Tätigkeit in Verbandsgremien als integrierter Teil der übernommenen Aufgaben definiert, zumal das Problem der Vertretung gelöst werden kann. Eine wiederholte Entsendung von Mitgliedern ist bei der Mehrzahl der Ausschüsse die Regel; häufig sind Alters- oder Gesundheitsgründe für das Ausscheiden verantwortlich. Das Verhältnis zwischen hauptberuflichen Verbandsfunktionären, der Geschäftsführung und ehrenamtlichen Repräsentanten der Mitglieder wird von Ersteren als in der Regel konfliktfrei beschrieben. 9 Innerhalb solcher „dualistic leadership structures“ (Schmitter/Streeck 1981: 54) erschwert die geringe Zahl hauptberuflicher Mitarbeiter eine weitgehende Loslösung der Verbandsspitze bzw. der von ihr betriebenen Politik von den Interessen der Mitglieder; auch das Ausmaß der Entscheidungsautonomie sollte nicht überschätzt werden. 2.3 Verbandsressourcen und -probleme Auf kommunaler Ebene werden die Mittel für die Aufwendungen der Verbände ausschließlich durch Beiträge der Mitglieder aufgebracht. Bemessungsgrundlage bei den KAV ist die Zahl der Arbeitnehmer ihrer Mitglieder; derartige Regelungen sind auch in der Privatwirtschaft üblich (Rampelt 1979: 37í42). Im Übrigen implizieren unterschiedliche Beiträge häufig differenzierte Stimmrechte. Die Beitragsehrlichkeit stellt in der Privatwirtschaft vor allem bei kleineren Unternehmen, im ÖD dagegen kaum ein Problem dar, da in Letzterem die Bemessungsgrundlage 8 9
Die Gruppenausschüsse „haben die ihr Fachgebiet betreffenden Angelegenheiten zu beraten. Soweit nicht ein Organ der VKA zuständig ist, können sie bindende Beschlüsse fassen, um für ihren Bereich die Einheitlichkeit der Arbeitsbedingungen zu sichern“ (VKA-Satzung § 16). Für die Arbeitgeberverbände der Privatwirtschaft gilt hinsichtlich dieses Verhältnisses: „Employers associations (…) combine in their decision processes direct participation by both professional staff and managerial representatives, the latter drawn broadly from members firms, reflecting not only the operational requirement that the diversity among firms be allowed to express itself in the decision processes but also the reality that consensus and compromise have to be recurringly sought among member firms within the employers associations (…)“ (Bunn 1984: 191).
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„objektiv“ festzustellen ist. Die jährlichen Mitgliedsbeiträge der KAV bilden die ausschließliche Finanzierungsgrundlage der VKA, wobei auch hier doppelt nach der Verbandsgröße differenziert wird: Der Beitrag setzt sich aus einem Grund- und einem Zusatzbeitrag zusammen, die beide nach der Beschäftigtenzahl berechnet werden (VKA-Satzung § 8). Insgesamt ist die Mitgliedschaft sowohl in absoluten Beträgen als auch im Verhältnis zu der bei anderen Verbänden verhältnismäßig günstig. Die personelle Ausstattung der KAV ist nicht besonders umfangreich. Die KAV haben in aller Regel wesentlich weniger als zehn Mitarbeiter. Dieser Sachverhalt, der geringe Ausgaben des Verbandes zur Folge hat, kann erklärt werden durch die interne „Straffung der Verbandsarbeit“, durch das erhebliche Ausmaß ehrenamtlicher Mitarbeit, u. a. in den Gruppenausschüssen, sowie durch den geringen Umfang der Öffentlichkeitsarbeit. 3
Die Organisation der Länder
Die Bundesländer haben sich zu einer eigenständigen Arbeitgebervereinigung im Sinne des Tarifvertragsgesetzes zusammengeschlossen, der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL), die wie die VKA seit 1949 besteht. 10 Ziel ist die „Wahrung der Interessen ihrer Mitglieder an der Einheitlichkeit der Arbeitsbedingungen des öffentlichen Dienstes“. Die TdL verfolgt dieses bewusst flexibel gehaltene Ziel vor allem durch den ihr im Wesentlichen vorbehaltenen „Abschluss von Tarifverträgen und sonstigen Vereinbarungen“ für ihre Mitglieder. Ihre Organe sind die Mitgliederversammlung, der Vorstand und der Vorsitzende des Vorstandes. Vertreter der TdL nach außen und damit auch Repräsentant der Länder bei Tarifverhandlungen ist der auf Vorschlag der Finanzministerkonferenz gewählte Vorsitzende des dreiköpfigen Vorstands. 11 Traditionell ist das Finanzministerium bei der Mehrzahl der Länder das für das Tarifwesen zuständige Ressort. 12 Nach einer allgemein akzeptierten Regel soll der für das Dienstrecht der Beamten zuständige Minister zugleich auch für das Tarifwesen verantwortlich sein (Konzentration der Kompetenzen). Die TdL finanziert sich wie die KAV und die VKA ausschließlich über die Beiträge ihrer Mitglieder, wobei alle Länder denselben Betrag zahlen und gemäß Satzung auch über das gleiche Stimmrecht in der Mitgliederversammlung verfügen. Die Tatsache, dass es im Gegensatz zur VKA kein differenziertes Stimmrecht gibt, schließt allerdings nicht aus, dass die größeren Bundesländer im Meinungsbildungsprozess über größeres Gewicht verfügen können. Die Mitgliederversammlung beschließt mit einer qualifizierten Mehrheit von drei Fünfteln der abgegebenen Stimmen. Zu ihrem Aufgabenbereich gehört neben einigen Regularien die Wahl und Abberufung der Vorstandsmitglieder und vor allem die „Beschluss10
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„The meeting of April 22, 1949, at which the TDL was founded was attended by representatives of six state associations of local governments. They decided, however, that they would set up their own national federation rather than join with the complexity of their organizations, it appears that this was a wise decision.“ (McPherson 1971: 47). Folgende Regelung ist zu beachten: „Vorstandsmitglieder können nur Vertreter der Mitglieder sein, wenn zum Geschäftsbereich des Vertreters nach der Geschäftsordnung der Landesregierung die Zuständigkeit für das Tarifrecht der Arbeitnehmer des Landes gehört.“ (TdL-Satzung § 11). Besonderheiten wie die Zuordnung zum Innenministerium in Hessen und dem Saarland oder zu bestimmten Senatskommissionen in den Stadtstaaten sind durch die historische Entwicklung der jeweiligen Geschäftsverteilungspläne zu erklären.
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fassung über Maßnahmen zur Sicherung der Einheitlichkeit der Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer der Länder, insbesondere über Abschluss und Kündigung von Tarifverträgen und sonstigen Vereinbarungen“ (TdL-Satzung § 10). Die Mitgliederversammlung verfügt damit über vergleichsweise weitreichende Kompetenzen. Formale Beschlüsse der Mitgliederversammlung, die während der Verhandlungen als Beschlussorgan agiert, kommen überwiegend einvernehmlich zustande. Besonders bei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung werden breite Mehrheiten angestrebt. Sogenannte Kampfabstimmungen finden so gut wie nie statt; Gegenstimmen sind selten. In besonderen Situationen, etwa bei Nichtbetroffenheit, kommen gelegentlich Stimmenthaltungen vor (Keller 1987b). Diese Verhaltensstrategien decken sich mit denen anderer Arbeitgeberverbände. Die Meinungsbildung der TdL verläuft wegen der geringen Mitgliederzahl straffer und zügiger als bei den KAV: Zunächst werden bei den Ländern die Vorstellungen innerhalb der zuständigen (Finanz-)Ministerien koordiniert, wobei die Innenministerien einbezogen werden. Die Länder stehen über ihre zuständigen Ministerien in permanentem Kontakt, der vor allem über die Verbandsgeschäftsstelle vermittelt wird. Nach Bekanntgabe bzw. Übermittlung der gewerkschaftlichen Forderungen werden intern Kostenrechnungen angestellt, Argumente gesammelt und Verhandlungsstrategien festgelegt. Die auf Länderebene zuständigen Minister, Staatssekretäre und Referenten leiten in Vorgesprächen Abstimmungsprozesse unter den Beteiligten ein. Auf der Ebene der Länder bestehen keine Gruppenausschüsse wie bei KAV und VKA. Die TdL bildet jedoch Verhandlungskommissionen für besondere Bereiche, wie Finanz- oder Justizverwaltung, 13 die aufgrund der gesetzlich vorgegebenen Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen in die Zuständigkeit der Länder fallen. Die kompetenten und interessierten Mitglieder sind in den jeweiligen Verhandlungskommissionen vertreten. Im Übrigen beteiligt sich die TdL informell an den Gruppenausschüssen der VKA, die für den Bereich der Länder ebenfalls relevant sind, z. B. Krankenanstalten, Nahverkehr; hier spielen Aspekte der Informationsgewinnung eine Rolle, z. B. im Nahverkehr. 4
Die Willensbildung auf Bundesebene
Auf der Ebene des Bundes gibt es im Gegensatz zu den Kommunen und Ländern keine verbandliche Organisation. Einige Probleme, die in Arbeitgeberverbänden auftreten und gelöst werden müssen, erfordern hier eine Koordination zwischen Ministerien.14 Die Federführung liegt wegen seiner Zuständigkeit für alle besoldungsrechtlichen und tarifvertraglichen Regelungen der Beschäftigungsbedingungen beim BMI; bei Verhandlungen gilt das „Prinzip des Einvernehmens“ mit dem BMF.
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Weiterhin bildet die TdL bei Bedarf Ausschüsse (Forstfragen), Kommissionen (Zusatzversorgung, Lehrerkommission, Satzungsangelegenheiten, Haushalt) und Projektgruppen (Wissenschaft), die Probleme analysieren und Lösungsvorschläge unterbreiten, aber keine formalen Entscheidungsbefugnisse haben. Bis 1960 führte der Finanzminister (BMF) die Verhandlungen; seitdem beauftragt die Bundesregierung den Bundesminister des Innern (BMI) förmlich mit der Interessenwahrnehmung. „This responsibility (…) was transferred because there was a widespread belief that the Finance Ministry was too exclusively concerned with the goal of minimizing expenditure. Finance continues, however, to have a representative present as observer in all federal negotiations.” (McPherson 1971: 45 f.).
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände „Die Organisation auf Arbeitgeberseite ist durch die Trennung der Verhandlungsverantwortung (Innenministerium) und Finanzverantwortung (Finanzministerium) zu einer größeren Effektivität der Verhandlungen gekommen, weil mehr Möglichkeiten des stufenweisen Herantastens an das Limit notwendig sind und damit Verhandlungen entstehen, die den innerorganisatorischen Anpassungsprozessen eher Rechnung tragen“ (Weitbrecht 1973: 16).
Die institutionelle Grundlage dieser engen und laufenden Zusammenarbeit stellt die Bundeshaushaltsordnung dar, die Personalausgaben nur auf gesetzlicher und tarifvertraglicher Basis vorsieht. Die unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich des Verhandlungsspielraums und der tarifpolitischen Strategie werden in einem nichtformalisierten Verfahren intern abgestimmt mit den an den jeweiligen Verhandlungen beteiligten anderen Instanzen (vor allem Bundeskanzleramt, Finanz- und Wirtschaftsministerium). 15 Bei dieser Willensbildung sind unterschiedliche Bewertungen am ehesten aus dem Wirtschafts- und besonders dem Finanzministerium zu erwarten, so dass eine Koordination bzw. ein Ausgleich spezieller Interessen angestrebt werden muss. Dabei treten parteipolitische Überlegungen zugunsten tarifpolitischer Sachpositionen in den Hintergrund: Alle Beteiligten respektieren die Autonomie der Tarifverhandlungen. Kabinettsinterne Konflikte etwa der Art, dass bei Koalitionsregierungen die beteiligten Ministerien von Politikern verschiedener Parteien besetzt sind und diese versuchen, das Wählerreservoir in ihrer eigenen Partei zu vergrößern, treten nicht auf. Der BMI ist nicht nur für die Erfüllung der Arbeitgeberaufgaben zuständig; im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes, die vollständig ausgenutzt wird, bereitet er durch die Unterabteilung Besoldungsrecht der Dienstrechtsabteilung seines Ministeriums auch die Gesetzesentwürfe der Bundesregierung zur Besoldungsanpassung der Einkommen aller Beamten verantwortlich vor. 16 Damit verfügt der BMI über die zentrale Position bei der Festsetzung der Einkommen aller öffentlich Bediensteten; er ist als zentrale Koordinationsinstanz für besoldungsrechtliche und tarifvertragliche Regelungen und als Träger der gesamten staatlichen Einkommenspolitik anzusehen. Diese Zentralisierung der Kompetenzen erleichtert die notwendigen komplexen Koordinations- und Abstimmungsprozesse, die langfristig das Ziel einer Angleichung der materiellen Arbeitsbedingungen im Tarif- und Besoldungsbereich verfolgen. Neben der Aufgabe, am Abschluss von Tarifverträgen mitzuwirken, existieren auch auf der Ebene des Bundes weitere Aufgaben „unterhalb“ von Tarifverhandlungen: Ähnlich wie bei den übrigen Arbeitgebern gehören arbeitsrechtliche Angelegenheiten dazu, wobei aber keine Prozessvertretungen übernommen werden; allerdings ist der Beratungsbedarf bei Verbänden größer und stärker ausgeprägt als im Verkehr zwischen Ministerien. Wichtiger sind Aufgaben wie die Beobachtung aktueller Entwicklungen in der Rechtsprechung oder die Ausarbeitung von Richtlinien für die Anwendung tarifrechtlicher Regelungen. Hier nimmt die Unterabteilung Tarifrecht der Dienstrechtsabteilung eine Zentralfunktion für den gesamten Bundesbereich wahr. 17 15
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An diesem Abstimmungsprozess können je nach Gegenstand der Verhandlungen auch andere Ministerien beteiligt sein: Bei personengruppen- und bereichsspezifischen Verhandlungen sind etwa die personalstarken Ressorts eingebunden, z. B. das Bundesministerium der Verteidigung wegen der Zivilbediensteten; an anderen Verhandlungen ist etwa das Auswärtige Amt beteiligt. Diese Konstellation der Befugnisse wird sich vor allem infolge der Föderalismusreform ändern. Hinzu kommen bestimmte Serviceleistungen für Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts: So sind etwa die bundesunmittelbaren Sozialversicherungsträger wie die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte
I.5 Arbeitgeberverbände des öffentlichen Sektors 5
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Erklärungen
5.1 Privatwirtschaft und ÖD Eigenständige theoretische Erklärungen zu den Verbänden der Arbeitgeber des ÖD liegen nicht vor. Die wenigen vorhandenen, auf die Privatwirtschaft gerichteten Beiträge sind aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen nur begrenzt und ausschließlich für die Verbände der kommunalen Ebene anwendbar. Die KAV weisen in wichtigen, vor allem organisationsstrukturellen Dimensionen gewisse Parallelen zu Arbeitgeberverbänden der Privatwirtschaft auf (u. a. Integration und Mediatisierung heterogener Interessen, Verbandsressourcen, Erstellung privater Dienstleistungen). 18 Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass die in Verbänden organisierten Arbeitgeber des ÖD weder auf Produktmärkten noch auf Arbeitsmärkten in einem internen oder externen Konkurrenzverhältnis, der Erfolgsbedingung privater Akkumulation, zueinander stehen: Die Produktmärkte sind doppelt differenziert, horizontal durch lokal bzw. regional begrenzte Zuständigkeiten, vertikal durch die zwischen den Gebietskörperschaften auf der Basis grundgesetzlich vorgegebener Regelungen bestehenden Kompetenzabgrenzungen. 19 Die Arbeitsmärkte (Henneberger 1997, 2004) sind zum einen in der gegenwärtigen, regionalen und allgemeinen Beschäftigungssituation durch ein deutliches Überangebot gekennzeichnet, welches die bei den gegenteiligen Ausgangsbedingungen gegebene Konkurrenz um Arbeitskräfte weitgehend verhindert; zum anderen sind die Leistungen der verschiedenen Arbeitgeber seit den frühen 1970er Jahren weitgehend vereinheitlicht. 20 Wenn die Einzelinteressen nicht primär über den Markt realisiert werden, ist die Organisation im Verband nicht mehr von nur nachrangiger Bedeutung wie in der Privatwirtschaft. Unsolidarisches Handeln infolge dominierender Partikularinteressen bzw. autonomer unternehmerischer Individualentscheidungen im Rahmen einer profitorientierten Konkurrenzwirtschaft ist daher kaum zu erwarten. Das „Spannungsverhältnis zwischen individueller und organisierter Interessenverfolgung“ (Rampelt 1979: 1 f.) ist weniger ausgeprägt; die Alternative, Resultate des kollektiven Verbandshandelns durch Einzelentscheidungen der Unternehmung zu verändern, hat kaum Bedeutung. Weiterhin sind auch Interessenunterschiede zwischen kleinen und großen Mitgliedern weniger relevant als in den Branchen der Privatwirtschaft; zudem bestehen keine Mittelstandsprobleme, so dass Vereinheitlichungsproble-
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und die Bundesagentur für Arbeit tarifautonom und führen formal eigenständige Tarifverhandlungen; sie werden jedoch vom Bund an dessen Verhandlungen informell beteiligt. Weiterhin sind bestimmte Zuwendungsempfänger des Bundes nicht tarifgebunden, wenden aber das Tarifrecht an; so gibt es etwa Haustarifverträge bei der Kernforschungsanlage Jülich, die sich entsprechend orientieren. Aus Studien über Arbeitgeberverbände der Privatwirtschaft wissen wir, dass diese neben ihrer Tariffunktion weitere Vertretungsaufgaben übernehmen. „Dazu zählen die Einflussnahme auf die Formulierung der Arbeits- und Sozialgesetzgebung und die Mitwirkung an ihrer Vollziehung im Rahmen der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit sowie in den Selbstverwaltungsorganen der Sozialversicherung.“ (Traxler 1985: 55). Ähnliches gilt auch für die Arbeitgeberverbände des ÖD, die u. a. ehrenamtliche Arbeitsrichter (Arbeitgeberbeisitzer) bei den Arbeitsgerichten, den Landesarbeitsgerichten und dem Bundesarbeitsgericht sowie Sozialrichter bei den Sozial- und Landessozialgerichten stellen. Wir abstrahieren hierbei von seltenen Ausnahmesituationen, die in Grenzgebieten von Bundesländern oder zwischen Großstädten und ihrem Umland (etwa bei Schulen) auftreten können. Gewisse Konkurrenzbeziehungen bestehen auf kommunaler Ebene durch die Konkurrenz privater Anbieter in einzelnen Bereichen (u. a. Entsorgung, Nahverkehr).
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
me für die Verbandspolitik leichter zu lösen sind. Schließlich brauchen auch unterschiedliche konjunkturelle Situationen innerhalb der Solidargemeinschaft kaum berücksichtigt zu werden. Last, not least ist auch das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Staat im ÖD anders strukturiert als in der Privatwirtschaft. Formal existieren in der Bundesrepublik ähnlich wie in der Mehrzahl vergleichbarer Länder getrennte und voneinander unabhängige Verbände der privaten und öffentlichen Arbeitgeber. 21 Der ÖD ist der einzige zentrale Sektor, dessen Arbeitgeber nicht in der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) organisiert sind: Die öffentlichen Arbeitgeber sehen keine Veranlassung, sich der Verbandsdisziplin zu unterwerfen, die privaten Arbeitgeber haben Vorbehalte wegen der parteipolitischen Bindung und Durchdringung der Interessenvertretung innerhalb des ÖD. 22 Seit Langem bestehen jedoch mehr oder weniger enge, in unregelmäßigen Abständen stattfindende Kontakte der Arbeitgeberverbände des ÖD zur BDA sowie zu den Mitgliedsverbänden; diese Kontakte finden vor allem auf der Geschäftsführerebene statt. Weiterhin dienen informelle Spitzengespräche der Verhaltensabstimmung und verfolgen u. a. das Ziel, Präjudizierungen zu vermeiden, die vor allem während der Tarifverhandlungen auftreten können. Die Existenz dieser nicht institutionalisierten Kontakte ist nicht verwunderlich in Anbetracht gewisser parallel gelagerter Interessen aller Arbeitgeber, etwa in Bezug auf Tarifverhandlungen, Entwicklungstendenzen des Arbeitsrechts oder Fragen der Mitbestimmung. Ein „Gedankenaustausch“ über wirtschafts- und sozialpolitische Fragen liegt im Eigeninteresse aller Beteiligten. Die Kontakte werden auch als förderlich für die Willensbildung im eigenen Verband angesehen. Internationale Vergleiche zeigen, dass in einigen Ländern für die Privatwirtschaft die organisatorische Alternative „einheitlicher Unternehmensverband vs. besonderer Arbeitgeberverband“ relevant ist (Behrens/Traxler 2004). Als Merkmal der Organisation unternehmerischer Interessen in der Bundesrepublik gilt die häufig anzutreffende funktionale Differenzierung von Unternehmensverbänden in allgemeine Wirtschafts- und spezielle Arbeitgeberverbände, die Produktmarkt- bzw. Arbeitsmarktinteressen wahrnehmen. 23 Hinsichtlich der Vertretung der gemeinsamen wirtschaftspolitischen Belange (u. a. Steuerwesen, Wirtschaftsrecht) gegenüber anderen Gruppen, Öffentlichkeit und Staat besteht im ÖD kein unmittelbares Pendant zu den entsprechenden Fachverbänden der Privatwirtschaft, insbesondere nicht zum BDI als wirtschaftspolitischer Säule des unternehmerischen Verbandswesens. Auf kommunaler Ebene weisen allerdings die kommunalen Spitzenverbände, d. h. der Deutsche Städtetag, der Deutsche Städte- und Gemeindebund sowie der Deutsche Landkreistag, deutliche Züge eines funktionalen Äquivalents auf. 24 Sie bilden die Bundes-
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„The general state of affairs can be summarized in the following terms (…) where government bodies have formed their own associations to negotiate with unions in the public services at national, regional, and local levels, these associations do not as a rule seek membership in essentially private federations of employers associations, nor are they likely to be admitted.” (Windmuller 1984: 12). „Basically the question is whether institutions created for the defence of private employer interests can admit public corporations into membership without diluting their essence. In most instances employers’ associations have answered the questions in the negative, but there are many exceptions.” (Windmuller 1987: 42, ähnlich 152). Die für die Privatwirtschaft typische Doppelorganisation in fachliche und überfachliche Arbeitgeberverbände hat aufgrund der skizzierten Besonderheiten des ÖD keine unmittelbare Entsprechung. Auf der Ebene der Länder besteht kaum die Notwendigkeit einer gesonderten Vertretung, da die Länder unmittelbar über den Bundesrat in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden sind.
I.5 Arbeitgeberverbände des öffentlichen Sektors
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vereinigung der kommunalen Spitzenverbände, die durchaus auch gemeinsam mit der VKA die Außenvertretung übernimmt und Interessenpolitik betreibt. 25 Die Kontakte zu den kommunalen Spitzenverbänden sind enger und wichtiger als die zu den Arbeitgeberverbänden der Privatwirtschaft: Alle drei Verbände entsenden je einen Vertreter mit beratender Stimme in die Mitgliederversammlung der VKA. Außerdem schickt die Bundesvereinigung einen Vertreter mit beratender Stimme ins Präsidium der VKA. Derartige, von den Satzungen her gewollte und institutionell abgesicherte Verquickungen von Verbänden über die personelle Zusammensetzung der Gremien sind auch in den Spitzen- und Dachverbänden der Privatwirtschaft zu finden. Darüber hinaus bestehen zwischen VKA und Städtetag rege informelle Kontakte. Da die Sonderinteressen der Mitglieder arbeitsteilig-kooperativ durch spezialisierte Verbände vertreten werden, besteht aus der Mikroperspektive ähnlich wie in der Privatwirtschaft Grund zu Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften; diese sind wegen der Differenzierung der Interessenvertretung durch die verschiedenen Verbände unproblematisch und sinnvoll. Insgesamt liegen die Organisationsgrade, d. h. die Anteile der verbandlich organisierten an allen Arbeitgebern, im ÖD höher als in der Privatwirtschaft.26 Für die kommunale Ebene gilt, dass der Organisationsgrad „traditionell mit 80 bis 90 Prozent sehr hoch ist und auch die wenigen Nicht-Mitglieder die Verbandstarifverträge anwenden“ (Rosdücher 1994: 417). Auf der Ebene der Länder ist der Organisationsgrad durch den Ausschluss Berlins sowie durch den Austritt Hessens (vgl. Abschnitt 6) gesunken, liegt aber immer noch sehr hoch, da alle anderen Länder – trotz einiger wiederholter Austrittsdrohungen – bis dato Mitglieder der TdL geblieben sind. Bei einer Operationalisierung des Organisationsgrades über die Zahl der Beschäftigten anstatt der öffentlichen Arbeitgeber ändert sich an diesem Sachverhalt nichts. Schwierigkeiten mit den wenigen nichtorganisierten Arbeitgebern (etwa Versorgungs- oder Energiebetriebe, kommunale Wohnungsbaugesellschaften) sind nicht bekannt. Probleme der Entwicklung von Strategien zur Rekrutierung neuer Mitglieder stellen sich im Gegensatz zu Verbänden der Privatwirtschaft nicht; auch die Sicherung der Loyalität von Mitgliedern gelingt in aller Regel. OT-Verbände, die eine Anpassung an veränderte Umweltbedingungen ermöglichen sollen, offerieren bekanntlich eine Verbandsmitgliedschaft mit allen üblichen Rechten und Pflichten, aber ohne Tarifbindung. Dieser Mitgliedschafts- bzw. Verbandstypus, der seit den mittleren 1990er Jahren in etlichen Branchen der Privatwirtschaft offensichtlich an Bedeutung gewinnt, ist im ÖD unbekannt; eine Entkoppelung von Tarif- und Dienstleistungsfunktion im Sinne eines Transformationsprozesses von Verbänden hat nicht stattgefunden. 5.2 Die Theorie von Olson Spezifische Ansätze zur Erklärung von Verbandsbildung und Beitrittsmotiven liegen nur vereinzelt vor (zusammenfassend: Traxler 1999). Sie sind zudem implizit oder explizit an 25 26
Die Wirtschaftsverbände nehmen neben ihren Außen- auch Binnenaufgaben wahr (Rampelt 1979: 24í32). Diese Funktionen werden im ÖD weitgehend intern durchgeführt. Der Organisationsgrad kann innerhalb der einzelnen Länder unterschiedlich sein. Die größeren Kommunen (mit über 20.000 Einwohnern) sind alle organisiert, ebenso ein beachtlicher Teil derjenigen mit 10.000í20.000 Einwohnern, so dass der Organisationsgrad gemessen an der Anzahl der von den Verbandsmitgliedern beschäftigten Arbeitnehmer höher liegt, als wenn man ihn an der reinen Zahl der Arbeitgeber messen würde.
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
den Rahmenbedingungen der Privatwirtschaft orientiert und daher kaum auf den ÖD anzuwenden. Am ehesten eignet sich die Theorie des kollektiven Handelns von Olson (1968), vor allem wenn man sie auf die kommunale Ebene bezieht. Olson betont wesentliche Unterschiede zwischen kleinen und großen Gruppen. Er zeigt, dass sich Individuen in großen bzw. latenten Gruppen keinesfalls spontan zusammenschließen, da es sich bei den zu erwartenden Vorteilen um öffentliche Güter handelt, zu deren Erstellung kaum freiwillige Beiträge geleistet werden. Es bedarf vielmehr besonderer Bedingungen vor allem in Form von Zwang oder selektiven Anreizen, damit rationale und eigeninteressiert handelnde Individuen die Erreichung gemeinsamer Ziele tatsächlich durch eigene Beiträge fördern. Große Gruppen sind im Gegensatz zu kleinen dadurch charakterisiert, dass keine spürbaren Interdependenzen zwischen den Handlungen der Individuen festzustellen sind. Wegen der fehlenden Wahrnehmbarkeit bzw. wechselseitigen Abhängigkeit besteht für Individuen in großen Gruppen kein Anlass, zur Erstellung von Kollektivgütern beizutragen:
die individuellen Beiträge bleiben unmerklich, bei zunehmender Gruppengröße wird es immer kostspieliger und damit praktisch unmöglich, Nichtmitglieder vom Konsum auszuschließen, daher gibt es keine Anreize für wechselseitige Verhaltenskontrollen.
Aus diesem Zusammenhang von Gruppengröße und individuellem Handeln resultiert das für Organisationen typische Free-Rider-Problem („Trittbrett- oder Schwarzfahrerproblem“): Individuen beteiligen sich nicht an den Kosten der Erstellung des Kollektivgutes, ohne von dessen Nutzung ausgeschlossen werden zu können. Die eine Hauptaufgabe der Verbände, der Abschluss von Tarifverträgen, stellt ein Kollektivgut dar, von dessen Erstellung auch Nichtmitglieder profitieren können. Bei großen Gruppen wie den KAV muss deshalb ein Verband, der auf freiwilliger Mitgliedschaft beruht und keinen Zwang im Sinne von Olson ausüben kann, selektive Anreize zum Beitritt zur Verfügung haben. Aus der umfangreichen Forschung vor allem über Gewerkschaften (Crouch 1982: 51 ff.), aber auch über Arbeitgeberverbände der Privatwirtschaft (Rampelt 1979: 34 ff., Gladstone 1984: 29 ff.) wissen wir, dass diese Verbände eine breite Palette von privaten Gütern anbieten, „zu denen u. a. die Beratung in arbeits- und sozialrechtlichen Angelegenheiten sowie diverse Informationsdienste (z. B. zur wirtschaftspolitischen Entwicklung) zählen (…)“ (Traxler 1985: 56). Ähnlich ist der Sachverhalt bei den KAV: Ihre Hauptaktivitäten sind die Mitwirkung bei der Gestaltung der Tarifpolitik, also bei der Erstellung kollektiver Güter, sowie die Beratung und Information der Mitglieder, also die Produktion privater Güter. Da die zuletzt genannten Aufgaben im Rahmen der allgemein feststellbaren Veränderungen von der Einfluss- zur Mitgliedslogik zugenommen haben, nehmen KAV den Charakter von Dienstleistungsunternehmen an:
Die Mitglieder haben satzungsgemäß Anrecht auf schriftliche und/oder mündliche Beratung durch Referenten bzw. Sachbearbeiter des Verbandes bei allen tarif- und arbeitsrechtlichen Problemen; sie machen von dieser Möglichkeit regen Gebrauch, was zu einer hohen zeitlichen Inanspruchnahme des Verbandsapparats führt.
I.5 Arbeitgeberverbände des öffentlichen Sektors
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Mit diesem satzungsrechtlich garantierten Anspruch auf Beratung verbunden ist die Hilfestellung des Verbandes bei Rechtsstreitigkeiten. Die Prozessvertretung 27 vor Arbeitsgerichten (einschließlich Landes- und Bundesarbeitsgericht), Sozialgerichten (einschließlich Landes- und Bundessozialgericht), Verwaltungs- sowie dem Oberverwaltungsgericht erstreckt sich auf das gesamte Gebiet des Arbeits- und Tarifrechts, wobei Kündigungsschutz- und Eingruppierungsprobleme dominieren. Ähnlich wie bei Arbeitgeberverbänden der Privatwirtschaft ist diese Prozessvertretung vor allem für kleinere Mitglieder wichtig, die im Gegensatz zu großen über keine eigene Rechtsabteilung verfügen. Weiterhin informiert die Geschäftsstelle des Verbandes die Mitglieder durch Rundschreiben über relevante Entwicklungen vor allem des Tarif- und Arbeitsrechts. Dabei sind vom Adressatenkreis her zu unterscheiden: allgemeine Rundschreiben, die an alle Mitglieder gehen, und Sonderrundschreiben, die sich an einzelne Verbandsgruppen richten. Die allgemeinen Informationen, die eine Größenordnung von ca. 100 pro Jahr und Verband erreichen können, sind häufiger als die speziellen. Die Differenzierung soll eine Überfrachtung der Mitglieder mit Informationen verhindern.
Im Sinne der Analyse von Olson ist einer der ältesten, in der Literatur wiederholt analysierten selektiven Anreize zum Verbandsbeitritt die Unterstützung bei Arbeitskämpfen. Dieses private Gut stellen in der Privatwirtschaft vor allem Gewerkschaften, aber auch Arbeitgeberverbände für ihre Mitglieder bereit. Bei den Arbeitgeberverbänden des ÖD gibt es keine derartigen Einrichtungen in Form sogenannter Gefahrengemeinschaften der Tarifvertragsverbände, so dass einer der wichtigeren Anreize nicht zur Verfügung steht. Allerdings sind Streiks im ÖD sehr selten und Aussperrungen kommen nicht vor, so dass dieser Unterschied faktisch nicht bedeutend ist. Neben den Beziehungen zwischen KAV und Einzelmitgliedern ist das Verhältnis zwischen Spitzenorganisation und Mitgliedsverband zu analysieren. Die Mitglieder haben gegenüber der VKA u. a. Rechte auf
Beratung in allen Fragen, die den Aufgabenbereich der VKA tangieren, Unterrichtung über Tätigkeiten der VKA und wichtige Ereignisse, insbesondere über gewerkschaftliche Forderungen und Kündigungen von Tarifverträgen, Teilhabe an Dienstleistungen und Einrichtungen der VKA (VKA 2003: § 5). Die VKA verfasst Stellungnahmen zu arbeitsrechtlichen Problemen und unterhält einen eigenen Urteilsdienst zur aktuellen Rechtsprechung für die Mitglieder; Statistiken werden nur über Personalkosten erstellt.
Zwischen den Mitgliedsverbänden und Spitzenorganisationen bestehen permanente schriftliche und telefonische Kontakte. Für die innerverbandliche Verhaltenskoordination sorgt vor allem die Geschäftsführerkonferenz, der die hauptamtlichen Geschäftsführer der Mitgliedsverbände sowie der Hauptgeschäftsführer der VKA angehören. Diese personelle Zusammensetzung garantiert, dass alle Interessen im Abstimmungsprozess Berücksichtigung finden. Die Geschäftsführerkonferenz behandelt Probleme von herausragender Bedeu27
Die Prozessvertretung der Mitglieder erfolgt entweder ab der zweiten Instanz, bei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auch von der ersten Instanz an oder prinzipiell von der ersten Instanz an. Im Übrigen führen nur die Mitgliedsverbände, nicht dagegen die Spitzenorganisation Rechtsstreitigkeiten.
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
tung bzw. allgemeinem Interesse, u. a. tarifpolitische Fragen; sie hat „den Informations- und Erfahrungstausch zu fördern und zur Auslegung von Gesetzen und Tarifverträgen sowie von Richtlinien und Beschlüssen der Organe der VKA Stellung zu nehmen, um die einheitliche Anwendung zu gewährleisten“ (VKA 2003: § 17). Anders als bei den KAV und der VKA liegt das Kollektivgutproblem bei der TdL, die im Gegensatz zu Arbeitgeberverbänden kaum Serviceleistungen für ihre Mitglieder anbietet – und daher nur über wenige Mitarbeiter verfügt. Ähnlich liegt der Sachverhalt bei den zuständigen Abteilungen der Ministerien der Bundesländer. Rechtsberatung spielt keine Rolle, allenfalls werden bestimmte Informationsleistungen erbracht wie die Entwicklung der Personalkosten oder des Sozialprodukts. Im Übrigen ist auch im ÖD häufig juristischer Sachverstand gefragt; das Personal ist fachlich hoch qualifiziert (hoher Akademikeranteil). In der Terminologie von Olson (1968) handelt es sich bei der TdL um eine kleine Gruppe, die kaum Probleme bei der Bereitstellung von Kollektivgütern haben sollte. Insofern ist die Konzentration auf die Führung von Tarifverhandlungen innerverbandlich unproblematisch. 6
Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven
6.1 Strukturen der Kollektivverhandlungen Das Tarifverhandlungssystem des ÖD ist im Gegensatz etwa zu denen in angelsächsischen Ländern, aber ähnlich wie u. a. in den skandinavischen Ländern durch weitgehende Zentralisierung und Integration gekennzeichnet (international vergleichend: Bach et al. 1999; Dell’Aringa et al. 2001). Dabei werden Unterscheidungen weder nach den drei Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden) noch nach Statusverhältnisssen (Arbeiter und Angestellte) vorgenommen („multi-employer bargaining“). Eine von den korporativen Akteuren durchaus beabsichtigte Folge ist eine hochgradige Standardisierung der Entgelte und übrigen Arbeitsbedingungen, was in Anbetracht der föderalistischen Verfassung der Bundesrepublik nicht selbstverständlich ist. Diese weitgehende Vereinheitlichung liegt auch im Interesse der Gewerkschaften, die dadurch Legitimationsprobleme gegenüber ihren Mitgliedern eher lösen können (zusammenfassend: Keller 1999). Ein weiteres Resultat sind sehr hohe Deckungsraten, d. h. ein hoher Anteil der Arbeitnehmer wird von Kollektivverträgen erfasst, sowohl in Bezug auf die Arbeitgeber als auch auf die bei ihnen Beschäftigten. Sogenannte stille Tarifflucht, d. h. ein faktisches Unterbieten vereinbarter tariflicher Standards trotz Verbandsmitgliedschaft, kommt im Gegensatz zur Privatwirtschaft nicht vor; insofern ist die Verpflichtungsfähigkeit der Verbände nach wie vor gegeben. Bei traditionell engen und kooperativen Beziehungen zwischen den Arbeitgeberverbänden gelingt normalerweise die Ex-ante-Koordination der Interessen in prozedural schwierigen Willensbildungs- und Abstimmungsprozessen, so dass gemeinsames und solidarisches Handeln möglich wird. 28 „Diese allerdings nicht institutionalisierte Zusammenarbeit hat sich nach übereinstimmender Ansicht für den Bund, die TdL und die VKA gut bewährt; denn die drei ‚öffentlichen Arbeitge28
Falls Bewertungsunterschiede auftreten, verfahren die Beteiligten häufig nach dem Prinzip der relativen Betroffenheit: Sie akzeptieren die Position des am stärksten betroffenen Bereichs als Mehrheitsmeinung.
I.5 Arbeitgeberverbände des öffentlichen Sektors
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ber‘ haben dadurch, insbesondere den Gewerkschaften gegenüber, zwangsläufig ein größeres Gewicht. Gegenseitige Präjudizierungen werden vermieden“ (Berger 1980: 221).
Alle Arbeitgeber haben nach übereinstimmender Beurteilung den Wert einheitlicher Tarifverhandlungen erkannt und wollen diese unter keinen Umständen aufgeben, da in getrennten Verhandlungen ihre Position durch tarifpolitische Zersplitterung geschwächt würde. Der informelle Charakter der Abstimmungsprozesse erhöht die Flexibilität der Verhandlungsführung.29 Die Tatsache, dass ein der BDA entsprechender Dachverband zur tarif- und sozialpolitischen Interessenwahrnehmung formal für den ÖD nicht besteht, stellt in Anbetracht der faktisch engen Kooperation keinen gravierenden Nachteil dar. Die partiell unterschiedlichen Interessen der Vertreter der drei Arbeitgeber30 führen zu unterschiedlichen Verhaltensformen bei der internen Willensbildung vor und während der Tarifverhandlungen. Charakteristisch für diese Prozesse ist ihre Zweistufigkeit, da sie sich sowohl innerhalb als auch zwischen Gruppen vollziehen. Willensbildungsprozesse zwischen Gruppen beeinflussen das Verhandlungsverhalten und -ergebnis stärker als die innerhalb einer Gruppe. Unterschiedliche Bewertungen, auf die Rücksicht genommen werden muss, ergeben sich nicht so sehr zwischen den Vertretern des Bundes und der Länder als vielmehr im Verhältnis zu den Vertretern der Kommunen.31 Die Bestimmungsgründe für diese Differenzen liegen in der schlechten finanziellen Situation sowie der besonderen Streikanfälligkeit der Kommunen. Echte Interessenkonflikte allgemeiner Art (niedriger Abschluss versus politisches Überleben) sowie solche zwischen den Vertretern der Gemeinden, der Länder und des Bundes sind selten (zu den Ausnahmen: Keller 1983). Insofern liegt eine andere Situation vor als bei Arbeitgeberverbänden der Privatwirtschaft. Der Unterschied besteht darin, dass die Arbeitgeber des ÖD sowohl auf den Arbeitsals auch auf den Produktmärkten nur in begrenztem Maße in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen; dadurch treten Probleme der Herstellung innerverbandlicher Solidarität weniger stark auf als bei den Arbeitgeberverbänden in der Privatwirtschaft. Das Dilemma „zwischen Kompromisserreichung und Verpflichtung der eigenen Organisation“ (Weitbrecht 1973: 22) wird ähnlich wie in der Privatwirtschaft gelöst: Die Beschlussorgane, die den Großen Tarifkommissionen der Gewerkschaften entsprechen, sind auf Seiten der Arbeitgeber die Mitgliederversammlungen von VKA und TdL sowie die Bundesregierung. Diese Gremien werden während der Verhandlungen wiederholt von ihren Repräsentanten informell konsultiert und über den aktuellen Verlauf sowie über Modifikationen der unterschiedlichen Positionen und alternative Möglichkeiten eines Abschlusses informiert. Sie müssen später dem ausgehandelten Kompromiss formal und mit qualifizierten Mehrheiten zustimmen, wodurch die Folgebereitschaft der Mitglieder gesichert wird. Während die Mitgliederversammlung der VKA in den wichtigen Phasen in ihren Entscheidungen autonom ist, hat bei der TdL die politische Ebene wesentlichen Einfluss auf den Prozess der Willensbildung. 29
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Im Prozess der Entscheidungsfindung wird die Kommission immer weiter verkleinert, was die Kompromissfindung erleichtert: An der ersten Verhandlungsrunde, bei der die sogenannten „Fensterreden“ gehalten werden, sind mehr als 200 Personen beteiligt. Später tagt dann die sogenannte „48er Kommission“. In der entscheidenden Phase erarbeitet der sogenannte „kleine Kreis“ („6er Kreis“) einen einigungsfähigen Kompromiss. Divergierende Interessen können z. B. dadurch auftreten, dass die Gewerkschaftsforderungen wie in den späten 1960er und 1970er Jahren sogenannte soziale Komponenten enthalten, von denen die Arbeitgeber wegen ihrer differierenden Personalstrukturen in unterschiedlichem Ausmaß betroffen sind (Keller 1983). Das innerorganisatorische Bargaining (Walton/McKersie 1991) ist auch auf Arbeitgeberseite recht komplex.
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
6.2 Aktuelle Entwicklungen Aus den Verbandssatzungen, die Integrations- und Legitimationsfunktionen haben, ergeben sich Pflichten der Mitglieder wie die Durchführung abgeschlossener Tarifverträge und sonstiger Vereinbarungen, ein weitgehender Verzicht auf den selbständigen Abschluss von Tarifverträgen sowie ein Verbot der Unterbietung oder Überschreitung von Tarifvertragsbedingungen. Die Ahndung von Verstößen der Mitglieder bzw. bei Spitzenorganisationen der Mitgliedsverbände gegen diese Pflichten kann durch Verbandsstrafen in Form von Geldbußen oder in gravierenden Fällen durch Ausschluss erfolgen (Bunn 1984: 189 ff.).32 Allerdings ist diese verbandsautonome Sanktionierung eine selten praktizierte, allenfalls ergänzende Kontrollleistung, wobei ein Ausschluss noch seltener als eine Geldbuße verhängt wird. Insofern besteht kein wesentlicher Unterschied zu Arbeitgeberverbänden der Privatwirtschaft (Rampelt 1979: 59; Schmitter/Streeck 1981: 233 ff.). Solidarität im Binnenverhältnis der Mitglieder, vor allem die Befolgung der Tarifgebundenheit, ist eine notwendige Voraussetzung für Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit im Außenverhältnis, d. h. gegenüber dem Tarifpartner. Solidarisches Handeln muss bei einer Mitgliedschaft, die wegen der grundgesetzlich garantierten Vereinigungsfreiheit freiwillig ist, durch andere Mechanismen garantiert werden als durch den Einsatz der dem Verband autonom zur Verfügung stehenden Zwangsmittel, vor allem durch freiwillige Übereinkünfte aller Beteiligten. Im Übrigen besteht im ÖD für den Fall einer Realisierung der ExitOption (Hirschman 1974) keine Alternative, d. h. kein konkurrierender Verband; ein Austritt ist gleichbedeutend damit, nicht organisiert zu sein. In dieser Hinsicht existieren zwei Besonderheiten: Die TdL schloss 1994 das Land Berlin aus, weil es gegen Grundsätze der TdL verstieß, indem es im Ostteil Entgeltregelungen für das Tarifgebiet West anwandte. Berlin schloss im Frühjahr 2003 eigenständige Tarifverträge mit den zuständigen Gewerkschaften. Außerdem trat das Land Hessen im März 2004 aus der TdL aus (http://www.tdl.bayern.de). Diese „Organisationskrise“ der TdL ist prima facie überraschend, weil – zumindest in der Olson’schen Rational-ChoicePerspektive – Konflikte aufgrund der großen Mitgliederzahl am ehesten bei den Verbänden der kommunalen Ebene zu erwarten wären. Eine Erklärung gelingt am ehesten, wenn man die Dominanz der finanziellen Rahmenbedingungen in den Mittelpunkt rückt und nicht andere, etwa parteipolitische Kalküle. Bei den Ländern ist aufgrund der grundgesetzlich vorgegebenen Aufgabenverteilung – und nicht wegen ihrer spezifischen Haushaltsund oder Personalpolitiken – der Anteil der Personal- an den Gesamtausgaben traditionell wesentlich höher als bei den Kommunen (Keller 2006). Erstaunlich ist insofern nicht die Tatsache des Austritts der Länder aus der Verhandlungsgemeinschaft, sondern der späte Zeitpunkt. Die etablierten, hochgradig zentralisierten Strukturen der Kollektivverhandlungen33 zerfielen nach der Tarifrunde des Jahres 2003 (Behrens 2003), als einige unionsregierte Bundesländer (u. a. Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen) nach einem als zu hoch empfundenen Abschluss mit Austritt aus der TdL drohten, um eigenständige Regelungen in 32
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„Der Ausschluss selbst stellt für den Verband eine nur wenig attraktive Option dar, da er Integration nur durch erzwungene Desintegration aufrechterhält. Infolge der Abhängigkeit ihrer Wirksamkeit von jener normativer und/oder remunerativer Integrationsmodi können die den Verbänden autonom zur Verfügung stehenden Zwangsmittel nur ergänzende Kontrollleistungen sein.“ (Traxler 1980: 13). Erste Erosionstendenzen zeigten sich vorher bereits im Abschluss einiger sogenannter Spartentarifverträge (u. a. im Personennahverkehr); Privatisierungsmaßnahmen wirken in dieselbe Richtung.
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einigen Bereichen (wie Sonderzahlungen) einführen zu können. Daraufhin beschloss die TdL nach internen Auseinandersetzungen, die Mitgliedschaft in der Verhandlungsgemeinschaft der Arbeitgeberseite aufzukündigen und derartige Koalitionen in Zukunft nur noch auf Ad-hoc-Basis als „situative Zweckbündnisse“ einzugehen (Dribbusch 2003). Anfang 2005 fanden die ersten getrennten Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft – ver.di34 und Tarifunion des DBB) und den Arbeitgebern von Bund und Kommunen statt. Nachdem die Bundesländer die Tarifverträge über Arbeitszeiten gekündigt hatten, brach ver.di wegen dieses Schrittes die Gespräche über die Ausgestaltung eines neuen Tarifrechts ab und erklärte deren Scheitern; die Bundesländer nahmen an den folgenden Verhandlungen nicht teil. Nach Abschluss der Verhandlungsrunde verweigerten sich die Länder aus Gründen finanzieller Mehrbelastungen kategorisch den wiederholten Forderungen der Gewerkschaft, den Abschluss „eins zu eins“ zu übernehmen, bestanden auf unabhängigen Verhandlungen bzw. „strikter Kostenneutralität“ und forderten die Vereinbarung von Öffnungsklauseln für Regelungen zu Arbeitszeiten und Sonderzahlungen (Weihnachts- und Urlaubsgeld). Streikdrohungen bzw. einzelne Streiks waren nicht in der Lage, die Einheitlichkeit der Arbeitsbedingungen wiederherzustellen. Nach dieser als weitreichend zu bezeichnenden Zäsur sind zwei Szenarien im Rahmen eines „institution building“ möglich: Entweder verhandeln die Bundesländer zukünftig gemeinsam, aber getrennt von Bund und Kommunen oder die Länder verhandeln nicht nur unabhängig von Bund und Kommunen, sondern auch getrennt voneinander (etwa nach Ost und West bzw. finanzschwachen und -starken Ländern). Die zuerst genannte Option einer ausschließlich vertikalen Differenzierung nach Ebenen, wäre gleichbedeutend mit dem Fortbestand der TdL, die ein Eigeninteresse an dieser Alternative haben muss, sowie mit einer moderaten, kontrollierten Dezentralisierung. Die zuletzt genannte Option hingegen würde eine zusätzliche horizontale Differenzierung mit einer faktischen Auflösung bzw. Bedeutungslosigkeit der TdL und eine deutlich weiter gehende Dezentralisierung (im Sinne einer gewissen Regionalisierung) bedingen. Fraglich ist nicht, ob die Dezentralisierung des zentralisierten Bargaining-Systems fortgesetzt wird, sondern welches Ausmaß sie annehmen wird. Selbst im weiter gehenden Fall wäre sie noch weit von einer sogenannten Verbetrieblichung entfernt. Die mittel- und langfristigen Konsequenzen ihres Austritts aus der Verhandlungsgemeinschaft sind für die Bundesländer keinesfalls eindeutig: Ob sie in getrennten Verhandlungen tatsächlich günstigere Abschlüsse als in gemeinsamen Verhandlungen mit Bund und Kommunen durchsetzen können, hängt wesentlich von der Verhandlungsmacht sowie den Ressourcen der Gewerkschaft ab.35 Die anderen korporativen Akteure sind jedenfalls nicht sonderlich an Regelungen interessiert, die nach den drei Ebenen unterschiedlich ausfallen. Sie würden dem bisher weitgehend akzeptierten Prinzip der Einheitlichkeit von Arbeitsund damit Lebensbedingungen im ÖD widersprechen. Eine weiter gehende. materielle Kon34
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Bis zum Zusammenschluss von fünf Einzelgewerkschaften zu ver.di im Frühjahr 2001 war die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) Verhandlungsführerin; zu den kleineren DGBMitgliedsgewerkschaften, die ebenfalls im ÖD organisierten (GEW, GdP, DPG und GdED), bestanden traditionell enge informelle Kontakte (Keller 1993). Eine aufgrund von Forderungen der Arbeitgeber in den TVöD integrierte, in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtete sogenannte Meistbegünstigungsklausel besagt: Sollten die Länder einen für sie vorteilhafteren Abschluss (etwa längere Arbeitszeiten) erzielen, gilt dieser „als unwiderrufliches Angebot an den Bund und die Kommunen, diese Regelungen zu übernehmen“. Die Vereinbarung dieser Klausel erhöht auf Gewerkschaftsseite den Widerstand gegen abweichende Abschlüsse mit den Ländern (Keller 2006).
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I.5 Arbeitgeberverbände des öffentlichen Sektors
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Zentrale Theorien und etwas Empirie zur Analyse des kollektiven Handelns von Unternehmern Theorien und Empirie zur Analyse des kollektiven Handelns von Unternehmern
Fred Henneberger Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
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Einleitung
Unser theoretisches wie empirisches Wissen über verschiedene korporative Akteure (Staat, Gewerkschaften, Unternehmerverbände etc.) ist sehr unterschiedlich: Während wir im Kontext der „industrial and labour relations“-Forschung relativ umfassend über Arbeitnehmer und deren Organisationen (Gewerkschaften und Betriebs- bzw. Personalräte) informiert sind, blieben Unternehmer und ihre Verbände lange Zeit bemerkenswert unerforscht (vgl. ähnlich z. B. Keller 1999: 9; Traxler 1999: 57). So ist es auch kein Zufall, dass zuerst das Handbuch über „Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland“ erschienen ist (Schroeder/Weßels 2003). Unternehmensverbände sind intermediäre Organisationen, die die verschiedenen Belange der Wirtschaft gegenüber dem politischen System und den Repräsentanten antagonistischer Interessen vertreten. Es lassen sich in Deutschland drei charakteristische Säulen unterscheiden: Die Wirtschaftsverbände verfolgen die wirtschaftspolitischen Belange der Unternehmen eines Wirtschaftszweiges (sogenannte Produktmarktinteressen) durch gezielte Einflussnahme auf Regierung, Ministerialbürokratie, Parlament, Parteien und Öffentlichkeit. Die Arbeitgeberverbände sind für die Sozial-, Bildungs- und Gesellschaftspolitik sowie als Sozialpartner für die tarifpolitische Interessenvertretung der Arbeitgeber gegenüber den Gewerkschaften zuständig (sogenannte Arbeitsmarktinteressen). Ihnen ist per Gesetz die Mitwirkung an der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit und an den Selbstverwaltungsorganen der Sozialversicherungen zugesichert. In Form der sogenannten Antistreikvereine stellten die Arbeitgeberverbände historisch gesehen zunächst eine Antwort auf die Gründung von Gewerkschaften dar. Die Wirtschaftskammern nehmen als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit gesetzlicher Pflichtmitgliedschaft für alle zur Gewerbesteuer veranlagten Betriebe staatliche und halbstaatliche Aufgaben wahr. Sie werden in Selbstverwaltung geführt und vertreten die lokalen bzw. regionalen Interessen der gewerblichen Wirtschaft branchenübergreifend (sogenannte kontrollierte Wirtschaftsinteressen). Der freiwilligen Mitgliedschaft der Unternehmer in Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden steht die Zwangsmitgliedschaft aller Kaufleute und Handwerker in den Wirtschaftskammern gegenüber. Allerdings basieren die Handwerksinnungen wiederum auf freiwilliger Mitgliedschaft (vgl. Henneberger 2005: 381í382). 1 Die Verbände der Unternehmer „are more numerous … and their organisation is more complex, more fragmented and possibly more competitive“ (Sargent 1985: 232). Die vergleichsweise späte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Unternehmensseite dürfte nicht zuletzt auf diese Tatsache zurückzuführen sein. Erst seit den 1960er Jahren mehrten 1
Daneben ist auch eine Reihe von anderen freien Berufen in entsprechenden Standesorganisationen via Pflichtmitgliedschaft repräsentiert, so z. B. die Ärzte in Ärztekammern, die Rechtsanwälte in Anwaltskammern.
I.6 Theorien und Empirie zur Analyse des kollektiven Handelns von Unternehmern
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sich insbesondere deskriptive Abhandlungen zur Entstehungsgeschichte einzelner Verbände oder Kammern (vgl. z. B. Leckebusch 1966; Kaelble 1967). Es dauerte aber noch zwei Jahrzehnte, bis in den 1980er Jahren systematische Darstellungen über die Organisation und Funktionsweise von Unternehmerverbänden sowie Länderstudien zu diesen folgten (vgl. z. B. Traxler 1986; Weber 1987). Für die weitere Entwicklung hilfreich war ein von Schmitter und Streeck entworfener und im Jahr 1981 erstmals publizierter Forschungsplan zur Analyse kollektiven Handelns der Unternehmerverbände (Schmitter/Streeck 1999). Zu kritisieren ist allerdings die Konzentration der Analyse auf Arbeitgeberverbände in der Folgezeit (vgl. z. B. Traxler 1991), während Wirtschaftsverbände und -kammern selten Gegenstand der Untersuchungen waren (als Ausnahmen vgl. z. B. Adam 1979; Offe 1983; Groser/Hilbert/Voelzkow 1986). In der Regel werden zudem vor allem die nationalen Dachorganisationen und Fachspitzenverbände – und somit die aggregierte Ebene – analysiert (vgl. z. B. Prigge 1987; Ohneis 1990; Mann 1994). Hingegen wird beispielsweise den Verbänden, die auf Landesoder gar lokaler Ebene agieren, kaum Beachtung geschenkt. Die eigentlich erstaunlich zögerliche Beschäftigung mit dem gesellschaftlich hoch relevanten und theoretisch anspruchsvollen Objektbereich der Unternehmerverbände ist nicht etwa í wie vielfach behauptet wird (vgl. z. B. Traxler 1999: 57; Schroeder/Silvia 2003: 245í246) í auf Zugangsprobleme, mangelnde Öffentlichkeitsarbeit oder eine defensive Informationspolitik zurückzuführen, sondern hat vielmehr politisch-ideologische Gründe: Konservative wie progressive Wissenschaftler glaubten entweder den wiederholt zu vernehmenden Klagen der Unternehmerverbände über ihre eigene politische Ohnmacht oder leiteten aus der starken Fragmentiertheit insbesondere der Wirtschaftsverbände kurzerhand deren Insignifikanz ab. Forscher marxistischer Herkunft hingegen schlossen umgekehrt aus der den gesellschaftlichen Prozess dominierenden politisch-ökonomischen Macht der Klasse der Kapitalisten oder auch einzelner (Groß-)Kapitalisten, dass deren (spezielle) Organisationen nur nachrangigen Charakter besäßen und somit keiner näheren Untersuchung unterzogen werden müssten (vgl. ähnlich Abromeit 1992: 453í454). Die faktische hohe Organisiertheit der Unternehmen, die Komplexität des Systems der unternehmerischen Interessenvertretung und die Vielfalt der politischen wie gesellschaftlichen Einflussmechanismen, über die Unternehmerverbände verfügen, widersprechen jedoch diesen beiden Sichtweisen und sind erklärungsbedürftig. Außerdem mag die politische Grundorientierung und Provenienz vieler Verbändeforscher dazu beitragen, dass sie die Beschäftigung mit Gewerkschaften präferier(t)en (vgl. Schmitter/Streeck 1999: 9). Erst der ideologisch weniger vorbelastete organisationstheoretische Zugang (vgl. Kapitel 4 und 5) lieferte í zunächst gestützt auf Daten eines zu Beginn der 1980er Jahre initiierten, international vergleichenden Forschungsprojekts mit dem Titel „The Organization of Business Interests“ (OBI-Projekt) (vgl. Schmitter/Streeck 1999) í eine realitätsnähere Begründung des kollektiven Handelns der Unternehmensseite, als die beiden gegensätzlichen Methodologien í individualistisch-ökonomistische versus antagonistisch-marxistische Herangehensweise (vgl. Abschnitte 2 und 3) í ursprünglich zugelassen hatten. 2
Ökonomische Gruppentheorie (Olson)
In theoretischer Perspektive hat vor allem das Werk von Mancur Olson zur „Logik des kollektiven Handelns“ (1965) der neueren Verbändeforschung entscheidende Impulse ge-
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
geben (vgl. ähnlich Müller-Jentsch 1996: 54í55). Olson wendet sich mit seinem gruppentheoretischen Ansatz neoklassischer Provenienz gegen die impliziten Annahmen der bis dahin dominierenden Pluralismustheorie (vgl. z. B. Bentley 1908; Truman 1993; Dahl 1971, 1989; Lindblom 1988; Fraenkel 1991), die í seiner Ansicht nach í erstens die asymmetrische Macht kleiner Gruppen nicht berücksichtige, 2 zweitens fälschlicherweise eine Chancengleichheit der Gruppen unterstelle und drittens individuelles mit kollektivem Interesse gleichsetze. Pluralisten wie auch Marxisten unterlägen der Illusion, dass das Interesse eines Akteurs an der Erstellung des kollektiven Gutes bereits seine Teilnahme bedinge (vgl. auch Braun 1999: 105í107). Ausgehend vom Paradigma des methodologischen Individualismus konnte Olson aus einer Rational-Choice-Perspektive zeigen, dass sich Individuen, die strategisch und ausschließlich am Eigennutz bzw. an der ökonomischen Effizienz orientiert handeln, zwar zu Verbänden zusammenschließen, dieser Zusammenschluss von Einzelinteressen zu (großen) Gruppen zwecks Durchsetzung von kollektiven Interessen aber keineswegs selbstverständlich ist oder gar spontan vonstatten geht (vgl. Olson 1965: 2). Vielmehr tragen nicht selten alle sehenden Auges und vollkommen rational zu einer Lösung bei, die sie eigentlich nicht haben wollen. Dieses Dilemma zwischen individueller und kollektiver Rationalität hängt mit den spezifischen Eigenschaften der kollektiven Güter zusammen: Ihre Bereitstellung impliziert eine Nichtrivalität beim Konsum und vor allem die Nichtausschließbarkeit des Gebrauchs durch Nichtmitglieder des Kollektivs. Ein individuell-(ökonomisch-)rationales Verhalten, bei dem zwischen Kosten und erwartetem Nutzen einer Mitgliedschaft abgewogen wird, führt in einem solchen Fall in aller Regel zur Partizipation am Kollektivgut, ohne dass der Einzelne bereit ist, auch nur einen marginalen Beitrag zu den Kosten der Erzeugung des Gutes zu leisten (sogenanntes Free-Rider-Verhalten). Dieses Phänomen tritt insbesondere bei großen Gruppen auf, bei denen zwischen den Aktionen der beteiligten Individuen keine spürbaren Interdependenzen (mehr) bestehen. Dass es unter diesen Bedingungen dennoch zur Verbandsbildung kommt, erklärt Olson einerseits mit Hilfe seiner Nebenprodukttheorie (vgl. Olson 1965: 130í135): Große, „latente“ Gruppen können zur Überwindung des Trittbrettfahrerverhaltens neben den kollektiven Gütern, wie z. B. Öffentlichkeitsarbeit, Verteidigung eines freien Unternehmertums, Lobbyismus, Repräsentation des Verbandes oder transaktionskostensenkende Abschlüsse von für alle verbindlichen Normen, zusätzlich private Güter anbieten, bei denen das Ausschlussprinzip zum Tragen kommt. Hierzu zählen beispielsweise die Bereitstellung von (aktuellen) Informationen und Forschungsergebnissen, das Aufmerksammachen auf Gesetzesvorhaben, Rechtsberatung, Rechtsschutz und Prozessvertretung bei Rechtsstreitigkeiten oder ganz allgemein die Einzelvertretung von Unternehmensinteressen (z. B. gegenüber dem Arbeitsamt oder der Gewerbeaufsicht), die Beratung bei technischen oder arbeitswissenschaftlichen Problemen, das Angebot von Weiterbildungskursen und Kreisen zum Erfahrungsaustausch (z. B. für Personalleiter), die Vermittlung von Kontakten (z. B. zu Politik, Verwaltung und Verbänden), Freizeitunfallversicherungen sowie die Einrichtung von Unterstützungsfonds jeglicher Art. Derartige Güter wirken als individuelle, selektive Anreize 2
Da es kleineren Gruppen leichter fällt, sich zu organisieren, (vgl. weiter unten) können sich diese auf Kosten der größeren Gruppen relative Vorteile in der Gesellschaft verschaffen. Damit widerspricht Olson (vgl. Olson 1965: 120í126) direkt der Ansicht der Pluralisten (vgl. z. B. Bentley 1908), dass sich die Macht von Gruppen in der Gesellschaft proportional zu ihrer Mitgliederzahl verhalte und Sonderinteressen mittelfristig keine Überlebenschance hätten. Das Gegenteil sei vielmehr der Fall (weiter ausgeführt in Olson 1982).
I.6 Theorien und Empirie zur Analyse des kollektiven Handelns von Unternehmern
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zum Verbandsbeitritt, da sie ausschließlich den Mitgliedern zur Verfügung stehen (vgl. Olson 1965: 50). Durch die Kombination von einem öffentlichen mit einem privaten Gut (sogenannte Kuppelprodukte) entstehen kollektive Güter als Nebenprodukte der selektiven Anreizsetzung (vgl. Olson 1965: 130í133). Andererseits lässt sich das Trittbrettfahrerverhalten mit der Macht und der Fähigkeit, Zwang auszuüben, beseitigen (vgl. Olson 1965: 72). Die obligatorische Mitgliedschaft mit Pflichtbeiträgen in den Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern oder kassenärztlichen Vereinigungen mag hierfür als Beispiel dienen (vgl. ausführlich Groser 1992). Der prinzipiell mögliche Nichtbeitritt des Einzelnen würde hier immense Opportunitätskosten der Nichtausübung des Berufs oder des Gewerbes verursachen (vgl. Tiedemann 1994: 26). Durch diese externe Rekrutierungshilfe seitens des Staates gelingt es, den Organisationsgrad der Wirtschaftskammern bei beliebiger Operationalisierung auf 100 % zu fixieren und eine hohe Autonomie der Verbände gegenüber ihren Mitgliedern zu erzielen. Olson sieht in der Existenz von Verbänden eine erfolgreiche Überwindung des Kollektivgutproblems (vgl. Kittel 2003: 84). Er geht davon aus, dass die Organisationsfähigkeit eines Verbandes umso größer ist, je heterogener die Einzelinteressen in Relation zum gesamten Verbandszweck sind, da mit wachsender Heterogenität der Interessenlagen die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass das Kollektivgut für den Einzelnen auf seiner Präferenzskala einen so hohen Stellenwert einnimmt, dass er bereit ist, einen überproportionalen Anteil an den Kosten oder sogar im Alleingang sämtliche Kosten der Bereitstellung dieses Gutes zu übernehmen. Die Größenasymmetrie ist demnach geeignet, die Erstellung kollektiver Güter zu begünstigen (vgl. Olson 1965: 29, 34). Entscheidend für die Bereitstellung des Kollektivgutes ist, dass die zu tragenden Kosten den zu erwartenden Nutzen nicht überschreiten. Andererseits ist die Bereitschaft zur Kostenbeteiligung in kleineren Gruppen größer, da der Einzelne einen größeren und direkteren Einfluss auf die kollektive Leistung hat und mit Abnahme der Koordinierungsprobleme auch deren Kosten sinken. Zudem sind die Interessen kleiner Gruppen leichter durchzusetzen, weshalb es für Individuen rationaler ist, sich für partikulare denn für allgemeine Interessen einzusetzen (sogenanntes Olson-Paradoxon). 3 Die kleine, handlungsfähige Gruppe ist insofern privilegiert, als kein kollektives Handeln erforderlich ist, da das öffentliche Gut ausschließlich durch individuelles Engagement zustande kommt (vgl. Pies 1993: 206). Große und homogene Gruppen hingegen sind zunächst latent (nicht organisiert) und können ihre Organisationsfähigkeit nur dann sichern, wenn „selective incentives“ zum Verbandsbeitritt oder eben Zwang vorliegt. 4 Während bei Letzterem eine freiwillige Entscheidung nicht (mehr) möglich ist, vergleichen die Individuen im ersten Fall ihren Nutzen aus dem Privatgut mit ihrem Mitgliedsbeitrag. Der Nutzen aus dem Kollektivgut geht nicht in das Entscheidungskalkül ein, da sie von dessen Konsum ohnehin nicht ausgeschlossen werden können. Ist der Nettonutzen aus dem privaten Gut positiv, finanzieren sie mit ihrem Mitgliedsbeitrag das Kollektivgut gleichsam nebenbei (vgl. Kirsch 2004: 181). Tatsächlich zählen private Güter absolut gesehen zu den wichtigsten und häufigsten Leistungen der Unternehmerverbände (vgl. dazu die Literaturhinweise bei Keller 1988: 3
4
Je allgemeiner die Interessen in einer pluralistischen Gruppengesellschaft sind, desto geringer ist ihre Durchsetzungskraft, da solche Interessen schlichtweg zu allgemein sein können (sogenanntes Paradoxon umgekehrt proportionaler Demokratie; siehe auch Scheinpflug 1993: 146í147). Bei der Beeinflussung der Regierung können sich insbesondere kleine, gut organisierte Gruppen durchsetzen, für die die Entscheidungen große Bedeutung haben (vgl. Becker 1983). „Diffuse Interessen, die von vielen geteilt werden, lassen sich schlechter organisieren als die konkreten Partialinteressen von einigen wenigen“ (Kohler-Koch 2000: 146).
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391). Hierbei ist allerdings festzustellen í und darauf weisen empirische Befunde hin (vgl. van Waarden 1992: 151í152, 165) í, dass sowohl Verbände kleiner Firmen als auch besser entwickelte, ältere und damit in der Regel auch größere Unternehmensverbände relativ mehr Ressourcen für selektive Güter aufwenden (müssen) als jüngere und in ihrer Mitgliederstruktur heterogenere Verbände, die einen höheren Prozentsatz für öffentliche Güter ausgeben. 5 Beides deutet darauf hin, dass auf Dauer nicht so sehr die Gründung von Verbänden (Verbandsbildung) als vielmehr die Rekrutierung von Mitgliedern und deren Loyalitätssicherung Unternehmerverbänden Probleme bereiten (Bestandserhaltung) (siehe auch van Waarden 1992: 146í147, 149í150). Wie eine Studie zur Bindungswirkung der verschiedenen Leistungsfelder der Verbandsarbeit von Arbeitgeberverbänden zeigt, rangiert in der Präferenzskala der Mitgliedsunternehmen die Einzelvertretung von Unternehmensinteressen eindeutig an erster Stelle. Sie steht noch vor den Aufgabenblöcken, Gegengewicht und Verhandlungspartner der Gewerkschaften im Rahmen der tarifpolitischen Vertretung zu sein (sogenannte Gegnerpartnerschaft) und die Interessenvertretung gegenüber der Politik, Gesetzgebung und Gesellschaft sowie den Einsatz für die Marktwirtschaft zu garantieren (vgl. von Vieregge 1994). Konform mit Olsons Theorie zeigen empirische Untersuchungen anhand von Daten des OBI-Projekts (vgl. Schmitter/Streeck 1999), dass sich kleinere Gruppen nicht nur früher organisiert haben, sondern auch die höchsten Organisationsgrade aufweisen. Die Heterogenität der Interessenverbände der Unternehmen spiegelt sich gleichfalls darin wieder, dass sowohl Organisationen (Firmen) mit einer entsprechend größeren Zahl an Eigenschaften als auch Individuen (Einzelunternehmer) in ihnen repräsentiert sind (vgl. van Waarden 1991: 57í59). Auf der jeweils nächsthöheren Aggregationsstufe bilden die Verbände, die sich zuerst formiert hatten, wieder eine kleine privilegierte Gruppe, die zudem häufig über einen privilegierten Zugang zu staatlichen Stellen verfügt (vgl. van Waarden 1991: 64, 66í67). Auch heute noch weisen Unternehmensverbände í nicht zuletzt aufgrund ihrer organisatorischen Vielfalt í eine eher kleine Größe auf (vgl. van Waarden 1991: 62, 1992: 142í143, 148í149). Außerdem haben große Firmen zumeist die Initiative zur Etablierung von Verbänden ergriffen und weisen eine höhere Neigung auf, bereits gegründeten Verbänden beizutreten, weswegen ihr Organisationsgrad wesentlich höher (geblieben) ist als der kleiner Betriebe (vgl. van Waarden 1991: 72í73). Während kleinere Firmen häufig als Grenzanbieter fungieren und deshalb viel stärker mit ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit konfrontiert sind, haben größere Unternehmen eine höhere Macht zur Preissetzung und können ihre Interessen leichter in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext stellen sowie diese auch in einer längerfristigen Perspektive verfolgen. Großfirmen beschäftigen zudem mehr Personal und weisen üblicherweise eine höhere Exportquote und eine höhere Direktinvestitionstätigkeit auf. Daraus lässt sich ein größeres Interesse an (kollektiven) Lohnverhandlungen sowie an der Sozialpolitik und der Außenwirtschaftspolitik der Regierung ableiten. Da Großfirmen mehr an der Interessenvertretung und der Bereitstellung öffentlicher Güter interessiert sind (siehe auch van Waarden 1991: 70), 6 stellen sie letztlich mehr Ressourcen für die Verbandsarbeit zur Verfügung. Eine der Konsequenzen daraus ist, dass es empirisch gesehen 5 6
Fast alle Unternehmerverbände in den Niederlanden wurden zum Zwecke der Versorgung mit öffentlichen Gütern gegründet (vgl. van Waarden 1992: 141). An dieser Stelle sei die Feststellung angebracht, dass kollektive Güter, die die Ursache zur Organisierung darstellen, in einer interorganisatorischen Perspektive nicht selten kollektive Übel sein können, also negativ bzw. defensiv definierte Interessen Dritten gegenüber (vgl. Hardin 1982: 120).
I.6 Theorien und Empirie zur Analyse des kollektiven Handelns von Unternehmern
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eine starke Korrelation zwischen dem Ausmaß an Konzentration in einer Verbandsdomäne und dem Organisationsgrad gibt (vgl. van Waarden 1991: 65, 73, 1992: 144í146, 150). Damit ist aber noch nicht erklärt, wie überhaupt große Gruppen entstehen können, die zumindest zum Zeitpunkt ihrer Gründung noch keine (hinreichenden) selektiven Anreize setzen können, außer diese Organisationen werden gezwungen, kollektive Güter zu erstellen und anzubieten. Öffentliche bzw. kollektive Güter jedenfalls haben nur eine unzureichende Integrationskraft. Ein Ausweg aus diesem Engpass besteht darin, Olsons Konzept um die Figur des politischen Unternehmers zu erweitern (vgl. z. B. Salisbury 1969: 11í13; Moe 1980): Organisationen entstehen, weil individuelle oder korporative Akteure bereit sind, die hohen Investitionskosten am Anfang zu tragen. Diese Akteure generieren Kollektivgüter in der Erwartung, später in der Organisation besondere Vorteile (z. B. Ansehen oder eine Führungsposition) zu erhalten (vgl. auch Hardin 1982: 35; Lehner 1981: 86). Durch die Schaffung selektiver Anreize bewegen sie bislang unorganisierte Interessen zum Verbandsbeitritt. Diese Anreize sind aber das Ergebnis und nicht die Ursache der Organisationsbildung. Ein weiteres erklärungsbedürftiges Phänomen, das eine Erweiterung des Ansatzes von Olson notwendig macht, ist die Frage, warum Mitglieder großer Organisationen nicht austreten, wenn sie mit der Leistung ihres Verbandes nicht (mehr) zufrieden sind. Hirschman (1970) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es so etwas wie eine Loyalität der Mitglieder gegenüber ihrer Organisation gibt. Sie versuchen eher über Widerspruch („voice“) die Politik ihres Verbandes zu beeinflussen als ihren Verband zu verlassen („exit“). Dies funktioniert aber primär in kleineren Gruppen (vgl. Lehner 1981: 99). Dennoch kann auch in großen Gruppen Abwanderung z. B. durch die jeweiligen „Peergroups“ verhindert werden, da die sozialen Kosten den möglichen, aber kurzfristigen individuellen materiellen Nutzen der Einsparung des Mitgliedsbeitrags schnell übersteigen können (zu den „social selective incentives“ vgl. auch Olson 1965: 21, 31). Besteht zudem keine Organisationsalternative, ist der Austritt aus dem Verband sogar gleichbedeutend damit, überhaupt nicht mehr organisiert zu sein. Eine der Schlussfolgerungen aus Olsons Ansatz ist, dass die größere Interessenheterogenität der zahlenmäßig unterlegenen Unternehmer ihnen eine höhere Organisationsfähigkeit sichert. Die Verbände der Unternehmen besitzen somit strukturelle Vorteile gegenüber denjenigen der Arbeitnehmer. Dies spiegelt sich darin wider, dass die Kapitalseite häufig kleinere, privilegierte Gruppen herausbildet, während die Organisationen auf Arbeitnehmerseite den großen und mobilisierten Gruppen zuzurechnen sind: Gewerkschaften organisieren zumeist eine sehr große Zahl von Arbeitskräften. 3
Marxistische Klassentheorie (Offe/Wiesenthal)
Die Grundaussage des der marxistischen Denktradition verpflichteten klassentheoretischen Ansatzes von Offe und Wiesenthal (1980) lautet ebenfalls, dass die Unternehmensseite über eine höhere Organisationsfähigkeit verfüge. Begründet wird dies allerdings í genau umgekehrt zu Olson í hauptsächlich mit der größeren Interessenambivalenz bzw. -heterogenität der Arbeitnehmerschaft, die sich nachteilig auf deren Organisationsfähigkeit auswirke. Dieses Ergebnis komme dadurch zustande, dass Interessen Ausdruck der jeweiligen Klassenlage seien und zwei Logiken kollektiven Handelns implizierten (vgl. Offe/Wiesenthal 1980: 76).
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Aus einer kollektivistischen Perspektive unterscheiden sich Kapital und Arbeit in einer Reihe von Voraussetzungen und Handlungsbedingungen: Die Organisationen der Unternehmen sind í unabhängig von ihrer Größe í schlagkräftiger, weil sich Kapitalinteressen erstens eindeutig quantitativ durch Kosten und Erträge, also die Bereitschaft zu zahlen, ausdrücken lassen. Dahingegen weisen die qualitativ vielfältigen Interessen „lebendiger Arbeit“ kein ähnlich konsequentes Kriterium ihrer Vereinheitlichung auf (vgl. Offe/Wiesenthal 1980: 73í75, 84í85). Zweitens wird die Handlungsfähigkeit der Unternehmensverbände dadurch begünstigt, dass die wirkliche Macht der Arbeitgeber außerhalb der Organisationen liegt. Sie haben die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und den Produktionsprozess, können Investitionen verweigern oder Rationalisierungsinvestitionen forcieren und ihre Abhängigkeit vom Einsatz des Faktors Arbeit reduzieren. Schon deshalb müssen Arbeitnehmer aus Eigeninteresse aktiv an der Prosperität des Unternehmens mitwirken (vgl. Offe/Wiesenthal 1980: 75í76). Drittens hat auch der Staat ein evidentes Interesse an der privaten Kapitalakkumulation und unterstützt diese extern, da seine eigene Aufgabenwahrnehmung direkt vom Fortgang des Akkumulationsprozesses abhängt (vgl. Offe/Wiesenthal 1980: 85í86, 91). Viertens hat die Kapitalseite vielfältige Möglichkeiten, auf die Interessen der Arbeitnehmer manipulativ einzuwirken (vgl. Offe/Wiesenthal 1980: 91í92). Fünftens verfügt die Unternehmensseite über ungleich mehr Alternativen, ihre Interessen auch ohne Verbände durchzusetzen, so dass ein geringeres Spektrum an Kapitalinteressen durch die Organisationsbildung artikuliert werden muss (vgl. Offe/Wiesenthal 1980: 74í75, 84). Die Sanktionsmacht der Arbeitnehmer hingegen spiegelt sich ausschließlich in kollektivem Handeln, z. B. der Option, zu streiken, wider (vgl. Offe/Wiesenthal 1980: 79í81). Der Eindeutigkeit der überschaubaren Kapitalinteressen steht also die Ambivalenz der Interessen der Arbeitskraft gegenüber. Die in der Interklassenperspektive inferiore Stellung der Arbeitnehmerschaft kommt auch dadurch zustande, dass ihre größere Zahl mit höheren Kosten der Verbandsbildung verbunden ist, da mit der Größe auch die Heterogenität der Interessen zunimmt, mithin die Organisationsfähigkeit abnimmt. Zudem wird die Zielbildung ihrer Interessenorganisationen voraussetzungsvoller und die Ergebnisse der Zielformulierung sind offener. Umgekehrt wären kleinere Gewerkschaften zwar organisationsfähiger, verfügten aber nicht über hinreichende Mittel, um wirkungsvoll kollektive Aktionen durchzuführen. Die Größe der Gewerkschaften macht also í im Gegensatz zur Kapitalseite í durchaus einen Unterschied (vgl. Offe/Wiesenthal 1980: 80í82). Aus den Überlegungen von Offe und Wiesenthal zur unterschiedlichen Organisationsfähigkeit der Kapital- und der Arbeiterseite lassen sich folgende Hypothesen ableiten (vgl. auch Traxler 1999: 63í64): Zunächst müsste der Organisationsgrad der Unternehmensseite höher sein als der der Gewerkschaften. Außerdem müsste für Unternehmerverbände eine Strategie der Mitgliedermaximierung einfacher sein: Kapitalinteressen sind eindeutiger abgrenzbar bzw. weniger ambivalent, weswegen auch die Zahl an Verbänden geringer sein müsste, was wiederum eine monopolähnlichere Situation schaffe. Es sollte ihnen leichter fallen, große Organisationen aufzubauen (vgl. van Waarden 1991: 56). Schließlich dürfte die Konfliktträchtigkeit der Interessenvereinheitlichung auf Unternehmensseite ebenfalls geringer sein als auf Arbeitnehmerseite. Entsprechend weniger ausdifferenziert sollten die Strukturen und Prozeduren der innerverbandlichen Willensbildung auf der Kapitalseite sein. Die Interessenstruktur des Kapitals ist „monologically“, während kollektives Handeln der Arbeiterorganisationen im Grundsatz eine „dialogical“ Form annimmt (vgl. Offe/ Wiesenthal 1980: 97í99).
I.6 Theorien und Empirie zur Analyse des kollektiven Handelns von Unternehmern
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Basierend auf Daten des OBI-Projekts (vgl. Schmitter/Streeck 1999) sowie eines international vergleichenden Projekts zu „Internationalisierung, Arbeitsbeziehungen und Wettbewerbsfähigkeit“ (IAW) lässt sich in einer ländervergleichenden Perspektive zeigen, dass der Organisationsgrad der Unternehmensverbände í konform mit der Theorie von Offe und Wiesenthal í tatsächlich höher ist als derjenige der Gewerkschaften (vgl. Traxler 1993: 146, 162, 1999: 64í65, 76; van Waarden 1989). Auch in Deutschland verfügen die Arbeitgeber-, mehr noch die Wirtschaftsverbände über einen hohen Organisationsgrad (vgl. Henneberger 2005: 384í385). 7 Hingegen ist die Zahl der Unternehmensverbände í entgegen der Theorie von Offe und Wiesenthal í größer und der Spezialisierungsgrad der Verbände höher als auf Seiten der Arbeitnehmer (vgl. Traxler 1993: 147; 1999: 65). 8 Außerdem weisen die Dachverbände der Unternehmen í wiederum entgegen den Prognosen von Offe und Wiesenthal í deutlich mehr Mitgliedsverbände auf als die der Arbeitnehmer. Die Vereinheitlichungsprozeduren sind bei Ersteren wesentlich schwieriger und komplexer, das Ausmaß von Konfliktträchtigkeit und praktisch relevanter Interessendivergenz somit höher (vgl. Traxler/Weber 1989). Als Zwischenfazit bleibt festzuhalten (vgl. Traxler 1999: 65): Während Unternehmerverbände den Vorteil eines höheren Organisationsgrades aufweisen, sind sie mit einer größeren Partikularisierung und Differenzierung ihrer Interessen und damit ihrer Organisationsstrukturen konfrontiert. 9 Bei den Gewerkschaften verhält es sich genau umgekehrt, so dass zunächst í entgegen sowohl der Theorie von Olson als auch der von Offe und Wiesenthal í keine der beiden Seiten eindeutig in der Organisierung ihrer Interessen begünstigt ist (vgl. ähnlich Schmitter/Streeck 1999: 29). 4
Organisationstheorie (Streeck)
Die empirischen Feststellungen, dass einerseits die Zahl der Unternehmensverbände die der Gewerkschaften deutlich übersteigt und andererseits die Zahl der Arbeitgeberverbände nicht merklich von der Zahl an Gewerkschaften abweicht, hat Streeck zum Ausgangspunkt seiner Antithese zur zentralen Aussage von Offe und Wiesenthal gemacht (vgl. Streeck 1991): Im Klassenvergleich weisen nicht die Arbeitnehmer eine höhere Ambivalenz ihrer Interessen auf, vielmehr deutet die höhere Zahl von Unternehmensverbänden auf eine insgesamt größere Heterogenität ihrer Mitgliederinteressen hin, woraus ein notwendiges „Management of Diversity“ resultiert (vgl. Schmitter/Streeck 1999: 15). 10 Hierbei können die Interessen der Unternehmen nicht nur divergieren, sie widersprechen sich häufig sogar (vgl. van Waarden 1991: 59). Obwohl die vergleichbare Zahl von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften den Schluss nahelegt, dass die Arbeitsmarktinteressen für beide Gruppen ähnlich heterogen sind, 7 8
9 10
Die Arbeitgeber sind in Deutschland trotz ebenfalls rückläufiger Tendenz immer noch deutlich besser organisiert als die Arbeitnehmer (vgl. Schnabel 2005: 184í187). Werden nur die Dachverbände der Arbeitgeber mit denen der Gewerkschaften verglichen, ergibt sich für Letztere eine größere Zahl, so dass auf Seiten der Gewerkschaften in Bezug auf die Arbeitsmarktinteressen eine stärkere politisch-ideologische Differenzierung verortet werden kann, was die These von der größeren Interessenambivalenz der Arbeitnehmer von Offe und Wiesenthal in diesem singulären Fall stützt (vgl. Traxler 1999: 65). Letzteres ist deswegen überraschend, weil ihnen regelmäßig weniger Mitglieder angehören, als dies bei den Gewerkschaften der Fall ist (vgl. Traxler 1999: 65í66). Der Erhalt eines Verbandes ist nur durch ein adäquates Management von Interessendivergenzen sicherzustellen (vgl. auch van Waarden 1992: 147).
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
mithin ihre Organisationsfähigkeit nicht differiert, gibt es bezüglich der Produktmarktinteressen der Unternehmen kein Pendant auf Arbeitnehmerseite. Die größere Zahl an Unternehmensverbänden kommt also dadurch zustande, dass hoch spezialisierte Wirtschaftsverbände existieren, die die im Vergleich zu den Arbeitsmarktinteressen wesentlich spezifischeren und fragmentierteren Produktmarktinteressen repräsentieren. Durch diese organisationale Ausdifferenzierung gelingt es den Wirtschaftsverbänden, potentielle Konfliktlinien auf den Produktmärkten zu minimieren bzw. zu eliminieren. Die heterogenere Interessenstruktur der Unternehmensseite ist also außerhalb des Arbeitsmarktes zu suchen. Zwar haben auch die Arbeitnehmer Produktmarktinteressen, diese fallen aber nicht selten mit denjenigen ihres Betriebs, ihres Unternehmens oder sogar ihrer Branche zusammen. Gewerkschaften können deshalb die Vertretung der Produktmarktinteressen der Beschäftigten „opportunistisch“ den Wirtschaftsverbänden überlassen und somit die Basis ihrer eigenen Interessenrepräsentation stärker homogenisieren. Die Externalisierung der Produktmarktinteressen erleichtert es den Gewerkschaften, an der „Klasseneinheit“ festzuhalten und große, umfassende Organisationen aufzubauen (vgl. Streeck 1991: 177í182). Damit verfügt die Arbeitnehmerseite über eine höhere Organisationsfähigkeit als die Unternehmensseite. Kritisch gegenüber dem Ansatz von Streeck einzuwenden ist erstens, dass auch Arbeitskräfte eigene Produktmarktinteressen haben können, die nicht zwingend mit denen ihres Arbeitgebers identisch sein müssen. Ein Indiz hierfür könnte sein, dass z. B. in der Schweiz mehr als die Hälfte aller (freiwilligen) Stellenwechsler nicht nur den Arbeitgeber austauscht, sondern sogar einen Branchenwechsel vollzieht (vgl. Henneberger/Sousa-Poza 2007: 86). Werden Arbeitnehmer von einer Leiharbeitsfirma an verschiedene Betriebe entliehen, kann ein gleichgerichtetes Interesse mit allen Arbeitgebern wohl ebenfalls kaum erwartet werden. Zweitens sind auch die Dachverbände der Arbeitgeber stärker ausdifferenziert, als dies bei den Gewerkschaften der Fall ist (vgl. Traxler 1993: 150í151, 1999: 62), so dass selbst die Vereinheitlichung der Arbeitsmarktinteressen für die Unternehmensseite ungleich schwieriger zu bewerkstelligen ist (vgl. Traxler/Weber 1989). 5
Ressourcenansatz (Traxler)
Die organisationstheoretische Perspektive weiterverfolgend schlägt Traxler (z. B. 1991, 1999) einen ressourcenorientierten Ansatz vor. Der einzelne Unternehmer wie Arbeitnehmer hat grundsätzlich die Wahl, seine Interessen individuell oder kollektiv zu verfolgen. Hierbei geht Traxler í wie die Theorie kollektiven Handelns von Olson í davon aus, dass kollektives Handeln nur die zweitbeste Lösung darstellt. Die individuellen Interessen lassen sich nämlich im Prinzip am besten durch individuelle Strategien verfolgen. Folgerichtig unterstellt Traxler deshalb, dass mit einer steigenden Ressourcenausstattung der einzelnen Akteure zwar deren Organisationsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, sich zusammenzuschließen, Mitglieder zu rekrutieren und deren Loyalität zu sichern, generell zunimmt, gleichzeitig aber ihr Organisationsbedarf, d. h. die Notwendigkeit, überhaupt Verbände zu bilden bzw. diesen beizutreten sowie bei diesen Mitglied zu bleiben, abnimmt (vgl. Traxler 1999: 66í77; ähnlich Crouch 1994: 334). Nicht zufällig erfolgte die Gründung von Arbeitgeberverbänden erst, nachdem die Gewerkschaften entstanden waren (vgl. Traxler 1999: 70). Gerade (Groß-)Unternehmen verfügen über hinreichende (Macht-)Ressourcen, um ihre Eigeninteressen auch im Alleingang am Markt und gegenüber der Politik wirksam
I.6 Theorien und Empirie zur Analyse des kollektiven Handelns von Unternehmern
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durchsetzen zu können. Sie sind deshalb in der Lage, eine Sonderstellung im Verband zu fordern und durchzusetzen. Die außerordentliche Ressourcenausstattung verschafft den Unternehmen nicht nur eine strukturelle Vormachtstellung gegenüber den Arbeitnehmern, sondern auch einen Machtvorsprung gegenüber ihren eigenen Verbänden (vgl. Traxler 1999: 69í70). Dies zeigt sich bereits daran, dass es innerhalb der Unternehmensverbände eine Reihe von Sondermitgliedschaften selbst für kleinere Unternehmen gibt, die dadurch gekennzeichnet sind, dass diese Mitglieder von bestimmten Verpflichtungen, z. B. der Tarifbindung, befreit sind (vgl. z. B. bereits Windmuller 1986; zu aktuellen Tendenzen Abschnitt 7). Die besondere Durchschlagskraft der überlegenen Ressourcenausstattung beruht darauf, dass die private Kapitalakkumulation von allen Mitgliedern der Gesellschaft als notwendige Voraussetzung der Befriedigung ihrer materiellen Interessen anerkannt ist (vgl. Przeworski/Wallerstein 1982). Die Ressourcen, über die Unternehmen verfügen, erleichtern somit ihre Verbandsbildung nicht nur, sondern erschweren diese gleichermaßen wegen vorhandener Alternativen. Dieses Organisationsdilemma zwingt Unternehmensverbände, sich stärker an den Eigeninteressen ihrer Mitglieder auszurichten, um einen entsprechend hohen Organisationsgrad zu realisieren (vgl. Traxler 1999: 66). In Deutschland versucht die Unternehmensseite ihr spezifisches Problem bereits dadurch anzugehen, dass sie die rivalisierenden bzw. konkurrierenden Produktmarktinteressen in Wirtschaftsverbänden und die Arbeitsmarktinteressen separat in Arbeitgeberverbänden organisiert. Diese grundsätzliche Arbeitsteilung bzw. Bildung von homogeneren Teilgruppen innerhalb der Unternehmerschaft (Intraklassenperspektive) und vor allem die weitere interne Ausdifferenzierung der beiden Aufgabenbereiche in eine Vielzahl von kleineren bis kleinsten, hoch spezialisierten Verbänden bzw. homogenisierbaren Subgruppen erlaubt, dass auf jeder Ebene ein überschaubarer Kreis von Unternehmen bzw. Verbänden als Mitglieder auf der jeweiligen Organisationsstufe repräsentiert wird (Vorteil der kleinen Gruppengröße) (vgl. auch van Waarden 1991: 63). 11 Die entstandene komplexe Organisationsstruktur mit mehreren Ebenen und fachlichen wie regionalen Abgrenzungen impliziert umgekehrt, dass die Aggregation der Interessen der Teil- bzw. Subgruppen zu übergreifenden Interessen und die Koordination zwischen verschiedenen Organisationseinheiten zur zentralen inner- und interverbandlichen Aufgabe im gesamten Unternehmerlager wird. Je heterogener nun die Interessen der Mitglieder der Teil- bzw. Subgruppen im Verhältnis zum Zweck der jeweiligen Gesamtgruppe sind und je kleiner die Anzahl der Subgruppen ist, desto größer wird die Organisationsfähigkeit der aggregierten Organisationseinheiten sein. Mit zunehmender Größe der jeweiligen Organisationseinheiten müssen diese aber umso mehr selektive Anreize anbieten, um die Gruppen in der Mitgliedschaft halten zu können. Durch exklusive Serviceangebote gelingt es den Verbänden schließlich, mehr Eigenständigkeit gegenüber ihren í vor allem kleineren í Mitgliedsunternehmen zu erreichen. Da gerade die großen Unternehmen auch alleine agieren können, muss die wirtschaftliche Macht der Großunternehmen als bestimmende Einflussgröße in der innerverbandlichen Entscheidungsstruktur entsprechend reflektiert sein. Die Vormachtstellung der großen, ökonomisch wichtigeren Betriebe (sogenannte Verbandsoligarchie) zeigt sich sowohl im nicht selten nach der Unternehmensgröße differenzierten Stimmrecht in der Mitgliederversammlung als Legislative (vgl. Traxler 2006: 107) sowie in der Tatsache, dass sie im ehrenamtlich tätigen Vorstand überrepräsentiert sind (vgl. Keller 1999: 21; van Waarden 11
Die logische Stringenz der Argumentation erfordert, dass auf der Ebene von Sub- oder Teilgruppen natürlich auch wieder (jetzt: sub- oder teilgruppenspezifische) Kollektiv- und selektive Güter vorzufinden sind.
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1991: 76, 1992: 144í145). Da große Unternehmen ein höheres Interesse an der Erstellung der kollektiven Güter haben als kleinere, sind sie bereit, mehr Ressourcen, wie Geld, Zeit, Arbeitskraft, Expertenwissen und Informationen, für die Bereitstellung kollektiver Güter einzusetzen (vgl. van Waarden 1991: 73í76). Deshalb können die hauptamtlich tätigen Geschäftsführungen als Exekutive auch maßgeblich aus ihren Beiträgen finanziert werden. Um jedoch ein hohes Maß an Deckungsgleichheit zwischen der Verbandspolitik und den Interessen möglichst aller Mitglieder zu erreichen, so dass Legitimitätsprobleme verbandlichen Handelns minimiert werden, wurde einerseits die strikte Trennung zwischen politisch verantwortlichen ehrenamtlichen Vorstandsmitgliedern und weisungsgebundenen hauptamtlichen Geschäftsführern institutionalisiert (vgl. Schroeder/Silvia 2003: 257) (sogenanntes duales System der Repräsentation; vgl. Streeck 1972: 142; Schmitter/Streeck 1999: 22). Denn die Einsetzung von sachlich neutralen Außenstehenden in die professionell geführten Geschäftsleitungen stellt das nötige Vertrauen vor allem bei den Mitgliedern, aber auch bei Dritten sicher (vgl. van Waarden 1992: 154í155). 12 Andererseits gelingt die Vereinheitlichung der höchst heterogenen Interessen durch eine bewusste Entscheidungsdezentralisation, so dass fachlich begrenzte Sachfragen in engen, relativ homogenen Fachgruppen bzw. -ausschüssen und Unterausschüssen be- bzw. abgearbeitet werden (vgl. Keller 1999: 20). 13 Dennoch bestehen zwischen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden Unterschiede in der Organisationsstruktur: Während Arbeitgeberverbände in stärkerem Maße kollektive Güter erzeugen (insbesondere Tarifverhandlungen führen), realisieren Wirtschaftsverbände mittels (klassischem) Lobbyismus weit mehr differenzierte „selective benefits“ (über verschiedene Formen der Wirtschaftsförderung im weitesten Sinne) für ihre Mitglieder. Da die (Sonder-)Interessen der Einzelmitglieder durch verschiedene (hoch) spezialisierte Wirtschaftsverbände vertreten werden, bestehen vor allem bei ihnen nicht selten Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften. 14 Aufgrund des Mandats für den Abschluss von bindenden Verträgen mit den Gewerkschaften unterliegen hingegen die Partikularisierungstendenzen auf Seiten der Arbeitgeberverbände engeren Grenzen, als dies bei den Wirtschaftsverbänden der Fall ist. Dies spiegelt sich in der Organisationsstruktur wider: „Im Gegensatz zur tieferen fachlichen (Fein-)Gliederung der wirtschaftspolitischen Verbände findet unter dem Dach der sozialpolitischen Verbände eine Konzentration von Wirtschaftszweigen statt“ (Henneberger 2005: 386). Dennoch weisen die Spitzenverbände selbst der Arbeitgeber eine höhere Anzahl von Mitgliedsverbänden als die Gewerkschaften auf und ihre Verbandsdomänen sind umfassender als die der Gewerkschaften (vgl. Traxler 1991: 41). Zusammenfassend argumentiert können Unternehmen wegen ihrer überlegenen Ressourcenausstattung ihre Interessen auch im Alleingang verfolgen. Das gilt für große Unternehmen noch mehr als für kleine. Der insgesamt geringere Organisationsbedarf auf Unternehmensseite kann aber durch die Bildung eher kleinerer, partikularistisch orientierter Verbände berücksichtigt werden. Schließen sich wenige große Unternehmen mit vielen 12 13
14
Allerdings erreichte der Professionalisierungsgrad der Unternehmensverbände nie den der Gewerkschaften (vgl. van Waarden 1992: 156). Hingegen ist es für Gewerkschaften als zentral ausgerichtete Massenorganisationen mit oligarchischer Führungsstruktur und weitgehend gleicher Ressourcenausstattung der einzelnen Mitglieder einfacher und aufgrund von Skalenerträgen bei der Organisierung zudem kostengünstiger, die homogeneren Einzelinteressen zu vertreten. Dieser strategische Vorteil zeigt sich vor allem in den Tarifverhandlungen (vgl. Schroeder/Silvia 2003: 260). Zum prinzipiell integrativen Charakter von „overlapping membership“ vgl. Czada (1992: 61í63). Gerade größere Firmen sind nicht selten Mitglied mehrerer Verbände (vgl. van Waarden 1991: 66, 78).
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Beschäftigten zusammen, gelingt es ihnen sehr schnell, einen bedeutenden Verband aufzubauen. Aufgrund der größeren Heterogenität in der Ressourcenverteilung können sie den Organisationsvorteil der kleinen Gruppengröße nutzen (vgl. Olson 1965). Damit wird zwar die Gründung eines Verbandes zunächst prinzipiell erleichtert, 15 aufgrund der auch weiterhin größeren individuellen Handlungsfähigkeit im Vergleich zu den Einzelmitgliedern von Gewerkschaften bleibt es aber auch in der Folgezeit schwieriger, die Gruppe zusammenzuhalten und den Weiterbestand des jeweiligen Verbandes zu sichern. Dies gilt umso mehr, je größer die Gruppe wird, da es immer schwieriger wird, die spezifischen Interessen der heterogenen Mitglieder zu gemeinsamen Zielen zu verdichten (Frage der „logic of goal formation“) und diese auf deren Einhaltung zu verpflichten (Frage der „logic of effective implementation“). Für Unternehmensverbände stellt somit die Loyalitätssicherung das zentrale Problem im Kontext der Organisationsfähigkeit dar (vgl. Traxler 1999: 70). Arbeitnehmer verfügen umgekehrt nur über eine geringe Ressourcenausstattung. Sie sind damit zur Artikulation ihrer Interessen von vornherein auf einen Zusammenschluss angewiesen. Dabei müssen sie sich auf wenige basale Interessen einigen, sich also aus ihrer Interessenambivalenz befreien, um sich letztlich zu einer eher großen Gruppe zu formieren (vgl. Kittel 2003: 85). Wenngleich die geringere Kompetitivität unter den Arbeitnehmern (vgl. Schmitter/Streeck 1999: 14) die Mitgliederrekrutierung im Vergleich zu den Unternehmensverbänden erleichtert (vgl. Traxler 1999: 68) und solidarisches Handeln begünstigt, stellt diese für die Gewerkschaften im Kontext der Organisationsfähigkeit dennoch ein größeres Problem als die Loyalitätssicherung dar (vgl. Traxler 1999: 70). Die Multidimensionalität kollektiven Handelns impliziert somit, dass weder Unternehmensverbände noch Gewerkschaften über eine generell höhere Organisationsfähigkeit verfügen. Während Erstere zum Teil deutliche Vorteile beim Organisationsgrad aufweisen, ist es für Letztere leichter, die Interessen ihrer (potentiellen) Mitglieder zu generalisieren, diese zu gemeinsamen Zielen zu vereinheitlichen und deren Einhaltung seitens der Mitglieder auch sicherzustellen (vgl. Traxler/Schmitter 1994: 55í59). „Business associations may have different problems from trade unions; this does not necessarily imply that they function according to different logics of collective action” (van Waarden 1991: 78). 6
Ein Anwendungsbeispiel: zur Logik des kollektiven Handelns der Unternehmen in den neuen Bundesländern
Unternehmen schließen sich í wie oben gezeigt í zur Durchsetzung von kollektiven Interessen zusammen. Auch in den neuen Bundesländern (NBL) wurden Unternehmensverbände zunächst zum Zwecke der Versorgung mit öffentlichen Gütern gegründet (u. a. Unterstützung des Aufbaus eines privaten Unternehmertums durch Repräsentation der Unternehmensinteressen und Lobbyismus gegenüber den politischen Entscheidungsträgern) (vgl. hierzu und im Folgenden ausführlich Henneberger 1993). Der Beitritt zu den aus den alten Bundesländern transferierten Verbänden wurde in der Anfangsphase stark durch die Treuhandanstalt motiviert, in deren Obhut sich zum damaligen Zeitpunkt noch das Gros der Betriebe befand (Organisationshilfe seitens des Staates). Die fortschreitende Entlassung der Betriebe 15
Große Unternehmen weisen eine höhere Bereitschaft auf, Verbänden beizutreten (vgl. Traxler 1986), u. a. weil sie eine einheitliche und allgemeine Vertretung ihrer Interessen gegenüber Dritten í z. B. den Gewerkschaften oder dem Staat í für nötig halten (vgl. Keller 1999: 18í19).
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aus dem Treuhandbesitz ließ private Güter zur Existenzsicherung der sich im Aufbau befindenden Verbände zunehmend wichtiger werden. Der immense Beratungsbedarf des neu entstehenden privaten Unternehmertums signalisierte einen hohen Organisationsbedarf. Dies galt umso mehr, als ostdeutsche Firmen im Vergleich zu ihrer westdeutschen Konkurrenz nur eine geringe Ressourcenausstattung (Eigenkapitalschwäche) aufzuweisen hatten. Diese erschwerte zwar zum einen die Verbandsbildung (Problem der Organisationsfähigkeit), zum anderen aber auch die Möglichkeit, individuelle Interessen im Alleingang am Markt durchzusetzen. Die Integration der äußerst heterogenen Interessen der ostdeutschen Klientel wurde zur zentralen Herausforderung für das transferierte westdeutsche Unternehmensverbandssystem. Die stärkere Konzentration der Wirtschaftsverbände auf die Erzeugung selektiver Güter sichert ihnen bis heute einen vergleichsweise hohen Organisationsgrad. Arbeitgeberverbände erzeugen hingegen in stärkerem Maße kollektive Güter. Als Vertreter der Arbeitsmarktinteressen steht bei ihnen die Gegenmachtfunktion zu den Gewerkschaften im Vordergrund. Dies wird vor allem von den großen Unternehmen immer wieder betont (vgl. Schnabel 2005: 187). Bei geringer Verteilungsmasse ließ sich zwar leicht ein homogenes Interesse zumindest der meisten „originär“ ostdeutschen Unternehmen an niedrigen Lohnabschlüssen herausfiltern. Dieses Interesse wurde aber konterkariert, weil sich die westdeutschen Produktmarktinteressen durch die in den von beiden Tarifvertragsparteien „ferngesteuerten Stellvertreterverhandlungen“ (Henneberger 1993: 666) durchsetzten. Mehrjährige Tarifverträge mindern zwar Transaktionskosten und bieten í bei Einhaltung í die Grundlage für eine höhere Planungssicherheit in einer Situation unsicherer Entwicklungen. Solange allerdings die geringe Ressourcenausstattung eine Einhaltung der Tarifvereinbarungen nicht erlaubt, verkehrt sich dieses Kollektivgut in einer Intraorganisationsperspektive für einen Teil der Mitglieder in ein „collective bad“ (Kirsch 2004: 168). Insofern verwundert es nicht, dass durch die Verlagerung der Entscheidungskompetenz in die westdeutschen Verbandszentralen weitgehend mitgliederfreie Arbeitgeberverbände im Osten Deutschlands entstanden sind. Damit konnten die Unternehmen wenigstens die Mitgliedsbeiträge einsparen. An dieser Stelle wird deutlich, dass Organisationen nicht nur individuelle oder kollektive (subgruppenspezifische) Nutzen erzeugen, sondern dass gleichzeitig individuelle oder kollektive (subgruppenspezifische) Kosten auftauchen. Die Zusammenlegung individueller Ressourcen impliziert in jedem Fall (zum Modell der Ressourcenzusammenlegung allgemein vgl. z. B. Coleman 1979), dass über den Einsatz und die Verteilung des Ertrages der eingesetzten Ressourcen entschieden werden muss. Dass hieraus Verteilungskonflikte resultieren können, liegt auf der Hand (vgl. auch Keller 1992: 102í104). 7
Aktuelle Probleme der Arbeitgeberverbände
Eine wichtige Quelle für Interessenkonflikte innerhalb der Unternehmerschaft sind Unterschiede in der Firmengröße, die immer wieder Anlass zur Abwanderung von Subgruppen aus den Verbänden geben (vgl. auch van Waarden 1992: 146). Die Unzufriedenheit mit der von den Großunternehmen dominierten Tarifpolitik hat auch in Westdeutschland zunehmend zur Verbandsflucht und insbesondere zur Verbandsabstinenz der kleineren und mittleren sowie der neu gegründeten Betriebe geführt (vgl. z. B. Langer 1994; Ettl/Heikenroth 1996; Schroeder/Ruppert 1996; Lehmann 2002; Zimmer 2002), für die der Nutzen aus den Informations- und Beratungsleistungen offenbar die Kosten der Mitgliedschaft und die
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Kosten der „collective bads“ nicht mehr übersteigt. Während die großen Unternehmen sowohl in West- wie auch in Ostdeutschland nach wie vor regelmäßig verbandsgebunden sind, werden bzw. bleiben kleine und mittelgroße Betriebe (KMU) í in den neuen noch häufiger als in den alten Bundesländern (vgl. Brenke 2004) í nicht mehr Mitglied eines Arbeitgeberverbandes (vgl. Schroeder/Silvia 2003: 261í263). Daneben sind Dienstleistungsunternehmen traditionell ohnehin nur schwach in Arbeitgeberverbänden vertreten. Der ebenfalls sinkende Organisationsgrad der Gewerkschaften (vgl. Schnabel 2005: 185) lässt zudem die Gegnerpartnerschaft oder ein entsprechendes Klassenbewusstsein als Beitrittsmotiv selbst für Großunternehmen zunehmend fraglich erscheinen, was für ausländisch beherrschte, vor allem amerikanische, Unternehmen in besonderem Maße gilt. 16 Schwächere Gewerkschaften erlauben es den Arbeitgeberverbänden, weniger Ressourcen für Verhandlungen und potentielle Arbeitskampfmaßnahmen bereithalten und einsetzen zu müssen (vgl. Streeck/Visser 2006: 256). Die Arbeitgeberverbände reagieren auf die seit Beginn der 1990er Jahre schwindende Mitgliederrepräsentanz zum einen mit Forderungen nach dezentraleren, differenzierteren und flexibleren tariflichen Regelungsmustern, wie sie z. B. in den tarifvertraglichen Öffnungsklauseln zum Ausdruck kommen. Zum anderen findet eine erhebliche Variabilisierung der Verbandsmitgliedschaft statt: Neben unverbindlichen Gastmitgliedschaften wurden vor allem die Zulassung von Mitgliedschaften ohne Tarifbindung (sogenannte OT-Mitgliedschaften), die Gründung von eigenen Verbänden ohne Tarifbindung (sogenannte OT-Verbände) vor allem in den NBL und die Einführung von Sonderkündigungsrechten der Verbandsmitgliedschaft bis kurz vor Abschluss eines aus Sicht des einzelnen Unternehmens inakzeptablen Tarifvertrages forciert. Mit diesen Instrumenten gelingt es den Arbeitgeberverbänden, auf die zunehmend heterogenen Arbeitsmarktinteressen der Unternehmen stärker einzugehen. Diese Maßnahmen dienen einerseits der Organisationssicherung des Arbeitgeberlagers, indem den individuellen Bedürfnissen vor allem der KMU verstärkt Rechnung getragen wird. Die OT-Verbände haben sich zum neuen Vertretungsdomizil der KMU entwickelt (vgl. Haipeter/Schilling 2006: 37í38). Damit wird die ohnehin komplexe Organisationsstruktur der Unternehmen auf Arbeitgeberseite í ganz im Sinne der Olson’schen Erkenntnisse des Vorteils kleiner Gruppengrößen bei der Verbandsbildung í noch weiter ausdifferenziert. Auf diese Weise löst sich schließlich der Interessenkonflikt in der Tarifpolitik zwischen kleinen und großen Unternehmen auf. Indem die KMU Mitglieder eines Arbeitgeberverbandes bleiben, profitieren sie nach wie vor von dessen selektiven Angeboten, ohne allerdings die Kosten der Implementation zweifelhafter Kollektivgüter auf sich nehmen zu müssen. Dies garantiert den Verbänden weitgehend gleich bleibende Mitgliedsbeiträge und sichert ihre Organisationsfähigkeit. Da es sich bei einem Tarifvertrag um ein kollektives Gut mit Öffentlichem-Gut-Charakter handelt, können Unternehmen mit gespaltener Mitgliedschaft vom Gebrauch des Tarifvertrags mit seiner friedensstiftenden und normbildenden Kraft nicht ausgeschlossen werden; sie können ihn also anwenden, ohne alle Details der Regelung übernehmen zu müssen. Durch dieses legitimierte Trittbrettfahrerverhalten (zur Kritik vgl. Streeck/Rehder 2005: 75) gelingt es ihnen, sich von der von den Großunternehmen dominierten Tarifpolitik abzukoppeln. 17 16 17
Ausländisch beherrschte Unternehmen treten häufig erst dann den deutschen Unternehmensverbänden bei, wenn sie bereits lange in Deutschland wirtschaftlich tätig sind (vgl. Jacobi 2003: 26). Die Kritik an Olson, dass er das Ausmaß des Free-Rider-Verhaltens deutlich überschätzt (vgl. z. B. Keller 1988: 395), muss vor diesem Hintergrund zumindest für die Unternehmensseite neu beurteilt werden.
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Die implizierte Aufweichung der direkten Bindungswirkung der kollektiven (Un-) Güter erlaubt es nun selbst den ressourcenschwachen Betrieben, ihre Interessen unabhängig von den anderen und im begrenzten Alleingang am Markt durchzusetzen. Die großen Unternehmen behalten umgekehrt nicht nur weitgehend die Kontrolle über die Verteilung des Volkseinkommens zwischen Kapital und Arbeit, sondern können die Tarifflucht sogar als zusätzliches Druckmittel gegenüber den Gewerkschaften verwenden. Daher werden sie auch in Zukunft bereit sein, einen überproportionalen Beitrag zur Erhaltung der für sie besonders wichtigen Gegenmachtfunktion (vgl. Schnabel 2005: 187) zu leisten. Außerdem intensivieren sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberverbände ihre politische Einflussnahme auf für sie relevante Gesetzesvorhaben und richten ihre Verbandspolitik so í mittels eines klassischen Kollektivgutes í stärker an den (Klassen-)Interessen ihrer Mitglieder aus (vgl. auch Schnabel 2005: 193). 8
Resümee und Ausblick
Das Organisationshandeln von Interessengruppen wird immer von mindestens zwei Logiken beeinflusst (so bereits Child/Loveridge/Warner 1973): Der Mitgliederlogik, die vor allem von Olson thematisiert und analysiert wurde, und der Einflusslogik, die u. a. auf die Durchsetzung der Organisationsziele in Verhandlungssystemen ausgerichtet ist. Letztere wird vor allem von den Vertretern der (Neo-)Korporatismusforschung betont (vgl. z. B. Schmitter/Lehmbruch 1979; Lehmbruch/Schmitter 1982). Hierbei verfügen selbst die älteren Unternehmensverbände angesichts der im Vergleich zu den Gewerkschaften geringeren Verpflichtungsfähigkeit gegenüber ihren Mitgliedern nur über begrenzte Möglichkeiten, an korporatistischen Arrangements teilzunehmen (vgl. Schroeder/Silvia 2003: 248). Dies ist deshalb der Fall, weil in Verhandlungssystemen auch die kollektiven Interessen der anderen Organisationen und die übergreifenden Interessen der staatlichen Akteure berücksichtigt werden müssen, was häufig einen „generalisierten Tausch“ (vgl. Marin 1990) erfordert, bei dem partikulare Interessen zwangsläufig zurückgestellt und Mitgliederinteressen nicht unmittelbar, sondern allenfalls mittel- oder langfristig befriedigt werden. Die generelle Einflusskraft von Unternehmensverbänden kann also davon beeinträchtigt werden, dass sie í wie oben dargelegt í stärker als Gewerkschaften auf die Bedürfnisse ihrer Mitglieder eingehen und hierfür mehr Ressourcen einsetzen müssen (vgl. allgemein und aktuell Schneider/Grote 2006: 5). Die zunehmende Globalisierung bzw. Internationalisierung der nationalen Ökonomien und die Europäisierung bzw. Supranationalisierung von politischen Entscheidungen führt zu einer nochmaligen Heterogenisierung der Interessen auf Unternehmensseite und verschärft für die Verbände das Substitutionalitätsproblem zwischen der Mitgliedschafts- und der Einflusslogik. Denn eine zu starke Dominanz der Mitgliederlogik (Unternehmensautonomie) bzw. Ausrichtung an der Organisationsfähigkeit steht im Spannungsfeld zur Einflusslogik und damit der Fähigkeit, die Mitglieder zugunsten eines übergeordneten gesamtwirtschaftlichen Ziels zu verpflichten und strategischen Einfluss Dritten gegenüber auszuüben (vgl. Schroeder 2003: 651; Traxler 2006: 97, 105). Gerade multinationale Konzerne verfügen über immense Ressourcen, so dass es für die nach wie vor primär national ausgerichteten Unternehmensverbände ungleich schwieriger wird, deren Interessen auf Dauer zu integrieren bzw. diese zur Einhaltung der Verbandspolitik zu verpflichten (vgl. Streeck/Visser 2006: 257í259). Damit werden auch
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korporatistische Arrangements immer unwahrscheinlicher (vgl. Schneider/ Grote 2006: 7í8, 12). Große Unternehmen haben aufgrund ihrer überlegenen Ressourcenausstattung einen geringen Organisationsbedarf, aber offensichtlich ein hohes Bedürfnis nach der Produktion kollektiver Güter (vgl. ähnlich Streeck/Visser 2006: 257í258; Traxler 2006: 107). Sie nutzen über ihre Verbände informelle Netzwerke, um wirtschaftspolitischen Einfluss zu nehmen, und können über Verbandstarifverträge verhindern, dass sie sich mit unerwünschten Lohnforderungen via Haustarifverträge konfrontiert sehen. Aufgrund der größeren Ressourcen, die sie dem Verband bereitstellen, haben große Unternehmen einen stärkeren und direkteren Einfluss auf die kollektive Leistung, können somit den Vorteil der kleinen Gruppengröße in einer mächtigen Organisation nutzen. Kleine Unternehmen profitieren von der Bereitstellung selektiver Anreize durch die Verbände. Die Verbände wiederum haben ein Interesse an der Organisierung großer, vor allem auch multinationaler Unternehmen. In der Logik des kollektiven Handelns der Verbände bedeutet dies, dass nur eine weitere Auflockerung ihrer organisationalen Strukturen und die Zulassung nochmals differenzierterer Mitgliedschaftsregelungen den Verbleib der verschiedensten Unternehmensinteressen im Verbandssystem sichern kann. Eine solche Strategie schließt ein, dass großen Unternehmen erhebliche Sonderrechte zugestanden werden (vgl. Streeck/Visser 2006: 263, 269) und kleine Unternehmen neue, eigene Verbände(-schienen) gründen können, wie dies bereits in Frankreich und den Niederlanden zu beobachten ist (vgl. Streeck/Visser 2006: 268; auch van Waarden 1991: 63). Denn der Organisationsgrad der Unternehmerverbände hängt positiv zum einen von deren Fragmentierungsgrad und zum anderen vom Dezentralisierungsgrad der Entscheidungsfindung innerhalb der jeweils betrachteten (weitgehend) homogenen Gruppe ab. Während große Unternehmen durchaus erfolgreich direkten Lobbyismus z. B. auf der EU-Ebene betreiben können, haben kleine Firmen immerhin die Wahl „between having little influence in associations with much influence dominated by large firms, and having much influence in associations of only small firms that have only very little influence“ (Streeck/Visser 2006: 260). Insgesamt scheint die Unternehmensseite bessere Voraussetzungen als die Arbeitnehmerseite aufzuweisen bzw. entwickelt zu haben, um den tief greifenden Umweltveränderungen konstruktiv zu begegnen. In dem Maße, in dem kollektive Güter an Bedeutung verlieren, erzielen Organisationen, die sowohl individuell als auch kollektiv agieren können, also (größere) Unternehmen, einen zusätzlichen Freiheitsgrad in ihrem Handeln. Literatur Grundlegende Literatur Olson, Mancur (1965): The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups. Cambridge, MA/London: Harvard University Press. Offe, Claus/Wiesenthal, Helmut (1980): Two Logics of Collective Action. Theoretical Notes on Social Class and Organizational Form. In: Political Power and Social Theory, 1, S. 67í115. Schmitter, Philippe C./Streeck, Wolfgang (1999) [1981]: The Organization of Business Interests. Studying the Associative Action of Business in Advanced Industrial Societies. MPIfG Discussion Paper 99/1 (2nd Edition). Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung.
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Teil I: Geschichte und Funktionen der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
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Teil II Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Martin Behrens
1
Einführung
Es gibt wohl nur wenige Organisationen, die wie die deutschen Interessenorganisationen der Wirtschaft viele Aspekte ihrer Geschichte und Entstehung auch heute noch in Form von sedimentierten Organisationsstrukturen in sich tragen. Während sich z. B. im Bereich der Gewerkschaften durch eine beispiellose Fusionswelle in den 1990er und frühen 2000er Jahren gravierende Veränderungen der organisatorischen Strukturen und Abgrenzungen ergaben, 1 unterliegen Interessenorganisationen der Wirtschaft einer vergleichsweise großen Kontinuität. Bedeutende Veränderungen der Anzahl und Abgrenzungen der Verbände voneinander sind ausgeblieben. Auch der Rückgang der Zahl der Mitgliedsbetriebe (und ihrer Beschäftigten) war zwar in Branchen wie der Metallindustrie besonders schmerzhaft, bezogen auf die gesamte private Wirtschaft haben diese Mitgliederverluste die vergleichsweise dramatische Entwicklung im Bereich der Gewerkschaften jedoch nicht erreicht (Schnabel 2005). Dennoch konnte bislang auch bei den Arbeitgebern der generelle Trend zum Mitgliederrückgang nicht gebrochen werden. Zwar liegen für die Mehrzahl der Verbände keine belastbaren Angaben zur Anzahl der Mitglieder und deren Beschäftigten vor, jedoch lässt sich die Mitgliederentwicklung der Arbeitgeberverbände näherungsweise über die seit 1995 vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) erhobenen Angaben zur Bindung an einen Flächentarifvertrag ermitteln. Demnach ist in Westdeutschland der Prozentsatz der durch einen Flächentarifvertrag erfassten Beschäftigten von 72 % (1995) auf 56 % (2007) gesunken, wobei allerdings Großbetriebe nach wie vor zur treuen Anhängerschaft der Arbeitgeberverbände zu zählen sind. Die in diesem Abschnitt betrachteten Organisationsstrukturen bilden einen formalen Rahmen, in dem sich die Politik der Verbände manifestiert. Formale Strukturen determinieren zwar nicht die Art und Weise, wie sich Mitgliederinteressen in eine Politik der Interessenvertretung übersetzen lassen, sie schaffen aber „Leitplanken“, die festlegen, wie leicht oder schwer es bestimmten Interessen gemacht wird, Geltung zu erlangen und wirksam zu werden. Strukturen verarbeiten Interessen in vielfacher Weise: Sie selektieren, schließen aus, heben hervor, unterdrücken oder kombinieren diese (Schmitter/Streeck 1999: 46). Formale Strukturen, wie sie in Verbandssatzungen niedergelegt sind, definieren z. B. über die Vergabe von Stimmrechten die Kanäle zur Beeinflussung der Verbandspolitik, der 1
Im Zuge dieser Fusionen verringerte sich die Zahl der DGB-Mitgliedsgewerkschaften von 16 (1990) auf 8 (seit 2001). Bei den Mitgliedsverbänden der BDA lässt sich eine vergleichbare Reduktion der Verbändezahl während der letzten 20 Jahre nicht verbuchen. Hier setzte der Schwund jedoch bereits wesentlich früher ein. Zählte Kuczynski (1952: 257) noch im Jahr 1929 2.829 Unterverbände der 180 Hauptverbände im Organisationsbereich des Vereins der deutschen Arbeitgeberverbände, so kam es mit der Wiedergründung der Verbände in den späten 1940er Jahren zu einer Zusammenfassung der Arbeitgeberverbände in einer geringeren Zahl von Organisationen.
II.1 Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft
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Repräsentanz in den beschlussfassenden Gremien sowie der Bereitstellung finanzieller Ressourcen für die Verbandsarbeit. Im Folgenden wird daher der Frage nachgegangen, welchen Beitrag Verbandsstrukturen dazu leisten, Mitgliederinteressen so zu bearbeiten, dass sie einer kollektiven Vertretung zugeführt werden können. Von grundlegender Bedeutung für die Strukturierung von Interessenorganisationen der Wirtschaft erscheint hierbei die Unterscheidung zwischen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden. Arbeitgeberverbände werden in diesem Beitrag als Organisationen verstanden, die vornehmlich die arbeitsmarktseitigen Interessen der Wirtschaft vertreten, während Wirtschaftsverbände in der Hauptsache die produktmarktseitigen Interessen repräsentieren (Streeck 1991). Von der Dominanz arbeitsmarktseitiger Interessen innerhalb eines Verbandes ist dann auszugehen, wenn mindestens eines der drei folgenden Merkmale vorliegt: Der betreffende Verband führt selbst Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften durch, er koordiniert die Tarifpolitik seiner Mitglieder oder er vertritt diese in tripartistischen Gremien, die die kollektive Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der Beschäftigten zum Gegenstand haben (Behrens/Traxler 2004). In der Mehrzahl der europäischen Länder ist diese Unterscheidung von geringer Bedeutung, weil – zumindest auf der Ebene der Spitzenverbände – einer einheitlichen Vertretung von Produktmarkt- und Arbeitsmarktinteressen der Vorzug gegeben wird. In Deutschland hingegen werden diese beiden Interessensphären zumindest auf der Ebene der vier Spitzenverbände durch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), den Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und den Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) getrennt organisiert. Trotz vieler Berührungs- und Überschneidungspunkte (siehe Abschnitt 3) ergaben sich in der Vergangenheit insbesondere zwischen dem BDI und der BDA immer wieder Abgrenzungskonflikte, die aus der verbandlichen Trennung der Interessen oder, präziser, aus eben deren Scheitern resultierten. Neben diesem stark ausdifferenzierten „dualen“ System der Interessenvertretung in Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände haben sich aber auch eine Reihe von Organisationen etabliert, die unter dem Dach eines Verbandes beide Teilaspekte der organisierten Interessen der Wirtschaft in sogenannten „gemischten“ Verbänden integrieren. Derartige Strukturen finden sich in der Bauwirtschaft, aber auch in der Holz- und Kunststoffverarbeitung, Entsorgungswirtschaft und Papierverarbeitung. 2
Stand der Forschung
Die Struktur und Entwicklung der Interessenverbände der Wirtschaft erweist sich als eher sperriger Forschungsgegenstand, der für empirische Forschungen schwer zugänglich ist. Gleichwohl kam es immer wieder zu Wellen verstärkter Aufmerksamkeit für das Thema, die eine Reihe interessanter Studien hervorbrachten. Zu nennen ist hier zunächst die Studie Kesslers (1907), die neben dem Gründungskontext der Arbeitgeberverbände auch deren Strukturen zum Gegenstand hatte, sowie die Arbeit Suhrs (1924). Eine erste große Welle von Veröffentlichungen resultierte aus dem Forschungsvorhaben „Wirtschaftsverbände und Wirtschaftspolitik“, das 1960 vom Wirtschaftspolitischen Ausschuss der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Vereins für Socialpolitik aufgelegt wurde. Neben den in diesem Kontext entstandenen Studien von Schmölders (1965) und Leckebusch (1966) sind auch die Arbeiten von Adels (1969), Buchholz (1969) und Grochla (1959)
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
ewähnenswert. Waren die genannten Arbeiten noch zumeist darum bemüht, aus einer verdichteten Empirie heraus allgemeine Aussagen der Verbändeforschung zu formulieren, hatte eine spätere, zweite Welle der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbandsforschung eher die Überprüfung theoretischer Grundannahmen zum Ausgangspunkt. So lässt sich das Projekt „The Organization of Business Interests“ (OBI), das während der 1980er Jahre eine Reihe von empirischen Studien hervorbrachte (z. B. Schmitter/Streeck 1999, zuerst 1981; Rampelt 1979; Hilbert 1988; Weber 1987; van Waarden 1991), verstehen als eine gezielte Auseinandersetzung mit Mancur Olsons Theorie des kollektiven Handelns und deren Konfrontation mit der zunehmend dynamischer werdenden Debatte um den Neo- bzw. liberalen Korporatismus (siehe zusammenfassend Streeck 2006). Grundlegende Studien neueren Datums stammen zu einem beachtlichen Teil aus der Feder von ehemaligen Funktionären oder Mitarbeitern von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden (Mann 1994; Völkl 2001; Burgmer 1999), die sich nach Abschluss ihrer aktiven Laufbahn als professionelle InteressenvertreterInnen wissenschaftlich mit ihrem Arbeitsfeld auseinandersetzten. Wir verdanken diesen Grenzgängern zwischen Wissenschaft und Praxis zum Teil recht präzise Beobachtungen und Analysen der verbandlichen Praxis, wobei allerdings die Frage nach der kritischen Distanz zum Forschungsgegenstand, der immerhin auch Teil ihrer beruflichen Biografie ist, gelegentlich offen bleiben muss. 2.1 Neue politische Ökonomie und ihre Kritiker Wie kaum ein anderer Aspekt hat die Frage nach der spezifischen Form, die die Bündelung von Wirtschaftsinteressen annimmt, und den Konsequenzen, die sich daraus für die verbandliche Interessenvertretung ergeben, die wissenschaftliche Diskussion bestimmt. Ihren Ausgangspunkt fand die Debatte in Olsons Logik des kollektiven Handelns (Olson 1998), einem sehr grundlegenden theoretischen Zugriff, der allgemeine Bewegungsgesetze der Interessenwahrnehmung durch Organisationen zu formulieren suchte. Den Ausgangspunkt von Olsons Ansatz bildet die These, dass Organisationen nur dann in der Lage sind, Kollektivgüter bereitzustellen, wenn mindestens ein Mitglied derart große Vorteile aus der Mitgliedschaft zieht, dass es im Zweifel dazu bereit wäre, alle Organisationskosten allein zu schultern. Die Gründung von Organisationen basiert somit auf einem rationalen KostenNutzen-Kalkül der (potentiellen) Mitglieder, das im Resultat weit reichende Konsequenzen für die Strukturen solcher Organisationen hat. Nach Olson fiele es demnach leichter kleine Organisationen zu gründen als große, denn in kleinen Organisationen scheint es eher wahrscheinlich zu sein, dass sich ein Mitglied findet, das die „Zeche“ allein bezahlt und dennoch von der Mitgliedschaft profitiert. Ähnlich verhält es sich nach Olson mit der Frage der Heterogenität eines Verbandes. Je heterogener die Mitgliedschaft eines Verbandes ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer erfolgreichen Verbandsbildung kommt. Diese Annahmen wollte Olson für beinahe jede Form von Organisationen gelten lassen. Nicht zuletzt dieser Aspekt rief Kritiker auf den Plan. In ihrem fulminanten Gegenentwurf beklagten Offe und Wiesenthal (1980) die klassenpolitische Unterbelichtung von Olsons Ansatz. In ihrem Vergleich von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften zweifelten sie an, dass es eine universelle Logik des kollektiven Handelns gäbe, die auf beide Klassen gleichermaßen angewandt werden könne. Die Begründung dieser Kritik basiert nicht zuletzt auf der Beobachtung, dass abhängig Beschäftigte ihre Interessen überhaupt erst durch und
II.1 Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft
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mit Hilfe der Gewerkschaften konstituieren. So deutlich die Zurückweisung der Logik des kollektiven Handelns für den Bereich der Gewerkschaften ausfällt, bezogen auf die Arbeitgeberverbände fällt bei Offe und Wiesenthal die Loslösung von Olsons Ansatz eher verhalten aus. Diese Grundannahmen von Olson und seinen Kritikern lassen sich mit Traxler (1991: 41) auf den folgenden Nenner bringen. Erstens: Die Interessen einzelner Unternehmer und ihrer Beschäftigten lassen sich im vororganisatorischen Raum abstrakt definieren bzw. von der Struktur der Verbändesysteme ableiten. Zweitens ergeben sich durch die organisatorische Zusammenfassung dieser Interessen fachliche und räumliche Grenzen der Verbände (Unternehmerverbände und Gewerkschaften). Diese Konzeptionalisierung von Interessen hat Konsequenzen für die darauf aufbauende Verbandsstruktur, denn Verbandsgrenzen konstituieren eine verbandliche Domäne und definieren auf diese Weise den Grad der Verallgemeinerungsfähigkeit (encompassingness) dieser verbandlichen Interessenvertretung (Behrens/Helfen 2009). Zur Bestimmung dieser Verallgemeinerungsfähigkeit stehen zwei grundlegende Konzepte zur Verfügung. Zum einen wird mit dem Organisationsgrad (von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden) ein Maß verwendet, das den Anteil der verbandlich organisierten Interessen an ihren jeweiligen Gruppen zu definieren sucht (Offe/Wiesenthal 1980). Hierbei ist davon auszugehen, dass Verbände mit hohem Organisationsgrad eine größere Fähigkeit zur Verallgemeinerung besitzen als solche mit geringem Organisationsgrad. Zweitens wird darüber hinaus auch ein Maß für die zwischenverbandliche Interessenfragmentierung ins Spiel gebracht, die unabhängig vom Organisationsgrad zu bestimmen ist (Streeck 1991). Hierbei geht es um die Frage, durch wie viele verschiedene Verbände jeweils die Interessen von Beschäftigten und Unternehmen wahrgenommen werden. Gerade dieser zweite Aspekt ist für die Bestimmung einer „optimalen“ Struktur der Interessenvertretung in hohem Maße relevant. 2.2 Neokorporatismus Die Perspektive auf Unternehmerverbände als Instrumente zur Interessenaggregation wurde von den Vertretern der Tradition der Neokorporatismusdebatte grundsätzlich herausgefordert. Hier ist neben anderen zunächst die Epoche machende Arbeit von Schmitter und Streeck zu nennen (Schmitter/Streeck 1999). Durch die Differenzierung zwischen einer verbandlichen Mitgliedschaftslogik (logic of membership) auf der einen und Einflusslogik (logic of influence) auf der anderen Seite schien es möglich, die unterschiedlichen Wirkungen der unternehmerischen Ausgangsinteressen ebenso wie des gesellschaftlichen Kontextes und hierbei insbesondere des staatlichen Einflusses systematisch in die Betrachtung einzubeziehen. Die Mitgliedschaftslogik ist hierbei durch die Eigenschaften der Mitglieder (z. B. Branchenzugehörigkeit, Unternehmensgröße) selbst geprägt, wobei der konkreten Verfassung der Mitgliederinteressen und ihrer Interdependenz besondere Bedeutung zukommt. Die Einflusslogik sorgt für eine Politisierung der Verbände, die aus der Notwendigkeit abgeleitet wird, angemessenen Einfluss auf staatliche Stellen, aber auch auf Gewerkschaften ausüben zu können. Bezogen auf die Verbandsstrukturen, insbesondere auf die Frage der äußeren Verbandsdomäne, haben beide „Logiken“ einander entgegengesetzte Wirkungsrichtungen. So
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
argumentiert beispielsweise Hilbert (1988: 33 ff.), dass der Mitgliedschaftslogik eher ein segmentierender Einfluss zugesprochen werden kann, weil sich in dieser die unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedingungen der einzelnen Branchen ausdrücken. Allein mit dem Verweis auf die Mitgliedschaftslogik wäre ein „unkoordiniertes Nebeneinander verschiedener kleiner, aber hoch spezialisierter, Verbände“ wahrscheinlich (ebd.: 33). Anders verhalte sich dies mit Blick auf die Einflusslogik. Da möglichst umfassend und vollständig organisierte Teilbereiche bei Staat und Gewerkschaften eher Gehör finden als vergleichsweise fragmentierte Kleinverbände, gehe von der „logic of influence“ ein Anreiz zur Bildung mächtiger Großverbände aus. 2.3 Funktionalistische Verbandstheorie In seinem Vergleich metallindustrieller Arbeitgeberverbände in Großbritannien und Deutschland stellt Prigge (1987) systemtheoretische Bezüge her. Innerhalb eines solchen Rahmens konstituiert sich Verbandspolitik über die Interaktion zwischen der jeweiligen Organisation und ihrer Umwelt, die neben politischen Institutionen, konkurrierenden Verbänden und Unternehmen eben auch die eigene Mitgliedschaft umfasst (ebd.: 28). Im Gegensatz zu kontingenztheoretischen Annahmen spricht Prigge den Arbeitgeberverbänden einen beachtlichen Spielraum bei der Bearbeitung von Umwelteinflüssen zu. System und Umwelt verhalten sich in dieser Betrachtungsweise interdependent und nicht eindeutig deterministisch. Innerhalb eines solchen analytischen Rahmens werden dynamische Anpassungsprozesse am Beispiel von Gesamtmetall und seiner Regionalverbände näher untersucht. Demnach konstituieren sich Verbandsstrukturen als Resultat eines fortlaufenden „Hase-und-Igel-Spiels“ zwischen Gesamtmetall und IG Metall. Unter der Oberaufsicht eines „staatlich-rechtlichen Interventionismus“, der die Regeln und Grenzen des Spiels definiert, versucht Gesamtmetall die Interessen und Strategien seiner Regionalverbände auf eine Art und Weise zu koordinieren, die es dem eigenen Lager erlaubt, der vergleichsweise gut gebündelten Tarifmacht der IG Metall etwas entgegenzusetzen. Aus einer solchen Perspektive erweisen sich Integration und Koordination als zentrale Variablen der gewollten Strukturveränderung in Arbeitgeberverbänden. 2.4 Neopluralismus und die Rolle der innerverbandlichen Demokratie Untersuchungen in der Tradition des Neopluralismus rücken neben Fragen von Konflikt und Konsens, der Legitimierung von Vielfalt und der Idee des Gemeinwohls auch die demokratische Kontrolle in den Mittelpunkt der Betrachtung. In seiner Untersuchung des BDI schenkt Mann (1994) daher folgerichtig Fragen der innerverbandlichen Demokratie besondere Aufmerksamkeit. Einen Referenzpunkt bildet hierbei Michels’ Theorem, dass Großorganisationen eine Tendenz zur Oligarchisierung inhärent sei (Michels 1989). In seiner Analyse des BDI bestreitet Mann zwar Michels’ Oligarchisierungsthese nicht grundsätzlich, geht aber von zwei Gegentendenzen aus. Erstens seien die Mitglieder weiterhin am Fortbestehen ihres eigenen Autonomiespielraums gegenüber der Organisation interessiert. Zweitens müsse sich der Verband gegenüber seiner Umwelt legitimieren, wobei Legitimität eine Authentizität der verbandlichen Interaktionen voraussetze (Mann 1994: 55í76).
II.1 Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft 3
153
Grundlegende Strukturmerkmale der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Im Folgenden werden zentrale Strukturmerkmale der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände nachgezeichnet. 3.1 Die selektive Trennung von Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden Wie in Abschnitt 1 eingeführt, erweist sich die Trennung zwischen Wirtschafts-, Arbeitgeber-, Mischverbänden und Kammern als eine zentrale Unterscheidungsebene organisierter Interessen der deutschen Wirtschaft. Dass diese Unterscheidung nicht nur analytisch, sondern auch organisationsstrukturell von großer Bedeutung ist, zeigt sich am Beispiel der Strukturierung der nationalen Spitzenverbände. Während die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände als Spitzenorganisation der Arbeitgeberverbände fungiert, tritt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) als Spitzenorganisation der produktbezogenen Interessen der Wirtschaft auf. Auf den zweiten Blick jedoch erweisen sich diese Demarkationslinien als brüchig. Hierfür gibt es im Wesentlichen drei Gründe. Zunächst einmal fungieren – wie eingangs bereits ausgeführt – eine Reihe von Mitgliedsverbänden als Mischverbände, die die Funktion des Wirtschafts- und Arbeitgeberverbandes in einem Verband vereinigen. Zweitens bietet im Bereich der BDA die Überlagerung zweier Strukturmerkmale, der fachlichen und regionalen Gliederung, Raum für multiple Überlappungen mit dem BDI, der schließlich drittens durch seine Konzentration auf den Bereich der Industrie dafür sorgt, dass weite Teile des Dienstleistungsbereichs aus seiner Domäne der Interessenvertretung ausgeklammert bleiben und sich nach alternativen Wegen der Vertretung ihrer produktmarktseitigen Interessen umsehen. Innerhalb der Fachstruktur organisiert die BDA zurzeit 56 (Stand: August 2009) Fachspitzenverbände aus allen Wirtschaftsbereichen. Die Mehrzahl dieser Verbände sind selbst wiederum Verbände zweiter oder dritter Ordnung, weil sie andere Verbände als Mitglieder haben. Neben dieser Struktur bestehen als zweite Säule der Bundesvereinigung 14 Landesverbände, die zumeist auf der Ebene eines Bundeslandes angesiedelt wurden. Während nun im Bereich der Fachstruktur nahezu ausnahmslos reine Arbeitgeber- oder Mischverbände als Mitglieder aufgenommen werden, werden in den Landesverbänden neben diesen auch eine Reihe reiner Wirtschaftsverbände als Mitglieder geführt. Diese Tendenz zur Aufweichung von Abgrenzungslinien wird in einer Mehrzahl von Bundesländern (Ausnahmen sind Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hamburg) noch dadurch verstärkt, dass die dortigen Landesverbände sowohl die BDA- als auch die BDI-Mitgliedschaft innerhalb einer einheitlichen Organisation vertreten (Zimmer 2002: 147). Insgesamt gestattet die BDA vielfache Ausprägungen von Quer- und Mehrfachmitgliedschaften, ohne ihren Mitgliedsverbänden im Detail bestimmte Mitgliedschaftsmuster vorschreiben zu wollen. So werden durch die fachliche Struktur zunächst nahezu 500 Spitzenverbände und zugleich Mitgliedsverbände eben jener Spitzenverbände vertreten. Viele dieser Mitgliedsverbände, insbesondere wenn sie nach einem regionalen Gliederungsprinzip gebildet wurden, sind außerdem noch Mitglied im jeweils zuständigen Landesverband der BDA. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Arbeitgeber- und Mischverbänden, die sich der BDA nicht über die fachliche Ebene, sondern ausschließlich über ihre Mitgliedschaft in einem Landesverband angeschlossen haben. Reine Wirtschaftsverbände aus der
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Industrie und dem Dienstleistungssektor finden sich in großer Zahl in den BDALandesverbänden. Insbesondere der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) sowie der Verband der Chemischen Industrie (VCI) sind mit ihren jeweiligen Regionalgliederungen in einer ganzen Reihe von BDA-Landesverbänden vertreten. Insgesamt sind der BDA – direkt als Fachspitzenverband oder als Mitglied eines Landesverbandes oder indirekt über ihre Mitgliedschaft in einem dieser Fachspitzenverbände – 750 Arbeitgeber-, Wirtschafts- und Mischverbände angeschlossen (Stand Januar 2006). Im Vergleich zur BDA erweist sich die Vertretungsstruktur des BDI als weniger komplex. Dem Verband gehören insgesamt 36 Mitgliedsverbände aus dem Bereich der Industrie und industrienaher Dienstleistungen an, denen wiederum etwa 370 Mitgliedsorganisationen angeschlossen sind (Stand: September 2009). 2 Reine Arbeitgeberverbände finden sich hier nicht, jedoch sind 11 der 36 BDI-Mitgliedsverbände Mischverbände. Zudem unterhält der BDI 15 Landesvertretungen (nebst Auslandsbüros in Brüssel, London, Washington und Tokio), die zumeist von einem der Mitgliedsverbände wahrgenommen werden; diese bieten aber keine eigene Mitgliedschaft an. Trotz des vielfachen Durchbrechens des Grundprinzips hat sich in der Praxis diese strukturell verfestigte Trennung zwischen produktmarktseitigen und arbeitsmarktbezogenen Interessen der Wirtschaft auf der Spitzenebene als recht stabil, wenn auch nicht immer konfliktfrei erwiesen. Zwar konzentriert sich der BDI auf die Felder Steuer, Umwelt, Energie- und Innovationspolitik, während der BDA die Führerschaft auf den Feldern Arbeitsmarkt-, Sozialund Tarifpolitik zugesprochen wird. Übergriffe auf die jeweils anderen Kompetenzfelder waren aber in der Nachkriegsgeschichte beider Verbände eher die Regel als die Ausnahme. Während die BDA z. B. Ende der 1980er Jahre volkswirtschaftliche Grundsatzfragen bearbeitete, konterte der BDI mit der Gründung einer Abteilung „Sozial- und Gesellschaftspolitik“. Um Reibungsverluste zu vermeiden, Kosten zu senken und die Durchsetzungskraft der Interessenverbände zu erhöhen, wurde eine engere Verflechtung bis hin zur Fusion beider Verbände diskutiert. Konnten in diesem Bereich noch Ende der 1970er Jahre Fortschritte verbucht werden, die unter anderem in der Wahrnehmung einer „Doppelpräsidentschaft“ durch Hans-Martin Schleyer mündeten, so war dieses Experiment mit der Ermordung Schleyers zunächst gescheitert. Auch spätere Fusionspläne erwiesen sich bislang als nicht erfolgreich. Zu groß war die Befürchtung, dass mit einem weiteren Zusammenrücken von BDI und BDA die Dominanz der industriellen Interessen weiter verstärkt und somit der nichtindustrielle Bereich der Bundesvereinigung marginalisiert werden würde (Mann 1994: 91). Trotz dieser Bedenken erleben Fusionsdebatten regelmäßig dann eine Neuauflage, wenn es darum geht, die Position der Hauptgeschäftsführung neu zu besetzen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Spitzenverbände kaum von den ihnen angeschlossenen Mitgliedsverbänden. 3.2 Vertikale Differenzierung: Multiebenenverbände Während sich die Binnenstruktur der Mitgliedsverbände des BDI noch als vergleichsweise übersichtlich erweist, kommen in den Reihen der BDA-Mitglieder die unterschiedlichsten 2
Die Anzahl der Mitgliedsorganisationen wurde anhand des Organisationsplans des BDI (Ausgabe 2009) ermittelt. Da aus dem Plan nicht eindeutig hervorgeht, ob die dort aufgeführten Bezirksgruppen und Geschäftsstellen über eine eigene Rechtspersönlichkeit verfügen, ist die genannte Anzahl nur als Orientierungsgröße anzusehen.
II.1 Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft
155
Strukturprinzipien zum Tragen. So finden sich auf der Ebene der 56 Fachspitzenverbände neben einer Vielzahl von „Verbänden von Verbänden“ (also solchen zweiter oder dritter Ordnung) auch Organisationen, die direkt einzelne Unternehmen als Mitglieder repräsentieren, wie z. B. der Deutsche Braunkohlen Industrieverband oder der Deutsche Bühnenverein. Von den Verbänden zweiter oder dritter Ordnung wiederum organisieren einige ihre Mitgliedsverbände nach dem Regionalprinzip, andere nach dem Fachprinzip. Gesamtmetall z. B. stellt einen typischen Fall des Regionalprinzips dar, wobei Mitgliedsverbände auf der Ebene einzelner Bundesländer gebildet wurden. Andere Verbände wie z. B. die Sozialpolitische Arbeitsgemeinschaft Steine und Erden organisieren fachspezifische Mitgliedsverbände, deren räumlicher Zuständigkeitsbereich häufig die gesamte Bundesrepublik umfasst. Mischformen, also die gleichzeitige Existenz einer fachlichen Verbandsebene neben der räumlichen Gliederung, sind auch weit verbreitet. So repräsentiert beispielsweise die Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss e. V. (ANG) neun Landesverbände und vier Bundesfachverbände (beispielsweise für Süßwaren, Stärke und Zucker, Stand: August 2009). Im Bereich des regionalen Gliederungsprinzips ergeben sich weitere Besonderheiten. So verfügen die meisten regional gegliederten Verbände für das Land Nordrhein-Westfalen über eine regionale Unterstruktur, die bis tief in die einzelnen Regionen hineinreicht. Metall NRW verfügt beispielsweise über 26 Regionalverbände (Stand: August 2009), die mit anderen Branchen gemeinsame Regionalbüros und fachübergreifende Regionalverbände unterhalten. Von wachsender Bedeutung sind auch branchenübergreifende Regionalverbände, von denen sich viele der Bundesvereinigung über eine Mitgliedschaft auf Landesebene angeschlossen haben. Insbesondere in Ostdeutschland als einer Region mit vergleichsweise geringer Verbandsdichte sind branchenübergreifende Verbände in der Form „allgemeiner Arbeitgeberverbände“ weit verbreitet (Artus 2001: 122). Diese Verbände lehnen die Bindung an einen Flächentarifvertrag bewusst ab, fungieren aber dennoch als Arbeitgeberverbände, indem sie ihren Mitgliedsunternehmen die gesamte Palette der Dienstleistungen eines Arbeitgeberverbandes offerieren. So bietet beispielsweise der Allgemeine Arbeitgeberverband Thüringen e. V. seinen Mitgliedern eine Beratung in tarifpolitischen Fragen, bei der Gestaltung von Arbeitsverträgen und bei der Erarbeitung von Arbeitszeitmodellen an, schließt selbst jedoch keine Verbandstarifverträge ab. Als von besonderer Brisanz erweist sich hierbei, dass in Ostdeutschland einige Fachverbände (z. B. der Metallindustrie) dazu übergegangen sind, tariflich ungebundene Satellitenverbände zu gründen, die ihre Türen auch für Unternehmen anderer Branchen geöffnet haben (Schroeder 2000: 252í253). 3.3 Strukturen der Konfliktbewältigung und -verarbeitung Viele Verbände halten eine Reihe von formalisierten Instrumenten zur Konfliktbearbeitung und Konfliktverarbeitung bereit. Während sich die Instrumente der Bewältigung von Konflikten mit der organisationsexternen Umwelt zumeist auf tarifliche Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften beziehen und somit bei Arbeitgeber- oder Mischverbänden anzutreffen sind, finden sich Instrumente zum verbandsinternen Handling von Konflikten zwischen Mitgliedern und Verband bzw. unter Mitgliedern auch in reinen Wirtschaftsverbänden. Die Instrumente der externen Konfliktaustragung des Gesamtverbandes sind quasi konstitutiv für den Arbeitgeberverband und eng mit seiner Tariffunktion verknüpft. In sei-
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
ner Rolle als Selbsthilfeverband gehört die finanzielle Unterstützung der Mitglieder bei Arbeitskämpfen zu den historisch ältesten Aufgaben der Arbeitgeberverbände und fand ihren Ausdruck in der Gründung von „Streikversicherungen“ und „Streikentschädigungsgesellschaften“ (Müller-Jentsch 1997: 169). Bereits 1956 beschloss die Mitgliederversammlung der BDA die Einrichtung von Unterstützungsfonds bei allen Tarifträgerverbänden (Simon 1976: 114). Mit Hilfe solcher Fonds sollen die Unternehmen bei Arbeitskämpfen durch materielle Unterstützung und finanzielle Bindung zu solidarischem Handeln bewegt werden. Die Unterstützungsfonds stellen hierbei die unterste Ebene in einer Hierarchie von Arbeitskampffonds dar und wurden bei den einzelnen Tarifträgerverbänden eingerichtet. Fonds werden, zumeist analog den Vorschriften zur Beitragserhebung, über einen Promillesatz der jeweiligen Berechnungsgrundlage durch die einzelnen Mitgliedsunternehmen gespeist. Auszahlungen von Unterstützungszahlungen orientieren sich an den beim Unternehmen ausgefallenen Lohn- und Gehaltssummen (Gleixner 1981: 429). Die einzelnen Unterstützungsfonds sind auf der Ebene der jeweiligen Fachspitzenverbände zu einer Gefahrengemeinschaft zusammengeschlossen, die durch die einzelnen Mitgliedsunternehmen mit finanziellen Mitteln ausgestattet wird. Laut Gleixner (1980: 51) bestanden bis 1979 solche Gefahrengemeinschaften in den Industriebranchen Metall, Chemie, Textil und Bekleidung, Kautschuk, Papiererzeugung und -verarbeitung, Bau und Druck. Zwar finden sich zu diesem Thema keine aktuelleren Studien, jedoch deuten entsprechende Hinweise in Satzungen und Geschäftsberichten einzelner Verbände darauf hin, dass auch heute noch eine Vielzahl solcher Gefahrengemeinschaften besteht. Als dritte Ebene wurde eine Schutzgemeinschaft als Zusammenschluss der einzelnen Gefahrengemeinschaften gebildet. Diese Wirtschaftszweige übergreifende Schutzgemeinschaft wird durch das BDA-Referat Lohn- und Tarifpolitik betreut, ihr gehören aber auch Mitgliedsverbände des BDI an. Zweck der Schutzgemeinschaft ist es, Unterstützung bei Konflikten zu leisten, die über den Bereich des einzelnen Tarifträgerverbandes hinausgehen. Zwar gilt für alle drei Arbeitskampfkassen das Subsidiaritätsprinzip, wobei im Falle eines Streiks oder einer Aussperrung Zahlungen zunächst einmal aus dem Unterstützungsfonds zu leisten sind. Bei Arbeitskämpfen, die für das gesamte Fachgebiet bedeutsam sind, findet jedoch ein Ausgleich auf der Ebene der Gefahrengemeinschaft statt. Die Schutzgemeinschaft tritt dann ein, wenn auch dieser Rahmen überschritten wird (Gleixner 1980: 51). Manche Autoren sahen in der Schutzgemeinschaft vornehmlich ein innerverbandliches Disziplinierungsinstrument, denn Zahlungen an vom Streik betroffene Unternehmen erfolgen nur dann, wenn sich diese während der gesamten Dauer eines Streiks der Verbandsdisziplin unterordnen (Dzielak et al. 1978: 395). Jenseits der Frage nach der Einschränkung der Autonomie kleinerer Tarifverbände erlaubt es die Schutzgemeinschaft der BDA allerdings auch, den Konflikt um tarifliche Präzedenzfälle gezielt zu steuern, und erhöht somit die politische Manövrierfähigkeit der Bundesvereinigung. So erfolgte beispielsweise die Aufnahme des Arbeitgeberverbandes Eisen und Stahlindustrie in die Schutzgemeinschaft im Jahre 1979 als eine Art nachträgliche Belohnung für deren erfolgreichen Widerstand gegen die Einführung der 35-Stunden-Woche. Letztlich ließ sich die Schutzgemeinschaft dies 60 Millionen DM kosten. In ähnlicher Weise wurde mit der Aufnahme des Bundesverbandes Druck im Jahre 1976 dessen beharrliches Eintreten für die „Lohnleitlinie“ der BDA unterstützt. Der Aufnahme folgten Unterstützungszahlungen, durch die die durch die Gefahrengemeinschaft der Druckindustrie gewährte Kompensation von 30 % der ausgefallenen Lohn- und Gehaltssumme auf 90 % aufgestockt werden konnte (Gleixner 1980: 53).
II.1 Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft
157
Mit der abnehmenden Häufigkeit und Intensität von Arbeitskämpfen, was sich insbesondere durch geradezu kollabierende Aussperrungsaktivitäten ausdrückt (Schroeder/Silvia 2003: 264), dürfte auch der Bedarf an kollektiven Unterstützungsfonds zurückgegangen sein. Dennoch gibt es bis zum heutigen Tag in vielen Branchen aktive Gefahrengemeinschaften wie z. B. die „Arbeitskampf Gefahrengemeinschaft der bauindustriellen Landesverbände“ und die „Gefahrengemeinschaft der Metallindustrie des Bundesgebietes“, aber auch entsprechende Zusammenschlüsse im Bereich Druck und Medien sowie in der Holz und Kunststoffe verarbeitenden Industrie. Eine Reihe von Verbänden bieten besondere Gremien und/oder formalisierte Prozeduren zur Schlichtung von Konflikten zwischen Mitgliedern und Verband, aber auch von Mitgliedern untereinander an. Solche Gremien firmieren als Schiedsgerichte, Ehrengerichte, Ehrenräte, Wettbewerbskommissionen, Verbandsgerichte oder Ältestenräte und sind in beinahe einem Drittel der untersuchten Verbände vorhanden. Wie die folgende Tabelle zeigt, sind Schiedsgerichte im Bereich des Baus besonders weit und im Bereich Landwirtschaft und Bergbau besonders gering verbreitet. Tabelle 1: Verbände mit Schiedsgericht nach Branchen (n = 449) Gesamt (n = 449)
Handwerk (n = 30)
Industrie (n = 171)
Dienstleistungen (n = 152)
Bergbau (n = 14)
Bauindustrie (n = 38)
26,9 %
10 %
32,3 %
28,3 %
7,1 %
39,5 %
LandwirtMehrbranschaft chenverbände (n = 25) (n = 19) 4%
15,8 %
Quelle: eigene Erhebung auf Basis der WSI-Datenbank der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände (2006).
Die genauen Kompetenzen und Durchgriffsmöglichkeiten dieser Schiedsgerichte variieren in der Praxis sehr stark, sollten aber im Bereich der Verbände mit überwiegend kleinbetrieblich strukturierter Mitgliedschaft nicht unterschätzt werden. Schiedsgerichte basieren oft auf besonderen Schiedsgerichtsordnungen, die Teil der Satzung sind, und orientieren sich in ihrer Technik der Rechtsfindung an der Zivilprozessordnung. In einigen Verbänden gibt es neben den Schiedsgerichten beim Basisverband erster Ordnung eine weitere Berufungsinstanz beim Fachspitzenverband. Schiedsgerichtsverfahren finden für die durch die Schiedsgerichtsordnung bestimmten Konfliktfelder und unter Ausschluss des Rechtsweges statt, dass heißt, solche „Privatgerichte“ bilden das Kernstück einer autonomen eigenen Verbandsgerichtsbarkeit, die unabhängig vom öffentlichen Gerichtswesen etabliert wurde. Insbesondere bei der Feststellung eines Fehlverhaltens eines Mitglieds gegenüber dem Verband sind einige Schiedsgerichte mit fein gradierten Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet. So verfügt beispielsweise das Verbandsgericht (Tarifgericht) beim Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE) über die Möglichkeit, im Falle von Verstößen gegen tarifpolitische Koordinierungsbeschlüsse Geldbußen zu verhängen, den Verlust von Ehrenämtern zu beschließen, Rügen auszusprechen oder das Stimmrecht in verschiedenen Verbandsgremien zu suspendieren. 3.4 Vorfeldorganisationen Vorfeldorganisationen sind in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Erstens eröffnen sie den Verbänden einen weiteren Manövrierspielraum, der es ihnen ermöglicht, bestimmte Akti-
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
vitäten flexibler und ohne Rücksicht auf die etablierten Entscheidungsstrukturen zu steuern. Zweitens dienen formal verselbständigte Unterorganisationen den Verbänden schlichtweg dazu, einem sonst drohenden Verlust der Steuerbefreiung entgegenzuwirken (Rampelt 1979: 74). Insbesondere größere und finanzstarke Verbände gliedern besondere Tätigkeiten und Funktionen in Vorfeld- oder Nebenorganisationen aus. Solche Organisationen werden zum Teil in der Rechtsform einer GmbH geführt. Weiter verbreitet sind hierbei insbesondere Bildungswerke, die besondere Dienstleistungen im Bereich der beruflichen Erstausbildung, aber auch der Weiterbildung anbieten. Zur Förderung des Produktabsatzes sind einige Verbände dazu übergegangen, Markenverbände zu gründen, die die Produkte der Branche bewerben, aber auch helfen sollen, allgemeine Qualitätsstandards für die angebotenen Güter und Dienstleistungen am Markt zu etablieren. In eine ähnliche Richtung gehen Nebenorganisationen, die mit der Vergabe von Verbandslabels oder Gütesiegeln beauftragt sind. Die Bedingungen für die Vergabe solcher Gütesiegel werden oftmals in besonderen Nebensatzungen festgelegt und an die Einhaltung von Qualitätskriterien geknüpft. Während das Lobbying und die Öffentlichkeitsarbeit seit Langem zu den Kernbereichen der Tätigkeit von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden gehören, die als integraler Bestandsteil der direkten Verbandsarbeit definiert werden, kam es mit der Gründung der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) im Jahre 2000 zu einer bedeutsamen Ergänzung der Arbeitgeberstrategie. Die Initiative wird im Wesentlichen von den Arbeitgeberverbänden der Metallindustrie getragen und von diesen mit jährlich 8,8 Millionen Euro Finanzmitteln ausgestattet. Ziel der Initiative ist es, den politischen Diskurs im Bereich der Wirtschaft und des Sozialstaates im Sinne der Verbände zu beeinflussen und durch die Unterstützung anerkannter Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft meinungsbildend tätig zu sein. Ausgenommen von der breiten Themenpalette der INSM sind lediglich Themen der Tarifpolitik. Von der Auslagerung dieser Funktion in einen unabhängig von den Verbänden geführten modernen Thinktank versprechen sich diese offenbar eine bessere Resonanz in den Medien und der allgemeinen Öffentlichkeit, aber auch eine im Vergleich zur eigenen Öffentlichkeitsarbeit größere Flexibilität bei der Bearbeitung gesellschaftlicher Themenfelder (vgl. Speth in diesem Band). 4
Strukturen der Konstitution verbandlicher Politik
4.1 Stimmrechte und Partizipationsmöglichkeiten Im Bereich der Partizipation und der demokratischen Teilhabe von Mitgliedern schlägt Organisationen im Allgemeinen und Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden im Besonderen ein gerüttelt Maß an Skepsis entgegen. In Anlehnung an Michels’ Theorie der Oligarchisierungstendenzen in größeren Verbänden ist die vorherrschende Stellung der Verbandsführung bzw. die daraus resultierende subalterne Rolle der Mitgliedschaft als regelhaft unterstellt worden (siehe Braunthal 1965; kritisch: Mann 1994). Insbesondere die ökonomische Macht einiger weniger Großkonzerne sorge dafür, dass die demokratische Teilhabe der breiten Mitgliedschaft auf ein (gesetzlich notwendiges) Mindestmaß reduziert worden sei. So gelangt Walter Simon für den Bereich der Arbeitgeberverbände zu dem Schluss, dass insbesondere die Mitgliederversammlung als höchstes beschlussfassendes
II.1 Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft
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Organ wenig mehr sei als eine Alibiveranstaltung und letztlich „(…) für die Willensbildung in den Unternehmerverbänden ohne große Bedeutung (…)“ (Simon 1976: 86). Zwar liegt Simon sicherlich richtig, wenn er auf die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen der Formal- und der Realstruktur der innerverbandlichen Teilhabe verweist, jedoch verkennt die pauschale Abqualifizierung formaler Partizipationsstrukturen als „Alibiveranstaltung“ deren Bedeutung als ein durchaus effektiver Vetopunkt der innerverbandlichen Auseinandersetzung und Willensbildung. Selbst dann, wenn sich Mitgliederversammlungen regelmäßig als wenig kontroverse und träge Veranstaltungen erweisen, bleiben entscheidende Weichenstellungen wie die Verabschiedung des Budgets, die Festsetzung der Beiträge, die Wahl von Vorständen und Präsidien in der Zuständigkeit der Mitgliederversammlung. Auch ist die Mitgliederversammlung als das zunächst letzte Glied einer vorgelagerten eher informellen Kommunikationskette zu sehen, in der mögliche Konflikte bereits „kleingearbeitet“ und somit gelöst werden. Letztlich kommt daher auch eine noch so oligarchische Verbandsführung nicht umhin, sich zumindest punktuell der Unterstützung durch eine Mehrheit der Mitglieder bzw. Delegierten zu vergewissern. Insofern kommt es bei solchen formalen Vetopunkten nicht allein darauf an, ob regelmäßig ein Veto eingelegt wird. Von Bedeutung ist schon allein das Droh- und Disziplinierungspotential, das von der formalen Durchsetzungsmöglichkeit abweichender Interessen ausgeht. Inwieweit Verbände solche Vetopunkte zulassen, hängt im Wesentlichen von der satzungsmäßigen Regelung der Stimmrechte ab. In Tabelle 2 sind daher die in den Verbandssatzungen niedergelegten Stimmrechte für insgesamt 393 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände dargelegt. Tabelle 2: Regelung des Stimmrechts in Arbeitsgeber- und Wirtschaftsverbänden Stimmrechtsregelung
Verbände erster Ordnung (n = 393)
Verbände von Verbänden (n = 52)
In Prozent (Fallzahl) Ohne Regelung in der Satzung
2,3 (9)
–
64,4 (253)
17,3 (9)
Stimmrecht nach Beitragssumme
5,9 (23)
23,1 (12)
… nach Umsatz
1,3 (5)
5,8 (3)
… nach Beschäftigtenzahl
5,1 (20)
7,7 (4)
… nach Anzahl der Mitglieder/Mitgliedsbetriebe
11,7 (46)
34,6 (18)
Eine Stimme pro Mitglied
Gewichtetes Stimmrecht auf Fallbasis (nach besonderem Beschluss)
3,1 (12)
–
Sonstige
6,4 (25)
11,5 (6)
Quelle: eigene Erhebung auf Basis der WSI-Datenbank der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände (2006).
Im Unterschied zu bisherigen Forschungen aus dem Bereich der Metallverbände überrascht zunächst, dass die Mehrheit der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände das Prinzip „eine Stimme pro Mitglied“ anwendet. Bei immerhin 64 % der untersuchten Verbände erster Ordnung wird bewusst darauf verzichtet, die Größe oder ökonomische Leistungsfähigkeit der Mitgliedsunternehmen zum Maß ihrer formalen Teilhabemöglichkeiten zu machen. Eine weitere vergleichsweise egalitäre Kategorie stellt das Stimmrecht nach der Anzahl der Mitglieder/Mitgliedsbetriebe dar. Dieses kommt insbesondere bei Landesinnungsverbänden
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
vor, die neben lokalen Innungen (als Zwangskörperschaften des öffentlichen Rechts) zumeist auch einzelne Handwerksbetriebe aufnehmen und somit auch als Tarifverbände in Erscheinung treten, so dass diese im strengen Sinne gleichzeitig Verbände erster Ordnung und Verbände von Verbänden sind. Auf der anderen Seite steht eine geringere Zahl von Verbänden, die eine Gewichtung nach Beitragssumme, Umsatz oder Beschäftigtenzahl vornehmen. Bei weiteren 3,1 % der Verbände gilt ein „Stimmrecht nach Beschlusslage“. Dies bedeutet, dass im Normalfall der Grundsatz „eine Stimme pro Mitglied“ Anwendung findet, dass allerdings auf Antrag eines Teiles der Mitgliedschaft (Mindestquorum) auf einen Wahlmodus mit einer Gewichtung der Stimmen nach Größe oder Leistungsfähigkeit umgeschwenkt werden kann. Während insgesamt bei den Verbänden erster Ordnung lediglich 15,4 % eine Gewichtung des Stimmrechts nach Größe oder Leistungsfähigkeit vornehmen, sind dies bei den Verbänden von Verbänden immerhin 36,6 %. Offensichtlich fällt es Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden erster Ordnung leichter, Mitgliedern ein egalitäres Wahlrecht einzuräumen, als dies im Bereich der Verbände von Verbänden der Fall ist. Letztlich verweist diese unterschiedliche Praxis auf die jeweils unterschiedliche Bedeutung der Kategorie „Mitgliedschaft“ in Verbänden erster und höherer Ordnung. So kann sich bei den Verbänden von Verbänden das scheinbar egalitäre Stimmrechtsprinzip „eine Stimme pro Mitglied“ bezogen auf das einzelne Mitgliedsunternehmen am Ende der Vertretungskette als nicht egalitär erweisen; schließlich kann sich in den angeschlossenen Mitgliedsverbänden eine sehr unterschiedliche Anzahl von Unternehmen versammelt finden. 4.2 Differenzierung von Mitgliederrollen Neben der Zuweisung von Stimmrechten kommt auch der Differenzierung von Mitgliederrollen eine große Bedeutung für die innerverbandliche Partizipation zu. So kennt die überwiegende Mehrheit der Verbände neben der ordentlichen oder Vollmitgliedschaft weitere Formen der Statusdifferenzierung. Mit Ehrenmitgliedschaften (die für natürliche Personen bestehen) wird verdienten Verbandsmitgliedern eine besondere symbolische Bedeutung verliehen, während unterschiedlichste Ausprägungen von Förder- oder Gastmitgliedschaften solche Unternehmen (oder auch solche Verbände und Organisationen) an den Verband binden sollen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen nicht für eine Vollmitgliedschaft qualifiziert haben. Einige Verbände kennen darüber hinaus Mitgliedschaften auf Zeit bzw. einen speziellen Anwartschaftsstatus. Die Motivationen für solche Statusdifferenzierungen sind durchaus unterschiedlich. Bei einer ersten Variante werden Gastmitgliedschaften oder besondere Anwartschaften dazu eingesetzt, Mitglieder noch vor ihrer Aufnahme in den Verband auf ihre Eignung und Seriosität zu prüfen. Erst wenn sich diese als seriös wirtschaftende und fachlich geeignete Unternehmen erwiesen und profiliert haben, wird die Aufnahme in eine ordentliche Mitgliedschaft gewährt. Insbesondere Verbände mit der Dominanz kleiner Mitgliedsunternehmen machen von solchen Differenzierungsmöglichkeiten Gebrauch, wobei neben der reinen Differenzierung des Mitgliedschaftsstatus auch besonders hohe Anforderungen an die „gute fachliche Praxis“ gestellt werden. So verlangen z. B. einige Verbände im Bereich des Garten- und Landschaftsbaus von ihren zukünftigen Mitgliedern die Vorlage von Unbedenklichkeitsbescheinigungen des Finanzamts, der Sozialversicherungsträger und Berufsgenossenschaften.
II.1 Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft
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In einer zweiten Variante dienen besondere Mitgliedschaftsformen dazu, Hemmschwellen für den Beitritt herabzusetzen. Solche „Schnuppermitgliedschaften“ sollen es Unternehmen ermöglichen, die Vorteile einer Verbandsmitgliedschaft zu testen, ohne sich auf längere Zeit an einen noch unbekannten Verband binden zu müssen. Von größter Bedeutung hat sich in letzter Zeit die sogenannte „OT-Mitgliedschaft“ (Mitgliedschaft ohne Tarifbindung) erwiesen. Hierbei handelt es sich um einen besonderen Mitgliedschaftsstatus, bei dem Verbandsmitglieder nicht durch die gemeinsamen Verbandstarife erfasst werden, allerdings weiterhin alle anderen Verbandsdienstleistungen in Anspruch nehmen können. In der Praxis kann ein OT-Status auf unterschiedliche Weise gewährt werden. Neben der Gründung eigener OT-Verbände bzw. eigener Tarifgemeinschaften für die tarifwilligen Mitglieder (Aufspaltungsmodell) hat sich in den vergangenen Jahren ein besonderer OT-Mitgliedschaftsstatus (Stufenmodell) durchgesetzt (Völkl 2002; Besgen 1998; Danz 2000). Während die rechtliche Zulässigkeit der unterschiedlichen Ausgestaltungsformen von OT lange Zeit umstritten war (siehe z. B. Deinert 2006, 2007; Thüsing/ Stelljes 2005), sind mittlerweile eine Reihe zentraler Aspekte der Zulässigkeit von OT-Mitgliedschaften/-Verbänden durch das Bundesarbeitsgericht geklärt worden. 3 Das Aufspaltungsmodell ist besonders in der Metallindustrie verbreitet (Haipeter/ Schilling 2006). Hierbei können sich Mitglieder auf der Landesebene einem eigenen OTVerband anschließen, der zumeist in Personalunion durch den gleichen Geschäftsführer und das gleiche Personal wie der Tarifverband geführt wird. Bei der OT-Variante mit Differenzierung des Mitgliedsstatus (Stufenmodell) bleibt die Einheit des Verbands gewahrt, die Satzungen sehen allerdings eine Reihe von Sonderregeln vor, nach denen OT-Mitglieder für gewöhnlich von der Mitgliedschaft in Tarifausschüssen ausgeschlossen werden. Darüber hinaus wird ihr Stimmrecht bei Entscheidungen über tarifpolitische Fragen suspendiert. Nach Völkl (2002: 17) wurde das OT-Modell zu Beginn der 1990er Jahre durch die rheinland-pfälzischen Säge- und Holzverbände entwickelt und verbreitete sich von dort aus weiter. Die Bezeichnung „ohne Tarifbindung“ ist insofern irreführend, als eine Reihe der OT-Mitglieder Haustarifverträge abgeschlossen haben. Die Arbeitgeberverbände treten zwar nicht direkt als Tarifvertragspartei in Erscheinung, oftmals bieten sie aber ihren OTMitgliedern Unterstützung und Beratung im Verhandlungsprozess und beim Abschluss solcher Haustarife an. Mittlerweile haben mehr als 30 % der Arbeitgeber- und Mischverbände erster Ordnung die Möglichkeit zum Wechsel in eine OT-Mitgliedschaft satzungstechnisch vorgesehen (Stand: 2006), wobei immer noch von einer steigenden Tendenz auszugehen ist. Was nun die Ausgestaltung der jeweiligen OT-Regelungen anbelangt, ergeben sich deutliche Unterschiede bei der Frage, wie leicht es Mitgliedern möglich gemacht wird, von einem Status in den anderen zu wechseln. Tarifpolitisch erweist sich OT als höchst brisant: Für die Gewerkschaften bedeutet OT zunächst einmal eine Einschränkung ihrer tariflichen Wirksamkeit, weil diese die Arbeitnehmer solcher OT-Unternehmen dem Geltungsbereich eines Flächentarifs entzieht. Solange es den Gewerkschaften nicht gelingt, mit OT-Unternehmen besondere Haustarifverträge zu vereinbaren, haben diese sich erfolgreich dem gewerkschaftlichen Einfluss auf die Gestaltung von Einkommen, Arbeitszeiten und Entlohnung entzogen. Gleichzeitig schafft OT 3
Allein im Jahr 2008 ergingen hierzu zwei Leiturteile des Bundesarbeitsgerichts. Zu den Themenkomplexen „Blitzaustritt“ und „Wirksamkeit des Stufenmodells“ siehe: Der Betrieb vom 5.12.2008, S. 2712 ff. und Der Betrieb vom 15.08.2008, S. 1809 ff.
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
für die Gewerkschaften eine neue Unübersichtlichkeit, denn die Mitgliedschaftsdifferenzierung ist für Outsider wenig transparent, wofür nicht zuletzt auch die Möglichkeit zum flexiblen Wechsel des Mitgliedschaftsstatus sorgt („Blitzwechsel“). Für die Arbeitgeber selbst erweist sich OT aber auch als eine Probe für die innerverbandliche Solidarität, schließlich erlaubt sie bestimmten Mitgliedern, sich dem Zwang zur Einhaltung der einheitlichen Tarifkonditionen zu entziehen. Andererseits werden diesen die gleichen Dienstleistungen wie den ordentlichen Verbandsmitgliedern angeboten. Sollten sich OT-Mitglieder von jeglicher Tarifbindung befreien und in der Lage sein, Bedingungen unterhalb des Niveaus im Flächentarifvertrag gegenüber ihren Beschäftigten durchzusetzen, könnte sich dies als entscheidender Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Verbandsmitgliedern erweisen. Gerade in Branchen mit hohem Wettbewerbsdruck und bei Verbänden mit homogener Mitgliederstruktur könnten innerverbandliche Spannungen die Folge sein. 4.3 Mobilisierung von Ressourcen Im Gegensatz zu den Kammern als Zwangskörperschaften des öffentlichen Rechts basiert bei Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden nicht nur die Mitgliedschaft, sondern folglich auch die Beitragszahlung auf Freiwilligkeit. Die Beitragshöhe und sonstige Vorschriften zur Beitragsberechnung werden zumeist durch die Mitglieder- oder Delegiertenversammlungen als den höchsten beschlussfassenden Gremien festgelegt. Ein Zahlungsverzug oder gar die völlige Weigerung, die fälligen Mitgliesbeiträge zu entrichten, kann eine Reihe von Sanktionen nach sich ziehen. Einige Verbände sehen Säumniszuschläge vor, andere suspendieren bestimmte Mitgliedsrechte für die Dauer des Beitragsrückstandes. In den meisten Fällen stellt ein erheblicher Zahlungsrückstand einen Grund für den Ausschluss aus dem Verband dar. Die genauen Regeln der Beitragsberechnung werden für gewöhnlich in einer gesondert verabschiedeten Beitragsordnung festgelegt, einige grundlegende Aspekte der Beitragsermittlung finden sich auch in den entsprechenden Verbandssatzungen. Die Höhe der zu mobilisierenden Geldmittel hängt im Wesentlichen vom Umfang und der Tiefe des verbandlichen Dienstleistungsspektrums ab, aber auch von alternativen Einkommensquellen der Verbände (Streeck/Visser 2006: 250). So verfügen gerade ältere Verbände über zum Teil erhebliches Eigentum an Immobilien, die fortlaufende Erträge aus Mieten oder Pachten abwerfen. In diesen Fällen kann die Beitragslast der Mitglieder entsprechend reduziert werden, in einigen Extremfällen kann sogar vollständig auf die Erhebung von Beiträgen verzichtet werden. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle errechnet sich der Mitgliedsbeitrag aus zwei Komponenten, einer Bemessungsgrundlage sowie einem Hebesatz. Die eigentliche Bemessungsgrundlage wird über lange Zeiträume beibehalten, der Beitragssatz nach Bedarf der Ausgabenentwicklung des Verbandes angepasst. Wie eine Analyse von Arbeitgeberverbandssatzungen und Beitragsordnungen aus dem Jahre 2006 belegt, macht die überwiegende Mehrzahl der Verbände die Beitragshöhe von der Leistungsfähigkeit der Mitglieder abhängig. Lediglich 4 von 163 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden, für die aussagekräftige Informationen vorlagen, erheben einen Pauschalbeitrag pro Mitglied. Wie in Tabelle 3 dargestellt, erweist sich die Lohn- und Gehaltssumme als die am weitesten verbreitete Berechnungsgrundlage.
II.1 Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft
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Tabelle 3: Grundlagen der Beitragsberechnung in Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden (n = 163) Beitragsbemessungsgrundlage Festbeitrag pro Mitglied (Brutto-)Lohn- und -gehaltssumme Umsatz Beschäftigtenzahl Sonstige
In % (Fallzahl) 2,5 (4) 45,4 (74) 10,4 (17) 11 (18) 30,7 (50)
Quelle: eigene Erhebung auf Basis der WSI-Datenbank der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände (2006).
Hinter den häufigen Nennungen der Kategorie „Sonstige“ verbergen sich zum einen Mischsysteme, die sowohl den Umsatz als auch die Lohn- und Gehaltssumme zu Grunde legen, aber auch branchenspezifische Messgrößen für den Output eines Unternehmens. So berechnet sich in weiten Teilen der Zeitungs- und Zeitschriftenindustrie der Beitrag nach der verkauften Auflage, im Bereich der maritimen Wirtschaft nach Tonnage, im Hotel- und Krankenhausbereich nach Zimmern bzw. Bettenzahl und schließlich im Bereich der Brauereien nach Hektolitern verkauften Bieres (selbstverständlich abzüglich des „Haustrunks“, der den Beschäftigten zusteht). Die besondere Attraktivität der Beitragsberechnung auf Basis der Bruttolohn- und -gehaltssumme ergibt sich aus der Transparenz, aber auch aus der leichten Verfügbarkeit dieser Kenngröße. Da die Mehrzahl der Unternehmen einer Berufsgenossenschaft angeschlossen ist, müssen Bruttolohn- und -gehaltssummen turnusmäßig errechnet und zur Abwicklung der Unfallversicherung an die jeweils zuständigen Berufsgenossenschaften gemeldet werden. Im Sinne einer verbesserten Beitragsehrlichkeit und -kontrolle sind einige Verbände sogar dazu übergegangen, gleichzeitig mit dem Beitritt eines Mitglieds eine Berechtigung zur direkten Abfrage der Lohnsummendaten bei der Berufsgenossenschaft zu verlangen. Im Gegensatz zur Beitragsbemessung nach Unternehmensumsatz hat sich darüber hinaus die Lohn- und Gehaltssumme als weniger anfällig gegenüber konjunkturellen Schwankungen erwiesen. Sie hat allerdings den Nachteil, arbeitsintensiv produzierende Unternehmen stärker zu belasten als kapitalintensive Unternehmen. Neben Mindest- und Grundbeiträgen finden sich in Beitragsordnungen auch Höchstbeiträge als eine Art Überforderungsschutz für Großunternehmen. Solche Vorschriften von Höchstbeiträgen, Kappungsgrenzen bzw. eines ab einer bestimmten Größe reduzierten Beitragssatzes dienen zum einen dazu, die Schwergewichte der eigenen Branche nicht zu verprellen, zum anderen sollen diese aber den Verband auch vor dem dominanten Einfluss einiger weniger Großunternehmen schützen. Zwar ist der Beitrag nicht automatisch an das Stimmrecht gekoppelt, aber allein schon das Druckpotential eines Verbandsaustritts mit den daraus resultierenden Einnahmeausfällen sollte nicht unterschätzt werden. So hat beispielsweise der VCI in seiner Satzung festgelegt, dass kein Mitglied mehr als 15 % der genehmigten Etatsumme des Verbandes erbringen soll. Bezogen auf die jeweiligen Spitzenverbände BDA und BDI bleibt es nicht aus, dass die besonders mitgliederstarken und ressourcenmächtigen Mitgliedsverbände einen beachtlichen Teil der Beitragslast zur Finanzierung eben dieser Spitzenorganisationen schultern. So bringen beispielsweise die vier größten Branchenverbände des BDI – der Verband der
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deutschen Automobilindustrie e. V. (VDA), der Zentralverband der Elektronik- und Elektroindustrie e. V. (ZVEI), der VDMA und der eben erwähnte VCI – etwa die Hälfte des Verbandsetats auf. In der Vergangenheit führte diese enorme Belastung häufig zu Kritik. Mitte der 1990er Jahre nahmen der VCI und der VDA daraufhin gegen die Bestimmungen der BDI-Beitragsordnung einseitig massive Kürzungen ihrer Mitgliedsbeiträge vor (Burgmer 1999: 70). Insgesamt lässt sich auch in den Bereichen der Stimmrechtsverteilung und Beitragserhebung ein hohes Maß an Kontinuität feststellen. Hingegen sorgte die Einführung von OTMitgliedschaften im Bereich der Arbeitgeberverbände – eine Entwicklung, die in den letzten 10 Jahren auch in der Fläche an Dynamik gewann – für einen Kontinuitätsbruch, der die Möglichkeiten zur Differenzierung der Mitgliederrollen erheblich ausgeweitet hat. 5
Deutsche Verbände im internationalen Vergleich
Die Vertretung von produktmarktbezogenen und arbeitsmarktbezogenen Interessen in getrennten Verbänden ist eher als eine deutsche Spezialität anzusehen, die in Europa sonst nur in der Schweiz und – mit einigen Abstrichen – in Dänemark anzutreffen ist (Streeck/Visser 2006: 254). In allen anderen Mitgliedstaaten der EU ist die gemeinsame Vertretung der unterschiedlichen marktbezogenen Interessen der Unternehmen innerhalb eines einheitlichen Verbandes die Regel, wobei Traxler (2004) allerdings darauf hinweist, dass die Vertretung arbeitsmarktbezogener Interessen im Verhältnis zu produktmarktbezogenen Interessen an Gewicht verloren hat. Große Unterschiede ergeben sich darüber hinaus bei der Frage nach der Ausdifferenzierung der Interessen bei nationalen Arbeitgeberverbänden. So lassen sich in der Mehrheit der Mitgliedsländer der EU mehrere Spitzenverbände auf nationaler Ebene finden, während Deutschland gemeinsam mit Belgien, Luxemburg und Großbritannien eine Minderheit repräsentiert, bei der auf nationalstaatlicher Ebene lediglich ein Spitzenverband existiert. Konkurrierende Spitzenverbände zu haben bedeutet allerdings nicht automatisch, dass zwischen diesen Verbänden auch ein größerer Wettbewerb besteht. Wie Traxler zeigen konnte, vollzieht sich die Interessendifferenzierung mehrheitlich zwischen klar definierten und abgegrenzten Domänen der Interessenvertretung (Traxler/Blaschke/ Kittel 2001: 48 ff.). So finden sich neben „umfassenden“ Spitzenverbänden solche, die bestimmte Sektoren, Eigentumsstrukturen (privat, öffentlich oder genossenschaftlich), politische Orientierungen oder Betriebsgrößen vertreten. Erst wenn innerhalb einer der genannten Vertretungsdomänen mehrere Verbände aktiv sind, sind ausgeprägte Konkurrenzbeziehungen zwischen den Verbänden wahrscheinlich. So gibt es beispielsweise in Italien 16 Spitzenorganisationen, von denen allein fünf den kleinbetrieblichen Bereich und weitere vier die Genossenschaften organisieren (Behrens/Traxler 2004: iii). Für Deutschland bringt der vergleichsweise geringe Grad an Ausdifferenzierung von Unternehmensinteressen auf der Spitzenebene in zwei Verbänden mit freiwilliger Mitgliedschaft (BDA und BDI) sowie den Kammern eine erhöhte Anforderung an die Fähigkeit der Organisationen zur Bewältigung und Bündelung komplexer Interessen mit sich. Zwar können insbesondere der BDI und die BDA durch ihre schiere Größe den durch sie vertretenen Interessen besonderen Nachdruck verleihen, allerdings setzt dies vergleichsweise große Anstrengungen bei der Zusammenfassung und gegebenenfalls Harmonisierung der einzelnen Interessenlagen voraus.
II.1 Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft 6
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Entwicklungstendenzen und Schlussfolgerungen
Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im Vergleich zu den Gewerkschaften von der außerordentlich guten Ressourcenausstattung ihrer Mitgliedschaft profitieren. Zwar erschwert diese Ressourcenausstattung vielfach die Verbandsbildung der Unternehmer (Traxler 1999: 66), da sie dem Einzelnen eine realistische Alternative zur Entwicklung kollektiver Machtressourcen verschafft, doch so lange sich Unternehmer mehrheitlich für eine kollektive Lösung entscheiden, muss den Verbänden um die Bereitstellung ausreichender finanzieller und sachlicher Ressourcen für die Verbandsarbeit nicht bange sein. Dies scheint nun allerdings keine Selbstverständlichkeit mehr. Mit der zunehmenden Kostentransparenz und Kostensensibilität der deutschen Unternehmen steigen auch die an die Verbände herangetragenen Erwartungen im Bereich der effizienten Ressourcenverwendung und Dienstleistungsqualität. So resümiert Schmitz-Simonis die Entwicklung der Arbeitgeberverbände und ihrer Mitglieder wie folgt: „Nur wenn er oder sie optimalen Value bekommt, ist er oder sie bereit, Mitgliedschaftsbeiträge für das Dienstleistungspaket zu entrichten oder sich persönlich zu engagieren. Mit den Kunden – seien es Unternehmen oder deren Vertreter, seien es Personen der breiten Öffentlichkeit – muss die Zielnutzenbestimmung geklärt werden genauso wie die Qualitätsrendite“ (Schmitz-Simonis 2001: 13). Der Druck zur Kosteneinsparung und Effektivierung hat sich bislang (noch) nicht in einer umfassenden Restrukturierung der Verbändelandschaft ausgedrückt. Zwar hat auf der Ebene der Spitzenverbände dieser Druck z. B. beim BDI zu einer umfassenden Reform der inneren Organisationsstruktur geführt, jedoch ist es bezogen auf die Verbändestruktur insgesamt bislang nicht zu einer Rücknahme der verbandlichen Fragmentierung auf breiter Fläche gekommen. Während die Gewerkschaften in Deutschland und darüber hinaus ihr Heil in der Konzentration ihrer Kräfte innerhalb einheitlicher Großorganisationen gesucht haben, konnten deutsche Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände bislang den Versuchungen von Machtkonzentration und der Realisierung von Rationalisierungserträgen durch Größe widerstehen. Zwar gibt es einige wenige Beispiele für die Neuzuschneidung der räumlichen Organisationsgrenzen (wie z. B. die Gründung von Südwestmetall), eine umfassende fachliche und räumliche Restrukturierung, wie sie z. B. im Textil- und Bekleidungsbereich stattgefunden hat, ist eher die Ausnahme. Mit wachsendem Budgetdruck könnte sich dies schnell ändern und die anhaltende Tendenz zur Einführung von OT-Mitgliedschaften könnte sich rasch als Treibsatz einer solchen Entwicklung erweisen. Denn mit der Einführung von OT wachsen nicht nur die Anforderungen solcher tarifloser Mitglieder an die Gewährung umfassender (und personalintensiver) verbandlicher Dienstleistungen, paradoxerweise erhöht sich auch der Aufwand für die tarifpolitische Beratung und Unterstützung der Flächentarifdissidenten (Grote/Lang/Traxler 2007: 174). Letztlich dürften sich daher OT-Mitgliedschaften nicht allein in Bezug auf die verbandliche Tarifpolitik, sondern auch mit Blick auf die Organisationsstrukturen und -routinen von Arbeitgeberverbänden als wesentlicher Treibsatz für die Veränderung der Arbeitgeberverbandslandschaft erweisen. Über die Dynamik der weiteren Entwicklung kann zum heutigen Zeitpunkt nur spekuliert werden. Aktuelle Debatten im Kontext der globalen Finanzkrise und der aus ihr resultierenden Verwerfungen deuten allerdings an, dass mancher Verband seine anfängliche Sorglosigkeit bezüglich der „Nebenwirkungen“ von OT kritisch zu hinterfragen beginnt. Wurde OT lange Zeit als probates Mittel der Sicherung der Organisationskraft der Verbände selbst, aber auch als tarifliches Disziplinierungsinstrument
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gegenüber den Gewerkschaften gehandelt, so tritt nun auch die Frage in den Vordergrund, wie Verbände mit der aus OT resultierenden Heterogenisierung der Interessenlagen ihrer Mitglieder umgehen können. Literatur Grundlegende Literatur Mann, Siegfried (1994): Macht und Ohnmacht der Verbände. Das Beispiel des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e. V. (BDI) aus empirisch analytischer Sicht. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. Olson, Mancur (1998): Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen. Tübingen: Mohr Siebeck (4. Aufl.; Originalausgabe: The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups. Cambridge, MA: Harvard University Press 1965). Schmitter, Philippe C./Streeck, Wolfgang (1999): The Organizations of Business Interests. Studying the Associative Action of Business in Advanced Industrial Societies. MPIfG Discussion Paper 99/1. Köln: MPIfG (in einer früheren Version erschienen als: Schmitter, Philippe C./Streeck, Wolfgang (1981): The Organization of Business Interests. A Research Design to Study the Associative Action of Business in the Advanced Industrial Societies of Western Europe. WZB Discussion Paper IIM/LMP 81-13. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)). Schroeder, Wolfgang/Silvia, Stephen J. (2003): Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. In: Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 244í270. Traxler, Franz/Huemer, Gerhard (2007): Handbook of Business Interest Associations, Firm Size and Governance. A Comparative Analytical Approach. London/New York: Routledge. Völkl, Martin (2002): Der Mittelstand und die Tarifautonomie. Arbeitgeberverbände zwischen Sozialpartnerschaft und Dienstleistung. München/Mehring: Hampp.
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II.1 Strukturen der Interessenvertretung in den Verbänden der Wirtschaft
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Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke der Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und Industrieund Handelskammern Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke
Stephen J. Silvia Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
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Einleitung
Viele Einzelstudien und Presseberichte über deutsche Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände sowie Kammern versuchen deren Wandel durch große wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären. Wenn jedoch solche Trends vollständig durch die geläufigen Megatrends (Globalisierung, Individualisierung etc.) erklärbar wären, dann würden sich alle Verbände in die gleiche Richtung entwickeln. Dies ist aber nicht zutreffend. Ein Vergleich der Unternehmerverbände enthüllt zwar Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede zwischen den Organisationen. Das Ziel dieses Beitrages ist es, sowohl die gemeinsamen als auch die unterschiedlichen Mitgliederentwicklungen bei den Organisationen zu erklären. Werden die Differenzen durch unterschiedliche Mitglieder- und Organisationslogiken verursacht, lassen sie sich auf strukturelle Besonderheiten zurückführen oder durch konkrete Entscheidungen der Führungskräfte erklären? Wie hat sich die Mitgliederund Organisationsstärke dieser Unternehmerverbände entwickelt? 2
Stand der Theorie
Die Mitgliedschaftslogik steht seit mehr als einem halben Jahrhundert im Fokus der akademischen Forschung. Dieses Thema wurde in US-amerikanischen Akademikerkreisen bereits in der Nachkriegszeit aufgegriffen. Der renommierte Politologe David B. Truman (1951) war einer der ersten, der sich mit diesem Thema befasste. Sein methodischer Zugang war der des Strukturfunktionalismus. Er hatte eine einfache Konzeptualisierung der Mitgliedschaftslogik. Truman argumentierte, dass eine Modernisierung, die Störungen („disturbances“) im Gleichgewicht („equilbrium“) unter den Interessengruppen hervorruft, soziale Komplexität vermehrt. Diese Störungen treiben die Individuen dazu an, ihre Mitgliedschaft in bestehenden Interessengruppen zu überdenken oder sogar neue aufzubauen, bis das Gleichgewicht wiederhergestellt ist (Truman 1951: 26í33). Er nahm an, dass Einzelpersonen, die ähnliche Ansichten und Interessen vertreten oder sich in einer ähnlichen Situation befinden, automatisch auf soziale Störungen mit dem Aufbau von oder Eintritt in Organisationen antworten würden (ebd.: 40). Clark und Wilson (1961) entwickelten diese Konzeptualisierung der Mitgliederlogik weiter, indem sie zwischen drei Arten von Anreizen unterschieden, die Einzelpersonen dazu bewegen, einer Organisation beizutreten: materielle, solidarische („solidary“) und zweckbestimmte („purposive“) Anreize. Materielle Anreize sind selektive und greifbare Belohnungen wie zum Beispiel Geld, Güter oder Dienste bzw. Mittel, durch die diese Be-
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lohnungen erzielt werden können (z. B. ein Arbeitsplatz). Solidarische Anreize sind auch selektiv, beziehen sich aber nicht auf unmittelbar greifbare Güter. Sie sind vielmehr das Produkt von Organisationshandeln. Hinzu kommen Anreize, die sich auf den Sinn von Gruppenmitgliedschaften wie etwa Identifikationssehnsucht, Statuswünsche, Spaß oder Geselligkeit beziehen (Clark/Wilson 1961: 134 f.). Zweckbestimmte Anreize entstehen aus einem erhofften Fortschritt beim Streben nach höheren Zielen einer Organisation wie zum Beispiel „sozialer Gerechtigkeit“, „Frieden“ oder „Freiheit“. Bedeutsam sind solche Ziele sogar dann, wenn ein solcher Fortschritt die einzelnen Gruppenmitglieder materiell nicht besserstellt. Diese Klassifizierung dient noch heute als Ansatzpunkt für viele Studien über die Mitgliedschaftslogik der Unternehmerverbände (vgl. Jordan/Halpin 2004). Buchanan (1965) und Olson (1968) wählten dagegen einen anderen Zugang. Sie veränderten das Verständnis der Mitgliedschaftslogik durch eine radikale Rekonzeptualisierung wirtschaftlicher Rationalität. Sie zählen zu den ersten Wissenschaftlern, die vom Strukturfunktionalismus zu Gunsten einer Rational-Choice-Analyse abwichen, um die Bedingungen zu bestimmen, unter denen eine optimale Versorgung mit „kollektiven Gütern“ (d. h. Gütern, die allen zur Verfügung stehen, wie z. B. einem Leuchtturm) möglich ist. Im Gegensatz zu Truman heben Buchanan und Olson die Schwierigkeiten bei der Mitgliedschaftsrekrutierung hervor. Wenn eine Gruppe ausschließlich kollektive Güter herstellt, ist sie anfällig für das Trittbrettfahrerproblem (d. h., Einzelpersonen können ein Gut verbrauchen, ohne für die Kosten seiner Produktion aufzukommen). Die bloße Übereinstimmung mit den Zielen der Organisation ist aus diesem Grund ein unzureichender Mitgliedschaftsanreiz. Sowohl Buchanan als auch Olson erkannten, dass Gruppen es ihren Mitgliedern ermöglichen, Skaleneffekte in der Verteilung der kollektiven Güter auszunutzen und die Kosten auf alle zu verteilen. Um aber das Problem des Trittbrettfahrers zu überwinden, müssen Gruppen auch „selektive Güter“ anbieten, die ausschließlich ihren Mitgliedern zur Verfügung stehen. Eine Wertänderung hinsichtlich der selektiven Güter zieht eine neue Kosten-Nutzen-Analyse nach sich, die Einfluss darauf hat, ob sich eine Firma für eine Mitgliedschaft im Unternehmerverband entscheidet oder nicht. Darüber hinaus ist Olson der Ansicht, dass Mitgliederwerbung für eine Gruppe mit einer kleinen potenziellen Mitgliedschaft einfacher ist, weil Trittbrettfahrer hier leichter bemerkt werden und eher zu einer Mitgliedschaft gedrängt werden können. Salisburys Tauschtheorie von Interessengruppen („exchange theory of interest groups“) (1969) fügt der Mitgliedschaftslogik eine interne Dimension hinzu. Ihm geht es darum, dass die Entstehung, das Wachstum, die Erosion sowie die Lobbytätigkeit von Interessengruppen besser erklärt werden können, wenn wir sie als Austauschverhältnisse zwischen Unternehmern („entrepreneurs“) und Kunden verstehen. Der Verbandsunternehmer („association entrepreneur“) investiert in die Herstellung von Dienstleistungen, die er potentiellen Mitgliedern für einen Preis anbietet (Salisbury 1969: 2). Der Unternehmer erhält für seine Bemühungen um den Verband dort eine Führungsposition. Sabatier (1992) wandte sich gegen Salisburys ausschließlich materielle Beschreibung der Interessengruppenpolitik, indem er die tiefe Verpflichtung gegenüber dem Zweck einer Organisation als Motiv stärker akzentuierte, um so das Handeln des politischen Unternehmers erklären zu können. Moe (1980) beobachtete, dass Unternehmer Organisationen nicht wegen eines persönlichen materiellen Gewinns schaffen und erhalten, sondern weil sie erkennen, dass eine Gruppe besser als eine Einzelperson dazu befähigt ist, ihre Ziele auch zu erreichen. Elster (1989) unterschied zusätzlich zwischen den abweichenden Präferenzen von Mitgliedern und Führungspersonen. Mitglieder bemühen sich, den Wert der selektiven
II.2 Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke
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Güter zu maximieren, die sie von der Organisation empfangen. Ein politischer Unternehmer versucht demgegenüber, über Vereinbarungen mit externen Akteuren den Einfluss der Organisation zu maximieren, um das zu erreichen, was Olson als „Nebenerscheinungen“ bezeichnet, das heißt Kollektivgüter, die für die Organisationsführung, aber nicht notwendigerweise für die Mitglieder von Interesse sind. Die Organisationsführung muss versuchen, innerhalb der Gruppe ein Gleichgewicht zwischen Mitarbeit und Loyalität herzustellen. Dies wird besonders dann zur Herausforderung, wenn die Ergebnisse der Verhandlungen mit Dritten nicht mit den Mitgliederpräferenzen übereinstimmen. Ein Jahrzehnt später befassten sich Schmitter und Streeck (1999) ebenfalls intensiv mit dieser Spannungslinie zwischen Mitglieder- und Organisationsinteressen. Sie bezeichneten den Austausch zwischen der Organisationsführung und externen Akteuren als „Logik des Einflusses“ und den internen Austausch zwischen der Organisationsleitung und den Mitgliedern als „Logik der Mitgliedschaft“. Die Analyse der Verschiebungen zwischen diesen beiden Logiken, vor allem in ihrer Wechselbeziehung, kann uns dabei helfen, Veränderungen in der Interessenlage und im Verhalten der Mitgliedschaft der Unternehmerverbände zu erklären. In der Zeit vor den 1990er Jahren war es in der deutschen Wissenschaft üblich, kollektive Handlungsprobleme in deutschen Unternehmerverbänden als unbedeutend abzutun, wenn sie mit denen der Arbeitnehmer verglichen wurden (Offe/Wiesenthal 1980). Sogar in den neunziger Jahren argumentierten Wissenschaftler noch, dass Firmen durch sozialen Druck eine Mitgliedschaft in einem Unternehmerverband quasi aufgezwungen würde (Lane/ Bachmann 1997). Als jedoch in zunehmendem Maße klar wurde, dass Verbandsflucht bzw. Nicht-Eintritte auch für viele deutsche Verbände zu einem ernsthaften Problem wurden, entstanden erste empirische Untersuchungen zu diesem Thema (z. B. Schroeder/Ruppert 1996; Völkl 2002). Theoretische Erklärungen zur Verbandsflucht gibt es erst seit Kurzem (z. B. Schroeder/Silvia 2007; Thelen/Wijnbergen 2003; Zimmer 2002). Dieser Übersicht über theoretische Ansätze folgt eine Untersuchung der verschiedenen Organisationsstrukturen und Formen der Mitgliedschaft. Das Verständnis dieser Strukturen hilft uns, divergierende Mitgliedschaftstrends zu erklären. 3
Organisationsstruktur und Mitgliedschaftsformen
Die Struktur deutscher Unternehmerorganisationen ist unterschiedlich. Die Industrie- und Handelskammern (IHKn) sind regionale Organe, die für alle Industrie- und Dienstleistungsfirmen in ihren Gebieten zuständig sind (vgl. Groser/Sack/Schroeder in diesem Band). Es gibt zurzeit insgesamt 80 regionale IHKn. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) ist ihre Dachorganisation. In Berlin, Bremen, Bremerhaven, Hamburg und im Saarland gibt es jeweils eine IHK. In den anderen Bundesländern sind es mehrere IHKn, die sich auf Landesebene jeweils in einer freiwilligen Kammervereinigung organisieren, um ihre Durchsetzungskraft zu bündeln. Die Organisation der Unternehmerverbände ist komplizierter. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) dient als Dachverband für Spitzenarbeitgeberorganisationen aus den Bereichen Industrie, Dienstleistungen, Handwerk und Landwirtschaft. Mitglieder der BDA sind 54 Bundesfachverbände und 14 überfachliche Landesverbände. Die Bundesfachverbände vertreten bis zu 20 regionale Mitgliedsverbände, denen wiederum mehr als 750 Verbände angeschlossen sind. Die Struktur der Wirtschaftsverbän-
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de und Arbeitgeberverbände ist ähnlich, aber nicht identisch. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist die Spitzenorganisation der industriellen Wirtschaftsverbände. Es gibt keine Dachorganisation für deutsche Wirtschaftsverbände im Dienstleistungssektor. Der Mitgliederbestand des BDI setzt sich aus 36 Branchenverbänden aus Industrie und industrienahen Dienstleistungsbereichen zusammen. In den Bundesländern werden die Industrieinteressen durch BDI-Landesvertretungen wahrgenommen. Im Gegensatz zur BDA zählen die 15 BDI-Landesvertretungen als Filialen anstatt als Mitglieder des Dachverbandes. Insgesamt sind mehr als 500 Verbände dem BDI entweder mittel- oder unmittelbar angeschlossen. Auch die Mitgliedschaftsformen der deutschen Unternehmerorganisationen sind unterschiedlich. Alle deutschen Unternehmen, mit Ausnahme der freien Berufe und Landwirtschaftsbetriebe, haben eine gesetzliche Pflicht zur Mitgliedschaft entweder in einer Industrie- und Handels- oder in einer Handwerkskammer. Natürliche Personen und Personengesellschaften mit geringer Leistungskraft sind beitragsbefreit. Start-up-Firmen müssen in den ersten Jahren ihres Bestehens nicht die vollen Gebühren zahlen. Insgesamt bezahlt ein Drittel der Mitglieder keinen Beitrag. Die Mitgliedschaft in den deutschen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden ist im Gegensatz zu der in den Kammern freiwillig. Infolgedessen müssen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände die Auswirkungen ihrer Äußerungen und Aktivitäten auf die Mitglieder viel direkter berücksichtigen. Die Mehrzahl der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände bietet neben der ordentlichen Vollmitgliedschaft eine Auswahl von Mitgliedschaftsvarianten an. Viele Verbände stellen Ehren- oder Gastmitgliedschaften für Unternehmen bzw. Verbände zur Verfügung, die nicht in der Lage sind, vollwertige Mitglieder zu werden (z. B. Firmen mit Staatsbeteiligung). Die Zahl der Ehren- und Gastmitglieder ist jedoch ziemlich klein. Einige Verbände (vor allem bei einer Vorherrschaft von kleinen Unternehmen) fordern auch eine Anwartschaft von mindestens einem Jahr für neue Mitglieder, um zu ermitteln, ob der Unternehmer fähig und willens ist, die Verpflichtungen, die sich aus einer Vollmitgliedschaft ergeben, zu erfüllen. Seit Ende der 1980er Jahre entwickeln die Verbände neue Formen von Mitgliedschaften, um die Hemmschwelle für einen Beitritt zu verringern. Eine dieser Formen ist die sogenannte „Schnuppermitgliedschaft“, die einem Unternehmen den Zugang zum Mitgliedsleistungsangebot für einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung stellt, ohne dass dafür – wie bei einer vollen Mitgliedschaft – Gebühren zu zahlen sind oder Verpflichtungen eingehalten werden müssen. In der Praxis wurden nur sehr wenige Unternehmen „Schnuppermitglieder“, weil die Vorteile einer kurzfristigen Mitgliedschaft zu gering sind. Arbeitgeberverbände haben eine zweite Form der alternativen Mitgliedschaft entwickelt, die ebenfalls in geringerem Umfang zu Verpflichtungen führt, die sogenannte Mitgliedschaft „ohne Tarifbindung“ (OT) (vgl. Haipeter in diesem Band). Die OT-Mitgliedschaft ist zahlenmäßig von weit größerer Bedeutung. Entweder gründet der Vorstand eines bestehenden Arbeitgeberverbandes einen zweiten, formell unabhängigen OT-Verband und managt diesen auch selbst, oder der Verband schafft eine OT-Mitgliedschaft als zusätzliche Mitgliedschaftskategorie. OTMitglieder können unter anderem eine Personal- und Arbeitsrechtsberatung in Anspruch nehmen und profitieren vom Lobbying des Verbands. Jedoch sind die Mitglieder nicht an einen Flächentarifvertrag gebunden und haben keinen Zugang zum Streikfonds. Die Differenz zwischen den OT-Verbandsbeiträgen und „vollen“ Mitgliedschaften ist unterschiedlich. In manchen Fällen bezahlen OT-Mitglieder weniger als tarifgebundene Mitglieder, in anderen bezahlen sie mehr. Oft entrichten alle Mitglieder die gleichen Verbandsbeiträge. Im
II.2 Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke
173
Unterschied zu den regulären Verbandsmitgliedern sind OT-Firmen nicht vor dem unmittelbaren gewerkschaftlichen Druck geschützt. So kann es durchaus sein, dass ein solches Mitglied einen Haustarifvertrag abschließen muss oder von einem Streik allein betroffen ist. Die ersten OT-Verbände wurden Ende der achtziger Jahre in der Textil- und Holzindustrie aufgebaut (Völkl 2002: 17). Die Werbung und Bindung von Mitgliedern ist in diesen von mittelständischen Unternehmen dominierten Sektoren besonders schwierig. Infolgedessen gab die Verbandsführung in beiden Fällen die traditionelle Praxis einer einheitlichen Vollmitgliedschaft auf und schuf – wenn auch ungern – parallele OT-Verbände (Schroeder 1999). Obwohl die Einführung von OT-Verbänden als ein Rückschritt bei der Verteidigung des Flächentarifvertrags wahrgenommen werden konnte, hofften viele Arbeitgeberverbände anfangs noch, dass Firmen nur vorübergehend in OT-Verbände wechseln würden. Doch die Mehrzahl der wechselnden Unternehmen blieb dauerhaft dem OTVerband verbunden. Besonders belastend ist, dass auch immer mehr rentable Firmen direkt in OT-Verbände eintreten. Heute sind OT-Verbände vor allem in der Metall-, Plastik-, Textil- und Holzindustrie vertreten; besonders verbreitet sind sie in Ostdeutschland. Parallele OT-Verbände bieten aber auch Vorteile für Arbeitgeberverbände. Sie dienen als Alternative zum Austritt für verstimmte Vollmitglieder, besonders für Unternehmer, die mit den Resultaten eines Tarifvertrages unzufrieden sind oder Angst vor einer bevorstehenden Tarifrunde haben. Eine OT-Mitgliedschaft ermöglicht es der Arbeitgeberverbandsführung, mit den Firmen im Kontakt zu bleiben, die sonst den Verband verlassen würden. Die OT-Option stärkt die Arbeitgeberseite auch in Tarifverhandlungen, weil sie argumentieren kann, dass ein für die Arbeitgeberseite schlechteres Ergebnis mehr Unternehmen in die OTMitgliedschaft drängen würde. Andererseits sind OT-Verbände nicht ohne Gefahren für die Arbeitgeberverbände. Erstens könnten durch die OT-Option rentable Vollmitglieder versucht sein, in den OT-Verband zu wechseln. Die Bereitstellung besonderer individueller Angebote für die OT-Mitglieder kann die Arbeit der Arbeitgeberverbände verkomplizieren. Zweitens könnte die Existenzfähigkeit des Flächentarifvertrags in Frage gestellt werden, wenn seine Deckung durch eine Ausweitung der OT-Mitgliedschaften unter 50 Prozent fällt und damit die Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gefährdet oder gar nicht mehr gegeben sind. Drittens könnte der Verband seine Privilegien und seinen Schutz als eingetragener Verein (e. V.) verlieren, wenn seine Haupttätigkeit in gewinnbringenden Geschäften (z. B. Beratungsdiensten für OT-Mitglieder) anstatt in Tarifverhandlungen läge. Insbesondere seinen steuerbefreiten Status könnte ein Verband dadurch verlieren. Die Vorstände vieler Arbeitgeberverbände finden OT-Verbände nichtsdestotrotz attraktiv, weil sie glauben, dass diese den Schlüssel zum Überleben der Arbeitgeberverbände in der heutigen, im hohen Grade globalisierten Wirtschaft und in einer in zunehmendem Maße weniger integrierten Gesellschaft darstellen könnten. Um Mitglieder zu werben bzw. zu binden, haben einige Arbeitgeberverbände in den letzten Jahren auch ein Sonderkündigungsrecht des Flächentarifvertrages für ihre Mitglieder geschaffen. Das Tarifvertragsgesetz verpflichtet jede Firma, die einen Arbeitgeberverband verlässt, zur Einhaltung aller gültigen Verträge bis zu deren Auslaufen. Vor der Einführung des Sonderkündigungsrechts dauerte es normalerweise mindestens mehrere Wochen, einen Arbeitgeberverband zu verlassen. Im Falle einer hohen Ausgangslohnforderung einer Gewerkschaft befürchteten einige Manager, den Verband nicht vor dem Abschluss des teuren Vertrages verlassen zu können. In Arbeitgeberverbänden mit Sonderkündigungsrecht können Mitgliedsfirmen dagegen nur mittels einer schriftlichen Kündigung den Verband sofort
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
verlassen. In manchen Varianten des Sonderkündigungsrechts können Firmen sogar austreten, nachdem eine provisorische Tarifvereinbarung erreicht wurde, solange der Arbeitgeberverband diese noch nicht ratifiziert hat. Dennoch bleibt das Sonderkündigungsrecht selten. Es ist am häufigsten in der Metallindustrie und den ostdeutschen Ländern zu finden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Strukturen der Arbeitgeberund Wirtschaftsverbände sowie der Industrie- und Handelskammern unterscheiden. Diese Differenzen bringen verschiedenartige Herausforderungen mit sich, wenn es darum geht, Dienstleistungen anzubieten und neue Mitglieder zu werben. Die Struktur dieser Organisationen hat sich während der Nachkriegszeit wenig geändert. Die Arbeitgeberverbände haben jedoch mit unterschiedlichen Mitgliedschaftsformen experimentiert. Im folgenden Abschnitt werden durch eine Untersuchung der Mitgliederentwicklung in den verschiedenen Organisationen die Auswirkungen sowohl der strukturellen Unterschiede als auch verbandlicher Innovationen eingeschätzt. 4
Mitgliedschaftstrends
Die Zugriffsmöglichkeiten auf die Mitgliederdaten der Kammern und Unternehmerverbände sind sehr unterschiedlich. Die Industrie- und Handelskammern stellen umfassende Mitgliedschaftsstatistiken zu Verfügung, weil sie öffentlich-rechtliche Körperschaften sind. Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände gehen mit Mitgliederdaten weniger offen um. Der Vorstand jedes Verbandes entscheidet, ob er Mitgliedschaftsdaten öffentlich bekannt macht. Die meisten Verbände behandeln sie als vertraulich. Seit Jahren haben Vertreter der Dachverbände BDI und BDA die Gewohnheit, nur aufgerundete Prozentangaben zum Organisationsgrad zu machen (normalerweise 75 Prozent der Unternehmen, mit 80 Prozent der Belegschaft), aber sie belegen diese Angaben nie in konkreter, glaubhafter Weise. In letzter Zeit gibt die BDA überhaupt keinen festen Prozentsatz mehr an. Obgleich das Bild also unvollständig ist, ist es möglich, unterschiedliche Tendenzen anhand der vorhandenen Daten zu erkennen. 4.1 Industrie- und Handelskammern Die Industrie- und Handelskammern haben kein Werbungsproblem, weil die Mitgliedschaft verpflichtend ist. Zurzeit sind 3,6 Millionen gewerbliche Unternehmen Mitglied in den IHKn. Die Pflichtmitgliedschaft produziert ihre eigene Art der Herausforderung. Die IHK-Mitglieder sind extrem heterogen, was die Interessenbildung nicht einfach gestaltet. Viele Mittelständler beschweren sich über die Höhe der Beiträge und den Mangel an Einfluss kleinerer und mittlerer Unternehmer innerhalb der IHKn. Einige ärgern sich über die „Zwangsmitgliedschaft“. Jede IHK muss mit einer gewissen Zahl von „Kammerverweigerern“ rechnen, die den Kammerbeitrag nicht bezahlen. Die Kammerverweigerer werfen den Kammern vor, dass die Zwangsmitgliedschaft undemokratisch sei und dass die Kammern den Mittelstand nur bremsen würden. Sie behaupten auch, dass sie die Dienste der IHKn noch nie in Anspruch genommen hätten und dementsprechend keine Beiträge zahlen müssten. Kammervertreter erwidern darauf, dass die persönliche Beratung nur ein Teil der Leistungen der IHKn sei. Alle Firmen profitierten schließlich von weiteren Schwerpunkten der IHKn wie z. B. der Abnahme
II.2 Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke
175
von Prüfungen bei der dualen Ausbildung, der Gründer- und Unternehmerberatung, der Hilfe bei Zoll- und anderen Verwaltungsverfahren und von der Interessenvertretung für die Wirtschaft. Die Kommunen sind verpflichtet, bei beitragssäumigen „IHK-Rebellen“ die entsprechenden Beiträge einzutreiben. Größere Firmen beschweren sich, dass die Ausbildungsarbeit der IHKn für global tätige Unternehmen oft ungeeignet und nicht zukunftsgemäß sei. Mitte der 1990er Jahre befragte der DIHK über 13.000 Unternehmen und nur 65 Prozent der teilnehmenden Firmen gaben an, dass sie mit der Kammerarbeit zufrieden seien (Die Welt, 4. Februar 1998). Die deutsche Sektion des Europaverbandes der Selbständigen fordert seit 1983 ein Ende der Zwangsmitgliedschaft sowie die Privatisierung der Kammern. Klagen zur Aufhebung der IHK-Pflichtmitgliedschaft scheiterten vor dem Bundesverfassungsgericht. Mehrmals versuchten regierende Parteien vergeblich, die IHK-Pflichtmitgliedschaft abzuschaffen. Den letzten Versuch gab es im Jahr 2005. Zwar konnten die Gegner von Pflichtmitgliedschaften in IHKn diese nicht auflösen, allerdings verbleiben die Kritiker als latente Störfaktoren innerhalb der Kammern und manche Firmen sind lediglich ein Totgewicht für die IHKn, weil sie nichts mit den Kammern zu tun haben möchten. 4.2 Arbeitgeberverbände Einer der wichtigsten Indikatoren für den Einfluss der Arbeitgeberverbände auf den Arbeitsmarkt ist ihr Organisationsgrad, d. h. der Anteil der Beschäftigten in den Mitgliedsfirmen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Beschäftigten. Leider sind auch diese Daten nur schwer verfügbar. Nur ein Sektorenverband, nämlich Gesamtmetall, veröffentlicht jedes Jahr Informationen über den Mitgliederbestand. Zwei Tendenzen lassen sich anhand der Daten hervorheben. Der Organisationsgrad der westdeutschen Metallindustrie blieb bis Mitte der achtziger Jahre außergewöhnlich stabil bei ungefähr 75 Prozent (siehe Abbildung 1). Danach fiel er um fast 20 Prozentpunkte, und zwar von 77,4 Prozent im Jahre 1984 auf 53,3 Prozent im Jahre 2008. Der Trend ist in Ostdeutschland sogar noch deutlicher ausgeprägt (siehe Abbildung 1). Der Organisationsgrad der ostdeutschen Metallindustrie lag im ersten vollen Jahr nach der deutschen Einheit bei 65,7 Prozent. Diese Zahl war nicht weit vom Niveau in Westdeutschland (71,6 Prozent) entfernt. Aber der Großteil dieser ostdeutschen Mitgliedschaftsstärke war vor allem das Ergebnis einer Pflichtmitgliedschaftspolitik für alle Betriebe unter dem Management der Treuhandanstalt. Der Abstand zwischen dem westdeutschen und dem ostdeutschen Organisationsgrad vergrößerte sich deutlich, nachdem die Treuhandanstalt die Mehrzahl der ostdeutschen Betriebe privatisiert hatte. Im Jahre 1995 lag der Organisationsgrad des ostdeutschen Metallsektors unterhalb von 50 Prozent, 1997 sank er unter 40 Prozent, 2000 unter 30 Prozent, 2004 unter 20 Prozent, 2008 hatte er schließlich 16,1 Prozent erreicht. Wissenschaftler verwenden üblicherweise die Daten des Metallbereichs, um Tendenzen im Organisationsgrad für die deutsche Wirtschaft als Ganzes grob abschätzen zu können (Völkl 2002). Daten aus anderen Sektoren zeigen aber, dass diese Vorgehensweise unbefriedigend ist. Zum Beispiel war der Organisationsgrad des Bundesarbeitgeberverbands Chemie (BAVC) 2007 sogar höher als 1995 (siehe Abbildung 2). Zwar ist das Ausmaß der Beschäftigung bei den Mitgliedsfirmen im BAVC-Bereich gefallen, die Abnahme der Gesamtbeschäftigung erfolgte in diesen Branchen jedoch etwa im gleichen Zeitraum. Es ist
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
zudem bemerkenswert, dass der Organisationsgrad des BAVC im Jahre 1995 nur 4,4 Prozentpunkte höher als in der Metallindustrie (d. h., 71,1 % vs. 66,7 %), jedoch 20 Prozentpunkte höher als im Jahre 2007 lag (d. h., 71,3 % vs. 50,7 %; vgl. Abbildungen 1 und 2). Beschäftigte bei Mitgliedsfirmen und Arbeitgeberorganisierungsgrad bei Gesamtmetall*
4.000.000
90
3.500.000
80 70
3.000.000
60
2.500.000
50 2.000.000 40 1.500.000
30
1.000.000
Organisationgrad (in %)
Beschäftigte bei Mitgliedsfirmen
Abbildung 1:
20
500.000
10 0 1970 1972 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
0 West West OT Beschäftigte OG Ost (ohne OT) Beschäftigte OG Gesamt (ohne OT)
Ost Ost OT Beschäftigte OG West (ohne OT)
* Organisierungsgrad: Beschäftigte bei ordentlichen Mitgliedsfirmen als Anteil an den Beschäftigten in der M+E-Industrie. Quelle: Gesamtmetall.
Ähnlich verhält es sich im Bankgewerbe. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre ging die Zahl der Mitgliedsunternehmen zurück, wobei die Gesamtzahl der Firmen im Bankgewerbe proportional gesunken ist. Der Firmenorganisationsgrad im Bankensektor ist deshalb stabil geblieben. Die beträchtlichen Unterschiede im Hinblick auf Verbandsflucht bzw. Nicht-Eintritte zwischen den Sektoren bestätigen offenbar das Argument von Zimmer, dass „zwar die These einer Erosion der Arbeitgeberverbände in ihrer Allgemeinheit nicht haltbar ist, aber auch, dass das Problem in manchen Branchen gravierender ist, als es sich die Funktionäre gemeinhin einzugestehen wagen“ (z. B. Bau, Holz und Textilien) (Zimmer 2002: 93). Eine auf ökonomische Zyklen bezogene Erklärung der Abnahme des Organisationsgrades kann verworfen werden, weil die Branchentrends unterschiedlich sind und nicht der Branchenkonjunktur entsprechen. Mehr empirische Forschung ist in diesem Bereich drin-
II.2 Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke
177
gend nötig. Vorsichtig kann man feststellen, dass die Erosion von Arbeitgeberverbänden in Sektoren bzw. Regionen ohne eine starke Konzentration von Großfirmen viel stärker ausgeprägt ist (vgl. Schroeder/Ruppert 1996). Abbildung 2:
Beschäftigte bei Mitgliedsfirmen und Arbeitgeberorganisierungsgrad des Bundesarbeitgeberverbands Chemie*
1.000.000
70%
900.000
Beschäftigte bei Mitgliedsfirmen
700.000
50%
600.000 40% 500.000 30%
400.000 300.000
Organisationgrad (in %)
60%
800.000
20%
200.000 10%
100.000
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
0% 1995
0
Gesamtbeschäftigung im BAVC-Organisierungsbereich Beschäftigte bei Mitgliedsfirmen Beschäftigte OG * Organisierungsgrad: Beschäftigte bei Mitgliedsfirmen als Anteil an den Beschäftigten in den Chemie-, Gummiwaren-, Kunststoffwaren- und Mineralölverarbeitungsindustrien. Quellen: BAVC und Statistisches Bundesamt.
Nur eine Form alternativer Mitgliedschaft hatte Erfolg. Im Jahre 2008 waren fast vierzig Prozent der Mitgliedsunternehmen in allen westdeutschen Metallarbeitgeberverbänden OTMitglieder (Quelle: http://www.gesamtmetall.de). Diese Unternehmen beschäftigen allerdings nur 9,1 Prozent der Arbeitnehmer des gesamten Sektors. Im Osten gehört in vielen Sektoren eine Majorität von Arbeitgeberverbandsmitgliedern einem OT-Verband an. In der sächsischen Metallindustrie sind z. B. nur 60 Unternehmen Mitglied eines „vollen“ Arbeitgeberverbandes, 1000 Unternehmen gehören dagegen einem OT-Verband an. Auch im Bankgewerbe zeigen die Daten eine Zunahme an OT-Mitgliedschaften. Im Jahre 2000 waren nur 11 Prozent der Mitgliedsfirmen im Bankensektor OT-Mitglieder. 2009 war der Anteil um 26 Prozent gewachsen (AGV Banken 2000, 2009). Die OT-Mitgliedschaft erwies sich als besonders attraktiv für den Mittelstand. Trotz des Erfolgs dieser neuen Form der Mitgliedschaft konnte jedoch keine der Gegenmaßnahmen die sinkenden Mitgliederbe-
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
stände deutscher Arbeitgeberverbände stoppen. Es bleibt abzuwarten, ob ein Wendepunkt ansteht, an dem die Flucht in die OT-Verbände die Durchsetzungsfähigkeit der ordentlichen Arbeitgeberverbände und des Flächentarifvertrages als Instrument für die Ordnung des Arbeitsmarktes untergräbt. 4.3 Wirtschaftsverbände Daten über die Mitgliedschaft der Wirtschaftsverbände sind ebenfalls nur bruchstückhaft vorhanden. Es deutet jedoch vieles darauf hin, dass Verbandsflucht gegenwärtig für sie kein gravierendes Problem darstellt. Nach Angaben des BDI bleibt der Organisationsgrad der Wirtschaftsverbände stabil bei 80 Prozent (Interview mit Klaus Bräunig, Mitglied der BDIHauptgeschäftsführung, 9. Juni 2006). Die relative Erosion des industriellen Teils der Wirtschaft forderte jedoch die industriellen Wirtschaftsverbände besonders. In den 1950er Jahren repräsentierten die traditionellen Industriebereiche noch mehr als 40 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) bzw. der Beschäftigten. 2008 betrug der Industrieanteil an der Volkswirtschaft nur noch 23 Prozent des BIP und 19,9 Prozent der Beschäftigten. Als Antwort darauf weitete der BDI seinen Vertretungsbereich auf den Dienstleistungssektor aus. Im Jahre 1999 integrierte der BDI den neuen Verband BITKOM (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien). Seitdem traten vier zusätzliche Dienstleistungsverbände dem BDI bei: der Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft (2003), die Arbeitsgemeinschaft deutscher Verkehrsflughäfen (2003), der Verband beratender Ingenieure und Consultants (2006) sowie der Zentrale Immobilien Ausschuss (2008). Diese Änderungen reichten aber nicht aus, um die verlorenen Anteile am BIP und an den Beschäftigten wettzumachen. Wie wir bereits gesehen haben, entwickelte sich der Organisationsgrad in den drei Unternehmerorganisationen in den vergangenen Jahren beträchtlich auseinander. Die IHKn haben wegen der Zwangsmitgliedschaft kein explizites (Rekrutierung), sondern nur ein implizites Mitgliedschaftsproblem (Unzufriedenheit, Austritte). Einige, aber nicht alle Arbeitgeberverbände erfuhren eine Verbandsflucht, deren Umfang von Sektor zu Sektor beträchtlich schwankt. Die Wirtschaftsverbände litten zwar nicht unter einer Verbandsflucht, aber das Schrumpfen des industriellen Sektors verringerte den Anteil der Industrie an der Volkswirtschaft und die Zahl der Arbeitnehmer in den Mitgliedsfirmen deutlich. Der folgende Abschnitt greift auf den theoretischen Überblick zu Beginn des Beitrags zurück, um die unterschiedlichen Resultate zu erklären. 5
Erklärungen für unterschiedliche Mitgliedschaftstrends
Warum ist die Verbandsflucht ein großes Problem für viele Arbeitgeberverbände und die Schrumpfung ein großes Problem für die Wirtschaftsverbände? Erstens aufgrund der Tertiarisierung der Wirtschaft. Wie erläutert wird der BDI weit mehr als die BDA von diesem Trend beeinflusst, weil der BDI nur Industrie- und industrienahe Wirtschaftsverbände umfasst. Dies ist der Hauptgrund für die Schrumpfung des BDI. Die BDA ist demgegenüber nicht von dieser Tendenz betroffen, weil dort auch für den Dienstleistungssektor zuständige Arbeitgeberverbände mit sehr hohen Organisationsgraden Mitglied sind (z. B. Banken).
II.2 Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke
179
Zweitens reflektiert die Abweichung im Organisationsgrad eine Verschiebung der selektiven Anreize. Aber vor einer detaillierteren Betrachtung dieser Faktoren soll eine populäre alternative Erklärung für die Mitgliedschaftsabnahme angesprochen werden, die durch die obigen Ausführungen widerlegt wird: die zunehmende Individualisierung als neuen Zeitgeist. Die Verschiebung deutscher Wirtschaftsprioritäten hin zu einem schnellerem Return on Investment und die zunehmende Individualisierung der deutschen Gesellschaft waren bis zuletzt populäre Forschungsthemen (z. B. Deutsche Shell 2002; Geißler 2006; Opaschowski 2001; Sinn 2005). Burgmer (2002) behauptet, dass „das Phänomen der veränderten Denkrichtung der Unternehmer im Zuge der anhaltenden Kostenkrise“ mit einer „Fokussierung auf den shareholder value im engeren Sinne“ und „der Paradigmenwechsel in der Gesellschaft, ein Wechsel von Solidarität und Gemeinwohlorientierung hin zu Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen sowie zur abnehmenden Bindungsfähigkeit ihrer Mitglieder insgesamt“ maßgeblich die Verbandsprobleme seit Beginn der neunziger Jahre verursacht hätten (Burgmer 2002: 161). Sie stellt weiter fest: „In der Nachkriegsära war es für jeden standesbewussten Unternehmer eine Selbstverständlichkeit, Mitglied in mindestens drei Organisationen zu sein: in der für ihn zuständigen Industrieund Handels- oder Handwerkskammer, in dem einschlägigen Branchenverband und in dem regional zuständigen Arbeitgeberverband. Seit den neunziger Jahren existiert dieser Automatismus nicht mehr uneingeschränkt. Das Vertrauen der Unternehmer darauf, dass ein Verband die gemeinsamen Interessen gegenüber Dritten effizienter vertritt als der einzelne Unternehmer selbst, ist geschwunden. (...) Mussten in der Vergangenheit Unternehmer, die ihre Verbände verließen, mit gesellschaftlicher Diskreditierung, entsprechenden Nachteilen für ihre Reputation und damit für ihre geschäftlichen Tätigkeiten rechnen, sind spätestens mit Beginn der neunziger Jahre Verbandsaustritte nichts Ehrenrühriges mehr. Es scheint sogar dem Zeitgeist zu entsprechen, Verbänden den Rücken zu kehren“ (ebd.: 162).
Die Kostendruck- und Individualisierungsthesen lassen eine Flucht aus Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden erwarten, die in Art und Umfang gleich wäre. Aber oben wurde bereits dargelegt, dass diese unterschiedlich ausfällt. Während der Organisationsgrad der Wirtschaftsverbände stabil bleibt, sinkt er bei vielen Arbeitgeberverbänden. Warum? Im Gegensatz zu Arbeitgeberverbandsmitgliedschaft ist der Nettonutzen einer Wirtschaftsverbandsmitgliedschaft in den letzten zwei Jahrzehnten gestiegen. Die Zunahme des internationalen Wettbewerbs erhöhte auch die relativen Kosten der Verbandsmitgliedschaft, weil sie die Preiskonkurrenz sowohl auf den Binnen- als auch auf den Weltmärkten verschärfte. Es ist auch wichtig, nicht außer Acht zu lassen, dass die Kosten einer Verbandsmitgliedschaft aus mehr als dem Beitrag bestehen. Die Anforderungen der Mitgliedschaft führen auch zu indirekten Kosten, die in die Betrachtung einbezogen werden müssen. Ein Preis der vollen Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ist zum Beispiel die Einhaltung des Flächentarifvertrages. Der Wert der selektiven Güter, die aus einer Mitgliedschaft erwachsen, muss der Summe aus den direkten und indirekten Kosten der Verbandsmitgliedschaft mindestens entsprechen, andernfalls meiden Firmen den Verband. Alle Arten von Kostenerhöhungen erschweren die Werbung und Bindung von Mitgliedern, weil sie den Nettowert der selektiven Güter verringern. Ein Grund für die Flucht der kleinen und mittleren Unternehmen aus Arbeitgeberverbänden, nicht aber aus Wirtschaftsverbänden, ist weniger die konkrete Beitragshöhe, sondern vielmehr die Zunahme der indirekten Kosten, die sich aus einem Flächentarifvertrag ergeben (Silvia/Schroeder 2007).
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Ähnlich divergiert der Wert der Leistungen, die Unternehmer den beiden unterschiedlichen Verbandstypen beimessen. Arbeitgeberverbände bieten traditionsgemäß eine Personalberatung, Rechtsschutz und Streikunterstützung. Sie führen vor allem Tarifverhandlungen, um die Transaktionskosten für die Unternehmen zu reduzieren. Der Wert der letztgenannten Güter ist aus Sicht einer gewachsenen Gruppe von Unternehmen in den letzten Jahrzehnten gesunken. Die Zahl der Streiks und Aussperrungen ging über die Jahre zurück (Schroeder/Silvia 2003: 263í264). Infolgedessen fiel der Wert einer Streikunterstützung drastisch ab. Äußerungen von Unzufriedenheit mit den Resultaten von Tarifverhandlungen nahmen dagegen zu. Der Wert der Personalberatung und des Rechtsschutzes für die Mitglieder sank ebenfalls, wie die zunehmenden Zahlen von Unternehmen zeigen, die externe Berater beauftragen, um diese Dienstleistungen einzukaufen (Burgmer 2002: 162). Demgegenüber erhöhte sich der relative Wert einiger Dienstleistungen, die Wirtschaftsverbände anbieten (z. B. Überseemarketing). Die Abnahme des Wertes der selektiven Güter der Arbeitgeberverbände und die Zunahme des Wertes der Dienstleistungen der Wirtschaftsverbände stimmen mit den Mitgliedschaftstrends der beiden Verbandstypen überein. Diese Ergebnisse bestätigen auch die Bedeutung von selektiven Gütern für eine erfolgreiche Werbung durch die Verbände. Zusammenfassend bietet der Wertewandel alleine eine unzulängliche Erklärung für die Mitgliedschaftsentwicklungen von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden, weil die Mitgliedschaftstrends bei den beiden Typen von Unternehmerverbänden divergieren. Die Unterschiede in den Mitgliedschaftstrends können durch Buchanans und Olsons Überlegungen zu den Verschiebungen im Wert der Kosten und des Nutzens selektiver Güter besser erklärt werden. Die Tertiarisierung der Wirtschaft führte zu einem Schrumpfen des Industrieanteiles an der Volkswirtschaft, was eine entsprechende Wirkung auf die Wirtschaftverbände hatte. Aber unveränderte Kosten und ein steigender Wert der selektiven Güter, die Wirtschaftsverbände zur Verfügung stellen, ermöglichten es ihnen, einen stabilen Organisationsgrad beizubehalten. Demgegenüber erhöhte die Globalisierung die Kosten der von Arbeitgeberverbänden angebotenen selektiven Güter und verringerte damit den Nutzen dieser Güter. Die Auswirkung zeigt sich im sinkenden Organisationsgrad der Arbeitgeberverbände. Die Arbeitgeberverbände experimentierten mit einer Vielzahl von Mitgliedschaftsformen, um dem Trend entgegenzuwirken, aber sie hatten nur mit den OT-Mitgliedschaften Erfolg. 6
Resümee
Die Literatur zur Mitgliedschaftslogik betont die Bereitstellung von selektiven Gütern als Hauptinstrument der Mitgliederwerbung und -bindung. Unterschiede bezüglich der Organisationsstrukturen von Unternehmerverbänden und Industrie- und Handelskammern produzieren unterschiedliche Mitgliedschaftslogiken. IHKn müssen nicht um Mitglieder werben, aber sie müssen sich um eine extrem heterogene und teilweise ablehnende Mitgliedschaft kümmern, die zum Teil überhaupt nicht Mitglied sein möchte. Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände müssen die Mitgliederwerbung und -bindung immer im Auge behalten, um ihre Existenz und Stärke zu sichern. Die Mitgliedschaftstrends von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden laufen seit Mitte der 1980er Jahre auseinander. Viele Arbeitgeberverbände erfahren eine Verbandsflucht, die ihren Organisationsgrad verringert. Die Mitgliedschaft
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in den Wirtschaftsverbänden schrumpfte insgesamt, der Organisationsgrad blieb aber stabil. Änderungen in den Kosten und im Nutzen der Mitgliedschaft erklären weitestgehend die unterschiedlichen Mitgliedschaftstrends. Literatur Grundlegende Literatur Olson, Mancur (1968): Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektive Güter und die Theorie der Gruppen. Tübingen: Mohr. Salisbury, Robert H. (1969): An Exchange Theory of Interest Groups. In: Midwest Journal of Political Science, 13, S. 1í32. Schroeder, Wolfgang/Ruppert, Burkhard (1996): Austritte aus Arbeitgeberverbänden. Gefahr für das deutsche Modell? Marburg: Schüren. Silvia, Stephen/Schroeder, Wolfgang (2007): Why are German Employers Associations Declining? Arguments and Evidence. In: Comparative Political Studies, 40, S. 1433í1459. Völkl, Martin (2002): Der Mittelstand und die Tarifautonomie. Arbeitgeberverbände zwischen Sozialpartnerschaft und Dienstleistung. München/Mering: Hampp.
Weiterführende Literatur AGV Banken (Arbeitgeberverband des privaten Bankgewerbes) (2000): Jahresbericht 1999/2000. URL: http://www.agvbanken.de/AGVBanken/Presse/Jahresberichte/_doc_Jahresberichte/Text_ Geschaeftsbericht1.pdf (zuletzt besucht am 11.1.2010). AGV Banken (Arbeitgeberverband des privaten Bankgewerbes) (2009): Jahresbericht 2008/2009. URL: http://www.agvbanken.de/AGVBanken/Publikationen/_Jahresberichte/Geschaeftsbericht_ 2008-2009.pdf (zuletzt besucht am 11.1.2010). Buchanan, James M. (1965): An Economic Theory of Clubs. In: Economica, 32, S. 1í14. Burgmer, Inge Maria (2002): Die Zukunft der Verbände. Herausforderungen und Perspektiven der etablierten Wirtschaftsverbände. In: Süß, Werner (Hrsg.): Deutschland in den neunziger Jahren. Politik und Gesellschaft zwischen Wiedervereinigung und Globalisierung. Opladen: Leske + Budrich, S. 161í174. Clark, Peter B./Wilson, James Q. (1961): Incentive Systems. A Theory of Organizations. In: Administrative Science Quarterly, 6, S. 129í166. Deutsche Shell (Hrsg.) (2002): Jugend 2002. Zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus. 14. Shell Jugendstudie. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Elster, Jon (1989): The Cement of Society. Cambridge: Cambridge University Press. Geißler, Rainer (2006): Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (4., überarb. und akt. Aufl.). Jordan, Grant/Halpin, Darren (2004): Olson Triumphant? Recruitment Strategies and the Growth of a Small Business Organisation. In: Political Studies, 52, S. 431í449. Lane, Christel/Bachmann, Reinhard (1997): Co-operation in Inter-firm Relations in Britain and Germany. The Role of Social Institutions. In: British Journal of Sociology, 48, S. 226í254. Moe, Terry (1980): The Organization of Interests. Chicago: University of Chicago Press. Offe, Claus/Wiesenthal, Helmut (1980): Two Logics of Collective Action. Theoretical Notes on Social Class and Organizational Form. In: Political Power and Social Theory, 1, S. 67í115.
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Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in neuen Branchen: IKT und Zeitarbeit Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Raphael Menez
1
Einleitung
Neuen Branchen wie der Zeitarbeits- oder der IKT-Branche (Informations- und Kommunikationstechnologie) wird eine Vorreiterrolle im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess zugeschrieben. In ihnen manifestieren sich ökonomische, technologische, kulturelle und soziale Veränderungen, die als innovativ angesehen werden und somit Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung haben. Während in der IKT-Branche vor allem technologische Innovationen für eine hohe Wirtschaftsdynamik sorgen, erwächst die gesellschaftliche Bedeutung der Zeitarbeit aus ihren arbeitsmarktpolitischen Innovationen. Zwischen der IKTund der Zeitarbeitsbranche lassen sich im Hinblick auf die wirtschaftliche Performanz Gemeinsamkeiten festhalten: Beide zählen seit Jahren zu den Wachstumsbranchen mit hoher wirtschaftlicher Dynamik und in beiden dominieren zahlenmäßig kleine und mittelständische Unternehmen. Zudem ist in beiden Branchen der gewerkschaftliche Organisationsgrad gering. Die Ausgangsbedingungen für die Gründung von Arbeitgeberverbänden sind in beiden Branchen also ähnlich, glaubt man dem Befund der Verbändeforschung, dass die Wahrscheinlichkeit, Mitglied in einem Arbeitgeberverband zu werden, mit dem Alter und der Größe des Betriebes, dem Anteil gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer und dem Arbeitskampfrisiko steigt (Schnabel 2005). Um so erstaunlicher sind die grundlegenden Unterschiede bei der Entwicklung der Verbändelandschaft in beiden Branchen, die – so lautet unsere These – nicht zuletzt auf unterschiedliche Interessenlagen und die Rolle des Staates bei der Institutionalisierung von Branchen- und Verbändestrukturen zurückzuführen sind. Wie wir im Folgenden zeigen werden, dominiert in der IKT-Branche die marktgesteuerte Vertretung von Produktmarktinteressen, während in der Zeitarbeitsbranche die staatlich induzierte Vertretung von Arbeitsmarktinteressen im Fokus der verbandlichen Akteure steht. Dementsprechend entwickeln sich in beiden Branchen unterschiedliche Akteurskonstellationen: In der IKT-Branche dominieren konkurrierende Wirtschaftsverbände als zentrale verbandspolitische Akteure, während die Zeitarbeitsbranche maßgeblich durch konkurrierende Arbeitgeberverbände (und Gewerkschaften) reguliert wird. Die unterschiedlichen Handlungsrationalitäten und die unterschiedlichen Akteurskonstellationen in der IKT- und der Zeitarbeitsbranche sind erklärungsbedürftig. In diesem Beitrag sollen daher die Fragen beantwortet werden, wie Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der IKT- und der Zeitarbeitsbranche entstehen, welche Rolle Gewerkschaften dabei spielen, welche Produkt- und Arbeitsmarktinteressen (Streeck 1991) die Verbände vorrangig vertreten, wie die Interaktionslogiken zwischen Mitgliedschafts- und Einflusslogik (Streeck 1987; Schmitter/Streeck 1999) austariert werden, welche Probleme kollektiven Handelns (Olson 1968) dabei auftreten und mit welchen Strategien die Verbände diese
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unterschiedlichen Organisationsdilemmata (Traxler 1999; Wiesenthal 1993; Weitbrecht 1969) lösen können. Ferner wird auf die besondere Bedeutung des Staates bei der Institutionalisierung von Verbändestrukturen hingewiesen (Streeck 1994; Czada 1992). Der Beitrag ist folgendermaßen aufgebaut: Im ersten Abschnitt wird zunächst die Verbändelandschaft der IKT-Branche untersucht. Der Abschnitt beginnt mit einer Darstellung der Wirtschaftsstruktur dieser Branche, anschließend wird ein kurzer Blick auf das System der industriellen Beziehungen geworfen, bevor die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände in der IKT-Wirtschaft vorgestellt werden. Die Zeitarbeitsbranche wird im zweiten Abschnitt analog zur IKT-Branche behandelt. Im dritten Abschnitt werden schließlich die dargestellten Ergebnisse zusammengefasst und deren Auswirkungen auf das deutsche Modell diskutiert. 2
Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der IKT-Branche
Es bestehen nach wie vor erhebliche Forschungslücken zu Arbeitgeberverbänden in der IKT-Branche. Eine explizite Verbändeperspektive nehmen nur die Studien von Lang (2006), Lang/Grote (2005) und Menez (2004, 2007) ein. Bei Lang steht die horizontale Integration von Wirtschaftsverbänden in die bestehenden Dachverbandsstrukturen von BDI und BDA im Fokus der Analyse. Er untersucht die Dynamik von Verbandsgründungen sowie Kooperationsbeziehungen der Wirtschaftsverbände aus einer populationsökologischen Perspektive und arbeitet heraus, dass die Pluralisierung der Verbandslandschaft zu mehr Wettbewerb und Konkurrenz zwischen den Verbänden geführt hat. Menez (2004, 2007) untersucht demgegenüber die Organisationsfähigkeit von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften in der IKT-Branche. Er zeigt auf, dass es innerhalb der IKT-Branche bisher zu keiner Gründung eines tariffähigen Arbeitgeberverbandes gekommen ist. Stattdessen versuchen Arbeitgeberverbände aus traditionellen Industrien wie der M+E- oder der Druckindustrie, ihre Organisationsdomänen auf diese zukunftsträchtige Branche auszuweiten. Diese Strategien sind bisher nicht erfolgreich, weil der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den IKT-Unternehmen gering ist und somit kein Bedarf an tarifvertraglicher Regulierung besteht. In beiden Arbeiten wird auf die sektorale Ausdifferenzierung der IKT-Branche verwiesen, die durch technische Innovationen zustande kommt und eine Entgrenzung verbandlicher Organisationsdomänen zur Folge hat. Aus diesem Grund wird im Folgenden zunächst die Struktur und Entwicklung der sektoralen Differenzierung dieser Branche dargestellt, bevor näher auf die dynamische Verbandslandschaft in der IKT-Branche eingegangen wird. 2.1 Die Struktur und wirtschaftliche Bedeutung der IKT-Branche Die wachsende gesamtwirtschaftliche Bedeutung der IKT-Branche und das sich in ihr abzeichnende neue Paradigma, das als „Wintelismus“ bezeichnet wird und einen Bruch mit dem „chandlerianischen“ Paradigma der alten Industriegovernance markiert (Borrus/Zysman 1997; Jürgens et al. 2003), 1 weisen der IKT-Branche einen leitbildprägenden Charakter bei der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung zu (Zerdick et al. 1999). 1
Das chandlerianische Unternehmensmodell steht für ein vertikal integriertes und diversifiziertes, funktional bzw. divisional organisiertes und durch Manager hierarchisch gesteuertes Großunternehmen, der Wintelis-
II.3 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in neuen Branchen: IKT und Zeitarbeit
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Dennoch bestehen nach wie vor Schwierigkeiten in der wirtschaftsstatistischen Erfassung dieser Entwicklungen. Das Statistische Bundesamt erhebt seit 2004 regelmäßig die makroökonomische Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien und die Struktur der IKT-Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Die Statistiken basieren dabei jedoch auf unterschiedlichen Datengrundlagen und wirtschaftsstatistischen Abgrenzungen. Erhebungen, die auf das Unternehmensregister sowie die Handels- und Dienstleistungsstatistik des Statistischen Bundesamtes zurückgreifen, bei denen nur Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten berücksichtigt werden (Statistisches Bundesamt 2006), kommen auf eine Gesamtzahl von 57.716 IKT-Unternehmen2 mit rund 1 Mio. Beschäftigten (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Unternehmen und Beschäftigte in der IKT-Branche (2002) IKT im verarbeitenden Gewerbe Dienstleistungen mit IKT-relevanten Waren IKT-Dienstleistungen IKT insgesamt Zum Vergleich: Verarbeitendes Gewerbe insgesamt Handel insgesamt Dienstleistungen insgesamt
Unternehmen
Beschäftigte
Umsatz in Mio. EUR
2.204 12.929 42.582 57.716
347.103 146.772 584.568 1.078.443
86.503 68.069 116.183 270.754
49.960 303.931 638.290
6.294.989 3.533.435 5.765.548
1.340.399 873.931 643.329
Quelle: Statistisches Bundesamt 2006.
Hinsichtlich der Struktur der Unternehmen lässt sich festhalten, dass die IKT-Branche klein- und mittelständisch geprägt ist. Nur 0,6 % aller steuerpflichtigen Unternehmen aus dem IKT-Bereich waren im Jahr 2005 sogenannte Großunternehmen mit mehr als 50 Mio. Euro Jahresumsatz. Diese Großunternehmen erwirtschafteten aber zusammen 75,1 % des gesamten IKT-Umsatzes. Demgegenüber waren 92,4 % aller IKT-Unternehmen Kleinunternehmen mit einem Jahresumsatz von unter 2 Mio. Euro, die zusammen nur 7,0 % des gesamten IKT-Umsatzes erwirtschafteten (Statistisches Bundesamt 2007). Bei der Betrachtung der Unternehmensgröße nach Beschäftigtenzahl zeigt sich, dass im Jahr 2002 11 % aller abhängig Beschäftigten in Kleinstbetrieben mit weniger als 10 Mitarbeitern tätig waren. Diese Kleinstbetriebe machten knapp drei Viertel aller IKT-Betriebe aus. In Großbetrieben mit mehr als 250 Beschäftigten waren dagegen 40 % aller Beschäftigten tätig, obwohl diese nur einen Anteil von 1,2 % aller Betriebe ausmachten (Statistisches Bundesamt 2004). Die wirtschaftliche Bedeutung der IKT-Branche für die Gesamtwirtschaft wird an der Bruttowertschöpfung und dem Bruttoinlandsprodukt gemessen. Der Anteil der IKTProduktion an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung lag im Jahr 2005 bei 5,8 %.
2
mus steht demgegenüber modellhaft für die Kooperation spezialisierter, vertikal desintegrierter Unternehmen, die sich auf der Basis modularer Produktarchitekturen und offener Produktstandards auf je spezifische Segmente der Wertschöpfungskette konzentrieren (Jürgens et al. 2003: 395 f.). Erhebungen, die auf der Umsatzsteuerstatistik der Finanzbehörden basieren, kommen zu deutlich abweichenden Ergebnissen. Danach liegt die Gesamtzahl der IKT-Unternehmen bei rund 125.000, was 4,1 % aller umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen entspricht (Statistisches Bundesamt 2007).
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Der Anteil der IKT-Branche am Bruttoinlandsprodukt lag 2004 bei 6,8 %, dies entspricht einem Betrag von rund 150 Mrd. Euro (Statistisches Bundesamt 2006, 2007). 3 BITKOM schätzt das Marktvolumen der IKT-Branche in Deutschland 2009 auf ca. 141 Mrd. Euro, die Entwicklung der letzten drei Jahre zeigt dabei eine leichte Stagnation mit durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten von knapp 0,2 % (BITKOM 2009a). Die Entwicklung der Beschäftigung zeigt auf der Basis aktueller Daten von BITKOM ebenso eine leichte Stagnation für die letzten vier Jahre. Danach erhöhte sich die Anzahl der Erwerbstätigen von 806.000 (2004) nur leicht auf 828.000 (2008), wobei sich in den einzelnen Wirtschaftssegmenten divergierende Entwicklungen abzeichnen: Während im Branchensegment Telekommunikation seit 2003 knapp 50.000 Arbeitsplätze verloren gingen, hat die Beschäftigung im Bereich der Informationstechnik (Hardware und Software) im selben Zeitraum um rund 75.000 Erwerbstätige zugenommen (BITKOM 2009b). Zusammenfassend lässt sich anhand der Strukturdaten der IKT-Branche in Deutschland zeigen, dass dieser Branche trotz der Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung zukommt. Die starke sektorale Ausdifferenzierung in eine Vielzahl von Branchensegmenten mit vielfältigen Produktmärkten lässt vermuten, dass Produktmarktinteressen leicht zu organisieren sind. Die klein- und mittelständisch geprägte Unternehmensstruktur wiederum lässt vermuten, dass Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften eher Schwierigkeiten bei der kollektiven Organisation von Arbeitsmarktinteressen haben werden, wie im nächsten Abschnitt dargestellt wird. 2.2 Das System der industriellen Beziehungen in der IKT-Branche Das System der industriellen Beziehungen in der IKT-Branche weist einige strukturelle Besonderheiten auf: Zunächst einmal finden wir ausgesprochen schwache Kollektivakteure auf der überbetrieblichen Ebene der Arbeitsbeziehungen vor. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften weisen einen sehr geringen Organisationsgrad auf und treten als zentrale tarifpolitische Akteure nur selten in Erscheinung. Dementsprechend gering ist die Tarifbindung in dieser Branche. 4 Darüber hinaus konkurrieren vor allem die IG Metall und ver.di bei der Organisierung der Arbeitnehmerinteressen miteinander und reklamieren die Zuständigkeit für die IKT-Branche jeweils für sich (Menez/Töpsch 2003), obwohl beide Gewerkschaften hier nur eine dünne Mitgliederbasis haben. 5 Diese Entwicklungen führen dazu, dass die Regulationsstrukturen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene deutlich heterogener werden (Boes/Baukrowitz 2002; Abel/Ittermann/Pries 2005; Lange/Feseker/Städler 3 4 5
Das Statistische Bundesamt wird erst im Dezember 2009 aktuellere Zahlen vorlegen. Ittermann und Niewerth (2004) schätzen die Tarifbindung bei den von ihnen untersuchten NEMAX-Unternehmen auf 7 %. Die Frage der Organisationszuständigkeit wurde innerhalb des DGB bislang nicht zufriedenstellend gelöst. Trotz des sogenannten 2+2+2-Papiers, das das Prinzip „ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ verbindlich festlegt und Kriterien für die Organisationszuständigkeiten definiert, und des DGB-Beschlusses vom Mai 2002, der diese Prinzipien noch einmal ausdrücklich bekräftigt, kommt es in der Praxis immer wieder zu Konflikten um die Interessenvertretung in einzelnen Unternehmen, die teilweise recht drastisch ausgetragen werden. Obwohl formal allein der DGB als Dachverband die Entscheidungskompetenz darüber besitzt, welche Gewerkschaft für welchen Betrieb zuständig ist, machen ver.di und die IG Metall ihre Interessenvertretungsansprüche nach wie vor in ein und denselben Unternehmen geltend (vgl. Menez/Töpsch 2003: 28 ff.). Verschärft wird die Organisationskonkurrenz durch den Umstand, dass auch verschiedene andere Einzelgewerkschaften aus historischen Gründen Unternehmen aus dem Bereich der IKT-Wirtschaft organisieren.
II.3 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in neuen Branchen: IKT und Zeitarbeit
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2005; Menez 2007). Zur Systematisierung dieser zunehmenden Hybridisierung der industriellen Beziehungen bietet es sich an, idealtypisch drei Typen der Arbeitsregulation in der IKT-Branche zu unterscheiden, die vor allem die verschiedenen Interessenvertretungsstrukturen, die jeweils dominierenden Akteure sowie die jeweils bevorzugten Regulationsgegenstände, Regelungsebenen und Regelungsinstrumente beschreiben (Braczyk et al. 2000; Töpsch/Menez/Malanowski 2001). Die tarifliche Arbeitsregulation hat ihren historischen Ursprung im Flächentarifvertragssystem. Hier sind die verbandlichen und betrieblichen Akteure bemüht, die wichtigsten Variablen der Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeit, Entgelt, Qualifizierung, Belastungen usw. zu standardisieren und möglichst flächendeckend einer Regulierung zu unterwerfen. In der IKT-Branche lässt sich der „reine“ Typus der kollektiven tariflichen Arbeitsregulation jedoch kaum vorfinden. In der Praxis kommt es zu erheblichen Brüchen mit der Funktionslogik des Flächentarifvertragssystems. Es sind in der Regel Unternehmen wie debis oder T-Systems, die aus dem Organisationsbereich des Flächentarifvertragssystems durch Ausgründungen oder die Entwicklung neuer Geschäftsfelder herausgewachsen sind und in denen teilweise eine heterogene Gemengelage von Regulationsformen vorherrscht, bedingt etwa durch den Zukauf von oder die Fusion mit nicht tarifgebundenen Unternehmen. Das zentrale Regulierungsinstrument ist dementsprechend ein Firmen- oder Haustarifvertrag, der zwischen Gewerkschaft und Unternehmen abgeschlossen wird. Arbeitgeberverbände haben hier bestenfalls noch beratende Funktion. Die der unternehmensbezogenen Arbeitsregulation zugeordneten Unternehmen (z. B. SAP) unterliegen keiner tariflichen Regulation, auch nicht in Form eines Haus- oder Unternehmenstarifvertrags. Meist handelt es sich um Unternehmen, die keine historische Bindung an das Flächentarifvertragssystem aufweisen oder sich schon vor langer Zeit für die ExitOption entschieden haben. Dominante Regelungsinstrumente sind bei diesem Typus definitionsgemäß nicht mehr der Flächen- oder Verbandstarifvertrag, sondern Betriebsvereinbarungen bzw. Zielvereinbarungen zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten sowie die individuellen Arbeitsverträge. Gelegentlich existieren betriebliche Vereinbarungen, die eine Verbindung zu bestehenden Branchentarifverträgen herstellen, etwa bei der Gehaltsentwicklung. Der dritte Typ der individualisierten Arbeitsregulation unterscheidet sich grundlegend von den in den industriellen Kernbereichen verbreiteten Regulationsformen. Die hier zugeordneten Unternehmen und ihre Mitarbeiter kommen nicht nur ohne Tarifvertrag und auch ohne Mitbestimmung und Betriebsverfassung aus, sondern praktizieren den bewussten Verzicht auf diese Regulationsformen. Somit bildet dieser Regulationstypus insbesondere einen Gegensatz zu der hohen Standardisierung und Regulationsdichte der flächenbezogenen oder unternehmensbezogenen tariflichen Regulation. Wichtigste Regelungsinstrumente sind nicht mehr der Flächentarifvertrag oder die Betriebsvereinbarung, sondern der Arbeitsvertrag und die Zielvereinbarung. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände spielen bei diesem Regulationstypus als Akteure der Interessenaushandlung keine Rolle. Weder sind die Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert noch sind die Unternehmen einem Arbeitgeberverband angeschlossen. Für die verbandlichen Akteure – Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften – ergeben sich aus den verschiedenen Regulationsweisen unterschiedliche Handlungsanforderungen und -spielräume. Dabei gibt es eine abnehmende Tendenz der Einflussmöglichkeiten verbandlicher Akteure: Während im tariflichen Regulationsmodell Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die vertragsschließenden Parteien sind, verändern sich schon bei der
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unternehmensbezogenen Arbeitsregulation die Regeln des Interessenausgleichs: Beim Abschluss von Haus- und Ergänzungstarifverträgen werden zumindest die Arbeitgeberverbände als Verhandlungspartner in eine marginale Position gedrängt und auch aus gewerkschaftlicher Sicht sind auf einzelne Unternehmen bezogene Regelungen gegenüber dem Flächentarifvertrag eher suboptimal. Die größten Risiken aber birgt aus Sicht der verbandlichen Organisationsfähigkeit die individualisierte Arbeitsregulation – nicht nur für die Unternehmen und Beschäftigten, sondern für den Fortbestand der verbandlichen Ordnung selbst, treten doch hier Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften als Akteure der Interessenaushandlung vollständig in den Hintergrund. Es zeigt sich, dass die Arbeitgeberverbände in ihrer Rolle als Tarifakteure auf starke Gewerkschaften angewiesen sind. Ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad gering – wie in den meisten IKT-Unternehmen – oder ist die Gefahr eines Arbeitskampfes nur marginal, so bestehen für die Unternehmen nur wenig Anreize, Mitglied in einem Arbeitgeberverband zu werden (Schnabel 2005; Schnabel/Wagner 1996). Arbeitgeberverbände aus den traditionellen Industrien, die ihre Organisationsdomäne dennoch auf die IKT-Branche ausweiten wollen, sind somit gefordert, alternative Anreize bereitzustellen oder alternative organisationspolitische Strategien zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund wird im folgenden Abschnitt den Fragen nachgegangen, wie die Arbeitgeberseite in der IKT-Branche positioniert ist und welche Ziele sie dort mit welchen organisationspolitischen Strategien verfolgt. 2.3 Die Struktur der Unternehmensverbände in der IKT-Branche 2.3.1 Wirtschaftsverbände in der IKT-Branche Die Verbandsstrukturen in der IKT-Branche sind hochgradig ausdifferenziert, was die Heterogenität der Branche widerspiegelt. Es existieren rund 30 Wirtschaftsverbände (Stand: Anfang 2009; siehe Tabelle im Anhang), die die jeweiligen Branchensegmente entweder als Fachverbände oder als selbständige Organisationen vertreten. Während in den 1980er Jahren die Verbandslandschaft der IKT-Branche noch maßgeblich durch den ZVEI (Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie) und den VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau) vertreten wurde (Lang/Grote 2005), bildeten sich mit der Gründung des BVDW (Bundesverband Digitale Wirtschaft, ehemals dmmv) im Jahre 1995 und des BITKOM (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien) im Jahre 2000 zwei Verbände mit einem umfassenden Vertretungsanspruch für die gesamte Branche und dem erklärten Ziel, die Zersplitterung der Verbandslandschaft im IKT-Bereich zu beenden. Während der BITKOM ursprünglich eher die Hardwaresegmente der IKT-Branche mit mittelständischen und großen Unternehmen organisierte, war die Organisationsdomäne des BVDW vor allem die Internet-, Multimedia- und Softwarebranche mit klein- und mittelständisch geprägten Unternehmen. Der Gründung des BITKOM ging der jahrelange Versuch voraus, die Verbandsstrukturen von BDI, VDMA und ZVEI neu zu gliedern. Ausgangspunkt war Mitte der 1990er Jahre eine tiefe Unzufriedenheit der Branchenverbände hinsichtlich der Leistungen und der Beitragsgestaltung des BDI. 6 Parallel dazu kam es zu erheblichen Auseinandersetzungen 6
Die vier größten Branchenverbände VCI, VDA, VDMA und ZVEI artikulierten deutlich ihre Unzufriedenheit; zwei dieser Branchenverbände stellten ihre Beitragszahlungen teilweise ein (Burgmer 1999).
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zwischen dem BDI, der BDA und den Branchenverbänden über die Tarifpolitik und das System der Flächentarifverträge. Kritisiert wurde am BDI zudem eine fehlende strategische Ausrichtung auf neue Wachstumsbranchen wie die IKT und eine Orientierung der Organisationsstrukturen an klassischen Branchen (Burgmer 1999). Innerhalb des BDI existierte seit den 1970er Jahren zwar ein Arbeitskreis Telekommunikationspolitik, eine organisationspolitische Aufwertung dieses Bereichs durch die Gründung einer eigenständigen Fachabteilung blieb aber lange aus. Erst zum 1. April 1998 wurde der Arbeitskreis durch eine „Arbeitsgemeinschaft Telekommunikation und Multimedia im BDI“ ersetzt, was als Vorstufe zu einem gemeinsamen Branchenverband gesehen wurde. Der neu zu gründende Verband sollte „Bundesverband Informations- und Kommunikationswirtschaft e. V.“ (BVIK) heißen und sieben Gründungsmitglieder umfassen (vgl. Burgmer 1999). 7 Parallel dazu fanden seit 1997 Fusionsbestrebungen zwischen ZVEI und VDMA statt, die jedoch 1998 erfolglos beendet wurden, was mit dem Verweis auf die unterschiedlichen Verbandsphilosophien begründet wurde (Lang 2006; Burgmer 1999). Der damalige Vorsitzende des ZVEI, Volker Jung, trat daraufhin 1999 von seinem Posten zurück, um sein Ziel einer Bündelung der Interessen der Informations- und Kommunikationswirtschaft in einem eigenständigen Verband zu erreichen. Im Oktober 1999 wurde schließlich mit Unterstützung des BDI der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM) gegründet, 8 um der IKT-Branche ein größeres bundespolitisches Gewicht zu geben und die politischen Interessen nach außen zu bündeln. BITKOM wurde unmittelbar darauf Mitglied im BDI und gehört als 35. Branchenverband mittlerweile zu den fünf größten Mitgliedsverbänden innerhalb des Dachverbandes. Das „Modell BITKOM“ (Lang 2006) stellt eine Kombination aus Verbände-Verband und Mitgliederverband dar, im Jahre 2009 wurden ca. 1.300 Mitglieder organisiert, darunter knapp 950 Unternehmen in direkter Mitgliedschaft sowie eine Vielzahl an Verbänden mit deren Mitgliedern in indirekter Mitgliedschaft. Im Unterschied zu BITKOM war die Entstehung des BVDW (ehemals dmmv) keine Verbandsausgründung bzw. -fusion, sondern eine reine Neugründung auf Initiative von Persönlichkeiten aus dem Bereich der digitalen Wirtschaft (vgl. Menez 2004). Diese übernahmen gewissermaßen eine Funktion als „politische Unternehmer“ (Salisbury 1969). Ziel der Verbandsbildung war es, als Ansprechpartner und Interessenvertretung für die Unternehmen aus dem Bereich der interaktiven Dienstleistungen zu fungieren. 9 Der Verband 7
8
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Zu den Gründungsmitgliedern gehörten der Verband privater Kabelnetzbetreiber (ANGA), der Bundesverband Informations- und Kommunikationssysteme (BVB), der Bundesverband Informationstechnologien (BVIT), der Verband für Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten (VATM), der Verband Privater Rundfunk und Telekommunikation (VPRT), der gemeinsame Fachverband Informationstechnik im VDMA und ZVEI (FV IT) sowie der Fachverband Kommunikationstechnik im ZVEI (FV KT). Verbandsseitige Gründungsmitglieder des BITKOM waren der gemeinsame Fachverband Informationstechnik im VDMA und ZVEI (FV IT), der Fachverband Kommunikationstechnik im ZVEI (FV KT), der Bundesverband Informations- und Kommunikationssysteme (BVB) und der Bundesverband Informationstechnologien (BVIT), die ein Jahr nach Gründung ihre eigenständigen Aktivitäten einstellten und im BITKOM aufgingen. Die Initiative zur Gründung des dmmv ging 1995 von Alexander Felsenberg (später Geschäftsführer und Vizepräsident des dmmv) und Florian Korff (später Vizepräsident des dmmv) aus. Felsenberg umschrieb die Motivation zur Gründung in einem Experteninterview mit dem Verfasser dieses Beitrags folgendermaßen: „(…) Chaos in der Branche zu beseitigen, Standards zu schaffen und konkrete Hilfe für die Mitglieder zu schaffen. Und einfach ein Ansprechpartner für die Politik zu sein, was wir damals von Beginn an waren, weil die ‚neuen Medien‘ damals das Thema waren. Und die waren froh, einen Ansprechpartner zu haben.“.
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konnte in der Folgezeit rasch wachsen – vor allem durch Fusionen mit anderen Branchenverbänden – und benannte sich 2004 in „Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) e. V.“ um. Dieser zählte im Jahre 2009 ca. 1.000 Mitglieder. Sowohl der BVDW als auch der BITKOM betreiben eine aktive Ausweitung ihrer Organisationsdomänen im Bereich der Mitgliedschafts- und Einflusslogik. Neben ihrer Kernfunktion als politische Lobbyverbände stellen sie umfangreiche Serviceangebote und Dienstleistungen für ihre Mitglieder bereit, die monetäre Vorteile und eine Verbesserung der Marktposition sicherstellen sollen. Die Ausweitung der Organisationsdomäne geht aber nicht so weit, auch Funktionen eines Arbeitgeberverbands anstreben zu wollen. Im Gegenteil ist die Konzentration auf die Vertretung der Produktmarktinteressen und die strategische Weigerung, Tariffunktionen auszuüben, der Schlüssel zum Erfolg beider Verbände: 10 Eine tarifpolitische Interessenvertretung wird von der Mehrheit der IKT-Unternehmen, die beim BITKOM oder BVDW Mitglied sind, nicht gewünscht (Menez 2007). Im Verlauf der letzten Jahre kam es zu einer erheblichen Dynamik in der Entwicklung der Verbändelandschaft. Ursächlich dafür war zum einen der Zusammenbruch der New Economy und die dadurch bedingte Auflösung von jungen Verbänden wie dem „European Net Economy Forum“ (Enef) 11 und dem „Silicon City Club“ 12. Zum anderen gab es vor allem im Software- und Telekommunikationssektor der IKT-Branche unterschiedliche Entwicklungen der Verbandsstrukturen: Im Softwaresektor ist in den letzten Jahren eine Konsolidierungswelle der Verbändelandschaft zu beobachten. 1999 wurde der „Spitzenverband der deutschen Softwareindustrie“ (SVDS) gegründet, der 1.600 Mitglieder umfasste und die einzelnen Software-Branchenverbände BVBS (Bundesvereinigung Bausoftwarehäuser), dmmv (Deutscher Multimedia Verband), VDEB (Verband der EDV-Berater), VSI (Verband der Softwareindustrie Deutschlands) und VUD (Verband der Unterhaltungssoftware Deutschland) als Dachverband organisierte. Der SVDS ging ebenso wie die Mitgliedsverbände dmmv, VSI und VUD im Laufe des Jahres 2005 im BVDW auf. Verbandsneugründungen fanden u. a. im Bereich der Internetwirtschaft (eco Verband) und der Unterhaltungssoftware statt, wo sich sowohl Entwickler (G.A.M.E.) als auch Publisher (BIU) von Computerspielen zu eigenständigen Verbänden zusammenschlossen. 13 Im Telekommunikationssektor der IKT-Branche ist die Verbändelandschaft demgegenüber geprägt durch die Konkurrenzsituation zum einstigen Monopolisten Deutsche Telekom. Hier existieren mehrere Spitzenverbände nebeneinander, so zum Beispiel der „Bundesverband Breitbandkommunikation“ (breko), der „Verband der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten“ (VATM) und der „Deutsche Verband für Post, Informationstechnologie und Telekommunikation“ (DVPT), die die Mehrzahl der Telekom-Konkurrenten organisieren, vor allem Produktmarktinteressen ihrer Mitglieder gegenüber der Telekom und der Bundesnetzagentur (vormals „Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post“) vertreten und auf die weitere Deregulierung des Telekommunikationssektors hinwirken.
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In einem Experteninterview betonte ein Funktionär von BITKOM dann auch: „Also das Thema Arbeitgeberverband gab es nie. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, gerade die Abwesenheit dieses Planes war Teil der Attraktivität unseres Verbandes, wenn ich das jetzt mal überspitzt formulieren darf.“ (Menez 2007: 270). Vgl. http://www.politik-digital.de/archiv/econsumer/enef.shtml. Vgl. VDI-Nachrichten Nr. 013 vom 28.03.2002. Darüber hinaus existiert eine Vielzahl von Fachverbänden, Mittelstandsvertretungen und Regionalverbänden (siehe die tabellarische Auflistung im Anhang).
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2.3.2 Arbeitgeberverbände in der IKT-Branche Die hohe Zahl von Wirtschaftsverbänden in der IKT-Branche lässt darauf schließen, dass Produktmarktinteressen hier gut zu organisieren sind. Im Folgenden soll diskutiert werden, ob dies auch für die Vertretung von Arbeitsmarktinteressen gilt. Zunächst fällt auf, dass es bisher zu keiner Gründung eines tariffähigen Arbeitgeberverbandes 14 aus der Branche heraus gekommen ist (Menez 2007). Stattdessen versuchen Arbeitgeberverbände aus anderen Branchen, vornehmlich aus der Metall- und Elektroindustrie sowie der Druckindustrie, ihre Organisationsdomänen auf die IKT-Branche auszudehnen. Dies geschieht vor allem über eine Änderung ihrer Satzungen, wobei sie die Zuständigkeit für diese Branche für sich reklamieren, um so die Mitgliedschaft für IKT-Unternehmen zu öffnen. Wie erfolgreich sind nun Arbeitgeberverbände aus der M+E- und der Druckindustrie bei der Ausweitung ihrer Organisationsdomänen in die IKT-Branche? 15 Zunächst kann festgehalten werden, dass diese Arbeitgeberverbände den Organisationsbedarf von IKTUnternehmen als eher gering einschätzen. Dies liegt zum einen daran, dass Tarifpolitik als Kernfunktion der Arbeitgeberverbände von den IKT-Unternehmen nicht nachgefragt wird. Zum anderen haben Gewerkschaften noch keine ausreichende Mitgliederbasis in dieser Branche, so dass von dieser Seite auch kein hinreichender Druck ausgeübt wird, um die Unternehmen zum Verbandsbeitritt zu motivieren. 16 Im Ergebnis führt das dazu, dass viele der branchenfremden Arbeitgeberverbände, die in die IKT-Branche drängen, bisher keine Mitgliedsunternehmen aus der IKT-Branche gewinnen konnten. Dennoch gab und gibt es Ausnahmen: debis war eines der ersten Unternehmen, das als Mitglied von Südwestmetall einen Ergänzungstarifvertrag mit der IG Metall abschloss. Durch die Fusion von debis und T-Systems wurde die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband allerdings beendet. Ein weiteres Unternehmen ist Infineon, das als Ausgründung von Siemens Mitglied in einem bayerischen Arbeitgeberverband ist. Auch im Telekommunikationsbereich sind vor allem die großen Anbieter Mitglied in einem Arbeitgeberverband, so z. B. Vodafone. Es handelt sich bei diesen Mitgliedern aber hauptsächlich um Unternehmen, die aus traditionell tariflich regulierten Branchen – etwa der Metallindustrie oder der Druckindustrie – herausgewachsen sind und jetzt in der Regel unternehmensspezifische 14
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Einzige Ausnahme ist der in Sachsen-Anhalt beheimatete VITM (Verband der IT- und Multimediaindustrie Sachsen-Anhalt e. V.), der laut Satzung sowohl Arbeitgeber- als auch Wirtschaftsverband ist und auf beharrliches Drängen eines lokalen IT-Unternehmers schließlich durch den VME und LVME (den regionalen Arbeitgeber- bzw. OT-Verband für die M+E-Industrie) gegründet wurde. Der VITM schließt keine Tarifverträge ab und fungiert quasi als OT-Verband für die regionale IT- und Multimediaindustrie. Der VITM ist seit November 2006 Mitglied im BITKOM. Die folgenden Ausführungen basieren auf Ergebnissen aus einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt über Arbeitgeberverbände in der IKT-Branche (Menez 2004, 2007). Untersucht wurden im Rahmen der Studie insgesamt 13 Verbände. Darunter befanden sich zwei Arbeitgeberdachverbände (M+E- sowie Druckindustrie), sieben regionale Arbeitgeberverbände aus der M+E-Industrie mit zum Teil satzungsmäßigen Öffnungen für die IKT-Branche, zwei reine OT-Verbände aus diesem Organisationsbereich sowie mit dem BVDW und dem BITKOM zwei klassische Wirtschaftsverbände. Ein Vertreter von Gesamtmetall schätzt daher die Organisationsneigung als gering ein: „Die Bereitschaft zur Mitgliedschaft bei IT-Unternehmen ist wesentlich geringer als bei produktionsorientierten Unternehmen. Das ist ein Wechselspiel, weil Unternehmen immer noch Arbeitgeberverband = Tarifpolitik = Gewerkschaft sehen. Und da ist das Bedürfnis alleine deswegen nicht groß, weil der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den IT-Unternehmen extrem gering ist. Insofern ist da kein Druck da, nun via Arbeitgeberverband Tarifverträge abschließen zu müssen.“ (vgl. Menez 2007: 243).
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
tarifvertragliche Regulierungen implementieren – oftmals mit Unterstützung des jeweiligen Arbeitgeberverbandes. Eine weitere organisationspolitische Strategie liegt in der Ausdifferenzierung der Mitgliedschaft in Tarif- und OT-Verbände. Die Einrichtung von OT-Strukturen kann entweder über eine Öffnung der Satzung oder aber durch die Gründung eines eigenständigen OTVerbands erfolgen. Eine Satzungsöffnung hat beispielsweise der Bundesverband Druck und Medien vorgenommen, während viele der M+E-Arbeitgeberverbände sich für den Weg der Gründung eines eigenständigen OT-Verbandes entschieden haben (Zimmer 2002; Menez 2004; Haipeter/Schilling 2006). Aus Sicht der Verbände hat die Einführung von OTStrukturen zwei Funktionen: Die erste Funktion besteht darin, ein Auffangbecken für diejenigen Unternehmen bereitzustellen, die aus dem tarifgebundenen Arbeitgeberverband ausscheiden wollen (Bestandssicherungsfunktion). War die Öffnung der Verbände anfangs nur ein eher defensiver Versuch, der Verbandsflucht bisheriger Mitgliedsunternehmen entgegenzutreten, so zeigt sich ein nicht intendierter positiver Effekt für die untersuchten Verbände: Durch die OT-Verbände bzw. OT-Mitgliedschaften können nicht nur bisherige Mitgliedsunternehmen im verbandlichen Einflussbereich gebunden werden, sondern vor allem auch neue Mitglieder angesprochen und rekrutiert werden (Rekrutierungsfunktion). Diese Entwicklung zeichnet sich auch in der IKT-Branche ab: Arbeitgeberverbände können Neueintritte von IKT-Unternehmen ausschließlich in ihren OT-Verbänden verzeichnen, wie die Beispiele des VITM in Sachsen-Anhalt oder auch des BayMe (Bayerischer Unternehmensverband Metall und Elektro e. V.) zeigen. Letzterer ist mittlerweile erheblich größer als der originäre Tarifverband (VBM – Verband der Bayerischen Metall- und Elektro-Industrie e. V.) und konnte viele IKT-Unternehmen gewinnen. Es deutet vieles darauf hin, dass sich Arbeitgeberverbände verstärkt den selektiven Erwartungen ihrer Mitgliedsunternehmen zuwenden, die vor allem Service- und Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen. Das verbandliche Selbstverständnis als Tarifakteur wird damit aufgebrochen in Richtung eines „Arbeitgeberdienstleistungsverbandes“ (Menez 2007: 262) mit der Konsequenz, dass die Strukturkomplementarität zu den Gewerkschaften (Schroeder/Silvia 2003) gelockert wird und sich ein Strategiewandel von der Einfluss- zur Mitgliedschaftslogik herauskristallisiert. 3
Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der Zeitarbeitsbranche
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Zeitarbeit 17 hat in Deutschland vor allem seit den einschneidenden gesetzlichen Liberalisierungsmaßnahmen in dieser Branche ab 2002/03 Konjunktur. 18 Die EU-Richtlinie über die Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern, die 17 18
Alternative Begriffe sind Leiharbeit, Arbeitnehmerüberlassung und Personalleasing. Mittlerweile liegen umfangreiche Sammelbände (u. a. Schwaab/Durian 2009), Monographien (u. a. Vitols 2008) und Studien zur Leiharbeit vor, darunter arbeitsmarktpolitische Untersuchungen auf Basis des IABBetriebspanels (Bellmann/Kühl 2007, 2008; Promberger 2006) oder auf Basis des Mikrozensus (Puch 2008), Analysen zur Entwicklung der Zeitarbeit (Burda/Kvasnicka 2005; Antoni/Jahn 2006; Miegel/ Wahl/Schulte 2007; Brenke/Eichhorst 2008; Mai 2008), international vergleichende Untersuchungen (u. a. Vanselow/Weinkopf 2009) sowie arbeitssoziologische Studien, die die Flexibilität und Prekarisierung von Zeitarbeit kritisch hinterfragen (u. a. Seifert/Brehmer 2008; Weinkopf/Vanselow 2008; Holst/Nachtwey/ Dörre 2009). Hinsichtlich der Rolle und Funktion von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden in der Zeitarbeitsbranche liegen bis auf die frühe Studie von Bode/Brose/Voswinkel (1994) keine Untersuchungen vor,
II.3 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in neuen Branchen: IKT und Zeitarbeit
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am 28.11.2002 von der Europäischen Kommission vorgelegt wurde, sah einen Gleichbehandlungsgrundsatz von Leiharbeitnehmern und Stammarbeitnehmern des Entleihunternehmens vor. 19 Entsprechende nationale Anpassungen finden sich erstmals im Job-AQTIVGesetz vom 10.12.2001. Eine umfassende Reform der Zeitarbeit wurde erst mit dem „Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ vom 23.12.2002 eingeleitet, das am 1.1.2003 in Kraft trat und eine grundlegende Zäsur für die Arbeitnehmerüberlassung darstellt (vgl. Abschnitt 3.2). Diese einschneidende staatliche Intervention bildet den Ausgangspunkt für zwei bedeutsame Entwicklungen: erstens die starke wirtschaftliche Expansion der Zeitarbeit (vgl. Abschnitt 3.1) und zweitens die Konstituierung der Zeitarbeit als Branche, die maßgeblich durch die Aktivitäten von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften vorangetrieben wurde (vgl. Abschnitt 3.2 und 3.3). 3.1 Die Struktur und wirtschaftliche Bedeutung der Zeitarbeitsbranche Die Zeitarbeit expandiert seit Mitte der 1990er Jahre mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten von 16 % (bis 2001) bzw. 26 % (zwischen 2003 und 2008) und zählt damit zu den stärksten Wachstumsbranchen in Deutschland. Die Zahl der Zeitarbeitnehmer hat sich von 47.000 im Jahr 1980 auf den absoluten Höchststand im Juli 2008 mit 823.101 Beschäftigten entwickelt (Jahn/Antoni 2006; Schäfer 2009; Bundesagentur für Arbeit 2009). Die Zeitarbeitsquote 20 ist seit 1993 von damals 0,4 % kontinuierlich auf 1,8 % im Jahr 2008 gestiegen, blieb damit aber auf einem international durchschnittlichen Niveau (Schäfer 2009; Burda/ Kvasnicka 2005). Der Höhenflug der Zeitarbeit endete vorerst mit dem Einsetzen der Wirtschaftskrise, wobei der Bestand auf 526.000 Zeitarbeitnehmer (Juni 2009) absank (vgl. Abbildung 1), was einem Rückgang von 34 % innerhalb eines Jahres entspricht. Bei der Betrachtung nach Betriebsgrößenklassen ist auffällig, dass der Personalabbau vor allem bei großen Zeitarbeitsfirmen mit über 500 Beschäftigten stattfand, diese Firmen ihr Personal seit der Talsohle im Mai 2009 aber wieder aufstocken (4 % Wachstum von Mai bis Juni 2009). Die Branche mit dem größten Abbau an Zeitarbeitsplätzen war nach Angaben des BZA (Bundesverband Zeitarbeit und Personaldienstleitungen) die Automobilindustrie (BZA 2009). Bei der Betrachtung der Zu- und Abgänge der Zeitarbeit wird deutlich, dass die Dynamik in diesem Wirtschaftssektor relativ hoch ist: Im Jahr 2008 betrug der jahresdurchschnittliche Bestand an überlassenen Zeitarbeitnehmern 760.604, es wurden 481.625 neue Zeitarbeitsverhältnisse begonnen und 667.373 beendet (Bundesagentur für Arbeit 2009). Gleichzeitig ist die Beschäftigungsdauer nach wie vor gering: 2008 waren knapp 50 % aller Zeitarbeitsverhältnisse kürzer als drei Monate (Bundesagentur für Arbeit 2009), was ein Anzeichen dafür ist, dass Zeitarbeit vorrangig zur Kompensation von kurzfristigen Auftragsschwankungen oder Personalengpässen eingesetzt wird.
19 20
die die Verbandsaktivitäten im Fokus haben. Gewerkschaftliche Strategien im Umgang mit dieser Branche werden von Aust/Holst (2006) und Weinkopf/Vanselow (2008) untersucht. Die dem europäischen Parlament 2002 vorgelegte Richtlinie (KOM 2002/149) wurde nach 6-jähriger Blockade im Juni 2008 im EU-Ministerrat diskutiert und am 22.10.2008 im EU-Parlament verabschiedet. Darunter versteht man die Zahl der Zeitarbeitnehmer im Verhältnis zu allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Abbildung 1:
In Zeitarbeit beschäftigte Arbeitnehmer in Deutschland (1996-2009, jeweils Juni eines Jahres)
900000 800000 700000 600000 500000 400000 300000 200000 100000 0 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Quellen: BZA 2009; Bundesagentur für Arbeit 2009.
Bei der Analyse der sozioökonomischen Merkmale der Zeitarbeitnehmer fällt auf, dass ca. 60 % von ihnen (im Jahr 2008) bei der erstmaligen Begründung eines Zeitarbeitsverhältnisses aus der Nichtbeschäftigung (Arbeitslosigkeit bzw. Nichterwerbstätigkeit) kamen, was darauf hindeutet, dass mit Zeitarbeit häufig die Hoffnung auf einen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt verbunden ist. Dieser als „Sprungbrettfunktion“ bzw. „Klebeeffekt“ bezeichnete Eingliederungseffekt ist statistisch aber nach wie vor umstritten (Strotmann 2009; Weinkopf/Vanselow 2008). Im Vergleich zur Gesamtwirtschaft zeigt sich, dass Männer und Ausländer in der Zeitarbeit deutlich überrepräsentiert sind, außerdem sind Zeitarbeitnehmer im Schnitt jünger und verfügen deutlich häufiger über keine Berufsausbildung (Puch 2008; Burda/Kvasnicka 2005; Antoni/Jahn 2006). So stellten 2008 die „Hilfsarbeiter“ mit rund 30 % die dominierende Berufsgruppe in der Zeitarbeit, gefolgt von den „übrigen Dienstleistungsberufen“ mit rund 13 % und der Berufsgruppe „Schlosser/Mechaniker“ mit 12 % (Bundesagentur für Arbeit 2009). Das Wachstum im Bereich der Hilfsarbeiter ist besonders bemerkenswert: Hier werden durchschnittliche jährliche Wachstumsraten von 17 % erreicht, so dass festgehalten werden kann, dass ein Großteil der Expansion der Zeitarbeit im Helferbereich stattgefunden hat (Schäfer 2009). Über die Unternehmen, die Zeitarbeitnehmer zur kurzfristigen Personalanpassung einsetzen, (Entleihbetriebe) existieren nur wenige Daten. Auf der Basis einer Auswertung des IAB-Betriebspanels kommen Bellmann/Kühl (2007) zu dem Schluss, dass 3 % der Betriebe aller Größen und Branchen Leiharbeiter einsetzen. Eine vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) durchgeführte Umfrage unter Zeitarbeitsunternehmen kommt
II.3 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in neuen Branchen: IKT und Zeitarbeit
195
zum Ergebnis, dass diese ihre Arbeitnehmer vorrangig in die Metallindustrie (53,9 %), in das (sonstige) Dienstleistungsgewerbe (20,6 %) und in die Elektroindustrie (18,3 %) entleihen (ZEW 2003; Ammermüller et al. 2003). Bei der Betrachtung der Zeitarbeitsunternehmen 21 zeigen sich enorme Zuwachsraten der Verleihbetriebe (vgl. Tabelle 2). Diese sind ein Indikator für eine hohe Gründungsdynamik in der deutschen Zeitarbeitsbranche, die im internationalen Vergleich ausgesprochen fragmentiert und durch eine hohe Anzahl von Anbietern bei kleinen Betriebsgrößen gekennzeichnet ist (Burda/Kvasnicka 2005). Tabelle 2: Anzahl Zeitarbeitsunternehmen Verleihbetriebe Reine/überwiegende Verleihunternehmen Mischbetriebe
2008
2004
25.165 17.796 7.369
15.070 7.153 7.917
Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2009; Deutscher Bundestag 2005.
3.2 Das System der industriellen Beziehungen in der Zeitarbeitsbranche vor und nach der Zäsur 2002/03 Die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in der Zeitarbeitsbranche, deren Wirtschaftsstruktur bestimmt ist durch eine große Anzahl von kleinen und mittelständischen Zeitarbeitsunternehmen, in denen der gewerkschaftliche Organisationsgrad nur schwach ausgeprägt ist, 22 lässt sich in zwei Phasen einteilen: Ein schwach institutionalisiertes System der Arbeitsbeziehungen, in dem eine korporative Kultur der Interessenaushandlung nicht etabliert war, wurde ab den Jahren 2002/03 abgelöst durch ein hochgradig institutionalisiertes System der überbetrieblichen Interessenaushandlung. In diesem System agieren mit institutioneller Macht ausgestattete Akteure, 23 die vorrangig das strategische Ziel verfolgen, über die Konstituierung der Tarifautonomie in dieser Branche staatliche Eingriffe abzuwehren. Unter Rückgriff auf die oben vorgestellte Typologie der Arbeitsregulation ist festzustellen, dass bis zum Jahr 2003 Formen der individualisierten oder der unternehmensbezogenen Arbeitsregulation dominierten und Tarifverträge bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen so gut wie keine Rolle spielten, sieht man einmal von den Haustarifverträgen bei Randstad und Adecco ab. Nach Ansicht von Katrin Vitols (2003, 2004) liegt die Ursache für die geringe Regulationsdichte darin, dass sowohl die Arbeitgeberverbände als auch die 21
22
23
Bei Zeitarbeitsunternehmen (sogenannten Verleihbetrieben bzw. Verleihern) wird unterschieden zwischen Erlaubnisinhabern (die eine Erlaubnis zur Ausübung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung besitzen), reinen Verleihunternehmen und Mischbetrieben (Betrieben, deren eigentlicher Geschäftszweck nicht die Arbeitnehmerüberlassung ist). So hat beispielsweise die IG Metall in der gesamten Zeitarbeitsbranche nur rund 12.000 Mitglieder (Stand 2009). Die gewerkschaftliche Mitgliederrekrutierung wird dabei vor allem durch die starke Fluktuation und den geringen Bestand an Zeitarbeitnehmern erheblich eingeschränkt, so dass 2009 im Durchschnitt gerade einmal rund 200 Neuaufnahmen pro Monat zu verzeichnen sind. Die reale Konfliktfähigkeit der verbandlichen Akteure steht dabei in keinem Verhältnis zu ihrer institutionellen Absicherung, vor allem auf Seiten der Gewerkschaften dürfte die Arbeitskampffähigkeit aufgrund der kleinen Mitgliederbasis gering ausfallen.
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Gewerkschaften bis zu diesem Zeitpunkt wenig Interesse an einer direkten Einflussnahme auf die Beschäftigungsbedingungen der Zeitarbeit hatten. Die DGB-Gewerkschaften standen der Zeitarbeit von Anfang an sehr kritisch gegenüber und forderten bis in die 1990er Jahre die Wiedereinführung des Verbots der Zeitarbeit. Aus Sicht der Gewerkschaften sprachen vier Gründe gegen Zeitarbeit: Erstens sei Zeitarbeit als „moderner Sklavenhandel“ (IG Metall 1992) aufzufassen, zweitens schaffe der Einsatz von Zeitarbeitnehmern eine Randbelegschaft mit minderen Rechten und verletze somit das Prinzip der Einheit der Arbeitnehmerschaft in einem Betrieb, drittens führe Zeitarbeit zu erhöhter Lohnkonkurrenz und untergrabe somit Funktionen des Tarifvertrages und viertens sei Zeitarbeit ein Rationalisierungsinstrument mit dem Ziel der Verringerung der Stammbelegschaft (Aust/Holst 2006; Vitols 2003). Diese Argumentation macht deutlich, dass Zeitarbeit aus der Perspektive der Gewerkschaften vor allem als eine Gefahr für das Normalarbeitsverhältnis und damit als eine Bedrohung ihrer Stammklientel betrachtet wird, was in aktuellen Stellungnahmen der IG Metall (Schild/Petzold 2009) und des DGB (2009) nach wie vor betont wird. Erst Ende der 1990er Jahre änderte sich die gewerkschaftliche Haltung gegenüber der Zeitarbeit, nachdem deutlich wurde, dass eine Verbotsforderung politisch nicht durchzusetzen war. Anstelle einer „Strategie der Ignoranz“ (Aust/Holst 2006) wurde nun versucht, im Bereich der Zeitarbeit für bessere Beschäftigungs- und Einkommensbedingungen einzutreten: So wurde die Forderung gestellt, Zeitarbeitnehmer in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (Forderung nach „equal treatment“) und die Entlohnung (Forderung nach „equal pay“) mit Arbeitnehmern des entleihenden Betriebes gleichzustellen. Auch die Arbeitgeberverbände sahen bis 2003 weitgehend davon ab, die Zeitarbeit tarifpolitisch zu regulieren. Im Gegensatz zu den Gewerkschaften standen sie der Zeitarbeit aber ausgesprochen positiv gegenüber, da der Einsatz von Zeitarbeit – wie auch aktuell von Seiten der BDA betont wird – für die Unternehmen ein wichtiges Instrument zur Flexibilisierung und Personalanpassung sei und den Entleihbetrieben Kostenvorteile bringe (vgl. BDA 2008). Ihr Interesse bestand folglich darin, den Umfang der Zeitarbeit auszubauen und auf eine Deregulierung der gesetzlichen Bestimmungen hinzuwirken. Im Gegensatz zu den gewerkschaftlichen Forderungen nach einem Verbot der Zeitarbeit wurden die Deregulierungswünsche der Arbeitgeberverbände durch die staatliche Gesetzgebung (vor allem unter der CDU-Regierung) weitestgehend erfüllt, so dass aus ihrer Perspektive eine Kooperation mit den Gewerkschaften keine weiteren Vorteile brachte (Vitols 2003, 2004). Die Politik versuchte erstmals im Rahmen des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit (Beginn Dezember 1998), die Sozialpartner in die Regulierung der Zeitarbeit einzubinden. Die Benchmarking-Gruppe des Bündnisses schlug moderate Deregulierungen der Zeitarbeit vor, wenn im Gegenzug Tarifverträge für die Branche abgeschlossen würden. Dieser Vorschlag wurde von den Sozialpartnern nicht angenommen, da die DGB-Gewerkschaften Tarifverträge für die Branche generell ablehnten und auch auf Seiten der Arbeitgeberverbände keine Einigung über Tarifverträge erzielt werden konnte. Die Bundesregierung reagierte darauf mit dem Job-AQTIV-Gesetz, das einen Kompromiss zwischen den Forderungen beider Sozialpartner vorsah, indem einerseits die höchstzulässige Überlassungsdauer auf 24 Monate ausgedehnt und andererseits ein Gleichbehandlungsgrundsatz ab dem zwölften Überlassungsmonat eingeführt wurde (Vitols 2004). Nachdem die korporatistische Einbeziehung der Sozialpartner in das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit gescheitert war, unternahm die Bundesregierung im Jahr 2002 einen weiteren Anlauf zur Deregulierung der Zeitarbeit durch die soge-
II.3 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in neuen Branchen: IKT und Zeitarbeit
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nannte Hartz-Kommission mit dem Ziel, Reformen am Arbeitsmarkt unter Umgehung tripartistischer Strukturen zu erreichen (Streeck 2003; Vitols 2003). Ein zentraler Kernbereich der Hartz-Vorschläge bestand in einer grundlegenden Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) und wurde durch das „erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ umgesetzt, das zum 1. Januar 2003 in Kraft trat. Durch die Reform des AÜG entfielen das Befristungs-, das Wiedereinstellungs- und das Synchronisationsverbot, die Beschränkung der Überlassungsdauer auf 24 Monate wurde aufgehoben. Damit konnten wesentliche Forderungen der Arbeitgeberverbände durchgesetzt werden. Das Gesetz sah ferner die Festschreibung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ab dem ersten Überlassungstag vor, womit wesentliche Forderungen der Gewerkschaften nach „equal pay“ und „equal treatment“ erfüllt waren. Allerdings schrieb die Bundesregierung im Gesetz eine Klausel fest, nach der vom Gleichbehandlungsgrundsatz abgewichen werden kann, wenn Tarifverträge vorliegen, die alternative Regelungen beinhalten. Diese Klausel sah eine einjährige Übergangsfrist (bis zum 1. Januar 2004) vor und wurde mit einer Interventionsdrohung der Bundesregierung an die Sozialpartner verbunden: Sollten sie innerhalb dieser Übergangszeit keine Kompromisslösungen finden und sollten speziell die Gewerkschaften weiterhin Tarifverträge für die Branche ablehnen, drohte die Bundesregierung informell, das Gesetz zu kippen (Pfeiffenberger 2003). Diese Androhung staatlicher Intervention war der Startschuss für die Konstituierung eines Systems tariflich regulierter Arbeitsbeziehungen. Die Unternehmerverbände der Zeitarbeitsbranche hatten ein großes Interesse am Abschluss von Tarifverträgen, da sie dadurch Entlohnungsstrukturen unterhalb des Gleichbehandlungsgrundsatzes erreichen konnten, und der „zwanglose Zwang“ zur Tarifierung der Arbeitsbedingungen führte zu einem Funktionswandel der Unternehmerverbände hin zu Arbeitgeberverbänden. Gleichzeitig drängten die christlichen Gewerkschaften massiv in die Branche und boten sich als Tarifpartner der Arbeitgeberverbände an. Dies führte letztendlich zu einem Strategiewandel auf Seiten der DGB-Gewerkschaften: Während man bisher eine tarifliche Regulierung ablehnte, weil man Zeitarbeit grundsätzlich für problematisch hielt, war man jetzt zu Tarifverhandlungen bereit, um den christlichen Gewerkschaften das tarifpolitische Feld nicht alleine zu überlassen. Im Verlauf des Jahres 2003 kam es zu einer Reihe richtungsweisender Tarifabschlüsse; bis zum Ende der Übergangsfrist wurden fünf branchenweit gültige Tarifverträge und zahlreiche Haustarifverträge abgeschlossen (Deutscher Bundestag 2005). Die DGBGewerkschaften gründeten eine gemeinsame DGB-Tarifgemeinschaft24 und schlossen erstmalig in der Tarifgeschichte mit zwei konkurrierenden Arbeitgeberverbänden – dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ) und dem Bundesverband Zeitarbeit (BZA) – unterschiedliche Tarifverträge ab. Parallel dazu vereinbarte die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und PSA (CGZP) Tarifverträge mit der Interessengemeinschaft Nordbayerischer Zeitarbeitsunternehmen (INZ) und der Mittelstandsvereinigung Zeitarbeit (MVZ). Ein fünfter Flächentarif wurde zwischen dem Metallverband Nordrhein-Westfalen und der Bundesvereinigung Deutscher Dienstleistungsunternehmen vereinbart (Deutscher Bundestag 2005; Bispinck 2004).
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Die DGB-Tarifgemeinschaft besteht aus der IG BCE, der NGG, der IG Metall, der GEW, ver.di, der IG BAU, Transnet und der GdP.
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Nach Auswertungen des IAB-Betriebspanels unterlagen zum Stichtag am 30.06.2004 bereits 80 % aller Betriebe und knapp 90 % aller Beschäftigten einem Tarifvertrag der Zeitarbeitsbranche. 2008 betrug die Tarifabdeckung annähernd 100 % (Schäfer 2009), womit diese Branche deutlich stärker tariflich reguliert ist als die Gesamtwirtschaft. 25 Die Höhe der tariflichen Entlohnung gibt aber nach wie vor Anlass zur Kritik. Wie Weinkopf/Vanselow (2008) aufzeigen, sind die tariflichen Einstiegsgehälter so gering, dass sie dem Niedriglohn (Ostdeutschland) bzw. dem Armutslohn (Westdeutschland) zuzuordnen sind: „In Westdeutschland liegen die Einstiegslöhne in der Zeitarbeit nur bei rund 50 % des Medians und damit auf einem Niveau, das nach internationalen Standards als ‚Armutslohn‘ bezeichnet wird. In Ostdeutschland sind die tariflichen Einstiegslöhne zwar deutlich niedriger als in Westdeutschland, das relative Niveau ist aber höher, weil der Medianlohn in Ostdeutschland nur knapp 71 % des westdeutschen Wertes erreicht.“ (Weinkopf/Vanselow 2008: 13).
Die DGB-Gewerkschaften und ihre Tarifpartner BZA und IGZ machen dafür vor allem die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und PSA (CGZP) verantwortlich, die in ihrem Branchentarifvertrag mit dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister e. V. (AMP) und in zahlreichen Haus- und Firmentarifverträgen „Hungerlöhne“ festsetze und damit einen „Unterbietungswettlauf“ in Gang setze (Schild/Petzold 2009: 99; DGB 2009). Als Reaktion auf das Lohndumping und die Unterbietungskonkurrenz schlossen die beiden größten Arbeitgeberverbände BZA und IGZ gemeinsam mit der DGB-Tarifgemeinschaft im Mai 2006 einen Mindestlohntarifvertrag ab und stellten bei der Bundesregierung den Antrag, diesen in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufzunehmen, um so tarifliche Mindestlöhne zu fixieren (BZA/IGZ 2008). Der Christliche Gewerkschaftsbund und der AMP sind strikt dagegen (CGB 2008; AMP 2005), ebenso lehnt die BDA die Aufnahme der Zeitarbeit in das Entsendegesetz ab (BDA 2008) und stellt sich damit gegen seinen Mitgliedsverband BZA. Da die neu gewählte christlich-liberale Regierung in ihrer Koalitionsvereinbarung keine gesetzlichen Mindestlöhne verankert hat und der Arbeitsmarkt im Jahr 2011 für Osteuropäer geöffnet wird, wird auch für die Zeitarbeitsbranche mit einem weiteren Druck auf die Löhne und Gehälter zu rechnen sein. 3.3 Arbeitgeber- und Unternehmerverbände in der Zeitarbeitsbranche Die Verbandsstrukturen auf Arbeitgeberseite unterscheiden sich in der Zeitarbeitsbranche erheblich von denen in der IKT-Branche. Während sich dort eine große Vielfalt an Wirtschaftsverbänden analog zu den ausdifferenzierten Produktmarktinteressen gebildet hat, zeigt sich in der Zeitarbeitsbranche in zweierlei Hinsicht ein gegenteiliger Effekt. Erstens spielt die Vertretung von Produktmarktinteressen seit der Einführung des Equal-TreatmentGrundsatzes und der darauf folgenden Welle von Tarifabschlüssen in dieser Branche nur noch eine untergeordnete Rolle gegenüber der Vertretung von Arbeitsmarktinteressen. Die Arbeitsmarktinteressen der Zeitarbeitsverbände bestehen vor allem darin, Tarifverträge abzuschließen, die Beschäftigungs- und Entlohnungsbedingungen unterhalb der Equal-Pay25
Bispinck/Schulten (2009: 203) gehen für 2008 davon aus, dass 62 % aller Beschäftigten in Deutschland in Betrieben mit Tarifbindung arbeiten.
II.3 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in neuen Branchen: IKT und Zeitarbeit
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und Equal-Treatment-Prinzipien garantieren, um so kostengünstigere Arbeitszeit- und Entlohnungsmodelle vereinbaren und den Flexibilisierungswünschen der Entleihbetriebe weiterhin entsprechen zu können. Zweitens kam es im Zuge dieser Entwicklung zu einer Funktionsverschiebung der Branchenverbände: Aus Unternehmerverbänden wurden Arbeitgeberverbände, entweder durch Umwandlung oder durch Fusionen bzw. Neugründungen von Verbänden speziell der mittelständischen Wirtschaft, die sich in ihren Interessen von den bestehenden Zeitarbeitsverbänden nicht mehr ausreichend vertreten sah. Im Ergebnis ist die Zeitarbeitsbranche geprägt von einem dichten Netz von Arbeitgeberverbänden, die bei der Vertretung von Arbeitsmarktinteressen untereinander in starker Konkurrenz stehen. Diese Tarifkonkurrenz schlägt sich in der Auswahl von Tarifpartnern auf Arbeitnehmerseite nieder und teilt die Arbeitgeberverbände in zwei Lager: Diejenigen beiden großen Verbände (BZA und IGZ), die mit der DGB-Tarifgemeinschaft Tarifverträge abschließen, und diejenigen Verbände, die mit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und PSA (CGZP) zusammenarbeiten. Insgesamt sind in der Zeitarbeitsbranche sechs Arbeitgeberverbände aktiv, die zusammen fast 100 % der Branche tariflich regulieren. 1.
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Der Bundesverband Zeitarbeit und Personaldienstleistungen e. V. (BZA) existiert seit 1976 und kam durch die damalige Fusion des Unternehmensverbands für Zeitarbeit (UZA) und des Bundesverbands Personalleasing (BPL) zustande. Er hat nach eigenen Angaben über 2.000 Mitgliedsunternehmen mit rund 250.000 Beschäftigten und ist somit einer der größten Arbeitgeberverbände in der Zeitarbeitsbranche. Er organisiert vor allem die großen Zeitarbeitsunternehmen wie Randstad, Adecco, Manpower und DIS. Der BZA ist einer von drei Arbeitgeberverbänden aus der Zeitarbeitsbranche, die Mitglied bei der BDA sind, sowie einer von zwei Tarifpartnern der DGB-Tarifgemeinschaft. 26 Der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e. V. (IGZ) organisiert rund 1.400 Unternehmen mit 125.000 Zeitarbeitnehmern. Die Mitgliederstruktur ist vor allem von kleinen und mittelständischen Zeitarbeitsunternehmen geprägt. Der Verband wurde 1998 von rund 50 Unternehmen als „Interessengemeinschaft deutscher Zeitarbeitsunternehmen“ gegründet. Im Jahr 2000 wurde der Satzungszweck erweitert und die Interessengemeinschaft umfirmiert in einen Interessenverband, der nun auch Arbeitgeberverbandsfunktionen wahrnimmt. Der IGZ hat als erster Arbeitgeberverband der Zeitarbeitsbranche einen Tarifvertrag mit der DGB-Tarifgemeinschaft abgeschlossen (Bispinck 2004). Der Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleistungen e. V. (AMP) wurde 2005 durch die Fusion zweier Regionalverbände der Zeitarbeit gegründet, zum einen der in Berlin ansässigen Mittelstandsvereinigung Zeitarbeit e. V. (MVZ) und zum anderen der Interessengemeinschaft Nordbayerischer Zeitarbeitsunternehmen (INZ). Die INZ, die bereits 1987 gegründet wurde und knapp 330 Mitglieder organisierte, schloss im Jahr 2003 erstmals einen Tarifvertrag mit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und PSA (CGZP) ab und übernahm damit eine Vorreiterfunktion für die MVZ, die daraufhin ebenfalls mit den christlichen Gewerkschaften Tarifverträge vereinbarte. Die gemeinsame mittelständisch geprägte InteresZu den Tarifabschlüssen zwischen BZA und der DGB-Tarifgemeinschaft siehe Bispinck (2004) oder www.bza.de.
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände senlage und der gemeinsame Tarifpartner CGZP führten dann in der Konsequenz zu einem Zusammenschluss beider Verbände Anfang 2005. Mittlerweile organisiert der AMP rund 1.100 Unternehmen mit knapp 120.000 Beschäftigten, ist Mitglied bei der BDA und gilt als einer der drei großen Arbeitgeberverbände der Zeitarbeitsbranche. Der Arbeitgeberverband Qualifizierter Personaldienstleister Mercedarius e. V. ist aus der Fusion von MVZ und INZ hervorgegangen: In ihm organisieren sich seit Herbst 2004 ehemalige Mitgliedsunternehmen der INZ, die die Fusion zum AMP nicht mittragen wollten. Bei Mercedarius sind vorwiegend Unternehmen organisiert, die im gehobenen Fachkräftesegment Arbeitnehmerüberlassung betreiben. Für dieses Segment hat Mercedarius Anfang 2005 einen Tarifvertrag mit der CGZP abgeschlossen. Mitgliederzahlen liegen bislang nicht vor. Der Bundesverband deutscher Dienstleistungsunternehmen (BVD) ist ein Mischverband, der sowohl Landes-/Tarifträgerverbände mit satzungsmäßiger Zuständigkeit für Dienstleister als auch bundesweit tätige Dienstleistungsunternehmen organisiert. Die Mitgliedschaft kann sowohl tarifgebunden als auch tariflos erfolgen. Der BVD hat für Zeitarbeitsunternehmen eine Tarifgemeinschaft Zeitarbeit gegründet, die einen Tarifvertrag (genannt „B.O.L.E.R.O.“) mit der CGZP abgeschlossen hat. Er ist Mitglied der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Mitgliederzahlen liegen bisher nicht vor. Der Unternehmerverband IndustrieService + Dienstleistungen e. V. (UIS) ist einer von sechs Mitgliedsverbänden der UnternehmerverbandsGruppe e. V. Er ist ein bundesweiter Arbeitgeberverband für Unternehmen der industriellen Dienstleistungsbranchen und wurde 1994 in Duisburg gegründet. Der UIS vertritt vor allem Großunternehmen und mittelständische Betriebe. Im Unterschied zu den anderen Arbeitgeberverbänden der Branche verhandelt der UIS nicht mit der DGB-Tarifgemeinschaft oder mit der CGZP, sondern schließt bereits seit Mitte 2000 Tarifverträge mit der IG BAU ab. Mitgliederzahlen sind nicht bekannt.
Die Konstellation konkurrierender Arbeitgeberverbände sorgt in der Zeitarbeitsbranche aktuell für erhebliche Brisanz, da der CGZP am 1.4.2009 vor dem Berliner Arbeitsgericht die Tariffähigkeit abgesprochen wurde. 27 Hätte dieser Beschluss auch in der höchsten Instanz Gültigkeit, wären damit erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Zeitarbeitsbranche verbunden: Die im Namen der christlichen Tarifgemeinschaft abgeschlossenen Tarifverträge würden rückwirkend ihre Gültigkeit verlieren, so dass die Anwender der Tarifverträge die Differenz zwischen dem gewählten Entgelt auf Basis des Tarifvertrags und dem Entgelt eines vergleichbaren Stammmitarbeiters des Entleihbetriebes zuzüglich der Sozialversicherungsabgaben nachzahlen müssten (Dreyer 2009). Eine Pleitewelle unter den Verleihbetrieben wäre die absehbare Folge und den davon betroffenen Arbeitgeberverbänden würde nicht nur der Tarifpartner, sondern auch ein Großteil der Mitgliedsunternehmen abhanden kommen. 28 27
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Aktenzeichen: Arbeitsgericht Berlin 35 BV 17008/08. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, da die CGZP den Instanzenweg beschreiten will (http://www.cgb.info/cgzp/c_info.php). Siehe auch: http://www. tagesschau.de/wirtschaft/gewerkschaft100.html (zuletzt besucht am 7.12.2009); Bericht des Report Mainz: http://www.swr.de/report/presse/-/id=1197424/nid=1197424/did=2917692/kv2yot/index.html (zuletzt besucht am 7.12.2009). Den DGB-Gewerkschaften könnten dadurch zusätzliche Optionen bei der Regulierung der Arbeitsbedingungen in der Branche erwachsen. Sie hätten nunmehr das alleinige Monopol bei der Vertretung der Arbeit-
II.3 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in neuen Branchen: IKT und Zeitarbeit 4
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Fazit und Ausblick
Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildete die empirische Feststellung, dass sich die Wirtschaftsstrukturen der IKT- und der Zeitarbeitsbranche ähneln: In beiden Branchen finden wir eine hohe wirtschaftliche Performanz und Dynamik, eine klein- und mittelständisch geprägte Wirtschaft sowie schwache Gewerkschaften mit einem geringen Organisationsgrad. Dennoch zeichnen sich in den untersuchten Branchen unterschiedliche Entwicklungspfade der verbandlichen Ordnung ab: In der IKT-Branche bilden konkurrierende Wirtschaftsverbände die zentralen verbandspolitischen Akteure, während (tariffähige) Arbeitgeberverbände eher eine marginale Rolle einnehmen und der Staat sich mit Ausnahme der Bundesnetzagentur (BNetzA) 29 mit Interventionen zurückhält. Auf Seiten der Gewerkschaften konkurrieren insbesondere IG Metall und ver.di um betriebliche Organisationsdomänen bei einer insgesamt schwachen Mitgliederbasis und geringem Organisationsgrad. Die Verbändelandschaft auf Unternehmensseite ist stark fragmentiert und verläuft entlang der einzelnen Wirtschaftssegmente wie Hardware, Software und Telekommunikation. In der IKT-Branche dominiert somit die verbandliche Konkurrenz von Produktmarktinteressen in einer relativ staatsfreien Sozialsphäre, während Arbeitsmarktinteressen kein Gegenstand verbandlicher Interessenvertretung sind, sondern individuell oder betrieblich ausgehandelt werden. In der Zeitarbeitsbranche herrschen demgegenüber andere Interessenlagen und Akteurskonstellationen vor. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sind die dominierenden verbandliche Akteure, wobei der Staat durch einschneidende politische Interventionen, die faktisch einen Tarifzwang beinhalteten, die Initialzündung bei der Konstituierung der Zeitarbeit als Branche sowie der Implementierung eines institutionell abgesicherten Systems von Tarifautonomie und verbandlicher Interessenvertretung herbeiführte. Seit der einschneidenden Zäsur von 2002/03 haben sich insgesamt sechs Arbeitgeberverbände gebildet, die zwar im Hinblick auf die Regulierung von Arbeitsmarktinteressen untereinander konkurrieren, aber branchenweit für eine Tarifabdeckung von fast 100 % sorgen. Auf Seiten der Gewerkschaften zeigt sich aber die Fragilität des so entstandenen Modells industrieller Beziehungen: Die Arbeitnehmerseite ist zwar mit großer institutioneller Macht ausgestattet, hat aber eine sehr geringe Mitgliederbasis und ist faktisch nicht konfliktfähig – dies gilt nicht nur für die christlichen Gewerkschaften in der Zeitarbeit, denen der Tarifstatus gerichtlich entzogen wurde, sondern aufgrund des geringen Organisationsgrades auch für die einzelnen DGB-Gewerkschaften. Welche Schlussfolgerungen lassen sich hinsichtlich der Etablierung einer verbandlichen Ordnung in den neuen Branchen von IKT und Zeitarbeit ableiten? Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass es drei verschiedene Modi der Arbeitsregulation in den neuen Bran-
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nehmerinteressen und müssten in Zukunft nur auf den eigenständigen Abschluss von Tarifverträgen verzichten, um den gewünschten Equal-Pay- und Equal-Treatment-Prinzipien Geltung zu verschaffen (vgl. „Zeitarbeit gerät in arge Nöte. Erst die Wirtschaftskrise, jetzt ein folgenschweres Gerichtsurteil. Kommt gleiche Bezahlung für Leih- und Stammpersonal?“, Handelsblatt vom 6.4.2009, S. 3). Aber auch auf Seiten der DGB-Gewerkschaften droht eine Erosion: Starke Einzelgewerkschaften wie die IG Metall könnten vor dem Hintergrund der geringen Konfliktfähigkeit in der Zeitarbeitsbranche aus der DGB-Tarifgemeinschaft austreten und versuchen, die Regulierung der Zeitarbeitnehmer in ihre Branchentarifverträge zu integrieren. Die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, ehemals „Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post“, hat die Aufgabe, durch Liberalisierung und Deregulierung für die weitere Entwicklung auf dem Elektrizitäts-, Gas-, Telekommunikations-, Post- und seit dem 1. Januar 2006 auch auf dem Eisenbahninfrastrukturmarkt zu sorgen (www.bundesnetzagentur.de).
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
chen gibt: die tarifliche, die unternehmensbezogene und die individualisierte Arbeitsregulation. Eine verbandliche Ordnung wird dann implementiert, wenn es den kollektiv-verbandlichen Akteuren gelingt, branchenweit den Modus der tariflichen Arbeitsregulation zu etablieren, weil nur in diesem Modus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die Arbeitsbedingungen kollektiv auf überbetrieblicher Ebene mit Tarifverträgen regulieren. Die Etablierung einer verbandlichen Ordnung in der IKT-Branche wird selbst von den befragten Verbandsvertretern als nicht realistisch eingeschätzt und von einigen auch nicht als strategisches Ziel anvisiert. Auf Seiten der Unternehmerverbände besteht wenig Neigung, das (Flächen-)Tarifvertragssystem auf diese Branche auszudehnen, und den Gewerkschaften gelingt es nicht, eine ausreichende Organisationsmacht in den Unternehmen dieser Branche aufzubauen. Demgegenüber ist die Zeitarbeitsbranche ein Paradebeispiel für diesen Entwicklungspfad. Innerhalb kurzer Zeit gelang hier die Institutionalisierung einer verbandlichen Ordnung, auch wenn dies von den Interessenverbänden zunächst nicht intendiert war, sondern durch staatliche Sanktionsandrohungen zustande kam. Ob sich das solchermaßen etablierte System allerdings als langfristig stabil erweisen wird, bleibt abzuwarten und hängt nicht zuletzt davon ab, ob es den Interessenverbänden gelingen wird, eine stabile Mitgliederbasis aufzubauen. Literatur Grundlegende Literatur Boes, Andreas/Baukrowitz, Andrea (2002): Arbeitsbeziehungen in der IT-Industrie. Berlin: edition sigma. Lang, Achim (2006): Die Evolution sektoraler Wirtschaftsverbände. Informations- und Kommunikationsverbände in Deutschland, Großbritannien und Spanien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Menez, Raphael (2007): Interessenverbände in der IKT-Branche. Die Organisationsfähigkeit von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden unter neo-institutionalistischer Perspektive. Dissertation. Tübingen: Universität Tübingen. Schwaab, Markus-Oliver/Durian, Ariane (Hrsg.) (2009): Zeitarbeit. Chancen – Erfahrungen – Herausforderungen. Wiesbaden: Gabler.
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Webseite
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www.adas.de
AGEV – Arbeitgebervereinigung für Unternehmen aus den Bereich EDV und Kommunikationstechnologie e. V.
www.agev.de
AMP – Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleistungen e. V.
www.amp-info.de
ANGA Verband Deutscher Kabelnetzbetreiber e. V.
www.anga.de
Arbeitgeberverband Qualifizierter Personaldienstleister Mercedarius e. V.
www.mercedarius.de
ArgeTEL Sozialpolitische Arbeitsgemeinschaft Telekommunikation
www.bda-online.de
BITKOM – Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien
www.bitkom.org
BIU – Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU) e. V.
www.biu-online.de
breko –Bundesverband Breitbandkommunikation e. V.
www.brekoverband.de
BSA – Business Software Alliance
www.bsa.de
Bundesverband Mittelstand und Internet e. V.
www.bmit.org
BVBS – Bundesverband Bausoftware e. V.
www.bvbs.de
BVD – Bundesvereinigung deutscher Dienstleistungsunternehmen
www.bvddeutschland.de
BVDW – Bundesverband Digitale Wirtschaft e. V.
www.bvdw.org
BZA – Bundesverband Zeitarbeit und Personaldienstleistungen e. V. www.bza.de Deutscher Verband für Post, Informationstechnologie und Telekommunikation e. V. (DVPT)
www.dvpt.de
eco – Verband der deutschen Internetwirtschaft e. V.
www.eco.de
FMI – Fachverband für Multimediale Informationsverarbeitung e. V. www.fmi-ev.de IGZ – Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e. V.
www.ig-zeitarbeit.de
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Verband
Webseite
G.A.M.E. Bundesverband der Entwickler von Computerspielen e. V.
www.game-bundesverband.de
gfu/Gesellschaft für Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik e. V.
www.gfu.de
Software Initiative Deutschland
www.softwareinitiative.de
UIS – Unternehmerverband IndustrieService + Dienstleistungen e. V.
www.uvgruppe.de/index.php?id=uis
VAF – Bundesverband für Telekommunikation e. V.
www.vaf-ev.de
VATM – Verband der Anbieter von Telekommunikationsund Mehrwertdiensten e. V.
www.vatm.de
VDAP – Verband Deutscher Arztinformationssystemhersteller und Provider, e. V.
www.vdap.de
VDDS – Verband Deutscher Dental-Software Unternehmen e. V.
www.vdds.de
VDE Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e. V.
www.vde.com
VDEB – Verband der EDV-Berater e. V.
www.vdeb.de
VDMA – Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e. V.
www.vdma.org
Verband der Leiterplattenindustrie e. V.
www.vdlev.org
Verband Privater Rundfunk und Telemedien e. V.
vprt.de
VHitG – Verband der Hersteller von IT-Lösungen für das Gesundheitswesen e. V.
www.vhitg.de
VOI – Verband Organisations- und Informationssysteme e. V.
www.voi.de
VPRT – Verband privater Rundfunk und Telekommunikationen e. V.
www.vprt.de
ZVEI – Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e. V.
zvei.org
OT-Mitgliedschaften und OT-Verbände Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Thomas Haipeter
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Was sind OT-Mitgliedschaften und OT-Verbände?
In den letzten Jahren sind in mehreren Branchen der deutschen Wirtschaft Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden und eigenständige Arbeitgeberverbände „ohne Tarifbindung“ (im Folgenden OT-Mitgliedschaften und -Verbände) gegründet worden. OT-Mitgliedschaften und -Verbände zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine Flächentarifverträge als Arbeitsmarktpartei mit den Gewerkschaften abschließen, ansonsten ihren Mitgliedern aber alle Beratungs- und Serviceleistungen anbieten, die üblicherweise von Arbeitgeberverbänden erbracht werden. Sie verzichten also auf die Produktion des kollektiven (und auch von Nichtmitgliedern nutzbaren) Gutes Flächentarifvertrag und setzen ganz auf selektive (und nur von den Mitgliedern nutzbare) Güter wie die arbeitsrechtliche Beratung, die Hilfestellung bei Rechtskonflikten, die Versorgung mit Informationen oder die Vermittlung von Firmenkontakten. OT-Verbände und OT-Mitgliedschaften unterscheiden sich durch ihre verbandliche Konstruktion. OT-Verbände sind eigenständige Arbeitgeberverbände, die zumeist als Parallelverband neben einem bereits bestehenden und tariffähigen Arbeitgeberverband einer Branche gegründet werden. Diese Verbände zeichnen sich durch einen eigenen ehrenamtlichen Vorstand aus. Trotz der formalen Trennung zwischen tarifgebundenem und tarifungebundenem Arbeitgeberverband arbeiten die hauptamtlichen Beschäftigten des tarifgebundenen Arbeitgeberverbandes zumeist auch für den OT-Verband. Die Verbände sind damit zwar eigenständig, beschäftigten aber den gleichen Personalstamm. Von diesen OTVerbänden unterscheiden sich die OT-Mitgliedschaften dadurch, dass sie nicht auf eigenständigen Verbandskonstruktionen beruhen, sondern durch einen Statuswechsel innerhalb eines Arbeitgeberverbandes begründet werden. In diesem Fall ist in einem vormals ganzheitlich tarifgebundenen Arbeitgeberverband ein neuer Mitgliedsstatus geschaffen worden, der es den Mitgliedern erlaubt, von einer Mitgliedschaft mit verpflichtender Tarifbindung in eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung überzuwechseln; ein Wechsel ist allerdings auch in umgekehrter Richtung möglich. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die zweite Form der Organisation tariffreier Arbeitgeberverbandsmitgliedschaften über die Branchen hinweg weiter verbreitet ist. So gibt es in der Metallindustrie beispielsweise fünf regionale OTVerbände, denen acht Verbände gegenüberstehen, die OT-Mitgliedschaften anbieten (bei 14 tarifgebundenen regionalen Arbeitgeberverbänden insgesamt). In der Holzindustrie wiederum haben die integrativen – sowohl als Arbeitgeber- wie auch als Wirtschaftsverbände auftretenden – Regionalverbände allesamt OT-Mitgliedschaften eingerichtet. Die Mitgliedschaftsbeiträge liegen teilweise unter denen für tarifgebundene Mitglieder, teilweise aber auch gleichauf und in manchen Verbänden, wie von Verbandsexperten zu erfahren ist, auch höher. Eine eindeutige Faustformel lässt sich dafür nicht angeben. Sofern höhere Beiträge von den Verbänden eingefordert werden, begründen sie dies damit, dass der Betreuungsaufwand für OT-Mitglieder intensiver sein kann als der für tarifge-
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
bundene Mitglieder. Die Ursache dafür ist, dass die Gewerkschaft nicht selten – sofern dies ihre organisationspolitische Machtstellung im Betrieb zulässt – mit den OT-Unternehmen firmenbezogene Tarifvereinbarungen abschließt, die vom Arbeitgeberverband mit individuellen tarifpolitischen Beratungsdienstleistungen begleitet werden. Bei tarifgebundenen Firmen hingegen müssen die Verbände solche Zusatzleistungen nur dann erbringen, wenn die Mitglieder Tarifabweichungen verhandeln und sie dabei um Hilfe bitten (Haipeter 2009a). Der breitenwirksame Verzicht von Arbeitgeberverbänden auf den Abschluss von Flächentarifverträgen ist etwas qualitativ Neues im deutschen System der industriellen Beziehungen. Denn über lange Jahrzehnte zeichneten sich in diesem System die Arbeitgeberverbände, sei es in reiner oder in integrativer Form, dadurch aus, dass sie als Arbeitsmarktpartei auftraten und als solche mit den Gewerkschaften Löhne und Arbeitsbedingungen festlegten. Bei den reinen Arbeitgeberverbänden war die Funktion als Arbeitsmarktpartei das zentrale Unterscheidungskriterium für ihre Abgrenzung von den Wirtschaftsverbänden. Diese klaren Abgrenzungen gehen durch die Erweiterung des Mitgliedschaftsstatus um eine tariffreie Mitgliedschaft verloren. Insbesondere für die OT-Verbände gilt darüber hinaus, dass auch die Schnittstellen zu privaten Beratungsunternehmen, die ähnliche Beratungsund Servicedienstleistungen für die Unternehmen vorhalten wie die OT-Verbände, aufweichen. Doch die eigentlichen Probleme dieser Entwicklung bestehen nicht in erster Linie in Definitionen und Abgrenzungen, sondern vielmehr in möglichen Folgewirkungen für die Verbandsstrukturen und das System der industriellen Beziehungen insgesamt. 2
Ursachen und Motive der OT-Mitgliedschaften und -Verbände
OT-Mitgliedschaften und OT-Verbände lassen sich als eine Antwort der Arbeitgeberverbände auf wachsende Schwächen der eigenen Organisationen verstehen. Nicht von ungefähr entstanden sie deshalb in vielen Branchen in den 1990er Jahren. Denn seit dieser Zeit wachsen in vielen Arbeitgeberverbänden die Austrittszahlen an und die Organisationsgrade sinken. Als wichtige Zäsuren wirkten in diesem Zusammenhang die deutsche Wiedervereinigung und die Strukturkrise der deutschen Wirtschaft, die in den Jahren 1992 bis 1994 ihren bis dahin in der Nachkriegszeit größten Wachstumseinbruch erlitt. Im Zuge der Wiedervereinigung wurden zunächst die eingespielten westdeutschen Institutionen der industriellen Beziehungen scheinbar erfolgreich auf Ostdeutschland übertragen. Neben der Einbeziehung Ostdeutschlands in die rechtlichen Regelungen der industriellen Beziehungen wie das Tarifvertragsgesetz und das Betriebsverfassungsgesetz spielten für den Institutionentransfer die Arbeitsmarktparteien Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die ihre Organisationsdomänen mühelos nach Ostdeutschland erweiterten, eine zentrale Rolle; beide Tarifparteien konnten dort zu Beginn höhere Organisationsgrade erzielen als in Westdeutschland. Mit dem Ende des Wiedervereinigungsbooms und der hereinbrechenden Strukturkrise der ostdeutschen Wirtschaft gingen hingegen nicht nur die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften, die anfangs die Mitglieder des FDGB übernommen hatten, zurück, sondern auch die der Arbeitgeberverbände, zumal im Zuge der Privatisierungen viele der von der Treuhand verkauften Unternehmen ihre Mitgliedschaften nicht aufrechterhielten. Der scheinbar erfolgreiche Institutionentransfer durch die Verbände wurde damit rasch wieder in Frage gestellt (dazu für die Metallindustrie: Schroeder 2000).
II.4 OT-Mitgliedschaften und OT-Verbände
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Aber auch die westdeutsche Wirtschaft und insbesondere die Exportindustrie als ihr wichtigster Wachstumsmotor steckten in einer Strukturkrise. Zentrale Branchen wie der Fahrzeugbau hatten ihre vormaligen Konkurrenzvorteile insbesondere gegenüber ostasiatischen Wettbewerbern verloren. Verantwortlich dafür war ein „verlorenes Jahrzehnt“ (Jürgens/ Naschold 1994) der Reorganisation in den deutschen Unternehmen. Viele Unternehmen hatten zu lange auf die Karte fordistischer Modernisierung durch Automatisierung und technologische Innovationen gesetzt und die Reform ihrer Organisation zu lange vernachlässigt. In dieser Situation artikulierten kleinere und mittelständische Unternehmen und die Fachverbände, die diese organisierten, ihre Kritik an starren Tarifverträgen und vor allem zu hohen Lohnbelastungen immer lauter und schließlich fast kampagnenartig. Diese Kritik wurde mit einer grundlegenden Diskussion über die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschlands verbunden. Auch in dieser Diskussion standen vor allem die Gewerkschaften und die von ihnen erkämpften Tarifverträge am Pranger. In dieselbe Zeit fiel der Wechsel von einer produktivitätsorientierten zu einer wettbewerbsorientierten Lohnpolitik (Bispinck/ Schulten 1999). Seit Mitte der 1990er Jahre wies Deutschland unter den führenden Industrieländern die niedrigsten Wachstumsraten der Reallöhne und die niedrigsten Anstiege der Lohnstückkosten auf. Damit verbunden war eine deutliche Umverteilung der Einkommen weg von den Löhnen hin zu den Gewinnen (Bispinck 2007). Dieser Anstieg der Konkurrenzfähigkeit durch ein niedriges Lohnwachstum führte allerdings nicht dazu, dass die Kritik an den Flächentarifverträgen und den diese aushandelnden Tarifparteien verstummt wäre oder die Organisationsprobleme der Arbeitgeberverbände abgenommen hätten. Beides bestand vielmehr fort. Der entscheidende Grund dafür lag in der wachsenden Kluft zwischen den industriellen Großbetrieben, die traditionell das Rückgrat der Arbeitgeberverbände bildeten, und den Betrieben kleinerer und mittlerer Größe. Vor allem von diesen wurden die Tarifvereinbarungen kritisiert und vor allem diese blieben den Arbeitgeberverbänden fern oder traten aus ihnen aus, sofern sie keine Gegenwehr von den Gewerkschaften zu befürchten hatten. Die Ursache dafür waren aber nicht in erster Linie steigende Lohnabschlüsse, sondern der neuartige Kostendruck, den die kleineren Unternehmen als Glieder in Wertschöpfungsketten verspürten. Im Zuge ihrer Reorganisation seit der Krise hatten nämlich viele Großunternehmen ihre Zulieferbeziehungen umgestaltet und durch neue Strategien des Sourcing (der Auswahl von Zulieferern) den Kosten- und Qualitätsdruck auf ihre Zulieferer drastisch erhöht (Silvia/Schroeder 2009). Vorreiter dieser Entwicklung war und ist die Automobilindustrie. Dort können die Endhersteller inzwischen nicht nur Anteile an laufenden Produktivitätsgewinnen der Zulieferer einfordern, sondern in ihren Zielpreisvorgaben sogar osteuropäische Niedriglöhne als Maßstab zu Grunde legen (Haipeter 2009b). Verschärft wird diese Entwicklung durch den Trend zum Outsourcing und zur damit verbundenen Verkleinerung der Betriebsgrößen. Ausgelagerte Betriebe verlassen teilweise die Tarifbindung und kleinere Betriebe weisen geringere Organisationsgrade auf (Silvia/Schroeder 2009). In dieser Situation der Parallelität tarifpolitischer Erfolge und anhaltender Organisationsprobleme sprangen die Arbeitgeberverbände in vielen Branchen auf den Zug der OTMitgliedschaften resp. der OT-Verbände auf. Neben der tarifpolitischen Strategie der Differenzierung und Öffnung der Flächentarifverträge kann die organisationspolitische Strategie der OT-Mitgliedschaften und -Verbände als eine der beiden zentralen strategischen Zielsetzungen betrachtet werden, die von den Arbeitgeberverbänden derzeit verfolgt werden. Die OT-Mitgliedschaften bieten auf den ersten Blick eine bequeme Lösung für die Organisati-
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Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
onsprobleme der Arbeitgeberverbände, weil sie mehrere Vorzüge vereinen. Erstens wird eine Alternative zum Verbandsaustritt für Unternehmen geschaffen, die mit der Tarifpolitik des Verbandes nicht einverstanden sind, aber weiterhin Interesse an seinen Dienstleistungen haben. Auf diese Weise können die Verbände ihre Mitgliederzahlen stabilisieren und zugleich ihre finanziellen Ressourcen erhalten, auch wenn sie ihr hauptamtliches Personal möglicherweise aufstocken müssen. Zweitens können die Verbände intern befriedet werden, weil ein Zusammenprall divergierender Mitgliederinteressen in der Tarifpolitik vermieden wird. Unzufriedene Mitglieder können aus dem Tarifvertrag ausscheren und haben daher weniger Veranlassung, ihre Kritik an den Großunternehmen zu artikulieren. OTMitgliedschaften und -Verbände könnend drittens als tarifpolitisches Druckmittel gegen die Gewerkschaften eingesetzt werden, indem diese aufgefordert werden, ihre Lohnforderungen zu senken, um damit der Tarifflucht in den Arbeitgeberverbänden weniger Vorschub zu leisten. Viertens schließlich können die OT-Verbände auch als ein attraktives Angebot für bislang unorganisierte Unternehmen betrachtet werden, als eine Art „Arbeitgeberverband Light“, der die Eintrittshürde für Unternehmen senkt und möglicherweise als Zwischenstation vor einem Eintritt in den tarifgebundenen Verband oder dem Übergang in die Mitgliedschaft mit Tarifbindung dient. 3
OT-Verbände als juristisches Problem
OT-Verbände und mehr noch OT-Mitgliedschaften waren und sind bis heute Gegenstand der Rechtsprechung. Seit ihrer Gründung lag nämlich die Vermutung nahe, dass die OTVerbände und -Mitgliedschaften gegen die rechtliche Definition von Arbeitgeberverbänden verstoßen würden, wie sie im §3 Absatz 1 des Tarifverfassungsgesetzes festgeschrieben ist. Dort werden die Arbeitgeberverbände als Tarifpartei definiert, die sich durch die Verknüpfung von Mitgliedschaft und Tarifbindung auszeichnet. Verbandsmitglieder unterliegen demnach unmittelbar den Bestimmungen der Flächentarifverträge, die ihre Arbeitgeberverbände für sie abgeschlossen haben. Daraus ergibt sich mit Blick auf die OT-Verbände und -Mitgliedschaften zwangsläufig die Frage, ob Verbände, die den Zweck des Abschlusses von Tarifvereinbarungen ausdrücklich ausschließen, überhaupt noch als Arbeitgeberverbände im juristischen Sinne zu betrachten sind und ob sie deshalb beispielsweise die steuerlichen Vorteile genießen dürfen, die den Arbeitgeberverbänden als Vereinen zukommen. Denn OTVerbände konkurrieren offen mit privatwirtschaftlichen Unternehmen, die Beratungsdienstleistungen in ähnlichem Umfang anbieten, wie sie von den Verbänden offeriert werden. Ohne den Abschluss von Tarifverträgen erfüllen die OT-Verbände in den Augen von Kritikern keine öffentlichen Funktionen mehr, die eine steuerliche Privilegierung gegenüber privatwirtschaftlichen Anbietern rechtfertigen würden. Bei OT-Mitgliedschaften ist zudem das Problem zu verzeichnen, dass die Arbeitgeberverbände Tarifvereinbarungen abschließen, die für einen Teil ihrer Mitglieder nicht gelten. Deshalb ließe sich argumentieren, dass die Arbeitgeberverbände ihrem Verbandszweck nach dem Tarifverfassungsgesetz nicht gerecht werden. Die damit verbundenen juristischen Fragen haben eine Flut arbeitsrechtlicher Literatur nach sich gezogen: Zahlreiche Dissertationen und sonstige Monografien sind dazu entstanden (so z. B. Besgen 1998; Haisch 2008; Moll 2000; Ostrop 1997; Wichmann 2008). Die Meinungen zur Rechtmäßigkeit von OT-Verbänden und -Mitgliedschaften in diesen Veröffentlichungen sind geteilt. Klärungen der rechtlichen Fragen wurden in verschiedenen Urtei-
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len des Bundesarbeitsgerichts (BAG) herbeigeführt. Diese bezogen sich auf verschiedene Einzelklagen zu OT-Mitgliedschaften und deren Folgen. Das bislang grundlegende Urteil hierzu fällte das BAG im Jahre 2006. Zur Verhandlung stand eine Klage zweier Arbeitnehmerinnen eines Einzelhandelsunternehmens, die von ver.di vertreten wurden. Sie forderten die Zahlung des tariflichen Urlaubsgeldes, wie es im Jahr 2001 rückwirkend auch für das Jahr 2000 im regionalen Flächentarifvertrag der Branche zwischen dem Arbeitgeberverband und der Gewerkschaft ver.di festgelegt worden war (der alte Tarifvertrag war Mitte 1999 gekündigt worden). Der Arbeitgeberverband hatte seit 1999 OT-Mitgliedschaften per Satzungsänderung begründet. Der Anteil der OT-Mitgliedschaften in diesem Verband betrug zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung etwa 40 %. Das beklagte Unternehmen war im Verlauf des Jahres 2000 aus der Tarifbindung ausgetreten und hatte in einen OT-Status gewechselt. Dies führte es als Begründung dafür an, die Bestimmungen des neuen Tarifvertrages nicht umgesetzt zu haben. Die Kläger argumentierten, dass OT-Mitgliedschaften unzulässig seien, weil sie die Verhandlungsparität zwischen den Tarifparteien beeinträchtigten, da der Verband von den Beitragszahlungen der OT-Mitglieder profitiere, ohne dass diese die Folgen der Mitgliedschaft in Form von Tarifverträgen zu tragen hätten. Zudem entstünde Intransparenz darüber, welche Mitglieder tarifgebunden seien und welche nicht. Überhaupt sei schließlich mit OT-Mitgliedschaften eine Destabilisierung des Tarifsystems verbunden. Das BAG wies in seinem Urteil die Klage von ver.di zurück. Zwar können demnach Arbeitgeberverbände nicht einfach ihre Tarifzuständigkeit auf ihre Mitglieder beschränken (was z. B. zur Folge hätte, dass beim Verbandsaustritt eines Unternehmens Tarifverträge nicht nachwirken würden). Allerdings gebe es keine rechtlichen Bedenken dagegen, dass ein Arbeitgeberverband in seiner Satzung die Möglichkeit einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung vorsehe; die Mitglieder, die davon Gebrauch machten, seien dann nicht als Mitglieder im Sinne des Tarifvertragsgesetzes zu betrachten. Begründet wurde diese Rechtsauffassung vom BAG mit dem Argument, dass im Tarifvertragsgesetz Mitgliedschaften ohne Tarifbindung nicht ausdrücklich ausgeschlossen seien. Das Gesetz regelt demnach zwar die Rechtsfolge der Mitgliedschaft in einer Koalition, nicht aber, wer Mitglied der Koalition ist. Die Verhandlungsparität zwischen den Tarifvertragsparteien sei nicht beeinträchtigt, solange beide noch immer wirksam Arbeitskämpfe führen könnten. Zudem seien Transparenzprobleme in Bezug auf die Mitgliedschaft nichts Neues, weil sie auch schon die Frage beträfen, welche Unternehmen überhaupt Mitglieder im Arbeitgeberverband seien und welche nicht. Dieser prinzipiellen Bestätigung der Rechtmäßigkeit von OT-Verbänden folgten weitere Rechtsstreitigkeiten zu der Frage, wie die OT-Mitgliedschaft in den Satzungen der Arbeitgeberverbände ausgestaltet sein müsse. Dazu erfolgte 2008 ein weiteres wichtiges Urteil des BAG. Damals behandelte das BAG die Klage eines Arbeitnehmers im Einzelhandel auf Auszahlung tariflicher Entgelterhöhungen, die sein Arbeitgeber deshalb meinte ablehnen zu dürfen, weil er den Status eines OT-Mitgliedes habe. Allerdings war das Unternehmen erst kurz vor Abschluss der Tarifverhandlungen als tarifgebundenes Mitglied aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten. Das BAG entschied, dass der Arbeitgeber verpflichtet gewesen wäre, die Tariflohnerhöhung an den Beschäftigten weiterzugeben, obwohl er zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses vom Arbeitgeberverband bereits als OTMitglied anerkannt worden war. Als entscheidender Grund dafür wurde genannt, dass der Austritt während laufender Tarifverhandlungen erfolgte und er für die Gewerkschaft nicht erkennbar war. Das Unternehmen habe die Tarifverhandlungen als tarifgebundenes Arbeit-
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geberverbandsmitglied beeinflusst und müsse deshalb auch die Folgen tragen. Austritte im Umfeld von Tarifverhandlungen verstoßen demnach gegen die Trennung von Mitgliedern mit Tarifbindung und solchen mit OT-Mitgliedschaften. Zusätzlich müssen die Arbeitgeber nach einem weiteren Urteil des BAG aus dem Jahre 2008 arbeitsvertragliche Verweise auf Tarifverträge erfüllen. Dies gilt unabhängig davon, ob sie den Status eines tarifgebundenen oder eines OT-Mitgliedes haben (oder ob sie gar kein Mitglied sind). Wenn im Arbeitsvertrag Bezug auf tarifliche Bestimmungen genommen wird, gelten diese unabhängig vom Verbandsstatus des Arbeitgebers. In einem Urteil des Jahres 2009 schließlich legte das BAG fest, dass die Nachwirkung von Tarifverträgen für OT-Mitglieder so lange erhalten bleibt, bis ein neuer Tarifvertrag zu dem betreffenden Tarifgegenstand abgeschlossen wird. Ab diesem Zeitpunkt kann der Arbeitgeber dann einzelvertragliche Regelungen mit den Arbeitnehmern vereinbaren. Insgesamt lässt sich die Rechtsprechung wie folgt zusammenfassen: Gegen OTMitgliedschaften gibt es keine prinzipiellen rechtlichen Einwände. Sie müssen allerdings rechtzeitig (und auch der Gewerkschaft) bekanntgegeben werden, das OT-Mitglied darf nicht als tarifgebundenes Arbeitgeberverbandsmitglied die Aushandlung eines Tarifvertrages beeinflusst haben, den es dann selber nicht anwendet, und es muss die Nachwirkungsfristen der Tarifverträge nach dem Tarifvertragsgesetz einhalten. 4
Stand der Literatur
Im Unterschied zur arbeitsrechtlichen Literatur hat die Entwicklung der OTMitgliedschaften und -Verbände in der sozialwissenschaftlichen Literatur bislang nur eine verhaltene Resonanz erfahren. Das Thema wurde zunächst mit Blick auf die ostdeutsche Metall- und Elektroindustrie behandelt (so bei Schroeder 2000; Weinert 1999). Dort wurden OT-Mitgliedschaften und -Verbände als eine zusätzliche Option für einen Austritt von Unternehmen aus dem Arbeitgeberverband diskutiert und als ein Moment der besonderen Schwäche der Arbeitgeberverbände in Ostdeutschland identifiziert. In der ostdeutschen Metallindustrie setzte die Gründung von OT-Verbänden mit dem 1993 geführten Konflikt um die Revision des Stufentarifvertrages von 1991 ein. Den Gründungen in Thüringen, SachsenAnhalt und Berlin/Brandenburg folgten bis 1997 Gründungen von OT-Mitgliedschaften und -Verbänden in allen anderen ostdeutschen Tarifgebieten (resp. die Eingliederung in die OTMitgliedschaften und -Verbände der westdeutschen Partnerverbände). In Ostdeutschland wurden OT-Mitgliedschaften und -Verbände von den Arbeitgeberverbänden von Beginn an zweifach genutzt. Zum einen dienten sie als ein Instrument zur Erhaltung der eigenen Finanzbasis im Angesicht wachsender Verbandsaustritte. Die Unternehmen sollten ihren Austritt aus dem Tarifvertragssystem nicht länger mit einem Austritt aus dem Arbeitgeberverband verbinden, sondern dem Verband als zahlende Mitglieder erhalten bleiben. Zum anderen wurden OT-Mitgliedschaften und -Verbände als tarifpolitisches Instrument gegenüber der Gewerkschaft eingesetzt. Die Arbeitgeberverbände konnten in Tarifverhandlungen so überzeugender mit Verbandsaustritten ihrer Mitglieder als Reaktion auf Tarifabschlüsse drohen und auf diese Weise versuchen, die IG Metall unter Druck zu setzen. OT-Verbänden wird damit eine sowohl organisations- als auch tarifpolitisch wichtige Rolle im Wandel der Arbeitgeberverbände Ostdeutschlands zugesprochen. Allerdings lassen sich aus diesem Ergebnis kaum Aussagen zur gesamtdeutschen Entwicklung der Ar-
II.4 OT-Mitgliedschaften und OT-Verbände
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beitgeberverbände ableiten. Die Untersuchungen kommen in dieser Frage zu dem Schluss, dass die in Ostdeutschland wahrnehmbaren Veränderungen im System der industriellen Beziehungen zunächst als besondere Phänomene des ostdeutschen Transformationsprozesses zu werten seien, die keine unmittelbaren Auswirkungen auf die etablierten Strukturen der Verbandsbildung in Westdeutschland hätten. Deshalb gehen die Analysen von einer regional geprägten Koexistenz traditioneller und neuer Verbandsstrukturen aus. Diese Hypothese findet allerdings in der weiteren Literatur zu OT-Verbänden keine Bestätigung. Zwar ist kein (von den Verbänden initiierter oder erlittener) Veränderungssog erkennbar, der sich als eine Anpassung an günstigere ostdeutsche Konkurrenz- und Standortbedingungen interpretieren ließe. Allerdings ist daraus nicht zu folgern, dass den ostdeutschen Veränderungen deshalb in Westdeutschland stabile Verbandsstrukturen gegenüberständen. OT-Mitgliedschaften und -Verbände erfahren auch in Westdeutschland eine dynamische Entwicklung und sie lassen sich auch dort als Indikatoren oder Triebkräfte eines möglicherweise grundlegenden Wandels der Verbändelandschaft charakterisieren. Nur steht zu vermuten, dass die OT-Mitgliedschaften und -Verbände diese Dynamik in Westdeutschland auch ohne die ostdeutsche Entwicklung genommen hätten. Sie sind ein neues Phänomen der industriellen Beziehungen in Ost und West gleichermaßen. Die Entwicklung von OT-Mitgliedschaften und -Verbänden wird vor allem in zwei Studien untersucht. Die Analyse von Völkl (2002) konzentriert sich auf die Dynamik der Verbandsbildung in den drei Branchen Steine- und Erdenindustrie, Säge- und Holzindustrie sowie Holz- und Kunststoffindustrie. Die Studie von Haipeter und Schilling (2006) untersucht die Gründung von OT-Verbänden in der Metall- und Elektroindustrie. Die von Völkl untersuchten Branchen bilden, zusammen mit der Textilindustrie, die Vorreiterbranchen der OT-Verbände und -Mitgliedschaften. Hier entwickelten die Arbeitgeberverbände unter dem Eindruck kleinbetrieblicher Strukturen und struktureller Branchenkrisen teilweise bereits seit den 1980er Jahren OT-Strategien, bevor diese auch in den „großen“ Branchen Einzug hielten. In den Vorreiterbranchen setzten frühzeitig mehr oder weniger scharfe Organisationskrisen der Arbeitgeberverbände ein, die sich zumeist in einer „stillen Tarifflucht“ der mittelständischen Unternehmen, also in der verdeckten Unterschreitung von Tarifstandards, äußerten. In zwei der drei Branchen wurden in den 1980er und 1990er Jahren von den Arbeitgeberverbänden deshalb OT-Mitgliedschaften begründet. Diese konnten sich rasch als selbstverständliche Elemente der Verbandsstruktur etablieren. Ihre Wachstumsdynamik ist hoch, umfassen sie doch mittlerweile im Einzelfall bis zu 50 % der organisierten Arbeitgeber. Der hohe Verbreitungsgrad der OT-Mitgliedschaften in diesen Branchen wird vor allem mit deren mittelständischer Struktur erklärt. Der Mittelstand ist demnach deswegen für OT-Mitgliedschaften und -Verbände besonders offen, weil er erstens in besonderem Maße einer Verschärfung der Wettbewerbsbedingungen auf den Produktmärkten ausgesetzt ist (und dieser nicht so gut durch eine Internationalisierung der Produktion begegnen kann wie Großunternehmen) und er sich zweitens zumeist mit nur schwachen gewerkschaftlichen Interessenvertretungen in den Betrieben auseinandersetzen muss, so dass er eine nennenswerte gewerkschaftliche Reaktion auf einen Übertritt in die OT-Mitgliedschaft nicht zu befürchten hat. In diesem Sinne interpretiert Völkl die Gründung von OT-Mitgliedschaften als eine defensive Maßnahme der Organisationssicherung und -stabilisierung, deren Attraktivität für die Unternehmen sich sowohl aus den Dienstleistungen der Verbände als auch aus der Möglichkeit der Einführung untertariflicher Arbeitsbedingungen ergibt. OT-Mitgliedschaften sind demnach ein „Ventil“ für tarifmüde Unternehmen.
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In den letzten Jahren entstanden OT-Verbände und -Mitgliedschaften aber auch flächendeckend in industriellen Kernbranchen wie der Metall- und Elektroindustrie oder der chemischen Industrie. Damit konnten sie Einfluss auf die Entwicklung des deutschen Systems der Verbandsbildung und der industriellen Beziehungen insgesamt entfalten. In der Metall- und Elektroindustrie ist die Gründung der OT-Mitgliedschaften und -Verbände als eine Reaktion der Arbeitgeberverbände auf den langfristigen Rückgang ihrer Mitgliederzahlen zu werten (Haipeter/Schilling 2006). Auch hier sind damit OT-Mitgliedschaften und -Verbände eine organisationspolitische Antwort auf zentrale mitgliederbezogene Strukturprobleme der tarifgebundenen Arbeitgeberverbände. Von den langfristigen Strukturproblemen der Verbände zu unterscheiden sind konkrete Anlässe, die zu einer Einführung von OT-Mitgliedschaften und -Verbänden in der Branche führten. Dazu zählen bspw. die Diskussionen um die 32-Stunden-Woche in der IG Metall oder die Tarifauseinandersetzungen in der bayerischen Metallindustrie (1995). Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass diese Strategie bei Gesamtmetall und unter den regionalen Arbeitgeberverbänden der Branche nicht gänzlich unumstritten ist oder zumindest war. So wurden noch 2002 zwei denkbare Entwicklungslinien kontrovers diskutiert (Gesamtmetall 2002). Während einige Verbandsvertreter mit einer Dämpfung der Tarifabschlüsse rechneten und davon ausgingen, dass die Gewerkschaften überzogene Tarifabschlüsse vermeiden würden, um eine weitere Erosion des Flächentarifs durch Verbandsaustritte zu verhindern, waren andere der Ansicht, durch die OT-Möglichkeiten würden die Tarifabschlüsse vielmehr „hochgetrieben“. Hier lautete die Begründung, dass durch das „Ventil“ OT-Verbände und -Mitgliedschaften die Widerstandsfähigkeit der verbleibenden Tarifverbandsmitglieder geschwächt würde und diese entsprechend höhere Tarifabschlüsse hinnehmen müssten. Grundsätzlich lassen sich mitgliederorientierte und tarifpolitische Strategien der Instrumentalisierung von OT-Mitgliedschaften und -Verbänden unterscheiden. Die mitgliederorientierten Strategien verstehen die OT-Mitgliedschaften und -Verbände in erster Linie als ein Instrument der Organisationssicherung und der Mitgliederrekrutierung. Sie zielen vor allem darauf ab, neue Mitglieder zu rekrutieren, die sich bislang den Arbeitgeberverbänden entzogen haben. Teilweise werden dabei die OT-Mitgliedschaften als ein Übergangsstadium betrachtet, an das sich möglicherweise tarifgebundene Mitgliedschaften anschließen. Im Unterschied dazu zeichnen sich die tarifpolitischen Strategien dadurch aus, dass die OT-Verbände und -Mitgliedschaften als ein Instrument der Tarifpolitik genutzt werden sollen. Hierzu werben die Verbände bei ihren tarifgebundenen Mitgliedern aktiv für eine OT-Mitgliedschaft und die Möglichkeit eines Status- oder Verbandswechsels und betonen zugleich gegenüber der Tarifpartei Gewerkschaft in Tarifverhandlungen die Gefahren hoher Lohnforderungen für die Mitgliedschaften und damit für den Geltungsbereich des Flächentarifvertrages. Der Verweis auf Austritte und auf eine sinkende Tarifbindung soll die Gewerkschaft zu moderateren Forderungen und Abschlüssen bewegen. 5
Schlussfolgerungen
Welche Folgewirkungen hat das Erstarken der OT-Mitgliedschaften und -Verbände für die Verbandsstrukturen und das System der industriellen Beziehungen in Deutschland insgesamt? Nach den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchungen spricht einiges dafür, dass ein anhaltender Erfolg der OT-Mitgliedschaften und -Verbände die Erosion des bislang
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bekannten deutschen Systems der industriellen Beziehungen fördert. Dafür lassen sich vor allem drei Gründe nennen. Erstens werden in den OT-Verbänden die Interessen der – zumeist aus der Gruppe der KMUs stammenden – Kritiker des Flächentarifvertrages unter den Unternehmen organisatorisch gebündelt und verfestigt. Diese Kritiker gab es zwar schon zuvor, doch waren sie ohne eine eigenständige Organisation im Schoß der Arbeitgeberverbände integriert (dazu auch Thelen 2000). Durch die Gründung von OT-Mitgliedschaften und -Verbänden besteht der Zwang zur Einigung innerhalb des Verbandes nicht mehr fort, so dass sich die Interessendifferenzen zwischen Großunternehmen und KMUs und damit nicht zuletzt auch die Kritik am Flächentarifvertrag verfestigen könnten. Damit zusammenhängend werden durch die Gründung der OT-Mitgliedschaften und -Verbände zweitens neue Handlungsnormen für die Unternehmen geschaffen. Zwar war auch zuvor ein Austritt aus dem Arbeitgeberverband prinzipiell immer möglich, da im Sinne der negativen Koalitionsfreiheit für ein Unternehmen kein Zwang zur Mitgliedschaft bestand. Dennoch bedeutete ein Austritt eine Abweichung von einer weitgehend anerkannten Handlungsnorm. Der Austritt war, soziologisch betrachtet, eine Form devianten Verhaltens. Mit der Einrichtung von OTMitgliedschaften und -Verbänden hingegen wurde die Austrittsoption von den Arbeitgeberverbänden selber als eine legitime Handlungsnorm für die Unternehmen begründet. Drittens schließlich kann aus der Dualität der Verbände eine neue Form der Dualisierung des Tarifsystems zwischen überbetrieblichen und betrieblichen Kollektivvereinbarungen erwachsen. Der alte Typus des Flächentarifvertrages würde sich demnach – in differenzierter und dezentralisierter Form – in seiner Geltung immer mehr auf die Großunternehmen beschränken, während ein immer größerer Teil der KMUs aus dem Flächentarifvertrag ausscheren und mit der Gewerkschaft Haustarifverträge mit für die Unternehmen günstigeren Konditionen vereinbaren oder gar einzelvertragliche Regelungen mit den Arbeitnehmern treffen würde. Allerdings ist dieses Szenario der Erosion nur eines von mehreren möglichen. Eventuell könnte die vermehrte Nutzung von Öffnungsklauseln in den Flächentarifverträgen vieler Branchen (und an prominenter Stelle wiederum industrieller Kernbranchen wie der chemischen Industrie und der Metallindustrie) zu einer neuen Aussöhnung der kritischen Unternehmen mit dem Flächentarifvertrag führen, weil sie auf dieser Grundlage eine Unterschreitung von Tarifnormen auch ohne den Wechsel in eine OT-Mitgliedschaft erreichen können. Dadurch könnte die Wachstumsdynamik der OT-Mitgliedschaften und -Verbände gebremst werden. Gegen eine ungehemmte Ausbreitung spricht auch, dass die Vorteile für die Arbeitgeberverbände nicht eindeutig sind. Die Betreuung von OT-Mitgliedern kann sehr kostspielig und aufwändig sein, wenn damit die Beratung bei unternehmensbezogenen Tarifverhandlungen verbunden ist. Außerdem ist noch immer rechtlich unklar, ob Verbände, deren Mitglieder mehrheitlich nicht tarifgebunden sind, noch als eingetragene Vereine organisiert sein können oder ob sie nicht vielmehr wie Privatunternehmen – mit denen sie in ihren Dienstleistungen ja auch konkurrieren – besteuert werden müssten. Vor allem aber dürfte für die Folgewirkungen der OT-Mitgliedschaften entscheidend sein, welche strategische Rolle sie für die Arbeitgeberverbände spielen. Werden sie in erster Linie als tarifpolitisches Instrument eingesetzt, fördern sie den Austritt der Unternehmen aus der Tarifbindung und untergraben die tarifpolitische Machtposition der Gewerkschaften. Werden sie hingegen eher als eine mitgliederorientierte Strategie verfolgt, mit deren Hilfe die Mitgliederbasis der Verbände erweitert und die Übergänge in die Tarifbindung erleichtert werden sollen, kön-
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nen sie durchaus auch zu einer Stärkung der Arbeitgeberverbände in ihren tarifpolitischen Funktionen als Arbeitsmarktpartei beitragen. Viel hängt deshalb davon ab, ob sich die Arbeitgeberverbände im Einzelfall weiterhin von den korporativen Kompromissstrukturen der „Konfliktpartnerschaft“ (Müller-Jentsch 1999) leiten lassen oder ob ihr Interesse eine Schwächung oder zumindest die Ausnutzung einer Schwäche der Gewerkschaften ist und sie sich damit in Denken und Handeln vom System der industriellen Beziehungen in seinen bisherigen Strukturen verabschieden. Literatur Grundlegende Literatur Haipeter, Thomas/Schilling, Gabi (2006): Arbeitgeberverbände in der Metall- und Elektroindustrie. Tarifbindung, Organisationsentwicklung und Strategiebildung. Hamburg: VSA-Verlag. Völkl, Martin (2002): Der Mittelstand und die Tarifautonomie. Arbeitgeberverbände zwischen Sozialpartnerschaft und Dienstleistung. München/Mering: Hampp.
Weiterführende Literatur Besgen, Nicolai (1998): Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung. Tarifflucht statt Verbandsflucht. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. Berg, Peter/Platow, Helmut/Schoof, Christian/Unterhinninghofen, Hermann (2005): Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht. Basiskommentar. Frankfurt a. M.: Bund-Verlag. Bispinck, Reinhard (2007): Löhne, Tarifverhandlungen und Tarifsystem in Deutschland. WSIDiskussionspapier 150. Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut in der Hans-Böckler-Stiftung. Bispinck, Reinhard/Schulten, Thorsten (1999): Flächentarifvertrag und betriebliche Interessenvertretung. In: Müller-Jentsch, Walther (Hrsg.): Konfliktpartnerschaft. Akteure und Institutionen der industriellen Beziehungen. München/Mering: Hampp (3. Aufl.), S. 185í212. Gesamtmetall (2002): OT-Verbände in der M+E-Industrie. Köln. Haipeter, Thomas (2009a): Tarifabweichungen und Flächentarifverträge. Eine Analyse der Regulierungspraxis in der Metall- und Elektroindustrie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Haipeter, Thomas (2009b): Erosion der industriellen Beziehungen? Die Folgen der Globalisierung für Tarifsystem und Mitbestimmung in der deutschen Automobilindustrie. In: Lehndorff, Steffen (Hrsg.): Abriss, Umbau, Renovierung? Studien zum Wandel des deutschen Kapitalismusmodells. Hamburg: VSA-Verlag, S. 47í80 Haisch, Melanie (2008): Wirtschaft ohne Tarifbindung. Vom Flächentarifvertrag zum OT-Verband. Marburg: Tectum-Verlag. Jürgens, Ulrich/Naschold, Frieder (1994): Arbeits- und industriepolitische Entwicklungsengpässe der deutschen Industrie in den neunziger Jahren. In: Zapf, Wolfgang/Dierkes, Meinolf (Hrsg.): Institutionenvergleich und Institutionendynamik. WZB-Jahrbuch 1994. Berlin: edition sigma, S. 239í270. Moll, Frank (2000): Tarifausstieg der Arbeitgeberseite. Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband „Ohne Tarifbindung“. Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht, Bd. 179. Berlin: Duncker & Humblot. Müller-Jentsch, Walther (Hrsg.) (1999): Konfliktpartnerschaft. Akteure und Institutionen der industriellen Beziehungen. München/Mering: Hampp (3. Aufl.). Ostrop, Markus H. (1997): Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. Besondere Gestaltungsformen einer tarifbindungsfreien Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband. Frankfurt a. M. et al.: Lang.
II.4 OT-Mitgliedschaften und OT-Verbände
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Schroeder, Wolfgang (2000): Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand. Zur Entwicklung der industriellen Beziehungen in Ostdeutschland. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Silvia, Stephen J./Schroeder, Wolfgang (2009): Why are German Employers‘ Associations Declining? Arguments and Evidence. In: Comparative Political Studies, 40, S. 1433í1459 Thelen, Kathleen (2000): Why German Employers Cannot Bring Themselves to Dismantle the German Model. In: Iversen, Torben/Pontusen, Jonas/Soskice, David (Hrsg.): Unions, Employers and Central Banks. Macroeconomic Coordination and Institutional Change in Social Market Economies. Cambridge: Cambridge University Press, S. 138í172. Weinert, Rainer (1999): Einflussfaktoren auf die Akzeptanz flächentarifvertraglicher Regelungsstandards und Austauschmuster in Ostdeutschland. Arbeitsheft Nr. 6. Berlin: Otto Brenner Stiftung. Wichmann, Melanie (2008): Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung. München/Ravensburg: Grin.
Grenzen der politischen Kommunikation von Unternehmensverbänden Teil II: Organisation und Struktur der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
Rudolf Speth
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Grenzen traditioneller Kommunikationswege und Einflussmöglichkeiten
Wirtschaftsverbände sind wie alle Verbände intermediäre Organisationen. Sie stehen damit zwischen dem staatlich-administrativen Bereich auf der einen Seite sowie den eigenen Mitgliedern und der demokratischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Zwischen diesen beiden Umwelten gilt es zu vermitteln. Kommunikation ist für Verbände das wichtigste Werkzeug, um mit der Gesellschaft in Verbindung zu treten und ihre Anliegen zu transportieren. Mithilfe von Kommunikation sollen Verbände Vermittlungsleistungen zwischen ihren Mitgliedern, der Politik und der Gesellschaft erbringen. Inwieweit es ihnen gelingt, dieser Erwartung der Umwelt gerecht zu werden und damit die ihnen zugedachte Rolle im politischen System auszufüllen, hängt von der Form und der Nutzung der politischen Kommunikation ab. Wirtschaftsverbände fördern die Interessenbildung der Unternehmen auf der lokalen und regionalen Ebene. Sie aggregieren diese Interessen und artikulieren sie gegenüber den Akteuren auf der politisch-administrativen Entscheidungsebene. Umgekehrt vermitteln sie staatliche Entscheidungen an ihre Mitglieder zurück und tragen damit zur Umsetzung politischer Entscheidungen bei. Neben der Wahrnehmung dieser Aufgaben müssen sie ihre Positionen und Ziele in einer Mediengesellschaft auch gegenüber der politischen Öffentlichkeit darstellen. Gegenwärtig wird von einer Krise der intermediären Organisationen und speziell der Verbände gesprochen, weil sich deren Umwelten verändern (Jun 2009). Korporatistische Strukturen lösen sich auf, was auf der einen Seite zu einem „Aussterben“ der Stammkundschaft (Streeck 1987) und auf der anderen Seite zu einer Lockerung der etablierten Strukturen der Beziehungen zur politisch-administrativen Ebene führt. Die Krise der Wirtschaftsverbände als intermediäre Organisationen ist ferner auf Veränderungen der Mitgliederstrukturen, der ökonomischen Strukturen und die Medialisierung der Gesellschaft zurückzuführen. Ökonomische Veränderungen bringen neue Interessenlagen hervor und fordern die Verbände in Bezug auf ihre eingespielten Funktionen der Interessenaggregation und -artikulation heraus. Die Medialisierung der Gesellschaft und der Politik stellt die Verbände auch im Hinblick auf ihr Kommunikationsverhalten vor neue Herausforderungen, auf die sie bisher jedoch kaum mit zukunftsweisenden Veränderungen reagiert haben. Offensichtlich geraten Wirtschaftsverbände bei dem Versuch, Politik und Öffentlichkeit mit traditionellen Methoden zu beeinflussen, an ihre Grenzen. Dagegen ist zu beobachten, dass einzelne Unternehmen selbst die Initiative ergreifen, um auf die Veränderungen der Umwelt zu reagieren. Sie verfügen über die nötigen Ressourcen, um eigene Strategien zu entwickeln und sind daher nicht unbedingt auf die Hilfe der Verbände angewiesen. Wäh-
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rend sich größere Unternehmen mit Unternehmensrepräsentanzen in Berlin – dem Zentrum des politisch-medialen Komplexes – selbständig machen, nehmen kleinere Unternehmen die Dienste externer Kommunikationsdienstleister, sogenannter Public-Affairs-Agenturen, in Anspruch oder beauftragen Lobbyisten. Auch Verbände greifen immer häufiger auf PublicAffairs-Agenturen zurück. Die Kampagne „Du bist Deutschland“ ist ein Beispiel für einen Zusammenschluss von Unternehmen mit dem Zweck, zielgerichtet die Stimmung in der Bevölkerung zu beeinflussen. Bei der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) betrat der Verband Gesamtmetall Neuland, indem er eine externe Agentur gründete, die langfristig und unabhängig vom verbandspolitischen Tagesgeschäft politische Kommunikation betreiben soll. In diesem Beitrag geht es um den Wandel der politischen Kommunikation von Wirtschaftsverbänden als intermediären Organisationen – einen von der Verbändeforschung bislang wenig thematisierten Bereich: Welche Strategien der politischen Kommunikation wählen Wirtschaftsverbände, um auf die Veränderungen ihrer Umwelten zu reagieren? Im nächsten Abschnitt sollen zunächst die zentralen Begriffe geklärt und ein theoretisches Gerüst skizziert werden; der dritte Abschnitt umreißt knapp den Forschungsstand zum Thema. Im vierten Abschnitt wird das direkte Lobbying von Unternehmen und Public-AffairsAgenturen untersucht, bevor im fünften und im sechsten Abschnitt die Kampagne „Du bist Deutschland“ als Beispiel für eine neue Form des Campaignings und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft als eine neue Form der verbandsstrategischen Kommunikation vorgestellt werden. Vor diesem Hintergrund werden abschließend einige zusammenfassende Thesen zum Wandel der politischen Kommunikation von Wirtschaftsverbänden formuliert. 2
Begriffsdefinitionen
Wirtschaftsverbände als intermediäre Organisationen zu begreifen impliziert, dass ihre Beziehungen zu den beiden Umwelten – Mitglieder und Gesellschaft auf der einen Seite und politisch-administratives System auf der anderen Seite – im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. Nach diesem Verständnis ist die „Vermittlung des Differenten“ (Steiner/ Jarren 2009: 256) eine ihrer wesentlichen Aufgaben, weshalb man sie als politisches System „en miniature“ auffassen kann (ebd.). Sie müssen intern Komplexität zulassen und die Vielfalt der Interessen abbilden, gleichzeitig aber auch in der Lage sein, diese Komplexität zu reduzieren und für das politisch-administrative System bearbeitbar zu machen. Mit dem Begriff der politischen Kommunikation (Schulz 2008) können die Funktionen der Wirtschaftsverbände als intermediäre Organisationen präzise erfasst werden und es wird der Anspruch der „strukturellen Offenheit“ dieser Organisationen „gegenüber der politischen Peripherie und dem politischen Zentrum“ (Steiner/Jarren 2009: 257) zum Ausdruck gebracht. Politische Kommunikation bezeichnet alle Formen der Kommunikation, die politische Akteure, Inhalte oder Entscheidungen zum Gegenstand haben, die Vermittlung von Interessen gegenüber der politischen Entscheidungsebene sowie die zielgerichtete Kommunikation politischer Akteure selbst. Der Bereich der politischen Kommunikation hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Die Dominanz der Medien hat sich verstärkt, weshalb sich der Begriff der „Mediengesellschaft“ eingebürgert hat. Das Feld der Interessengruppen ist vielfältiger geworden und es sind neue Akteure hinzugekommen. Neue Kommunikationskanäle (z. B. das Internet) sind entstanden und es wird intensiver mit
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Kampagnen gearbeitet. Neue Dienstleister wie Public-Affairs-Agenturen haben sich in diesem Feld etabliert. Insgesamt hat die Professionalisierung in der politischen Kommunikation zugenommen. Politische Kommunikation bezieht sich somit auf die kommunikativen Aktivitäten der Regierung, des Parlaments, des politischen Journalismus, der Verbände, Unternehmen, NGOs, Initiativen, Interessengruppen etc. Steiner und Jarren (2009: 258) verstehen unter politischer Kommunikation „ jede Form der Kommunikation, die dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen vorzubereiten, herzustellen und durchzusetzen. Darunter fällt ebenso bereits die Anmeldung von politischem Entscheidungsbedarf, wie die vielfältigen kommunikativen Maßnahmen, die der Generierung, Aggregation und Artikulation von politischen Ansprüchen und Interessen sowie der Mobilisierung von Unterstützung dafür dienen.“
Mit den Begriffen Lobbying und Campaigning werden spezifische Formen der politischen Kommunikation von Verbänden als intermediären Organisationen benannt. Lobbying bezeichnet die Kommunikation zwischen intermediären Organisationen und Akteuren auf der Entscheidungsebene des politisch-administrativen Systems. Es findet in der Regel abseits öffentlicher Aufmerksamkeit, in formellen und informellen Kontexten statt. Zur Erklärung des Lobbying wird vielfach das Tauschtheorem verwendet (siehe dazu: Wehrmann 2007; Sebaldt 1997; von Winter 2004). Häufig wird auch der Begriff der Politikberatung damit assoziiert (Lösche 2006), weil im Rahmen der Beeinflussung, wenn auch interessengeleitet, Beratungsleistungen für politische Entscheider erbracht werden. Campaigning dagegen richtet sich an eine breite Öffentlichkeit und arbeitet insbesondere mit massenmedial kompatiblen Elementen. Campaigning ist eine Form der politischen Kommunikation, die in den letzten Jahren aus dem Bereich der Konsumgüter in den sozialen und politischen Bereich übernommen wurde. Kampagnen sind nach Röttger (2006: 9) „dramaturgisch angelegte, thematisch begrenzte und zeitlich befristete kommunikative Strategien zur Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit“. Hinzuzufügen ist, dass es neben Aufmerksamkeit auch um Verhaltensänderungen (Kauf, Wahlakt) und um einen Gewinn an Vertrauen und Glaubwürdigkeit geht. Kampagnen sind oft konfrontativ und dienen der aufmerksamkeitswirksamen Politisierung von Sachverhalten, während das Lobbying eher sachbezogen ist und im Modus des Bargaining abläuft. Lobbying und Campaigning gehen oft Hand in Hand und werden aufeinander abgestimmt verwendet. Beide Elemente können mit dem Begriff „Public Affairs“ zusammengefasst werden. Darunter fallen außerdem weitere Kommunikationselemente und -instrumente wie Stiftungen, Thinktanks, Corporate Social Responsibility (CSR) und PR, die ebenfalls dazu dienen, die Interessen von intermediären Organisationen zu transportieren (Harris/ Fleisher 2005; Althaus 2005). „Public Affairs“ umfasst das Management aller externen Beziehungen einer Organisation. Bei Unternehmen beschränken sich diese nicht auf den Markt, sondern zur externen Umwelt gehören auch das politisch-administrative System, die Öffentlichkeit und eine jeweils zu bestimmende Reihe von relevanten Stakeholdern. 3
Forschungsstand
Politische Kommunikation ist ein zentraler Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung (siehe dazu: Jarren/Donges 2006; Schulz 2008), jedoch ist die Forschung zur politi-
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schen Kommunikation von intermediären Organisationen „insgesamt einseitig“ (Steiner/ Jarren 2009: 252): Meistens richten sich die Forschungsbemühungen auf die Parteien, insbesondere auf die Wahlkampfkommunikation oder auf die Kommunikation von bestimmten Reformvorhaben (z. B. Agenda 2010). In der allgemeinen Verbändeforschung (von Winter/Willems 2007; Lang/Schneider 2007) kommt der Begriff politische Kommunikation nicht häufig vor. Untersuchungen gibt es zur politischen Kommunikation von sozialen Bewegungen (Kriesi 2007) und zur Berichterstattung der Medien zu politischen Themen. Gut untersucht ist das Themengebiet Medien und Medialisierung der Gesellschaft (Saxer 2007; Pfetsch/Adam 2008). Vowe (2007) thematisierte die Verbindung von Verbänden und Medien, wobei Medienverbände im Mittelpunkt standen. Nur wenige Untersuchungen gibt es zur politischen Kommunikation von Verbänden (Armingeon 2007), Unternehmen und NGOs. Dies liegt zum einen daran, dass dieser Bereich sehr heterogen ist und nur schwer Gemeinsamkeiten benannt werden können. Zum anderen hat die Verbandsforschung ihren Fokus überwiegend auf die korporatistischen und pluralistischen Formen der kollektiven Interessenvertretung gelegt (von Alemann 2000; von Winter 2004) und kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen vernachlässigt. Die lange Zeit dominante Theorie des Korporatismus bot kaum Anknüpfungspunkte, um die politische Kommunikation von Verbänden und speziell von Wirtschaftsverbänden genauer zu untersuchen. Lobbying als Teilbereich der politischen Kommunikation ist in den letzten Jahren intensiver untersucht worden (Speth 2006; Leif/Speth 2003; von Winter 2004; Wehrmann 2007). Durch eine Reihe von Veränderungen in den Umwelten der Verbände (Sebaldt/ Straßner 2004; Jun 2009) und die Entstehung von Public-Affairs-Agenturen als neuen Dienstleistern für diese Form der Kommunikation (Lahusen/Jauß 2001) gewann Lobbying erheblich an Aufmerksamkeit. Zum Lobbying von Wirtschaftsverbänden gibt es allerdings nur wenige Fallstudien (Haacke 2006). Ökonomische und politisch-regulatorische Veränderungen führten dazu, dass sich Unternehmen zunehmend jenseits ihrer verbandlichen Mitgliedschaften im Bereich der politischen Kommunikation betätigen. Bislang ist dieser Bereich allerdings noch nicht umfassend untersucht (Priddat/Speth 2007), insbesondere ist die Frage offen, ob heute mehr Unternehmen als früher der politisch-administrativen Ebene selbständig gegenübertreten. Analysen zu Unternehmen als politischen Akteuren sind selten (Crouch 2008: 45í70; Mayer/Naji 2000), wenngleich Unternehmen im Kontext des Korporatismus immer als gesellschaftliche Institutionen und nicht als private Organisationen begriffen wurden. Doch ist bislang in der Forschung zu Wirtschaftsverbänden nicht berücksichtigt, dass Unternehmen verstärkt selbständig agieren, Allianzen und temporäre Koalitionen bilden und teilweise auch gegen den eigenen Verband Lobbying betreiben. 4
Direktes Lobbying von Unternehmen
Vor allem größeren Unternehmen stehen für die Artikulation und Durchsetzung ihrer Interessen nicht nur Verbandsmitgliedschaften zur Verfügung. Sie können sich im Hinblick auf die politische Kommunikation auch selbständig machen oder zusätzlich zur Verbandmitgliedschaft Unternehmensrepräsentanzen am politischen Entscheidungszentrum gründen und betreiben. Ihnen bieten sich damit mehr Möglichkeiten der Interessenvermittlung (MultiVoice-Lobbying), während der Verband Konkurrenz durch die eigenen Mitglieder bekommt.
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Die eigenständige Interessenvertretung durch Unternehmen gab es schon immer, doch die Qualität der politischen Kommunikation in diesem Bereich hat sich erhöht. Das Spektrum der Instrumente ist breiter geworden und die Zahl der Unternehmen, die entweder über eine eigene Repräsentanz verfügen oder zeitweilig eine Public-Affairs-Agentur oder einen Lobbyisten mit der Vertretung ihrer Interessen beauftragen, hat zugenommen. Mehr als 80 Unternehmensrepräsentanzen gab es 2009 in Berlin – verglichen mit der Zahl der Unternehmen in Deutschland eine relativ geringe Zahl. Und doch verbirgt sich dahinter eine gravierende Veränderung in der Beziehung zwischen Wirtschaft und Politik. Denn in Deutschland mit seiner korporatistischen Tradition waren es seit Jahrzehnten vor allem die Verbände, die diese Beziehung prägten und Lobbying betrieben. Betrachtet man die Unternehmensrepräsentanzen in Berlin genauer, so fällt auf, dass beinahe alle DAX-30-Unternehmen und die meisten der 100 größten Unternehmen in Deutschland 1 dort mit Repräsentanzen vertreten sind. Auffällig ist ferner, dass kaum Unternehmen aus der Branche des Lebensmitteleinzelhandels Repräsentanzen gegründet haben (Aldi, REWE, Lidl, Tengelmann, Tchibo, Nestlé, Unilever, Edeka). Ebenso fehlen die Landesbanken, die ihren Einfluss auf politische Entscheidungen über andere Wege ausüben. Staatliche Regulierung ist von Branche zu Branche unterschiedlich dicht und es gibt Branchen, die traditionell sehr enge Beziehungen zur politischen Entscheidungszentrale unterhalten. Eine wesentliche Ausgangsbedingung für die Gründung und die Führung einer Konzernrepräsentanz ist daher die historisch gewachsene Beziehungsstruktur zwischen Politik und Unternehmen. Traditionell haben Stahlkonzerne und Energieversorger sehr gute Beziehungen zur Politik. Das Gleiche gilt für die alten Industriebereiche, so dass sich die entsprechenden Unternehmen nicht allein auf die Vertretung durch die Verbände verlassen müssen. Die engen Politikbeziehungen einiger Konzerne beinhalten den direkten Zugang zum Kanzleramt und zur Kanzlerin, wodurch die Lobbyarbeit „von unten“ entwertet oder überflüssig wird. Doch dieser privilegierte Zugang hilft nicht weiter, wenn er nicht flankiert wird von einem integrierten Public-Affairs-Konzept. Eine hohe Qualitätsstufe erreicht das Lobbying der Unternehmensrepräsentanz, wenn der Staat Abnehmer der Produkte des Unternehmens ist. Dies ist vor allem in den Bereichen Wehr- und Sicherheitstechnik, Verkehrstechnologie und bei Großaufträgen zur Einführung neuer technologischer Lösungen (Mautsystem, Gesundheitskarte, Geldkarte, Ausweis mit biometrischen Daten etc.) der Fall. Die Unternehmensrepräsentanzen nehmen dann auch das Außengeschäft und die Kundenbetreuung wahr. In der Regel hat dies zur Folge, dass die Repräsentanz überdurchschnittlich viel Personal beschäftigt. Die Gründung einer Repräsentanz scheint auch von der Regulierungsdichte der Branche abzuhängen. Je stärker die Politik in das Marktgeschehen eingreift – bis hin zur Preisgestaltung – und damit über die Existenz von Geschäftsmodellen entscheidet, desto größer ist der Zwang für Unternehmen, die politischen Entscheidungen direkt zu beeinflussen. Die Politik schafft also durch Regulierung Anreizstrukturen für das Lobbying. Eine weitere entscheidende Größe für das Unternehmenslobbying mit einer eigenen Repräsentanz ist die Unternehmensstruktur. Unternehmen mit einer Holding-Struktur haben es schwerer als Unternehmen, die nur aus unselbständigen Untereinheiten bestehen. Bei Holding-Strukturen verfügen die einzelnen Unternehmen in der Regel über eigenständige 1
Vgl. 16. Hauptgutachten der Monopolkommission 2004/2005 gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 GWB („Mehr Wettbewerb auch im Dienstleistungssektor!“), Drucksache 16/2460, 25.8.2006. URL: http://dip.bundestag. de/btd/ 16/024/1602460.pdf (zuletzt besucht am 7.12.2009).
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Politikkontakte und haben auch auf der Verbandsebene eigenständige Repräsentationsstrukturen ausgebildet. Und schließlich hängt das Lobbying von Unternehmen wesentlich von der Aktivität des Chief Executive Officers (CEO) ab. Ist dieser ein „politischer Kopf “, so ist einerseits das Verständnis für das Berliner Büro größer, andererseits wird es tendenziell aber auch überflüssig, weil der CEO in der Regel über eigene Politikkontakte, die nicht über das Berliner Büro laufen, verfügt – Zugang zum Kanzleramt, Kontakte zu Ministern, Mitgliedschaften in Gremien. Die Unternehmensrepräsentanz wird dann tendenziell zum Herbergsbetrieb für den Vorstand. Unternehmen verstehen sich zunehmend auch als politische Akteure und versuchen mit der Gründung einer Repräsentanz die Bandbreite der politischen Kommunikation zu erweitern. Von der Zielvorstellung, eine integrierte politische Kommunikationsstrategie zu entwickeln, im Rahmen derer alle Abteilungen, die mit politikrelevanten Außenkontakten befasst sind, zu einer Hauptabteilung Politik zusammengefasst werden, sind jedoch die meisten Unternehmen noch sehr weit entfernt und das Gros der Repräsentanzen hat noch einen weiten Weg der Professionalisierung vor sich. Dem personen- und netzwerkdominierten Politikverständnis in Berlin entsprechend beinhaltet ein solches umfassendes Kommunikationskonzept mehrere Elemente. Entscheidend ist, dass die Repräsentanz mehr ist als ein reines Lobbybüro. Es geht vielmehr darum, das Unternehmen zu einem Faktor in der Politik und in der relevanten Öffentlichkeit zu machen, um seiner Stimme Gehör zu verschaffen. Hinter diesem Konzept der integrierten Kommunikation steckt die Einsicht, dass Politiker eher auf die Stimmungen der Öffentlichkeit und der Bürgerinnen und Bürger im Wahlkreis hören als auf die Artikulation von Partikularinteressen. Die Beeinflussung der Öffentlichkeit ist also gerade für partikulare Unternehmensinteressen von entscheidender Bedeutung. Voraussetzung eines solchen umfassenden Kommunikationskonzepts ist, dass die Repräsentanz Teil der Entscheidungsstruktur des Unternehmens wird. Einige Unternehmen bündeln verschiedene Instrumente in ihrer Berliner Repräsentanz: Lobbybüro, Medienkontaktstelle, Stiftung, Thinktank, CSR-Abteilung, Ausstellungsraum und Eventagentur. Durch Stiftungen werden Themen gesetzt, um als gesellschaftlicher Akteur wahrgenommen zu werden und die Reputation des Unternehmens zu erhöhen. Nicht zuletzt aufgrund von Anreizen durch die Reformen des Gemeinnützigkeits- und Stiftungsrechts gründen immer mehr Unternehmen Stiftungen (Speth 2010). Eine weitere Möglichkeit bietet die Einrichtung eines Thinktanks, in dem wissenschaftliche Expertise zu ausgewählten, dem Unternehmensintereresse dienlichen Themen versammelt wird. Diese Gutachten sind dann besonders wertvoll, wenn sie im Verbund mit einer PR-Strategie eingesetzt werden, um ein bestimmtes Themenfeld zu besetzen und so die Durchsetzung der eigenen Interessen zu erleichtern. Thinktanks sind vor allem dann notwendig, wenn das eigene Lobbying intensiviert und Partikularinteressen mit umfassenden und wissenschaftlich gestützten Argumentationen verbunden werden sollen. Immer bedeutender für das Lobbying werden Corporate-Social-Responsibility-Aktivitäten (Speth 2008), da sich Partikularinteressen schnell der Gefahr der Entwertung durch Gemeinwohlargumente aussetzen. Vorausschauendes Lobbying beinhaltet daher häufig die Strategie, das gesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein des Unternehmens herauszustellen. Im Rahmen eines umfassenden Kommunikationskonzepts wird die Interessenver-
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tretung verbunden mit der Kommunikation der gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Aktivitäten des Unternehmens, die damit als Schutzschild und Legitimation für die Interessenvertretung dienen. Zu einem umfassenden Kommunikationskonzept gehört die Einwirkung auf die Öffentlichkeit. Denn Interessen lassen sich oftmals nur durchsetzen, wenn für sie zuerst der Boden in der relevanten Öffentlichkeit bereitet wurde, das Thema einen Platz auf der Agenda erhalten hat und die politischen Entscheider dafür sensibilisiert sind. In letzter Zeit wurde verstärkt politische Aufmerksamkeit durch Kampagnen erregt. Ein Beispiel dafür ist die Kampagne „Du bist Deutschland“, die nicht von Wirtschaftsverbänden, sondern von Unternehmen der Medienwirtschaft angeschoben wurde. 5
Die Kampagne „Du bist Deutschland“
Die politische Kommunikation von Wirtschaftsverbänden ist noch nicht sehr gut entwickelt und den Erfordernissen einer modernen Mediengesellschaft kaum angepasst. Zudem ist das Handeln von Wirtschaftsverbänden in der Regel nicht auf die breite Öffentlichkeit hin ausgerichtet, sondern eher auf die eigenen Mitglieder und das politisch-administrative Entscheidungszentrum als Teilöffentlichkeiten. Viele Unternehmen legen inzwischen aber auch Wert darauf, ihre Anliegen einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln und auf diese Weise für ein positives (Wirtschafts-)Klima zu sorgen. Denn dadurch verbessern sich nicht nur die Absatzchancen der Unternehmen, sondern ihre Stellung in der Gesellschaft wird auch insgesamt positiver wahrgenommen. 2 Wie Unternehmen sich in der politischen Kommunikation selbständig machen, kann am Beispiel der Kampagne „Du bist Deutschland“ gezeigt werden, die im Herbst 2005 im Zusammenhang mit der Regierungsinitiative „Partner für Innovation“ ins Leben gerufen wurde. Bereits diese verfolgte das Ziel, einen Stimmungswandel in der Bevölkerung herbeizuführen und eine Innovationskultur zu schaffen: „Pessimismus und überhöhtes Risikodenken lähmen Deutschland und die Umsetzung von Ideen in marktfähige Technologien. (…) Wir brauchen mehr Offenheit gegenüber dem Neuen und der Veränderung, mehr Optimismus, ein mutiges Unternehmertum und ein Klima für Wachstum.“ 3 Ein Impulskreis „Medienpartnerschaften“ hatte im Rahmen der Initiative die Aufgabe, einer breiten Bevölkerung ein positives Bild von Innovationen zu vermitteln, was nur mit einer umfassenden Werbestrategie erreicht werden konnte. Im Oktober 2004 verabredeten 25 der größten Medienunternehmen die Kampagne „Du bist Deutschland“, die nicht nur das Thema Innovation positiv besetzen, sondern generell die gedrückte Stimmung und den Pessimismus in der Bevölkerung zum Positiven verändern sollte. Die Medienunternehmen steuerten 30 Mio. Euro für diese Kampagne bei. 4
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Dafür ist die Kampagne des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller ein gutes Beispiel. Die Kampagne „Forschung ist die beste Medizin“ läuft schon seit mehreren Jahren und hat das Ziel, das Bild von Pharmaunternehmen in der Bevölkerung zu verbessern (siehe: www.die-forschenden-pharma-unternehmen.de). www.innovationen-fuer-deutschland.de/initiative_partner/mission/index.php (zuletzt besucht am 7.12.2009). Träger der Kampagne waren neben der koordinierenden Bertelsmann AG: ARD, Axel Springer AG, Ganske Verlagsgruppe, Gruner + Jahr, Heinrich Bauer Verlag, Heise Zeitschriften Verlag, Hubert Burda Media, Motor Presse Stuttgart, Premiere Fernsehen, ProSiebenSat.1, RTL Gruppe Deutschland, RTL Interactive, SPIEGEL-Verlag, Ströer Out-of-Home Media, Süddeutscher Verlag, TOMORROW FOCUS, T-Online,
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„Mit der Kampagne wollten wir (…) die Komplexe, das Nörgeln, die Gleichgültigkeit überwinden“, verkündete Oliver Voss, Geschäftsführer Kreation der zuständigen Werbeagentur Jung von Matt. 5 Für diese „Bewusstseinssteuerung“ 6 hatten sich die Macher entschieden, den „Hebel nur an einer Stelle“, der Eigenverantwortung des Einzelnen, anzusetzen. Eigenverantwortung und Verantwortung für das Land sollten verkoppelt werden. Die Stimmung in der Bevölkerung wurde von Seiten der Wirtschaft schon seit längerer Zeit als ein grundlegendes Problem angesehen. Am Beginn der Kampagne „Du bist Deutschland“ stand eine empirisch untermauerte Erkenntnis: 2005 wurde in einer internationalen Studie zu Einstellungen und Gefühlen der Bevölkerung ermittelt, dass 68 Prozent der Deutschen glaubten, ihr Schicksal nicht in der eigenen Hand zu haben, während dies nur bei 48 Prozent der Briten und 32 Prozent der US-Amerikaner der Fall war.7 Auch das Institut für Demoskopie Allensbach hatte in seiner jährlichen Umfrage zur Stimmung in der Bevölkerung zum Jahreswechsel mit 38 Prozent einen sehr geringen Anteil von mit Blick auf das Jahr 2005 positiv und hoffnungsfroh Gestimmten ermittelt. 8 Die Kampagne „Du bist Deutschland“ sollte eine „Formel für einen unbeschwerten Patriotismus, auf den viele Menschen gewartet hatten“ (Bauer/Hofmeister 2006), darstellen. Die Kampagne sollte alle Deutschen ansprechen und zu einer „modernen Form von Nationalgefühl“ beitragen. Im Sinne der Kennedy-Formulierung – „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst“ –, ging es den Machern um einen Appell und eine Handlungsaufforderung an jeden Einzelnen. Angeknüpft wurde dabei auch an die „Ruck-Rede“ des Bundespräsidenten Roman Herzog vom 26.04.1997. Die Werbekampagne umfasste 22 Anzeigenmotive für große Tageszeitungen, die alle nach demselben Muster gestaltet waren: Ein Bild, der Spruch: „Du bist Ludwig Erhard [bzw. Michael Schumacher, Beate Uhse etc.]“ und ein erklärender Text. Hinzu kamen zwei TV-Spots. 9 Um Emotionen zu transportieren und zur Identifikation einzuladen, zeigen die Spots verschiedene Personen – Unbekannte und Stars – als „Testimonials“. Indem ein breites Spektrum bekannter und unbekannter Personen gezeigt wird, wird gesellschaftliche Vielfalt abgebildet und möglichen Einwänden, die Kampagne transportiere lediglich Partikularinteressen, zuvorgekommen. So versammelt der Spot Ältere und Kinder, einen Chirurgen und einen Handwerker, Oliver Kahn und eine Klofrau, Harald Schmidt und eine Fahrradkurierin, den Volksmusikstar Patrick Lindner und Xavier Naidoo. Viel wichtiger war aber, dass der Spot politisch und gesellschaftlich brisante Themen aufgreift. Durch die kritische Thematisierung des Holocaust und der Nazizeit sowie u. a. durch den Auftritt des dunkelhäutigen Fußballnationalspielers Gerald Asamoah wehrt man sich gegen eine naheliegende Indienstnahme durch die extreme Rechte und entwirft das Bild einer toleranten, multikulturellen nationalen Gemeinschaft.
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Verlag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Verlag Georg von Holtzbrinck, Verlagsgesellschaft Madsack, WAZ-Mediengruppe, WerbeWeischer, ZDF, Zeitungsgruppe Ippen, Zeitungsgruppe Stuttgart. „Das kleine Du und das große Deutschland zusammenbringen“, Interview mit Oliver Voss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21.11.2005. Holger Jung von der Agentur Jung von Matt im taz-Interview vom 28.01.2006 („Da ist etwas losgetreten“). The Pew Research Center for the People & the Press – Pew Global Attitudes Project 44-Nation Major Survey (2002). Institut für Demoskopie Allensbach, allensbacher berichte, 2005/Nr. 23, Zum Jahreswechsel: Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich deutlich verbessert. Allensbach Archiv, IfD-Umfragen 2005. www.du-bist-deutschland.de.
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Neben den Print-Anzeigen und den beiden TV-Spots wurden außerdem 25 Interviews mit den an den Spots beteiligten Personen produziert, in denen diese zur Kampagne Stellung nehmen und Ideen entwickeln, „wie es wieder aufwärts geht“ und was jeder Einzelne dazu beitragen kann. Die professionelle Gestaltung und die vermeintliche Politikferne erzeugten Glaubwürdigkeit und Durchschlagskraft und waren somit wesentliche Erfolgsfaktoren der Kampagne. Das Beispiel zeigt, in welchem Ausmaß Unternehmen inzwischen zu politischen Akteuren geworden sind. Um die politische Agenda und die Stimmung in der Bevölkerung zu beeinflussen, sind sie auch bereit, erhebliche finanzielle Ressourcen aufzubringen. Bemerkenswert ist, dass die patriotisch-emphatische Ansprache nicht aus der Politik und von Intellektuellen kommt, sondern von Unternehmen betrieben wird, die Werber und Kampagnenmacher quasi als „neue Intellektuelle der Wirtschaft“ in ihren Dienst stellen. 6
Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM)
Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) wurde im Jahr 2000 vom Gesamtverband der Metall- und Elektroindustrie (Gesamtmetall) gegründet und mit jährlich rund zehn Millionen Euro ausgestattet. 10 Gesamtmetall gab eine Finanzierungszusage bis zum Jahr 2009. Ziel der INSM ist es, in der Bevölkerung die Bereitschaft für wirtschaftsliberale Reformen zu erhöhen, ein unternehmensfreundlicheres Klima zu erzeugen und Eigenverantwortung, Wettbewerb und unternehmerische Freiheit als positive Werte zu betonen. Die Förderung marktwirtschaftlichen Denkens wird auch von anderen Organisationen wie dem Bankenverband und der Bertelsmann Stiftung betrieben, doch kaum eine Initiative betreibt einen so hohen Marketingaufwand und engagiert sich so intensiv im Bereich von Medienpartnerschaften wie die INSM. Die INSM versteht sich als „branchen- und parteienübergreifende Plattform“ (http:// www.insm.de/insm/ueber-die-insm/FAQs.html), bei der grundsätzlich jeder mitarbeiten kann. Die Verbindung zum finanzierenden Verband wird zwar benannt, aber nicht weiter thematisiert. Konkrete Ziele der Initiative sind ein Staat, der sich auf Kernkompetenzen beschränkt, ein Sozial- und Arbeitsrecht, das Beschäftigung ermöglicht, eine Sozialpolitik, die stärker auf private Vorsorge setzt, eine Tarifpolitik, die mehr Flexibilität zulässt, und eine Bildungspolitik, die Wettbewerb und Effizienz fördert. Mit diesen inhaltlichen Komponenten wird der Begriff der neuen sozialen Marktwirtschaft ausgefüllt. Allerdings gelingt es Wirtschaftsverbänden immer seltener, diesen Leitbegriff der Politik kommunikativ zu nutzen, um breite Bevölkerungsschichten zu erreichen und Deutungshoheit im politischen Diskurs zu erzielen. Die INSM stellt in der deutschen Verbandskommunikation insofern ein Novum dar, als Gesamtmetall nicht eigene Strukturen nutzte, sondern eine Organisation außerhalb der verbandlichen Strukturen gründete. Der Verband wandte sich mit seinem Vorhaben an eine professionelle politische Kommunikationsagentur, die Agentur Scholz & Friends in Berlin, die einen wesentlichen Teil der Arbeit übernimmt. Sie hob die INSM mit aus der Taufe, prägte den Namen „Neue Soziale Marktwirtschaft“ und sie ist es auch, die am Regierungssitz in Berlin die Aktionen und Veranstaltungen koordiniert. Ein Tochterunternehmen von 10
Laut INSM beträgt der Jahresetat nach Abzug von Steuern 8,32 Mio. Euro (http://www.insm.de/insm/ueberdie-insm/FAQs.html=).
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Scholz & Friends, die Aperto AG, betreibt die Website der INSM mit tagesaktuellen Meldungen zu den zentralen Themen. Gesamtmetall hat also einen Teil der politischen Kommunikation unter Heranziehung professioneller Dienstleister ausgelagert, führt die INSM gewissermaßen „an der langen Leine“ (vgl. Speth 2004a) und teilt kommunikative Aufgaben entsprechend auf: Während der Verband für die Tarifpolitik und das direkte Lobbying zuständig bleibt, ist es die Aufgabe der INSM, allgemeinere politische Themen anzupacken und sich aus dem Tagesgeschäft herauszuhalten. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die politische Kommunikation der INSM ist das Verhältnis zu den Medien als ihren wichtigsten Verbündeten. Die INSM fungiert als PRAgentur, die die Interessen ihrer Auftraggeber in die Medien und damit in die Öffentlichkeit zu transportieren versucht. Ihre Aktionen sind dabei aber nur ein Teil des Lobbyingprozesses, der mehrgleisig verläuft, teils als direkte Beeinflussung politischer Entscheidungen und teils als Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Agenda-Setting. Im Rahmen einer Reihe von Medienpartnerschaften liefert die INSM mediengerecht aufbereitete Inhalte für eine teilweise exklusive Berichterstattung, wofür die genaue Kenntnis der Medienlogik durch die professionelle Kommunikationsagentur Voraussetzung ist. Ein wichtiger Faktor sind dabei wiederum „Testimonials“ – Prominente, die die INSM als Botschafter und Kuratoren gewonnen hat. Gegenwärtig sind es 25 Personen (Wissenschaftler, Unternehmer, Berater, Verbandspräsidenten), die ihren Namen den Anliegen der INSM leihen. Den Vorsitz des Kuratoriums führt seit 2000 der frühere Bundesbankpräsident Prof. Dr. Hans Tietmeyer. Christian Nuernbergk (2005) zeigte in einer empirischen Studie zur PR-Arbeit der INSM im Zeitraum von September 2003 bis April 2004, dass es der Initiative mit dieser Strategie sehr gut gelingt, ihre Pressemeldungen, Studien, Rankings und Umfragen in den Medien zu platzieren. Nuernbergk konnte durch eine Analyse der Pressemeldungen und der Medienberichte in diesem Zeitraum nachweisen, dass es der INSM gelungen ist, „die Aktions- und Interaktionsbedingungen mit mehreren Medienorganisationen strategisch und effizient zu nutzen und eine Berichterstattung zu ihrem überwiegenden Vorteil zu generieren“ (Nuernbergk 2005: 123). Von den 137 Medienberichten über die INSM in diesem Zeitraum schafften es immerhin 21 auf die Titelseiten. Ein wichtiges Kommunikationsinstrument der INSM sind Studien zu wichtigen Themen, mit denen Wissenschaftler und Forschungsinstitute beauftragt werden: So verfassen das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) und das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) Studien für die INSM. Umfragen zu aktuellen Themen – zu Abgabenbelastung und Beschäftigung, Bevölkerung und Unternehmen, Ausbildungs- und Arbeitsplatzchancen für gering qualifizierte Jugendliche usw. – werden durch die Meinungsforschungsinstitute TNS, emnid und Allensbach durchgeführt. Hinzu kommen Studien von bekannten Wirtschaftswissenschaftlern, Arbeitsmarktexperten und Rechtswissenschaftlern. Eine wichtige Rolle spielen auch Panels (Professorenpanel) und regelmäßig aktualisierte Rankings zu verschiedenen Themen (z. B. Bundesländern, Städten, Regionen, der Situation von Gründern, Fahrtkosten, Kita- und Parkgebühren). Monitorings werden zu den Themen Bildung, Abwasser und Entsorgung durchgeführt. Der „Unicheck“ der INSM liefert Studenten Bewertungen, Rankings und Informationen über Universitäten und die Studiensituation. Diese Art der politischen Kommunikation ist medienkompatibel gestaltet, so
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dass eine Breitenwirkung erzielt werden kann, und liefert potenziellen Adressaten einen konkreten Gebrauchswert. Die Besonderheit der ausgelagerten politischen Verbandskommunikation der INSM besteht darin, dass ein breites Spektrum von Kommunikationsformen genutzt und aufeinander abgestimmt wird, um die eigene Interpretation der sozialen Marktwirtschaft einem breiten Publikum nahezubringen. Die integrierte Kommunikationsstrategie wird vervollständigt durch Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften, Veranstaltungen, Kampagnen, Events, Bücher, Broschüren sowie die Möglichkeiten der neuen Medien – Podcasting, Blogs, Twitter und die Angebote der Social Media (YouTube, Flickr, StudiVZ). Die verschiedenen Kommunikationskanäle der neuen Medien laufen im „INSM Newsroom“ (http://www.insm-newsroom.de) zusammen. 7
Fazit
Wirtschaftsverbände und ihre Mitglieder stehen aktuell vor der Herausforderung, ein umfassendes Verständnis von politischer Kommunikation und ihrer praktischen Anwendung zu entwickeln und in diese mehr Ressourcen und Aufmerksamkeit zu investieren. Aufgrund ihrer organisatorischen Struktur sind sie jedoch nur bedingt in der Lage, diese strategische Form der Kommunikation zu entwickeln. Die kommunikativen Anforderungen an Verbände und Unternehmen unter den Bedingungen der Erosion korporatistischer Strukturen und der Medialisierung der Gesellschaft werden mit dem Begriff politische Kommunikation genauer beschrieben. Die Forschung zur politischen Kommunikation konzentrierte sich bislang eher auf Parteien und Bewegungen und ist im Hinblick auf die Kommunikation von Verbänden und Unternehmen noch recht unterentwickelt. Der vorliegende Beitrag versammelte einige Beispiele, an denen sich Entwicklungen in der politischen Kommunikation von Verbänden und Unternehmen ablesen lassen. Die Gründung von Unternehmensrepräsentanzen zeigt, dass Unternehmen sich neben ihrer Verbandsmitgliedschaft im Bereich des Lobbying selbständig machen und so die Voraussetzung für flexibles Handeln schaffen. Neben der eigenständigen Vertretung unternehmensspezifischer Interessen geht es auch um die flexible Bildung von temporären Allianzen und Interessenbündnissen. Unternehmen nutzen ihre Repräsentanzen aber teilweise auch, um integrierte politische Kommunikation zu betreiben. Neben Lobbying werden die Repräsentanzen auch für Corporate-Social-Responsibility-Aktivitäten, Events, Ausstellungen und teilweise auch für die Unterstützung von Unternehmensstiftungen genutzt. Unternehmen haben mit den kommunikativen Aktivitäten ihrer Repräsentanzen also neben dem politisch-administrativen System auch die Öffentlichkeit im Blick. Verbände nehmen – wenn auch etwas verschwiegen – die professionellen Dienstleistungen von Public-Affairs-Agenturen in Anspruch. Mit dieser Unterstützung im Hinblick auf Lobbying, Campaigning und die interne Kommunikation versuchen die Verbände, ihre politische Kommunikation insgesamt zu verbessern und so auf die Erfordernisse der Mediengesellschaft zu reagieren.
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Literatur Grundlegende Literatur Jarren, Otfried/Donges, Patrick (2006): Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Priddat, Birger P./Speth, Rudolf (2007): Das neue Lobbying von Unternehmen: Public Affairs. Arbeitspapier 145. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Schulz, Winfried (2008): Politische Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (2. Aufl.). Sebaldt, Martin/Straßner, Alexander (2004): Verbände in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Steiner, Adrian/Jarren, Otfried (2009): Intermediäre Organisationen unter Medieneinfluss? Zum Wandel der politischen Kommunikation von Parteien, Verbänden und Bewegungen. In: Marcinkowski, Frank/Pfetsch, Barbara (Hrsg.): Politik in der Mediendemokratie. Sonderheft 42 der Politischen Vierteljahresschrift. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 251í269.
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II.5 Grenzen der politischen Kommunikation von Unternehmensverbänden
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Teil III Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Hagen Lesch
1
Einführung und Problemstellung
Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Im Rahmen der branchenweiten und zumeist überregionalen Flächentarifverträge praktizieren sie eine Art „Konfliktpartnerschaft“ (Müller-Jentsch 1991), sie verantworten gemeinsam die Struktur des dualen Berufsbildungssystems und nehmen gemeinsam Verwaltungsaufgaben in der Sozialversicherung wahr (Schnabel 2005: 182; Funk 2006: 25). Ihre Interaktionen werden auch als ein System „kommunizierender Röhren“ bezeichnet (Schroeder/Silvia 2003: 244). In der Industrial-Relations-Forschung wird aber zunehmend betont, dass sich das Rollenspiel zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden verändert habe (Schroeder 1995, 1996; Haipeter/Schilling 2006a). Historisch bildeten sich die Arbeitgeberverbände als Reaktion auf die Organisierung der Arbeitnehmer in Gewerkschaften (Traxler 1999: 70; Schroeder/Silvia 2003: 256, 2007: 1438). Ging es zunächst um den Aufbau einer geschlossenen Abwehrfront gegen die Gewerkschaften, rückte bald die tarifgestaltende Arbeit und das politische Lobbying in den Vordergrund. Das traditionelle Rollenspiel sah so aus, dass die Gewerkschaften forderten und die Arbeitgeberverbände reagierten (Schroeder 1996: 601). Dieses Rollenspiel setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Unter den Bedingungen des exportorientierten Wachstums konnten sich die Arbeitgeberverbände dabei zu „dynamischen lohnpolitischen Akteuren“ (Schroeder/Silvia 2003: 253) entwickeln. Mit der in den achtziger Jahren einsetzenden Globalisierung veränderten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Der Wettbewerb wurde schärfer und viele Betriebe übten Kritik am Flächentarifvertrag und an der Tarifpolitik ihrer Verbände. In den neunziger Jahren traten immer mehr Firmen aus den Tarifverbänden aus. Obwohl auch die Gewerkschaften mit den veränderten Rahmenbedingungen und Mitgliederverlusten zu kämpfen hatten, begann sich das traditionelle Rollenspiel zu wandeln. Das hing maßgeblich damit zusammen, dass Arbeitgeberverbände vor allem ökonomischfachlich fragmentiert sind, Gewerkschaften hingegen stärker politisch-ideologisch (Traxler 1999: 65). Für die Verbände wurde es immer schwieriger, mit Hilfe von branchenweiten Tarifverträgen die Loyalität ihrer Mitglieder zu wahren, weil diese auf unterschiedliche Weise von der Globalisierung betroffen waren. Diese Asymmetrie hat sich nicht geändert: Exportorientierten Firmen, die dem internationalen Wettbewerbsdruck voll ausgesetzt sind, stehen Unternehmen gegenüber, die relativ geschützt auf lokalen Absatzmärkten agieren, gut behauptete Nischenproduzenten sind neben Not leidenden Massenherstellern organisiert und große Firmen, die ausländische Produktionsstätten errichten, neben kleinen Betrieben, die nur in Deutschland produzieren können. Mit der Vergrößerung der Interessenvielfalt innerhalb der Branchen reduzierte sich der überbetriebliche Handlungsspielraum der Ar-
III.1 Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften 237 beitgeberverbände (Schroeder 1996: 609). Um der Interessenheterogenität Rechnung tragen zu können, sind die Arbeitgeberverbände gezwungen, in der Tarifpolitik zunehmend eine aktive Rolle zu übernehmen. Die Arbeitgeber sind aus der Abwehr gewerkschaftlicher Forderungen in die Initiative gekommen und ihre Forderungen werden verhandelt (vgl. Weitbrecht in diesem Band). Das gilt thematisch nicht nur für die Öffnung von Tarifverträgen für betriebliche Lösungen, sondern zunehmend auch für Arbeitszeitaspekte wie längere Wochenarbeitszeiten (in der Bauwirtschaft, im Handwerk oder im öffentlichen Dienst) oder die Neuregelung von Zuschlägen (im Einzelhandel). Gleichzeitig werden die politisch-ideologischen Interessenunterschiede zwischen den Gewerkschaften durch die ökonomischen Sachzwänge relativiert. Alle Gewerkschaften sind unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung gezwungen, auf den verschärften internationalen Wettbewerbsdruck durch Zugeständnisse an die Arbeitgeber zu reagieren. Dabei gerieten sie immer stärker in eine Defensivposition, die vor allem davon geprägt ist, den Status quo möglichst lange zu verteidigen. Eine Ausnahme bilden einige Berufsgewerkschaften, die in den letzten Jahren eine eigenständige Tarifpolitik für bestimmte Berufsgruppen mit hoher Durchsetzungsstärke realisiert haben (Bispinck/Dribbusch 2008; Lesch 2008a; Schroeder/Kalass/Greef 2008; Schroeder/Greef 2009; Keller 2009). Haipeter/Schilling (2006a: 24) bezeichnen den Wandel auf der Arbeitgeberseite als einen Übergang von „einer Politik der Einflusslogik zu einer Politik der Mitgliedschaftslogik“. In der Einflusslogik steht die aktive Gestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung im Vordergrund. Demgegenüber richtet sich das Verbandshandeln in der Mitgliedschaftslogik in erster Linie nach innen und konzentriert sich auf die Sicherung der Loyalität der Mitglieder (Haipeter/Schilling 2006a: 23). Um die Mitgliederloyalität zu sichern, müssen die Mitgliederinteressen zu gemeinsamen Zielen verdichtet, anschießend zwecks Kompromissbildung in Tarifverhandlungen zur Disposition gestellt und schließlich die Mitglieder auf den gefundenen Kompromiss verpflichtet werden (Traxler 1999: 69). Nicht nur die Verbandsaustritte, sondern auch das Phänomen des Tarifbruchs zeigt, dass insbesondere der letzte Punkt, die Verpflichtung auf den Kompromiss, immer schwieriger zu erreichen ist. Um ihn umzusetzen, verlangen die Arbeitgeber mehr betriebsindividuelle Spielräume und die Möglichkeit, den Kompromiss in den einzelnen Betrieben nochmals zur Abstimmung vorzulegen. Die Kompromissfindung wird durch diese zweite (betriebliche) Abstimmungsebene sozusagen „verdoppelt“, um ein Maximum an Loyalität zu generieren. Sichtbar wird der Übergang zur Mitgliedschaftslogik aber nicht nur an der tarifpolitischen Strategie, sondern auch an einem neuen organisationspolitischen Weg: der Bildung von Verbänden ohne Tarifbindung, etwa in der Metall- und Elektroindustrie (Haipeter/ Schilling 2006a: 24). Da sich diese OT-Verbände zum Vertretungsdomizil für kleine und mittlere Unternehmen entwickeln, löst sich die Bündelung heterogener Interessen auch organisationspolitisch ein Stück weit auf. Ein anderer, bislang von den Arbeitgebern noch kaum beschrittener Weg besteht darin, kleinere und homogenere Verhandlungseinheiten zu bilden, wie es im Rahmen der sogenannten Clubtheorie diskutiert wird (Vogel 2004). Erkennbar sind Tendenzen in dieser Richtung bei der Kündigung von historisch gewachsenen Tarifgemeinschaften, beispielsweise im öffentlichen Dienst, wo die Länder seit 2005 unabhängig vom Bund und von den Kommunen Tarifverträge aushandeln, im Bankgewerbe, wo der Arbeitgeberverband der Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken 2008 einen eigenen Tarifvertrag mit der Berufsgewerkschaft Deutscher Bankangestellten-Verband (DBV) und dem christlichen DHV – Die Berufsgewerkschaft geschlossen hat, und im Kfz-Handwerk,
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
wo die Landesinnungsverbände im Jahr 2007 damit begannen, sich als Arbeitgeberverbände aufzulösen. Die neue initiative Rolle der Arbeitgeberverbände wurde auch durch die Kritik einiger Wirtschaftsverbände angestoßen. Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände nehmen unterschiedliche Funktionen wahr. Bei den Arbeitgeberverbänden handelt es sich um freiwillige Zusammenschlüsse von Arbeitgebern zum Zwecke der Wahrnehmung gemeinsamer Interessen in arbeitsrechtlicher und sozialpolitischer Hinsicht. Wirtschaftsverbände sind Vereinigungen von Unternehmen des gleichen fachlichen Wirtschaftszweiges, die die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder fördern und besonders gegenüber der Öffentlichkeit, den staatlichen Regierungs-, Verwaltungs- und Gesetzgebungsorganen und anderen Wirtschaftszweigen vertreten. Dabei übernehmen sie formal keine tarifpolitischen Aufgaben; diese sind alleine Sache der Arbeitgeberverbände. 1 De facto nehmen die Wirtschaftsverbände aufgrund ihrer historischen, funktionalen und organisatorischen Verflechtung mit den Tarifverbänden aber eine erhebliche Mitsprache- und Mitgestaltungsfunktion wahr (Zimmer 2002: 49). In einigen Branchen wie der Bauwirtschaft oder dem Einzelhandel übernehmen die Branchenverbände beide Funktionen, das heißt, sie sind Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände zugleich (zum Beispiel der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie oder der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels). Abgesehen von diesen Fällen mit verbandlicher „Doppelfunktion“ läuft die Interaktion zwischen den in Verbänden organisierten Unternehmen und den Gewerkschaften aber über die Arbeitgeberverbände. Diese stehen daher im Mittelpunkt dieses Beitrages, der das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden analysiert. Welche Sicht haben die Arbeitgeberverbände auf die Gewerkschaften? Wie hat sich das Verhältnis zwischen den Tarifparteien entwickelt? Welche zukünftigen Entwicklungen halten die Arbeitgeberverbände für notwendig? In der Literatur wird das Verhältnis zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden vor allem unter dem Blickwinkel diskutiert, wie die Gewerkschaften darauf reagieren und wie sie reagieren sollten (zum Beispiel Schroeder 1996; Schroeder/Silvia 2003, 2007; Haipeter/Schilling 2006b) oder wie sich die industriellen Beziehungen wandeln (Hassel 1999; Traxler 1999). Es gibt in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur auch zahlreiche Untersuchungen darüber, wie sich die Funktionsweise des Tarifsystems angesichts der Globalisierung optimieren ließe (Berthold/Fehn 1996; Franz 1996; Berthold/ Stettes 2000; Schnabel 2003). Dagegen fehlt eine Diskussion darüber, welche Rolle die Gewerkschaften aus der Sicht der Arbeitgeberverbände künftig spielen sollten und welche gewerkschaftlichen Reaktionen die Arbeitgeberverbände auf ihre verschiedenen tarifpolitischen Initiativen erwarten. Der vorliegende Beitrag versucht, diese Lücke ein Stück weit zu schließen. Was die Arbeitgeber von den Gewerkschaften erwarten, ist nicht in Strategiepapieren oder Wunschlisten niedergelegt. Es ergibt sich vielmehr aus den Positionen, die die Arbeitgeberbände in Einzelfragen einnehmen und in der Öffentlichkeit vertreten. Deshalb setzt eine Bearbeitung der Fragestellungen eine Analyse der unterschiedlichen tarif- und sozialpolitischen Positionen voraus. Diese wird in Abschnitt 2 vorgenommen. Als zentrale Politikfelder werden die Kontroversen über die Reform des Flächentarifvertrags, über den lohnpolitischen Verteilungsspielraum, über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns 1
Nach Traxler (1999: 61) organisieren Arbeitgeberverbände Arbeitsmarktinteressen, Wirtschaftsverbände Produktmarktinteressen.
III.1 Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften 239 und über die Sicherung des Grundsatzes der Tarifeinheit skizziert. Letzteres ist durch das Auftreten rivalisierender Berufsgewerkschaften relevant geworden. Da Tarifverhandlungen letztlich immer zu Verteilungskonflikten führen, die auch in Arbeitskämpfe münden können, wird in Abschnitt 3 auf die Konfliktlösungsmechanismen und auf die Möglichkeiten ihrer Weiterentwicklung eingegangen. Auf der Basis dieser Bestandsaufnahme wesentlicher Gewerkschafts- und Arbeitgeberpositionen wird in Abschnitt 4 schließlich diskutiert, wie sich die Arbeitgeberverbände die Zukunft des Tarifsystems und die Rolle der Gewerkschaften als „Sozialpartner“ vorstellen. Ein kurzes Resümee beschließt den Beitrag. 2
Kapital und Arbeit: Gegensätzliche Positionen
2.1 Flächentarifvertrag und Dezentralisierung des Tarifsystems Trotz rückläufiger Tarifbindung werden die Arbeitsbedingungen in Deutschland immer noch häufig durch branchenweite Tarifverträge, die sogenannten Flächentarifverträge, geregelt. Dabei besteht ein Ost-West-Gefälle. So waren im Jahr 2005 laut IAB-Betriebspanel im Westen 38 Prozent aller Betriebe an einen Flächentarifvertrag gebunden, im Osten 19 Prozent (Kohaut/Schnabel 2007). Weitere 3 Prozent der Betriebe im Westen und 4 Prozent im Osten hatten Haustarifverträge. Da größere Betriebe häufiger tarifgebunden sind als kleinere, fallen in Westdeutschland 59 Prozent und in Ostdeutschland 42 Prozent aller Arbeitnehmer in den Geltungsbereich der Flächentarifverträge. Seit Mitte der neunziger Jahre ist der Anteil der von Flächentarifverträgen erfassten Arbeitnehmer im Westen um 13 und im Osten um 15 Prozentpunkte gesunken. Zudem haben Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in ihren Tarifverträgen immer mehr Öffnungsklauseln eingebaut, mit denen sie einzelnen Betrieben das Recht einräumen, in einem bestimmten Rahmen und zeitlich befristet von tariflichen Normen abzuweichen. Diese Entwicklung begann Mitte der achtziger Jahre mit der Einführung von Arbeitszeitöffnungsklauseln. Seit Mitte der neunziger Jahre sind auch immer mehr Entgeltöffnungsklauseln vereinbart worden (Schnabel 2006: 12). Inzwischen machen gut 50 Prozent der über das Vorhandensein von Öffnungsklauseln informierten und tarifgebundenen Betriebe davon Gebrauch (Kohaut/Schnabel 2007). Betriebsrätebefragungen zeigen zudem, dass etwa 12 Prozent aller Betriebe mit Betriebsrat und mehr als 20 Mitarbeitern bestehende Tarifnormen auf illegale Weise unterschreiten (Bispinck 2005). Die legale wie illegale Tarifflucht wird sowohl von Arbeitgebern wie Gewerkschaften mit Sorge betrachtet. Die Verlagerung tarifpolitischer Kompetenzen auf die Betriebsebene auf der Basis tariflicher Öffnungsklauseln wird von den Arbeitgeberverbänden aber geradezu eingefordert, während die Gewerkschaften diesen Weg lange Zeit eher unfreiwillig (reaktiv) mitgingen. Seit dem im Jahr 2004 zwischen der IG Metall und den Metallarbeitgebern geschlossenen „Pforzheimer Abkommen“ hat sich dies aber etwas geändert. Vor allem in Nordrhein-Westfalen nutzte die IG Metall die mit der Öffnung der Tarifverträge einhergehende Dezentralisierung intensiv zur Mitgliederwerbung, beispielsweise in Form von Bonuszahlungen an Gewerkschaftsmitglieder als Gegenleistung für firmenbezogene Ergänzungstarifverträge. Vor allem im Dienstleistungssektor werden Öffnungsklauseln von den Gewerkschaften aber nach wie vor restriktiv gehandhabt und mit Vorbehalten betrachtet. An der insgesamt immer noch unterschiedlichen Bewertung der Tariföffnung wird die in
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Kapitel 1 angesprochene Veränderung der Rollenverteilung besonders deutlich. Während einige Arbeitnehmerorganisationen vor allem ihre Gestaltungsmacht eingeschränkt sehen, halten Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände eine betriebsnähere Tarifpolitik für notwendig, um der wachsenden Heterogenität innerhalb der einzelnen Branchen Rechnung zu tragen (BDI 2003: 12; BDA 2005b: 1 f.). Die Dezentralisierung ist daher eine Strategie, um die Loyalität der Mitglieder und damit die Organisationsfähigkeit der Tarifverbände zu sichern. 2 Vor allem beim Entgelt sind aber viele Öffnungsklauseln an die Zustimmung der Tarifparteien gekoppelt: Abweichende Betriebsvereinbarungen, die zu Lasten der Beschäftigten gehen, sind erst wirksam, wenn sie von den Tarifparteien gebilligt werden. Dabei können sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitgeberverbände von ihrem Vetorecht Gebrauch machen und eine Betriebsvereinbarung blockieren. Um das Verzögern oder Blockieren von Betriebsvereinbarungen durch eine Gewerkschaft auszuschließen, will die Wirtschaft die Nutzung tariflicher Öffnungsklauseln von der Zustimmung durch die Tarifparteien unabhängig machen. Eine weitere Forderung der Arbeitgeber besteht darin, (vom Tarifvertrag) abweichende Betriebsvereinbarungen nicht nur in wirtschaftlichen Notlagen zu erlauben, sondern auch zur Investitions-, Innovations- und Beschäftigungsförderung. Eine präventivere Ausrichtung der tariflichen Öffnungsklauseln soll betriebliche Bündnisse für Arbeit erleichtern, bei denen zeitlich befristete Standort-, Investitions- und/oder Beschäftigungszusagen gegen Lohnverzicht oder eine Verlängerung der Arbeitszeit (mit oder ohne Lohnausgleich) getauscht werden. Die Gewerkschaften verschließen sich einer präventiveren Gestaltung der Öffnungsklauseln nicht grundsätzlich, forcieren diese aber auch nicht. So stimmte die IG Metall auf Drängen der Arbeitgeber im Jahr 2004 einem Tarifabkommen zur Standortsicherung zu, dessen Ziel es ist, am Standort Deutschland bestehende Arbeitsplätze zu sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dieses „Pforzheimer Abkommen“ schränkt betriebliche Abweichungen vom Tarifvertrag ganz bewusst nicht auf wirtschaftliche Notsituationen ein, sondern verfolgt eine Strategie der frühzeitigen Krisenprävention (Gesamtmetall 2005: 21; Haipeter/Schilling 2006b: 65 ff.). Nach Einschätzung der Arbeitgeber gibt es inzwischen mehr als 700 Ergänzungstarifverträge auf der Basis dieser präventiven Öffnungsklausel. Die IG Bergbau, Chemie, Energie hatte schon 1997 einer Öffnungsklausel zugestimmt, die Entgeltabweichungen vom Flächentarifvertrag erlaubt, wenn dies aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit oder zum Erhalt des Standortes und/oder Arbeitsplätzen erforderlich ist. Dagegen steht die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) solchen Öffnungen nach wie vor ablehnend gegenüber. Weniger Entgegenkommen zeigen die Gewerkschaften beim Zustimmungsvorbehalt. Aus Sicht der Arbeitnehmerorganisationen ist er notwendig, um die Dezentralisierung der Tarifpolitik zu kontrollieren und den gewerkschaftlichen Einfluss zu wahren. Entsprechend pochen sie vor allem bei den Entgeltöffnungsklauseln darauf, Betriebsvereinbarungen überprüfen und notfalls auch ablehnen zu können. Die BDA tritt flankierend zur tariflichen Öffnung des Flächentarifvertrags dafür ein, das im Tarifvertragsgesetz verankerte Günstigkeitsprinzip zu konkretisieren (BDA 2003; BDA 2005a). Grundsätzlich sei es zwar Aufgabe der Tarifparteien, die betrieblichen Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Flächentarifverträge zu erweitern. Die BDA erkennt 2
Eine weitere Strategie ist die Gründung von OT-Verbänden. Damit sollen auch Betriebe an die Verbände gebunden werden, die keine formelle Tarifbindung eingehen, aber das umfassende Serviceangebot des Verbands (vor allem die Rechtsberatung) nutzen wollen.
III.1 Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften 241 auch an, dass die Regelungsspielräume für die Betriebspartner in vielen Branchen durch vielfältige tarifliche Öffnungsklauseln erheblich ausgedehnt wurden, bemängelt aber gleichzeitig, dass die Gewerkschaften in einigen Branchen entsprechende Öffnungen blockieren oder verweigern. 3 Sie tritt deshalb dafür ein, betriebliche Bündnisse für Arbeit unabhängig vom Vorliegen einer tariflichen Öffnungsklausel zu ermöglichen. Dazu sei „das gesetzliche Tarifrecht fortzuentwickeln und das Günstigkeitsprinzip klarzustellen: Eine vom Flächentarifvertrag abweichende Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber muss auch ohne Zustimmung der Tarifpartner möglich sein und als günstiger gelten, wenn der Betriebsrat einer solchen Vereinbarung zustimmt und dadurch Beschäftigung gesichert oder neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Ziel ist, betriebliche Bündnisse für Arbeit im Rahmen der Flächentarifverträge zu fördern und auch in denjenigen Branchen zu ermöglichen, in denen sie bisher noch fehlen oder blockiert werden“ (BDA 2005a: 3).
Die Forderung nach einer gesetzlichen Präzisierung des Günstigkeitsprinzips soll den Flächentarifvertrag stärken, die Tarifflucht eindämmen und damit auch die Tarifverbände stärken. Eine vollständige Verlagerung der Tarifpolitik auf die Betriebsebene lehnt der Dachverband ebenso ab wie eine Stärkung der Betriebsräte durch die Übertragung tarifpolitischer Kompetenzen auf dieses Kollektivorgan. Auch die Mitgliedsverbände befürchten, dass einem mit einem tarifpolitischen Mandat ausgestatteten Betriebsrat ein Streikrecht nicht verwehrt werden könnte. Die Lösung einer Dezentralisierung der Tarifpolitik im Rahmen des Flächentarifvertrags stellt aus Arbeitgebersicht sicher, dass die branchenweite Friedenspflicht, die vor allem für die Industrie ein hohes Maß an Planungssicherheit bedeutet, erhalten bleibt. Gleichzeitig soll eine brancheneinheitliche Rechtsgrundlage für betriebliche Bündnisse für Arbeit geschaffen werden, die deren Abschluss erleichtern soll. Die Gewerkschaften lehnen eine gesetzliche Anpassung des Günstigkeitsprinzips als Eingriff in die Tarifautonomie ab. Schon ihre Zustimmung zu den tariflichen Öffnungsklauseln ist weniger als eine offensive Strategie zu verstehen, sondern eher als eine präventive Maßnahme, um einen gesetzlichen Eingriff in die Tarifautonomie zu verhindern. Da durchaus Unterschiede zwischen den Arbeitnehmerorganisationen bestehen, bewerten die Branchenarbeitgeberverbände den erreichten Flexibilisierungsgrad unterschiedlich. Gesamtmetall bemängelt, dass die im Flächentarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie festgelegten Konditionen im internationalen Maßstab nicht ausreichend dazu geeignet seien, die Sicherung von Beschäftigung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu fördern (Gesamtmetall 2005: 4). Um den Trend einer strukturell rückläufigen Beschäftigung in der Metallbranche umzukehren, haben die Metallarbeitgeber in der Tarifrunde 2006 ein tarifliches Instrument zur Beschäftigungsförderung vorgeschlagen (Gesamtmetall 2006a). Dieses Instrument soll den Unternehmen tarifliche Anreize bieten, „zusätzliche Beschäftigte auf die eigene Payroll zu nehmen, statt Produktionswachstum durch vermehrten Teilezukauf oder Einsatz von Zeit- und Leiharbeit zu realisieren“. Dazu wurde ein Modell mit der Faustformel „zehn Minuten längere Wochenarbeitszeit für jedes Prozent 3
Dabei wird vor allem die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di kritisiert (BDA 2005b: 2). Erst im Laufe der letzten Tarifrunden stimmte sie in einigen Dienstleistungssektoren auch bei den Entgelten einer Tariföffnung zu. So gibt es im privaten Bankgewerbe und im Einzelhandel inzwischen die Möglichkeit einer Tarifabsenkung in wirtschaftlichen Notlagen. Im öffentlichen Dienst, bei den Versicherungen sowie im Großund Außenhandel (abgesehen von einer Kleinbetriebsklausel für die neuen Bundesländer) fehlen Entgeltöffnungsklauseln aber nach wie vor.
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Personalaufbau“ entwickelt. Wenn ein Unternehmen seine Beschäftigtenzahl dauerhaft um 6 Prozent aufstockt, sollten die Beschäftigten ohne zusätzliche Bezahlung eine Stunde pro Woche länger arbeiten. Durch diesen Mechanismus lasse sich zeigen, dass längere Arbeitszeiten nicht zum Abbau, sondern zum Aufbau von Stellen führten. Die IG Metall lehnte das Konzept in einer ersten Stellungnahme zwar ab, willigte in den Tarifverhandlungen aber ein, dieses Thema zu verhandeln (Gesamtmetall 2006b). 4 Bereits durchsetzen konnten die Arbeitgeber eine präventive Öffnungsklausel (Pforzheimer Abkommen), die über den Weg der firmenbezogenen Ergänzungstarifverträge Abweichungen vom Flächentarifvertrag zur Investitions-, Standort- und Beschäftigungssicherung zulässt (Gesamtmetall 2005: 21). Außerdem gelang in den letzten Tarifrunden der Einstieg in eine betriebsnähere Lohnpolitik. Zeitlich begrenzte Öffnungsklauseln machten es zuletzt möglich, entweder Einmalzahlungen auf Betriebsebene nach der jeweiligen Ertragssituation zu differenzieren oder prozentuale Tariferhöhungen um einige Monate zu verschieben. Von der IG Metall wird erwartet, diesen Weg der Flexibilisierung fortzusetzen. Um den politischen Druck auf die Gewerkschaften zu erhöhen, unterstützten auch die Metallarbeitgeber die BDA-Forderung nach einer gesetzlichen Anpassung des Günstigkeitsprinzips. Im Zuge der erreichten tariflichen Flexibilisierungserfolge und aufgrund der Gefährdung der Tarifeinheit durch den neuen Gewerkschaftswettbewerb ist diese Diskussion aber mehr und mehr in den Hintergrund gerückt. 5 Positiver fällt die Bewertung des Bundesarbeitgeberverbands Chemie (BAVC) aus. Er lobte in einer gemeinsamen Erklärung mit der Chemiegewerkschaft die frühzeitige Neuorientierung der Tarifpolitik in der Chemiebranche, mit der die Beschäftigung am Chemiestandort Deutschland gesichert, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen verbessert, die Zukunftsfähigkeit des Flächentarifvertrages erhalten und die Tarifautonomie gegen Staatseinfluss verteidigt werden soll (BAVC/IG BCE 2004). Eine ganze Reihe von Entgeltöffnungsklauseln erlaube ganz bewusst auch eine vorausschauende und angesichts der Differenzierungsmöglichkeiten nach den konkreten betrieblichen Erfordernissen verantwortbare Anwendung (Frey 2005: 92 ff.). Soweit einzelne Instrumente eine Zustimmung der Tarifparteien verlangten, erfolge diese schnell und zuverlässig. Angesichts der vorhandenen Differenzierungsmöglichkeiten wird der politische Reformbedarf beim Günstigkeitsprinzip allenfalls zurückhaltend angemahnt (Frey 2005: 128 ff.). 6 Mehr Unterstützung für die Forderung nach Reformen des tarifrechtlichen Rahmens kommt von den Wirtschaftsverbänden. In der Öffentlichkeit ist vor allem der Verband Deutscher Maschinen und Anlagenbau (VDMA) in Erscheinung getreten (VDMA 2004). Er beklagt, dass die weit verbreiteten betrieblichen Bündnisse vielfach gegen geltendes Recht verstoßen würden und deshalb eine Präzisierung des Günstigkeitsprinzips durch den Gesetzgeber notwendig sei. Dabei wird der VDMA konkreter als die Arbeitgeberverbände. Der Günstigkeitsvergleich müsse auch die Beschäftigungssicherung und -entwicklung be4 5
6
Siehe Handelsblatt Nr. 55 vom 17.03.2006, S. 4: IG Metall lehnt Bonus-Vertrag als „Unsinn“ ab. Tarifeinheit besagt vereinfachend ausgedrückt, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten soll. Schließen also zwei Gewerkschaften mit einem Unternehmen Tarifverträge ab, kann nur einer der beiden gelten, und zwar der „speziellere“. Was „spezieller“ ist, muss im Einzelfall durch die Arbeitsgerichtbarkeit geprüft werden. In einer gemeinsamen Erklärung zur Standort- und Beschäftigungssicherung wenden sich der BAVC und die IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) ausdrücklich gegen Vorschläge von CDU/CSU und FDP, die Abweichungen vom Tarifvertrag nur an das Abstimmungsverhalten der Belegschaften knüpfen wollen (BAVC/IG BCE 2004).
III.1 Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften 243 rücksichtigen. Zur beschleunigten Umsetzung betrieblicher Bündnisse bedürfe es eines betrieblichen Verhandlungsverfahrens, das Abweichungen vom Flächentarifvertrag zulasse, sobald zwei Drittel der vom betrieblichen Bündnis betroffenen Arbeitnehmer einer entsprechende Vereinbarung zustimmten. Mit dieser politischen Forderung sollte sicher auch die Anpassungsbereitschaft der Gewerkschaften erhöht werden. Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände erwarten von den Gewerkschaften, den eingeschlagenen Weg der betriebsnäheren Tarifpolitik weiter mitzugehen und fortzuentwickeln. Diese Dezentralisierung der Tarifpolitik soll auch die Loyalität der Mitglieder gegenüber den Tarifverbänden sichern und damit auch die rückläufige Tarifbindung stabilisieren. Indem die Kompromissfindung ein Stück weit auf die einzelnen Betriebe – also die Mitglieder – übertragen wird, kommt es zu einer „doppelten“ Abstimmung und zu einer betrieblichen Differenzierung der branchenweiten Regelungen. Stärkt dies die Tarifverbände, sichert dies gleichzeitig auch den tarifpolitischen Einfluss der Gewerkschaften. Dabei ändert sich das traditionelle Rollenspiel: Die Gewerkschaften übernehmen nur noch vordergründig eine aktive Rolle in den Tarifverhandlungen. Sie stehen Verbänden gegenüber, die ihrerseits mit gezielten Forderungen in die Tarifverhandlungen gehen. Dabei sind inzwischen auch die Gewerkschaften bereit, Regelungskompetenzen an die betrieblichen Akteure abzutreten. Durch diese zweistufigen Verhandlungen lassen sich betriebswirtschaftlich notwendige Differenzierungen erreichen und die Kompromissbildung einer „doppelten“ Kontrolle unterwerfen. Diese Strategie hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Politik der Gewerkschaften. Zum einen versuchen die Gewerkschaften, durch eine „quantitative Tarifpolitik“ auf der überbetrieblichen Ebene neue Themenfelder (Qualifizierung, alternde Belegschaften) zu besetzen oder an sich zu ziehen (Sozialplantarifverträge7). Zum anderen versuchen sie, in betrieblichen Standortbündnissen Einfluss auf die Betriebsebene zu nehmen. Der Zustimmungsvorbehalt, den vor allem die Wirtschaftsverbände kritisieren, sichert ihren Einfluss. Dass nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Arbeitgeberverbände selbst ihre Gestaltungsfähigkeit ein Stück weit aufgeben, wenn sie auf den Zustimmungsvorbehalt verzichten, wird auf der Arbeitgeberseite nur vom BAVC als Problem angesprochen (BAVC/IG BCE 2004). Er plädiert dafür, am Zustimmungsvorbehalt festzuhalten, auch um die Arbeitgeberverbände in den Dezentralisierungsprozess einzubinden. 2.2 Lohnpolitischer Verteilungsspielraum Wichtigstes lohnpolitisches Ziel der Gewerkschaften ist die Sicherung der realen Kaufkraft. Deshalb fordern die Gewerkschaften neben der Teilhabe der Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Fortschritt auch einen Inflationsausgleich. Die in früheren Jahren regelmäßig geforderte Umverteilungskomponente ist hingegen zunehmend in den Hintergrund getreten. Die Arbeitgeberverbände rechnen die Umverteilungskomponente und den Inflationsausgleich nicht zum Verteilungsspielraum. Sie fordern eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik, bei der sich Lohnsteigerungen allein am Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen 7
Ein Sozialplantarifvertrag regelt die Modalitäten einer Werkschließung, zum Beispiel die Höhe der vom Unternehmen zu zahlenden Abfindungen oder die Einrichtung einer Qualifizierungsgesellschaft, die sich um die Weiterbildung der entlassenen Arbeitskräfte bemüht. Der Sozialplantarifvertrag ist letztlich nichts anderes als ein tarifvertraglich ausgehandelter Sozialplan.
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Produktivität orientieren sollen. Nur wenn die gesamten Arbeitskosten (Bruttolöhne plus Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber) im Durchschnitt der Volkswirtschaft nicht stärker erhöht werden als um den Prozentsatz, um den sich die gesamtwirtschaftliche Produktivität erhöht, werde die Beschäftigung gesichert und die Stabilität des Preisniveaus nicht gefährdet. Eine Orientierung an allgemeinen Preissteigerungen führe ausschließlich zu weiteren Preissteigerungen und sei daher zum Schaden von Arbeitnehmern, Verbrauchern und Unternehmen. Der Grundsatz der produktivitätsorientierten Lohnpolitik wird nicht als eine schematische Lohnformel betrachtet, sondern als eine flexible Orientierungsgröße, die in den Branchen differenziert zu handhaben und bei gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichtssituationen wie hoher Arbeitslosigkeit zu modifizieren ist. Hier folgen die Verbände der lohnpolitischen Empfehlung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, in Zeiten von Unterbeschäftigung einen Teil des Produktivitätszuwachses für den Beschäftigungsaufbau zu verwenden, also nicht an die Beschäftigten in Form höherer Löhne auszuschütten. Lohnsteigerungen unterhalb des Produktivitätszuwachses verbessern laut Sachverständigenrat die Wettbewerbsfähigkeit und die Unternehmen könnten daraufhin in neue Arbeitsplätze investieren (SVR 1993: Tz. 350; SVR 1997: Tz. 371). Die Arbeitgeber folgen damit einer angebotsorientierten Lohnpolitik, bei der die Kostenwirkung der Löhne im Mittelpunkt steht. Dem gewerkschaftlichen Argument, wonach Lohnverzicht gesamtwirtschaftlich problematisch ist, weil die Löhne die wichtigste Einkommensquelle darstellen, wird entgegengehalten, dass die Konsumnachfrage weniger von der Einkommensentwicklung als von der Beschäftigungsentwicklung bestimmt werde. Steige die Beschäftigung infolge von Lohnzurückhaltung (Zurückbleiben der Lohnzuwächse hinter dem Produktivitätswachstum) an, nehme – neben der Investitionsnachfrage – auch die Konsumnachfrage zu, so dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steige. Mit dieser unterschiedlichen lohnpolitischen Orientierung ist in den Tarifverhandlungen ein grundlegender Verteilungskonflikt angelegt. Die Arbeitgeberverbände verlangen, Tarifstandards nicht nur als „juristische“ Mindeststandards, sondern auch als „ökonomische“ Mindeststandards zu begreifen. Von den Gewerkschaften wird eine Abkehr von traditionellen (um)verteilungspolitischen Zielen erwartet. Sie sollen die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit in den Mittelpunkt ihrer Tarifpolitik stellen. Die Tarifnormen müssten demnach so festgelegt werden, dass sie von der großen Mehrheit der Betriebe erwirtschaftet werden können und überdurchschnittlich produktive Firmen auf freiwilliger Basis übertarifliche Leistungen zahlen. Dadurch sollte sich eine marktgerechte Lohndrift herausbilden, die den Knappheiten zwischen verschiedenen Branchen, Firmen und Qualifikationen Rechnung trägt. Die in den Tarifverhandlungen übliche Orientierung an der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit einer Branche oder der Gesamtwirtschaft lasse hingegen zu wenig Raum für eine marktgerechte Lohndrift. Eine solche Orientierung sei allenfalls in einer stark wachsenden Volkswirtschaft ökonomisch vertretbar, also zu Bedingungen, die in Deutschland bis Anfang der achtziger Jahre gegeben waren (Busch 2005: 146). In den Tarifverhandlungen der Metall- und Elektroindustrie fordern die Metallarbeitgeber daher seit einigen Jahren, die tabellenwirksamen (prozentualen) Entgelterhöhungen moderat zu gestalten und die unterschiedliche konjunkturelle oder auch wirtschaftliche Situation der Betriebe durch variable Einmalzahlungen zu berücksichtigen. Die Arbeitgeber wollen dadurch den Basiseffekt der Entgeltrunden vermindern und in eine flexiblere, betriebsnähere Entgeltpolitik einsteigen.
III.1 Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften 245 In anderen Branchen (Bankgewerbe, chemische Industrie, Touristik) haben die Gewerkschaften mit den Branchenarbeitgeberverbänden tarifliche Rahmenregelungen zur erfolgsabhängigen Ausgestaltung von Entgeltbestandteilen eingeführt. Dabei wird die Höhe der auszuschüttenden Jahressonderzahlung an den Firmenerfolg gekoppelt. Erfolgsbeteiligungen werden auch von der BDA (2006a) insgesamt positiv beurteilt. Die Arbeitnehmer profitieren nach Auffassung der Dachorganisation von einer positiven Ergebnisentwicklung, für die Unternehmen ermöglichen sie eine Entlastung bei schlechter Ertragssituation. Damit leisten Erfolgsbeteiligungen einen aktiven Beitrag zur Sicherung der Beschäftigung in Zeiten von Strukturproblemen oder konjunkturellen Schwächeperioden. Zur Steigerung von Motivation und Produktivität seien leistungsabhängige Vergütungselemente geeignet. Im privaten Bankgewerbe und in der Tourismusbranche bestehen tarifliche Regelungen, die es den Betriebsparteien erlauben, einen Teil des Monatseinkommens variabel zu zahlen. Auch im öffentlichen Dienst wurde im Zuge der großen Tarifrechtsreform 2005 ein Leistungsentgelt eingeführt. Um die Unternehmen, die ganz unterschiedliche Einstellungen zu diesen Themen haben, nicht finanziell zu belasten, empfiehlt die BDA, erfolgs- oder leistungsabhängige Entgeltbestandteile nicht zusätzlich zu gewähren, sondern einen Teil des bisherigen Fixentgelts – auf freiwilliger Basis in Form von Betriebsvereinbarungen – variabel zu gestalten. Die Gewerkschaften lehnen dies eher ab, weil sie den Arbeitnehmern neben dem Beschäftigungsrisiko nicht noch ein Einkommensrisiko aufbürden wollen. Auch die Diskussion über den Verteilungsspielraum macht deutlich, dass sich das traditionelle Rollenspiel zwischen den Sozialpartnern wandelt. Die Arbeitgeber sehen in einer globalisierten Wirtschaft keinen Raum mehr für einen Teuerungsausgleich, während die Gewerkschaften Abstriche von ihrer traditionellen Lohnformel hinnehmen mussten: Seit Mitte der neunziger Jahre bleibt das Wachstum der Reallöhne hinter den Produktivitätssteigerungen zurück. Schroeder/Silvia (2003: 264) führen die stärkere Verhandlungsposition der Arbeitgeber auch auf die Existenz von OT-Verbänden zurück. Die Existenz dieser Verbände werde regelmäßig vor und nach Tarifrunden als Instrument genutzt, um Druck auf die Gewerkschaften auszuüben. Diese Einschätzung verkennt, dass OT-Mitgliedschaften in den Arbeitgeberverbänden lange recht kontrovers diskutiert wurden und zum Teil noch werden. OT-Verbände werden nicht als Ersatz für die Tarifverbände betrachtet. Vielmehr ergänzen sie das Leistungsspektrum der Arbeitgeberverbände, die ihren OT-Mitgliedsfirmen nicht nur Rechtsberatung, sondern auch Lösungen zur Regelung der Arbeitsbedingungen anbieten. Ein Abschmelzen der Tarifverbände kann im Übrigen auch deren Position in den Tarifverhandlungen schwächen. Je mehr vor allem mittelständische Betriebe von Tarif- in OT-Verbände wechseln, desto schwieriger wird es für die Tarifverbände, ihre tarifpolitischen Ziele zu erreichen. Schon jetzt nimmt die Tarifbindung mit der Betriebsgröße zu (Kohaut/Schnabel 2006: 4). Würde dieser Prozess verstärkt, würden vor allem große Betriebe Mitglied in den Tarifverbänden sein. Dies widerspricht deren organisationspolitischem Interesse. Hinweise auf die Ausstiegsoption „OT-Verbände“ sind zwar durchaus als Mahnung an die Gewerkschaften adressiert. Sie sind aber ein Ausdruck der Sorge, dass die Tarifbindung und damit auch das System der Flächentarifverträge weiter erodieren könnte. OT-Verbände haben eine wichtige Funktion, indem sie Betriebe, die sich keiner formalen Tarifbindung unterziehen wollen, an die Verbände binden. Eine solche Bindung eröffnet eher die Chance, Betriebe in die Tarifbindung zurückzuholen, als ein Verzicht auf OT-
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Verbände. Dieser würde dazu führen, dass tarifunwillige Betriebe den Kontakt zu den Verbänden ganz aufgeben und dann auch nicht mehr für eine Tarifbindung gewonnen werden können. 2.3 Gesetzlicher Mindestlohn Der Deutsche Gewerkschaftsbund forderte auf seinem 18. ordentlichen Bundeskongress im Mai 2006 einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 EUR je Stunde. Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände lehnen gesetzliche Mindestlöhne mehrheitlich ab, unabhängig davon, ob sie brancheneinheitlich oder branchenspezifisch festgelegt werden (BDA 2006b; VBW 2006). Gegen einen gesetzlichen Mindestlohn spreche, dass schon das Arbeitslosengeld II (ALG II) ein existenzsicherndes Einkommen für alle setze und damit einen impliziten Mindestlohn verkörpere. Rechnerisch gewähre es Mindeststundenlöhne von 4,90 EUR für Alleinstehende und 9,30 EUR für Verheiratete mit zwei Kindern. Dies mache gesetzliche Mindestlöhne überflüssig. Ein einheitlicher Mindestlohn von 7,50 EUR je Stunde bedrohe Arbeitsplätze, weil er bei vielen Beschäftigten zu einem Anstieg der Arbeitskosten führen würde. 8 Dort, wo eine Preisüberwälzung schwierig wäre, stiege die Schwarzarbeit. Und da, wo eine Preisüberwälzung möglich wäre, würden vor allem einfache Dienstleistungen weniger nachgefragt werden. Damit würde zahlreichen Beschäftigten im Niedriglohnsektor, vor allem in der Gastronomie, im Einzelhandel oder im Wach- und Sicherheitsgewerbe, ein Bärendienst erwiesen, da vor allem dort viele Arbeitsplatzverluste zu befürchten seien. Als Problem wird aber auch gesehen, dass ein einmal eingeführter Mindestlohn eine gewisse Dynamik permanenter Anhebungen auslösen würde. Dabei bestehe die Gefahr einer zu raschen Anhebung, die die negativen Arbeitsmarktwirkungen verstärken würde. Außerdem werde die Frage der Angemessenheit und Erhöhung des geltenden Mindestlohns permanent Gegenstand öffentlicher Debatten und politischer Wahlversprechen. Gegen branchenspezifische tarifliche Mindestlöhne spricht nach Ansicht der Dachorganisation vor allem, dass die geltenden Tarifstandards gerade für kleine und mittlere Betriebe teilweise kaum noch tragbar seien. Allgemeinverbindliche Mindestlöhne auf Tarifbasis machten es Arbeitgebern unmöglich, Abweichungen von bestehenden Tarifniveaus zu vereinbaren. In Ostdeutschland, wo die Tarifbindung gering ist, würden Mindestlöhne auf Tarifbasis nichttarifgebundenen Unternehmen die wesentlich höheren Tarifstandards aufzwingen. Dies könne eine Verlagerung ins kostengünstigere Ausland oder den Weg in die Schwarzarbeit beschleunigen. Zudem drohe eine weitere Kontrollbürokratie, da in vielen Fällen erst einmal geklärt werden müsse, welcher der etwa 8.200 gültigen Lohn- und Gehaltstarifverträge überhaupt gelte. In diesem Zusammenhang werden auch die Erfahrungen in der Bauwirtschaft als negatives Beispiel angeführt, wo seit 1997 ein Mindestlohn auf der Grundlage des 1996 verabschiedeten Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) gilt. Die gut gemeinte Absicht, „Lohndumping“ durch allgemeinverbindlich erklärte Mindestlöhne zu unterbinden, habe nicht dazu geführt, die bestehenden Arbeitsplätze in der Baubranche zu 8
Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW 2006) würde ein Mindestlohn von 7,50 EUR je Stunde bei jedem zehnten abhängig Beschäftigten eine Lohnerhöhung notwendig machen. Das DIW befürchtet negative Arbeitsmarktwirkungen vor allem bei Frauen, Geringqualifizierten und in den neuen Bundesländern.
III.1 Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften 247 sichern. Die Zahl der Beschäftigten im Bauhauptgewerbe sei seit dem Bestehen des Entsendegesetzes aufgrund des Strukturwandels und der Nachfrageschwäche kontinuierlich zurückgegangen. Der Anteil der ausländischen Entsendearbeitnehmer habe sich hingegen nicht verringert. Zwar teilen die meisten Mitgliedsverbände der BDA und auch Wirtschaftsverbände wie der BDI diese Einschätzung (BDI 2006: 15). Es gibt aber auch abweichende Meinungen. Der Bundesinnungsverband des Gebäudereiniger-Handwerks ist aktiv für die von der Bundesregierung beschlossene Ausweitung des Entsendegesetzes auf das Gebäudereinigerhandwerk eingetreten und die großen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände der Bauwirtschaft, der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes und der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB), haben schon in den neunziger Jahren bundesweite MindestlohnTarifverträge gegen den Willen der BDA durchgesetzt. Sie stellen die positive Wirkung des Entsendegesetzes heraus. 9 Die durch die europäische Integration ausgelösten Anpassungsprozesse würden im deutschen Baugewerbe ohne Abfederung zu einer Reihe von Verwerfungen führen, insbesondere zu einem drastischen und sozialpolitisch nur schwer zu verkraftenden Beschäftigungsabbau, zu einer Insolvenzwelle und zu einem Verzicht auf Beschäftigungschancen, da im Zuge der Insolvenzen auch wettbewerbsfähige Arbeitsplätze wegfielen und den Unternehmen die Möglichkeit zur Umstrukturierung und einer Ausrichtung auf neue Märkte genommen würde. Der HDB (2005) rechnet vor, dass die Zahl der Arbeitsplätze im Bauhauptgewerbe zwischen 1995 und 2004 um 45 Prozent (absolut um 650.000) zurückgegangen sei, davon aber rund 30 Prozentpunkte auf das Konto sinkender Umsätze und weitere 10 Prozentpunkte auf das einer gestiegenen Arbeitsproduktivität gingen. Nur etwa 5 Prozentpunkte seien auf die Niedriglohnkonkurrenz zurückzuführen, so dass die beschäftigungspolitische Zielsetzung des Mindestlohns erfüllt worden sei. Auch die befürchtete Verdrängung von inländischer Baunachfrage infolge von Preiserhöhungen sei nicht zu beobachten. Insgesamt sieht der HDB weitere 250.000 Arbeitsplätze in Gefahr, wenn der Mindestlohn in der Bauwirtschaft wegfallen würde. Die heterogene Haltung des Arbeitgeberlagers hat natürlich Implikationen für das Verhältnis zu den Gewerkschaften. Während die BDA die Regelung der Löhne im Rahmen der Tarifautonomie ausüben will, thematisieren einzelne Branchenverbände die strukturellen Anpassungsprobleme. Dies führt letztlich zu einer Interessenkongruenz mit den sozialpolitischen Zielen der Gewerkschaften, die eine Verdrängung heimischer durch ausländische Bauarbeiter im Wege der Lohnunterbietung verhindern wollen. Die BDA änderte schon in den neunziger Jahren ihre Position zur Allgemeinverbindlichkeit – früher stimmte sie diesem Instrument in bestimmten Wirtschaftszweigen wie dem Handel zu, heute lehnt sie es aus ordnungspolitischen Erwägungen heraus ab. Außenseiterkonkurrenz, auch durch ausländische Entsendearbeitnehmer, wird als ein elementarer Bestandteil der Tarifautonomie gesehen, nicht zuletzt, weil Konkurrenz die Gewerkschaften zwingt, der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit mehr Gewicht beizumessen. In der Bauwirtschaft und zunehmend auch im Handwerk, wo die Tarifflucht und Entsendeproblematik einen zunehmenden Arbeitskostenwettbewerb auslösen, wird der Wunsch nach einer wettbewerbsorientierten Lohnpolitik zwar geteilt. Gleichzeitig werden die Gewerkschaften aber auch als Kooperationspartner betrachtet, mit deren Hilfe gesetzliche Mindeststandards durchgesetzt werden, um ein gewisses Lohnniveau aufrechtzuerhalten. Diese Interessenkongruenz zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern erklärt, warum das AEntG inzwischen auf weitere Branchen ausgeweitet worden ist. 9
Zum Konflikt um das Entsendegesetz siehe Zimmer (2002: 135 f.).
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
2.4 Gewerkschaftswettbewerb und Tarifeinheit Durch das tarifpolitisch eigenständige Wirken von Berufsgewerkschaften im Verkehrs- und Gesundheitswesen ist ein weiteres Diskussionsthema entstanden. Bislang war es üblich, dass sich die großen Branchengewerkschaften bei Überschneidungen ihrer Tarifzuständigkeit auf einheitliche Tarifverträge verständigten. Der neue Wettbewerb zwischen verschiedenen Gewerkschaften hat nicht nur Auswirkungen auf die Arbeitnehmerorganisationen in Form von Mitgliederwanderungen und der Notwendigkeit einer Neuausrichtung der tarifpolitischen Strategie (siehe hierzu ausführlicher Lesch 2008b). Betroffen sind auch die Arbeitgeberverbände. Zum einen müssen sie häufiger verhandeln. Zum anderen werden sie mit sich gegenseitig aufschaukelnden Lohnforderungen der Gewerkschaften konfrontiert. Beides läuft auf konfliktreichere Tarifverhandlungen hinaus, wie die Erfahrungen bei der Deutschen Lufthansa und bei der Deutschen Bahn zeigen. Die BDA beklagt, dass ein Kernstück der Tarifautonomie beschädigt würde, wenn trotz bestehender Tarifverträge in einem Betrieb Tarifkonflikte drohten und damit die Friedenspflicht entwertet würde (BDA 2008). Ein tarifgebundener Arbeitgeber müsse sich darauf verlassen können, während der Laufzeit eines geltenden Tarifvertrages keinen Arbeitskampfmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Um unterschiedliche Laufzeiten von Tarifverträgen zu verhindern, die mit verschiedenen Gewerkschaften abgeschlossen wurden, mit der Folge, dass für die Unternehmen zu verschiedenen Zeitpunkten Streiks oder Streikandrohungen denkbar wären, werden neue „Spielregeln“ für Berufsgewerkschaften gefordert (Hundt 2008; BDA 2008). Denkbar seien die Vereinbarung von Tarifgemeinschaften, obligatorische Schlichtungsverfahren oder Abkühlungsphasen nach dem Scheitern von Tarifverhandlungen. Sollte dies nicht gelingen, müsse der Gesetzgeber die Grundlagen der Tarifeinheit und der Tarifautonomie sichern. 3
Zwischen Konfrontation und Kompromiss: Konfliktlösungsmechanismen
3.1 Historische Etappen der Kooperation Die deutschen Arbeitsbeziehungen zeichnen sich im internationalen Vergleich durch ein hohes Maß an sozialem Frieden aus (Lesch 2005a, 2009). Das war nicht immer so. Der historische Vergleich zeigt, dass Anfang des 20. Jahrhunderts und auch in den letzten Jahren der Weimarer Republik häufig gestreikt wurde. Nach Boll (2003: 481) war dieser Trend „immer auch von der Intention der Arbeitgeber gekennzeichnet, die organisatorische Gegenmacht der Gewerkschaften dauerhaft zu schwächen oder gar dauerhaft auszuschalten“.10 In der soziologischen Literatur werden die Arbeitgeberverbände häufig als Gegenverbände begriffen, also als eine Reaktion auf die Organisierung der Arbeitnehmer in Gewerkschaften. Geeint wurden die Arbeitgeber durch den politischen Willen, eine geschlossene Abwehrfront gegen die Gewerkschaften aufzubauen. Aussperrungen und schwarze Listen waren gemeinsame Instrumente, um die Streikfähigkeit der Gewerkschaften zu dämpfen. Schroeder und Silvia (2003: 255) betonen aber zu Recht, dass die Arbeitgeberverbände im
10
Zu einer ausführlichen historischen Analyse von Arbeitskämpfen während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik siehe Kittner (2005), Abschnitte 4 und 5.
III.1 Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften 249 Zeitverlauf den Charakter reiner Gegenverbände verloren haben. Die Tarifpolitik, Serviceleistungen und das politische Lobbying wurden Felder, mit denen sich aktiv Mitglieder gewinnen ließen. Diese Entwicklung beschleunigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Zeichen des Wirtschaftswunders wuchs der lohnpolitische Verteilungsspielraum stark an, so dass Konflikte zwar regelmäßig auftraten, aber ein vergleichsweise geringes Ausmaß annahmen. Die sechziger Jahre gelten gar als Dekade des sozialen Friedens. Antigewerkschaftliche Motive traten in den Arbeitgeberverbänden immer mehr zugunsten einer tarifgestaltenden Arbeit in den Hintergrund (Schroeder/Silvia 2003: 256). Mehr noch: Vereint in dem Ziel, den Wettbewerb nicht über die Löhne und andere Arbeitsbedingungen auszutragen, favorisierten beide Sozialpartner den Flächentarifvertrag als dominierendes Regelungsinstrument. Der Flächentarifvertrag garantierte den Betrieben einer Branche eine einheitliche Friedenspflicht und verlagerte die Konfliktlösung auf die überbetriebliche Verbandsebene. Mit den Septemberstreiks von 1969 endete die Dekade des sozialen Friedens (Boll 2003: 492; Kittner 2005: 684 ff.). Angesichts hoher Inflationsraten nahm der Verteilungskonflikt zu, was sich unter dem Eindruck der beiden Ölpreisschocks in den siebziger Jahren (1973/74 und 1979/80) verstärkte. Mit der in den achtziger Jahren aufkommenden Globalisierung und Internationalisierung der Märkte ging das Arbeitskampfvolumen wieder zurück (Lesch 2009: 89). Einzelne Jahre, wie das Jahr 1984, als der Einstieg in die 35-StundenWoche erstreikt wurde, oder 1993, als die IG Metall für die Fortsetzung der West-OstLohnangleichung kämpfte, ändern diesen Gesamttrend nicht. Ob die im internationalen Vergleich geringe Streikanfälligkeit der deutschen Volkswirtschaft auch dem Regelungsinstrument „Flächentarifvertrag“ zuzuschreiben ist, lässt sich weder empirisch noch theoretisch eindeutig beantworten. Nach der „Hump-ShapeHypothese“ von Calmfors/Driffill (1988) besteht ein umgekehrt U-förmiger Zusammenhang zwischen dem Zentralisierungsgrad der Tarifverhandlungen und der makroökonomischen Performanz. Der Zentralisierungsgrad wird dabei als das Ausmaß definiert, in dem Arbeitgeber und Gewerkschaft jeweils untereinander und miteinander kooperieren. Aus der „Hump-Shape-Hypothese“ folgt, dass intermediäre Lohnverhandlungsformen wie Flächentarifverträge weniger vorteilhaft sind als dezentrale oder gesamtwirtschaftliche Lohnverhandlungen. Das hängt damit zusammen, dass der Wettbewerbsdruck bei sektoralen Lohnverhandlungen nicht stark genug ist, um die Gewerkschaften zu disziplinieren, und anders als bei zentralen Verhandlungen auch nicht alle externen Wirkungen der Tarifpolitik von den Tarifparteien internalisiert werden. Daher kommt es bei sektoralen Lohnverhandlungen zu den höchsten Tarifabschlüssen und auch das Konfliktpotenzial sowie das Arbeitskampfrisiko sind entsprechend hoch. Das Arbeitskampfrisiko wird aber auch dadurch beeinflusst, ob eine informelle Koordination zwischen den Branchen besteht. So konzentrierten sich die Arbeitskämpfe in Deutschland vor allem auf die Metallindustrie, weil diese häufig eine Lohnführerschaft inne hatte und einen Pilotabschluss vorlegte, der anderen Branchen als Orientierung diente. Je offener eine Volkswirtschaft ist, desto mehr sinkt die Bedeutung des Zentralisierungsgrades, weil der Wettbewerbsdruck vor allem bei sektoralen Lohnverhandlungen zunimmt und die Tarifparteien diszipliniert (Danthine/Hunt 1994). Hinzu kommt, dass sich die Arbeitgeber in der stark vernetzten Industrie als nicht mehr arbeitskampffähig ansehen und die Gewerkschaften zur Schonung ihrer Streikkasse darauf achten müssen, Fernwirkungen bei Streiks zu verhindern. Das erhöht auf beiden Seiten die Bereitschaft zu Konzessionen.
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Empirische Untersuchungen geben keinen verlässlichen Aufschluss darüber, inwieweit Zentralisierung und Koordinierung für die Arbeitsmarktentwicklung, die Lohnpolitik und das Arbeitskampfrisiko vorteilhaft sind (Calmfors et al. 2001: 91 ff.). Die Arbeitgeberverbände verfolgen das Ziel, eine Dezentralisierung im Rahmen des Flächentarifvertrags vorzunehmen. Erlauben tarifliche Öffnungsklauseln, auf Betriebsebene über betriebliche Abweichungen von Tarifnormen zu verhandeln, gilt für diese Verhandlungen die tarifvertragliche Friedenspflicht. Gleichzeitig bleibt die Tarifpolitik auf Branchenebene koordiniert. Dass hierzulande insgesamt wenig gestreikt wird, hängt eher von makroökonomischen und politisch-institutionellen Ursachen ab (Lesch 2002). Grundsätzlich steht dem Streik in der deutschen Rechtsordnung der Charakter eines Grundrechts zu, der sich aus der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes ableiten lässt. Dies wurde aber bereits in den fünfziger Jahren durch höchstrichterliche Entscheidungen eingeschränkt: Politische Streiks wurden ebenso verboten wie wilde Streiks, Sympathie- und Demonstrationsstreiks (Boll 2003: 489; Kittner 2005: 608 f.). Aus Sicht der Arbeitgeber ist der Arbeitskampf insbesondere in der Industrie ein überaus schädliches Kampfinstrument, das die BDA als nicht mehr zeitgemäß erachtet (BDA 2003). Entsprechend fordern die Arbeitgeberverbände von den Gewerkschaften, auf die „Kampfrituale alter Prägung“ zu verzichten. Die Trennlinie verläuft nach Arbeitgeberauffassung nicht mehr zwischen „Kapital und Arbeit“, sondern zwischen den verschiedenen Volkswirtschaften. Eine Volkswirtschaft muss sich im internationalen Wettbewerb behaupten, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite unterliegen damit der gleichen Herausforderung, der sie sich auch gemeinsam im Konsens stellen müssen. 3.2 Schlichtungsabkommen Schlichtungsverfahren sind spezielle Einigungsversuche zwischen den Sozialpartnern, um Arbeitskämpfe zu verhindern. Von einer Zwangsschlichtung spricht man, wenn der Staat nach einem Scheitern der Einigungsversuche zwischen den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit hat, den Streit ohne den Willen der Tarifparteien verbindlich zu entscheiden. Die staatliche Zwangsschlichtung ist mit der Tarifautonomie nicht vereinbar, beeinflusste aber die Konfliktregulierung während der Weimarer Republik. Nach der im Oktober 1923 eingeführten „Verordnung über das Schlichtungswesen“ unternahmen die Spitzenverbände zwar den Versuch einer tarifvertraglichen Schlichtung, die die staatliche Zwangsschlichtung ablösen sollte. Er scheiterte aber an der Verweigerung einer Zustimmung durch die Gewerkschaften (Kittner 2005: 461). Allerdings kam es in einigen Branchen, etwa in der Druckindustrie und in der chemischen Industrie, zu einer gut funktionierenden Schlichtungspraxis (Kittner 2005: 632). Nach dem Zweiten Weltkrieg einigten sich die Tarifparteien auf freiwillige tarifvertragliche Regelungen, um die Wiedereinführung der staatlichen Zwangsschlichtung zu verhindern. Eine wichtige Grundlage der zahlreichen Schlichtungsabkommen, die zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften autonom für verschiedene Branchen vereinbart wurden, bildete die im September 1954 zwischen der BDA und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) geschlossene „Margarethenhof-Vereinbarung“ (Lesch 2005b). Ihre vier wichtigsten Elemente waren:
III.1 Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften 251 1. 2. 3. 4.
Automatik: Die (paritätisch und ohne einen neutralen Vorsitzenden besetzte) Schlichtungsstelle wird ohne besonderen Auftrag sofort nach dem Scheitern von Tarifverhandlungen aktiv. Friedenspflicht: Bis zum ergebnislosen Ende der Schlichtung verzichten die Tarifparteien auf Arbeitskampfmaßnahmen. Paritätische Besetzung: Die Sitze in der Schlichtungsstelle teilen sich die Vertreter des Arbeitgeberverbands und der Gewerkschaft; es gibt keinen neutralen Vorsitzenden. Unverbindlichkeit des Schlichterspruchs: Das Ergebnis der Verhandlungen ist nicht verpflichtend; es sei denn, die Tarifparteien erklären vor dem Schlichtungsverfahren, dass sie sich dem Spruch unterwerfen.
Die Regelungen tragen dem Ultima-Ratio-Prinzip Rechnung: Streik und Aussperrung sollen erst nach dem Ausschöpfen aller Verhandlungsmöglichkeiten als Mittel der Konfliktlösung eingesetzt werden. Tatsächlich gab die „Margarethenhof-Vereinbarung“ den Startschuss zum Abschluss von Schlichtungsverfahren in vielen Wirtschaftsbereichen. Eine Auswertung von insgesamt 14 verschiedenen Branchen kommt zu dem Ergebnis, dass Schlichtungsabkommen vor allem in der Industrie verbreitet sind, während in einigen Dienstleistungssektoren wie dem privaten Bankgewerbe, dem Einzelhandel sowie dem Groß- und Außenhandel keine Abkommen bestehen (Lesch 2005b: 20). Die in der „Margarethenhof-Vereinbarung“ vorgesehene Automatik gibt es im Baugewerbe, in der chemischen Industrie und in der deutschen Seeschifffahrt. Andere Abkommen (Druckindustrie, Holz- und Kunststoffverarbeitung, Kautschukindustrie, öffentlicher Dienst, Papierindustrie, Steine- und Erdenindustrie) enthalten anstelle des Automatismus eine Verpflichtung der anderen Seite, sich auf ein Schlichtungsverfahren einzulassen, sobald eine der beiden Seiten eine Schlichtung fordert (Einlassungszwang). In der Metall- und Elektroindustrie und in der Zigarettenindustrie gibt es weder eine Automatik noch einen Einlassungszwang. Dort kommt es nur dann zur Schlichtung, wenn beide Tarifparteien dies fordern oder sich eine Partei der Anrufung der Schlichtungsstelle durch die andere Partei anschließt. Die meisten Abkommen sehen einen neutralen Schlichtungsvorsitzenden vor, weil man sonst keinen wirklichen Schlichtungseffekt erwartet. Lediglich in der chemischen Industrie, in der Kautschukindustrie sowie in der Papierindustrie wird auf einen neutralen Vorsitz verzichtet. Zum Teil wird der unparteiische Schlichtungsvorsitzende auch mit einem Stimmrecht ausgestattet (zum Beispiel im Baugewerbe, in der Zigarettenindustrie oder im öffentlichen Dienst). Kommt die Schlichtungsstelle zu einer Einigung, wird oft erst im konkreten Fall entschieden, unter welchen Voraussetzungen diese angenommen werden muss. Die Schlichtungsabkommen von Baugewerbe, Druck- und Kautschukindustrie sehen die Einigung als verbindlich an, wenn sie einstimmig angenommen wurde, in der chemischen Industrie und in der Papierindustrie reicht eine mehrheitliche Annahme. In den meisten Branchen ist der Schlichterspruch dagegen nicht verbindlich. Die Friedenspflicht wird in den meisten Branchen über die Laufzeit des Tarifvertrags hinaus bis zum Abschluss der Schlichtung verlängert. Ausnahmen stellen vor allem die Druckindustrie sowie die Metall- und Elektroindustrie dar. Dort endet die Friedenspflicht schon einen Monat beziehungsweise vier Wochen nach Ablauf des Tarifvertrags – und unabhängig davon, ob eine Schlichtung noch läuft oder nicht.
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Insgesamt zeigt der Vergleich einzelner Schlichtungsregelungen, dass die Eckpunkte der „Margarethenhof-Vereinbarung“ nur in der Schlichtungsregelung der chemischen Industrie vollständig umgesetzt worden sind. Wenig Übereinstimmung findet sich dagegen in der „Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metallindustrie“. 3.3 Reformbedarf aus Arbeitgebersicht Schroeder/Silvia (2003: 263) stellen eine deutliche Abnahme der realen Konfliktfähigkeit der Arbeitgeberverbände in den letzten beiden Dekaden fest. Sie belegen dies mit dem Hinweis, dass die Arbeitgeber das Instrument der Aussperrung kaum noch nutzen. Entscheidender ist aber, dass sich die Produktionsbedingungen verändert haben. Die im Zuge des Wandels in der Arbeitsorganisation entstandenen pufferlosen und vernetzten Produktionsketten sind störanfällig. In der Industrie können schon kurze Arbeitsniederlegungen große Produktionsausfälle verursachen (Stahl 2003: 55; Lesch 2005a: 51). Dies erklärt auch, warum Aussperrungen als Reaktion auf Streiks sinnlos sind und zumindest die Arbeitgeber der Industrie- oder Verkehrsunternehmen Streiks fürchten. Wie erwähnt, sind Arbeitskämpfe aus Sicht der Arbeitgeber unzeitgemäß, weil der Interessenkonflikt zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften heute viel stärker als in der Vergangenheit vom Wettbewerb zwischen den Volkswirtschaften selbst überlagert wird. Bei der Suche nach Alternativen zu Streik und Aussperrung fällt der Blick auf das schweizerische Friedensabkommen, das niederländische Abkommen von Wassenaar und das schwedische Industrieabkommen (Stahl 2003). Das seit 1937 für die schweizerische Maschinen- und Metallindustrie gültige (und von anderen Branchen übernommene) Friedensabkommen schließt Streiks und Aussperrungen als Instrumente der Tarifauseinandersetzung gänzlich aus. Streiks kommen in der Schweiz deshalb nur selten vor. In den Niederlanden werden die Tarifverhandlungen seit 1983 auf der Grundlage eines Abkommens geführt, das die Tarifparteien dazu verpflichtet, ihre Verhandlungen an zentral vereinbarten Zielen (darunter die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen) zu orientieren. Und in Schweden wurde 1997 ein Industrieabkommen geschlossen, das einen klaren Fahrplan enthält, um Tarifverhandlungen stärker sachbezogen und ergebnisorientiert zu führen. Unter anderem sind die Sozialpartner dazu verpflichtet, Verhandlungen spätestens drei Monate vor Ende des laufenden Vertrages aufzunehmen. Einen Monat vor Ablauf werden die Tarifparteien von einem externen neutralen Verhandlungsführer unterstützt, der aus eigener Initiative in die Verhandlungen eingreifen und Arbeitskampfmaßnahmen mehrmals bis zu einer Dauer von insgesamt 14 Tagen aufschieben kann. Alle drei Regelungen stärken das Ultima-Ratio-Prinzip. Entsprechend fordern auch die deutschen Arbeitgeberverbände von den Gewerkschaften, Arbeitskämpfe nur als letztes Mittel einzusetzen. Das gilt insbesondere für die gewerkschaftliche Praxis, während laufender Tarifverhandlungen zeitlich befristete Warnstreiks durchzuführen. Die BDA (2003: 2) sieht darin einen Verstoß gegen das Ultima-Ratio-Prinzip und einen Missbrauch des Streikrechts. Sie fordert deshalb die Einführung eines obligatorischen Schlichtungsverfahrens, das die Tarifparteien ausgestalten sollen. Für den Fall, dass keine Schlichtungsvereinbarung zustande kommt oder die bestehende Vereinbarung nicht eingehalten wird, soll ein gesetzlich normiertes Schlichtungsverfahren im Tarifvertragsgesetz verankert werden. Dieses soll die Bestellung eines Schlichters, die Anrufung des Schlichtungsgremiums sowie den Ver-
III.1 Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften 253 fahrensabschluss regeln und eine Mindestdauer des Schlichtungsverfahrens von einem Monat festlegen. Für die Metall- und Elektroindustrie hat der Arbeitgeberverband Gesamtmetall im März 1998 ein Positionspapier (Berliner Erklärung) zur friedlichen Lösung von Tarifkonflikten verabschiedet, in dem die IG Metall zu neuen Formen der Konfliktlösung aufgefordert wird (Gesamtmetall 1998). Vorgeschlagen wurden unter anderem ein regelmäßiger informeller Meinungsaustausch, die Einrichtung eines unabhängigen Beraterausschusses sowie ein wirksameres Schlichtungsverfahren. Letzteres verlangt eine Änderung der geltenden Schlichtungsvereinbarung in mehreren Kernpunkten. So soll nach dem Scheitern von Tarifverhandlungen eine Schlichtung verpflichtend sein, die paritätisch besetzte Schlichtungsstelle soll ohne (externen oder internen) Vorsitzenden fungieren und die Friedenspflicht auch während der Schlichtung bestehen bleiben. Außerdem wird vorgeschlagen, dass sich die Tarifpartner im Falle einer gescheiterten Schlichtung auf ein zweites Verfahren in Form einer Pendelschlichtung einigen können. Das heißt: Der Schlichter muss sich für eine der beiden vorgetragenen Positionen entscheiden. Der Vorteil einer Pendelschlichtung besteht vor allem darin, dass die Tarifparteien realistischere Verhandlungspositionen als bei der sonst üblichen Kompromissschlichtung formulieren, weil extreme Positionen weniger Aussicht auf eine Anerkennung durch den Schlichter haben. Sollten die Positionen am Ende weiter auseinander liegen, stünde allerdings eine Seite als Verlierer dar und müsste sich vor ihren Mitgliedern entsprechend verantworten. Die Pendelschlichtung fände unter einem unparteiischen Vorsitz statt. Weiteren Regelungsbedarf sehen die Arbeitgeber bei der Praxis, den Arbeitgeber bei einer Betriebsschließung zu einem Sozialplantarifvertrag zu zwingen. Nach Auffassung der Arbeitgeberverbände untergräbt dies die Friedenspflicht des Tarifvertrags. Das gilt auch für Fälle, in denen ein Gewerkschaftswettbewerb zu einem Nebeneinander verschiedener Tarifverträge mit unterschiedlichen Laufzeiten führt. Die Arbeitgeber wollen das Prinzip der Tarifeinheit gewahrt wissen und fordern neue „Spielregeln“ für den Umgang mit Spartengewerkschaften (BDA 2008). Um Arbeitskämpfe zu vermeiden, sollen Tarifgemeinschaften gebildet oder obligatorische Schlichtungsverfahren einführt werden. Notfalls müsse der Gesetzgeber einschreiten. Dieser Überblick zeigt, dass die Arbeitgeber auch bei der Konfliktlösung in die Offensive gehen. Anders als beim lohnpolitischen Verteilungsspielraum, wo sie letztlich über das Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis disponieren können, liegt die Entscheidung über die Konfliktlösung bei den Gewerkschaften. Während die Arbeitgeber auf Aussperrungen weitgehend verzichten, nutzen die Gewerkschaften den Streik als Druckmittel nach wie vor. 4
Die künftige Rolle der Gewerkschaften
Das Verhältnis der Arbeitgeberverbände zu den Gewerkschaften wird ebenso wie die Rolle, die sie den Arbeitnehmerorganisationen in der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen zubilligen, maßgeblich davon beeinflusst, wie die Strukturen und Aufgaben innerhalb der Arbeitgeberverbände durch Globalisierung und wirtschaftlichen Wandel unter Druck geraten sind (Schroeder 1995; Busch 2003: 320; Funk 2006: 28). 11 Die Gewerkschaften sind aus Sicht 11
Zimmer (2002: 129) spricht gar von „organisationsinternen Störfaktoren“, die die Fähigkeit einschränkten, externe Tauschbeziehungen (in Tarifverhandlungen) erfolgreich zu gestalten.
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände nach wie vor ein unverzichtbares kollektives Interessenvertretungsorgan. Dies erklärt sich schon aus dem beiderseitigen verbandspolitischen Interesse, die Arbeitsbedingungen vorrangig über Flächentarifverträge zu regeln. Weil die Arbeitgeber über die zentralen Parameter zur Gestaltung der Arbeitsverhältnisse disponieren, fällt ihnen nach Traxler (1999: 72) letztlich eine „initiative Rolle“ zu. Dadurch werden die Gewerkschaften auf der Verbandsebene in eine offensiv-fordernde Rolle gedrängt. In den letzten Jahren hat sich diese Rollenverteilung aber gewandelt. Die Arbeitgeber gehen offensiv und mit klaren Forderungen in die Tarifverhandlungen und formulieren diese Forderungen auch in der Öffentlichkeit unabhängig von den gewerkschaftlichen Forderungen (siehe auch die Abschnitte 2 und 3). Dabei streben sie allerdings an, möglichst viel Regelungskompetenzen an ihre Mitglieder zu übertragen, um sich deren Loyalität zu sichern. Zimmer (2002: 16) sieht in dieser starken Betonung der Mitgliedschaftslogik die Gefahr, dass diese Dezentralisierung die nationalen Dachverbände langfristig ihres tarifpolitischen Einflusses beraubt. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, dürfte die Bedeutung der OT-Verbände immer größer werden. Durch diese Alternative zu den traditionellen Tarifverbänden versuchen die Arbeitgeberverbände schon heute, die immer schwierigere Bündelung heterogener Interessen organisationspolitisch ein Stück weit aufzulösen (Haipeter/ Schilling 2006a: 24). Eine bislang nicht verfolgte Alternative bestünde darin, kleinere und homogenere Verhandlungseinheiten zu bilden. Solche Verhandlungseinheiten sind im Verkehrs- und Krankenhaussektor durch das eigenständige tarifpolitische Auftreten von Berufsgewerkschaften gegen den Willen der Arbeitgeber entstanden. Weil diese „Spartengewerkschaften“ durchsetzungsstarke Berufsgruppen vertreten, stellen sie den Kurs der Lohnzurückhaltung in Frage. Durch parallele und zersplitterte Tarifrunden machen sie die Tarifverhandlungen für die Arbeitgeber komplizierter. Das Auftreten von Berufsgewerkschaften lässt sich auch als Reaktion auf die jahrelange Lohnzurückhaltung erklären (Lesch 2008b), die wiederum das Ergebnis durchsetzungsschwacher Branchengewerkschaften und des arbeitgeberseitigen Wunsches nach maßvollen Lohnabschlüssen ist. Eine Reaktion auf die neue Gewerkschaftskonkurrenz ist bislang lediglich im Gewerkschaftslager zu erkennen. Dort hat vor allem ver.di ihren tarifpolitischen Kurs geändert. Zum einen strebt sie höhere Tarifabschlüsse an, zum anderen versucht sie, bestimmte Berufsgruppen besser zu bedienen, beispielsweise die Erzieherinnen und Pädagogen, für die sie im Sommer 2009 eine eigene, verbesserte Entgelttabelle durchsetzte. Bislang ist nicht erkennbar, dass die Arbeitgeberverbände strategisch auf die neuen Spartentarifverträge für bestimmte Berufe oder Berufsgruppen reagieren. Das liegt zum einen daran, dass das Agieren der Spartengewerkschaften noch auf wenige Sektoren begrenzt ist. Zum anderen sind vor allem ehemalige Staatsmonopole betroffen, die über Haustarifverträge verfügen. In der Privatwirtschaft besteht die neue Gewerkschaftskonkurrenz noch nicht. Somit beschränkt sich die BDA darauf, die Wahrung des Grundsatzes der Tarifeinheit zu fordern. Um die Tarifverbände zu erhalten, sind die Arbeitgeber darauf angewiesen, ihre Reformvorschläge im Dialog mit den Gewerkschaften umzusetzen. Dies setzt eine funktionierende Tarifautonomie voraus, aber auch Arbeitnehmervertretungen, deren Mitgliederbasis ausreicht, um möglichst flächendeckend Tarifverträge aushandeln zu können. Durch die Globalisierung und den dadurch entstehenden Wettbewerbsdruck auf die Unternehmen erwarten die Arbeitgeberverbände von den Gewerkschaften aber keine „offensiv-fordernde Rolle“, sondern eine verstärkte Anpassungsbereitschaft an die ökonomischen Sachzwänge. Ideologisch geführte Verteilungskämpfe sollen hinter einem Pragmatismus zurückstehen.
III.1 Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften 255 Konkret bedeutet dies, dass die Gewerkschaften eine betriebsnähere Tarifpolitik unter dem Dach des Flächentarifvertrags mitgestalten sollen, wobei die genaue Rolle der Gewerkschaften undefiniert bleibt. Das Dezentralisierungsziel leitet sich direkt aus dem globalisierungsbedingten Druck ab, unter dem die Arbeitgeberverbände und die in ihnen organisierten Unternehmen oftmals selbst stehen (siehe auch Busch 2003; Funk 2006: 30). Anstelle der althergebrachten Strategie, für die eigenen Mitglieder möglichst hohe Löhne und kurze Arbeitszeiten herauszuhandeln, sollen die Gewerkschaften der Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung einen größeren Stellenwert einräumen. Die von einigen Gewerkschaften forcierte „qualitative Tarifpolitik“, zum Beispiel die Durchsetzung von Qualifizierungstarifverträgen, wird von den Arbeitgebern zwar mitgetragen, aber nicht als Ersatz für eine aus ihrer Sicht notwendige beschäftigungsorientierte Lohnpolitik bewertet. Als Vorbild dient etwa das erwähnte Abkommen von Wassenaar aus den Niederlanden, das die Sicherung der niederländischen Volkswirtschaft in den Mittelpunkt von Wirtschafts- und Tarifpolitik rückte und eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung ermöglichte. Auf der Ebene der Branchenverbände fällt die Bewertung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik durchaus unterschiedlich aus. Dies wird deutlich, wenn man die „Sozialpartnerschaft“ zwischen der IG BCE und dem BAVC der „Konfliktpartnerschaft“ zwischen der IG Metall und den Metallarbeitgeberverbänden gegenüberstellt. In der chemischen Industrie wurde zuletzt 1971 ein Arbeitskampf geführt. Seitdem versteht sich die Chemiegewerkschaft als eine standortorientierte Arbeitnehmerinteressenvertretung. Sie sieht keinen Grundwiderspruch zwischen „Kapital und Arbeit“, sondern betrachtet die industriellen Beziehungen als ein Kooperationssystem. Entsprechend positiv ist das Klima zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband, das sich durch eine Reihe gemeinsamer Standpunkte und außertariflicher Sozialpartnervereinbarungen auszeichnet. Beispiele für gemeinsame Standpunkte sind das im Mai 2006 verabschiedete gemeinsame Kommuniqué „Die Tarifautonomie wahren“, in dem die beiden Sozialpartner einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn ablehnen, oder die gemeinsame Erklärung vom November 2004, in der ein Bekenntnis zu einer pragmatischen Sozialpartnerschaft abgelegt wird. Die etwa zwanzig außertariflichen Sozialpartnervereinbarungen reichen von gemeinsamen Empfehlungen zur Beschäftigungsförderung bis zu gemeinsamen Grundsatzpositionen zur Frauenförderung. Von der IG BCE erwarten die Chemiearbeitgeber die Fortsetzung der standortorientierten Tarifpolitik. Demgegenüber sieht die IG Metall nach Einschätzung von Gesamtmetall mehrheitlich einen Grundkonflikt zwischen „Kapital und Arbeit“. Entsprechend konfliktgeladen ist die Beziehung zwischen den Akteuren in dieser Branche. Zwischen 1980 und 2004 fielen in der Metallindustrie je 1.000 Arbeitnehmer im Jahresdurchschnitt 77 Arbeitstage durch Streiks und Aussperrungen aus, in der Gesamtwirtschaft waren es ohne die Metallindustrie nur 5 Tage. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass die Metallarbeitgeber von der IG Metall den Übergang zu einer standortorientierten Arbeitnehmervertretung erwarten. Das unterschiedliche Selbstverständnis der Gewerkschaften bestimmt demnach maßgeblich die verschiedenen Erwartungen, die die Arbeitgeber an die Arbeitnehmerorganisationen stellen. Dabei betont Gesamtmetall, dass gemeinsame Konfliktlösungsmechanismen eine Übereinstimmung über die Grunddaten der Verteilungspolitik voraussetzen. Um den Flächentarifvertrag in der heterogenen Metall- und Elektroindustrie zu stabilisieren, fordert der Metallarbeitergeberdachverband von der IG Metall eine betriebsnähere Tarifpolitik. Mit dem Abkommen von Pforzheim ist aus Arbeitgebersicht ein wichtiger Schritt erreicht worden. Die in der Tarifrunde 2006 ausgehandelte Flexibilisierung der Einmalzahlung sieht der
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Verband als Fortsetzung. Von der IG Metall wird erwartet, dass sie diesen Weg konstruktiv weiter verfolgt. 5
Fazit
Die Globalisierung hat die deutschen Arbeitsbeziehungen und damit auch die Sozialpartner unter Anpassungszwang gesetzt. Mitgliederverluste und eine Erosion des Flächentarifvertrags haben bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden strategische Reaktionen ausgelöst, durch die sich das traditionelle Rollenspiel wandelt. Die Gewerkschaften treten in Tarifverhandlungen zwar nach wie vor offensiv-fordernd auf, vor allem unter dem Druck eines neuen, durch Berufsgewerkschaften ausgelösten Gewerkschaftswettbewerbs. Ihnen stehen aber Arbeitgeberverbände gegenüber, deren Organisationsfähigkeit immer stärker davon abhängt, ob sie die heterogenen Mitgliederinteressen bündeln können und zu tragfähigen tarifpolitischen Kompromissen kommen. Die durch die Globalisierung verstärkten ökonomischen Sachzwänge veranlassen die Gewerkschaften dazu, politisch-ideologische Grabenkämpfe zu überwinden, und die Arbeitgeber, ihre Tarifpolitik durch die Mitglieder legitimieren zu lassen. Um dies zu erreichen, gehen die Arbeitgeberverbände stärker und offensiver als früher mit eigenen tarifpolitischen Ansätzen in die Tarifrunden und auch in die Öffentlichkeit. Die Gewerkschaften begreifen allmählich, dass die von den Arbeitgebern durchgesetzte Dezentralisierung der Tarifpolitik auch Chancen eröffnet. Sie setzen verstärkt darauf, mit einer „qualitativen Tarifpolitik“, Sozialplantarifverträgen und zum Teil auch mit besonderen Strategien zur Mitgliederbindung (z. B. Bonusregelungen für Gewerkschaftsmitglieder) auch inhaltlich in die tarifpolitische Offensive zu kommen. Tatsächlich sind mit den Qualifizierungstarifverträgen in der Metallindustrie und dem 2008 in der Stahlindustrie abgeschlossenen „Tarifvertrag zur Gestaltung des demografischen Wandels“ erste Erfolge erzielt worden. Wie sich die neue Konkurrenz durch „Spartengewerkschaften“ hierauf auswirkt, bleibt abzuwarten. Der Wandel in den Arbeitsbeziehungen macht aber auch deutlich, dass die Trennlinie längst nicht mehr zwischen „Kapital und Arbeit“ verläuft. Der Interessenkonflikt zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften wird heute und in Zukunft viel stärker als in der Vergangenheit vom Wettbewerb zwischen den Volkswirtschaften selbst überlagert. Damit ergibt sich für beide Seiten die Notwendigkeit, zu kooperieren und auf dem Feld der Arbeitbedingungen dafür zu sorgen, dass möglichst viele Arbeitsplätze rentabel sind. Eine grenzüberschreitende Tarifpolitik, die den Lohn als Wettbewerbsparameter ausschaltet, ist hierzu keine Alternative, weil die Interessen der Sozialpartner eng mit dem jeweiligen Standort verknüpft sind und sich angesichts des starken Wohlstandsgefälles zwischen den Volkswirtschaften derzeit nicht effektiv koordinieren lassen. Literatur Grundlegende Literatur Busch, Hans Werner (2003): Flächentarifvertrag und betrieblicher Differenzierungsbedarf in der Metall- und Elektro-Industrie. In: Industrielle Beziehungen, 10, S. 320í325.
III.1 Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber-, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften 257 Funk, Lothar (2006): Rolle und Zukunft der Arbeitgeberverbände in Europa. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 15-16/2006, S. 24í32. Haipeter, Thomas/Schilling, Gabi (2006a): Von der Einfluss- zur Mitgliedschaftslogik. Die Arbeitgeberverbände und das System der industriellen Beziehungen in der Metallindustrie. In: Industrielle Beziehungen, 13, S. 21í42. Schnabel, Claus (2005): Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände: Organisationsgrade, Tarifbindung und Einflüsse auf Löhne und Beschäftigung. In: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, 38, S. 181í196. Schroeder, Wolfgang (1996): Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 47, S. 601í615. Schroeder, Wolfgang/Silvia, Stephen (2003): Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. In: Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hrsg.): Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 244í270. Traxler, Franz (1999): Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Probleme der Verbandsbildung und Interessenvereinheitlichung. In: Müller-Jentsch, Walther (Hrsg.): Konfliktpartnerschaft: Akteure und Institutionen der industriellen Beziehungen. München/Mehring: Hampp (3. Aufl.), S. 57í78. Zimmer, Stefan (2002): Jenseits von Arbeit und Kapital? Unternehmerverbände und Gewerkschaften im Zeitalter der Globalisierung. Opladen: Leske + Budrich.
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
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Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Rudolf Speth
1
Einleitung
Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände gehören zu den zentralen und unverzichtbaren Elementen der deutschen Wirtschafts- und Sozialordnung. Sie sind konstitutiver Bestandteil des „Rheinischen Kapitalismus“, einer spezifischen Form des organisierten Kapitalismus, wie er sich in Deutschland in den letzten 150 Jahren herausgebildet hat. Mit ihren vier Spitzenverbänden sind sie einmalig und eine Besonderheit in der OECD-Welt: Sie organisieren die Interessen der Wirtschaft, vom kleinsten Handwerksbetrieb bis zum Weltkonzern – mit mehr als 3,5 Mio. Mitgliedsunternehmen. Ihn ihnen bündelt sich nicht nur das Interesse der Wirtschaft, sondern sie übernehmen – historisch gewachsen – Aufgaben des Staates, die dieser an die Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft übertragen hat. So verstehen sich diese Verbände nicht als reine Organisationen der Interessenvertretung, sondern sie sind Teil des politischen Systems geworden. Die Arbeitgeber und Wirtschaftsverbände haben sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu einem stabilisierenden Faktor der sozialen Marktwirtschaft und der demokratischen politischen Ordnung entwickelt. Noch in der Weimarer Republik hatten die Unternehmerverbände zur Zerstörung der Demokratie beigetragen. Doch trotz der personellen, konzeptionellen und programmatischen Kontinuität zur Weimarer Republik, die in der Aufbauphase der Bundesrepublik bestand, wurden die Unternehmerverbände zu einem Garanten der Stabilität in der Bundesrepublik Deutschland. In den sechs Jahrzehnten seit Gründung der Bundesrepublik haben sich die sozioökonomischen Bedingungen Deutschlands und die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen erheblich gewandelt. Diese Veränderungen bewirkten die Unternehmerverbände teilweise mit, indem sie das Interesse der Unternehmen an der Erschließung neuer globaler Märkte an die Politik herantrugen. Die ökonomischen und politischen Veränderungen nahmen in den letzten 15 Jahren an Tempo zu und können als eine Annäherung des Systems der koordinierten Ökonomie an das System der liberalen Marktökonomie angelsächsischer Prägung beschrieben werden. Diese Annäherung hat auch Konsequenzen für die Aufgaben und das Profil der Wirtschaftsverbände. Die Interessenlagen bei den Unternehmen pluralisierten sich, was zu zahlreichen Verbandsgründungen und -spaltungen führte. Viele Unternehmen agieren heute eigenständiger, in der Tarifpolitik wie in der Vertretung ihrer Interessen. Die Zahl der Stimmen im politischen Raum vervielfältigte sich und mit der Europäischen Union kam eine neue und zunehmend wichtiger werdende politische Entscheidungsebene hinzu. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Interessenvertretung als eine wichtige Funktion der Verbände – und besonders der Wirtschaftsverbände – weiterentwickelt und ausdifferenziert, so dass heute dieser Bereich stärker mit dem Begriff des Lobbying belegt wird. For-
III.2 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft
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mal ist Lobbying die Beeinflussung von politischen Entscheidungen durch Akteure, die an diesen Entscheidungsprozessen selbst nicht beteiligt sind. Im „Modell Deutschland“ waren die Wirtschaftsverbände sehr intensiv in die korporatistischen Strukturen der politischen Steuerung eingebunden, so dass von einem normalisierten Dauerkontakt zwischen Wirtschaftsverbänden und den staatlichen Entscheidungsträgern ausgegangen werden konnte. Mit der tendenziellen Auflösung korporatistischer Arrangements, der Professionalisierung der Politikbeeinflussung und der zunehmenden Zahl der politikbeeinflussenden Akteure in jedem Politikfeld gewinnt das Lobbying für die Wirtschaftsverbände größere Bedeutung. Nach wie vor sind die Wirtschaftsverbände eine mächtige und durchsetzungsstarke Stimme im politischen Raum. Wird es aber den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden gelingen, diese herausgehobene Stellung unter veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen nach dem Bedeutungsverlust der koordinierten Ökonomie weiter zu behaupten? Diese Frage lässt sich nicht einfach beantworten. Klarheit über die künftige Stellung der Wirtschaftsverbände und ihre Handlungsoptionen lässt sich nur vor dem Hintergrund aller Informationen über ihre Stellung im politischen System und in der Gesellschaft gewinnen. Deshalb werden die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in einem ersten Abschnitt vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung und ihrer Einordnung in das Wirtschaftsund Institutionensystem betrachtet (Teil 2). Danach werden die aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen beschrieben, vor denen die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände stehen: die Zunahme des Lobbyings und der lobbyistischen Akteure, die Veränderungen bei den Mitgliedern und die Europäisierung (Teil 3). 1 Daraus ergeben sich Handlungsoptionen, die das Überleben der Wirtschaftsverbände in einer veränderten ökonomischen und politischen Umwelt sichern können (Teil 4). 2
Bestandsaufnahme
2.1 Die Anpassung der Wirtschaftsverbände an die demokratische Ordnung Die besondere intermediäre Position und die spezifische Art des Lobbyings der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der Berliner Republik haben ihre Wurzeln zum einen in der Weimarer Republik, zum anderen in der Frühphase der Bonner Republik. In beiden Formierungsphasen ging es um die Neuordnung der Kräftebeziehungen und die Konstituierung von Wirtschaftsinteressen innerhalb einer demokratischen politischen Ordnung. In der Weimarer Republik bekamen die Wirtschaftsverbände durch die Erwähnung in der Weimarer Reichsverfassung einen verfassungsmäßig garantierten Rang. Und ihnen wurden, inspiriert durch die Wirtschaftslenkung während des Ersten Weltkrieges, hoheitliche Aufgaben übertragen, was einen erheblichen Kompetenzzuwachs bedeutete. Bereits in der Anfangsphase der Weimarer Republik gründete sich im April 1919 der „Reichsverband der Deutschen Industrie“ (RDI), die „Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ (VDA) war bereits 1913 zustande gekommen. Diese Grundstruktur konnte sich auch nach der nationalsozialistischen Zäsur in der Bonner Republik wieder etablieren.
1
Die Themenbereiche Kommunikation in der Mediengesellschaft und gesellschaftliche Aktivitäten der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände werden in einem eigenen Beitrag (siehe Rudolf Speth: „Grenzen der politischen Kommunikation von Unternehmensverbänden“ in diesem Band) behandelt.
262
Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Der Dreh- und Angelpunkt in der Weimarer Republik war für die Wirtschaftsverbände die Anpassung an die neuen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Die Novemberrevolution im Jahr 1918 hatte eine starke Stellung des Parlaments gegenüber der Wirtschaft und Zugeständnisse der Arbeitgeber an die Gewerkschaften und Arbeiter zur Folge. Im Verlauf der Weimarer Republik wurde versucht, diese Zugeständnisse, mit denen die Industriellen versucht hatten, eine revolutionäre Umgestaltung der marktwirtschaftlichen Ordnung zu verhindern, rückgängig zu machen. Einerseits wurde verstärkt Einfluss auf die Parteien genommen, um eine Rückkehr zu einer staatsfreien Wirtschaft zu erreichen. Der andere Weg war eine Verstärkung der lobbyistischen Aktivitäten in Richtung der Ministerialbürokratie. Die Interessenverbände, vor allem aus der Wirtschaft, übernahmen wichtige Funktionen der Interessenvermittlung, weil die Parteien in dieser Funktion teilweise ausfielen. Mit der Weimarer Republik stiegen die Parteien zugleich zu wichtigen Adressaten der Wirtschaftsverbände auf. Zum einen wurden bedeutende Verbandsfunktionäre Mitglieder in der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) sowie der Deutschen Volkspartei (DVP) und in den Reichstag gewählt. Zum anderen wurde der Einfluss auf politische Entscheidungen dadurch ausgedehnt, dass allen nichtsozialistischen Parteien (DNVP, DVP, DDP, BVP) Finanzhilfen gewährt wurden und damit ein „Industrieflügel“ aufgebaut wurde, in dem Abgeordnete zusammenfanden, um die Interessen der Industrie im Parlament selbst und in den Ausschüssen zu vertreten. Die Nationalsozialisten zerschlugen die Verbände und ordneten sie ihren machtpolitischen Zielen unter. Die Unternehmerverbände wurden zum Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) und die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (VDA) zum Reichsstand der Deutschen Industrie (ab November 1934 Reichsgruppe Industrie) zwangsvereinigt. In ihnen galt das Führerprinzip und es bestand Zwangsmitgliedschaft. Der Wiederaufbau der Unternehmerverbände nach 1945 war personell und programmatisch stark durch die Kontinuität zur Weimarer Republik geprägt. Es bildeten sich relativ rasch einflussreiche Dachorganisationen von BDI, DIHT und BDA, wobei der BDI unter Fritz Berg die Führungsrolle übernahm. Die Unternehmerverbände hatten mit ihren Eingaben, Denkschriften und Gutachten nach wie vor einen privilegierten Zugang zur Entscheidungszentrale, zur Bundesregierung. Aber erst nach der Neustrukturierung der Verbändelandschaft, insbesondere der Wirtschaftsverbände, wurden in den 1960er Jahren der Bundesrepublik die Methoden des Einflusses der Wirtschaftsverbände auf die Politik verfeinert. Drohungen gegenüber der Politik waren nicht mehr nötig, weil ein vielgestaltiges Einflussinstrumentarium entwickelt wurde. Die Orientierung der Wirtschaftsverbände an der Union als neuer konservativer Partei blieb ein Konstitutivum für die Interessenvertretung der deutschen Wirtschaft. Dies drückte sich in personellen Verbindungen aus. Viele Verbandsfunktionäre waren Mitglied der CDU oder übten ein Parlamentsmandat für diese Partei aus. Die Spitzenverbände der Wirtschaft (BDI, BDA, DIHT, ZDH) mit ihren Mitgliedern und die verschiedenen Branchenverbände haben im politischen System der Bundesrepublik einen gewichtigen Platz bei der Einflussnahme auf politische Entscheidungen inne. In der Geschichte der Bundesrepublik entwickelte sich eine enge Verflechtung der Wirtschaftsverbände mit den relevanten Ministerien. Die Beziehungsstruktur ist im § 23 der Gemeinsamen Geschäftsordnung (GGO) rechtlich kodifiziert. Die Wirtschaftsverbände nützen darüber hinaus weitere Kommunikationsformen (Beiräte, informelle Kontakte), so dass sogar von „Verbandsherzogtümern“ (von Beyme 1974: 112) in der Politik gesprochen wurde.
III.2 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft
263
2.2 Pluralistische und korporatistische Einbindung Die sozialwissenschaftliche Forschung versuchte die Beziehung der Verbände zu Politik und Gesellschaft mit zwei gegensätzlichen Konzepten zu erklären. Bis in die 1970er Jahre dominierte die Pluralismustheorie als Erklärung für die Verbindung der Verbände mit dem politisch-administrativen System. In der Pluralismustheorie werden die Verbände als legitime Teilnehmer am politischen Willensbildungsprozess gesehen. In Ernst Fraenkels neopluralistischer Theorie, die wesentliche Impulse der amerikanischen Pluralismustheorie aufnahm, wird das System der Interessenvermittlung aus einer demokratietheoretischen Perspektive betrachtet. Gesellschaftliche Interessenkonflikte – auch der Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit – werden als legitim angesehen und die Austragung von Konflikten unter Anerkennung rechtsstaatlicher Verfahrensregeln als ein normaler Weg der politischen Auseinandersetzung und als Mittel der gesellschaftlichen Integration anerkannt. Mit dem geometrischen Bild des Kräfteparallelogramms, das sich aus dem Ringen um Einfluss zwischen den Verbänden und mit den Parteien ergeben sollte, wird die Idee des Kräftegleichgewichts zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen beschrieben. Dieses neoliberale Modell regte zahlreiche empirische Forschungen über den Verbandseinfluss auf die staatliche Gesetzgebung und die Ministerialbürokratie an und trug so zu einem fundierten Wissen über die realen Einflussmöglichkeiten von Verbänden bei. Die Pluralismustheorie war lange das führende Paradigma in der Verbändeforschung. Weil diese Theorie jedoch gesellschaftstheoretische Blindstellen aufweist und keine Instrumentarien für die Analyse von Macht- und Herrschaftsmomenten liefern kann, kam es zu einer zunehmenden Kritik am Pluralismus sowohl von links als auch von konservativen Autoren. Aufgrund der dargestellten Defizite und des fehlenden gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsprinzips in der Pluralismustheorie wurde in der sozialwissenschaftlichen Verbändediskussion ab Mitte der 1970er Jahre das Konzept des Korporatismus als neuer dominierender Forschungsansatz inthronisiert. Er blieb bis Ende der 1990er Jahre das forschungsleitende Paradigma und hatte einen umfassenderen theoretischen Erklärungsanspruch. Das Konzept des Korporatismus ist eine Theorie, die die Besonderheiten koordinierter Ökonomien besser erklären kann als das Pluralismuskonzept. Und sie ist besser geeignet, die Pfadabhängigkeit der Einbindung der Verbände in staatliche Entscheidungsmechanismen und die gesamtgesellschaftliche Steuerung präzise zu beschreiben. Es ist gerade der Vorteil der Korporatismustheorien, dass darin die Funktionen der Verbände in steuerungstheoretischer Perspektive gedacht werden. Als private Interessenregierungen erbringen Verbände Ordnungsleistungen und stiften damit öffentlichen Nutzen. Mit dem Aufsatz „Still the Century of Corporatism?“ (1974) von Philippe C. Schmitter setzte die Diskussion intensiv ein. Der Korporatismus wurde definiert als ein „System der Interessenrepräsentation, in dem sich die Interessenträger – im Gegensatz zu pluralistischen Vorstellungen – in einer begrenzten Anzahl von einzelnen, nichtkonkurrierenden, hierarchisch organisierten und funktional differenzierten Gruppen“ (Höpner 2003: 19) zusammenschließen. Den Verbänden – besonders den Unternehmerverbänden – wird in dieser Theorie ein privilegierter Platz zugewiesen. Mit ihnen eröffnen sich „erwünschte Optionen sozialer und politischer Steuerung“ (Czada 1994: 38). Neben der konstitutiven Rolle des Staats beruht der Korporatismus nach Streeck (1994) auf vier weiteren Prämissen: Die Verbände repräsentieren die Interessen nicht, sondern formieren, filtern und definieren sie.
264
Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Die Verbände sind keine Lobbys, die Partikularinteressen vertreten, sondern gemeinwohlorientierte Akteure. Mit einem korporatistischen Arrangement werden komplexe Umwelten ausbalanciert und korporatistisch organisierte Ökonomien hätten sich schließlich als stabiler und funktionsfähiger herausgestellt. In der Variante der Korporatismustheorie, die Gerhard Lehmbruch und andere vertraten, werden Strukturhomologien zwischen den Verbänden und dem politisch-administrativen System bestimmter Länder wie beispielsweise der Bundesrepublik Deutschland beschrieben. In dieser Sichtweise besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Formen der korporatistischen Interessenvermittlung und den Strukturen verhandlungsdemokratischer Systeme. Unterstellt wird hier eine gemeinsame Entwicklung des politisch-administrativen Systems und der Verbändelandschaft, zu der das beide gleichermaßen prägende Moment sozialstruktureller Konfliktlinien hinzugedacht wird (vgl. Reutter 2001b: 19). Die neuere Forschung zu den Wirtschaftsverbänden beschäftigt sich mit den Folgen der Auflösung des korporatistischen Arrangements und dem Ende der „Deutschland AG“. Streeck untersuchte die Folgen des Endes des „korporatistischen Elitenkartells“. Ergebnis sei die „Herauslösung der corporate hierarchies der großen Unternehmen aus korporatistischen Bindungen und politischen Verpflichtungen“ (Streeck 2006: 174). Dies ginge einher mit einer Schwächung der Wirtschaftsverbände und einer stärker werdenden politischen Rolle der – vor allem großen – Unternehmen. Deshalb interessierten besonders die Entwicklungstrends, die bei der Modernisierung der Verbände und beim Wandel der Organisations- und Mobilisierungsmuster zu beobachten sind (Sebaldt/Straßner 2004). In charakteristischer Absetzung vom korporatistischen Mainstream der Forschung betonte Sebaldt den pluralistischen Charakter des bundesrepublikanischen Verbandssystems (Sebaldt 1997) und sah in der Pluralisierung der deutschen Verbandssysteme auch einen generellen Entwicklungstrend westlicher Verbandssysteme. Diese Entwicklungstrends lassen sich umso besser herausarbeiten, je stärker vergleichend die Forschung vorgeht. In dieser Hinsicht werden die Wirtschaftsverbände in einer westeuropäischen Vergleichsperspektive beurteilt (Reutter 2001a; Sebaldt/Straßner 2004) und wird eine Homologie zwischen der politischen Institutionenstruktur und der verbandlichen Struktur festgestellt. Dabei werden insbesondere die länderspezifischen Verbindungen zwischen den Verbänden und dem politischen System hervorgehoben. Durch die Europäisierung und Globalisierung verändert sich das Verhältnis der Wirtschaftsverbände zur Politik und zur Gesellschaft zunehmend. Unter den Stichworten Europäisierung (Eising/Kohler-Koch 2004) und Globalisierung werden Anpassungsstrategien der Verbände an die sich verändernde Umwelt diskutiert. Diese haben auch Auswirkungen auf die verbandlichen Reorganisationsprozesse. 3
Aktuelle Entwicklungen
3.1 Die veränderte Stellung der Wirtschaftsverbände im politischen System Die steigende Anzahl der Verbände und damit die funktionale Ausdifferenzierung des intermediären Systems ist eines der hervorstechendsten Merkmale der letzten Jahrzehnte. So nahm die Gesamtzahl der registrierten Verbände auf der „Lobbyliste“ des Deutschen Bun-
III.2 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft
265
destages von 635 im Jahr 1974 auf 1896 im Mai 2005 zu. 2 Allerdings wächst die Zahl der Wirtschaftsverbände weit weniger schnell als die der Verbände aus anderen Bereichen (Kultur, Sport, NGOs, Wohlfahrt etc.). Die Auszählungen der „Lobbyliste“ des Deutschen Bundestages von Sokolowski (2005) und Sebaldt (1997: 83) ergaben für den Zeitraum zwischen 1974 und 2004 einen deutlich langsameren Anstieg bei den Wirtschaftsverbänden (Abbildung 1). Es gab einen Anstieg von 337 im Jahr 1974, dem Beginn der Erhebung, auf 629 Wirtschaftsverbände im Jahr 2004. Zu dieser Zahl kommen Organisationen, die Wirtschaftsinteressen vertreten, aber keine klassischen Verbände sind (Arbeitsgemeinschaften mit meist direkter Mitgliedschaft von Unternehmen). Allein 2004 waren 94 dieser Organisationen beim Deutschen Bundestag in der „Verbändeliste“ akkreditiert. Allerdings kommt diesen organisatorischen Sonderformen eine wachsende Bedeutung zu, da sich ihre Zahl im Verlauf von zehn Jahren verdoppelte (Sokolowski 2005: 39). Aufgrund der ökonomischen Entwicklung kam es zu einer inhaltlichen und funktionalen Ausdifferenzierung der Verbändelandschaft, zur Neugründung von Verbänden (z. B. BITKOM für den Telekommunikationsbereich) und zur Teilung eines Verbandes in mehrere neue Verbände wie im Pharmabereich. Somit ergibt sich für das Jahr 2004 eine Gesamtzahl von 723 Wirtschafts verbänden. Doch der prozentuale Anteil der Wirtschaftsverbände an der Gesamtzahl der akkreditierten Verbände verringerte sich. Abbildung 1:
Anzahl der akkreditierten Verbände auf der „Lobbyliste“ des Deutschen Bundestages
2000
Anzahl akkreditierter Verbände
1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200
19 74 19 75 19 76 19 77 19 78 19 79 19 80 19 81 19 82 19 83 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04
0
Anzahl akkreditierter Verbände
Anzahl akkreditierter Unternehmensverbände
Quelle: Sokolowski 2005: 33.
2
Öffentliche Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern. Vom 30. April 2005. Bundesanzeiger, Jahrgang 57, Nr. 144a, ausgegeben am 3. August 2005. Die „Lobbyliste“ wird kontrovers bewertet (siehe Sokolowski 2005: 32 ff.).
266
Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Hinzu kommt eine teilweise Verlagerung der Interessenvertretung nach Brüssel mit der Gründung von Brüsseler Büros und europäischen Verbänden (Euro-Feds). Die Vielfalt der Wirtschaftsverbände nahm zu, während gleichzeitig die Spitzen- und Dachverbände der Wirtschaft die gewohnte Struktur bieten: Nach wie vor sind der BDI, die BDA, der DIHK und der ZDH die wichtigsten Akteure auf der Berliner Bühne und Ansprechpartner der Politik. Hinzu kommen eine wachsende Zahl von Branchen- und Fachverbänden und zahlreiche nichtverbandliche Lobbyakteure. Auch auf der Seite der Mitglieder kommt es zu Veränderungen. Die Mitglieder werden anspruchsvoller und sind teilweise weniger zufrieden mit der Arbeit ihrer Verbände. So ergab eine repräsentative Befragung des ifo-Instituts unter Unternehmen, die freiwilliges Mitglied einer Wirtschaftsorganisation sind, dass sich jedes vierte Mitglied mit dem Gedanken eines Austrittes aus dem Verband trägt (Wirtschaftswoche vom 4.11.2004, S. 23). Angesichts geschätzter 2 Mrd. Euro an Beiträgen, die die Unternehmen jährlich für ihre Mitgliedschaft in den Arbeitgeber- und Fachverbänden, Handwerkskammern und Industrie- und Handelskammern (IHKn) aufbringen, ist die Frage nach der Dienstleistungsqualität der Verbände nahe liegend. Nach der Erhebung des ifo-Instituts verschlechterte sich die Zufriedenheit mit der Dienstleistung innerhalb eines Jahres von 2,8 auf 3,2 (gemessen in Schulnoten von 1 bis 6). Auch die Bewertung der politischen Arbeit der Spitzenverbände ging zurück: von 2,7 auf 3,0 beim BDI, von 3,4 auf 3,5 beim DIHK, von 3,2 auf 3,5 bei der BDA und von 3,5 auf 3,8 beim ZDH. Insgesamt hielten rund 60 Prozent eine Fusion zweier oder mehrerer Spitzenverbände für sinnvoll. Die Befragten schätzten den politischen Einfluss der Verbände als eher mittel bis gering (73 Prozent) ein. Nur neun Prozent wollten einen hohen Einfluss auf die Politik erkennen. Nicht nur diese Daten, sondern vor allem das sinkende Aufkommen an Mitgliedsbeiträgen aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage vieler Mitglieder zwingt die Verbände zur Reorganisation und Verschlankung der Strukturen. Dies schlägt sich zuallererst in einer sinkenden Zahl der Mitarbeiter nieder. So hat der DIHK die Zahl seiner Mitarbeiter von 215 auf 188 gesenkt, beim BDI sind 145 und beim ZDH 70 Personen beschäftigt. 3 3.1.1 Europäisierung Die Europäisierung der Politik setzt die Wirtschaftsverbände dem Zwang aus, sich dieser teilweisen Verlagerung politischer Entscheidungen anzupassen. Dabei geht es nicht einfach um eine Europäisierung der Arbeit der Wirtschaftsverbände, sondern um die Anpassung an die spezifischen Gegebenheiten des EU-Institutionen- und -Entscheidungssystems. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986, den Verträgen von Maastricht im Jahr 1992 und Amsterdam 1997 wurden die vergemeinschafteten Politikbereiche ausgebaut, wobei insbesondere in der „Säule I“ 4 Politikbereiche versammelt sind, die die Wirtschaftsverbände zu einer stärkeren Europäisierung ihrer verbandlichen Arbeit zwingen. Je nach Politikbereich kommen die Impulse für die nationale Gesetzgebung und Regulierung zu zwischen 13 Prozent (Inneres) und 80 Prozent (Umwelt) aus Brüssel (Töller 2008). Aufgrund des „struk3 4
Eigene Erhebung, Dezember 2005. In der „Säule I“ (Europäische Gemeinschaften) sind u. a. folgende Politikbereiche zu finden: Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, Wettbewerbspolitik, Handelspolitik, Steuerpolitik, Beschäftigungspolitik, Forschungs- und Technologiepolitik sowie Umweltpolitik.
III.2 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft
267
turellen Kompetenzwirrwarrs“ und der Mehrebenenpolitik entwickelte sich auch auf der Seite der Verbände ein „lobbyistisches Mehrebenensystem“ (Sebaldt/Straßner 2004: 258), mit dem die Wirtschaftsverbände ihr Lobbying auf europäischer, nationaler und subnationaler Ebene zu koordinieren versuchen. Am besten kommen solche Verbände mit dieser Situation zurecht, die auf mehreren politischen Ebenen präsent sind. Sie verfügen über ausreichende Handlungskapazitäten sowie personelle und materielle Ressourcen, um auf allen Ebenen und besonders auf der Brüsseler Ebene präsent zu sein. Die zu beobachtende Fragmentierung der Wirtschaftsinteressen auf der Brüsseler Ebene verhindert jedoch oftmals ein optimales Lobbying: „market power does not automatically translate to political power“ (Greenwood 2003:74). Die korporatistisch geprägten deutschen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände haben weniger Probleme damit, sich im EU-Mehrebenensystem zu bewegen, als etatistische Verbände beispielsweise französischer Prägung. Die deutschen Verbände sind Mitglied europäischer Verbände wie der UNICE (Union of Industrial and Employers’ Confederations of Europe), den EUROCHAMBRES (Associations of European Chambers of Commerce and Industry), der UEAPME (European Association of Craft, Small and Medium-sized Enterprises). Hinzu kommt, dass die Branchenverbände, die wie der VDMA Mitglied im BDI sind, auf der europäischen Ebene auch Mitglied in europäischen Branchenverbänden, den FEBIs (Féderations Européennes des Branches Industrielles), sind. Darüber hinaus unterhalten die deutschen Wirtschaftsverbände eigene Büros in Brüssel. Während das UNICE-Büro 48 Mitarbeiter umfasst, beschäftigen der BDI und die BDA in ihrer gemeinsamen Brüsseler Repräsentanz 10 Personen und die Repräsentanz des DIHK 19 Personen (2001 hatte der DIHK 5 Mitarbeiter im Brüsseler Büro). BITKOM als neuer Branchenverband hat nur einen Mitarbeiter als Beobachter. Europäische Branchenverbände verfügen über eigene große Vertretungen, wie den CEFIC (European Chemicals Industry Council) mit 80 Personen. Hinzu kommt der ERT (European Round Table of Industrialists), in dem die CEOs der 100 größten europäischen Industrieunternehmen versammelt sind. Dieser Vielfalt an Möglichkeiten, politischen Einfluss auf die Kommission, das Parlament und den Europäischen Rat auszuüben, die unter dem Namen Multi-Voice-Lobbying diskutiert wird, stehen Gefahren für und Versäumnisse durch die nationalen Wirtschaftsverbände gegenüber, die sich in der unübersichtlichen Struktur verbergen. Die Wirtschaftsverbände haben sich bislang nicht wirklich europäisiert. Sie haben zwar Dependencen in Brüssel und sind Mitglied in den europäischen Verbänden, doch die Verbandsarbeit ist immer noch nationalstaatlich und territorial orientiert. Zudem war die Verbandsarbeit organisatorisch bislang wenig auf Brüssel hin ausgerichtet, so dass das lobbyistische Frühwarnsystem nicht optimal funktionierte. Hinzu kommt der mächtige Chor von 25.000 Lobbyisten in Brüssel, in dem die Wirtschaftsverbände nur wenige Stimmen unter vielen anderen haben. Der Verlust des Vertretungsmonopols und die abnehmende Bedeutung des Verbändelobbyings auf europäischer Ebene bekommt durch die wachsende Konkurrenz aus Firmenrepräsentanzen, Public Affairs Consultants, angelsächsischen Law Firms, Interessenvertretungen außereuropäischer Länder5 und Public Interest Groups eine besondere Dynamik. Die Unternehmen machen den Verbänden nicht nur durch eigene Repräsentanzen Konkurrenz, sondern auch durch die direkte Mitgliedschaft in der UNICE,
5
Die amerikanische Handelskammer (AMCHAM-EU) ist in Brüssel mit einem Büro mit 20 Personen präsent und fungiert als die Stimme der 130 größten amerikanischen Unternehmen in Brüssel.
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
in der seit 1989 eine UNICE Advisory and Support Group (UASG) aus Unternehmen besteht, womit die satzungsgemäße ausschließliche Verbändemitgliedschaft umgangen wird. Tabelle 1: Mitgliedschaft deutscher Verbände in europäischen Organisationen Europäische Verbände
Deutsche Mitglieder
Union of Industrial and Employers’ Confederations of Europe (UNICE)
BDI, BDA
UNICE Advisory and Support Group (UASG)
BASF, Bayer, Bosch, DaimlerChrysler
European Chemicals Industry Council (CEFIC)
VCI, BASF, Bayer, Degussa, Wacker
European Federation of Pharmaceutical Industry Associations (EFPIA)
Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA), Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie
Council of European Employers of the Metal, Engineering and Technology-Based Industries (CEEMET)
Gesamtmetall
European Round Table of Industrialists (ERT)
Gerhard Cromme (ThyssenKrupp), Wulf Bernotat (E.ON), Jürgen Hambrecht (BASF), Peter Löscher (Siemens), René Obermann (Deutsche Telekom), Leo Apotheker (SAP)
EUROCHAMBRES
DIHK
European Association of Craft, Small and Medium-sized Enterprises (UEAPME)
ZDH, Bundesverband der Selbständigen/Deutscher Gewerbeverband
European Engineering Industries Association (EUnited)
VDMA
European Information and Communications Technology Industries Association (EICTA)
BITKOM, Blaupunkt, EADS, Infineon, Loewe, SAP, Siemens
The European Engineering Industries Association (ORGALIME)
VDMA, ZVEI, WSM (Wirtschaftsverband Stahl und Metallverarbeitung)
3.1.2 Wachsende Konkurrenz Das angestammte Vertretungsmonopol gegenüber der Politik wird den Wirtschaftsverbänden auch in der nationalen Politikarena streitig gemacht. In den letzten Jahren sind eine Reihe von Konkurrenten auf diesem Feld aufgetaucht, die es den Verbänden zunehmend schwerer machen, ihre Stellung im politischen System exklusiv zu gebrauchen. An erster Stelle stehen die Unternehmensrepräsentanzen, die sich in der Berliner Republik stark vermehrt haben. Es gab bereits in Bonn einige Unternehmensvertretungen, die Lobbyaufgaben wahrnahmen, doch in Berlin werden rund 80 Repräsentanzen gezählt, deren personelle Stärke zwischen drei bis vier Mitarbeitern und über 20 Mitarbeitern schwankt. Unternehmen suchen damit parallel zu den Verbänden den direkten Zugang zu Ministerien und Fraktionen. Die rot-grüne Bundesregierung hatte mit Kommissionen und Kanzlerrunden mit den Konzernchefs eine eigene Methode entwickelt, um Politik vorbei an den Verbänden zu machen. Doch nicht nur die Firmenrepräsentanzen und die Branchenverbände machen den Spitzenverbänden zunehmend Konkurrenz im Lobbying. Hinzu kommen neue Lobbydienstleister wie Law Firms und Public-Affairs-Agenturen. In Berlin zeigt sich eine Ent-
III.2 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft
269
wicklung, die in Washington etabliert ist und inzwischen in Brüssel auch Fuß gefasst hat. Große, international aufgestellte Law Firms bieten neben ihrem normalen anwaltlichen Sachverstand auch Lobbying als Dienstleistung an. In Berlin gibt es rund ein Dutzend Anwaltsfirmen, die neben ihrem „normalen Geschäft“ auch Lobbying betreiben. Dieses Angebot richtet sich besonders an Unternehmen, die beispielsweise bei kartellrechtlichen Problemen oder bei Mergers & Acquisitions die Rückendeckung der Politik benötigen. Solche weltweit operierenden Rechtskonzerne, die gerne auch ausgeschiedene Politiker als Türöffner aufnehmen, sind oft spezialisiert auf komplizierte und neuartige Rechtsgebiete wie Gesundheits-, Energie-, Telekommunikations- und Arbeitsrecht. Von solchen Law Firms kommen nicht nur Beratungsleistungen, sondern zunehmend auch konkrete Dienstleistungen wie Gesetzesentwürfe und die strategische Beratung zu deren Durchsetzung. Hinzu kommen rund 30 Public-Affairs-Agenturen in Berlin, die vielfältigste Dienstleistungen anbieten, vom klassischen Lobbying über die Strategieberatung bis hin zur Kommunikationsberatung. Sie richten ihr Angebot auch an Verbände, wobei es besonders von kleineren Verbänden in Anspruch genommen wird. Diese Agenturen, in denen vermehrt auch Anwälte arbeiten, bieten einen umfassenden Service für Lobbyingfälle, der neben der Dienstleistung für die klassischen gesetzestechnischen Fragen auch die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch PR beinhalten kann. Solche privaten Dienstleister ergänzen einerseits die Arbeit der Verbände. Sie stehen andererseits in einem Konkurrenzverhältnis zu den Verbänden, weil sie den Mitgliedern der Verbände Lobbyingdienstleistungen direkt anbieten. In jedem Fall aber wird dadurch die Vertretungsstruktur pluralisiert. 3.1.3 Instrumente des Lobbyings Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände haben aufgrund der historisch gewachsenen Staat-Verbände-Beziehung immer noch einen privilegierten Zugang zur Politik. Und sie können ihre Forderungen mit einem gewissen Maß an Legitimität vorbringen, weil sie nach wie vor für eine große Mehrheit der Unternehmen sprechen. Das pfadabhängige enge Verhältnis zwischen Staat und Verbänden ist kodifiziert in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Ministerien (GGO). Im besonderen Teil (GGO II) werden die Beziehungen der Ministerien zu den Interessengruppen geregelt. Im Paragraph 24 wird festgelegt, dass die Verbände bereits frühzeitig, wenn ein Referentenentwurf vorliegt, in die Gesetzgebung miteinbezogen werden können. Die Verbände werden dadurch über Gesetzgebungsvorhaben offiziell informiert. Für die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände existieren zwei weitere, gesetzlich geregelte Formen der Einbindung in den Prozess der Gesetzgebung. In beinahe allen Ministerien gibt es Expertenbeiräte aus Wissenschaft und Verbänden. Diese Beiräte werden über politische Vorhaben und gesetzliche Regulierungsabsichten unterrichtet, so dass die Verbände auch hierüber in den Politikprozess eingebunden sind. Die Referenten der Verbände, meist Spezialisten auf ihrem Gebiet, verfügen über langjährig gewachsene Beziehungen zu den jeweiligen Referaten in den Ministerien und im Kanzleramt. In diesen quasi natürlichen Verbindungen zu Ministerien und Fraktionen vollzieht sich die Kommunikation in zwei Richtungen. Die Referenten richten ihre Informationen nicht allein an die Ministerialbeamten und Fraktionsmitarbeiter, sie werden von dort
270
Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
auch um Informationen, Bewertungen und Stellungnahmen gebeten. Damit wuchsen über die Jahre Politiknetzwerke, die sich besonders in komplexen Politikfeldern wie der Rentenund Gesundheitspolitik, der Telekommunikation oder dem Arbeitsrecht bewähren. Nur durch solche informellen und nichtöffentlichen Netzwerke, die durch Clubs, Einladungen und regelmäßige Kontaktpflege stabilisiert werden, funktioniert der formelle, verfahrensgesteuerte und öffentliche Politikprozess. Es gibt auch eine weiter gehende Verflechtung zwischen Ministerialbürokratie und Interessengruppen. Nach Benzner (1989: 328) verfügten im Zeitraum zwischen 1949 und 1984 zwei Drittel der CDU/CSU- und FDP-orientierten Spitzenbeamten über enge Beziehungen zu wirtschaftlichen Interessengruppen. Höchst selten ist aber von einem Wechsel von Verbandspersonal in die Ministerien die Rede, auch wenn es vorkommt, dass Verbandsvertreter in Ministerien abgeordnet werden, um bei der Formulierung von Gesetzesentwürfen behilflich zu sein. 3.1.4 Wirtschaftsverbände im politischen System: Parteien, Parlament, Verbandsvertreter Die Beziehungen zwischen Verbänden, Parteien und Regierungssystem werden in der Interessengruppenforschung kontrovers diskutiert. Je nach theoretischer Richtung – Pluralismus oder Korporatismus – werden ihnen unterschiedlich umfangreiche Funktionen als Notwendigkeit für das politische System zugeschrieben. Gegenüber allzu rigiden Demokratiekonzeptionen, die auf die Gleichheit der Bürger im Akt der Wahl abstellen, legitimiert sich die Beteiligung der Verbände – und besonders auch der Wirtschaftsverbände – am politischen Prozess durch die Integration wichtiger gesellschaftlicher Gruppen an der Formulierung und Umsetzung politischer Entscheidungen. Die Wirtschaftsverbände haben nach wie vor einen erheblichen Anteil an der Politikausführung und an der staatlichen Handlungsfähigkeit. Die Regierungsfähigkeit des politisch-administrativen Systems beruht auch darauf, dass die Wirtschaftsverbände ihre Funktionen erfüllen, ohne sofort von einem „öffentlichen“ Status der Verbände sprechen zu müssen. Die Wirtschaftsverbände sind ein zentrales Element des Systems der funktionalen Interessenvermittlung und unterstützen den Staat bei der Formulierung von Politik und beim Vollzug politischer Entscheidungen. Sie stellen eigenes Expertenwissen und gebündeltes Spezialwissen aus den Mitgliedsfirmen, den Branchen- und Fachvereinigungen sowie gebündelte Daten aus der Gesamtheit der Mitgliedschaft bereit und verbessern dadurch die Qualität politischer Entscheidungen. Gegenüber Einzelinteressen, die von Unternehmen gegenüber den politischen Entscheidungsinstanzen vorgebracht werden, haben die durch Verbände aggregierten Interessen der Wirtschaft, bestimmter Branchen oder Segmente (Mittelstand, Handwerk, Außenhandel, Industrie, Dienstleistung) den Vorteil, dass eine breit getragene und fundierte Interessenposition schlagkräftig vorgebracht und so unangemessenen Politikergebnissen vorgebeugt werden kann. Darüber hinaus erzielt staatliches Handeln Legitimationsgewinne, d. h. mehr Anerkennung und Unterstützung staatlicher Maßnahmen, wenn den Wirtschaftsverbänden im Sinne der korporatistischen Tauschlogik Einfluss auf politische Entscheidungen eingeräumt wird. Neben der unterschiedlich bewerteten Ordnungsfunktion haben die Wirtschaftsverbände auch eine Orientierungsfunktion gegenüber den eigenen Mitgliedern und der Gesellschaft. Diese geht über die Funktionen der Information und Legitimation von gemeinsam getroffenen Entscheidungen hinaus.
III.2 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft
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Von besonderer Bedeutung sind die Verbindungen der Wirtschaftsverbände zu den Parteien. Zwischen diesen beiden Formen politischer Organisationen, die unterschiedliche Zielsetzung haben, gibt es charakteristische Interaktionsmuster. Während die Parteien sich am politischen Wettbewerb um Mandate beteiligen und einen allgemeinen politischen Gestaltungs- und Integrationsauftrag haben, geht es bei den Verbänden – insbesondere bei denen der Wirtschaft – um die Organisierung und Artikulation sektoraler Interessen. Trotz dieser unterschiedlichen Zielsetzungen hat sich ein charakteristisches Muster der Interaktion herausgebildet. Schiller spricht von einem Grundmuster der „Parteien-Verbände-Integration“ (Schiller 1997: 465), das sich zwar mittlerweile abgeschwächt hat, aber als Kooperationsmodell der „Interessenkoalition“ zwischen bestimmten Parteien und Verbänden immer noch strukturprägend wirkt. Diese Integration umfasst erstens die organisatorische Verflechtung (von Mitgliedern, Führungspersonal, Finanzen und sonstigen Organisationsressourcen), zweitens die Herausstellung und Pflege einer ideologisch-programmatischen Verwandtschaft, drittens die direkte Vertretung von Interessen der jeweiligen Verbände im parlamentarischen Raum und viertens die Unterstützung bei der Wahl durch die Mobilisierung der eigenen Mitglieder und der nahe stehenden Wählergruppen. Diese Interessenkoalitionen von Verbänden mit Parteien haben sich in den letzten Jahrzehnten jedoch deutlich abgeschwächt. Unter dem Stichwort der Verbandsfärbung des Deutschen Bundestages lässt sich der Grad der Verflechtung genauer bestimmen. Der Anteil der Verbandsfunktionäre an den Mitgliedern des Deutschen Bundestages nahm von der 2. bis zur 9. Wahlperiode von 45 Prozent auf rund 19 Prozent ab (Weßels 1987: 300). Jüngere Untersuchungen belegen einen weiteren Rückgang von Funktionären politischer und gesellschaftlicher Organisationen in der 13. bis 16. Wahlperiode. Während ihr Anteil von 13,2 Prozent auf 11,9 Prozent sank, was vor allem auf das Ausscheiden von Gewerkschaftsangestellten zurückzuführen ist, stieg der Anteil der Angestellten aus Wirtschaftsunternehmen (Deutsch/Schüttemeyer 2003: 28). Es finden sich heute nur noch wenige Funktionäre der Spitzen- und Fachverbände der Wirtschaft im Deutschen Bundestag und in den Länderparlamenten. Nach wie vor aber gibt es die besondere Nähe der Arbeitgeber- und Wirtschaftverbände zur CDU und zur FDP, so dass teilweise von einer „Interessenkoalition“ (Schiller 1997: 465) auszugehen ist, die durch personelle Querverbindungen verstärkt wird. Diese Nähe drückt sich zum einen darin aus, dass mit der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU und mit dem Wirtschaftsrat Deutschland in den Unionsparteien einflussreiche Gruppierungen existieren, die die Interessen der Wirtschaftsverbände, des Mittelstandes, des Handwerks und der Industrie wirksam vertreten. Insbesondere im Wirtschaftsrat finden sich neben zahlreichen Bundestagsabgeordneten auch Personen aus Unternehmen, die zusammen die Wirtschaftspolitik der Unionsparteien zu gestalten versuchen. Zum anderen gibt es immer noch zahlreiche Bundestagsabgeordnete, die durch ihre berufliche Tätigkeit vor der Abgeordnetentätigkeit deutliche Verbindungen zum Interessenfeld der Arbeitgeberund Wirtschaftsverbände aufweisen. Auf einer allgemeinen Ebene konnte für die 7. bis 10. Wahlperiode bei 40 Prozent der Abgeordneten von CDU/CSU eine starke Affinität zu den Wirtschaftsverbänden der Industrie und des Mittelstandes festgestellt werden. In den Ausschüssen des Deutschen Bundestages für Wirtschaft, Finanzen und Haushalt konzentrieren sich Abgeordnete mit starken Affinitäten zu den Wirtschaftsverbänden und Verbandsvertreter. Daher kann hier immer noch von einem kommunikativen Netzwerk
272
Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
von informellen Kontakten ausgegangen werden. Dennoch ist der Trend der abnehmenden Verbandsfärbung des Deutschen Bundestages unverkennbar. Tabelle 2: Verbandsfärbunga des Deutschen Bundestages Wahlperiodeb
Gesamtzahl Vereinigungen der im WirtschaftsAbgeordneten und Arbeitsbereich gesamt
davon Arbeitnehmerorganisationen
Industrie- und Arbeitgeberverbände
Mittelständische Verbände
abs.
%
abs.
%
abs.
%
abs.
%
7 (1972-76)
518
152
36,4
85
16,3
29
5,6
38
7,3
8 (1976-80)
518
144
27,8
83
16,0
23
4,4
38
7,3
9 (1980-83)
519
167
32,2
86
16,5
25
4,8
56
10,7
10 (1983-87)
520
132
25,4
66
12,7
17
3,3
49
9,4
11 (1987-90)
519
61
17,7
15
2,9
16
3,1
30
5,8
12 (1990-94)
662
63
9,6
16
2,4
19
2,9
28
4,2
13 (1994-98)
672
62
9,2
33
4,9
11
1,6
18
2,7
14 (1998-02)
669
63
6,4
26
3,9
13
1,9
24
3,6
15 (2002-05)
603
50
8,3
17
2,8
10
1,7
23
3,8
16 (2005-09)
614
48
7,9
28c
4,6
10
1,6
10
1,6
a Mehrfachnennung möglich, bis 1990 einschließlich der Abgeordneten aus Westberlin; 1987: Änderung der Anzeigepflichten. b Bei der 8. Wahlperiode Stand Juli 1979, im Übrigen Beginn der Wahlperiode. c Die höheren Zahlen bei den Gewerkschaftsvertretern beruhen auf den Abgeordneten der PDS/WASG, die im Vorberuf Gewerkschaftssekretär waren (für die PDS/WASG 11 Abgeordnete). Methodische Anmerkung: Nur haupt- und ehrenamtliche Verbandsfunktionen, eine bloße Mitgliedschaft wurde nicht gezählt. Nicht erfasst wurden die Verbände der freien Berufe und andere Interessenverbände. Quelle: Schindler 1999: 719 f., eigene Berechnungen.
Dies lässt sich auf eine Reihe von Ursachen zurückführen, die im Allgemeinen Veränderungen im Parteien- und Verbändesystem und im Besonderen die Beziehungen zwischen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden und Parteien betreffen. In der Parteienforschung ist nach wie vor umstritten, ob die Parteibindung generell nachgelassen hat und die zunehmend zum Wechsel bereiten Wähler einen generellen Verlust an Loyalität bei den Parteien herbeigeführt haben. Im Gegensatz zur Weimarer Republik verstanden sich in der Bundesrepublik die Parteien von Anfang an nicht mehr als Repräsentanten eines bestimmten politischen Lagers und der damit verbundenen Verbände. Die beiden großen Parteien entwickelten sich immer mehr zu Volksparteien, so dass die Wirtschaftsverbände zwar mit den christdemokratischen Parteien und den Liberalen eine Interessenkoalition bildeten, aber keine direkten Repräsentanten im Parlament hatten. Mit der Herausbildung der Kartellparteien vergrößerte sich seit den 1970er Jahren die Kluft zwischen den Verbänden und Parteien. Mit einer Mobilisierung der eigenen Mitglieder konnten die Wirtschaftsverbände traditionell kaum aufwarten,
III.2 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft
273
da ihre Mitglieder zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen und die Mitgliedschaft über das Unternehmen und nicht über den Unternehmer als Person besteht. Für die schwächer werdende Verflechtung zwischen Parteien und Wirtschaftsverbänden lassen sich weitere Gründe benennen. Sie ist ein Ergebnis der Professionalisierung der Politik und wurde von den Parteien auch bewusst herbeigeführt. Die Professionalisierung der Politik vollzog sich zwar zunächst über die Verbände, doch die politischen Karrierewege werden inzwischen immer häufiger jenseits der Verbände gestartet und ein Wechsel von den Verbänden in die Politik und umgekehrt wird seltener. Die Entflechtung gegenüber den Verbänden ist aber auch eine strategische Entscheidung der Parteien, die sich dadurch mehr Handlungsspielraum gegenüber den organisierten Interessen erhoffen. Am Beispiel des Deutschen Bauernverbandes kann diese Schwächung der Beziehung sehr gut nachvollzogen werden. Die Gründe liegen aber auch im Parteiensystem selbst. Die an Stimmen, Ämtern sowie Machterhalt oder -gewinn orientierten Parteien richten ihre Programme und Strategien nicht an Klassen oder Milieus, sondern direkt an den Präferenzen der Wähler aus. So orientieren sich die großen Parteien an der „social-protecionist majority“ (Kitschelt/Streeck 2004: 26) der Wähler, weil sie wissen, dass die Wähler Status-quo-orientiert sind, und verfolgen eine Politik, die den Forderungen der Wirtschaftsverbände durchaus diametral entgegenstehen kann. Wo sie dies nicht tun, wie die CDU im Wahlkampf des Jahres 2005, werden sie von den Wählern abgestraft. Zudem sprechen in der Mediengesellschaft die Parteien die Wähler über die Medien an und benötigen die Verbände nicht länger als Transmissionsriemen. Hinzu kommt die Schwächung der Verbände durch interne Konflikte. Es gibt auf der einen Seite Konflikte zwischen den Wirtschaftsverbänden – beispielsweise zwischen BDI und BDA – über den Kurs in der Sozialpolitik und zum anderen Konflikte in den Verbänden zwischen großen Unternehmen, die zumeist die Strategie des Verbandes bestimmen, und den mittelständischen Firmen. Die wachsende Zahl von Austritten aus dem Flächentarifvertrag von kleinen und mittleren Unternehmen zeugt von der Politik großer Unternehmen, hohe Lohnabschlüsse auf Kosten der kleinen und mittleren Firmen abzuschließen. Ein weiterer Bereich, durch den Wirtschaftsverbände mit Parteien verbunden sind, ist die Finanzierung der Parteien. In der Frühphase der Bundesrepublik war die Finanzierung der Parteien eine wichtige Aufgabe der Wirtschaftsverbände. Für diese Finanzierung wurden bereits 1954 die sogenannten staatsbürgerlichen Vereinigungen gegründet, über die erhebliche Summen an die bürgerlichen Parteien (CDU/CSU, FDP) flossen. Diese starke Finanzierung der Parteien über wirtschaftliche Interessengruppen ging in den letzten Jahrzehnten zurück. Die Parteien finanzieren sich im Wesentlichen aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und staatlichen Zuwendungen, die nach Naßmacher in den Jahren 1991 bis 1994 im Durchschnitt 708 Mio. DM betrugen. Die Spenden von Einzelpersonen, Wirtschaftsunternehmen und Interessenorganisationen beliefen sich auf rund 114 Mio. DM (Nassmacher 1997: 165) In allen westlichen Demokratien ist die Finanzierung der Parteien umstritten und eine Reihe von Skandalen hielt das Thema beständig im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Angestoßen durch die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1992 (Bundesverfassungsgericht 1992: 264 ff.) regelte der Gesetzgeber die Parteifinanzierung mit Wirkung zum 1. Januar 1994 grundlegend neu. Den letzten Stand bildet das Neunte Gesetz zur Änderung des Parteiengesetzes vom 22. Dezember 2004. Danach sind Spenden von natürlichen und juristischen Personen grundsätzlich zulässig. Spenden von natürlichen Personen bleiben bis zu einem Betrag von 3.300 Euro steuerlich abzugsfähig.
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Seit dem 1. Juli 2002 sind Spenden, die im Einzelfall 50.000 Euro übersteigen, unverzüglich anzuzeigen und zu veröffentlichen (§ 25 Abs. 3 PartG). Diese Anzeigen werden seit Juli 2002 durch ein Fundstellenverzeichnis des Deutschen Bundestages erfasst (www.bundestag.de/ bic/finanz/03_pf03_spenden50000.pdf, zuletzt besucht am 7.1.2010). In dieser Veröffentlichung sind vor allem Spenden von Wirtschaftsunternehmen und Verbänden, aber auch von Privatpersonen verzeichnet. So betrug im Jahr 2004 der Anteil der Spenden von natürlichen und juristischen Personen bei der FDP 30 Prozent der Gesamteinnahmen (diese betrugen 29,3 Mio. Euro), bei der CDU 18,2 Prozent (von 151,6 Mio.), bei der CSU 15,9 Prozent (von 39,8 Mio.), bei den Grünen 14,4 Prozent (von 25,4 Mio.) und bei der SPD 7,1 Prozent (von 170,1 Mio.). Unterhalb der sofort zu veröffentlichenden Großspenden sind Spenden ab 10.000 Euro mit Namen und Anschrift des Zuwendenden im jeweiligen Rechenschaftsbericht der Partei zu veröffentlichen. Die Parteifinanzierung durch Verbände spielt nach von Alemann in Deutschland im Vergleich zu den USA (Finanzierung durch Political Action Committees, PACs) und Großbritannien (Labour und Gewerkschaften) eine geringe Rolle (von Alemann 1992: 115). Der Anteil aller Spenden an den Gesamteinnahmen lag bei der CDU zwischen 14,7 Prozent (1968) und 44,2 Prozent (1972) und in den letzten Jahren bei rund 20 Prozent. Der Anteil der Spenden durch Unternehmen und Verbände ist aber geringer. Rudzio zeigte für die CDU, dass die Großspenden (über 20.000 DM) zwischen 1994 und 1998 für deren Finanzen „völlig bedeutungslos“ waren und damit eine konkrete Einflussnahme eher unwahrscheinlich ist (Rudzio 2000: 439). Auch Landfried konnte in ihrer Untersuchung keine „Kapitalisierung der Einnahmestruktur“ (1990: 132) erkennen, die sie bei 50 Prozent der Einnahmen durch Großspenden ansetzt. Es fließen aber nach wie vor erhebliche Spendenbeträge aus den Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden sowie direkt von Unternehmen an die Parteien, wobei die Union und die FDP rund das 5-Fache an Spenden aus diesem Lager bekommen. Im Wahljahr 2002 erhielten die Parteien 24 Mio. Euro, 2003 waren es 11 Mio. Euro. Größte Spender waren dabei die Metall-Arbeitgeberverbände mit mehr als 1,7 Mio. Euro (2002) und 1,1 Mio. Euro im Jahr 2003 (IG Metall 2005). Auch aufgrund der Diskussion in der 1980er Jahren während der „Flick-Affäre“ und um die Praxis der illegalen Parteifinanzierung in den 1990er Jahren ist festzustellen, dass die „aus den Rechenschaftsberichten erkennbaren Spenden von (vereinzelten) Wirtschaftsverbänden und Großunternehmen finanziell und verfassungspolitisch nur noch geringe Bedeutung haben“ (Naßmacher 1997: 167). 3.2 Korporatistische Einbindung und Ausdifferenzierung von Lobbying als Einflussinstrument Die Veränderungen im Bereich der Interessenrepräsentation, die insbesondere auch die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände betreffen, wurden unter den Stichworten „Ende des Korporatismus“ (Streeck 2006) und einer Ausdifferenzierung der Einflussinstrumentarien (Lobbying), bei dem die Vertretung von enger definierten Interessen an Intensität zunimmt, beschrieben. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre wurde festgestellt, dass die europäische Integration „nationale Assoziationsmonopole aufweicht sowie eine Pluralisierung und Regionalisierung der Interessenpolitik zur Folge hat“ (Czada 1994: 43). Doch nicht nur die Europäisierung forciert Anpassungsprozesse in den Verbänden und eine Zunahme an
III.2 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft
275
Stimmen von Interessengruppen in der politischen Arena. Hinzu kommt, dass die Unternehmen aufgrund von technologischen und wirtschaftlichen Veränderungen den Verlust der Handlungskapazität der Verbände und damit der korporatistischen Steuerungskapazität der Wirtschaft selbst herbeigeführt haben. Als Ergebnis dieses Prozesses können wir heute die ersten Konturen eines pluralistischen Lobbysystems beobachten. Die Konkurrenz zwischen den Verbänden, die Schwierigkeit der Verbände, ihre Mitglieder zufrieden zu stellen, die wachsende Distanz der Verbände zu den Parteien und die zunehmende Autonomie des politischen Systems sowie die Zunahme der Akteure durch Firmenrepräsentanzen, Law Firms und Public-Affairs-Agenturen ist als das Ende des korporatistischen „Systems horizontaler Elitenintegration“ (Streeck 2006: 149) beschrieben worden. Diese Veränderungen sind Begleiterscheinungen des Niedergangs des „Rheinischen Kapitalismus“ und der Auflösung der „Deutschland AG“. Dieser Niedergang betrifft auch das System der Interessenvertretung, das half die divergierenden Interessen der wirtschaftlichen und politischen Eliten zu koordinieren. Im Modell des „Rheinischen Kapitalismus“ hatten die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände eine konstitutive Rolle. Denn dieses Modell zeichnete sich durch stabile und langfristig angelegte Kooperationsbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Kunden und Lieferanten, zwischen Kapitalgebern und Investoren sowie durch tragfähige Strukturen zwischen wirtschaftlichen und politischen Eliten insgesamt aus. Dieses System, in dem reine Marktbeziehungen nur begrenzt galten, wird nun tendenziell ersetzt durch ein System, das von Wettbewerb, Marktbeziehungen und individuellen Kosten-Nutzen-Kalkülen beherrscht wird. Durch diese Liberalisierung geht nicht nur die Unternehmenskontrolle auf den Kapitalmarkt über, auch die Unternehmen selbst werden von gesellschaftlichen Verpflichtungen freigesetzt. Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände schaffen es immer weniger, zwischen den einzelwirtschaftlich-betriebswirtschaftlichen Interessen, den Gesamtinteressen der Wirtschaft und den öffentlichen Interessen einen Ausgleich zu erzielen. Die Verbandsmitgliedschaft wird in zunehmendem Maße aus einer Kosten-NutzenPerspektive betrachtet und die Verbände werden verstärkt nach betriebswirtschaftlichen Kriterien geführt. Ausdruck dieses Niedergangs des koordinierten Kapitalismus ist das Aufkommen des Lobbyings und die Schwächung der Verbände. Weil ihre Mitglieder, die Unternehmen, den veränderten marktliberalen Umweltbedingungen ausgesetzt sind, müssen sich auch die Verbände diesen Bedingungen anpassen. Aufgrund der höchst unterschiedlichen Größe und Struktur – von handwerklichen Kleinunternehmern über mittelständische Unternehmen bis hin zu weltweit operierenden Konzernen – haben die Verbände eine Mitgliedschaft, deren Heterogenität sie kaum mehr gerecht werden. Sie sind immer weniger in der Lage, kooperative Vorteile für ihre Mitglieder zu erzielen und im vielstimmigen Chor der Lobbyisten gegenüber der Politik ein Gesamtinteresse zu artikulieren. Durch die schwächer werdende Koordinierung nimmt nicht nur die Zahl der Akteure zu, die neben und außerhalb der Verbände auf die Politik einzuwirken versuchen. Der Staat wird damit zum begehrten Adressaten von Interessengruppen, die mehr Ressourcen für die Beeinflussung staatlicher Entscheidungen und Regulierung aufwenden und sich nicht allein auf den Markterfolg verlassen. Je stärker Preise staatlich festgelegt und beeinflusst werden, wie im Gesundheits- und Energiesektor, desto größer sind die Anreize, auf diese Entscheidungen Einfluss auszuüben. Damit werden Ressourcen umgelenkt, weg von Marktaktivitäten und hin zum Lobbying. Kombiniert mit nachlassenden Koordinationsleistungen der Wirtschaftsverbände und der Zunahme der Akteure ergeben sich negative Effekte. Weitere
276
Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Steuerungsverluste und eine abnehmende Rationalität sind durch die Zunahme des individuellen Lobbyings, das sich an enger definierten Interessen orientiert, zu erwarten. 4
Schlussfolgerungen
Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände haben zwar nach wie vor einen festen und teilweise gesetzlich geregelten Platz im politischen und ökonomischen Institutionensystem, doch hat sich dieses System insgesamt durch veränderte Kosten-Nutzen-Kalkulationen von Unternehmen und durch die Veränderungen der kulturell-ideologischen Motive gewandelt. Hinzu kommt eine wachsende Zahl von organisatorischen Sonderformen der Vertretung unternehmerischer Interessen wie Allianzen und Arbeitsgemeinschaften, die temporär oder dauerhaft entweder zwischen Verbänden koordinierend tätig sind oder direkt Sonderinteressen von Unternehmen gegenüber der Politik präsent halten. Zu erwarten ist daher, dass sich die Organisationsformen der Unternehmensinteressen weiter inhaltlich und funktional ausdifferenzieren. Die Präferierung von Marktlösungen und die Shareholder-Value-Orientierung haben die relativen Positionen der Verbände verschlechtert. Gleichzeitig wurde diese Veränderung ideologisch-kulturell von Teilen der Verbände vorangetrieben. Verändern sich aber die industriellen Beziehungen, die kollektive Lohnfindung, das System der Aus- und Weiterbildung und das Wohlfahrtsregime fundamental, so ist auch den Wirtschaftsverbänden ihr angestammter Platz kaum mehr sicher. Die anhaltende Schwäche der Gewerkschaften und der Trend hin zum Ausstieg aus dem Flächentarif sind weitere, diesen Trend verstärkende Elemente. Hinzu kommt, dass von Teilen der Verbände ein Umbau des Wohlfahrtsregimes favorisiert wird. Der Umbau der Sozialversicherungssysteme würde beispielsweise auch die Stellung der BDA und ihrer Mitgliedsverbände im politischen System im Kern betreffen. Die Wirtschaftsverbände sind nach wie vor fest in die Organe des Selbstverwaltungskorporatismus eingebunden und haben aufgrund ihrer Vertretungsmacht und Expertise eine wichtige Funktion im politischen System. Es fällt ihnen aber immer schwerer, die Interessen aller Unternehmen gebündelt zu vertreten und das Management großer Unternehmen in politische Verpflichtungen einzubinden, wie es in den Bündnissen für Arbeit versucht wurde. Außerdem erfüllen die Wirtschaftsverbände ihre Orientierungsfunktion im gesellschaftspolitischen Diskurs nur noch unzureichend. Geht man noch weiter in die Richtung der liberalen Marktökonomie, werden nur noch die Branchenverbände übrig bleiben. Die Tendenz nimmt zu, dass die Spitzenverbände zu Foren werden, die die ständige Kommunikation ihrer Mitglieder organisieren, und weniger als eigenständige Akteure agieren, die rasch gemeinsame Positionen formulieren und ihre Mitglieder darauf verpflichten können. Hinzu kommt, dass es immer schwieriger wird, als nationaler Verband in Brüssel angemessen Gehör zu finden, denn die Kommission favorisiert europäische Dachverbände, die sich zudem eher branchenmäßig ausbilden. Der DIHK und der ZDH leben von der politischen Stabilisierung und der Aufrechterhaltung der Pflichtmitgliedschaft. Wirken aber auch hier die ideologischen Muster liberaler Ökonomien, so ist mit dem Verlust des politischen „cordon sanitaire“ um diese Verbände zu rechnen. Letztlich erfordert das liberale Marktmodell eine Revision der Konzeption des semisouveränen Staates, denn dieser ist nach Wolfgang Streeck einerseits zu stark, anderseits aber zu schwach, „to override the organised interests that refuse to internalise the costs of their behaviour and have ceased to be responsive to public interests“ (Streeck 2005: 162).
III.2 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft
277
Die Wirtschaftsverbände operieren noch überwiegend in nationalen Raum, während sich viele – auch mittelständische – Unternehmen längst internationalisiert haben. Die Verbände haben es bislang nur ansatzweise geschafft, sich zu europäisieren. Abgesehen vom BDI gibt es kaum eine internationale Präsenz der Verbände. Kommt es zu einem umfassenden und alle Bereiche der Ökonomie betreffenden Übergang zu einer liberalen Marktökonomie, so wird dies auch eine andere Gestalt der Landschaft der Wirtschaftsverbände erzwingen. Während die Dach- und Spitzenverbände einen Funktionsverlust erleiden, nimmt die Bedeutung der Branchenverbände zu, die jetzt schon teilweise von einigen wenigen großen Unternehmen dominiert werden. Das verstärkte Lobbying jedenfalls kann als ein Zeichen für diesen Trend gewertet werden. Literatur Grundlegende Literatur Eising, Rainer/Kohler-Koch, Beate (2004): Interessenpolitik im europäischen Mehrebenensystem. In: Eising, Rainer/Kohler-Koch, Beate (Hrsg.): Interessenpolitik in Europa. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 11í75. Reutter, Werner (2001a): Verbände zwischen Pluralismus, Korporatismus und Lobbyismus, in: Reutter, Werner/Rütters, Peter (Hrsg.): Verbände und Verbandssystem in Westeuropa. Opladen: Leske + Budrich, S. 75í101. Sebaldt, Martin/Straßner, Alexander (2004): Verbände in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Streeck, Wolfgang (1994): Staat und Verbände. Neue Fragen. Neue Antworten? In: Streeck, Wolfgang (Hrsg.): Staat und Verbände. Sonderheft 25 der Politischen Vierteljahresschrift. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 7í33.
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
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III.2 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Politik und Gesellschaft
279
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Global denken, lokal handeln. Die Aufgaben der regionalen Arbeitgeberverbände im föderalen System Regionale Arbeitgeberverbände
Christoph Strünck Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
1
Das regionale Rückgrat der Tarifautonomie
Die heutigen Arbeitgeberverbände sind in den Regionen entstanden, dort, wo die Gewerkschaften die ersten erfolgreichen Arbeitskämpfe organisieren konnten: in den industriellen Ballungsräumen des Südwestens, des Rhein-Ruhr-Gebiets und im Hamburger Wirtschaftsraum (vgl. Knips 1996). Erst später kamen die Spitzenverbände dazu, als sich der Klassenkampf allmählich zur Sozialpartnerschaft wandelte und die Gewerkschaften als legitime Interessenvertretungen anerkannt worden waren (vgl. Schroeder/Silvia 2003). Und nach wie vor finden Tarifverhandlungen in der Bundesrepublik auf Landesebene statt, so dass die Tarifpolitik in gewisser Weise „föderalisiert“ ist. Zugleich versuchen einige Landesregierungen auch die Vereinigungen der Arbeitgeberverbände dafür zu gewinnen, politische Programme in Absprache mit den Sozialpartnern umzusetzen. Das gilt zum Beispiel für das Bündnis für Arbeit, das nach der zweiten Auflage auf Bundesebene in den Bundesländern mit verschiedenem Erfolg weitergeführt worden ist oder sogar schon vor dem zentralen Bündnis dort gestartet wurde (vgl. Tiemann/Kaulisch 1999). In solchen Bündnissen auf Landesebene sind aber nicht nur die Landesvereinigungen der Arbeitgeber vertreten, sondern auch die tariffähigen Branchenverbände. Diese regionalen Verbände waren historisch zunächst die Antwort auf die Streikbewegungen der Gewerkschaften, doch sie hinkten ihnen lange Zeit hinterher. Erst ab 1890 wurden in immer mehr Regionen Organisationen der ansässigen Unternehmen gegründet, um Aussperrungen durchzusetzen und Unternehmen bei Verhandlungen und Streiks zu unterstützen (vgl. Knips 1996). Im Verständnis der Arbeitgeberverbände dienen ihre Verbände nach wie vor in erster Linie der Abwehr eines „Angriffs“, wie ihn ein Streik für die Mitgliedsunternehmen bedeutet. Bis heute sind die ehrenamtlichen Vorstände ein besonderes Merkmal der regionalen Arbeitgeberverbände, worin sie sich deutlich von den Gewerkschaften unterscheiden, die einen größeren hauptamtlichen Apparat aufgebaut und relativ einheitliche Organisationsprinzipien durchgesetzt haben (vgl. Schmid 2003). Außerdem haben die Spitzenorganisationen der Branchenverbände (z. B. Gesamtmetall) kein Letztentscheidungsrecht in Tariffragen, anders als die Vorstände der Einzelgewerkschaften (z. B. der IG Metall). Diese Rechte stehen im Arbeitgeberlager den Landesvereinigungen und regionalen Verbänden zu. Mit der Gründung der Bundesrepublik passten die Verbände ihre Strukturen weiter dem föderalen Staatsaufbau an. Doch nach wie vor sind die Verbandskulturen der einzelnen Bundesländer höchst unterschiedlich. Die regionalen Arbeitgeberverbände sind aber nicht nur historisch relevant. Sie bieten den Mitgliedern heutzutage einen Großteil der Dienstleistungen an, die nach Mancur Olson
III.3 Regionale Arbeitgeberverbände
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(1965) zu den selektiven Anreizen gehören, die eine Mitgliedschaft aus Sicht der Unternehmen oft erst sinnvoll erscheinen lassen. Angesichts der eigenen Ressourcen, die Unternehmen besitzen, sind diese Dienstleistungen erforderlich, damit genügend Mitglieder eintreten und bleiben. Denn warum treten Unternehmen in einen Arbeitgeberverband ein? Diese Frage steht im Zentrum, wenn man sich theoretisch wie empirisch mit Arbeitgeberverbänden beschäftigt. Ein Beitritt resultiert aus einer Abwägung von Kosten und Nutzen der Mitgliedschaft oder – immer seltener – aus der Selbstverpflichtung dem eigenen sozialen und regionalen Milieu gegenüber. Die Forschung hat gezeigt, dass insbesondere der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Betrieb darüber entscheidet, ob Unternehmen den Arbeitgeberverbänden beitreten (vgl. Traxler 2004). Angesichts eines abnehmenden Deckungsgrads der Flächentarife und steigender Verbandsflucht stellt sich für Arbeitgeberverbände jedoch die Frage, wie Mitglieder zu halten und neue zu gewinnen sind. Und dabei kommt es vor allem auf die Qualität und Exklusivität der Dienstleistungen an, die den Mitgliedern angeboten werden (vgl. Schroeder/Ruppert 1996). Mitglied ist ein Unternehmen in der Regel auf der lokalen und regionalen Ebene. Hier entscheidet sich, ob die Interessenvertretung und Dienstleistungen attraktiv genug sind, und damit, ob die Verbände mitgliederstark sind oder nicht. Die Strategiefähigkeit der Verbände, aber auch ihre Ressourcen hängen also maßgeblich davon ab, wie die unteren Ebenen organisiert sind. Je mehr tarifliche Sonderklauseln oder geduldete Abweichungen es in einer Branche gibt, desto wichtiger wird die Bedeutung der untergeordneten Arbeitgeberverbände, die den Großteil der Dienstleistungen anbieten. Nicht nur Tarifrunden, sondern ebenso die Dienstleistungen vor Ort entscheiden über die Entwicklung und Zukunft der deutschen Arbeitgeberverbände (vgl. Strünck 2005). Die Vorstandsmitglieder und Funktionäre verstehen sich als Interessenvertreter und Dienstleister sowie als Seismographen der Stimmung in der Mitgliedschaft. Unzufriedenheiten mit Tarifabschlüssen werden von den Vertretern der unteren Ebenen in die nächsthöheren Gremien transportiert. Es wäre also falsch, die Arbeitgeberverbände auf regionaler Ebene lediglich als Dienstleister zu sehen; sie sind auch ein sensibles Feld für die interne Willensbildung und eine zentrale Quelle von Sozialkapital (siehe auch den Beitrag von Behrens in diesem Band). Ohne sie gäbe es keine Legitimation für branchenweite Tarifverträge. Was die regionalen Arbeitgeberverbände aus wissenschaftlicher Sicht besonders interessant macht, ist ihre Signalfunktion für den Wandel des „Modells Deutschland“. Die Konsequenzen dieses Wandels sind auf den unteren Ebenen besonders früh und konkret erkennbar. Neue Eigentumsverhältnisse durch institutionelle Investoren oder internationale Firmenaufkäufe erschweren die regionale Abstimmung und Kommunikation und damit langfristige Orientierungen. Generationswechsel beim Personal verringern das aufgebaute Sozialkapital. Die nachlassende Bindekraft des Flächentarifs erfasst als Erstes die unteren Ebenen, auf denen entschieden werden muss, ob Mitgliedschaften ohne Tarifbindung (OT) möglich und erwünscht sind. Auch wenn es recht aufwändig ist, die regionalen Arbeitgeberverbände empirisch zu erforschen, so ist das große Defizit – bis auf einzelne historische Darstellungen existiert praktisch keine Literatur zum Thema – doch erstaunlich. Denn am Beispiel der Landes-, regionalen und lokalen Arbeitgeberverbände lässt sich erkennen, wie stark das Fundament des „Modells Deutschland“ bereits abgetragen ist oder ob sich seine Substanz verändert.
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Die theoretische Bedeutung der Region für die Interessenvermittlung im Arbeitgeberlager
In Theorien kollektiven Handelns macht es einen Unterschied, wie groß die potentielle Gruppe ist, die von dem angestrebten Kollektivgut profitiert (vgl. Olson 1965). In großen Gruppen ist das Kollektivgutproblem ausgeprägter, da sich die meisten potentiellen Mitglieder wie Trittbrettfahrer verhalten und davon ausgehen, dass die anderen ihre Interessen vertreten. Wenn sich trotz dieser Probleme dennoch größere Interessengruppen mit umfassender Mitgliedschaft bilden, steigt dafür die Verallgemeinerungsfähigkeit der Interessen und damit auch die Verpflichtungsfähigkeit der Verbände (vgl. Streeck 1991). Was die Verallgemeinerungsfähigkeit der Interessen angeht, so ist zu bedenken, dass anders als bei Gewerkschaften in den Arbeitgeberverbänden auch unmittelbare Konkurrenten organisiert sind. Der Austausch von Informationen kann hier ein heikler Punkt sein. Zugleich bietet die Mitgliedschaft in Verbänden auch die Möglichkeit, während der Vorbereitung von Tarifverhandlungen an Zahlen der Mitbewerber zu kommen, was für Familienunternehmen durchaus ein Anreiz zum Beitritt sein kann. Zugleich hängt das Kalkül der Unternehmen, sich verbandlich einbinden zu lassen, mindestens ebenso stark von der Verpflichtungsfähigkeit der Gewerkschaften ab wie von der Attraktivität der eigenen Verbände (vgl. Traxler 1999). Denn die eigenen Verbände haben zwar weniger Probleme mit der grundlegenden Organisationsfähigkeit, dafür aber umso mehr Probleme mit ihrer Verpflichtungsfähigkeit, da im Grunde jedes Mitglied auch eigenständig Tarife vereinbaren kann (vgl. Traxler 1991). Gerade die Diskussion um OTMitgliedschaften und -Verbände demonstriert, wie eng die Grenzen der Verpflichtungsfähigkeit bei Arbeitgeberverbänden gesteckt sind. Wie stark angesichts dieser Einschränkungen jeweils die Mitgliedschaftslogik – die Orientierung an Mitgliederinteressen – und die Einflusslogik – die Durchsetzung vereinbarter Ziele innerhalb der Mitgliedschaft – in der Realität wirken, hängt von der konkreten Organisationsform, den Ressourcen und vom Kontext ab (vgl. Schmitter/Streeck 1999). Die regionalen und lokalen Verbände führen in der Regel keine Tarifverhandlungen. Für die Akzeptanz branchenweiter Vereinbarungen sind also nicht sie, sondern die jeweiligen Branchenverbände auf Landesebene zuständig. Nur bei sehr kleinen Branchen führen einige kleinere Arbeitgeberverbände Tarifverhandlungen. 1 Dafür können die regionalen und lokalen Arbeitgeberverbände besonders gut auf die Interessen einzelner Mitglieder vor Ort eingehen. Die Einflusslogik spielt bei ihnen keine große Rolle, aber sie sorgen für eine differenzierte Vertretung von Mitgliederinteressen. Das lässt sich an einem Detail erkennen, über das nicht öffentlich räsoniert wird. Bei besonderen betrieblichen Krisensituationen erlauben nicht wenige regionale Verbände ihren Mitgliedern stillschweigend, ihre Beschäftigten unter Tarif zu bezahlen, ohne auszutreten zu müssen, auch wenn dies die innerverbandliche Solidarität auf eine harte Probe stellt. 2 Auch die Gewerkschaften stehen hier vor einem legitimatorischen Dilemma, denn sie tolerieren diese Praxis. Die größere Dynamik der Mitgliedschaftslogik auf regionaler Ebene lässt sich auch daran erkennen, dass diese Verbände den Unmut der Mitglieder als Erste spüren. Sie müssen auch am ehesten um ihre finanzielle Basis fürchten, wenn Mitglieder daraufhin austreten. 1 2
So führt der Düsseldorfer Arbeitgeberverband Tarifverhandlungen für zwei große Mühlen in Neuss. Auskünfte eines hauptamtlichen Funktionärs eines regionalen Arbeitgeberverbandes.
III.3 Regionale Arbeitgeberverbände
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Hinzu kommt, dass auf regionaler Ebene die ehrenamtlichen Vorstände, die ja selbst wichtige Mitgliedsunternehmen führen, wesentlich engeren Kontakt zur Basis haben als die Vorstände auf Branchenebene. Wenn man davon sprechen kann, dass innerhalb der Verbände wichtiges Sozialkapital gebildet wird, dann bezieht sich das vor allem auf die regionalen Verbände (siehe 6). 3
Kulturelle Unterschiede: Wie sind Unternehmen in der Region organisiert?
Ähnlich wie in der EU, wo niemand so genau weiß, welche staatlichen Gebilde nun mit dem Begriff der Region gemeint sind, herrscht auch bei Arbeitgeberverbänden große Unübersichtlichkeit. Denn weder die Organisationsstufen noch die Verbandsfunktionen noch die Mitgliedschaftsbasis sind nach einem einheitlichen regionalen Kriterium organisiert. Lokale Honoratiorenmilieus und Eliten haben die ehrenamtlich geführten Arbeitgeberverbände weit stärker geprägt als die Gewerkschaften. Das lässt sich unter anderem daran ablesen, dass es anders als bei den Arbeitnehmerorganisationen bislang kaum nennenswerte Fusionen gegeben hat (vgl. Schroeder 2004), obwohl die gewachsenen regionalen Strukturen teilweise dysfunktional sind. Das zeigt, wie stark verwurzelt die Verbände in der regionalen Wirtschaftskultur sind. Auch sind die Hierarchiestufen von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In Baden-Württemberg existiert seit 2001 ein einziger Metallarbeitgeberverband (Südwestmetall), während sich in Nordrhein-Westfalen 33 eigenständige Metallverbände koordinieren müssen. Damit der verhandlungsführende Verband NRW Metall entscheiden kann, braucht er zwei Drittel der Stimmen dieser regionalen Arbeitgeberverbände. Auch diese organisatorische Besonderheit – neben der Stärke der südwestlichen IG Metall – festigt die Tarifführerschaft Baden-Württembergs, die das Land Ende der 1960er Jahre von Nordrhein-Westfalen übernommen hatte (vgl. Müller 1987). Was die personellen Verflechtungen innerhalb eines Bundeslandes betrifft, so gibt es auf der regionalen Ebene eine viel größere Nähe zwischen den Arbeitgeberverbänden und dem Bundesverband der Industrie als auf der nationalen Ebene. In beinahe allen Bundesländern sind die Strukturen des BDI und der Arbeitgeberverbände personell miteinander verbunden. In Bayern besteht beispielsweise seit 1949 auf Seiten des Arbeitgeberverbandes der Metallund Elektroindustrie (VBM) und der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (VBW) eine Personalunion des ehrenamtlichen Präsidenten und des hauptamtlichen Hauptgeschäftsführers (vgl. Moser 1990). Auf Bundesebene sind ähnliche Versuche bislang immer gescheitert, unter anderem deshalb, weil der BDI als Vertreter der Produktmarktinteressen auch immer wieder kritisch auf die Tarifpolitik der BDA und deren sozialpolitisches Profil blickt. Diese regionale Besonderheit lenkt den Blick auf zwei weitere Merkmale, die die Verbände in allen Bundesländern gemeinsam haben. Zum einen sind ihre Strukturen bis heute wesentlich von den Bedürfnissen der Industrie geprägt. Die wichtigsten regionalen Arbeitgeberverbände haben sich zum Zeitpunkt der Industrialisierung gegründet. Dienstleistungen wie die arbeitswissenschaftliche Beratung sind weitaus stärker an den Bedürfnissen von Industrieunternehmen als von Unternehmen aus Dienstleistungsbranchen ausgerichtet. Zum anderen zeichnet die meisten Verbände eine hohe personelle Kontinuität aus, vor allem auf Seiten des ehrenamtlichen Vorstands, aber auch bei den hauptamtlichen Hauptgeschäftsführern. Der traditionelle Geschäftsführer ist in der Regel Jurist und Rechtsanwalt sowie verbandlich sozia-
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
lisiert. In dieser personellen Kontinuität, die auch auf die Arbeit der Gremien höherer Spitzenverbände durchschlägt, steckt ein Großteil des Sozialkapitals, was für das Funktionieren des deutschen Modells genauso wichtig ist wie kooperationsfördernde Institutionen. An den verschiedenen Jubiläumsschriften der Verbände lässt sich ablesen, wie stark sie in ihren jeweiligen Regionen verwurzelt waren. 3 Allerdings erlebten die meisten Verbände inzwischen einen Generationenwechsel – ähnlich wie Unternehmen, Parteien und andere Institutionen –, der das Fundament des deutschen Modells insgesamt aufgeweicht hat (vgl. Trampusch 2004). Was die zentralen Verbandsfunktionen angeht, so verschwimmt die in Deutschland übliche Trennung in Wirtschaftsverbände und Arbeitgeberverbände, je weiter man nach unten schaut. Nicht wenige Verbände auf regionaler Ebene vereinen in sich die Funktionen des wirtschaftspolitischen Interessenverbands und der tarifpolitisch aktiven Vereinigung. 4 Produktmarktinteressen und Arbeitsmarktinteressen werden dadurch gleichermaßen abgedeckt (vgl. Streeck 1991). Das liegt unter anderem daran, dass der BDI lokal kaum organisiert ist und einige Arbeitgeberverbände die Interessenvertretung in der lokalen und regionalen Wirtschaftspolitik mit übernehmen. Es ist daher kaum möglich, in den Bundesländern ausschließlich Arbeitgeberverbände ins Visier zu nehmen. Allein an den offiziellen Bezeichnungen, bei denen neben Wirtschafts- oder Arbeitgeberverband auch das Etikett des „Unternehmensverbands“ auftaucht, lassen sich die Verbandsfunktionen nicht ablesen. Es gibt Arbeitgeberverbände, die keine Tariffunktionen haben, Wirtschaftsverbände, die an Tarifverhandlungen teilnehmen, und Unternehmensverbände, die beides tun. Dass die Trennung der Vertretung von Arbeitsmarkt- und von Produktinteressen auf den unteren Ebenen nicht so scharf ist wie auf der Spitzenverbandsebene, hat historische und kulturelle Gründe. Auch die Gliederung in Branchenverbände wird auf den unteren Ebenen nicht durchgehalten. Es gibt gemischte Verbände, insbesondere auf der lokalen Ebene, die sogar für verschiedene Branchen Tarifverhandlungen führen, und es gibt die klassischen Branchenverbände. In der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sind 18 Fachverbände sowie 14 Landesvereinigungen der Arbeitgeberverbände zusammengeschlossen; Hamburg bildet mit Schleswig-Holstein eine gemeinsame Vereinigung, ebenso Brandenburg mit Berlin. Tariffähig sind jeweils die Fachvereinigungen, während die Landesvereinigungen andere Funktionen übernehmen (siehe Abbildung 2). Unterhalb dieser Ebene existieren rund 884 verschiedene Verbände in Form von Wirtschafts-, Arbeitgeberoder Unternehmensverbänden, die auf der Ebene der Bundesländer oder darunter organisiert sind (siehe auch den Beitrag von Behrens). Die Organisationsformen auf Landesebene sind ebenfalls nicht einheitlich. Hier bestehen große Unterschiede zwischen den Bundesländern, die sich exemplarisch an den beiden wichtigen Tarifbezirken Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen aufzeigen lassen. In Baden-Württemberg sind die regionalen Arbeitgeberverbände in der Fläche unselbstständig, was die Landesvereinigung stärkt. In Nordrhein-Westfalen hingegen sind die regionalen Verbände selbstständig und teilweise gleichzeitig selbst Mitglieder der BDA. Was die 3 4
Ende der 1990er Jahre feierten viele regionale Arbeitgeberverbände ihr 50-jähriges Bestehen, da die heutigen Strukturen auf die Neugründungsphase nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurückgehen. Interessant ist die Integration der beiden Interessenbündel auch deswegen, weil sich die Wirtschaftsverbände auf höheren Ebenen oftmals für eine Dezentralisierung der Tarifpolitik aussprechen, während regionale Wirtschafts- wie Arbeitgeberverbände vor einer Verbetrieblichung warnen. Doch das ist nicht der einzige Interessenkonflikt.
III.3 Regionale Arbeitgeberverbände
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Hierarchie und Handlungsfähigkeit der Verbände angeht, so zeigen sich auch hier deutlich die Grenzen von Michels’ (1989) Oligarchisierungsthese. 4
Funktionale Einheit trotz organisatorischer Vielfalt: Was machen die Arbeitgeberverbände vor Ort?
In ihren Kernfunktionen sind sich die regionalen Verbände sehr ähnlich, auch wenn sich ihre Organisationsformen teilweise erheblich unterscheiden. Offenbar hängt der regionale Zuschnitt stark vom historischen Entwicklungspfad ab, während der sehr ähnliche Bedarf der Mitglieder dazu führt, dass die Verbandsfunktionen weitgehend übereinstimmen (vgl. Völkl 2002). Am Beispiel des Arbeitgeberverbandes Rhein-Wupper, der die Metallbranche organisiert, wird die Breite der üblichen Funktionen sichtbar. Abbildung 1:
Aufgaben regionaler Arbeitgeberverbände
Quelle: Arbeitgeberverband Rhein-Wupper e.V. – Selbstdarstellung.
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Aus organisationstheoretischer Sicht lassen sich diese Funktionen in die Produktion von Kollektivgütern und das Angebot selektiver Dienstleistungen unterteilen. Zu den Bereichen, in denen regionale Arbeitgeberverbände Kollektivgüter herstellen, zählen vor allem die Folgenden:
Tarifpolitik, Öffentlichkeitsarbeit, Interessenvertretung gegenüber dem Gesetzgeber, Interessenvertretung in Sozialversicherungsträgern, die Auswahl ehrenamtlicher Richter an Arbeitsgerichten und regionale Bildungspolitik.
Von diesen Leistungen profitieren auch diejenigen direkt oder indirekt, die nicht Mitglieder im Verband sind. Anders sieht es mit den spezifischen Dienstleistungen aus, den sogenannten selektiven Anreizen. Diese Palette steht im Unterschied zu den Kollektivgütern jedoch teilweise in Konkurrenz zu möglichen kommerziellen Angeboten. Zu den selektiven Dienstleistungen gehören:
Unterstützungsfonds für Produktionsausfälle bei Streiks, die Beratung bei der Umsetzung von Tarifverträgen, die Beratung und Vertretung in arbeitsrechtlichen Fragen, die Beratung in arbeitsmedizinischen und -wirtschaftlichen Fragen und die interne Information über Daten, Förderprogramme und politische Veränderungen.
Die Unterstützungsfonds der Arbeitgeber sind auf der Ebene der Fachverbände zu Gefahrengemeinschaften und darüber hinaus sogar zu branchenübergreifenden Schutzgemeinschaften zusammengeschlossen (vgl. Gleixner 1981). Diese Kassen sind allerdings derzeit prall gefüllt, denn Aussperrungen werden nicht mehr angewandt und die Zahl der Streiks ist in Deutschland generell nicht besonders hoch und zudem in letzter Zeit deutlich zurückgegangen (vgl. Schroeder/Silvia 2003). Die tarifpolitische Verantwortung nehmen die regionalen Verbände sehr unterschiedlich wahr. Einige Verbände haben diese Aufgabe an andere Organisationsebenen delegiert. Darüber hinaus betrifft die Diskussion um eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT) vor allem die regionalen Verbände. Hier gibt es bemerkenswerte Unterschiede zwischen den Bundesländern. In Baden-Württemberg setzen die Verbände die OT-Option offen als Anreiz ein, um ihre Basis zu stärken. In Nordrhein-Westfalen dagegen sind die Dachverbände sehr zurückhaltend (vgl. Sowka/Balg 2005); regionale und lokale Gliederungen bieten jedoch immer häufiger die Option an, Mitglied ohne Tarifbindung zu werden (siehe dazu auch den Beitrag von Haipeter in diesem Band). Lokale und regionale Verbände entsenden in der Regel Delegierte in die jeweiligen Tarifkommissionen auf Landesebene. Manche Verbände führen auch unmittelbar Tarifverhandlungen für ihre Mitglieder, wie beispielsweise die Düsseldorfer Unternehmerschaft, die für den Groß- und Einzelhandel das Mandat übernommen hat. Daneben gibt es noch eine weitere tarifpolitische Aufgabe, die für die Betriebe bedeutsam ist: die Beratung bei der Umsetzung von Tarifverträgen. Denn durch die Flexibilisierung
III.3 Regionale Arbeitgeberverbände
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von Tarifverträgen variieren Elemente wie Eingruppierungen oder Lohnstufen in der Region stärker als früher. Speziell die Umsetzung des Entgelt-Rahmenabkommens (ERA) in der Metall- und Elektroindustrie, das seit 2003 gilt, erfordert eine betriebsnahe Umsetzung vor Ort. Die allgemeine Tarifvereinbarung sagt den Verantwortlichen in den Betrieben nicht, was auf sie konkret zukommt. Je unübersichtlicher und fragmentierter die Tarifpolitik wird, desto größer wird die Bedeutung der Beratung, die regionale Verbände übernehmen. Abbildung 2:
Landesvereinigung der Arbeitgeberverbände Nordrhein-Westfalens
Quelle: Landesvereinigung der Arbeitgeberverbände Nordrhein-Westfalens e.V. – Selbstdarstellung.
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Darüber hinaus ist die Bildungsarbeit für die unteren Verbandsebenen ebenfalls von zentraler Bedeutung, obwohl sie in der Literatur nur selten erwähnt wird. Gerade in Ausbildungsfragen kommt den Verbänden eine entscheidende Rolle dabei zu, die Mitgliedsunternehmen zu motivieren und für eine ausreichende Zahl an Ausbildungsplätzen zu sorgen. Der immer wiederkehrende Streit um eine Ausbildungsplatzabgabe offenbart, wie sehr die Arbeitgeberseite letztlich auf das regionale Sozialkapital setzt und setzen muss, um gesetzliche Lösungen zu verhindern. Die Verbände rufen aber auch Kampagnen ins Leben, um Jugendliche über Ausbildungsmöglichkeiten zu informieren, etwas, das die Unternehmen selbst nicht wollen oder können. Die ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder pflegen darüber hinaus Kontakte zu allen Schulformen; es werden auch Weiterbildungen für Lehrer organisiert, um die nach Meinung der Arbeitgeberverbände zu große Wirtschaftsferne schulischer Bildung zu kompensieren und Verständnis für Fragen des Wirtschaftslebens zu wecken. Einige Aufgabenfelder sind zentralisiert worden, etwa die arbeitswissenschaftliche Beratung. Meistens finanzieren mehrere Verbände gemeinsam ein regionales Beratungszentrum mit Ingenieuren. Diese Beratung hat für die Mitglieder immer größere Bedeutung gewonnen, denn älter werdende Belegschaften und ein beschleunigter technischer Wandel stellen die Betriebe vor große Herausforderungen. Außerdem sind Vorschriften zum sicheren Umgang mit Maschinen verschärft worden, so dass die Unternehmen Risiken am Arbeitsplatz stärker entgegentreten müssen. Gerade die kleineren Unternehmen können sich jedoch kein eigenes Personal für eine arbeitswissenschaftliche Beratung leisten. Auch größere Informationsdatenbanken zum EU-Recht oder zum Arbeitsrecht werden häufig zentralisiert und von mehreren Verbänden finanziert. Die Dachverbände auf Landesebene sind in erster Linie Ansprechpartner für die Landesregierung. Sie sind die zentralen verbandlichen Akteure, wenn es um politische Programme auf Landesebene geht. Außerdem wird die Tarifpolitik auf Landesebene verhandelt, wenn auch über die separaten Branchenverbände. 5
Eine Variante des kooperativen Föderalismus: Arbeitgeberverbände und Arbeitsmarktpolitik auf der Landesebene
Dass sich die Landesvereinigungen der Arbeitgeberverbände in den bundesdeutschen Föderalismus einfügen, lässt sich plastisch zeigen, wenn man die Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer im Vergleich betrachtet. Hierbei können die Landesvereinigungen sogar Funktionen übernehmen, die es ermöglichen, die Bundesländer als „Versuchslabore“ für die Bundespolitik zu nutzen, wie dies in Form der bottom-up policy wesentlich stärker in den USA in Bezug auf die Bundesstaaten und die nationale Politik geschieht (vgl. Osborne 1990). Schließlich sind die Vereinigungen der Arbeitgeberverbände zentrale arbeitsmarktpolitische Akteure im föderalen Bundesstaat der Bundesrepublik. Ein gutes Beispiel dafür ist das Modell des Kombilohns. Bevor die Bundesregierung dazu ein flächendeckendes Modell ausgearbeitet hatte, war dieses Konzept bereits in Hessen und Nordrhein-Westfalen für bestimmte Zielgruppen erprobt worden, unter aktiver Mitarbeit der organisierten Arbeitgeberschaft (vgl. Blancke 2004). Teilweise wurden solche Aktivitäten durch das auf Bundesebene wiederbelebte Bündnis für Arbeit angeregt, teilweise waren die Bundesländer aber auch zuvor schon länger aktiv, und zwar mit zielgruppenspezifischen
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Maßnahmen, für die gerade die Arbeitgeberverbände um Unterstützung in ihrer Mitgliedschaft geworben hatten. Hinzu kommt, dass von der europäischen Ebene aus seit 1997 regionale und lokale Beschäftigungsbündnisse gezielt gefördert werden (vgl. Ziegler 2000). Diese Bündnisse ergänzen die Programme auf Landesebene. Regionale Partnerschaften sind zudem ein Kriterium für die programmspezifische EU-Förderung, so dass die Organisationsund Verpflichtungsfähigkeit der lokalen Arbeitgeberverbände wie auch anderer Verbände von zentraler Bedeutung sind (vgl. Roth 1999). Aus der Perspektive der europäischen Institutionen repräsentieren die Arbeitgeberverbände wichtige zivilgesellschaftliche Akteure in dem Sinne, dass hier Sozialkapital gebündelt wird. Diese Beschäftigungspakte haben einen sehr unterschiedlichen regionalen Zuschnitt, weil die Bundesregierung nicht aktiv geworden ist, um Standards zu setzen und das Einwerben der Fördermittel gegenüber den Bundesländern zu propagieren (vgl. Besse/Guth 2000). Allerdings haben die Bundesländer auch selbst versucht, arbeitsmarktpolitische Akzente zu setzen. Typisch für eine Arbeitsmarktpolitik unmittelbar auf Landesebene sind Programme wie „Jugend in Arbeit“ in Nordrhein-Westfalen, wo die Kammern für eine umrissene Zahl an langzeitarbeitslosen Jugendlichen eine besondere Stellenakquise betreiben sollen, flankiert von der Kommunikation über die Landesvereinigung der Arbeitgeberverbände (vgl. Ministerium für Arbeit 1999). In einigen Bundesländern sind sogar eigene Gremien installiert worden, in denen die Verbände eine Art Controllingfunktion für die Umsetzung arbeitsmarktpolitischer Programme übernehmen. Dies gilt vor allem für diejenigen Bundesländer, die entsprechend einer Push-Strategie versucht haben, verfügbare europäische Förderprogramme oder Programme benachbarter Politikfelder wie Wirtschafts- und Technologieförderung zu nutzen, um die starren Vorgaben der deutschen Arbeitsförderung zu umschiffen. Um die Verzahnung verschiedener Programme gewährleisten zu können, greifen die meisten dieser Bundesländer auf tripartistische Gremien zurück, in denen auch die Arbeitgeberverbände eine zentrale Rolle übernehmen. Insbesondere Bundesländer, die von besonderen wirtschaftlichen Anpassungsproblemen betroffen sind, zählen zu dieser Gruppe, etwa Bremen, Nordrhein-Westfalen und fast alle ostdeutschen Länder (vgl. Blancke/Schmid 2001). Konzertierungen dieser Art sind durch die europäische Strukturpolitik maßgeblich beschleunigt worden. Die Vielzahl kofinanzierter Programme hat ein Mehrebenensystem in der Arbeitsmarktpolitik entstehen lassen, in dem auf der regionalen Ebene die Verbände – insbesondere auch die der Arbeitgeber – neue Steuerungspotentiale gewonnen haben (vgl. Lang/ Naschold/Reissert 1998). Dieses Politikfeld ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Europäisierung auch Impulse der Regionalisierung auslöst, mit Effekten für die Arbeitgeberverbände. Diese Art von Mesokorporatismus funktioniert aber nur, wenn die Gewerkschaften wie auch die Arbeitgeberverbände autonom genug sind, um mit ihrer Einflusslogik auch die Umsetzung von Initiativen glaubhaft garantieren zu können, was man vor allem an der Ausbildungsproblematik sehen kann (vgl. Heinze/Schmid 1994). Mesokorporatismus ist in den Bundesländern unterschiedlich stark ausgeprägt. Dass in Baden-Württemberg beispielsweise nur eine schwache tripartistische Koordinierung festzustellen ist, liegt nicht an der mangelnden Verpflichtungsfähigkeit der Verbände. Es liegt eher daran, dass dort die Landesregierungen stärker auf wirtschaftsnahe Strukturförderung als Mittel der Arbeitsmarktpolitik gesetzt haben als auf zielgruppenspezifische Arbeitsmarktprogramme (vgl. Blancke 2004). Wie weit eine solche Konzertierung unter Mitwirkung der Arbeitgeberverbände in einzelnen Feldern gehen kann, demonstriert Bayern. Dort wurden sogar Strategien der relativen
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Lohnzurückhaltung vereinbart, was auf Bundesebene stets einen Hemmschuh für die weitere Entwicklung des Bündnisses für Arbeit darstellte (vgl. Heinze 2002). In Bundesländern wie Rheinland-Pfalz sind unter Mitwirkung der Verbände übertragbare Arbeitszeitmodelle entwickelt und der Bedarf an Qualifizierung ermittelt worden (vgl. Tiemann/ Kaulisch 1999). Abbildung 3:
Territoriale Beschäftigungspakte als Teil europäischer Beschäftigungspolitik
Quelle: Roth 1999: 229.
III.3 Regionale Arbeitgeberverbände
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Ein zentraler Punkt beinahe aller Versuche auf Landesebene, die arbeitsmarktpolitischen Instrumente in korporatistischer Manier zu nutzen, ist die Ausbildung. Dieses Thema hat auch dem zweiten Bündnis für Arbeit seinen Stempel aufgedrückt („Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“). Hier spielen die Landesarbeitgeber deshalb eine wichtige Rolle, weil ihre Mitgliedsverbände aus Eigeninteresse eine Art Ausbildungsplatzakquisition betreiben. Dabei kommt ihnen das soziale Kapital zugute, das in den ehrenamtlich dominierten Verbänden entstanden ist. Allerdings ist die unmittelbare Steuerungsfunktion der Landesvereinigungen nur schwach, weil die Unternehmen nicht direkt bei ihnen Mitglieder sind. Die Landesvereinigungen müssen daher über die regionalen Stufen gehen und auf die Kooperationsbereitschaft regionaler Verbände vertrauen. Außerdem laufen Ausbildungspakte häufig auf eine symbolische Politik hinaus, die inszeniert wird, um gesetzgeberische Eingriffe in Form einer Ausbildungsplatzabgabe zu verhindern. 6
Der regionale Unterbau des deutschen Modells: Sozialkapital und Konsensorientierung
Ein Blick auf die Historie der regionalen Verbände und ihre wichtigsten Repräsentanten in der Öffentlichkeit ist wie ein Streifzug durch die Geschichte des deutschen Modells. An der Spitze standen und stehen häufig Unternehmer, die prototypisch für das StakeholderKonzept des Rheinischen Kapitalismus waren und sind. Nach der Phase des langen Aufschwungs wurde es jedoch seit den siebziger Jahren schwieriger, die Verbandssolidarität aufrechtzuerhalten. Letztlich brachte die krisenhafte wirtschaftliche Entwicklung die Verbandsführungen dazu, den Mitgliedern verstärkt Dienstleistungen anzubieten, um durch eine Entkoppelung von „Zweck und Motiv“ (Luhmann 1999) die innerverbandliche Integration zu gewährleisten. 5 Viele Spitzenrepräsentanten des Arbeitgeberlagers wie Hanns-Martin Schleyer, Jochen Kirchhoff, Hans-Peter Stihl oder Dieter Hundt stammten oder stammen aus den wirtschaftlich tonangebenden Bundesländern, vor allem aus Baden-Württemberg, dem lange Zeit heimlichen Hauptquartier der deutschen Arbeitgeber. Außerdem bleibt in der Regel eine Personalunion zwischen dem Präsidenten der BDA und dem Präsidenten seines regionalen Heimatverbands bestehen. Dieter Hundt ist zurzeit nicht nur Präsident der Bundesvereinigung, sondern weiterhin auch Präsident der Landesvereinigung in Baden-Württemberg. Wer die Galerie der amtierenden oder ehemaligen Vorstandsmitglieder in regionalen Arbeitgeberverbänden durchforstet, stößt vor allem auf viele deutsche Traditionsunternehmen mit prominenten Namen. Im Unterschied zu den Gewerkschaften, deren Spitzenfunktionen stets hauptamtliche Funktionäre innehaben, stehen bei den Arbeitgebern die ehrenamtlichen Vorstände im Rampenlicht, während die nicht wenig einflussreichen Geschäftsführer im Hintergrund bleiben. Hinzu kommen unzählige ehrenamtlich Aktive in den Arbeitskreisen, wie man sie auch bei den Gewerkschaften findet. Inwiefern fördern diese ehrenamtlichen Netzwerke in der Region die Bildung von Sozialkapital? Trotz der Globalisierung haben Unternehmen weiterhin auch lokale und regionale Bezüge. Viele Beschäftigte kommen nach wie vor aus der Region; daher besteht ein 5
Dies zeigen auch deutlich die verschiedenen Jubiläumsschriften der regionalen Verbände, etwa exemplarisch: Märkischer Arbeitgeberverband 1998.
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gemeinsames Interesse an der Qualität von schulischer und akademischer Ausbildung oder der Verbesserung der regionalen Infrastruktur. Zugleich pflegen die Verbände durch Arbeitskreise die Kontakte zur Politik und zu anderen gesellschaftlichen Gruppen. Durch solche dauerhaften Beziehungen wächst das Vertrauen innerhalb der Verbände, aber auch zwischen den Verbänden und ihrer Umwelt. Das Sozialkapital solcher Vertrauensbeziehungen trug lange dazu bei, dass einige besondere Eigenschaften des deutschen Modells auch in den Unternehmen vorgelebt wurden: eine intensive Kooperation mit den Betriebsräten und Gewerkschaften, branchenbezogenes Engagement in der Ausbildung und beruflichen Weiterbildung sowie die gemeinsame Aufsicht mit den Gewerkschaften über die Sozialversicherung. Selbst wenn die Mitgliedschaft in einem Verband rein rational motiviert sein kann, bleiben Grundprobleme bestehen, die nur durch Vertrauen gemildert werden können. Gerade die in regionalen Milieus verankerten Verbände tragen dazu bei. Denn in den Arbeitgeberverbänden treffen schließlich auch Konkurrenten aufeinander, deren Interessen innerverbandlich ausgeglichen werden müssen. Die Verbände kultivieren das gemeinsame Interesse von Konkurrenten, durch vergleichbare Bedingungen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen in einen fairen Wettbewerb eintreten zu können. Ohne das gegenseitige Vertrauen, das die Verbände durch Kommunikation schaffen, könnte dieses gemeinsame Interesse an Tarifverträgen auf Dauer nicht bestehen. In den gemischten Verbänden sind unterschiedliche Branchen versammelt, die zum Teil gegenläufige oder sich wenig überschneidende Interessen haben. Dennoch treten über die verbandlich vermittelten Kontakte auch gemeinsame Interessen zutage, die zu entdecken für die Arbeitgeber schwieriger ist als für Gewerkschaften (vgl. van Waarden 1995). Unter den Bedingungen von Wettbewerb können diese Kontakte Vertrauen stabilisieren. Dieses Vertrauen ist eine wichtige Ressource in koordinierten Ökonomien wie der der Bundesrepublik, die sich von den hauptsächlich marktgesteuerten Varianten des Kapitalismus unterscheiden (vgl. Hall/Soskice 2004). Allerdings stützt sich die Literatur zu den Varianten des Kapitalismus in erster Linie auf Institutionen wie das Berufsbildungssystem, die Verbände oder den Sozialstaat, um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Wirtschaftsmodellen zu erklären. Verbunden mit solchen Institutionen, aber nicht ausschließlich davon abhängig sind die vielfältigen Formen von Sozialkapital, die auf der Mikroebene den Schmierstoff für Vertrauen und langfristige Orientierung bilden. Tatsächlich war die Forschung zu den Varianten des Kapitalismus in ihren Ursprüngen eng mit der Frage verknüpft, ob sich Sozialkapital günstig auf Wachstum und wirtschaftliche Produktivität auswirkt (vgl. Putnam 1993). Es liegt also nahe, in dem in Strukturen wie Tarifautonomie und Institutionen wie zentralisierte Verbände eingebetteten Sozialkapital einen Schlüssel zu sehen, der die lange Zeit hohe Leistungsfähigkeit des deutschen Modells erklärt. Gleichzeitig kann sich dieses Sozialkapital aber auch als die Achillesferse des Modells entpuppen, wenn über lange Zeit eingespielte Beziehungen verhindern, dass Unternehmen neue Strategien einschlagen und auf Wandel reagieren können. Sozialkapital im Sinne breiterer Netzwerke wird jedoch weniger auf Landesebene gebildet – dort verhandeln wenige Eliten miteinander –, sondern stärker auf der regionalen und lokalen Ebene. Das wird unter anderem am Zuschnitt der Arbeitskreise in regionalen Arbeitgeberverbänden deutlich. Die Landesvereinigungen besitzen charakteristischerweise Gremien, die sich mit übergeordneten wirtschafts- und sozialpolitischen Fragestellungen
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befassen, etwa mit der Berufsbildung, sozialen Sicherung oder mit Arbeitsmarktfragen. Auf regionaler und lokaler Ebene dominieren hingegen Arbeitskreise der Personalleiter, der Ausbildungsleiter und zur Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft. Über diese Gremien tauschen sich letztlich die Unternehmen aus, die sich außerdem mit anderen regionalen Akteuren vernetzen. Ausbildungspakte werden durch diese Variante von Sozialkapital erleichtert, allerdings nicht garantiert. Denn der Generationenwechsel und der wirtschaftliche Wandel lassen diese Netze schrumpfen; die kommunikative Reichweite der regionalen Arbeitgeberverbände nimmt ab. Das hat durchaus Folgen auch für die Steuerungsfähigkeit der Arbeitgeber auf Landesebene und für das gesamte „Modell Deutschland“. 7
Seismograph des Wandels des deutschen Modells?
Die regionalen Arbeitgeberverbände stehen vor ähnlichen Herausforderungen wie das gesamte „Modell Deutschland“. Die konkreten Konsequenzen der Veränderung treten in den Regionen besonders deutlich zutage. Der deutsche Korporatismus ist vielfach „von oben“ gesteuert worden, unter enormer Belastung der Einflusslogik und auf Kosten der Interessen vieler Mitglieder. Sein Wandel wird hingegen vornehmlich „von unten“ vorangetrieben. Die Übernahme von Firmen durch Fonds, größere multinationale Unternehmen oder ausländische Investorengruppen erschwert die Koordination und Kommunikation in der Region (vgl. Zimmer 2002). Die früher übliche Selbstverständigung durch die Kontakte zwischen Familienunternehmen, Honoratioren und Verbänden läuft nur noch schleppend, wenn neue Eliten weder den Sinn dieser Abstimmungen einsehen noch mit den Ritualen und Gepflogenheiten vertraut sind. Doch nicht nur die Kommunikation kann gestört sein. Auch Austritte aus Verbänden werden beeinflusst vom Generationenwandel. Familienunternehmen in der Metallbranche oder im Handel scheitern häufig an einer Nachfolgeregelung. Das neue Management sieht sich meist nicht mehr verpflichtet, dem Arbeitgeberverband anzugehören. Eine Folge davon ist, dass die Verbände immer weniger in der Lage sind, einen Ausgleich zwischen den Interessen ihrer Mitglieder herzustellen und diese mit den Interessen anderer Akteure abzugleichen (vgl. Streeck/Höpner 2003). Und damit ist auch eine Voraussetzung des deutschen Korporatismus bedroht, nämlich die gegenseitige Verpflichtungsfähigkeit der Verbände (vgl. Weßels 2000). Die zunehmende Flexibilisierung der Tarifpolitik stellt hingegen in erster Linie ein Risiko für die Gewerkschaften dar (vgl. Streeck/Rehder 2005). Denn je mehr Öffnungsklauseln vereinbart werden, desto aktiver müssen die regionalen Verbände werden, indem sie ihren Mitgliedern bei der Umsetzung der betriebsbezogenen Klauseln helfen. Auch Haustarifverträge, die normalerweise in Betrieben angewendet werden, die nicht dem Arbeitgeberverband angehören, erfordern viel Erfahrung beim Aushandeln und bei der Umsetzung. OT-Mitgliedschaften erscheinen dabei als eine attraktive Alternative, die jedoch eine tickende Zeitbombe sein könnte: für die Überlebensfähigkeit der Verbände, weil auch private Anbieter die Beratung übernehmen könnten, und für die Unternehmen selbst, weil die tarifpolitischen Risiken hier größer sind als bei Flächentarifen. Die Herausforderungen für die regionalen Arbeitgeberverbände liegen aber nicht nur in der Tarifpolitik. Damit Institutionen in koordinierten Ökonomien wie in Deutschland
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funktionieren können, ist Sozialkapital erforderlich. Die lange Zeit vorhandene Bereitschaft zur Kooperation mit den Gewerkschaften und zur gemeinsamen Herstellung von Kollektivgütern fußte vor allem auf den Erfahrungen der Vorkriegszeit (vgl. Ullmann 1988). Die Generation der Unternehmer und Verbandsfunktionäre, die in der Bundesrepublik die Sozialpartnerschaft mit aufbaute, betrachtete diese auch als einen Beitrag, um eine stabile Demokratie zu errichten (vgl. Bührer/Grande 2000). Eine instrumentelle Polarisierung zwischen Arbeit und Kapital galt ihnen als demagogisches Mittel, das den Klassenkonflikt eher verschärfen als befrieden würde. Trotz erheblicher tarifpolitischer Auseinandersetzungen in den 1970er und 1980er Jahren und trotz fundamentaler Angriffe auf gewerkschaftliche Errungenschaften wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall überdauerten die Vertrauensbeziehungen (vgl. Thelen 2000). Schließlich bietet ja gerade die Institutionalisierung des Klassenkonflikts die Möglichkeit, den Streit zu rationalisieren und dadurch eine konfliktorische Kooperation zu festigen. Rationalisierung durch Institutionen ist aber kein sich selbst erhaltender Prozess (Lepsius 1995). Die regionalen Arbeitgeberverbände mögen momentan gut im Wettbewerb mit kommerziellen Beratern und Kanzleien bestehen, wenn es um ihre Dienstleistungen geht. Doch um die Normen aufrechtzuerhalten, die für langfristige Kooperationsbeziehungen auf verschiedenen Ebenen wichtig sind, ist mehr vonnöten. Der Generationenwechsel unter den Eliten, der Wandel der Eigentümerverhältnisse, die Internationalisierung des Managements, das alles sind Faktoren, die einen schleichenden Normwandel bewirken, der das „Modell Deutschland“ ebenso verändert wie die Steuerbefreiung beim Verkauf großer Unternehmensbeteiligungen (vgl. Kitschelt/Streeck 2004). Um ein berühmtes Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde über den Verfassungsstaat zu variieren: Der Markt lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Bislang erhalten die regionalen Arbeitgeberverbände noch einige dieser Voraussetzungen. Dass sie dies als reine Beratungsagenturen auch leisten könnten, ist eher unwahrscheinlich. Literatur Grundlegende Literatur Moser, Eva (1990): Bayerns Arbeitgeberverbände im Wiederaufbau. Der Verein der Bayerischen Metallindustrie 1947í1962. Stuttgart: Steiner. Schmid, Josef (2003): Gewerkschaften im Föderalismus. Regionale Strukturen und Kulturen und die Dynamik von politischen Mehrebenensystemen. In: Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 271í295. Streeck, Wolfgang (1991): Interest Heterogeneity and Organizing Capacity. Two Logics of Collective Action? In: Czada, Roland/Windhoff-Heritier, Adrienne (Hrsg.): Political Choice. Institutions, Rules, and the Limits of Rationality. Frankfurt a. M.: Campus/Boulder, Colo.: Westview Press, S. 161í198. Völkl, Martin (2002): Der Mittelstand und die Tarifautonomie. Arbeitgeberverbände zwischen Sozialpartnerschaft und Dienstleistung. München/Mering: Hampp. Zimmer, Stefan (2002): Jenseits von Arbeit und Kapital? Unternehmerverbände und Gewerkschaften im Zeitalter der Globalisierung. Opladen: Leske + Budrich.
III.3 Regionale Arbeitgeberverbände
295
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III.3 Regionale Arbeitgeberverbände
297
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Gesellschaftlicher Wandel, Mediengesellschaft und Wirtschaft. Die Kommunikationsaktivitäten bundesweit agierender Interessenverbände der Wirtschaft Gesellschaftlicher Wandel, Mediengesellschaft und Wirtschaft
Joachim Preusse/Sarah Zielmann Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
1
Problemaufriss
Für Organisationen des politisch-administrativen Entscheidungssystems (PAE) (Bundesregierung, Ministerialbürokratie, Mitglieder des Bundestags, Parteien) belegen zahlreiche Studien die hohe Bedeutung von Kommunikation mit ihren Bezugsgruppen, gerade in Form von Public Relations. 1 Politische Vorfeldakteure wie Interessenverbände der Wirtschaft sind diesbezüglich jedoch nahezu unerforscht. Lücken bestehen vor allem hinsichtlich des Beziehungsdreiecks von Interessenverbänden, Medien und Akteuren des PAEs. Die wenigen vorliegenden Befunde sind insbesondere aufgrund von Definitions- und Typologisierungsproblemen kaum vergleichbar. Dieses Forschungsdefizit ist verwunderlich, da Verbandskommunikation – unterteilt in Lobbying und PR – eine insgesamt bedeutsame Rolle im Politikprozess spielt. Die gesellschaftlichen Auswirkungen, die aus den Bemühungen um politischen Einfluss resultieren, werden so in ihrer Organisation und Strukturierung weitestgehend außer Acht gelassen. Anliegen dieses Beitrags ist es einerseits, die unter dem Konzept der „Mediengesellschaft“ subsumierbaren Rahmenbedingungen der Verbandskommunikation darzustellen sowie die daraus resultierende Frage nach der Bedeutung medial hergestellter Öffentlichkeit für Interessenverbände aufzuwerfen (Abschnitt 2). Andererseits werden nach einer Übersicht über zentrale theoretische und empirische Befunde zur PR von Interessenverbänden der Wirtschaft (Abschnitt 3) ausgewählte Ergebnisse einer empirischen Studie der Verfasser vorgestellt (Abschnitt 4) und abschließend im Hinblick auf weitere Forschungsaktivitäten diskutiert. 2
Der Einfluss der Mediengesellschaft auf Interessenverbände
Die Medien, die sich an ein Massenpublikum richten, (Presse, Rundfunk, Internet) gelten in modernen Gesellschaften als ein stetig wichtiger werdender Bezugspunkt für Organisationen aller Art: Medien strukturieren sowohl die Kommunikationsprozesse zwischen Organisationen als auch vermehrt deren Binnenkommunikation (vgl. Hackenbroch 1998a: 42 ff.). Aus historischer Perspektive ist die weitgehende Entflechtung der Printmedien von den kirchlichen und politischen Organisationen, die sie ehemals getragen hatten, hervorzuheben. Diese Entwicklung hat, verbunden mit der Dualisierung des Rundfunks, zu einer sukzessiven Autonomiezunahme der Medien gegenüber dem politischen System geführt (vgl. u. a. Gerhards 1
Die Begriffe „Public Relations“ (PR) und „Öffentlichkeitsarbeit“ werden synonym gebraucht.
III.4 Gesellschaftlicher Wandel, Mediengesellschaft und Wirtschaft
299
1994: 85; Saxer 1998; Jarren/Donges 2002: 28 f.). Die politische Interessen- und Entscheidungsvermittlung gestaltet sich immer schwieriger. Die heutigen Publikumsmedien nehmen nicht mehr (nur) eine am Allgemeinwohl orientierte „dienende“ Funktion als Repräsentanten und Vermittler der Interessen nichtmedialer Organisationen wahr. Mit der Ausdifferenzierung und Expansion des Mediensystems geht eine zunehmende Ausrichtung vieler Medien auf das Wirtschaftssystem einher. Dies äußert sich in einer verstärkten Orientierung am Werbemarkt sowie im Wettbewerb um die Zuwendung des Publikums (vgl. u. a. Jarren 2001; Weischenberg 2004: 281 ff.). Die Entwicklung findet ihren begrifflichen Niederschlag in Konzepten der Informations-, Kommunikations- oder Mediengesellschaft, die mit variierender Akzentuierung die Vermehrung, Verdichtung und Beschleunigung (massen-)medial vermittelter Kommunikation und damit ihre Relevanz für die Koorientierung gesellschaftlicher Funktionssysteme als die Hauptmerkmale moderner Gesellschaften betonen. In dem Maße, wie Medien mehr und mehr zur funktionalen Voraussetzung politischer Kommunikation werden, unterliegen auch politische Organisationen einem erhöhten „Anpassungs- und Innovationsdruck“ (Jarren/Sarcinelli 1998: 18) in Bezug auf die Medienlogik, d. h. auf je medienspezifische Themenselektions-, Produktions- und Darstellungsroutinen. Schließlich ist der massenmediale Informationstransfer zum entscheidenden Konstitutionskriterium von Öffentlichkeit geworden. Massenmedien haben in Mediengesellschaften zwar kein Monopol im Prozess der Herstellung von Öffentlichkeit, gleichwohl setzen der Zugang zur Öffentlichkeit und die Mitgestaltung öffentlicher Meinungen weitestgehend den Zugang zu Medien voraus. Idealtypisch ist Öffentlichkeit aus der Perspektive von Interessenverbänden der Wirtschaft angesichts ihrer Outputfunktion im Hinblick auf die politischen Entscheidungsträger von Bedeutung: In der Öffentlichkeit wird „die Agenda des politischen Systems mitdefiniert“, indem „Themen gesetzt und Meinungen zu den Themen gebildet [werden], die Rückschlüsse darauf zulassen, in welche Richtung die politische Bearbeitung dieser Themen zu gehen habe.“ (Gerhards/Neidhardt 1993: 57). Ziel von Organisationen wie Interessenverbänden der Wirtschaft mit politischem Anspruch muss es folglich sein, in diesem umkämpften Gebiet Einfluss zu gewinnen, d. h. eigene Positionen und Anliegen in den Kreis der im Kommunikationssystem Öffentlichkeit diskutierten Themen einzubringen, durchzusetzen und – im Idealfall – „ihre Meinungen als verallgemeinerbare Meinungen zu plausibilisieren“ (Gerhards/Neidhardt 1990: 11). Wie erwähnt fehlen jedoch neuere empirische Befunde zum Umfang der Nutzbarmachung von Medienöffentlichkeit durch Interessenverbände der Wirtschaft und der dazu notwendigen Institutionalisierung von PR. Im Vergleich zu anderen Organisationstypen im politischen System kann aber als konsentiert angenommen werden, dass Interessenverbände in der Gesamtsicht vergleichsweise wenige Einblicke in ihre politische Identität bieten: „Sie gehören wohl zu den gesellschaftlichen Akteuren, deren öffentliche Selbstdarstellung die Entstehung von Rollenstereotypen und Legenden in besonderem Maße begünstigen. Die Handlungslogiken von Interessenverbänden empfehlen, nach außen Einheit oder Geschlossenheit zu demonstrieren sowie Diskretion zu wahren. Diese beiden Leitprinzipien der Selbstdarstellung verbieten es, die Leistungen der Interessen- und Politikvermittlung in konkreter Form öffentlich zu machen.“ (Berger 2004: 200).
Innerhalb der politikwissenschaftlichen Forschung zu Verbänden wird die Kommunikation mit dem PAE zumeist in öffentliche und nichtöffentliche Kommunikationsformen differen-
300
Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
ziert. Ziel der öffentlichen Verbandskommunikation ist die Entfaltung öffentlichen Drucks, u. a. über die Mobilisierung von Wählerstimmen und die Durchführung von Demonstrationen. Zum direkt-persönlichen Lobbying zählen die personelle Vertretung von Verbandsmitgliedern in politischen Organisationen und Gremien, die Weitergabe von Fachinformationen, aber auch die Einflussnahme über Geldzahlungen (vgl. von Alemann 1996a; Weber 1977). Demgegenüber liegt die Kernfunktion der PR angesichts potentiell divergierender Interessenslagen zwischen Organisationen und ihren Bezugsgruppen in der Herstellung von gegenseitiger Akzeptanz (vgl. Szyszka 2004: 164). PR trägt dazu bei, soziales Vertrauen in Organisationen und ihr Handeln zu schaffen, um deren Gestaltungsspielräume auch unter wechselnden Einflüssen zu sichern und zu erweitern. Als organisationale „Grenzstelle“ dient PR damit der Legitimation der Organisation und ihrer Interessen gegenüber relevanten Bezugsgruppen und stellt folglich aus Organisationssicht ein Mittel der Umweltkontrolle dar (vgl. Jarren/Röttger 2004: 30; Röttger 2005b). Neben der externen Umweltbeeinflussung zählen auch die internen Informations- und Vermittlungsleistungen zu den Aufgaben der PR. Hinsichtlich des Ausmaßes der verbandlichen PR-Aktivitäten und ihres Verhältnisses zu den Massenmedien bewegt man sich in einem Raum von Vermutungen und vagen Einschätzungen, die, wenn überhaupt empirisch fundiert, überwiegend auf die Referenzstudie von Hackenbroch (1998a; vgl. Kapitel 3.3.3) zurückgreifen, in der Interessenverbände der Wirtschaft nicht im Zentrum stehen. Die in der praxisorientierten Literatur zur PR von Interessenverbänden der Wirtschaft dominierenden Behauptungen, dass auch Spitzenverbände mit Blick auf ihre Öffentlichkeitsarbeit im Allgemeinen und ihre Medienarbeit im Besonderen weitgehend von einem „dichten Netz ausgeprägter Kommunikationsprobleme“ (Girgensohn/Szynka 1999: 35) umgeben sind und es ihnen „auffallend häufig“ misslingt, „sich nach drinnen und draußen verständlich zu machen“ (Broichhausen 1996: 14) können folglich in dieser Pauschalität nicht überzeugen. 3
Stand der PR-Forschung zu Interessenverbänden der Wirtschaft
3.1 Verbandsdefinition und Klassifizierung Das wohl größte Problem der vorliegenden Studien zur PR von Interessenverbänden der Wirtschaft liegt in der Unklarheit bzw. Mehrdeutigkeit des Begriffs „Interessenverband der Wirtschaft“. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Organisationstypus „Verband“ erfolgt überwiegend in der interdisziplinär geprägten Verbändeforschung, die eine Vielzahl von Verbandsdefinitionen und Typologisierungssystematiken hervorgebracht hat (vgl. im Überblick bspw. Lakes 1999; Willems/von Winter 2007: 19 ff.; von Schnurbein 2008: 19 ff.). Die begriffliche Unklarheit wird dadurch verstärkt, dass Begriffe wie „Verband“, „Interessenverband“, „Wirtschaftsverband“, „Interessengruppe“ und „organisierte Interessen“ vielfach gleichbedeutend verwendet und die jeweiligen Definitionsbestandteile nicht offengelegt werden. Folglich existieren weder in der Theorie noch in der Praxis trennscharfe Merkmale, anhand derer sich Verbände eindeutig von anderen Organisationstypen abgrenzen lassen; definitorische Elemente, die nur auf Verbände und zugleich auf alle Verbände zutreffen, liegen nicht vor. Erschwert wird eine solche Abgrenzung durch Besonderheiten einzelner Organisationen, die auch unter den weitesten Verbandsbegriff stets nur partiell subsumiert werden können (vgl. von Alemann 1996b: 21).
III.4 Gesellschaftlicher Wandel, Mediengesellschaft und Wirtschaft
301
Interessenverbände der Wirtschaft können prototypisch in Personenverbände (Berufsverbände, Gewerkschaften) auf der einen und Betriebsverbände (Unternehmensverbände/ Branchenverbände/Fachverbände, Haushaltsverbände, Arbeitgeberverbände) auf der anderen Seite unterschieden werden. Abb. 1 veranschaulicht dies grafisch. Abbildung 1:
Klassifizierung von Interessenverbänden der Wirtschaft
Quelle: Zitzmann 2008: 11.
3.2 Theoretische Bewertungen In der kommunikationswissenschaftlichen PR-Forschung sind Interessenverbände der Wirtschaft bisher weitgehend ignoriert worden. Das heißt, vor allem die beiden zentralen Fragen der PR-Forschung nach den spezifischen Funktionen und Leistungen, die die PR für Inte-
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
ressenverbände der Wirtschaft erbringt, sowie nach den organisationalen Bedingungen, unter denen PR-Mitteilungen in Interessenverbänden der Wirtschaft hergestellt werden, sind bis heute empirisch und theoretisch nur wenig untersucht. Die Beschäftigung mit den PR-Aktivitäten von Interessenverbänden der Wirtschaft muss noch immer als „ein so gut wie unerschlossenes Feld“ (Flieger 1982: 48) und als „politik- und kommunikationswissenschaftliches Marginalthema“ (Böckelmann 1991: 5) gelten. Ein Grund für diese Forschungslücke besteht sicherlich darin, dass sich die PR-Forschung im engeren Sinne bisher überwiegend auf Wirtschaftsunternehmen konzentriert hat. Innerhalb der Forschungsbemühungen im politischen Raum ist zudem eine Konzentration auf die PR-Kommunikation von Exekutive und Legislative zu verzeichnen. Deskriptive Analysen mit Bezug zu den Kommunikationsaktivitäten von Interessenverbänden der Wirtschaft liegen überwiegend als historische Einzelfallbeschreibungen der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft (vgl. Lentz 1978: 36 ff.; Müller-Vogg 1979; Rückel 1983: 96 ff.) sowie für Gewerkschaften und karitative Verbände vor (vgl. u. a. Arlt 1998 sowie einzelne Beiträge in Rühl 1982 und Bentele/Liebert/Vogt 2001). Neuere Monografien, in denen die PR-Kommunikation von Interessenverbänden der Wirtschaft im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht, existieren im deutschsprachigen Raum kaum: Stefan Brieske kommt in einem Überblick über die einschlägige politik- und kommunikationswissenschaftliche Literatur zur „Public Relations der Verbände“ zu dem Ergebnis, dass „die Wirklichkeit von Verbands-PR (…) von den knapp bemessenen finanziellen und personellen Ressourcen bestimmt“ ist (Brieske 2007: 89). In der Praxis zeige sich, „dass die Möglichkeiten, besonders in konzeptionell-strategischer Hinsicht oftmals aufgrund spezifischer Bedingungen des Nonprofit-Sektors nicht optimal ausgenutzt werden. Besonders verkrustete interne Strukturen und ein fehlendes Bewusstsein zur Darstellung nach außen wirken sich als problematisch aus.“ (ebd.).
Eine Arbeit über die politische Kommunikation des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) von Ulrike Berger (2004) zeigt allerdings, dass hinsichtlich des Institutionalisierungsgrades von PR zwischen kleinen Branchen- und Fachverbänden einerseits und Spitzenverbänden andererseits zu unterscheiden ist. Im BDI ist die Öffentlichkeitsarbeit seit seiner Gründung 1949 eine tragende Säule der Verbandsarbeit. Dies äußert sich neben der Ausstattung mit finanziellen und personellen Ressourcen auch in fließenden Übergängen zwischen der Verbandspolitik und der Verbandskommunikation: „Während die Angehörigen der Fachabteilungen ihre Beiträge zur öffentlichen Kommunikation überwiegend im Hintergrund erbringen und in der großen Öffentlichkeit vergleichsweise wenig in Erscheinung treten, agiert der BDI-Präsident gleichsam als Hauptdarsteller des Verbandes in der Medienöffentlichkeit: Nicht der Chef der Abteilung Presse und Information, sondern der Präsident kann (…) als erster Öffentlichkeitsarbeiter des Verbandes gesehen werden.“ (Berger 2004: 133).
Als bedeutsame Möglichkeiten, die Publikationschancen der eigenen Interessen zu erhöhen, sieht Berger die Abstimmung der PR-Aktivitäten mit anderen Organisationen des Unternehmerlagers sowie die Zusammenarbeit mit wirtschaftsnahen Thinktanks. Gleichwohl könne nicht außer Acht gelassen werden, „dass die internen Interessengegensätze innerhalb des Unternehmerlagers und die Konkurrenz zwischen verschiedenen Unternehmerverbänden auch
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303
der Kooperation in Sachen Öffentlichkeitsarbeit Grenzen setzen.“ (ebd.: 135). Damit spricht Berger das aus der soziologischen Organisationsforschung bekannte Dilemma der Vereinbarkeit von Repräsentation und Effektivität an, nach dem die verbandlichen Ziele der möglichst umfassenden Berücksichtigung einzelner Mitgliederinteressen und der Umsetzbarkeit dieser in eine effektive politische Strategie der Interessendurchsetzung konfligieren können. Insoweit bleibt festzuhalten, dass nicht nur mediale Rahmenbedingungen, sondern auch interne Spezifika des Organisationstypus „Verband“ einen erheblichen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der Öffentlichkeitsarbeit haben. 3.3 Empirische Befunde 3.3.1 Verbands-PR aus pluralismustheoretischer Sicht Erste Versuche der systematischen Beschreibung der PR von Interessenverbänden der Wirtschaft stammen aus dem Umfeld von Franz Ronneberger, der mit seinem Aufsatz „Legitimation durch Information“ (1977) einen demokratietheoretischen Entwurf der PR vorlegte. Im Kontext dieser Überlegungen stehen Aufsätze zur Öffentlichkeitsarbeit von Interessenverbänden der Wirtschaft insbesondere von Ronneberger (1982; 1983), Rühl (1982) und Rückel (1983), wobei als analytischer Rahmen stets die politische Rolle der Verbände in der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft herangezogen wird. In seinem Ausgangsaufsatz beschreibt Ronneberger PR aus politikzentrierter Perspektive als „konstitutiven Faktor“ (Ronneberger 1977: 19) demokratischer Gesellschaften; er sieht Interessenverbände als „Träger des Pluralismus“ (Ronneberger 1982: 30). Konsequenterweise wird PR auch nur im Rahmen der verbandlichen Interessenrepräsentation erörtert, wonach „PR nichts anderes [vermögen], als die Interessen in der Umwelt so gut darzustellen, daß sie von möglichst vielen verstanden und gebilligt werden können.“ (ebd.: 40). Ronneberger fokussiert also die gesellschaftliche Funktion der PR und beschreibt sie insbesondere bezüglich ihrer Integrationsfunktion im Hinblick auf zahlreiche Teilöffentlichkeiten. Diese Überlegungen erweisen sich insofern als problematisch, als vorausgesetzt wird, dass Interessenverbände stets gleichermaßen willens und in der Lage sind, ihre Interessen in den (medien-)öffentlichen Diskurs einzubringen und auch gegen Widerstände zu vertreten. Die Frage, ob PR-Kommunikatoren die wahren Interessen von Organisationen tatsächlich ausnahmslos und vollumfänglich öffentlich darstellen wollen und für diese eine möglichst große Resonanz anstreben, muss nicht nur im Hinblick auf Interessenverbände bezweifelt werden. 3.3.2 Verbands-PR als Instrument der politischen Interessendurchsetzung Die Bedeutung von PR als grundlegender Organisationsfunktion mit politischer Zielrichtung für intermediäre Organisationen verdeutlicht eine Befragung von Dorer (1995). Hier zeigt sich die überwiegende Mehrheit der 416 Befragten aus österreichischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden, neuen sozialen Bewegungen, Religionsgemeinschaften und politischen Parteien davon überzeugt, dass PR einen Beitrag zur Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse und damit auf spezifische Ziele intermediärer Organisati-
304
Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
onen leisten kann: Abstrahiert von einzelnen Organisationstypen geben insgesamt gut drei Viertel der Befragten an, mit Öffentlichkeitsarbeit zumindest kurzfristig Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen zu wollen (vgl. ebd.: 152 f.). Insgesamt schreibt darüber hinaus mehr als jeder zweite Befragte der PR ein Einflusspotenzial auf Ministerien, die öffentliche Meinung und Mitglieder der Organisation und damit auf nahezu sämtliche Zielgruppen ihrer politischen Arbeit zu (vgl. ebd.: 153). Über alle Detailunterschiede zwischen den untersuchten Organisationstypen hinweg bildet die klassische Presse- und Medienarbeit mit dem Ziel der Generierung einer möglichst hohen Medienpräsenz den Schwerpunkt der extern ausgerichteten PR-Tätigkeiten der untersuchten intermediären Organisationen (vgl. ebd.: 116 ff.). Im Zeitraum der Befragung Anfang der 1990er Jahre verfügten jedoch nur 30 Prozent der Organisationen über eine institutionalisierte PR-Stelle mit mindestens einem hauptamtlichen Funktionsträger. Auch der Politikwissenschaftler Sebaldt (2002: 88 ff.) gelangt in einer schriftlichen Befragung von Funktionären bundesweit agierender Interessenverbände zu dem Ergebnis, dass Medien im Rahmen der verbandlichen Kerntätigkeit der partikularen Interessenvermittlung nach den Bundesministerien mittlerweile den zweitwichtigsten Kontaktpartner darstellen, noch vor politischen Institutionen wie Bundestagsausschüssen, Bundestagsfraktionen oder Parteizentralen. Seine Schlussfolgerung, dass die politische Arbeit der Verbände heute „zu einem wesentlichen Teil professionelle Öffentlichkeitsarbeit ist“ (vgl. ebd.: 103) untermauert eine von der Berliner Kommunikationsberatung Plato im Jahr 2002 durchgeführte Befragung deutscher Spitzenverbände aus Industrie, Handel und Dienstleistungen sowie deren Mitgliedsverbänden. Die große Mehrheit der Verbandsführungen teilt die Einschätzung, dass der Wettbewerb um medienöffentliche Aufmerksamkeit deutlich an Schärfe zunimmt. Auf einer Fünferskala von „gar nicht wichtig“ bis „sehr wichtig“ stuften mehr als die Hälfte der Befragten die Medien als sehr wichtige Adressaten der interessenpolitischen Verbandsarbeit ein, etwas mehr als ein weiteres Drittel bezeichnen sie als „wichtig“ (vgl. Plato Kommunikation GmbH 2002). 3.3.3 Zugänge zum Entscheidungszentrum als zentrale Determinante Als zentral kann im Hinblick auf Interessenverbände der folgende Befund von Hackenbroch (1998a, vgl. 1998b) gelten: Vor allem organisationsinterne Gesichtspunkte entscheiden über die konkrete Ausprägung der Organisationsfunktion Öffentlichkeitsarbeit. Hackenbroch arbeitete in einer Untersuchung von drei Wirtschafts-, je zwei Religions- und Umweltverbänden sowie fünf Gewerkschaften vier Determinanten heraus, von denen die Intensität und Inhalte der Presse- und Medienarbeit als wichtigstem Tätigkeitsfeld der PR intermediärer Organisationen abhängen: 1. 2. 3. 4.
die Mitgliederentwicklung der Verbände, den – allerdings schwer zu operationalisierenden – Zugang zum Regierungssystem, den jeweiligen Einfluss auf gegnerische Organisationen sowie die finanziellen Ressourcen der Organisationen.
Hackenbroch konnte ermitteln, dass Umweltschutzverbände und Gewerkschaften die intensivste Presse- und Medienarbeit betreiben, wohingegen die Presse- und Medienarbeit der
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305
Interessenverbände der Wirtschaft die geringste Intensität aufweist (vgl. Hackenbroch 1998a: 139 f., 162 ff.). Im Ergebnis ist eine Abhängigkeit der Intensität von den zuvor bestimmten Einflussfaktoren zu verzeichnen, als deren bedeutsamste sich die Zugangschancen zum Regierungssystem erweisen (vgl. Hackenbroch 1998b: 164). Je besser also der Zugang zum Regierungssystem im Rahmen klassischer Lobbyingmaßnahmen ist, desto geringer fällt die verbandliche Intensität der Presse- und Medienarbeit aus, d. h. desto geringer sind der Output sowie die eingesetzten finanziellen und personellen Ressourcen. Die externe Öffentlichkeitsarbeit intermediärer Organisationen und hier insbesondere der Interessenverbände der Wirtschaft spielt sich im Hinblick auf die politische Interessenvermittlung und -durchsetzung also offenkundig in einem Spannungsfeld von klassischen Lobbyingmaßnahmen und öffentlichkeits- bzw. medienzentrierten PR-Maßnahmen ab (vgl. auch Koch-Baumgarten 2004). 4
Empirische Prüfung
Fasst man die vorliegenden theoretischen Annahmen und empirischen Studien zusammen, steht man hinsichtlich der PR von Interessenverbänden der Wirtschaft vor einem Dilemma: Einerseits legen empirische Befunde zur Bedeutungszunahme von PR in anderen intermediären Organisationen sowie die mediengesellschaftlichen Rahmenbedingungen politischer Kommunikation eine Übertragung dieser Befunde auch auf diesen Verbandstypus nahe. Andererseits – das zeigt u. a. die Studie von Hackenbroch – ist die Intensität der PRKommunikation in Interessenverbänden der Wirtschaft offensichtlich deutlich differenzierter zu bewerten, als oftmals angenommen wird. Daher war es das Ziel, mittels einer eigenen Untersuchung u. a. drei Fragestellungen zu beantworten, und zwar 1. nach der Funktion, die PR für Interessenverbände der Wirtschaft erfüllt, 2. nach den eingesetzten Instrumenten und 3. nach dem Verhältnis von Verbänden und Massenmedien. 4.1 Forschungsfragen und Vorgehensweise Die Datenerhebung erfolgte mittels leitfadengestützter Interviews. Angesichts der Mehrdeutigkeit des Verbandsbegriffs war eine pragmatische Eingrenzung des Untersuchungssamples erforderlich. Dieses bestand aus den insgesamt 80 Mitgliedsverbänden des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e. V. (BDI) (zu Beginn der Feldphase: 43 Mitgliedsverbände) und dem Zentralverband des Deutschen Handwerks e. V. (ZDH) (zu Beginn der Feldphase: 37 Mitgliedsverbände). Die Gesprächswünsche wurden in personalisierten Anschreiben an alle PR- bzw. Presseverantwortlichen und Geschäftsführer bzw. Hauptgeschäftsführer der Mitgliedsverbände von BDI und ZDH gerichtet, wobei die Identifikation der Befragten über die Webseiten der einzelnen Verbände erfolgte. Auf dieser Basis konnten 23 Gespräche realisiert werden, die im Befragungszeitraum vom 1.7.2008 bis zum 15.8.2008 telefonisch geführt wurden. Fünf Interviews wurden mit Mitarbeitern geführt, die gemäß ihrer Funktionsbezeichnung ausschließlich für PR verantwortlich waren [Kürzel: PR], fünf weitere mit Geschäftsbzw. Hauptgeschäftsführern ohne explizite PR-Zuständigkeit [Kürzel: EX] und 13 mit Personen, die in ihrer Geschäftsführungsposition in Personalunion [Kürzel: PU] explizit auch für
306
Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
PR zuständig waren. Der Gesprächsleitfaden enthielt 15 Fragen, wobei sich die Fragen für die Geschäftsführer leicht von denen für die Pressesprecher unterschieden und einzelne Formulierungen an die jeweiligen Tätigkeitsbereiche angepasst waren. 4.2 Ergebnisse 4.2.1 Vier Typen der Verbandskommunikation Aufgrund der Daten war es möglich, vier Typen der Institutionalisierung von PR in Interessenverbänden der Wirtschaft zu bilden: 1.
2. 3.
4.
PR in Personalunion (N = 13): Eine Person, die hauptamtlich für PR zuständig ist, gibt es nicht. PR wird von einem (Haupt-)Geschäftsführer parallel zu seinen eigentlichen Aufgaben ausgeführt, es gibt daneben maximal einen Assistenten für PR ohne Sprecherfunktion nach außen. PR wird überwiegend reaktiv geleistet und ist im Wesentlichen auf das Verfassen von Pressemitteilungen beschränkt. PR dient primär der Unterstützung und Flankierung von Lobbyingaktivitäten. Es findet ein gelegentlicher Rückgriff auf PR-Agenturen statt. Lobbyingassistenten (N = 2): Hier gestaltet sich die Organisation von PR genauso wie bei Typ 1, aber es ist ein hauptamtlicher, nicht in die Geschäftsführung eingebundener PR-Praktiker für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. PR-Spezialisten (N = 5): Auch hier ist ein hauptamtlicher, nicht in die Geschäftsführung eingebundener PR-Praktiker für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Diese beschränkt sich allerdings nicht explizit auf die Unterstützung und Flankierung der Lobbyarbeit, sondern operiert zumindest partiell mit eigenen Zielsetzungen. PR als Teil der Geschäftsführung (N = 3): In den wenigen Fällen, in denen ein hauptamtlicher PR-Funktionsträger auf Geschäftsführungsebene angesiedelt ist, findet eine systematische Planung und Durchführung der PR-Aktivitäten statt, die über die reine Pressearbeit hinausgehen. Außerdem spielen neben der internen Kommunikation weitere spezielle Zielgruppen (z. B. Schüler oder Studenten) eine so große Rolle, dass es hierfür spezialisierte Mitarbeiter gibt. Immerhin drei der befragten Verbände zählen zu diesem Typ.
Zielgruppen der PR Mit dem PAE, Bürgern sowie potentiellen und vorhandenen Mitgliedern konnten grundsätzlich drei überwiegend über Massenmedien erreichbare Zielgruppen der externen Öffentlichkeitsarbeit unterschieden werden. Damit bestätigt sich auch in dieser Studie, dass die externen PR-Aktivitäten grundsätzlich eine Art doppelten Charakter besitzen, um sowohl Mitglieder (interne Funktion: Stabilisierung von Organisationsloyalität) als auch die Bevölkerung und das politische Entscheidungszentrum (externe Funktion: Erhöhung der Chancen politischer Interessendurchsetzung) zu adressieren (vgl. bereits Hackenbroch 1998a). Als die fünf wichtigsten Medien für die Verbands-PR wurden überwiegend Printmedien benannt. Nur sehr wenige Gesprächspartner gaben an, dass alle Medien für sie gleichbedeutend seien.
III.4 Gesellschaftlicher Wandel, Mediengesellschaft und Wirtschaft
307
Mitgliederorientierung der PR Nahezu durchgängig wird die auch in der Literatur benannte Gefahr erkannt, dass Mitgliedsorganisationen auf Grund von Defiziten in der Interessenartikulation und -durchsetzung austreten und die Interessenvertretung unternehmensindividuell gestalten. Insofern ist die über PR-Kommunikation angestrebte Medienpräsenz immer auch ein – zunehmend essentieller – Arbeitsnachweis gegenüber den Mitgliedern. „[Durch die] Mehrstufigkeit der Verbandsorganisation kommen Informationen und Dienstleistungen auf der eigentlichen Ebene der Entscheidungen, auf der Basis sozusagen nicht vollständig an oder verfälscht, verzerrt. Insofern haben wir da immer ein Problem der Darstellung unserer Funktion gegenüber einzelnen Mitgliedsunternehmen. (…) Sie stellen den Mitgliedsverband in Frage und je weiter sie entfernt sind: Was tun die überhaupt in Berlin für uns? Jetzt mal vereinfacht gesagt. Das ist unser Problem.“ (EX 3).
Insgesamt hat sich die Mitgliederbindung als eine wichtige Herausforderung für die Zukunft herauskristallisiert. In diese zu investieren wird wichtiger, weil der wirtschaftliche Druck auf Verbände gestiegen ist und weiter steigt. Insofern bestätigt die Studie, dass durch die Individualisierung und Auflösung traditioneller Formen der Vergemeinschaftung die einstmals quasi-natürlichen Grundlagen der Mitgliederbindung zunehmend verloren gehen und die entsprechende Organisationsloyalität erodiert (vgl. Streeck 1987; Willems/von Winter 2007: 26 ff.), was Interessenverbände der Wirtschaft heute vor spezifische Probleme stellt, in der Gesamttendenz auch die organisierte Interessenvermittlungs- und -durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem politischen Entscheidungszentrum in Mitleidenschaft ziehen kann und dazu führt, dass die Anhängerschaft dauerhaft gesichert und Unterstützung in wachsendem Maße immer wieder neu mobilisiert werden muss. Ausmaß des Mitgliedereinflusses auf PR-Botschaften Neben der Orientierung der PR-Kommunikation auf Mitglieder als Zielgruppe hat die Studie gezeigt, dass Mitgliederstrukturen einen erheblichen Einfluss auf die thematische Spezifität der PR haben. Je homogener die Interessenlage der Mitgliedschaft ist, desto leichter ist es, einen zu kommunizierenden Kollektivwillen herauszuarbeiten. Das Dilemma der Vereinbarkeit von Repräsentation und Effektivität, nach dem die verbandlichen Ziele der möglichst umfassenden Berücksichtigung einzelner Mitgliederinteressen und der Umsetzbarkeit dieser in eine effektive politische Strategie der Interessendurchsetzung konfligieren können, wurde fast ausnahmslos erkannt und problematisiert. Eingesetzte PR-Instrumente Das breite PR-Instrumentarium (vgl. im Überblick: Röttger 2005a) wird von den meisten Verbänden nicht ansatzweise ausgeschöpft. PR-Arbeit wird ganz überwiegend als Pressearbeit – und im Ausnahmefall als allgemeine Medienarbeit – verstanden. Hauptinstrument ist demzufolge die Pressemitteilung. Abhängig von der Größe des Verbandes werden darüber hinaus Pressekonferenzen und Hintergrundgespräche durchgeführt. Weitere Instrumente
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
und Verfahren – bspw. Issues Management oder die Durchführung von Kampagnen (vgl. den Aufsatz von Speth in diesem Band) – zählen in der Breite nicht zum Repertoire der PR von Interessenverbänden der Wirtschaft. Wahrgenommene Zugangschancen zu Medien Die Hürden beim Zugang zu den Medien sind von Verband zu Verband und von Thema zu Thema sehr unterschiedlich und kaum auf einen Nenner zu bringen. Allerdings zeigt sich, dass hier zwischen Spitzenverbänden und Branchen- bzw. Fachverbänden zu differenzieren ist: Als wichtigstes Selektionskriterium insbesondere im politischen Journalismus gelten Nachrichtenfaktoren. Die Grundannahme der Nachrichtenwertforschung besagt, dass der Nachrichtenwert und damit die Chance eines Ereignisses oder einer Aussage, als Nachricht veröffentlicht zu werden, von der Stärke der Ausprägung einer oder mehrerer Nachrichtenfaktoren abhängt (vgl. Staab 1990: 55 ff.). Interessenverbände der Wirtschaft haben hinsichtlich der Erfüllung bestimmter Nachrichtenfaktoren unterschiedlich gute Karten. Insbesondere für Spitzenverbände gilt, dass „der hohe soziale Status, den diese Akteure als oberste Repräsentanten der privaten Wirtschaft genießen, und die große Macht, die ihnen zugeschrieben wird“ ihren Medien-Inputs zugutekommt (Berger 2004: 145). In der Breite stellt sich die Lage, das zeigt die durchgeführte Studie, deutlich ernüchternder dar: Bei den Befragten bestehen erhebliche Defizite, seitens der Medienberichterstattung berücksichtigt zu werden. Insbesondere der Zugang zur tagesaktuellen Printberichterstattung wird als problematisch beurteilt – von einem besonders hohen Einfluss von Interessenverbänden der Wirtschaft auf die veröffentlichte Meinung oder gar einem Informationsmonopol kann in der weit überwiegenden Zahl der Fälle nicht gesprochen werden. „In der allgemeinen Tagespresse ist es das Ziel, überhaupt wahrgenommen zu werden. Das ist bei einem kleinen Verband keineswegs immer gegeben. (…) Da ist dann die Frage, wie man sich überhaupt bemerkbar machen kann.“ (PU 9).
Die im Vergleich zur Verbandsarbeit weniger sachorientierte sowie weniger langfristig angelegte Art und Weise der journalistischen Berichterstattung in der überregionalen Tagespresse wird als größtes verbändespezifisches Hindernis genannt, wiederholt wird zudem auf journalistische „Themenhopper“ hingewiesen, „die vieles wahrnehmen, aber nichts wirklich mehr beurteilen können. Das macht die Themenvermittlung deutlich schwieriger.“ (PU 12). Noch stärkere Zugangsdefizite bestehen bei audiovisuellen Medien, die zwar adressiert, aber kaum erreicht werden. Insbesondere fehlt es vielen Verbänden an den personellen und finanziellen Ressourcen, um entsprechende Bewegtbilder und O-Töne vorzuhalten. Die Ressourcenlage ist bereits ein Grund dafür, warum Verbands-PR sich im Prinzip auf die wenigen überregionalen Tageszeitungen als Zielgruppe beschränkt, da davon ausgegangen wird, dass eben diese verstärkt auch von Politikern gelesen werden. Gründe für angestrebte Medienpräsenz Von der medienöffentlichen Präsenz von Verbandspositionen versprechen sich die Befragten in erster Linie bessere Zugangsmöglichkeiten zum politischen Entscheidungszentrum.
III.4 Gesellschaftlicher Wandel, Mediengesellschaft und Wirtschaft
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Überwiegend wird der medialen Präsenz diesbezüglich eine kontinuierlich gestiegene Bedeutung zugemessen. „Früher hat es ja ausgereicht, dem Fachbeamten in Berlin seine Inhalte zu kommunizieren, im Face-to-Face-Dialog. Doch es ist heute unerlässlich, dass man sich auch öffentlich Gehör verschafft, weil so viele Akteure unterwegs sind, dass alle Kommunikationsmittel auch genutzt werden müssen. Das ist unterstützend für das Lobbying.“ (EX 2).
Die Befragten gehen zumeist davon aus, dass Politiker sich zu medienöffentlich diskutierten Themen positionieren müssen und Verbände entsprechende inhaltliche Positionen anzubieten haben. Dies gilt nach Ansicht der Befragten insbesondere bezogen auf höherrangige Politiker. Es zeigt sich hier erneut, dass es in erster Linie darum geht, mittels der Verstärkerwirkung von PR Druck auf die Politik – über den Umweg der Medien sowie eventuell der Rezipienten – auszuüben. Das Zusammenspiel von Lobbying und PR-Kommunikation Insgesamt zeigen sich in der Verbandspraxis zum einen fließende Übergänge zwischen den beiden Kommunikationsformen Lobbying und PR und zum anderen eine grundsätzlich politische Zielrichtung der PR-Aktivitäten. Jenseits der erhofften Mitgliederbindung werden den PR-Aktivitäten vor allem Unterstützungspotentiale des Lobbyings, d. h. der Vorbereitung, Flankierung und Verstärkung der politischen Interessenvermittlung, zugeschrieben. Das bedeutet: PR hat in Interessenverbänden der Wirtschaft vor allem politischen Charakter bzw. Verbände sehen in PR zumeist ein Instrument der politischen Interessendurchsetzung. Dies ist insbesondere bei den Verbänden der Fall, in denen PR in Personalunion von einem Geschäftsführer ausgeführt wird bzw. keine eigene PR-Stelle vorgesehen ist. Beide Kommunikationsfunktionen werden hinsichtlich der ihnen zugeschriebenen Funktionen und Leistungen insofern nicht getrennt. Die organisatorische Verzahnung von PR und Lobbying gestaltet sich allerdings unterschiedlich: Je kleiner der Verband hinsichtlich der Anzahl seiner hauptamtlichen Mitarbeiter ist, desto seltener sind für PR-Aktivitäten eigene Stellen explizit vorgesehen. Angesichts der Vielzahl kleiner Verbände kommen Abstimmungsprobleme zwischen beiden Kommunikationsbereichen äußerst selten vor. Eine formalhierarchische Trennung zwischen Lobbying und PR existiert nur in Interessenverbänden mit überdurchschnittlich vielen Mitarbeitern. 5
Fazit und Ausblick
Insgesamt bestätigt die durchgeführte Studie zwar den Kernbefund von Hackenbroch (1998a), wonach das verbandliche Interesse an medienöffentlicher Präsenz und damit auch der Institutionalisierungsgrad von PR und die konkrete Ausprägung dieser Organisationsfunktion maßgeblich von den Zugangschancen zum PAE abhängt. Darüber hinausgehend deutet die Studie an, dass der zumeist nicht realisierbare, aber dennoch bestehende Wunsch nach Medienpräsenz unabhängig von direkt-persönlichen Zugangschancen zum politischen Entscheidungszentrum kontinuierlich an Bedeutung dafür gewinnt, politische Entscheidungsträger zu erreichen. Versuche der politischen Einflussnahme werden in sogenannten
310
Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
„Mediengesellschaften“ ohne die Flankierung durch Presse- und Medienarbeit auch für Interessenverbände mit relativ guten direkten Zugängen zum politischen Entscheidungszentrum als zunehmend schwierig beurteilt. Auf den tatsächlichen Institutionalisierungsgrad von PR wurde in der Studie aus der Anzahl der hauptberuflichen PR-Praktiker, deren Zuständigkeitsbereichen und der Durchführung von Evaluationsmaßnahmen geschlossen. Insgesamt ist festzuhalten: PR ist in den befragten Interessenverbänden überwiegend schwach institutionalisiert, die PR-Verantwortlichen – unabhängig davon, ob sie gemäß ihrer Funktionsbezeichnung explizit für PR verantwortlich sind oder PR als eine von mehreren Tätigkeiten abdecken – verfügen nur in Ausnahmefällen über einen exklusiven Zuständigkeitsbereich, der von anderen Mitarbeitern nicht abgedeckt werden könnte. Finanzielle und personelle Ressourcen für PR sind in der Gesamtsicht – insbesondere im Vergleich zu konkurrierenden Organisationen des politischen Spektrums – eher gering ausgeprägt. Tendenziell gilt: Der Institutionalisierungsgrad von PR ist vor allem vom Skandalisierungspotenzial der jeweils vertretenen Branche bzw. ihrer Produkte und Dienstleistungen abhängig. Je höher dieses Skandalisierungspotenzial, desto kontinuierlicher und systematischer wird die Branche von den Medien beobachtet und desto wichtiger ist die Etablierung und kontinuierliche Durchführung strategisch geplanter Public Relations. Es ist ein paradoxer Befund, dass die Befragten ihren medienbezogenen Kommunikationsaktivitäten – wie schon in Vorgängerstudien – erhebliche Bedeutung zumessen, aber gleichwohl ihre eigenen Organisationsstrukturen nicht danach ausgerichtet haben. Eine offene Reflexion der Frage, ob der Verzicht auf medienöffentlich sichtbare PR-Arbeit gewollt und von den Mitgliedern mitgetragen oder nur finanziellen und personellen Restriktionen geschuldet ist, könnte auch die Fähigkeit zur nachhaltigen Interessenartikulation und -durchsetzung erheblich verbessern. Bislang bleiben aufgrund der geringen personellen und finanziellen PR-Ressourcen Möglichkeiten nicht nur in Bezug auf die Unterstützung des Lobbyings, sondern auch im Hinblick auf die Erreichung eigenständiger PR-Ziele (u. a. Mitgliederbindung, Ansprache anderer Zielgruppen als der Politik) weitestgehend ungenutzt. Jeder Verband müsste für sich selbst prüfen, ob und wie die Etablierung und Professionalisierung von PR zur Erreichung der Verbandsziele beitragen können. Weiteren Studien bleibt es vorbehalten, die PR-Aktivitäten von Interessenverbänden der Wirtschaft anhand von vorgegebenen Typologien (vgl. bspw. Abschnitt 3.1) zu systematisieren, d. h. konkrete Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Spitzen-, Dachund Fachverbänden empirisch abzusichern. Literatur von Alemann, Ulrich (1996a): Aktionsformen der Verbände. In: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 253, S. 36í40. von Alemann, Ulrich (1996b): Die Vielfalt der Verbände. In: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 253, S. 17í21. Arlt, Hans-Jürgen (1998): Kommunikation, Öffentlichkeit, Öffentlichkeitsarbeit. PR von gestern, PR für morgen – das Beispiel Gewerkschaft. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Bentele, Günter/Liebert, Tobias/Vogt, Michael (Hrsg.) (2001): PR für Verbände und Organisationen. Fallbeispiele aus der Praxis. Neuwied/Kriftel: Luchterhand.
III.4 Gesellschaftlicher Wandel, Mediengesellschaft und Wirtschaft
311
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Teil III: Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
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III.4 Gesellschaftlicher Wandel, Mediengesellschaft und Wirtschaft
313
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Teil IV Politikfelder und Organisationshandeln
Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik und im tarifpolitischen System der Bundesrepublik Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik
Hansjörg Weitbrecht Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Als Akteure sind verhandlungsfähige Arbeitgeberverbände (AGV) gemeinsam mit den Gewerkschaften konstitutiv für das duale System der industriellen Beziehungen in Deutschland. Ohne AGV kann die Tarifautonomie als Teil des tarifpolitischen Systems der Bundesrepublik mit dem Flächentarifvertrag nicht bestehen. Deshalb ist das Interesse der Gewerkschaften an der Entwicklung der AGV zunehmend gewachsen. Die Tarifpolitik hat sich stark gewandelt, was die Frage nach der Stabilität des dualen Systems (Müller-Jentsch 1997) aufgeworfen hat. AGV sind deshalb nicht nur als Organisationen, sondern in ihrer Funktion im institutionellen Gefüge zu betrachten. Alle Unternehmensverbände hängen von drei Dimensionen ab (Traxler 2007: 7):
Warum treten Firmen in Verbände ein? Wie werden Verbände attraktiv? Wie korrespondiert die Firmengröße mit der Organisationsfähigkeit? Welche Faktoren bestimmen den Aktionsradius eines Verbandes und welche Rolle spielt dabei die Firmengröße? Wie kann die Verpflichtungsfähigkeit im Verband erhalten werden? Wie kann die Heterogenität der Mitglieder und ihrer Interessen in gemeinsamen Zielen gefasst werden?
Ein möglicher Wechsel des Systems der industriellen Beziehungen, das von der Verbandsstruktur abhängig ist, hat weit reichende Konsequenzen und umgekehrt wird jede Veränderung der Verbände das heutige System modifizieren. Die Institutionenordnung einschließlich der Verbände entscheidet über den Erfolg einer nationalen Wirtschaft (Traxler 2007: 3). Etwas abstrakter ausgedrückt stellt sich die Frage, inwieweit Veränderungen der Verbände zu einer Veränderung des Systems der industriellen Beziehungen führen können und nach welchen Gesetzen dies geschieht. 1
Betrieb und Verband im System der industriellen Beziehungen
1.1 Mitgliederlogik und Einflusslogik eines Verbandes Die wichtigsten Dimensionen einer institutionellen Analyse von AGV beziehen den Einfluss von und die Einflussnahme auf Staat und Gewerkschaften mit ein und lassen sich wie folgt systematisieren (in Anlehnung an Schmitter/Streeck 1981, 1999; Schneider/Grote 2006):
IV.1 Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik
317
1.
die Mitgliederlogik, die Struktur der potentiellen Mitglieder des Verbandes, ihre Anzahl, Zusammensetzung und ihr Zusammenhalt (Organisationsfähigkeit) die Kontrolle des Verhaltens der Mitglieder, insbesondere in der Interessendurchsetzung (Verpflichtungsfähigkeit)
2.
die Einflusslogik als Akteur die Stellung des Verbandes im institutionellen und staatlichen Umfeld, sein Handlungsrahmen insbesondere in der Tarifautonomie (Akteursautonomie) die Gestaltung des institutionellen Umfeldes in der Interaktion mit dem Verhandlungspartner, der Gewerkschaft, und dem Staat (Kompromiss- und Politikfähigkeit) i. S. eines strategischen Verbändehandelns (Schroeder/Silvia 2003: 249; Traxler 2007)
Unterschiedliche Organisationsdimensionen stehen im Konflikt miteinander und führen zu organisatorischen Kompromissen, die – je nach ihrer Lösung - auch Konsequenzen für die tarifpolitische Auseinandersetzung mit der gewerkschaftlichen Organisation haben. Zum einen sind bei einer zu großen internen Homogenität der Mitglieder marktbezogene Konflikte wahrscheinlich und zum anderen wird bei einer zu großen Heterogenität der Mitglieder durch Konflikte der Interessenvereinheitlichung die Binde- und Integrationskraft beeinträchtigt. Die verschiedenen Felder der Mitglieder- und Einflusslogik können nur dann zu einem Ausgleich gebracht werden, wenn es der Organisation gelingt, einen richtigen Mix aus Partizipation, Repräsentation, Dienstleistung und Kontrolle anzubieten, weil die kompetitiven Produktmarktbeziehungen, die heterogenen Interessen, die Attraktivität individueller Aktivitäten sowie die freie Organisationswahl eine Verbandsbildung stets prekär erscheinen lassen (Schmitter/Streeck 1999: 21; Völkl 2002: 201). 1.2 Der Betrieb als Akteur im System der industriellen Beziehungen Bei der Betrachtung eines Systems der industriellen Beziehungen ist es sinnvoll, auf die zugrunde liegenden Arbeitsverhältnisse zu achten sowie auf die Interessen und Konflikte im Betrieb bei ihrer Gestaltung (Marsden 1999; Kaufman 2004). Arbeitgeberverbände sind die Interessenvertreter der Betriebe bei der Setzung der Rahmenbedingungen dafür. Organisationen wie die AGV und Institutionen wie das duale System der industriellen Beziehungen in Deutschland wandeln sich bei veränderter Interessenlage der Betriebe nur träge, d. h. sie sind traditionsgebunden, sind in ihren Veränderungen pfadabhängig und können damit also mehr oder weniger effizient in ihrer Zielsetzung werden. Die bestehenden Institutionen, also z. B. in unserem konkreten Fall die Mitbestimmung auf Betriebsebene und die Tarifautonomie auf überbetrieblicher Ebene, ermöglichen und begrenzen zugleich das Verhalten der einzelnen Betriebe und ihrer Verbände. Betriebe können Arbeitsverhältnisse nicht beliebig gestalten. Jeder Betrieb ist außerdem eingebunden in die Institutionen des Produktmarktes, der vollkommen andere Anforderungen an den Betrieb stellt, aber auch Anforderungen an die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse vorgibt. Jahrzehntelang war Deutschland am Weltmarkt als Nischenproduzent für hochwertige Qualitätsgüter etabliert. Dafür wurden, unterstützt durch eine Unterbewertung der D-Mark, hohe Preise bezahlt, die hohe Löhne ermöglichten.
318
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Voraussetzung dafür war in den Arbeitsverhältnissen eine hohe Qualifikation der Mitarbeiter und ein ungestörter Betriebsablauf, der technologische Erneuerung ermöglichte. Die Qualifizierung wurde durch einen hohen Ausbildungsstand der Stammarbeitskräfte betrieblich, aber auch überbetrieblich gesichert, z. B. durch eine gemeinschaftlich geregelte duale Ausbildung und durch Fachschulen, was eine Mitarbeit in Verbänden, Kammern und AGV, voraussetzte. Für dieses Ziel der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse stellten die AGV einen Garanten dar. Der Flächentarifvertrag verminderte außerdem den Wettbewerb der Betriebe um qualifizierte Arbeitskräfte am Arbeitsmarkt. Dieses System der Lohnregulierung zusammen mit der betrieblichen Mitbestimmung führte zu einem hohen Grad an sozialem Frieden sowohl auf der überbetrieblichen (geringe Rate von Streik und Aussperrung) als auch auf der betrieblichen Ebene mit einem hohen Grad an Konsensbildung in der Entscheidungsfindung (Busch 2005: 172). Dieses deutsche Modell basierte nach Marsden auf beruflicher Ausbildung und Berufsorientierung und verlangte deshalb nach Mitbestimmung am Arbeitsplatz und überbetrieblichen Vereinbarungen (Marsden 2000), die zu High-TrustBeziehungen zu den Arbeitnehmern führten. Es spricht vieles dafür, dass diese Zielrichtung der Regelung der Arbeitsverhältnisse für die Betriebe nach wie vor maßgeblich bleibt für die Entscheidung, ein System der industriellen Beziehungen zu unterstützen oder, konkreter, in einem AGV Mitglied zu werden oder zu bleiben, der dieses Ziel erreichen kann (Gesamtmetall 2009a). Noch ist der Erhalt der High-Trust-Beziehungen ein hohes Gut, der Streik in der bayrischen Metallindustrie von 1995 oder der Streit um die Lohnfortzahlung im Jahr 1996 zeigten dies erneut (Thelen 2000). Jede Veränderung im System der Arbeitsbeziehungen muss also die Balance der beiden Märkte im Auge haben. Welche Regulierung in den Arbeitsbeziehungen entspricht den Regulierungen des Produktmarktes am besten (Traxler/Blaschke/Kittel 2001: 297)? Deutschland sicherte sich durch seine spezifischen Strukturen bei regulierten nationalen Grenzen am Weltmarkt einen Vorteil, der auch die Arbeitslosigkeit in den 1980er Jahren in Grenzen hielt. Dies gelang vor allem, weil die Deindustrialisierung im Übergang zu einer Dienstleistungsökonomie, d. h. der Rückgang des Anteils der in der Produktion Tätigen, länger verzögert werden konnte als in anderen europäischen Ländern (Silvia 1999: 82 ff.). Durch die Wiedervereinigung einerseits und die Veränderungen auf den Produktmärkten andererseits haben sich die Anforderungen an die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse seit den 1990er Jahren erheblich verändert. Die Auswirkungen trafen allerdings Betriebe in verschiedenen Branchen, vor allem aber Großunternehmen und kleinere Betriebe, auf unterschiedliche Weise (Streeck 2004). Während Großunternehmen mit ihren Betrieben auf die Flexibilisierung der Tarifverträge pochen, sie aber grundsätzlich erhalten wollen, haben Kleinbetriebe primär Interesse an niedrigen Lohnabschlüssen, da bei ihnen oft die Voraussetzungen zum flexiblen und variablen Arbeitseinsatz fehlen und sie geringere Lohnkostensteigerungen mehr entlasten. Großunternehmen konnten bisher auch Lohnsteigerungen eher akzeptieren, weil sie bessere Möglichkeiten der Rationalisierung und Auslandsverlagerung haben und mit ihrer Marktmacht am Produktmarkt Preissteigerungen leichter an Kunden weitergeben konnten als Klein- und Mittelbetriebe (Völkl 2002: 78; Kädtler 2003; Silvia/Schroeder 2007). Großunternehmen mit ihren Betrieben werden jetzt also zum „Rückgrat der deutschen Arbeitsbeziehungen“ (MPIfG 2002: 37). Die sehr rasche Einbeziehung der neuen Bundesländer in das System der industriellen Beziehungen verstärkte die Spannungen bei den ostdeutschen Betrieben.
IV.1 Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik
319
Die AGV könnten auf die veränderten Anforderungen der Betriebe organisatorisch reagieren, indem sie ihr Leistungsangebot und ihre Strukturen stärker an die veränderte Interessenslagen der Betriebe anpassen (Frey 2005; Busch 205). Als institutionelle Reaktion könnte sich ein anderes als das jetzt bestehende System der industriellen Beziehungen entwickeln. Dies hätte Konsequenzen für die AGV, weil ihre heutige Funktion stark von der Mitwirkung im überbetrieblichen Verhandlungssystem geprägt ist. Veränderungen der Organisation, z. B. Mitgliederaustritte, haben Einfluss auf die Institution, aber Veränderungen in der Institution Tarifautonomie beeinflussen auch die Organisation der Verbände. 2
Die Organisation der AGV
2.1 Die Organisation der Arbeitgeber in Verbänden 2.1.1 Organisationsgrad und Organisationsfähigkeit Die Organisationsfähigkeit von AGV wird von anderen Schwierigkeiten beeinflusst als die der Gewerkschaften. Im Allgemeinen haben die Gewerkschaften größere Probleme, Mitglieder zu rekrutieren, weil dort ein „Trittbrettfahren“ einfacher ist und Arbeitgeber den Beitritt erschweren können; die AGV haben eher Probleme, eine bestimmte Politik gegenüber ihren Mitgliedern durchzusetzen, weil prinzipiell jeder Arbeitgeber auch alleine tariffähig ist und die Ressourcen dazu hat (Traxler 1995b: 27 ff.). Die Bereitschaft der Arbeitgeber, einem AGV beizutreten, hängt jedoch nicht nur von den genannten strukturellen Faktoren im System ab, sondern auch von der Stärke und Tarifpolitik der jeweiligen Gewerkschaft. Entscheidend ist vor allem, ob die Gewerkschaften in der Lage sind, sozialen Frieden im Einklang mit den Regelungen des Flächentarifs zu garantieren. Verspricht dies für die Arbeitgeber geringere Konfliktkosten als im Fall nichtverbandlicher Beziehungen, spricht das für die Mitgliedschaft im AGV. Gewerkschaften können im Zusammenwirken mit den AGV für die Bereitstellung kollektiver Güter sorgen, die die AGV infolge ihrer defizienten Verpflichtungsfähigkeit kaum autonom herstellen können (Traxler 1999a: 73). Schnabel, Zagelmayer und Kohaut (2006) weisen empirisch nach, dass strukturelle Variablen in Ost- und Westdeutschland (in gleicher Weise wie in Großbritannien) wirksam sind. Die Wahrscheinlichkeit von Verhandlungen in einer Verbandsstruktur (multiemployer bargaining) steigt
mit der Größe eines Betriebes, mit dem Alter eines Betriebes, bei Betrieben in einem Unternehmen mit mehreren Betrieben (branch plant), im öffentlichen Bereich sowie bei höherer Qualifizierung der Belegschaft.
Dies erklärt zumindest teilweise, warum in Ostdeutschland nach der Wende die verbandspolitische Tarifregelung im Vergleich zum Westen zurückgefallen ist. Bei einer Erhöhung der Mitarbeiterzahl von 100 auf 200 steigt z. B. die Wahrscheinlichkeit der Verbandsmitgliedschaft um 6 % (Schnabel/Zagelmayer/Kohaut 2006).
320
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Die Fähigkeit der Betriebe, sich aufgrund gemeinsamer Interessen in Verbänden zusammenzuschließen, wird auch von anderen Megatrends beeinträchtigt, u. a. von der Marktliberalisierung, oder von kurzfristigen Finanzzielen (Traxler 2007: 4). In unterschiedlichen Branchen ist die Geschlossenheit der AGV unterschiedlich stark. Viele kleine Firmen führen eher zu regional differenzierten Verbänden, wie z. B. im Baugewerbe mit über 790 Verbänden in Deutschland, während Sektoren mit großen nationalen oder sogar internationalen Firmen wie die chemische Industrie eher weniger Verbände haben (in der chemischen Industrie gibt es nur 10, im Metallsektor lediglich 48 Verbände, davon 14 T- und 8 OT-Verbände 1 sowie 26 T-Verbände in NRW). Haipeter/Schilling (2006) dokumentieren den Abfall des Organisationsgrads der AGV in der Metall- und Elektroindustrie seit Mitte der 1980er Jahre und beschleunigt im Verlauf der 1990er Jahre. Die Mitgliedschaft der Betriebe 2 sank von 75,5 % im Jahr 1980 über 46 % im Jahr 1990 und 34,5 % im Jahr 1998 (jeweils West) auf 22,5 % im Jahr 2003 (Gesamtdeutschland, Ostdeutschland 7,6 %). Ende 2007 betrug der Organisationsgrad der Betriebe in den Tarifträgerverbänden unter dem Dach von Gesamtmetall 17,7 % (ohne die Handwerksbetriebe 3, die von Gesamtmetall nicht vertreten werden, sind es 27 %). T- und OTVerbände zusammengenommen ergaben Ende 2007 einen Organisationsgrad von 27,9 %, ohne das M+E-Handwerk 42 %. Gemessen an der Zahl der Beschäftigten ist das Niveau höher und der Rückgang weniger dramatisch. Nach einem Höchstwert von 76,4 % im Jahr 1980 fiel der Organisationsgrad nach dieser Berechnung auf 64,8 % im Jahr 1998 und 58,5 % im Jahr 2003 (Ostdeutschland 21,3 %) und betrug Ende 2007 immer noch 50,7 %, wenn man nur die Tarifträgerverbände betrachtet (ohne Handwerk 55 %). T- und OT-Verbände zusammen deckten 59 % der Beschäftigten ab, ohne Handwerk 64 % (Haipeter/Schilling 2006; Zimmer 2002: 95 f; Gesamtmetall 2008b; z. T. interne Berechnungen Gesamtmetall). Silvia/Schroeder spezifizieren diese Analyse, indem sie die Unternehmensgröße kontrollieren. Kleinere Unternehmen, die weniger geneigt sind, Verbänden beizutreten, haben in West- wie vor allem in Ostdeutschland zugenommen (Silvia/Schroeder 2007). Dies erklärt auch zum Teil, warum in der Chemieindustrie der Unternehmensorganisationsgrad mit neun Zehntel aller Chemieunternehmen bedeutend höher liegt. In diesen Mitgliedsunternehmen sind rund 95 % aller Arbeitnehmer der chemischen Industrie beschäftigt. Auffallend ist, dass der Mitgliederbestand des BAVC in den letzten Jahren relativ konstant geblieben ist. Als reiner Arbeitgeberverband bietet der BAVC keinen anderen Beitrittsanreiz als den der tarifund sozialpolitischen Vertretung, d. h. den Abschluss von Verbandstarifverträgen. Weil in anderen Verbänden die Tarifpolitik am häufigsten als Austrittsgrund genannt wird, ist diese Entwicklung bemerkenswert. Die Antwort liegt in der grundsätzlich einzigartigen Gestaltung der Tarifpartnerschaft in der Chemieindustrie. Ein entscheidender Grund hierfür dürfte zweifellos der zwischen den Tarifparteien in dieser Branche kontinuierlich geführte Dialog sein (Frey 2005). Dazu dürften aber auch die übersichtlichere Tarif- und Branchenstruktur und das besondere Interesse an der Aufrechterhaltung des sozialen Friedens beitragen, da im Fall eines gezielten Streiks in der Chemieindustrie die gesamte Branche stärker betroffen ist als in anderen Sektoren (Völkl 2002: 101 ff.; zum BAVC s. Müller-Jentsch in diesem Band). 1 2 3
T-Verbände: Tarifträgerverbände mit Tarifbindung der Betriebe, OT-Verbände: Verbände ohne Tarifbindung. Jeweils ohne Betriebe mit unter 20 Beschäftigten (überwiegend Handwerksbetriebe), nach Berechnungen von Gesamtmetall. Handwerksbetriebe (geschätzt) wurden auch bei den Betrieben mit über 20 Beschäftigten herausgerechnet.
IV.1 Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik
321
Völkl untersucht die Sicherheit des Organisationsbestandes kleinerer AGV anhand dreier Erklärungsvariablen: Heterogenität der Interessen der Mitglieder (Homogenität stärkt den Verband), Opportunitätskosten der Tarifbindung (geringe Interessenunterschiede erhöhen den Organisationsbestand, Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung) und der Konjunktur (ökonomisch prekäre Situation gefährdet den Bestand). Er findet eine breite Streuung der Sicherung des Organisationsbestandes dieser AGV, untersucht jedoch leider nicht die Konsequenzen für die Tarifpolitik, wenn auch eine Tendenz zu „modernerer Tarifpolitik“ und höherer Sicherheit des Organisationsbestandes zu erkennen ist (Völkl 2002: 202 ff.). Aus einer Bewertung dieser Faktoren ergibt sich die folgende Übersicht. Abbildung 1: extrem gefährdet
gefährdet
gesichert
neutral
!
Naturstein
AZB
ISTE Säge Bayern
!
+2 !
!
VHK
+3
+1 H+K RP
!
H+K Bayern
0
!
!
VSH
-1
BIV Säge Rheinland
-2
fest
!
-3
!
-4 !
-5
Kontinuum der Sicherheit des Organisationsbestandes kleinerer AGV
+4
+5
Anmerkung: Im Einzelnen untersuchte Völkl die folgenden Arbeitgeberverbände: Industrieverband Steine und Erden Baden-Württemberg e. V. (ISTE), Bayrischer Industrieverband Steine und Erden e. V. (BIV), Wirtschaftsverband Natursteinindustrie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz. e. V., Arbeitgeberverband Zement und Baustoffe e. V. (AZB), Verband der Säge- und Holzindustrie Baden-Württemberg e. V. (VSH), Arbeitgeberverband der bayrischen Säge- und Holzbearbeitungsindustrie, Holzhandlungen und angeschlossener Betriebe e. V., Verband der Pfälzischen Sägewerke e. V., Verband der Rheinischen Säge- und Holzindustrie e. V., Verband der Holzindustrie und Kunststoffverarbeitung Baden-Württemberg e. V. (VHK), Holz- und Kunststoffverbände Bayern (T und OT), Verband der holz- und kunststoffverarbeitenden Industrie Rheinland-Pfalz e. V. Quelle: nach Völkl 2002: 207.
Bei der Betrachtung der Organisations- und Verpflichtungsfähigkeit der dominanten Branchen geht leicht der Blick verloren auf andere Branchen, die beides nur in geringem Maße haben, aber eventuell wachsen, so dass schleichend eine Veränderung des Gesamtsystems eintritt. Deshalb ist einer Untersuchung, wie sie Völkl vorgelegt hat, viel Augenmerk zu schenken, auch wenn sie wenig spektakulär erscheinen mag. Bei den Austrittsgründen wird die Tarifpolitik stets an erster Stelle genannt, 56 % der mittelständischen Betriebe sehen in ihr eine negative Wettbewerbsbeeinflussung. Selten verlässt ein Betrieb den Verband jedoch spontan, eher ist ein Generationswechsel im Management damit verbunden (Völkl 2002: 51; Schroeder/Ruppert 1996 zur Metallindustrie). Dahinter steht offensichtlich das Bedürfnis der AG nach einer anderen Regelung der Arbeitsbeziehungen aufgrund des Produktmarktes. Die o. g. Vorteile einer kollektiven Regelung der Arbeitsbedingungen scheinen demgegenüber weniger Gewicht zu haben. Auf diese Entwicklung des Mitgliederbestandes reagierten die AGV auf zweifache Weise, mit einer Öffnung der Organisation für Mitglieder ohne Tarifbindung (OTVerband), also im Sinne der Mitgliederlogik, und gemeinsam mit den Tarifpartnern, also im Sinne der Einflusslogik, durch eine Veränderung der Tarifpolitik.
322
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Die Unterschiede in der Organisationsfähigkeit der AGV erklären sich zum Teil auch aus der unterschiedlichen Tarifpolitik in der Metall- und Chemieindustrie. Andererseits verstärken die institutionalisierten Beziehungen zwischen den Tarifpartnern die Verbandsstruktur (Waarden 1995: 45). Offensichtlich sind bis in die Gegenwart die Langfristigkeit der Vereinbarungen der Tarifpartner in der chemischen Industrie (Frey 2005), die eine hohe Kontrollkompetenz des AGV voraussetzt, und die Innovationsfähigkeit der Tarifpartner in der Metallindustrie (Busch 2005), die eher auf partikulare Interessen einzelner Branchen oder Regionen eingeht, also auf eine eher differenzierte Mitgliederzusammensetzung hinweist. 2.1.2 Tarifbindung der Arbeitgeber und ihre Verpflichtungsfähigkeit Im internationalen Vergleich rangieren die deutschen AGV hoch, was die Geschlossenheit der Verbände anbelangt, jedoch niedrig in Bezug auf die Kontrolle des Verhaltens ihrer Mitglieder, die Autorität und die relative Autonomie gegenüber den Mitgliedern (Schmitter/ Streeck 1981, 1999; Waarden 1995: Tab. 3.13). Sanktionen gegenüber Mitgliedern sind schwierig, bürokratische Regeln werden nicht akzeptiert. Die Repräsentation partikularistischer Interessen verlangt Strukturen, in denen kurzfristiger gedacht, eher dezentral entschieden und weniger formalisiert gearbeitet wird. Organisationen mit hoher Kontrolle bevorzugen eine langfristige Politik, zentrale Entscheidungsfindung, sind formalisiert und werden von einem professionellen Stab geleitet (Waarden 1995: Tab. 3.14). Die Verpflichtungsfähigkeit eines AGV zeigt sich insbesondere bei der Einhaltung der Kollektivverträge durch die Mitglieder. Die tarifliche Bindung wird von vielen Betrieben als „Fessel“ empfunden und es wird zum Teil sogar bewusst zum Tarifbruch aufgerufen.4 Zentrale Kritikpunkte der Unternehmen sind die Detaildichte der Tarifverträge, die sie als tarifliche Überregulierung begreifen (Schmitz-Simonis 1997: 245) sowie fehlende Differenzierungsmöglichkeiten bzw. die mangelnde Flexibilität der Kollektivverträge (Völkl 2002: 41). Die abnehmende Tarifbindung eines AGV (Deckungsrate) zeigt sich außer im Organisationsgrad im Unterlaufen von Tarifverträgen (nach Angaben von Betriebsräten betrifft das 16 % der Betriebe in Ost- und 11 % in Westdeutschland) und im Abschluss von Haustarifen ohne den AGV (Bispinck 2005). Andererseits finden wir in über 50 % der nichttarifgebundenen Betriebe eine Orientierung am Tarifvertrag (Ellguth/Kohaut 2008; Bispinck 2005 sieht hier 77 % der 29 % nichttarifgebundener Betriebe; Streeck/Rehder 2005 sehen insgesamt 86 % der Betriebe als tarifgebunden an. Zum Teil gilt dies sogar für Betriebe ohne einen Betriebsrat (Artus 2005)). Nach Ergebnissen des Betriebspanels des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) fielen 2007 (1995) insgesamt etwa 36 % (62 %) aller Betriebe ab einem Beschäftigten und 56 % (83 %) aller Beschäftigten in Westdeutschland (in Ostdeutschland 20 % im Jahr 2007 und 41 % im Jahr 1995) unter den Geltungsbereich eines flächendeckenden Branchentarifvertrags, während lediglich 3 % der Betriebe in Westdeutschland (4 % Ostdeutschland) mit etwa 7 % (13 % in Ostdeutschland) aller Beschäftigten einen Haustarifvertrag geschlossen haben. Betrachtet man jedoch nur Betriebe ab 500 Beschäftigten, so steigt die Deckungsrate auf 77 % im Westen und 68 % im Osten. Die entsprechenden Zahlen für den Haustarifvertrag liegen zusätzlich bei 10 % in West- und 22 % Ostdeutschland. 4
Vgl. die Irritationen nach der öffentlichen Verteidigung der Tarifunterschreitung durch ostdeutsche Firmen von BDI-Chef Henkel im „Spiegel“ vom 29.12.1997.
IV.1 Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik
323
Damit unterlagen 2007 zwei Drittel der westdeutschen Betriebe (12 % ab 500 Beschäftigten) und drei Viertel der ostdeutschen Betriebe (10 % ab 500 Beschäftigten) keinem Tarifvertrag bzw. ein Drittel aller Beschäftigten im Westen und 47 % im Osten (Ellguth/Kohaut 2008). Dem stehen jedoch die Betriebe gegenüber, die sich an einem Tarifvertrag orientieren, ohne ihm formell zu unterliegen, mit knapp der Hälfte der Betriebe ohne Bindung und mehr als der Hälfte der Beschäftigten, wiederum steigend mit der Betriebsgröße (Ellguth/Kohaut 2008). Insgesamt lässt sich eine deutliche Korrelation von Betriebsgröße und Tarifbindung feststellen, je größer der Betrieb, desto eher unterliegt er tarifvertraglichen Bestimmungen. Die Zahlen zeigen, dass vor allem kleinere und mittlere Betriebe den Verbänden den Rücken kehren, die Betriebsgröße also von Bedeutung ist. Von den Betrieben mit über 1000 Mitarbeitern in Westdeutschland unterlagen im Jahr 2000 81 % der Tarifbindung (77 % in Ostdeutschland) (Schnabel/Zagelmayer/Kohaut 2006; Kohaut/Bellmann 1997: 323; Bispinck/Schulten 1999: 191). 5 Bezogen auf die Metall- und Elektrobetriebe (ab 20 Beschäftigten) fielen 2008 insgesamt etwa 40 % und 69 % der Beschäftigten unter den Geltungsbereich eines Tarifvertrags (Betriebe: 31 % Branchen- bzw. Flächentarifvertrag, 9 % Haus- oder Firmentarifvertrag; Beschäftigte: 59 % Branchen- bzw. Flächentarifvertrag, 10 % Haus- oder Firmentarifvertrag). Die tatsächliche Tarifbindung in der Metall- und Elektroindustrie ist allerdings höher, denn von den 61 % der Betriebe, die nicht tarifgebunden waren, orientierten sich wiederum 61 % an einem Tarifvertrag; bezogen auf die 31 % nichttarifgebundenen Beschäftigten betrug die Orientierung 64 %. Somit galten für 77 % Prozent der M+E-Betriebe und 89 % der Beschäftigten bei M+E direkt oder indirekt tarifvertragliche Regelungen. Diese Daten werden auch durch eine international vergleichende Studie bestätigt, die aufzeigt, dass in der überwiegenden Mehrheit der europäischen Länder über 70 % der Arbeitnehmer unter eine Tarifbindung fallen. Deutschland liegt knapp unter dieser Marke (Traxler/Behrens 2002). Schröder/Ruppert (1996) und Traxler (2004a) betrachten die Rückgänge der Tarifbindung noch nicht als dramatisch, da sie auf hohem Niveau stattfinden und die BDA noch bis 1996 über 70 % der Beschäftigten abdeckte (Traxler 2004a: Tab. 1). 6 2.2 Organisationale Anpassung der AGV im Sinne der Mitgliederlogik Es war also im Sinne der Mitgliederlogik notwendig, neben der kollektiven Vertretung in der Tarifpolitik dem Interesse der kleineren und mittleren Unternehmen an Kostenreduzierung und spezifischer Beratung entgegenzukommen. Auch um einen Verlust an Ressourcen zu vermeiden, gingen deshalb immer mehr AGV dazu über, eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung als Alternative anzubieten (OT-Verband). Damit bewältigten viele Verbände die akuten Organisationsprobleme, die vor allem in Ostdeutschland sichtbar wurden. Ziel war und ist es, tarif-, aber nicht verbandsmüden Betrieben eine Plattform zu bieten, sich von der Tarifbindung loszusagen und eigenständige, einzelvertragliche Regelungen der Arbeitsbedingungen treffen zu können, ohne die Vorteile der Verbandsmitgliedschaft 5 6
Da in den KMUs jedoch auch die Anzahl der Betriebe ohne Mitbestimmung wächst, entsteht in diesem Teil der privaten Wirtschaft ein Bereich ohne kollektive Regelung der Arbeitsbeziehungen (vgl. Abel/Ittermann 2003; Ellguth 2009; Bahnmüller 2002). Die Tarifbindung schwankt stark nach Branchen (vgl. Ellguth/Kohaut 2008).
324
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
aufgeben zu müssen. Bei Gesamtmetall wurde ein jahrelanger Diskussionsprozess über Verbände ohne Tarifbindung erst im Jahr 2005 abgeschlossen. Daraufhin wurde flächendeckend eine OT-Mitgliedschaft angeboten. Die verbandliche Geschlossenheit blieb erhalten durch eine klare Trennung zwischen tarifpolitischen und nichttarifpolitischen Gremien (Gesamtmetall 2007: 74), aber der Gemeinsamkeit im Vorstand. 2007 waren alle OTVerbände der Branche Mitglied bei Gesamtmetall (Gesamtmetall 2007). In den von ihnen vertretenen Betrieben ohne Tarifbindung war bereits über die Hälfte der Beschäftigten tätig (Völkl 2002: 88). Ob die Existenz der OT-Verbände die Tarifpolitik der AGV schwächt, bleibt abzuwarten, zumal diese wiederum Beratung in Tariffragen als wesentliche Serviceleistung anbieten. Würden sie durch die OT-Verbände tatsächlich beeinträchtigt, wäre diese Organisationsstrategie widersprüchlich (Grote/Lang/Traxler 2007: 174). In der Chemiebranche hat der BAVC, der gemeinsam mit der IG BCE eine Tarifpolitik gestaltet, die näher an einem konsensorientierten betrieblichen Geschehen orientiert ist, bereits 1996 in seiner Rheingauer Erklärung ein grundsätzliches Bekenntnis zum Flächentarifvertrag abgegeben. Er betrachtet Arbeitgeberverbände ohne Tarifbindung nicht als Modell für die chemische Industrie. Solche „OT-Verbände sind schwache Arbeitgeberverbände und das Ergebnis verfehlter Tarifpolitik“ (Frey 2005). Die Möglichkeit einer Mitgliedschaft ohne gleichzeitige Tarifbindung haben bisher nur zwei Landesverbände eingeräumt: Niedersachsen und Nordostchemie (vgl. Müller-Jentsch in diesem Band). Während in jüngerer Zeit die Dynamik der AGV von den kleineren und mittleren Betrieben auszugehen scheint, die sowohl eine Änderung der Strategie der Tarifpolitik als auch die Gründung der OT-Verbände bewirkt haben, ist die Dominanz der Großfirmen in der Tarifpolitik ständig eine Herausforderung bei der Entscheidungsbildung in AGV. Der Abstimmungsmodus in den AGV-Gremien versucht den Einfluss der großen Firmen zu reduzieren. Schon immer hat – unter wechselnden Gremienbezeichnungen – die langfristige Vorbereitung der Tarifpolitik bei Gesamtmetall mit dazu beitragen, die unterschiedlichen Interessen im Vorfeld von Verhandlungen auszugleichen. 2006 wurde vor Ort die Abstimmung mit der zuvor vereinbarten gemeinsamen Verhandlungsstrategie durch die „zentrale Tarifkommission“ sichergestellt (Gesamtmetall 2005b). Aktuell werden die Tarifverhandlungen im „Tarifpolitischen Vorstand“ koordiniert. Eine ähnliche Funktion hat der „Koordinierungsrat“ im BAVC (vgl. Müller-Jentsch in diesem Band). Eine Zentralisierung der Tarifpolitik wird die Folge sein. Dies stärkt die Rolle der Hauptgeschäftsführer der zentralen Verbände im Sinne ihrer Strategiefunktion. 2.3 Die institutionelle Einbindung der AGV Haipeter/Schilling interpretieren den Mitgliederverlust, die organisationspolitische Strategie der OT-Verbände und die Tariföffnungen als eine Verschiebung von der Einfluss- zur Mitgliederlogik. „Damit stärken die Verbände zwar ihre Attraktivität gegenüber den Unternehmen, sie schwächen im Umkehrschluss aber ihren Einfluss auf die zentrale Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen“ (Haipeter/Schilling 2006: 39). Aus einem internationalen Vergleich zieht Traxler jedoch den Schluss, dass die Schwächung gegenüber der eigenen Mitgliedschaft nicht zu einer Schwächung gegenüber der Gewerkschaft führt, eventuell sogar zu einer Stärkung führen kann (Traxler 2004a: 56; Weitbrecht 1974).
IV.1 Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik
325
Die Veränderung der Mitgliedschaft der AGV hat eine rege Debatte um die Zukunft der AGV und damit der überbetrieblichen Tarifverhandlungen in der Tarifautonomie ausgelöst. Da sie den Flächentarifvertrag als Regelungsinstrument sichern wollen, sorgen sich auch die Gewerkschaften um den organisatorischen Bestand der AGV. Die Frage nach der Zukunft der AGV muss den institutionellen Wandel berücksichtigen, weshalb institutionelle Alternativen im System der industriellen Beziehungen von großer Bedeutung sind. Zunehmend stehen AGV auch im Wettbewerb mit Anwaltskanzleien und Beratern, die fast alle Dienstleistungen ebenfalls anbieten. Eine Konzentration auf das Kerngeschäft Tarifpolitik ist jedoch keine Alternative für Arbeitgeberverbände. Dieses allein wird einen Betrieb nicht zum Beitritt veranlassen, da ein „Trittbrettfahren“ hier einfach möglich ist (Schack/Zumkeller 2006). Traxler weist nach, dass im internationalen Vergleich institutionelle Faktoren den Organisationsgrad trotz ungünstiger tarifpolitischer Bedingungen stützen können. Im rationalen Kalkül der Unternehmen über eine Mitgliedschaft im AGV gehören dazu offensichtlich vor allem Allgemeinverbindlichkeitserklärungen (Keller 2008: 66), aber auch der Organisationsgrad der Gewerkschaften. Für eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung aber sind überbetriebliche Tarifverhandlungen Voraussetzung (Traxler 2004a: 53). In Deutschland sind von den rund 64.300 als gültig in das Tarifregister eingetragenen Tarifverträgen zurzeit allerdings nur 460 allgemeinverbindlich (BMA 2009). Alle Forschungsergebnisse zeigen: „Institutions matter“, der Erfolg eines tarifpolitischen Systems hängt ganz wesentlich vom institutionellen Set-up ab. 3
Institutionelle Alternativen und die Akteursrolle der AGV
3.1 Tarifpolitische Anpassung der AGV im Sinne der Einflusslogik 3.1.1 Die AGV als Akteur im dualen System Das traditionelle System der industriellen Beziehungen in Deutschland, das duale System, beruht auf der einzigartigen Arbeitsteilung von betrieblicher (gesetzliche Mitbestimmung) und überbetrieblicher Konfliktregelung (Verhandlungen freiwilliger Verbände in Tarifverhandlungen) (Müller-Jentsch 1997; Jacobi 2003). Entscheidend für das Zustandekommen von Verhandlungen ist dabei das Streikrecht und für die Befriedungsfunktion die prinzipielle Friedenspflicht auf betrieblicher Ebene (Friedenspflicht, BetrVG § 74 Abs. 2) und die Friedenspflicht während der Laufzeit von Tarifverträgen. Konstitutiv für die Tarifautonomie ist einerseits die staatsfreie Sozialsphäre, in der die Arbeitsbedingungen gestaltet werden, und andererseits die Existenz von kollektiven Tarifvertragsparteien (basierend auf der Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 GG) als Interessenrepräsentanten. Akteure mit Autonomie in der Tarifautonomie sind AGV und Gewerkschaften, Verhandlungspartner können allerdings auch einzelne Arbeitgeber sein (§ 2 TVG). Die rechtlich-institutionelle Trennung in zwei unterschiedliche Arenen garantiert die bemerkenswerte Stabilität der industriellen Beziehungen und die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen hin zu High-Trust-Beziehungen (Müller-Jentsch 1997:199). Beide Arenen entlasten sich gegenseitig. Die zunehmende Dezentralisierung der Tarifverhandlungen und die Diskussion über das „Tarifkartell“ von Gewerkschaften und AGV lässt vor allem für kleinere Betriebe das
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Modell einzelbetrieblicher Verhandlungen mit dem Betriebsrat, wie es in Großbritannien, den USA, Kanada und Neuseeland vorherrscht, attraktiv erscheinen (Traxler/Blaschke/ Kittel 2001: 114). Die offensichtlich positive Erfahrung vor allem großer Unternehmen bei der Regelung von Arbeitsbedingungen mit den Betriebsräten, die auch als Co-Manager in strategische Entscheidungen einbezogen werden (Müller-Jentsch 2003: 51), trug nicht wenig dazu bei, ein nichtduales Modell zu entwickeln. Betriebsräte sollten mit dem jeweiligen Arbeitgeber auch die (noch im Flächentarifvertrag verbliebenen) restlichen Gegenstände der Tarifpolitik regeln. Kollektive Organisationen auf beiden Seiten, Gewerkschaften wie auch AGV, wären dabei nicht mehr als aktive Akteure, sondern allenfalls als beratende Instanzen notwendig. Vertreten wird dieses Modell von den Eigentümer-Unternehmen (ASU) und in den 1990er Jahren vom Industriespitzenverband BDI, während der Arbeitgeberspitzenverband BDA und überwiegend auch seine Mitgliedsverbände am Flächentarif und damit an der aktiven Rolle (Akteursautonomie) der eigenen Verbände festhielten. Die Arbeitgeberseite war sich also durchaus nicht einig in Bezug auf den Weg zu einer nichtdualen Regelung der Arbeitsbeziehungen (Thelen 2000). Während kleinere und mittlere Firmen z. B. in der Metallindustrie eher für einen Wechsel des Modells plädieren, aber keinen eigenen AGV haben, spielen Großunternehmen eine besondere Rolle für den Erhalt des Flächentarifvertrags. Analog sind es vor allem die kleinen (verstärkt im Osten) und mittleren (im Westen) Betriebe, die ihren Verband verlassen. Unklarheit besteht oft darüber, was der Wechsel zu einem dezentralen System der Regelung der Arbeitsbedingungen bedeuten würde. Das überwiegend kooperative Verhältnis zum Betriebsrat beruht gerade auf der Arbeitsteilung in ein potenziell konfliktäres Verhältnis zu den Gewerkschaften auf überbetrieblicher Ebene und ein kooperatives Verhältnis auf der betrieblichen Ebene. Eine konsequente Dezentralisierung mit den Betriebsräten als tarifpolitischen Verhandlungspartnern würde die absolute Friedenspflicht nach dem BetrVG infrage stellen (Thelen 2000). Es gibt gute Argumente dafür zu behaupten, dass die Arbeitgeber nur deshalb so gut mit ihren Betriebsräten über die Regulierung der Arbeitsbeziehungen verhandeln können, weil diese nicht über die Verteilung der Ergebnisse verhandeln können. Das duale System in seiner bisher bewährten Form beruht auf einer kollektiven Konfliktregelung zwischen zwei Kollektivverbänden und führt zu Flächentarifverträgen. Dies bedeutet, dass Flächentarifverträge eng mit der Existenz von AGV verbunden sind. Ohne einen AGV als Akteur in Tarifverhandlungen kann kein Flächentarifvertrag entstehen. Und ohne Flächentarifvertrag ist ein AGV kein Akteur im tarifpolitischen System (Politikfähigkeit). Deshalb wird das Bekenntnis der AGV zum Flächentarifvertrag in den großen Industriearbeitgeberverbänden Chemie und Metall auch immer deutlicher (Gesamtmetall 2007). Grundsätzlich gewährleisten Flächentarifverträge für die Arbeitgeber die Standardisierung der Arbeitsbedingungen innerhalb einer Branche, d. h. einheitliche Ausgangsbedingungen ohne Konkurrenz auf der Seite des Arbeitsmarktes (Kartell- und Ordnungsfunktion). Des Weiteren sichert der Tarifvertrag die Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten, d. h. durch die Verhandlungen auf Verbandsebene wird die Arbeit im Betrieb nicht gestört und die Friedenspflicht schafft klare Planungsverhältnisse während der Laufzeit eines Tarifvertrages (Müller-Jentsch 1997: 204). Bispinck/Schulten (1999: 190) fügen dem noch die Produktivitäts- und Innovationsfunktion hinzu: Durch den Mindestnormcharakter der Tarifverträge sind Arbeitskostensenkungen enge Grenzen gesetzt, so dass sich Unternehmen nur durch Qualitäts- und Innovationsfortschritte Konkurrenzvorteile verschaffen können.
IV.1 Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik
327
3.1.2 Veränderte Tarifpolitik der Arbeitgeberverbände Eine Reihe von Tarifklauseln veränderte zunehmend die Unabdingbarkeit von Tarifverträgen:
Öffnungsklauseln lassen – zeitlich begrenzt – in vielen Fällen Tarifabsenkungen zu. Die Anpassungsmöglichkeiten der Betriebe sind groß. Die Anwendung von Öffnungsklauseln ist teilweise von der Zustimmung der Tarifvertragsparteien abhängig. Allgemeine Öffnungsklauseln sind nicht auf bestimmte inhaltliche Regelungsbereiche beschränkt, anders spezielle Öffnungsklauseln. Während früher überwiegend Härtefallklauseln vereinbart wurden, die vor allen Dingen zur Rettung von Betrieben in wirtschaftlicher Not gedacht waren, können neuere Öffnungsklauseln auch zur Verbesserung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit angewandt werden. In einem Bündnis für Arbeit stimmt der Betriebsrat zum Beispiel einer Arbeitszeitverlängerung oder einer Kürzung tariflicher Sonderzahlungen zu, im Gegenzug garantiert das Unternehmen in der Regel einen befristeten Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen. In vielen Fällen sehen die Tarifverträge vor, dass die Tarifvertragsparteien die Vereinbarung überprüfen und ihr zustimmen müssen, bevor diese in Kraft treten kann (Böckler-Impuls 2005: 2).
Um diese Bündnisse rechtssicherer zu machen streben die AGV eine Änderung des Günstigkeitsprinzips im § 4, 3 im Tarifvertragsgesetz durch einzelvertragliche Vereinbarung an, d. h. eine Ausdehnung des Begriffs der Günstigkeit über Arbeitszeit und Lohn hinaus. Mit den Veränderungen am Produktmarkt der Betriebe reduzierte sich die Kompromissfähigkeit der AGV auf den traditionellen Feldern der Tarifpolitik, um den neuen Interessen der Betriebe entgegenzukommen. In den 1980er Jahren, seit der Arbeitszeitregelung von 1984, gab es eine erste Tendenz zur Dezentralisierung von Tarifverhandlungen. Dabei ging es noch um die betriebliche Ausgestaltung von überbetrieblich vereinbarten Tarifnormen mit den Betriebsräten (Verbetrieblichung). Die Betriebsräte gewannen an Bedeutung. In der Metall- und Elektroindustrie Ost wurden 1993 erstmals die Flächentarifverträge geöffnet mit der Vereinbarung von Härtefallklauseln, im Verlauf der 1990er Jahre wurde diese Öffnung auf Westdeutschland ausgedehnt. Abweichungen von den Tarifstandards im Sanierungsfall konnten bei einer Zustimmung der Tarifvertragsparteien betrieblich ausgehandelt werden. Silvia/Schroeder (2007) weisen darüber hinaus auf die Kostenverlagerung der großen (Automobil-)Firmen auf die Zulieferer hin, die in der Folge die Tarifsteigerungen der von großen Firmen bestimmten Verträge nicht mittragen konnten. Mit dem Tarifabschluss des Jahres 2004 (Pforzheimer Tarifvertrag) schließlich wurde bei Metall eine allgemeine Öffnungsklausel vereinbart (Ergänzungstarifvertrag), die zwar auch zur Beschäftigungssicherung genutzt werden kann, aber einen ganz anderen Charakter hat und ein sehr viel breiteres Anwendungsgebiet besitzt: Sie soll insbesondere strukturelle Veränderungen von Unternehmen unterstützen, zum Beispiel durch eine Verbesserung der Investitions- und Innnovationsbedingungen. Seither sind unternehmensbezogene Unterschreitungen der Tarifnormen nicht länger an Sanierungsfälle gebunden, sondern können auch die Sicherung der Beschäftigung oder eine Investition in die Zukunftsfähigkeit der Betriebe bzw. eine Standortsicherung durch Verzicht auf betriebsbedingte Kündi-
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
gungen zur Voraussetzung haben (Gesamtmetall 2005a: 21). Die Betriebsparteien prüfen, die Tarifvertragsparteien vereinbaren mit den Betriebsparteien ergänzende Tarifregelungen oder es wird einvernehmlich befristet von tariflichen Mindeststandards abgewichen. Diese Regelung verändert die Funktion der AGV von einer Verhandlungs- zu einer Beratungs- und Koordinationsrolle, wenn auch die Veränderung angesichts ihrer bisherigen Politik für die Gewerkschaften schwieriger war. Zwar kann diese Vereinbarung noch nicht als eine Rettung des Flächentarifvertrags überhaupt angesehen werden, jedoch als ein wichtiger Schritt (Haipeter/Schilling 2006: 77 ff.). Bis Mai 2009 wurden insgesamt 714 solcher Vereinbarungen umgesetzt (Neuabschlüsse sowie Anschlussverträge mit/ohne Änderungen), überwiegend durch Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich mit dem Ziel der Standortsicherung als Alternative zu einer sonst vorgenommenen Produktionsverlagerung. 2006 wurde in Baden-Württemberg zum ersten Mal eine Qualifizierungsregelung tariflich vereinbart. Beides sind Vereinbarungen, die in der chemischen Industrie schon seit 2001 bzw. 2003 bestehen. Bereits seit 1994 hatten die Tarifvertragsparteien der chemischen Industrie eine Reihe von Flexibilisierungen und Öffnungen in ihren Tarifverträgen verankert, z. B. mit Vereinbarungen zu einem Arbeitszeitkorridor und zu einem Entgeltkorridor. Auch hier steht die Abwendung einer betrieblichen Notlage im Vordergrund, jedoch sucht der BAVC heute den „Weg aus der Notfallklausel“ (Frey 2005: 127), will also die Flexibilisierungsinstrumente stärker genutzt sehen. Die koordinierende Funktion des AGV ist als strategische Aufgabe neben der reinen Rechtsberatung hier deutlich zu erkennen. 3.1.3 Strategische Tarifpolitik der Arbeitgeberverbände Schon vor über zehn Jahren begannen die Tarifparteien in der chemischen Industrie mit der Reform der Chemie-Flächentarife in Form zahlreicher Flexibilisierungen und Öffnungen. Zu den Instrumenten dieser Tarifpolitik gehören heute z. B. die Altersvorsorge (1998, 2002, 2005), Qualifizierung (2003), Jahresleistung (2002) sowie Langzeitkonten (2003), die auch als beschäftigungssichernde Rahmenreglungen gesehen werden. Diese Instrumente sind alleine oder in Kombination anwendbar. In Niedersachsen wurden diese Öffnungsklauseln 2006 von 19 % der Betriebe angewandt, deutschlandweit dürfte ein ähnlicher Anwendungsgrad bestehen. Bisher haben insgesamt vermutlich fast 40 % davon Gebrauch gemacht (Papronty 2006). Die Anträge auf Ausweitung der Arbeitszeit haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen und überwiegen seit fünf Jahren. Beschäftigungsfördernde Rahmenregelungen sind zum Beispiel abgesenkte Einstiegstarife, der Tarifvertrag zur Förderung der Integration von Jugendlichen bzw. „Zukunft durch Ausbildung“ (BAVC/IG BCE o. J.). Standortvereinbarungen beinhalten meist im gleichen Tarifwerk beschäftigungssichernde und standorterhaltende Zusagen, z. B. den Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen 2008 kam auf Initiative des BAVC der weitreichende Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ hinzu. Er hat die gesamte Lebensarbeitszeit eines Arbeitnehmers im Blick und ermuntert die Betriebe zu langfristiger qualitativer Personalplanung. Eine Analyse der betrieblichen Personalsituation gemeinsam mit den Betriebsräten wird angeregt und ein Cafeteria-Modell, finanziert durch einen „Demografiefonds“, ermöglicht betriebsindividuelle Lösungen (BAVC/IG BCE 2008; vgl. auch Müller-Jentsch in diesem Band).
IV.1 Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik
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In der Metall- und Elektroindustrie hat sich in den vergangenen Jahren ein dreigliederiges Modell als tarifpolitischer Standard herausgebildet. Danach umfasst ein Tarifabschluss folgende Bausteine (oder eine Kombination davon): eine für alle Betriebe gleichermaßen geltende prozentuale Tabellenerhöhung, eine nicht in die Entgelttabellen eingehende Einmalzahlung sowie eine betriebliche Komponente, die der unternehmensspezifischen Situation Rechnung trägt. 2006 konnte die differenzierbare Einmalzahlung von 310 Euro durch freiwillige Betriebsvereinbarungen auf 620 Euro verdoppelt oder auf 0 Euro gekürzt werden. 2007 wurde ein variabler Konjunkturbonus von 0,7 % vereinbart; dieser durfte ebenso wie die zweite Stufe der Tabellenerhöhung um 1,7 % um bis zu vier Monate verschoben werden. 2009 wurde dieses Instrument abermals genutzt: Die zweite Stufe der Tabellenerhöhung um 2,1 % konnte um maximal sieben Monate ausgesetzt und die Einmalzahlung von 122 Euro entsprechend gekürzt werden. 2008 reagierten die Tarifparteien der Metall- und Elektroindustrie auf die demografische Entwicklung und einigten sich auf einen Tarifvertrag zum flexiblen Übergang in die Rente, der auf die bisherige Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit verzichtet, besonders beanspruchten Personengruppen weiterhin einen vorzeitigen Ausstieg zu attraktiven Konditionen ermöglicht, alle anderen Beschäftigten aber wesentlich länger im Unternehmen hält und damit dem drohenden Fachkräftemangel entgegenwirkt. Eine einmalige Initiative der Tarifpartner stellt der Wittenberg-Prozess der ChemieSozialpartner dar, mit dem ein klares Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft abgegeben wurde und „verantwortliches Handeln“ in dieser Ordnung im Sinne eines Ethikkodexes definiert wurde (IG BCE/BAVC 2009). Damit nahmen die Sozialpartner erstmalig dezidiert und explizit Einfluss auf den betrieblichen CSR-Prozess in Bezug auf Dialogprozesse und Schulungsangebote für Führungskräfte und Betriebsräte (Rieble 2009; vgl. MüllerJentsch in diesem Band). Tabus einer zukünftigen Tarifpolitik der AGV sind alle Vereinbarungen, die die wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit beschränken. Dazu gehört auch, dass Entlohnung maximal dem entsprechen soll, was durch diese Arbeit erwirtschaftet wird, wobei ein staatlich regulierter Mindestlohn dem widerspricht (Gesamtmetall 2006: 48 f). Langfristige Zielsetzung bleibt für die AGV die Variabilisierung der Vergütung nach Leistung. Zunehmend sind die Arbeitgeber mit dieser Tarifpolitik von der Abwehr gewerkschaftlicher Forderungen weggekommen. Forderungen der Arbeitgeber werden verhandelt, die Rolle der AGV in der Tarifauseinandersetzung hat sich von der eines reaktiven zu der eines aktiven Verhandlungspartners gewandelt (Politikfähigkeit). Aus unmittelbaren Bedürfnissen der Betriebe, z. B. nach Flexibilisierung, entwickeln sich neue tarifpolitische Strategien der Verbände, eine sorgfältig austarierte kooperative Politik in der Chemie, eine Gegenstrategie bei Metall: die Berücksichtigung des internationalen Wettbewerbs in der Lohnformel sowie die Ergänzung der prozentualen Lohnzahl durch eine korrigierende betriebliche Komponente gegenüber der traditionellen (arbeitnehmerorientierten und gewerkschaftsgesteuerten) Lohnformel, Teuerung und dem Produktivitätsfortschritt (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2006). Generell zielen viele dieser neuen Tarifverträge auf eine dezentrale Verantwortung durch betriebliche Lösungen zwischen Unternehmen und Betriebsräten. Auf AG-Seite bedeutet dies für mittlere und kleinere Betriebe wiederum einen Bedarf an Beratung durch den AGV, was eine neue Rechtfertigung für den Verband bzw. eine Mitgliedschaft mit sich bringt.
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
3.2 Arbeitgeberverbände im dezentralen System: Koordination dezentraler Verhandlungen? Ein Systemwechsel wäre in Deutschland möglich durch die Streichung des § 77, 3 BetrVG. Der Betriebsrat könnte dann Betriebsvereinbarungen auch über die Tarifmaterie abschließen. Damit wäre die Dualität der industriellen Beziehungen aufgehoben und der Betriebsrat müsste als gleichwertiger Verhandlungspartner das Streikrecht erhalten. Die AGV lehnen diesen Systemwechsel ab und gehören somit grundsätzlich zu den Befürwortern des Flächentarifvertrags (Gesamtmetall 2005a, 2006: 27), nicht zuletzt deshalb, weil ihre Politikfähigkeit gegenüber der Regierung und in anderen Institutionen steigt, wenn sie im nationalen Kontext im Auftrag von mehreren Arbeitgebern verhandeln. Tarifverhandlungen mit mehreren Arbeitgebern haben eher makroökonomische Relevanz. Es ist dann interessanter für den Staat, die Kooperation der verhandelnden Parteien zu suchen und diese in politische Entscheidungen einzubeziehen (Behrens/Traxler 2003; Traxler 2004b). Eine wichtige Frage in der Diskussion ist, ob der Druck durch die globale Ökonomisierung dazu führt, dass sich die Systeme der industriellen Beziehungen international angleichen, z. B. hin zu zentralen oder zu deregulierten, dezentralen Systemen wie in den angelsächsischen Ländern. Es hat sich gezeigt, dass die wirtschaftliche Internationalisierung nicht zu einer Konvergenz der Verhandlungssysteme führt, da deren gesamtwirtschaftliche Relevanz in Bezug auf Beschäftigung, Inflation und Wirtschaftswachstum zu hoch ist (Traxler 2003: 107). Der Einfluss des Modells der industriellen Beziehungen auf die Performanz eines Landes über die Arbeitskosten (Lohnkosten, Lohnstückkosten) und damit auf Inflation, Beschäftigung und Wachstum ist nachweisbar (Traxler/Blaschke/Kittel 2001: 213, 277). Internationale Vergleiche zeigen allerdings, dass weder eine starke Zentralisierung der Lohnregulierung noch eine eindeutige Dezentralisierung, wie sie in diesen beiden Modellen angedeutet sind, zu einer besseren Anpassung an die ökonomischen Zwänge der internationalen Wirtschaft führen, weshalb auch Zwischenstufen der Zentralisierung gesamtwirtschaftlich effektiv sein können (Traxler 2003). Die internationale Analyse hat die Konvergenz der Systeme, d. h. ihre Angleichung aufgrund der zunehmenden Internationalisierung der Ökonomie, nicht bestätigt und sieht die Entwicklung und den Wandel von Institutionen der industriellen Beziehungen im Rahmen von Pfadabhängigkeiten, wonach sich Institutionen innerhalb ihrer je spezifischen „Entwicklungskorridore“ verändern, die durch die historisch geprägte Eigentümlichkeit der jeweiligen Institution gesetzt werden. Institutionen sind sozusagen träge und vermeiden Veränderungen zum Teil trotz eines Funktionsabfalls. Dies impliziert, dass die institutionelle Vielfalt und Unterschiedlichkeit im Ländervergleich ungeachtet fortgesetzter Anpassungsprozesse bestehen und ein spezifisch deutscher Weg der Anpassung denkbar bleiben wird. Man kann allerdings sehr wohl davon ausgehen, dass sich funktional äquivalente Lösungen der heutigen „Arbeitsteilung“ im dualen System von Betriebsrat und Tarifautonomie herausbilden können, die auch die Rolle der AGV verändern (Traxler 2003: 115). Wenn eine solche veränderte Funktion der Koordination von dezentralen Verhandlungen wahrgenommen wird, spricht man von „organisierter Dezentralisierung“ (Traxler 1995a) bzw. „kontrollierter Dezentralisierung“ (Bispinck/ Schulten 1999: 198). Diese Tendenz lässt sich auch in anderen Ländern aufzeigen (Behrens/ Traxler 2003). Der internationale Vergleich von Traxler, Blaschke und Kittel (2001: 287) zeigt eine Entwicklung hin zu zwei Modellen, dem angelsächsischen (neoliberalen) und einem moderat korporatistischen. Für die Entwicklung des deutschen Modells ist dabei Folgendes interessant:
IV.1 Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik
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Wir finden international institutionelle Alternativen, die zum gleichen Ergebnis führen, jedoch pfadabhängig in der Tradition eines Landes entwickelt werden (Traxler/ Blaschke/Kittel 2001: 293). Nicht die Zentralisierung, sondern die Koordination der Verhandlungen ist entscheidend, diese kann auf verschiedene Weise geschehen. Der einflussreichste Faktor ist die Verhandlungsstruktur, d. h. eine Koordination auf der Spitzenebene und Modellverhandlungen sind am effektivsten, jedoch abhängig von Institutionen, die die Koordination ermöglichen, und der damit zusammenhängenden Frage des Organisationsgrads der Verbände (moderater Korporatismus) (Traxler/ Blaschke/Kittel 2001: 293). 7
Nur Länder, in denen eine Koordination nicht gelingt, fallen zurück auf die zweitbeste Lösung der unkoordinierten Verhandlungen. Die liberale These, dass die ökonomische Leistung mit zunehmender Desorganisation wächst, kann also zurückgewiesen werden. Die Geldpolitik des Staates ist der zweite wichtige Faktor, auf den wir hier jedoch nicht eingehen können (Traxler 2005; Traxler/Blaschke/Kittel 2001: 225, 283). Organisationsmacht als Organisationsgrad der Verbände oder Tarifbindung hat keinen Einfluss auf die ökonomische Leistung des Modells. Auch dies widerspricht der gängigen neoliberalen Vorstellung von einem „Kartell der Tarifverbände“. Institutionelle Regelungen der industriellen Beziehungen zeigen aber auch ihre Fähigkeit zu endogenen Reformen, wobei die Auseinandersetzung mit dem anderen Modell wesentlich zur Anpassung beigetragen haben mag (Crouch 1999: 43 ff.). Für die beteiligten kollektiven Organisationen setzt dies allerdings voraus, dass (1) sie in der Lage sind, eine eigenen Strategie zu entwickeln, und (2) der Druck, in die Funktionslosigkeit zu fallen, groß genug ist, weil genügend aktive Mitglieder die Abschaffung der Organisation vorziehen und ein Weitermachen in der bisherigen Form als unangemessen betrachten (Crouch 1999: 45). Der internationale Wettbewerb hat vor allem die gesamtwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit nationaler Verhandlungssysteme und damit die Rolle ihrer Verbände in den Vordergrund rücken lassen. Im systematischen Vergleich der OECD-Länder stellt sich heraus, dass die Kombination von Verbandsaktivitäten und institutionellen Faktoren (Allgemeinverbindlichkeitserklärung oder die tarifliche Friedenspflicht) die Effizienz eines Systems verändert. Die Verpflichtungsfähigkeit kann über eine solche staatliche Intervention unterstützt werden. Nicht die Struktur der Verbände und ihrer Verhandlungen allein, z. B. durch Zentralisierung, machen erfolgreiche Systeme aus, sondern sehr wohl auch dezentrale, aber koordinierte Verhandlungen. Koordination wird zur entscheidenden Funktion der Verbände, unabhängig davon, ob diese selbst Verhandlungen durchführen. Da regionale, branchengebundene Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbände Tarifverhandlungen führen, besteht im deutschen Modell ein mittlerer Zentralisierungsgrad, wenn auch de facto die nationale Koordination dominant geworden ist. Dies bedeutet, dass bei Gewerkschaften und AGV die Spitzenverbände wenig Bedeutung für die tarifpolitische Koordination haben, eher für die Politik im korporatistischen Modell. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) umfasst 56 Bundesfachverbände, z. B. Gesamtmetall, und 14 Landesvereinigungen, zwei Millionen Betriebe und 20 Millionen Beschäftigte (BDA 2008; Behrens in diesem Band; Grote/Lang/Traxler 2007). In den 7
Die Geldpolitik des Staates ist der zweite wichtige Faktor, auf den wir hier jedoch nicht eingehen können (Traxler/Blaschke/Kittel 2001: 282, 267, 300).
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
1990er Jahren wurde die Tarifpolitik der in der BDA zusammengeschlossenen Verbände vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der die Verbände der Produktmarktinteressen der Industrieunternehmen vertritt, heftig attackiert, Flächentarifverträge wurden als „Tarifkartelle“ bezeichnet. Die spezifisch deutsche Arbeitsteilung der Spitzenverbände ist wieder kooperativer geworden, hat sogar 2006 zu gemeinsamen institutionellen Regelungen geführt (gemeinsames Präsidium und Vertretung in Brüssel). War in den 1980er und 1990er Jahren der BDI in der Öffentlichkeit besser bekannt und profiliert, so haben sich seit der Jahrtausendwende die Verhältnisse umgekehrt: Die BDA hat inzwischen mit den Themen Sozialpolitik, Arbeitsmarkt, Sozialpartnerschaft/Tarifautonomie, Globalisierung und CSR ein sehr viel deutlicher sichtbares und glaubwürdigeres öffentliches Profil als der BDI.
Performanz
hoch
Tabelle 1: Gesamtökonomische Performance und die Zentralisierung der Tarifverhandlungen Modellverhandlungen (D)
Freiwillige zentrale Koordination mit hoher Verhandlungsdurchsetzung (A, D, FIN, NL) Staatlich durchgesetzte Koordination (F)
Unkoordinierte Verhandlungen
niedrig
Freiwillige zentrale Koordination mit geringer Verhandlungsdurchsetzung (B, E, I, IRL, P) niedrig
hoch Grad der Zentralisierung der Verhandlungen
Quelle: nach Traxler 1999b: Tab. 6.1 und 6.2.
4
Die Zukunft der AGV im System der industriellen Beziehungen
4.1 Stabilität oder Wechsel des Systems der industriellen Beziehungen Während der letzten Jahre gab es auch wissenschaftliche Kontroversen darüber, ob das deutsche System der industriellen Beziehungen in seiner traditionellen Form, also insbesondere der Flächentarifvertrag mit einer kollektiven Arbeitgebervertretung durch AGV, seine Stabilität erhalten hat oder kurz vor dem Zusammenbruch steht (vgl. Hassel 1999, 2002; Klikauer 2002). Dabei wurden alle organisationalen Faktoren wie der Organisationsgrad und die Tarifbindung, die sich negativ verändert hätten, sowie das subtile Zusammenspiel von Mitbestimmung und Tarifautonomie, das durch Dezentralisierung und Öffnungsklauseln gestört sei, als Argumente herangezogen. Die entscheidende Frage ist u. E. jedoch nicht die Stabilität des Systems mit einer Anpassung und veränderten Rollen der Verbände, sondern ob wir einen Systemwechsel in Richtung des angelsächsischen Modells der einzelbetrieblichen Verhandlungen erkennen können. Ein solcher Systemwechsel liegt u. E. noch nicht vor mit einem „Wegfall des Günstigkeitsprinzips, so dass die Betriebspartner auch
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gegen die Tarifverbände legal vom Flächentarif abweichen können“ (Streeck/Rehder 2005: 72), sondern erst dann, wenn die Verhandlungsmacht einschließlich des Streik- und Aussperrungsrechts an die Betriebsparteien verlagert würden, die Verhandlungsdurchsetzung (Traxler: Tab. 2) des AGV also verloren gegangen wäre und keine Koordination durch Gewerkschaften und AGV mehr stattfände. Das fatale Missverständnis bei der dezentralen Alternative besteht in der Annahme, dass das kooperative Verhältnis zum Betriebsrat im dualen System auch in einem dezentralen System mit betrieblichen Verhandlungen und ohne überbetriebliche Verbände beibehalten werden könnte, also die Nachteile des angelsächsischen Systems nicht übernommen werden müssten. Entsprechend der Logik der unkoordinierten Märkte sollte der Produktmarkt in gleicher Weise dereguliert sein, wovor Unternehmen häufig zurückschrecken (Hall/Soskice 2001). Streeck/Thelen (2005) weisen jedoch darauf hin, dass auch ein inkrementaler Wandel, wie er sich im modernen Kapitalismus zeigt, zu einem neuen institutionellen Regime führen kann. Da dieser offensichtlich im Sinne der Liberalisierung von bestehenden Regelungen stattfindet, bleibt uns nur, das Ergebnis des Wandels der industriellen Beziehungen zu beobachten, wenn wir Konsequenzen für die AGV ableiten wollen. 4.2 AGV im moderat korporatistischen Modell der Zukunft Das einzelbetriebliche Regelungsmodell bleibt ein Gegenmodell auch für die Großunternehmen, die ihrerseits durch die zunehmende Dezentralisierung die AGV herausfordern. Mit einem auf betriebliche Kooperation ausgerichteten Betriebsrat bleibt das duale Modell jedoch vermutlich noch lange attraktiv und AGV bleiben notwendig. Der Pfad der deutschen Entwicklung trägt viele Merkmale des erfolgreichen moderaten korporatistischen Modells (Traxler/Blaschke/Kittel 2001: 303). Die Stabilität hängt ab von einem unterstützenden Rechtssystem, das einen marktorientierten Opportunismus zulässt (ebd.: 305). Nicht die traditionelle Zentralisierung der Verbände (Jacobi 2003) bringt also den Erfolg des Systems der industriellen Beziehungen, sondern ihre gemeinsame Fähigkeit zur Koordination, wie sie in der chemischen Industrie modellhaft entwickelt wurde. Dies verlangt AGV, die nicht notwendigerweise in ihrem Organisationsgrad, wohl aber in ihrer internen Entscheidungsstruktur den Anforderungen einer Koordination der Tarifverhandlungen gewachsen sind. Dies könnte selbst in einem dezentralen Modell eine wichtige Aufgabe der AGV bleiben, auch wegen ihrer Bedeutung für eine korporatistische Politik in Staat und Gesellschaft (Einflusslogik). Eine korporatistische Abstimmung der Tarifpolitik mit anderen Politikfeldern bleibt das vorrangige Ziel der Politik, weil sich nur so ein signifikantes Beschäftigungswachstum erreichen lässt. Deshalb ist auch von einem staatlichen Interesse an Flächentarifverhandlungen auszugehen, mithin daran, in Deutschland die Akteure politikfähig zu erhalten (Traxler/Blaschke/Kittel 2001: 305). Staatlicher Einfluss auf die Gestaltung ist deshalb immer da zu spüren, wo die Legitimität des Systems, vor allem aber seine gesamtökonomische Effizienz reduziert zu werden droht (Weitbrecht 1969: 227). Die zunehmende Heterogenität der Mitgliedsfirmen mit unterschiedlichen Interessen macht es den Verbänden immer schwieriger, eine einheitliche Politik zu finden. Die Mitgliederlogik gewinnt an Bedeutung (Streeck/Visser 2006). Wenn die AGV ihre Organisationsfähigkeit bei kleinen und mittleren Betrieben verlieren, können sie auch gegenüber dem
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Staat deren Interessen, die sich ja nicht nur auf Tarifpolitik beziehen müssen, nicht mehr legitimerweise vertreten (Einschränkung der Politikfähigkeit). Ein moderat korporatistisches Modell mit überbetrieblichen Verhandlungen kann jedoch auch bei einer sehr viel geringeren Mitgliedschaft der Verbände und einer stark reduzierten Verhandlungskompetenz der AGV in der Tarifpolitik bestehen. Berücksichtigt man die noch bestehende starke Orientierungsfunktion von Tarifverträgen auch für nichttarifgebundene Betriebe und die inzwischen veränderten tarifpolitischen Vereinbarungen, so kann von einer akuten Krise des Flächentarifvertrags im dualen System der industriellen Beziehungen einerseits oder dem Verschwinden der AGV andererseits (noch) nicht gesprochen werden. Ein wesentlicher Grund dafür liegt darüber hinaus in der Verbreiterung des Aktionsraums in der Tarifpolitik und über die traditionelle Tarifpolitik hinaus. Analog zu den betrieblichen Bedürfnissen, z. B. nach Flexibilisierung, entwickeln sich auch neue tarifpolitische Strategien der Verbände, in Gestalt einer sorgfältig austarierten kooperativen Politik in der Chemieindustrie und einer Gegenstrategie in der Metallbranche: die Berücksichtigung des internationalen Wettbewerbs in der Lohnformel sowie die Ergänzung der prozentualen Lohnzahl durch eine nichttabellenwirksame Einmalzahlung sowie eine korrigierende betriebliche Komponente gegenüber der traditionellen (arbeitnehmerorientierten und gewerkschaftsgesteuerten) Lohnformel, Teuerung und dem Produktivitätsfortschritt (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2006). Neben Lohn und Arbeitszeit hat die Sozialpolitik für die AGV zunehmend an Bedeutung gewonnen (Gesamtmetall 2007). Dies gilt für das Thema Rente, also den Bezug von Sozialversicherungsleistungen und einer Betriebsrente (MetallRente, das gemeinsame Versorgungswerk von Gesamtmetall und IG Metall (gegründet 2001), und auch der Wechsel von vermögenswirksamen Leistungen zur Riester-Rente), ist jedoch auch sichtbar für das Demografiethema und absehbar für das Thema Gesundheitspolitik zu erwarten in Bezug auf Krankenversicherung/betriebliche Gesundheitspolitik. Konzeptionell noch weit unterentwickelt ist dies für das Thema Arbeitsmarktpolitik. In jedem Fall sind diese Politikfelder, auf denen die Politik nicht einzelne Betriebe ansprechen kann und die andererseits auch für OT-Mitglieder von großem Interesse sind, neue Politikfelder eines AGV. Damit kommen die AGV aus der begrenzenden Perspektive auf die Tarifpolitik heraus, die eng mit der Entwicklung der Gewerkschaften und ihrem Organisationsgrad verknüpft ist. Nicht nur hängen die Gewerkschaften von dem Bestand der AGV ab, dies gilt auch umgekehrt. Die AGV haben sich zu einem aktiv handelnden Akteur in der Sozialpartnerschaft entwickelt und gewinnen mit Themen über die traditionelle Tarifpolitik hinaus Akteursautonomie im deutschen System. „Tarifpolitik ist nur ein Teil des viel weiter gehenden Bereiches ‚Arbeitsbeziehungen‘“ (Gesamtmetall 2007: 7). 4.3 Der Wandel des Systems Wie oben angemerkt kann ein inkrementaler Wandel – und das heißt eben auch ein Wandel der Organisationen – das System der industriellen Beziehungen verändern. Haipeter (2009) hat in seiner Analyse der veränderten Tarifpolitik einen solchen Wandel aufgezeigt. Mit einer veränderten Tarifpolitik, die Abweichungen zulässt und damit immer wieder an die Grenze zur „wilden Dezentralisierung“ stößt, stellt sich für die Verbände die Problematik der Kontrolle neu. Das Interesse der Arbeitgeberverbände an diesem Thema war bisher
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offensichtlich weniger stark ausgeprägt als das der Gewerkschaften. Ausgehend vom Vorstand der IG Metall begründeten dort Koordinierungsrichtlinien einen neuen Umgang mit Tarifabweichungen, der inzwischen auch von den Arbeitgeberverbänden akzeptiert wird. Dies führte in der Folge zu einer Eindämmung der informellen Tarifabweichungen. Haipeter erwartet deshalb, dass von den Tarifabweichungen letztlich stabilisierende Impulse für das Tarifsystem ausgehen können. Zwar vor allem im Hinblick auf die Gewerkschaften, aber eben auch auf das gesamte Tarifsystem sieht er „den Boden für die Entwicklung (…) dezentraler tarifpolitischer Strategien bereitet (…)“ (Haipeter 2009: 249) und eine neue Tarifebene in die Architektur des Tarifsystems eingezogen. Das Tarifsystem wird zu einem Mehrebenensystem aus Flächentarifverträgen und abweichenden Tarifvereinbarungen mit einer Übertragung von Regelungskompetenzen an die Betriebsräte. Die Arbeitgeberverbände unterstützen aktiv die Dezentralisierungsinteressen ihrer Mitglieder sowohl auf der tariflichen Ebene als auch in dezentralen Verhandlungen. Selbst wenn im Ergebnis die stabilisierenden Kräfte im System ausreichen sollten, um einen Systemwechsel zu verhindern, so sind doch die folgenden Entwicklungen zu beobachten, um einen möglichen Wandel des Systems zu erkennen:
das Produktionssystem: Welche Interessen in den Mitarbeiterbeziehungen haben die Betriebe? Wann werden die Branchen, die heute vom vorherrschenden System der industriellen Beziehungen abweichen, z. B. wegen der Schwäche der dort angesiedelten Verbände, dominant werden? Welche institutionellen Veränderungen haben eine stabilisierende oder destabilisierende Wirkung?
Noch fehlt uns ein theoretisches Modell, das organisations- und systemische Veränderungen in einen nachvollziehbaren Zusammenhang bringt. Empirische Ergebnisse liegen inzwischen vor. 4.4 Die internationale Ebene und die Wirtschaftskrise Von Interesse ist, wie die globale ökonomische Entwicklung und die regionale Integration in Europa die nationalen AGV beeinflussen. Im Sinne der Mitgliederlogik ist ein breiteres Spektrum an international orientierten Betrieben zu vertreten, die eher an der Mitgliedschaft in internationalen Verbänden interessiert sein können. Im Sinne der Einflusslogik treten internationale Unternehmen oft direkt und ad hoc als Akteure auf und werden eher Mitglied in internationalen Verbänden. Da der nationale Staat immer weniger Regelungskompetenz hat, kann man die Tendenz vermuten, dass korporatistische Arrangements geschwächt werden. Werden nationale AGV internationaler (Schneider/Grote 2006)? Es ist nicht das Ziel der AGV, neue Regelungsebenen zu etablieren. Deshalb war die Bereitschaft vor allem der AGV der großen Industriebranchen, auf der europäischen Ebene aktiv zu werden, im Gegensatz zu grenzüberschreitenden Branchen (Telekommunikation, Eisenbahn, Post) eher zurückhaltend. Europäische Tarifverträge werden nicht angestrebt. Allerdings wird durch die Politik der Kommission und die Sozialdialoge die Notwendigkeit einer Präsenz in Brüssel größer (Keller 2008). CEEMET, der Dachverband der europäi-
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schen Metallarbeitgeber, hat erst 2006 einen Dialog aufgenommen. Europäische AGV sind häufig nicht autonom handlungsfähig. Zu erwarten ist deshalb nur eine graduelle und ungleichmäßige Entwicklung auf europäischer Ebene, die die nach wie vor dominierenden nationalen Systeme lediglich ergänzt, ohne zu einer weit reichenden Konvergenz zu führen (Keller 2006). Mit der grundsätzlichen Pfadabhängigkeit der Veränderung des deutschen Systems der industriellen Beziehungen wird sich eine europäische Dimension nur langsam und graduell entwickeln (Platzer 2003; Keller 2008). Interessanterweise fand Traxler in einem OECD-Vergleich von 20 Ländern heraus, dass der ökonomische Wandel mit der Globalisierung keine Gefahr für die Fähigkeit der AGV darstellt, Mitglieder zu gewinnen. Institutionelle Faktoren spielen eine größere Rolle, in Deutschland z. B. die Allgemeinverbindlichkeitserklärung, nicht jedoch die Stärke der Gewerkschaften. Insofern bleiben die nationalstaatlichen Regelungen dominant zumindest für die Rekrutierungsfähigkeit von Betrieben in AGV. Traxlers Schlussfolgerung ist, dass übernationale Verbände nur ein sehr begrenztes Aktionsfeld haben und nationale Verbände dadurch kaum an Verhandlungsmacht verlieren (Traxler 2006). Selbst Fachverbände blieben in ihrem Bestand unangetastet, wenn auch Veränderungen ihrer Aktivitäten notwendig werden (Lehmkuhl 2006). Der Nationalstaat wird nicht durch einen europäischen Supernationalstaat verdrängt werden und deshalb werden nationale Verbände – zumal im sozialen Bereich – bestehen bleiben. Im Gegensatz zum einst dominanten korporativen Muster ist jedoch die Mitgliederlogik, also die Notwendigkeit, Verbandspolitik nahe an den angenommenen Interessen der Mitglieder zu machen, stark in den Vordergrund gerückt (Streeck/Visser 2006: 245 ff.). Obwohl die aktuelle Krise international ist, wird sie in der Folge eher zu einer verstärkten nationalen Orientierung führen, auch korporatistische Tendenzen werden eher wieder stärker werden. Viele der in den letzten Jahren abgeschlossenen Verträge ermöglichen Anpassungen der betrieblichen Leistungen im Einvernehmen mit den Betriebsräten. Es ist zu erwarten, dass diese nun verstärkt genutzt werden. Das gemeinsame Interesse, qualifizierte Mitarbeiter über die Krise hinweg zu halten, wird kreative Lösungen hervorbringen im Rahmen dieser Tarifverträge und vermutlich auch darüber hinaus. Keller (2008: 63 ff.) weist auf die regulierende Rolle des Staates hin, der insbesondere in Krisenzeiten zu Veränderungen beiträgt und den Unterschied der nationalen Systeme beeinflusst, also den institutionellen Rahmen, der offensichtlich große Bedeutung hat. Die BDA fürchtet augenscheinlich, dass das verstärkte staatliche Engagement in der Krise zu einer Veränderung der Tarifordnung führt. „Die Tarifautonomie ist eine tragende Säule der Sozialen Marktwirtschaft. Sie hat entscheidend zum sozialen Frieden und Wohlstand beigetragen. Die Tarifabschlüsse der letzten Jahre haben eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft ermöglicht. Jede Form staatlicher Lohnfestsetzung entwertet die Tarifautonomie“ (BDA 2009: 24). Auch der AGV Gesamtmetall betrachtet die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und die Novelle des Mindestarbeitsbedingungengesetzes kritisch. Gerade in der Krise hätten die Tarifparteien ihren Handlungswillen und ihre Gestaltungskraft unter Beweis gestellt; ebenso habe sich der Flächentarifvertrag als Standortvorteil erwiesen. Er helfe auch in stürmischen Zeiten, Betriebe und Beschäftigung zu sichern. Es sei deshalb geradezu paradox, dass die Bundesregierung ausgerechnet jetzt die Axt an die Tarifautonomie lege – und damit an die Wurzeln der Wirtschaftsverfassung, aus der die Metall- und Elektroindustrie über sechs Jahrzehnte ihre Kraft und Stärke gezogen habe (Gesamtmetall 2009b).
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
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IV.1 Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik
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IV.1 Arbeitgeberverbände in der Tarifpolitik
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Die Rolle der Arbeitgeber in der Sozialpolitik Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Thomas Paster
1
Einleitung
Unternehmen sind von Sozialpolitik oft direkt betroffen, am deutlichsten wohl durch deren Auswirkungen auf die Lohnkosten. Es liegt daher nahe, dass sich Unternehmen zu Verbänden zusammenschließen, um ihre sozialpolitischen Zielvorstellungen zu artikulieren und politische Entscheidungsfindungsprozesse zu beeinflussen. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts organisierten sich Unternehmen, vorwiegend aus der Industrie, in Deutschland in Verbänden, um ihre Interessen im Bereich der Sozialpolitik zu vertreten. Diese Rolle wird in Deutschland in erster Linie von den Arbeitgeberverbänden erfüllt. Ziel dieses Beitrags ist es, einen Überblick über die Rolle der Arbeitgeberverbände in der Sozialpolitik in Deutschland zu geben. Nach einer kurzen Darstellung der Organisationsstrukturen und Funktionen der Arbeitgeberverbände in Deutschland in den Abschnitten 2 und 3 beschäftigt sich der Beitrag mit theoretischen Debatten zur Rolle der Arbeitgeber in der Sozialpolitik (Abschnitte 4 und 5) sowie anschließend mit der Rolle der Arbeitgeber bei der Entwicklung des deutschen Sozialstaats von den 1880er Jahren bis heute (Abschnitt 6). 2
Die Rolle und die Funktionen der Arbeitgeberverbände in der Sozialpolitik
Arbeitgeberverbände sind nicht die einzigen Interessensorganisationen der Wirtschaft. Die Vertretung von Wirtschaftsinteressen erfolgt in Deutschland durch nach Politikbereichen funktional getrennte Interessensorganisationen. Im Wesentlichen bestehen dabei neben den Arbeitgeberverbänden zwei weitere Organisationstypen. Im Bereich der Wirtschaftspolitik vertreten die sogenannten Industrieverbände die Interessen der Unternehmen, die im BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) als ihrem Spitzenverband zusammengeschlossen sind. Die Industrieverbände kümmern sich um produktmarktbezogene Interessen wie beispielsweise die Festlegung von Produktstandards oder Fragen der Außenhandelspolitik. Die Industrie- und Handelskammern, die im DIHK (Deutscher Industrie- und Handelskammertag) als ihrem Spitzenverband zusammengeschlossen sind, vertreten die Interessen ihrer Mitglieder auf regionaler Ebene, beispielsweise im Bereich der Berufsausbildung (Grote/ Lang/Traxler 2007: 160í162). Die Arbeitgeberverbände vertreten die arbeitsmarktspezifischen Interessen der Unternehmen, d. h. jene Interessen, die sich auf ihr Verhältnis zu ihren Arbeitnehmern beziehen. Dazu gehören insbesondere die Tarifpolitik, also das Aushandeln von Löhnen und Arbeitsbedingungen mit den Gewerkschaften, sowie die Vertretung von Arbeitgeberinteressen im Bereich der Sozialpolitik gegenüber den zuständigen politischen Akteuren (Parteien, Regierungen, Parlamente) und der Öffentlichkeit. Die Arbeitgeberverbände stellen ein komplexes und hierarchisch organisiertes System dar, wobei laut Angaben des Spitzenverbandes der Arbeitgeber, der BDA, in Deutschland insgesamt über 6.500 Arbeitgeberverbände existieren
IV.2 Die Rolle der Arbeitgeber in der Sozialpolitik
343
(BDA 2009: 8). Diese Verbände sind sowohl auf Branchenebene (Fachverbände) als auch regional-branchenübergreifend (Landesvereinigungen) zusammengeschlossen. Die Bundesfachspitzenverbände (58) und branchenübergreifenden Landesvereinigungen (14) sind wiederum in einem bundesweiten Spitzenverband, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), zusammengeschlossen. Die BDA ist daher ein „Verband der Verbände“, ihre Mitglieder sind nicht einzelne Firmen, sondern untergeordnete Verbände. Die Mitgliedsverbände der BDA repräsentieren laut deren Eigenangaben insgesamt etwa eine Million Betriebe, in denen in etwa 20 Millionen Beschäftigte arbeiten (BDA 2009: 8). Eine funktionale Aufgabenteilung charakterisiert die Arbeit der verschiedenen Typen von Arbeitgeberverbänden. Die branchenübergreifenden Landesverbände vertreten die Arbeitgeberinteressen gegenüber den politischen Akteuren (Regierung, Parlament etc.) auf der Landesebene, während die BDA als Spitzenverband die Arbeitgeberinteressen gegenüber den politischen Akteuren auf der Bundesebene vertritt. Dabei beschäftigt sich der Spitzenverband insbesondere mit den Bereichen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, des Arbeitsrechts sowie mit Fragen der Berufsausbildung. Durch gute Kontakte zur zuständigen Ministerialbürokratie versucht die BDA meist bereits im Vorfeld des Gesetzgebungsprozesses Einfluss auf sozialpolitische Gesetzesinitiativen zu nehmen. Darüber hinaus koordiniert die BDA die Tarifpolitik der Branchenverbände sowie die Tätigkeit der Arbeitgebervertreter in den Gremien der sozialen Selbstverwaltung (siehe Abschnitt 3). Für die einzelnen Themenbereiche bestehen innerhalb der BDA spezifische Ausschüsse und Arbeitskreise, die beispielsweise der Koordinierung in der Tarifpolitik dienen oder der Vermittlung bei Interessenkonflikten zwischen verschiedenen Gruppen von Arbeitgebern. Die Hauptaufgabe der Branchenverbände (Fachverbände) besteht darin, die Arbeitgeberinteressen ihrer Branche gegenüber der jeweiligen Fachgewerkschaft zu vertreten und mit dieser die Tarifverträge auszuhandeln. Außerdem betreiben sie Streikversicherungsfonds für ihre Mitglieder. Ausgelöst durch die sogenannte Riester-Reform von 2001, die darauf abzielte, die freiwillige Altersvorsorge zu fördern, begannen die sektoralen Tarifpartner auch eine stärkere Rolle im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge zu übernehmen. Als modellhaft ist hier die Einführung der Metallrente durch die Tarifpartner der Metallindustrie (Gesamtmetall und IG Metall ) zu nennen. Die Branchenverbände äußern sich im Normalfall nicht eingehend zu sozialpolitischen Fragen, sondern überlassen dies der BDA. Die BDA versucht bei internen Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen von Arbeitgebern zu vermitteln und dadurch eine einheitliche Positionierung der Arbeitgeberseite gegenüber anderen politischen Akteuren sicherzustellen. Dieser hohe Grad an Zentralisierung der Interessenvertretung im Bereich der Sozialpolitik deutet auf ein relativ hohes Maß an Interessenhomogenität in diesem Bereich hin, da bei einer starken Interessenheterogenität beispielsweise zwischen verschiedenen Branchen vermutlich keine einheitliche Positionierung über den Spitzenverband gelingen könnte. Grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Sektoren scheinen jedenfalls im Bereich der Sozialpolitik wesentlich seltener als in vielen anderen Politikfeldern zu sein. 1 1
Häufige sektorale Konflikte sind in Bereichen wie der Umweltpolitik, Raumplanung oder des Außenhandels zu beobachten. Während beispielsweise die Hersteller von Umwelttechnologien strenge Umweltschutzauflagen befürworten, stehen jene Branchen, die diese Produkte anwenden müssen, strengen Regeln skeptisch gegenüber.
344
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Die Existenz eines gemeinsamen Gegners, wie beispielsweise einer reformistischen Regierung oder der Arbeiterbewegung, scheint die Arbeitgeberseite in der Vergangenheit oft zu einem vereinten Vorgehen und zur Zurückstellung eventueller interner Konflikte bewogen zu haben. Jedoch hat die Homogenität des Arbeitgeberlagers seit den 1980er Jahren deutlich nachgelassen und Interessenkonflikte treten heute häufiger zu Tage als früher. Ein Beispiel dafür bietet die Frühverrentungspolitik, die primär von Großunternehmen genutzt wird, jedoch von den Klein- und Mittelunternehmen über höhere Sozialabgaben mitfinanziert werden muss. 3
Arbeitgeber und soziale Selbstverwaltung
Zusätzlich zu ihrer Rolle als Interessenvertretung im Rahmen der Politikformulierung erfüllen Arbeitgebervertreter auch Verwaltungsaufgaben im Rahmen der sogenannten „sozialen Selbstverwaltung“. Diese bezieht sich insbesondere auf die Verwaltung der Sozialversicherungsprogramme, die Arbeitsmarktverwaltung und die Arbeitsgerichte. In diesen Bereichen wirken Vertreter der Arbeitgeber gemeinsam mit Vertretern der Arbeitnehmer und des Staates an Verwaltungsaufgaben mit. Diese Form der Verwaltungsorganisation hat ihre historischen Wurzeln in den Bismarck’schen Sozialreformen. So ist beispielsweise die 1884 beschlossene Unfallversicherung auf der Basis von Berufsgenossenschaften organisiert. Dabei handelt es sich um von den Arbeitgebern selbst, und zwar zunächst ohne die Beteiligung von Arbeitervertretern organisierte Versicherungsgesellschaften. Während die Arbeitgeber zur Zeit Bismarcks eine staatliche Form der Sozialverwaltung bevorzugten (Ayass/Tennstedt/Winter 2003: 125; Breger 1994: 31), wurden sie im Laufe der Zeit zu starken Befürwortern der sozialen Selbstverwaltung und verteidigen diese auch heute noch. Die Gründe dafür sind zum einen organisationspolitischer Natur und hängen zum anderen mit einem grundlegenden Misstrauen der Arbeitgeber gegenüber staatlicher Verwaltung zusammen. Diese wird als bürokratisch, verschwenderisch und ineffizient betrachtet. Die soziale Selbstverwaltung hingegen gilt als geeignetes Mittel, um eine sparsame und kosteneffiziente Mittelverwendung sicherzustellen. So argumentierten Arbeitgebervertreter bereits bei der Einführung einer staatlichen Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik für eine paritätische Selbstverwaltung durch Arbeitgeber und Gewerkschaften an Stelle einer staatlichen Verwaltung, und zwar aus Gründen der Kosteneffizienz und der Kontrolle zur Vermeidung von Leistungsmissbrauch (Führer 1990: 271í274). Heute stellt die soziale Selbstverwaltung für Arbeitgeber und Gewerkschaften in erster Linie eine organisationspolitische Ressource dar. Der finanzielle Entscheidungsspielraum der Akteure in der sozialen Selbstverwaltung ist in der Realität gering, da sie an die gesetzlich definierten Aufgaben gebunden sind (Ebbinghaus 2002: 30). Dennoch stellt diese Verwaltungsform für Arbeitgeber und Gewerkschaften nach wie vor eine relevante Quelle organisationspolitischer Legitimität dar und wird von beiden Seiten verteidigt. Die Regierung schränkte den Entscheidungsspielraum der Selbstverwaltung seit Anfang der 2000er Jahre sukzessive ein und strich ihn zum Teil ganz (Schroeder 2006: 263í264; Trampusch 2006: 348). Die BDA lehnte wie die Gewerkschaften diese Reformen ab. Sie fordert eine Stärkung des Gestaltungsspielraums in der Selbstverwaltung und ein Zurückdrängen des Staatseinflusses (BDA 2008).
IV.2 Die Rolle der Arbeitgeber in der Sozialpolitik 4
345
Theoretische Debatten
In der vergleichenden politischen Ökonomie und der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung fand seit den 1990er Jahren eine stärkere Hinwendung zur Rolle der Arbeitgeber statt. Während traditionell in diesen Forschungsbereichen die Rolle der Arbeiterbewegung und die der mit ihr verbundenen politischen Parteien (Sozialdemokratie, Christdemokratie) als Erklärungsfaktoren für unterschiedliche Ausformungen von Sozialpolitik im Mittelpunkt standen (siehe beispielsweise Huber/Stephens 2001; Hicks 1999; Esping-Andersen 1985; Korpi 1983; Shalev 1983), ist nun ein neuer Fokus auf die sozialpolitischen Interessen und Strategien von Arbeitgebern zu beobachten. Im Zusammenhang mit der Erforschung unterschiedlicher „Spielarten des Kapitalismus“ (Kitschelt et al. 1999; Soskice 1999; Hall/Soskice 2001; Höpner 2009) gelangen die Interaktionen zwischen dem Wirtschaftssystem und der Sozialpolitik in den Blickpunkt des Forschungsinteresses. Verschiedene Studien untersuchten die positiven und negativen Auswirkungen von unterschiedlichen Formen von Sozialpolitik auf die Wettbewerbsfähigkeit und Profitabilität von Unternehmensstrategien (Lindbeck et al. 1995; Lindbeck 1997; Korpi 1996; Atkinson 1999), wobei ein Teil dieser Studien im Gegensatz zu verbreiteten Annahmen positive wirtschaftliche Effekte bestimmter Formen von Sozialpolitik herausstrich. Betont wurden beispielsweise die Förderung von Humankapitalinvestitionen durch sozialpolitische Programme (Estévez-Abe/Iversen/Soskice 2001; Iversen 2005) sowie deren konsumstabilisierende Funktion (Barr 2001). Inspiriert von diesen Ergebnissen entwickelte sich ein eigener Forschungsstrang, der die Wahrnehmung eigener sozialpolitischer Interessen durch die Arbeitgeber zum Gegenstand hat (siehe Thelen 2002 für einen Überblick). Wie sehen die Arbeitgeber diese sozialpolitischen Interessen? Lehnen sie Sozialpolitik generell ab oder unterstützen sie bestimmte Formen von Sozialpolitik als einen positiven Beitrag zur Profitabilität und Wettbewerbsfähigkeit unternehmerischer Tätigkeit? Haben die Arbeitgeber möglicherweise die Errichtung sozialpolitischer Institutionen selbst vorangetrieben, weil sie davon wirtschaftliche Effizienzeffekte erwarteten? Welche Unterschiede gibt es in dieser Hinsicht zwischen verschiedenen Gruppen von Arbeitgebern, beispielsweise zwischen großen und kleinen Firmen? Die vielfältigen Auswirkungen von sozialstaatlichen Institutionen auf Unternehmen legen es nahe, dass Arbeitgeberorganisationen versuchen, die politische Ausgestaltung dieser Institutionen zu beeinflussen. Arbeitgeberverbände verfügen zudem über politische Machtressourcen, die es ihnen ermöglichen, Einfluss auf sozialpolitische Entscheidungen auszuüben. Diese Machtressourcen sind sowohl instrumenteller als auch struktureller Natur. Zum einen verfügen Arbeitgeberverbände über beträchtliche finanzielle und personelle Ressourcen, mit deren Hilfe sie Einfluss auf politische Entscheidungsträger nehmen können. Im Mittelpunkt steht dabei meist die jeweilige Ministerialbürokratie, im geringeren Ausmaß auch politische Parteien und Parlamente. Zum anderen verfügen Arbeitgeber über ein strukturelles Einflusspotential, da die Realisierbarkeit wirtschaftspolitischer Zielvorstellungen in erheblichem Maße von einzelunternehmerischen Entscheidungen abhängt: Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und die Höhe von Steuereinnahmen hängen wesentlich von der Investitionstätigkeit von Unternehmen ab. Durch die Internationalisierung der Produktionsprozesse haben sich zudem die Möglichkeiten der Verlagerung der Produktion in andere Länder verbessert. Diese exit
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
power verleiht Arbeitgebern ein politisches Einflusspotential, da politische Entscheidungsträger die erwarteten Auswirkungen politischer Maßnahmen auf unternehmerisches Handeln mit berücksichtigen. Arbeitgeberverbände können daher beträchtlichen Einfluss ausüben und versuchen auch aktiv, sozialpolitische Entscheidungen zu beeinflussen. Doch in welche Richtung geht dieser Einfluss? Behinderten Arbeitgeber den Ausbau sozialstaatlicher Institutionen oder förderten sie ihn? Aus welchen Gründen unterstützen Arbeitgeber Sozialpolitik oder lehnen sie sie ab? Der folgende Teil dieses Beitrags gibt einen kurzen Überblick über die mit diesen Fragen verbundene theoretische Debatte und illustriert diese am Beispiel der historischen Entwicklung des deutschen Sozialstaats. Der nächste Abschnitt skizziert kurz die unterschiedlichen Standpunkte in der bestehenden wissenschaftlichen Literatur, bevor die Rolle der Arbeitgeber anhand zentraler sozialpolitischer Reformen in Deutschland analysiert wird. Der Beitrag vertritt dabei die These, dass Arbeitgeber wichtige sozialpolitische Reformen aus politisch-strategischen Gründen unterstützten, obwohl sie kein genuines Interesse an Sozialpolitik an sich haben. 5
Forschungsstand
Die Frage nach der Rolle der Arbeitgeber in der historischen Entwicklung des Sozialstaats, nach ihren Interessen und Strategien, wird in der bestehenden empirischen Forschung unterschiedlich beantwortet. Stark vereinfacht gesprochen können zwei Thesen unterschieden werden: die Eigeninteressensthese und die Anpassungsthese. Die erste These stützt sich auf angenommene wirtschaftliche Effekte sozialpolitischer Institutionen, die zweite auf politische Rahmenbedingungen. Vertreter der Eigeninteressensthese argumentieren, dass wichtige Gruppen von Arbeitgebern meinten, dass sozialpolitische Reformen in ihrem eigenen wirtschaftlichen Interesse lägen, und diese daher befürworteten oder sogar eine treibende Kraft hinter diesen Reformen waren (Swenson 2002; Mares 2003; Gordon 1991). Vertreter der Anpassungsthese gehen davon aus, dass Arbeitgeber der Sozialpolitik grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden und diese nur angesichts einer hegemonialen Arbeiterbewegung oder anderer politischer Zwänge akzeptierten (Huber/Stephens 2001; Hacker/Pierson 2002; Korpi 2006; Paster 2009). Demzufolge unterstützten Arbeitgeber bestimmte sozialpolitische Reformen primär aus politisch-strategischen Gründen, um nicht zu unbeteiligten Dritten im Kontext von Reformbestrebungen zu werden, die nicht zu verhindern waren. Diese Kontroverse um die Motivationsgründe von Arbeitgebern hat weitreichende Implikationen im Hinblick auf kausale Erklärungsansätze zur Sozialstaatsentwicklung. Stellt sich die Eigeninteressensthese als historisch richtig heraus, so stellt dies die zentrale Rolle der Arbeiterbewegung und der mit ihr assoziierten Parteien als Antriebskräfte der Sozialstaatsentwicklung in Frage. Der moderne Sozialstaat erscheint dann als ein Produkt von Arbeitgeberinteressen oder politischer Allianzen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern anstatt als ein Ergebnis politischer Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Die Anpassungsthese hingegen ist komplementär zum traditionellen Machtressourcenansatz und betont den Einfluss sich verändernder historischer politischer Rahmenbedingungen auf die Interessenswahrnehmung von Arbeitgebern. Die beiden Thesen unterscheiden sich in den zu Grunde gelegten Interessenskonflikten: Klassenkonflikte vs. Konflikte zwischen Wirtschaftssektoren. Die Eigeninteressensthese misst sektoralen Konflikten eine zentrale Bedeutung zu und betrachtet Klassenkonflikte
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als sekundär. Die Anpassungsthese misst hingegen den Klassenkonflikten eine zentrale Bedeutung zu und betrachtet sektorale Konflikte als sekundär. Gemäß der Eigeninteressensthese haben Arbeitgeber in unterschiedlichen Wirtschaftssektoren oder Branchen unterschiedliche sozialpolitische Interessen. Sie gehen daher klassenübergreifende Bündnisse mit Arbeitnehmern in ihrem Sektor ein, um gemeinsam sektoral spezifische sozialpolitische Interessen zu vertreten. 5.1 Die Eigeninteressensthese Die von den Proponenten der Eigeninteressensthese entwickelten spezifischen Modelle und Hypothesen zu Arbeitgeberpräferenzen sind vielfältig. Es werden jedoch im Wesentlichen zwei Dimensionen als entscheidend für die Erklärung von Arbeitgeberpräferenzen in der Sozialpolitik identifiziert: (a) die Abhängigkeit der Unternehmen von Humankapitalinvestitionen und (b) die Umverteilung der Kosten bestimmter sozialer Risiken über verschiedene Sektoren oder Branchen. Diese beiden Dimensionen erklären gemäß der Eigeninteressensthese im Wesentlichen die sozialpolitischen Präferenzen unterschiedlicher Gruppen von Arbeitgebern. Sie spalten die Arbeitgeber in jeweils zwei unterschiedliche Lager: Befürworter und Gegner von Sozialpolitik. Die Bedeutung von Humankapitalinvestitionen wird von theoretischen Modellen aus dem „Spielarten-des-Kapitalismus-Ansatz“ abgeleitet, die eine institutionelle Komplementarität zwischen der Sozialpolitik und dem Ausbildungssystem konstatieren. Torben Iversen beispielsweise argumentiert, dass Sozialversicherungsprogramme Investitionen in firmenund branchenspezifische Qualifikationen schützen, indem sie ausgebildete Arbeiter während Zeiten ohne Erwerbstätigkeit finanziell absichern und dadurch verhindern, dass diese eine niedriger qualifizierte Arbeit annehmen müssen. Dadurch bleiben die Humankapitalinvestitionen auch in Zeiten ohne Erwerbstätigkeit erhalten (Iversen 2005: 12-15; EstévezAbe/Iversen/Soskice 2001). Dieses Argument wird von einigen Autoren als Grundlage verwendet, um ein positives Interesse von Arbeitgebern an Sozialpolitik zu konstatieren. Estévez-Abe, Iversen und Soskice beispielweise argumentieren, dass sich in Ländern, in denen Firmen und Arbeitnehmer vorwiegend in spezifische Qualifikationen investiert haben, sektorale Allianzen zwischen qualifizierten Arbeitnehmern und ihren Arbeitgebern herausbilden, um sozialpolitische Programme zu verteidigen (Estévez-Abe/Iversen/Soskice 2001: 147). In Ländern, in denen solche Qualifikationen von geringerer Bedeutung sind, wird das Interesse an sozialer Absicherung sowohl unter Arbeitnehmern als auch unter Arbeitgebern weniger ausgeprägt sein. Sozialpolitische Präferenzen werden hier nicht in Abhängigkeit von der Klassenlage, sondern in Abhängigkeit von der Art der Humankapitalinvestitionen erklärt. Gemäß dieser These können bestimmte Gruppen von Arbeitgebern unter bestimmten Bedingungen ein genuines Eigeninteresse an Sozialpolitik haben. Isabela Mares, eine der wichtigsten Proponenten der Eigeninteressensthese, wendet diese Hypothese unter anderem auf die Einführung einer staatlichen Arbeitslosenversicherung in Frankreich und Deutschland in der Zwischenkriegszeit an (Mares 1996, 2003: 106í165). Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass ein Wandel in der Wirtschaftsstruktur weg von der traditionellen Schwerindustrie und hin zu stärker humankapitalbasierten Sektoren (Maschinenbau, Elektrotechnik etc.) einen Wandel der genuinen sozialpolitischen
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Interessen unter den Arbeitgebern bewirkte (Mares 1996: 30). Dieser Präferenzwandel erleichterte laut Mares die Einführung einer staatlichen Arbeitslosenversicherung entscheidend (Mares 1996: 5). Zusätzlich zur Absicherung von Humankapitalinvestitionen wird von Proponenten der Eigeninteressensthese ein zweiter Aspekt ins Treffen geführt: die Umverteilung von Kosten sozialer Risiken zwischen verschiedenen Sektoren. In Wirtschaftssektoren, in denen ein bestimmtes soziales Risiko weit verbreitet ist, werden sowohl die Arbeitnehmer als auch die Arbeitgeber für eine staatliche Absicherung mit einheitlichen Beitragssätzen für alle Sektoren eintreten, um dadurch Kosten auf die Gesamtwirtschaft abzuwälzen. Sektoren, in denen das soziale Risiko gering ist, werden solche staatlichen Absicherungsprogramme ablehnen, da sie eine Quersubventionierung zu den Hochrisikosektoren vermeiden wollen. Isabela Mares erklärt beispielsweise die Einführung der staatlichen Unfallversicherung in Deutschland und Frankreich als das Ergebnis eines Konflikts zwischen Sektoren mit einem hohen Risiko von Arbeitsunfällen (Schwerindustrie, Eisenbahn) und Sektoren mit einem niedrigeren Risiko (Landwirtschaft) (Mares 2003: 65í85). Ähnlich argumentiert Colin Gordon in seiner Analyse der New-Deal-Reformen in den USA (1933í37). In den 1920er Jahren hatten einige amerikanische Großunternehmen betriebliche Sozialprogramme aufgebaut, um die Loyalität und Motivation ihrer Mitarbeiter zu stärken. Die damit verbundenen zunehmenden Divergenzen in den Lohnkosten wurden jedoch von diesen Firmen später zunehmend als Nachteil im Wettbewerb mit Firmen ohne Sozialleistungen, und daher mit niedrigeren Lohnkosten, wahrgenommen. Dazu kam ein stark fragmentiertes System von Sozialpolitik auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten, was zu großen Differenzen zwischen den Lohnkosten in den einzelnen Staaten beitrug. Gordon argumentiert, dass als Folge dieser Situation einige Industrielle, die sehr hohe Lohnkosten hatten, für eine Vereinheitlichung der Sozialpolitik auf nationaler Ebene eintraten, um gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Firmen herzustellen. Die sozialpolitischen Reformen der NewDeal-Ära waren Gordon zufolge in erster Linie ein Resultat von Wirtschaftsinteressen (Gordon 1994: 4, 1991: 184í192; siehe auch Swenson 1997, 2002). Kurz gesagt, interpretieren Vertreter der Eigeninteressensthese die Entwicklung des modernen Sozialstaats als das Ergebnis von Konflikten zwischen unterschiedlichen Sektoren der Wirtschaft, wobei Teile der Arbeitgeber oft eine politische Allianz mit Teilen der Arbeitnehmer bildeten, um gemeinsam für die bevorzugten sozialpolitischen Lösungen zu kämpfen. Ein genuines Interesse an der Absicherung von Humankapitalinvestitionen und der Umverteilung von sozialen Risiken führte dazu, dass Teile der Arbeitgeberschaft die Schaffung sozialstaatlicher Institutionen aktiv förderten. 5.2 Die Anpassungsthese Die Hypothesen und Argumente der Eigeninteressensthese werden von Proponenten der sogenannten Anpassungsthese in Frage gestellt. Gemäß der letzteren These standen Arbeitgeber im Allgemeinen sozialpolitischen Reformen skeptisch gegenüber. Wo sie diese Reformen, oder bestimmte Aspekte davon, unterstützten, taten sie dies aus politischstrategischen Gründen. Sie betrachteten bestimmte sozialpolitische Optionen als das kleinere Übel. Arbeitgeber unterstützten manche Reformen nur im Kontext starker reformisti-
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scher Kräfte oder im Kontext revolutionärer Gefahren. In diesen Fällen erachteten sie sozialpolitische Reformen oft als politisch-strategisch sinnvoll, auch wenn sie kein wirtschaftliches Eigeninteresse an den jeweiligen Programmen und Institutionen hatten. Interessenkonflikten zwischen verschiedenen Gruppen vor Arbeitgebern wird von dieser These lediglich eine untergeordnete Rolle eingeräumt. Klassenkonflikte werden stattdessen als die dominante Konfliktlinie betrachtet. Politische Machtverschiebungen zum Nachteil der Arbeitgeber und Beschränkungen des politischen Handlungsspielraums führten dazu, dass die Arbeitgeber ihre sozialpolitischen Positionen anpassten, auch wenn die zu Grunde liegende Interpretation ihrer Eigeninteressen unverändert blieb. Huber und Stephens beispielsweise betonen, dass eine einseitige Betrachtung von Akteurspositionen und Präferenzen oft dazu führt, dass der institutionelle Kontext und die politischen Machtverhältnisse, innerhalb derer diese Positionen und Präferenzen geformt werden, ausgeblendet werden (Huber/Stephens 2001: 33; siehe auch Thelen 2002: 397). Hacker und Pierson kommen in einer Studie zur Rolle der Arbeitgeber in den New-Deal-Reformen zu dem Schluss, dass diese Reformen erst durch eine Schwächung von Arbeitgeberinteressen möglich wurden. Die institutionelle Verlagerung des politischen Entscheidungszentrums von der Länderebene auf die Bundesebene im Zuge der Weltwirtschaftskrise reduzierte die Gefahr der Kapitalflucht zwischen Staaten mit unterschiedlich hohen Sozialabgaben und nahm damit den Arbeitgebern ihr wichtigstes Drohpotential aus der Hand (Hacker/Pierson 2002: 313í315). Politisch geschwächt, entschlossen sich einige Industrielle mit den Reformern zu kooperieren, um so wichtige Details der geplanten Programme beeinflussen zu können (Hacker/Pierson 2002: 298). In ähnlicher Weise kommt Korpi zu dem Schluss, dass Arbeitgeber sozialpolitische Reformen in der Regel entweder abgelehnt oder passiv akzeptiert und nur sehr selten aktiv befürwortet hätten (Korpi 2006). 5.3 Präferenzwandelsthese Zusätzlich zu diesen beiden Grundthesen ist in der Literatur eine dritte Position festzustellen, die als eine Kombination der beiden oben besprochenen Thesen verstanden werden kann und hier als Präferenzwandelsthese bezeichnet wird. Gemäß dieser These lehnten die Arbeitgeber zwar ursprünglich die Schaffung sozialstaatlicher Institutionen ab, passten jedoch im Laufe der Zeit ihre Produktionsstrategien an die bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen an. Dadurch entwickelten sie im Laufe der Zeit ein genuines Eigeninteresse am Fortbestand dieser Institutionen, die sie heute verteidigen. So argumentiert beispielsweise Kathleen Thelen, dass deutsche Arbeitgeber heute den Beitrag von Tarifverträgen zur Sicherung des industriellen Friedens erkennen und daher von Angriffen auf das Tarifvertragssystem absehen (Thelen 2001; siehe auch Hassel 2007; Wood 2001). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die hier besprochenen Thesen sehr unterschiedliche Aussagen im Hinblick auf die Rolle der Arbeitgeber in der Sozialpolitik treffen. Sie gehen von unterschiedlichen Interessenslagen von Arbeitgebern aus. Während die Eigeninteressensthese die sozialpolitischen Präferenzen von Arbeitgebern in wirtschaftlichen Notwendigkeiten erkennt, geht die Anpassungsthese davon aus, dass sozialpolitische Präferenzen von politischen Rahmenbedingungen beeinflusst werden. Welche Sichtweise die zutreffendere ist, lässt sich letztlich nicht ohne detaillierte historische, jedoch theoriegeleitete Analysen beantworten.
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln Arbeitgeber und die Entwicklung des deutschen Sozialstaats
Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über die Rolle der Arbeitgeber bei der Entwicklung des deutschen Sozialstaats anhand einiger zentraler Reformprojekte. Dabei wird der Standpunkt vertreten, dass die Anpassungsthese die Positionen der Arbeitgeberverbände besser erklärt als die Eigeninteressensthese. Die allgemeine Grundhaltung der Arbeitgeber zur Sozialpolitik veränderte sich im Laufe der Zeit in Abhängigkeit von sich wandelnden politischen Herausforderungen. Es lassen sich vereinfachend gesprochen zwei Interessendimensionen von Arbeitgebern im Bereich der Sozialpolitik erkennen: die Arbeitskostendimension und die Pazifizierungsdimension. Diese beiden Dimensionen stehen tendenziell in Konflikt zueinander. Die Frage der Humankapitalbildung, die von der Eigeninteressensthese betont wird, hatte jedoch aus Sicht der deutschen Arbeitgeber historisch eine geringe Bedeutung für deren Beurteilung des Nutzens sozialpolitischer Reformen. 2 Zum einen werden also sozialpolitische Optionen von den Arbeitgebern danach beurteilt, wie sie sich auf die Arbeitskosten auswirken. Restriktiv definierte Leistungsansprüche werden daher von den Arbeitgebern großzügigeren Regelungen vorgezogen. Zum anderen scheinen sich Arbeitgeber jedoch auch der politischen Notwendigkeit der Sicherung von sozialer Stabilität und des sozialen Friedens bewusst zu sein und sehen daher von Forderungen nach einem radikalen Sozialabbau ab. Die Standpunkte, die Arbeitgeber historisch bei der Entwicklung des deutschen Sozialstaats vertraten, waren daher oft strategisch gedachte Kompromisse zwischen den wirtschaftlichen Eigeninteressen ihrer Firmen (z. B. Lohnkosten) und den Grenzen des politisch Realisierbaren. Dieser Abschnitt zeigt, dass Arbeitgeber oft aus strategischen Gründen bestimmte Reformoptionen unterstützten, um dadurch andere Entwicklungen abzuwehren. Mit anderen Worten: Arbeitgeber befürworteten sozialpolitische Reformen oft als das kleinere Übel (Paster 2009). Konkret verfolgten die Arbeitgeber dabei oft zwei Strategien: (i) die Pazifizierungsstrategie und (ii) die Eindämmungsstrategie. Die Pazifizierungsstrategie bestand darin, politisch militante oder revolutionäre Elemente innerhalb der Arbeiterschaft durch sozialpolitische Leistungen zu schwächen bzw. sich die Zusammenarbeit mit gemäßigten Kräften innerhalb der Arbeiterbewegung zu sichern. Sozialpolitik diente hier als das kleinere Übel im Vergleich zu sozialer Revolution und Enteignung. Die Eindämmungsstrategie zielte darauf, den Ausbau des deutschen Sozialstaats durch eine gezielte Unterstützung moderater Reformoptionen zu begrenzen. In unterschiedlichen historischen Perioden verfolgten die Arbeitgeber dabei unterschiedliche Zielsetzungen. Im Kaiserreich (1871í1918) und während der Novemberrevolution (1918) stand die Pazifizierung der Arbeiterschaft im Vordergrund. Später, insbesondere in der Phase des Ausbaus des deutschen Sozialstaats in den Nachkriegsjahrzehnten, überwog die Eindämmungsstrategie. Das ursprüngliche Interesse an einer Pazifizierung der Arbeiterschaft schwand mit der Transformation der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Programmatik hin zu reformistischen Zielen, wie sie in den Bad Godesberger (SPD, 1959) und Düsseldorfer Programmen (DGB, 1963) zum Ausdruck kam (Höpner 2005; Alber 1989: 62 ff.). Mit diesen Programmen gaben beide Akteure de facto ihre Forderungen nach Sozialisierungen und zentraler Wirtschaftsplanung auf und erkannten die soziale Marktwirtschaft als das Wirtschaftssystem der BRD an. Die Pazifizierung der Arbeiterbewegung verlor mit 2
Dieser Abschnitt stützt sich insbesondere auf die Dissertation des Autors zum selben Thema (Paster 2009).
IV.2 Die Rolle der Arbeitgeber in der Sozialpolitik
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deren politischer Mäßigung an Bedeutung für die Arbeitgeber. Das galt auch für die Notwendigkeit, als revolutionär oder systemgefährlich erachtete Kräfte durch Sozialpolitik zu befrieden. An die Stelle der Pazifizierungsstrategie trat nun die Eindämmungsstrategie, die darauf zielte, die mit sozialpolitischen Reformen verbundenen Kostensteigerungen zu begrenzen, ohne das Prinzip des sozialen Kompromisses grundsätzlich aufzugeben. Seit den 1990er Jahren ist eine deutliche Verschärfung von Arbeitgeberforderungen nach Kostenbegrenzungen im Bereich der Sozialpolitik zu beobachten. 6.1 Ursprünge des deutschen Sozialstaats: Bismarcks Sozialreformen Die Ursprünge des deutschen Sozialstaats liegen in den Bismarck’schen Sozialreformen. Ziel Bismarcks war die Zerstörung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die von ihm als staatsfeindlich eingestuft wurde. Die Einführung staatlicher Sozialversicherungsprogramme war Teil einer umfassenderen Strategie zur Repression der Organisationen der Arbeiterbewegung. Die sogenannten Sozialistengesetze verboten jede politische Tätigkeit durch sozialdemokratische Organisationen. Die Bismarck’schen Sozialreformen wurden von der Industrie generell unterstützt, da sie die pazifizierenden Ziele der Regierung teilte. Die Reformen sollten den Sozialdemokraten den Wind aus den Segeln nehmen und der Verteidigung des traditionellen „Herr-im-eigenen-Haus-Standpunkts“ der Großindustriellen dienen. Wie Monika Breger betont, war das Interesse der Industriellen an den Sozialreformen genuin in dem Sinne, dass sie von der Notwendigkeit der Bekämpfung der Sozialdemokraten durch Sozialreformen überzeugt waren (Breger 1982: 15í16, 1994; siehe auch Büren 1934). Unterstützung für Bismarcks Sozialreformen kam insbesondere von der Schwerindustrie sowie von der Textilindustrie. Die Schwerindustrie stand Gewerkschaften besonders feindselig gegenüber und sah ihre autoritäre Form der Unternehmensführung durch das Erstarken der Arbeiterbewegung gefährdet. Nicht zufällig war die Schwerindustrie auch jener Sektor, der sich am stärksten und am längsten gegen Verhandlungen mit den Gewerkschaften stemmte (Ullmann 1977: 225í228). Zustimmung zu den Sozialreformen kam insbesondere aus jenen Sektoren, die eine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften ablehnten. Nicht alle Gruppen von Arbeitgebern unterstützten die Reformpläne. Die Gegner unter den Arbeitgebern scheinen jedoch fragmentiert und politisch schlecht organisiert gewesen zu sein (Ullmann 1979). Gemäß einer Umfrage unter regionalen Handelskammern bewerteten beispielsweise nur 53 Prozent der befragten Kammern die Einführung einer staatlichen Unfallversicherung als positiv (Francke 1881: 397í398). Die Schwerindustrie und die von ihr dominierten Verbände (CDI, Langnamverein, VDESI) stellten jedoch das dominante Sprachrohr der Industrie dar. Sie versuchten, die Gestaltung der geplanten Versicherungsprogramme in vielen Details zu beeinflussen (Bueck 1905). Bereits ab den 1890er Jahren ging das Interesse der Industrie an einer sozialen Pazifizierung durch Sozialpolitik zurück, da man erkannte, dass die bestehenden Programme nicht die gewünschten politischen Wirkungen erzielten. In der Folge wandte sich die Schwerindustrie zunehmend gegen einen weiteren Ausbau der Sozialversicherungsprogramme (Bueck 1905: 791í792; Ullmann 1979: 604). Das Interesse der Schwerindustrie konzentrierte sich insbesondere auf die Thematik der Unfallversicherung. Der Einführung einer staatlichen Renten- und Invalidenversicherung
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stand die Industrie generell skeptischer gegenüber, da eine Schwächung von Arbeitsanreizen befürchtet wurde (Ayass/Tennstedt/Winter 2003: 97). Das starke Interesse der Schwerindustrie an der Unfallversicherung rührte vom konfliktträchtigen Charakter von Arbeitsunfällen her, die in Branchen wie der Schwerindustrie am häufigsten vorkamen. Die 1871 eingeführte Haftpflichtgesetzgebung verpflichtete Arbeitgeber grundsätzlich zu Entschädigungszahlungen bei Arbeitsunfällen, sofern diese vom Arbeitgeber zu verantworten waren. Streitigkeiten über die Schuldfrage führten häufig zu gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitgebern und ihren Arbeitern, die die traditionelle Autoritätsstellung des Arbeitgebers im Betrieb unterminierten und der gewerkschaftlichen Agitation nützten. Durch die Schaffung einer staatlichen Unfallversicherung hoffte die Schwerindustrie nicht nur Kosten auf weniger unfallträchtige Branchen abzuwälzen, sondern insbesondere auch das mit Arbeitsunfällen verbundene Konfliktpotential zu entschärfen. Mit der Unfallversicherung verloren Arbeitsunfälle den Charakter eines vom Arbeitgeber verschuldeten Vergehens und wurden als ein allgemeines und unvermeidbares Risiko behandelt (Breger 1982: 79í124; Baare 1880). In der Summe diente also die Einführung einer Unfallversicherung der Schwerindustrie dazu Klassenkonflikte einzudämmen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass politisch dominante Gruppen unter den Arbeitgebern die Bismarck’schen Sozialreformen grundsätzlich befürworteten. Besonders ausgeprägt war die Unterstützung in der gewerkschaftsfeindlichen Schwerindustrie. Die grundsätzlichen Motive waren dabei politischer Natur, es galt eine Verschiebung der Machtverhältnisse hin zur Arbeiterbewegung zu verhindern, und nicht so sehr wirtschaftlicher Natur (Förderung von Produktivität oder Humankapitalinvestitionen). Das Ausmaß der Unterstützung variierte jedoch innerhalb der Arbeitgeber und ging im Laufe der Zeit zurück. 6.2 Weimarer Republik: Einführung der Arbeitslosenversicherung Die Einführung einer staatlichen Arbeitslosenversicherung erfolgte in Deutschland erst wesentlich später als die der anderen Sozialversicherungsprogramme (1927). Im Kaiserreich lehnten die Arbeitgeber, wie die meisten politischen Parteien, eine staatliche Arbeitslosenversicherung ab. Auch die Gewerkschaften und Sozialdemokraten standen ihr skeptisch gegenüber und befürworteten Versicherungen, die von den Gewerkschaften auf freiwilliger Basis organisiert wurden (Ghenter System). Erst in der Weimarer Republik entwickelte sich eine politische Mehrheit für eine staatliche Lösung. Ein Meinungswandel fand nicht nur bei den Gewerkschaften und Sozialdemokraten statt, auch die katholische Zentrumspartei und der ihr zugehörige Arbeitsminister Heinrich Brauns traten nun aktiv für die Einführung einer staatlichen Arbeitslosenversicherung ein. Die Arbeitgeber standen einer staatlichen Arbeitslosenversicherung sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik grundsätzlich skeptisch gegenüber, da sie eine Erosion von Arbeitsanreizen und der Arbeitsdisziplin befürchteten (Führer 1990: 82í87). Sobald die Arbeiter vor den finanziellen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit durch eine Versicherung geschützt wären, würde deren Arbeitsbereitschaft erlahmen. Eine Versicherung für Arbeitslose würde Faulheit belohnen (Führer 1990: 123). Diese Bedenken blieben grundsätzlich auch während der Weimarer Republik bestehen, jedoch änderte sich der politische Kontext dahingehend, dass sich der Spitzenverband der Arbeitgeber, die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (VDA), für eine kon-
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struktive Mitarbeit am Entscheidungsfindungsprozess entschied. Von großer Bedeutung dabei waren zwei Faktoren: (a) die Einführung der Arbeitslosenfürsorge im Jahr 1918 und (b) die Veränderung politischer Mehrheitsverhältnisse. Die Einführung der sogenannten Arbeitslosenfürsorge durch die revolutionäre Regierung im Jahr 1918 änderte den sozialpolitischen Status quo, dem gegenüber die Arbeitgeber die Vor- und Nachteile einer Arbeitslosenversicherung abzuwägen hatten. Dabei handelte es sich um ein bedarfsgeprüftes Programm für alle Personen ohne Erwerbstätigkeit, und zwar unabhängig von der bisherigen Beschäftigungsgeschichte der Person (Wermel/Urban 1949). Aus Sicht der Arbeitgeber wurden durch dieses Programm Leistungsansprüche zu großzügig gewährt und es erfolgte keine Kontrolle der tatsächlichen Arbeitsbereitschaft. Aus dem Blickwinkel des Erhalts der Arbeitsbereitschaft und der Arbeitsanreize war dieses Programm daher noch nachteiliger als ein Versicherungsprogramm, in dem Leistungen an Ansprüche geknüpft sind, die durch eine frühere Erwerbstätigkeit erworben wurden. Die Arbeitslosenfürsorge hatte also, mit anderen Worten, einen stärker dekommodifizierenden Charakter als eine Arbeitslosenversicherung. Als zweiter Faktor kam hinzu, dass sich nach dem Regimewechsel von 1918, wie erwähnt, eine politische Mehrheit für die Einführung einer staatlichen Arbeitslosenversicherung herausbildete. Im Kaiserreich lehnten große Teile der Arbeiterbewegung eine staatliche Versicherungsvariante ab, da sie den Absichten des autoritären Staatsapparates misstrauten. Sie befürchteten, dass eine staatliche Versicherung der Schwächung der Organisationen der Arbeiterbewegung dienen sollte (Führer 1990: 52í69). Mit der Demokratisierung des politischen Systems verschwanden diese Befürchtungen nach 1918. Vor dem Hintergrund dieser Sachlage entschlossen sich die Spitzenverbände der industriellen Arbeitgeber (VDA, RDI) nach einigem Zögern, die Einführung einer Arbeitslosenversicherung grundsätzlich zu befürworten und an der Ausarbeitung des Gesetzestextes mitzuarbeiten. Da eine ersatzlose Abschaffung der unbeliebten Arbeitslosenfürsorge politisch nicht realisierbar war, wurde die Einführung einer Arbeitslosenversicherung nun zum kleineren Übel. Nicht alle Gruppen von Arbeitgebern folgten jedoch der neuen Linie. Die neue Position wurde vor allem von der Großindustrie getragen. Die landwirtschaftlichen Arbeitgeber, in deren Bereich die Arbeitslosigkeit vergleichsweise gering war, und die vom Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) vertretenen Klein- und Mittelunternehmen standen der Einführung einer Arbeitslosenversicherung weiterhin ablehnend gegenüber. Während für die Großindustrie die bessere Kontrolle über die Leistungsempfänger im Vordergrund stand, zählten für die Klein- und Mittelunternehmen in erster Linie die zu erwartenden Kosteneffekte (Führer 1990: 213). Dass die Unterstützung der Einführung der Arbeitslosenversicherung im Jahr 1927 durch die Arbeitgeber strategischer Natur war, lässt sich auch daran erkennen, dass die Arbeitgeber zwei Jahre später, als der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise die finanzielle Lage der Arbeitslosenversicherung massiv verschlechterte, für eine Abkehr vom Versicherungsprinzip und für eine Rückkehr zu bedarfsgeprüften Leistungen eintraten (Büren 1934: 211í212). 6.3 Sozialpolitische Reformen der Nachkriegszeit Die Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren gekennzeichnet von der Rekonstituierung und dem Ausbau des Sozialstaats Bismarck’scher Prägung. Die Sozialpo-
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litik in den Jahren unmittelbar nach Kriegsende (ca. 1945í49) war geprägt von einem Grundsatzkonflikt um die institutionellen Gestaltungsprinzipien des neu zu errichtenden Sozialstaats. Sollte man zum Modell eines Bismarck’schen Sozialstaats zurückkehren oder eine universelle Einheitsversicherung einführen? Die Alliierten waren anfänglich bestrebt, das deutsche Sozialversicherungssystem in Richtung eines universalistischen Systems mit einheitlichen Leistungen für alle Berufsgruppen umzubauen, stießen jedoch dabei auf erheblichen Widerstand innerhalb Deutschlands und rückten schließlich von ihren Plänen wieder ab (Hockerts 1980: 79 ff.). Während die Sozialdemokraten und Gewerkschaften den geplanten Umbau zu einer Einheitsversicherung prinzipiell unterstützten, kam Widerstand vor allem von den Interessenorganisationen der Landwirtschaft (die nicht inkludiert werden wollte), des selbständigen Mittelstands und der Angestellten (die eine Schlechterstellung durch eine Einheitsversicherung befürchteten), der Versicherungswirtschaft sowie von den industriellen Arbeitgebern (Hockerts 1980: 41í46). Diese Haltung bringt eine grundsätzliche Präferenz deutscher Arbeitgeber für ein Sozialversicherungssystem Bismarck’scher Orientierung an Stelle universalistischer Formen von Sozialpolitik zum Ausdruck. Die Prinzipien des Bismarck’schen Sozialversicherungssystems bestehen aus nach Berufsgruppen fragmentierten Leistungsansprüchen sowie einkommensbezogenen Leistungen und einer komparatistischen Selbstverwaltung. Demgegenüber hätte eine Einheitsversicherung die Leistungsansprüche unterschiedlicher Gruppen vereinheitlicht sowie bisher nicht versicherte Gruppen in das Sozialversicherungssystem integriert. Es können im Wesentlichen drei Gründe für die ablehnende Haltung der Arbeitgeber gegenüber den Vorschlägen für eine Einheitsversicherung identifiziert werden. Erstens befürchteten die Arbeitgeber eine Aushöhlung der individuellen Eigenverantwortung und damit eine Verringerung von Arbeitsanreizen und der Leistungsbereitschaft durch die Einführung einer „Schicksalsversicherung“, wie sie die Einheitsversicherung nannten (BDA 1953: 6; Erdmann 1966: 236; Schieckel 1947: 124). Zweitens hatten die Arbeitgeberverbände durch ihre Beteiligung an der Verwaltung des bestehenden Systems ein organisatorisches Eigeninteresse an dessen Fortbestand. Die Arbeitgeber unterhielten außerdem eigene Betriebskrankenkassen und Berufsgenossenschaften, die durch das Modell einer zentral organisierten und von staatlichen Stellen verwalteten Einheitsversicherung ihre Existenzberechtigung verloren hätten (Hockerts 1980: 45; Hilbert 1947: 286). Drittens befürchteten die Arbeitgeber eine Verschiebung der politischen Machtverhältnisse hin zu den Gewerkschaften. Der Vorschlag der Alliierten sah eine Zweidrittelmehrheit für die Arbeitnehmerseite in der Verwaltung des neuen Systems statt der bestehenden paritätischen Verteilung vor (Schieckel 1947: 126). Für die Versicherungswirtschaft war außerdem die Verdrängung privater Versicherungsprodukte ein Hauptgrund für die Ablehnung der Einheitsversicherungspläne. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass eine Gemengelage unterschiedlicher Interessenswahrnehmungen die Arbeitgeber zu einer Ablehnung der Reformpläne motivierte. Zentral waren dabei, ähnlich wie bei der Einführung der Arbeitslosenversicherung (siehe 6.2), Befürchtungen bezüglich der Unterminierung von Leistungsbereitschaft und Arbeitsanreizen. Nach dem Scheitern der Einheitsversicherungspläne auf Grund des Fehlens einer politischen Mehrheit dafür und damit dem Beibehalt des Bismarck’schen Sozialversicherungsmodells verschoben sich die Reformbestrebungen hin zu Erhöhungen der Leistungsansprüche. Die bestehenden Leistungsansprüche wurden in vielen Bereichen als unangemessen niedrig erachtet. In der Regel war die Grundtendenz der Arbeitgeberpositionen dabei, die
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Ausweitung von Leistungsansprüchen einzudämmen, um zusätzliche Lohnkostensteigerungen zu verhindern. Dabei war die Arbeitgeberseite jedoch grundsätzlich bestrebt, den Erfordernissen des sozialen Friedens Rechnung zu tragen und ihre Forderungen am politisch Machbaren zu orientieren. Ein zentrales Kernelement des Ausbaus des Sozialstaats nach 1945 stellte die Rentenreform von 1957 dar. Bundeskanzler Adenauer (CDU) erachtete aus wahlpolitischen Gründen eine große sozialpolitische Reform für nötig und beauftragte, nach dem Scheitern regierungsinterner Arbeiten, externe Experten mit der Ausarbeitung eines Plans für eine Rentenreform. Grundlage der Rentenreform wurde ein Konzept des Bundes katholischer Unternehmer, der nach seinem Autor benannte „Schreiber-Plan“ (Schreiber 1955). Basierend auf diesem Plan wurde die sogenannte „Dynamisierung“ der Renten zum Kernstück der geplanten Reform. Aufgrund einer fehlenden Indexierung der Rentenleistungen blieb der Lebensstandard der Rentenbezieher deutlich hinter dem schnell ansteigenden Einkommensniveau der Erwerbsbevölkerung zurück. Die sogenannte „dynamische Rente“ koppelte die Entwicklung der Rentenzahlungen an die Lohnentwicklung und sollte damit sicherstellen, dass auch die Rentnergeneration vom Wirtschaftsaufschwung profitierte. Obwohl der Vorschlag für die Reform aus dem Lager der Wirtschaft kam, stießen die Reformpläne auf erheblichen Widerstand von Seiten der Wirtschaft. Zu unterscheiden ist dabei der Widerstand der Versicherungswirtschaft vom Widerstand der industriellen Arbeitgeberverbände im Allgemeinen. Für die Versicherungswirtschaft stand die Gefahr einer Verdrängung privater Eigenvorsorge im Vordergrund (Hockerts 1980: 378). Für die Arbeitgeberverbände überwogen Befürchtungen bezüglich unkontrollierbarer Lohnkostensteigerungen durch eine automatische Lohnindexierung. Dabei argumentierte die BDA vor allem damit, dass durch eine automatische Lohnindexierung der Renten die lohnpolitische Verantwortung der Tarifpartner überdehnt werde. Lohnerhöhungen würden sich dadurch automatisch auf die Renten auswirken, was wiederum zu höheren Lohnkosten beitragen würde (BDA 1956: 25, 1957: 224). Eine automatische Lohnindexierung würde daher, mit anderen Worten, die Tarifautonomie überstrapazieren. Da eine ersatzlose Ablehnung der Reformpläne keine Aussicht auf Erfolg zu haben schien, propagierte die BDA als Alternative eine regelmäßige Anpassung der Renten auf der Basis von Ermessensentscheidungen eines Expertenkomitees (BDA 1956: 221í245). Die BDA konnte sich damit jedoch nicht durchsetzen. 6.4 Arbeitgeber und die deutsche Wiedervereinigung Die deutsche Wiedervereinigung war verbunden mit der Übernahme westdeutscher Institutionen durch die neuen Länder, darunter auch des westdeutschen Modells industrieller Beziehungen und sozialstaatlicher Institutionen. Dieser Transfer westdeutscher Institutionen wurde auch von den Arbeitgebern befürwortet und unterstützt. Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber gingen 1990 beide von einem schnellen wirtschaftlichen Aufholprozess des Ostens gegenüber dem Westen aus, der die Übernahme westdeutscher Lohn- und Sozialstandards finanziell ermöglichen sollte (Ritter 2007: 225; Schroeder 2000: 187). Obwohl bereits seit den 1980er Jahren Anzeichen einer deutlichen Unzufriedenheit unter den Arbeitgebern mit den bestehenden sozialpolitischen Strukturen in Westdeutschland zu erkennen waren, insbesondere mit den als zu hoch erachteten Belastungen durch Sozialabgaben, sahen die Arbeitgeberverbände die Wiedervereinigung nicht in erster Linie
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als eine Chance zur Etablierung einer Niedriglohnzone im Osten. Zwar gab es Stimmen innerhalb des BDI und der FDP, die die Schaffung eines Niedriglohn- oder Niedrigsteuergebiets im Osten forderten ( „Sondersteuergebiet DDR“ ), diese Forderungen fanden jedoch unter den Arbeitgebern keine Mehrheit und wurden von der BDA nicht mitgetragen (Schroeder 2000: 185). Die Unterstützung des Institutionentransfers durch die Arbeitgeberseite scheint sowohl politische als auch wirtschaftliche Ursachen gehabt zu haben. Politisch waren sich die deutschen Arbeitgeber offenbar der Notwendigkeit bewusst, die historische Chance der Wiedervereinigung auch durch sozialpolitische Mittel abzusichern. Eine dauerhafte wirtschaftliche Divergenz der beiden Teile Deutschlands hätte die Wiedervereinigung möglicherweise auch politisch gefährden können und wäre daher kaum zu vertreten gewesen. Der nötige wirtschaftliche Strukturwandel in Ostdeutschland erforderte auch eine sozialpolitische Befriedung der davon oft nachteilig betroffenen Bevölkerung. Da ursprünglich auch die Arbeitgeber davon ausgingen, dass der Aufholprozess schnell voranschreiten würde, betrachteten sie die dafür nötigen Finanztransfers anfangs lediglich als eine temporäre Belastung (Murmann 1997: 110; Schroeder 2000: 187). Als sich jedoch die nachhaltigen Schwierigkeiten des strukturellen Wandels in Ostdeutschland und die damit verbundenen Kosten abzeichneten, änderten die Arbeitgeberverbände ihre Haltung und forderten nicht nur eine Neuverhandlung der sogenannten „Stufentarifverträge“, die die ostdeutschen Löhne an westdeutsches Niveau angleichen sollten, sondern verschärften auch generell ihre Forderungen nach Leistungskürzungen im Sozialbereich (BDA 1994, 1998). Aus wirtschaftlicher Sicht wollten die westdeutschen Arbeitgeber das Entstehen einer Niedriglohnkonkurrenz in Ostdeutschland verhindern. Zwar hätte die Schaffung einer „Sonderwirtschaftszone“ in Ostdeutschland den Arbeitgebern als ein politisches Druckmittel für sozial- und steuerpolitische Reformen auch in Westdeutschland dienen können, dem stand jedoch die Gefahr einer verschärften Niedriglohnkonkurrenz für Westfirmen entgegen (French 2000: 204í205; Manow/Seils 2000: 286). Trotz der damit verbundenen höheren Arbeitskosten wurde daher von den Arbeitgebern anfangs ein einheitlicher regulativer Rahmen befürwortet. Rückblickend betrachtet hat jedoch die sozialpolitische Abfederung des Strukturwandels in Ostdeutschland (durch Frühverrentung, Arbeitslosenversicherung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen u. Ä.) vermutlich zur Verschärfung der Arbeitgeberforderungen nach Kosteneinsparungen im Sozialbereich beigetragen. 6.5 Rück- und Umbau des deutschen Sozialstaats Seit den 1990er Jahren ist eine deutliche Intensivierung der Forderungen von Arbeitgebern nach einer Kosteneindämmung in der Sozialpolitik zu beobachten. Diese Forderungen zielen primär auf Leistungskürzungen und Einschränkungen innerhalb des bestehenden Systems Bismarck’scher Orientierung. Ein grundsätzlicher Umbau der sozialstaatlichen Institutionen beispielsweise in ein liberal-residuales System, wie es in vielen angloamerikanischen Ländern existiert, wird von den deutschen Arbeitgeberverbänden nicht unterstützt. Der Sozialstaat soll weiterhin auf der Basis von Pflichtversicherung, Beitragsfinanzierung, einkommensbezogenen Leistungen und korporatistischer Selbstverwaltung organisiert bleiben. Jedoch sollen die Leistungsansprüche gekürzt, versicherungsfremde Leistungen abgeschafft und allgemein das Leistungsspektrum des Sozialstaats auf seine „Kernkompetenzen“ redu-
IV.2 Die Rolle der Arbeitgeber in der Sozialpolitik
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ziert werden (BDA 1994, 1998, 2002). Der Sozialstaat soll anstatt einer „Lebensstandardsicherung“ nur noch eine „Basissicherung“ bieten (BDA 1998: 14). Die Intensivierung der Arbeitgeberforderungen nach Sozialkürzungen verdeutlicht Veränderungen in den strategischen Optionen der Arbeitgeber. In der Zeit des Ausbaus des deutschen Sozialstaats befanden sie sich politisch in der Defensive. Sie mussten sich ungünstigen politischen Rahmenbedingungen anpassen. Nachdem die Regierungen aufgrund der Verschlechterung der Finanzlage jedoch im Großen und Ganzen vom Expansionskurs der Nachkriegsjahrzehnte zu einem Sparkurs übergingen, erhöhten sich auch die Chancen der Arbeitgeber, Kürzungsforderungen erfolgreich einzufordern. Dieses neue sozialpolitische Selbstbewusstsein der Arbeitgeberverbände drückt sich auch in der Hinwendung zu Medienkampagnen als einem Mittel zur Beeinflussung politischer Debatten aus. Während die Arbeitgeber in den Nachkriegsjahrzehnten zur Artikulation ihrer Interessen primär auf gute Kontakte zu Regierungsbeamten und korporatistische Entscheidungsgremien setzten, versuchen sie seit den 1990er Jahren wesentlich stärker, die öffentliche Meinung beispielsweise über Medienberichte und Kampagnen zu beeinflussen. Eine der bekanntesten dieser Kampagnen ist wohl die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), die von den Arbeitgebern der Metallbranche (Gesamtmetall) finanziert und kontrolliert wird (Speth 2004: 39; Kinderman 2005: 437í440). Die Hinwendung zu Medienkampagnen drückt eine zunehmende Unzufriedenheit der deutschen Arbeitgeber mit den bestehenden Institutionen der politischen Entscheidungsfindung aus. Konsensuale, korporatistische Formen der Konfliktlösung werden von den Arbeitgebern offenbar zunehmend als unzureichende Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen wahrgenommen. Diese Frustration der Arbeitgeber über die mangelnde Reformfähigkeit bestehender Institutionen kam beispielsweise deutlich im Scheitern der beiden Bündnisse für Arbeit zum Ausdruck (siehe beispielsweise das Interview mit Hans-Olaf Henkel im Spiegel, Nr. 1/1998, S. 72í74, sowie Daniels 1996; siehe jedoch auch Schroeder 2003). 7
Schlussfolgerungen
Betrachtet man die Rolle der Arbeitgeberinteressen in der historischen Entwicklung des deutschen Sozialstaats, so lassen sich die folgenden drei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens lässt sich feststellen, dass die Arbeitgeber in der Regel sozialpolitischen Reformen weder grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden noch eine treibende Kraft hinter diesen Reformen waren. Stattdessen reagierten sie oft auf Reforminitiativen anderer Akteure und versuchten diese ihren Vorstellungen gemäß zu beeinflussen und verändern. Im Vordergrund stand dabei meistens das Interesse an der Begrenzung von Lohnkostensteigerungen sowie am Erhalt von Arbeitsanreizen. Sozialleistungen machen Arbeiter tendenziell unabhängig von Erwerbstätigkeit, und daher auch von ihrem Arbeitgeber. Sie wurden daher von den Arbeitgebern oft als nachteilig im Hinblick auf die Leistungsbereitschaft und die Arbeitsmotivation ihrer Mitarbeiter angesehen. Deutsche Arbeitgeber betrachteten Sozialleistungen nicht so sehr als Anreize für Humankapitalinvestitionen, wie von der Eigeninteressensthese vermutet, sondern vielmehr als eine potentielle Gefährdung der Produktivität ihrer Mitarbeiter. Zweitens lässt sich feststellen, dass die Arbeitgeber ihre sozialpolitischen Zielsetzungen und Positionen immer wieder an sich verändernde politische Rahmenbedingungen anpassten. Während im Kaiserreich die Pazifizierung politisch unzufriedener Teile der
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Arbeiterschaft und damit die Schwächung der Sozialdemokratie die primären Motive für die Zustimmung der Arbeitgeber zu sozialpolitischen Reformen waren, verschoben sich die Motive im Laufe der Zeit hin zu einer Eindämmung sozialpolitischer Reformbestrebungen. Mit der Transformation der Arbeiterbewegung von einer revolutionären hin zu einer reformistischen Kraft, verlor auch die pazifizierende Zielsetzung tendenziell an Bedeutung. Die Eindämmung eines weiteren Ausbaus der Sozialpolitik wurde, insbesondere in den Nachkriegsjahrzehnten, verstärkt zur zentralen sozialpolitischen Zielsetzung der Arbeitgeber. Drittens lässt sich beobachten, dass Arbeitgeber nicht alle Formen von Sozialpolitik gleich beurteilen. Folgen wir Esping-Andersens Wohlfahrtsstaatstypologie (Esping-Andersen 1990), so lässt sich festhalten, dass deutsche Arbeitgeber konsistent das konservative (korporatistische) Modell gegenüber dem sozialdemokratischen (universalistischen) sowie gegenüber dem liberalen (residualen) Modell bevorzugten. Das heißt, sie befürworteten eine Sozialpolitik mit einkommensabhängigen Leistungen anstatt universeller oder bedarfsgeprüfter Leistungen, eine Finanzierung durch Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer anstatt durch Steuern, nach Berufsgruppen differenzierte Programme anstatt einer Einheitsversicherung sowie eine korporatistische Selbstverwaltung durch die Sozialpartner anstatt einer direkten Verwaltung durch den Staat. Diese Präferenz für eine konservative Sozialpolitik lässt sich durch eine Kombination von Interessen erklären. Zum einen kommt eine konservative Sozialpolitik dem Interesse von Arbeitgebern am Erhalt von Arbeits- und Leistungsanreizen mehr entgegen als eine sozialdemokratische oder liberale Sozialpolitik, da einkommensabhängige Sozialleistungen die Leistungsanreize am wenigsten verzerren. Die Versicherungsleistungen des konservativen Sozialstaats können als durch das Arbeitsverhältnis erworbene Rechte des Arbeitnehmers gesehen werden, als ein verzögerter Teil des Erwerbseinkommens. Zum anderen haben die Arbeitgeberverbände auch ein organisatorisches Eigeninteresse an der korporatistischen Organisationsform von Sozialpolitik, wie sie charakteristisch für das konservative Modell ist, da diese den Verbänden eine stärkere Rolle bei der Verwaltung der Programme einräumt. Das Interesse der Arbeitgeber an Humankapitalinvestitionen scheint hingegen historisch eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben und kann daher empirisch als Erklärungsansatz nicht bestätigt werden. Für die zukünftige Entwicklung scheint es wahrscheinlich, dass Arbeitgeber verstärkt auf eine abgespeckte Variante des konservativen Sozialstaatsmodells ( „Bismarck light“ ) drängen werden, in dem zwar kein grundsätzlicher Umbau sozialstaatlicher Institutionen angestrebt wird, jedoch staatliche Sozialleistungen auf das Niveau einer Basissicherung reduziert werden und vom Einzelnen verstärkt mit Eigenvorsorge kombiniert werden müssen. Trotz ihres nach wie vor gegebenen Bekenntnisses zu den Grundprinzipien konservativer Sozialpolitik können deutsche Arbeitgeber heute daher keineswegs als Gegner eines sozialpolitischen Rückbaus gesehen werden. Literatur Grundlegende Literatur Breger, Monika (1982): Die Haltung der industriellen Unternehmer zur staatlichen Sozialpolitik in den Jahren 1878í1891. Frankfurt a. M.: Haag + Herchen.
IV.2 Die Rolle der Arbeitgeber in der Sozialpolitik
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Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Annette Elisabeth Töller/Michael Böcher
1
Einleitung 1
Da Umweltpolitik meist auf die Regulierung wirtschaftlicher, insbesondere industrieller Tätigkeiten abzielt, spielen Wirtschaftsverbände in umweltpolitischen Entscheidungsprozessen in aller Regel eine zentrale Rolle. Dabei ist die Bandbreite verschiedener Einflusslogiken enorm. Die umweltpolitischen Positionen, die vertreten werden, reichen von der völligen Zurückweisung umweltpolitischer Zielsetzungen oder der Ablehnung bestimmter Instrumente zur Erreichung solcher Ziele über Forderungen nach einer Absenkung von Regelungsniveaus oder nach ganz bestimmten Regulierungen bis hin zur Ankündigung und Umsetzung freiwilliger umweltpolitischer Vorleistungen. Ähnlich groß ist die Vielfalt möglicher Handlungsformen der Wirtschaftsverbände gegenüber den mit der Umweltpolitik befassten staatlichen Akteuren: Vom Lobbying über eine Einflussnahme durch Expertise oder proaktive und kooperative Strategien bis hin zu konfrontativen Handlungsformen, etwa durch Drohungen und das Beschreiten des Rechtsweges, ist hier eine enorme Bandbreite von Staat-Verbände-Beziehungen aufzuzeigen. Erheblich ist schließlich auch die Vielfalt der involvierten verbandlichen Akteure. Auch wenn auf den ersten Blick insbesondere die umweltpolitischen Aktivitäten des BDI ins Auge springen mögen, sind es zum einen vor allem die Branchenverbände, die in großem Umfang Umweltpolitik betreiben. Zum anderen haben sich die Bandbreite der Wirtschaftsverbände und deren Positionen zur Umweltpolitik in den letzten etwa 20 Jahren deutlich erweitert, wie im Weiteren gezeigt wird. Anhand der Umweltpolitik kann man auch sehr deutlich die allgemeine Problematik der Mitgliederlogik der Wirtschaftsverbände aufzeigen, die in der abnehmenden Organisationsneigung der Firmen, der wachsenden Heterogenität der Klientel und in der zunehmend prekären Verpflichtungsfähigkeit liegt. Unser Beitrag gibt entlang der gerade skizzierten Aspekte einen Überblick über die Rolle von Wirtschaftsverbänden in der Umweltpolitik. Nach einer Bestandsaufnahme der Typen von Wirtschaftsverbänden im Politikfeld Umwelt und einigen Überlegungen zur Entwicklung der Mitgliederlogik in diesem Bereich befasst sich der Abschnitt 3 ausführlicher mit der Einflusslogik, die anhand verschiedener idealtypischer Handlungsformen erläutert wird. In Abschnitt 4 werden die relevanten theoretischen Erklärungsansätze dargestellt und diskutiert. Da das Verhältnis zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren in der Umweltpolitik ein sehr wechselhaftes ist, wird die Entwicklung im Zeitverlauf im Abschnitt 5 anhand einer Phasenheuristik systematisiert. Abschnitt 6 befasst sich mit neueren Entwicklungen nach thematischen Schwerpunkten (Rolle der Umweltverbände, Europäisierung und Globalisierung). Abschnitt 7 resümiert, wie sich das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaftsverbänden gegenwärtig darstellt. 1
Wir danken Christian Hey für ausführliche und sehr hilfreiche Kommentare zu einer früheren Version dieses Beitrags. Für verbleibende Irrtümer sind natürlich die Autoren alleine verantwortlich.
364 2
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln Bestandsaufnahme/Stand der Forschung
2.1 Grundlegender Konflikt Ökonomie vs. Ökologie Wirtschaftsverbände haben in der Entwicklung der Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an eine herausragende Rolle gespielt. Dies liegt vor allem daran, dass Umweltprobleme zuvorderst als Industrialisierungsfolgen auftraten (Hucke 1990: 391). Gleichzeitig trugen z. B. Mitte der 1980er Jahre gerade diejenigen Branchen zur Arbeitsplatzsicherung bei, die einen hohen Anteil an der Umweltbelastung hatten (Hucke 1990: 391). 2 Damit wurde die Wahrnehmung von Umweltpolitik durch einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Arbeit und Umweltschutz geprägt (Hucke 1987: 257). Die besondere Interessenlage und politische Bedeutung der Wirtschaftsverbände im Politikfeld Umwelt lassen sich damit durch die grundlegende materielle Besonderheit umweltpolitischer Maßnahmen erklären: Umweltpolitische Maßnahmen führen – zumindest kurzfristig – zu erhöhten Produktionskosten bei den von Regulierungen betroffenen Unternehmen. Wirtschaftsverbände versuchen daher in der Regel, diese drohenden erhöhten Kosten durch eine Einflussnahme auf den umweltpolitischen Prozess abzuwenden. Dabei argumentieren sie auch damit, dass Arbeitsplätze durch höhere Umweltschutzkosten gefährdet wären, – was Koalitionsmöglichkeiten mit den entsprechenden Branchengewerkschaften bietet 3 – und drohen damit, die Produktion in Länder mit niedrigeren Umweltkosten zu verlagern (Howlett/Ramesh 1995: 66; Peters 2002: 558 f.). Diese grundlegende Konfliktstruktur lässt sich seit der Einführung der deutschen Umweltpolitik in den 1970er Jahren, über die 1980er Jahre und besonders nach der deutschen Wiedervereinigung beobachten (vgl. die Phasenheuristik weiter unten). Auch heute ist diese Argumentationsweise der Wirtschaftsverbände aktuell, wie etwa die Stellungnahme des BDI gegen eine Verschärfung des Emissionshandels belegt (BDI 2005). Allerdings sind die Interessenlagen der Wirtschaftsakteure in den vergangenen etwa 20 Jahren erheblich komplexer geworden. 2.2 Mitgliederlogik der Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik 2.2.1 Verbändelandschaft Wir unterscheiden sechs Typen von Wirtschaftsverbänden, die in der Umweltpolitik zusammen, arbeitsteilig oder auch antagonistisch auftreten (Tabelle 1). Dies sind erstens die großen Dachverbände (der Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI, und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, DIHK) und zweitens die 2 3
1985 waren in drei dieser Branchen, dem Straßenfahrzeugbau, der chemischen Industrie und der Eisen-/ Stahlverarbeitung mehr als 25 % der Angestellten der verarbeitenden Industrie beschäftigt (Hucke 1990: 391). So sprach sich die IG Chemie Mitte der 1990er Jahre gegen die Einführung einer Ökosteuer aus und benutzte dabei die gleiche Argumentation wie der VCI (Walter/Schlüter/Koch 1995), obwohl der DGB nach seinem Bundeskongress im Jahr 1994 eine deutlich moderatere Position vertrat (Böcher 1998: 99 ff.; siehe dazu auch Tofaute 1994). Der Verband der Elektrizitätswirtschaft (VDEW) und die großen Energiekonzerne kämpften 2001 gemeinsam mit der IG Bergbau gegen die Quotenregelung zur Förderung der Kraft-WärmeKopplung (Töller 2005: 7; allgemein zur Rolle der Gewerkschaften in der Umweltpolitik siehe z. B. Steuer 2004: 365).
IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
365
Branchenverbände, die im BDI organisiert sind. Dazu gehören etwa der Verband der Chemischen Industrie (VCI), der Verband der Automobilindustrie (VDA), der Verband der Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) und der Zentralverband der Elektrotechnik- und Elektrizitätsindustrie (ZVEI), um nur die wichtigsten vier Branchenverbände zu nennen, die zusammen etwa die Hälfte des BDI-Etats aufbringen (Burgmer 1999: 70). Hinzu kommen drittens Fachverbände, die – oft innerhalb von oder in Kooperation mit den Branchenverbänden – Spezialinteressen in der Branche vertreten (so etwa der Industrieverband Körperpflege und Waschmittel (IKW) innerhalb des VCI). Während Dach-, Branchen- und Fachverbände Umweltschutzpositionen aus der Perspektive ihrer Mitglieder bei Bedarf erarbeiten, haben sich viertens Branchenumweltorganisationen – im Rahmen des Branchenverbandes oder organisatorisch unabhängig – die Vertretung von Brancheninteressen im Bereich der Umweltpolitik oder sogar in speziellen Regelungsbereichen zur Aufgabe gemacht. Beispiele sind die von Firmen der Verpackungsindustrie gegründete Arbeitsgemeinschaft Verpackung und Umwelt (AGVU), die Arbeitsgemeinschaft Altauto (ARGEAltauto) innerhalb des VDA 4 und das Forum Umwelttechnik im VDMA. Die ökologischen Nischenverbände – fünftens – wie der Bundesverband BioEnergie (BBE), der Bundesverband Solarwirtschaft (BSW), der Bundesverband Kraft-Wärme-Kopplung (B.KWK) oder die Arbeitsgemeinschaft ökologischer Landbau (AGÖL) haben ein originäres ökonomisches Interesse an der Förderung oder Verbindlichmachung bestimmter Umwelttechnologien (vgl. Vobruba 1992: 105). Schließlich gibt es – sechstens – noch die branchenübergreifenden „alternativen“ Unternehmerorganisationen. Bei diesen nimmt die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie im unternehmerischen Handeln eine zentrale Stellung ein. Beispiele sind der Bundesarbeitskreis umweltbewusstes Management e. V. (B.A.U.M.), der Bundesverband der grünen Wirtschaft (Unternehmensgrün) oder Future e. V., ein ökologisch orientierter Zusammenschluss kleiner und mittlerer Unternehmen. Tabelle 1: Typen von Wirtschaftsverbänden Typen von Wirtschaftsverbänden
Beispiel
Dachverbände
Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI)
Branchenverbände
Verband der Chemischen Industrie (VCI)
Fachverbände
Industrieverband Körperpflege und Waschmittel (IKW)
Branchenumweltorganisationen
Arbeitsgemeinschaft Verpackung und Umwelt (AGVU)
Ökologische Nischenverbände
Bundesverband Bioenergie (BBE)
Alternative Unternehmerorganisationen
Bundesarbeitskreis umweltbewusstes Management (B.A.U.M.)
Eigene Darstellung.
Der für die Umweltpolitik wichtigste deutsche Wirtschaftsverband ist zweifellos der BDI. Es gibt keine relevanten umweltpolitischen Entscheidungsprozesse, in denen er nicht die 4
In dieser Organisationsform nehmen die Verbände häufig besondere Aufgaben wahr, wie etwa die Ausarbeitung von Regulierungsideen. So ging das Konzept der dualen Entsorgungsindustrie wesentlich auf ein Gutachten zurück, das die AGVU beim Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstitut der Universität Köln in Auftrag gegeben hatte (Timmermeister 1998: 27). Die ARGE-Altauto nahm bis 2002 zentrale Funktionen bei der Umsetzung der Regulierung zur Altautoentsorgung wahr (Schrader 1996).
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Position der Industrie formuliert und zu Gehör bringt. Der BDI ist ein „Verband der Verbände“, d. h. seine 38 Mitglieder sind selbst Verbände, und zwar überwiegend Spitzenverbände der Industrie, die also wiederum Verbände vertreten (Berger 2004: 38). 5 Mehr als 100.000 Unternehmen mit 8 Mio. Beschäftigten in der Bundesrepublik werden durch den BDI – so seine Selbstverlautbarung – repräsentiert. 6 Dem BDI wird aufgrund seiner Funktion als oberster und zugleich fast allumfassender Repräsentant der deutschen (Groß)Industrie im Allgemeinen ein großer Einfluss auf die Politik zugerechnet. Allerdings steht auch der BDI immer mehr vor dem Problem, heterogene Mitgliederinteressen integrieren zu müssen (Berger 2004: 40). Damit folgen die Positionen des BDI in der Umweltpolitik sowohl der Mitgliederlogik als auch der Einflusslogik. So dienten die Aktivitäten im Zusammenhang mit der Europäischen Chemikalienregulierung REACH (siehe Abschnitt 6.2) nicht zuletzt der Mobilisierung derjenigen Stoffanwender, die nicht VCI-Mitglied waren. 7 Von den vier großen Mitgliedsverbänden des BDI sind mindestens drei zudem von zentraler Bedeutung für die Umweltpolitik: der Verband der Chemischen Industrie e. V. (VCI), der Verband der Deutschen Automobilindustrie e. V. (VDA) und der Zentralverband der Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e. V. (ZVEI) (z. B. Rey 1990: 45 ff., 86 ff.). Neben dem BDI spielt auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) als zweiter Spitzenverband der Wirtschaft, der sich vor allem als Vertreter der kleinen und mittleren Unternehmen versteht (Reutter 2001: 84), eine wichtige Rolle in umweltpolitischen Entscheidungsprozessen. 2.2.2 Mitgliederlogik Angesichts der funktionellen und organisatorischen Ausdifferenzierung der wirtschaftlichen Funktionen einerseits und der Regelungsfelder andererseits zeigt sich in vielen umweltpolitischen Entscheidungsprozessen, dass der BDI als Dachverband und die Branchenverbände außerordentlich heterogene und gelegentlich auch widerstrebende Interessen integrieren und vertreten müssen. So führte beispielsweise der Umstand, dass im BDI die Energielieferanten im Verband der deutschen Verbundwirtschaft (VdV) einerseits und (mit den restlichen Mitgliedern) die Energiekonsumenten andererseits organisiert sind, zu einer zentralen Konfliktlinie (Berger 2004: 45 f., FN 20), die vor allem in der Energie- und Klimapolitik die Interessenaggregation erschwert. 8 Nicht nur bei Umweltregulierungen, die – typisch für den deutschen Regelungsansatz – eine bestimmte Umweltschutztechnik vorschreiben, zerfällt die Industrie häufig in die „begünstigte“ Industrie (Anlagenhersteller) einerseits, die „Helferinteressen“ (Prittwitz 1990) wahrnimmt, und die „belastete“ Industrie (z. B. Stahl oder Chemie) andererseits (Mann 1994: 238), die Verursacherinteressen vertritt. Dafür steht in der Klimapolitik der strukturelle Konflikt zwischen den organisierten Maschinenbauern (VDMA), die auch die Umwelttechnik vertreten, und dem Verband der Elektrizitätswirtschaft, VDEW (seit 2007 aufgegangen im BDEW) 9 (s. u.), dessen Mitglieder naturgemäß an Energieeffizienz wenig Interesse haben. 5 6 7 8 9
Zur internen Organisation des BDI siehe im Einzelnen: Mann 1994 und Berger 2004: 38 f. sowie www.bdi.de. Vgl. www.bdi.de. Diesen Hinweis verdanken wir Christian Hey. Zu weiteren Konfliktlinien siehe Berger 2004: 46. Der VDEW fusionierte im Jahre 2007 mit dem BGW (Bundesverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft), dem VRE (Verband der Verbundunternehmen und Regionalen Energieversorger in Deutschland)
IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
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Die Willensbildung im Bereich der Klimaschutzpolitik der letzten Jahre zeigt zudem exemplarisch, dass neben den Branchenverbänden zunehmend auch große Konzerne, die nicht selbst Mitglied im BDI sein können, an der Willensbildung des BDI wesentlich beteiligt sind (vgl. Burgmer 1999: 160 ff.). So enthält beispielsweise ein Entwurf für ein internes BDI-Positionspapier zum Thema globaler Klimaschutz neben den Überarbeitungsvermerken von acht Branchenverbänden 10 die Kommentare von drei Konzernen (Bayer, BASF und EON Ruhrgas; BDI 2005). 11 Andererseits können die Branchenverbände für den BDI eine wichtige Integrationsleistung erbringen (Berger 2004: 47). Innerhalb der Branchenverbände erweisen sich Integrationsleistungen in umweltpolitischen Prozessen allerdings mitunter als unmöglich. Ein Beispiel in der Energiepolitik war die Situation des Verbands der Elektrizitätswirtschaft (VDEW), der die in vielen Fällen konträren Interessen der im Verband der Verbundwirtschaft (VRE) zusammengeschlossenen großen Energieproduzenten einerseits und der kommunalen Energieerzeuger und -lieferanten, die auch im Verband der Kommunalen Unternehmen (VKU) organisiert sind, andererseits integrieren und vertreten musste (Töller 2005). Ein anderes Beispiel ist der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE), der etwa in der produktbezogenen Abfallpolitik Händler von ganz unterschiedlicher Organisationsgröße und Ausrichtung und damit mit gegensätzlichen Interessenlagen vertreten muss. Das Ergebnis eines solchen Spagats ist nicht selten, dass es dem Branchenverband nicht gelingt, ein kollektives Interesse der Gesamtbranche herzustellen, und ihm, wie von Berger im Hinblick auf die nächsthöhere Ebene, den BDI, beschrieben, „nichts anderes übrig bleibt, als auf einen internen Interessenvergleich zu verzichten und unvereinbare Interessen dem individuellen Lobbying der Mitglieder zu überantworten“ (Berger 2004: 44). Dies führt nicht selten dazu, dass Vertreter der großer Firmen oder Konzerne in die Verhandlungen über politische Lösungen einsteigen, während v. a. kleinere Unternehmen (seien es kommunale Stromproduzenten oder kleine Einzelhändler) oder andere, weniger einflussreiche Wirtschaftsinteressen um ihre Beteiligung und die Berücksichtigung ihrer Belange kämpfen müssen (z. B. Garrelts 2004; Töller 2005: 8 ff.; Priddat/Speth 2006: 33). Wenn es Spitzen- oder Branchenverbänden aber doch gelingt, die gebündelten umweltpolitischen Interessen ihrer Mitglieder im politischen Prozess zu vertreten, und ihnen die politischen Entscheider entgegengekommen sind, erwarten diese im Gegenzug ein gewisses Maß an Unterstützung der Verbände bei der daraus resultierenden Implementation umweltpolitischer Maßnahmen. Dies gilt grundsätzlich unabhängig davon, ob es sich um eine verbindliche Gesetzgebung oder eine freiwillige Vereinbarung handelt (s. u.). Dabei tritt das bekannte Problem der Verpflichtungsfähigkeit von Verbänden auf, also ihrer beschränkten Möglichkeiten, ausgehandelte Lösungen auch intern durchzusetzen (z. B. Hilbert/Voelzkow 1984: 145; Mayntz 1992: 25 ff.). Grundsätzlich leidet die Verpflichtungsfähigkeit der Verbände unter dem Free-Rider-Problem, wonach es für die Ver-
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11
sowie dem Verband der Netzbetreiber (VDN) zum Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Dieser versteht sich selbst als Spitzenverband und ist kein Mitglied im BDI. Hierbei handelt es sich um den Mineralölwirtschaftsverband, die Wirtschaftsvereinigung Metalle, den Gesamtverband Steinkohle, den Wirtschaftsverband Stahlbau und Energietechnik, den Verband der deutschen Automobilindustrie, den Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, den Zentralverband Elektrotechnik und Elektronikindustrie und die Wirtschaftsvereinigung Stahl (BDI 2005). Dies lässt den Befund Bergers, Firmenlobbying beziehe sich „wohl in der Regel auf eine beschränkte Thematik, nämlich auf Subventionen und öffentliche Aufträge“ (Berger 2004: 71), als überprüfungsbedürftig erscheinen (siehe auch Priddat/Speth 2006).
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
bandsmitglieder – unabhängig von deren Überzeugung – individuell rational ist, zur Umsetzung einer vereinbarten Lösung nicht beizutragen, da sie ohnehin davon profitieren (Olson 1968). Das Problem ist, dass verbandseigene Disziplinierungsmittel, der selektive Ausschluss von Verbandsleistungen oder als Ultima Ratio der Verbandsausschluss, stumpfe Waffen sind, da sie dem primären Verbandsziel, Mitglieder zu binden, zuwiderlaufen (für die Umweltpolitik: Hilbert/Voelzkow 1984: 148 f.; Cansier 2001; allgemein: Berger 2004: 27). In überschaubaren Branchen spielt die Geltung sozialer Normen („berufsständische Ethik“, „der Ruf der Industrie“) für die Umsetzung von Vereinbarungen eine gewisse Rolle (Hilbert/Voelzkow 1984: 151). Als weitere Disziplinierungsmaßnahme steht den Verbänden „the carrot and the stick“ von staatlicher Seite zur Verfügung, also einerseits eine staatliche Hintergrunddrohung, bei mangelnder Kooperation eine strengere Regelung zu verabschieden, oder andererseits eine in Aussicht gestellte Belohnung mit staatlichen Vergünstigungen 12 (Hilbert/Voelzkow 1984: 127; Cansier 2001; Berger 2004: 20; Töller 2008a, 2008c). 3
Einflusslogik: Handlungsformen von Wirtschaftsverbänden in der Umweltpolitik
Während Umweltpolitik in der Regel auf die Regulierung der Wirtschaftstätigkeit mit dem Ziel einer Reduzierung von ökologischen Externalitäten abzielt, beziehen sich die Aktivitäten von Wirtschaftsverbänden meist auf die Beeinflussung dieser Politik mit den Zielen, Kosten für die betroffenen Unternehmen zu vermeiden oder so niedrig wie möglich zu halten, Sicherheit in Bezug auf mittelfristige regulative Entwicklungen und damit Investitionssicherheit zu erhalten oder auch Märkte abzuschotten (Hucke 1987, 1990; Mann 1994: 237). Grundsätzlich gehört es zur Interessenvertretung der Verbände, kontinuierlich Kontakte zu Akteuren in Politik und Verwaltung zu pflegen. Da wir uns aber hier konkret auf Prozesse umweltpolitischer Entscheidungsfindung beziehen, befassen wir uns im Folgenden mit den in der Umweltpolitik wichtigsten, konkret prozessbezogenen Handlungsformen der Wirtschaftsverbände. 13 3.1 Projektbezogene Handlungsform: Lobbying Lobbying „richtet sich nicht an die Öffentlichkeit und konzentriert sich auf die Artikulation und konkrete Durchsetzung von Einzelinteressen. Lobbying, also die gezielte Einflussnah12
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Während solche Vergünstigungen wie Subventionen oder Gelder für die Erforschung eines bestimmten Umweltproblems in den 1980er Jahren noch übliche Mittel waren, um Unternehmen zur Kooperation zu motivieren, stehen solche Anreize in Zeiten neoliberaler Ordnungspolitik und restriktiver europäischer Beihilfepolitiken kaum noch zur Verfügung. Dass Korruption als eine Handlungsform von Wirtschaftsakteuren gegenüber politischen Akteuren auch in der Umweltpolitik eine Rolle spielen kann, soll hier nicht unterschlagen werden (Berger 2004: 33). Wir gehen darauf jedoch nicht weiter ein, und zwar aus zwei Gründen: Erstens stellt Korruption bzw. Bestechung, soweit es darüber Erkenntnisse gibt, eher eine Handlungsform individueller Unternehmen als von Verbänden dar. Und zweitens gibt es keine Hinweise darauf, dass Korruption in der Umweltpolitik eine besondere Rolle spielt – wenn man von der Beschaffung in der Abfallpolitik einmal absieht (vgl. Bannenberg/ Schaupensteiner 2004: 40). Auch der Bereich der Parteispenden, der im Einzelfall von der Korruption schwer abgrenzbar sein kann, ist nicht spezifisch auf Umweltpolitik zu beziehen und bleibt daher unberücksichtigt (vgl. Berger 2004: 72 ff.; Priddat/Speth 2006: 47 f.).
IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
369
me auf spezifische Regulierungsverläufe, zielt auf die Beeinflussung oder Verhinderung konkreter Gesetzesvorhaben. Deshalb hat Lobbying immer Projektcharakter [...]. Lobbying erfolgt punktuell, während Interessenvertretung permanent geschieht.“ (Leif/Speth 2006: 14). Eine Vielzahl von Fallstudien zu umweltpolitischen Entscheidungsprozessen zeigt, dass sich der gezielte Einfluss der Wirtschaftsverbände auf sämtliche staatliche Akteure richtet; bevorzugte Ziele sind allerdings die Ministerialbürokratie sowie im Bundestag die jeweiligen Experten in den Ausschüssen (Rey 1990; Mann 1994: 238 f.; Berger 2004: 86 f.). Dabei entspricht es der Ressortlogik, dass sich in aller Regel das Wirtschaftsministerium besonders aufgeschlossen für die Positionen der Wirtschaftsverbände zeigt, während das Umweltministerium ökologischen Belangen größere Priorität einräumt (z. B. Rey 1990: 123, 131; Müller 1997; Töller 2005: 7 ff.). Diese Ressortlogik nutzen Branchenverbände, wenn sie, wie der VCI, Lobbying beim Wirtschaftsministerium oder im Kanzleramt betreiben, um Projekte des Umweltministeriums zu torpedieren (Pehle 1998: 178 ff.). Umgekehrt hat dasjenige Ministerium, das bei einem Entwurf die betreffenden Branchen- und Spitzenverbände hinter sich weiß, letztlich innerhalb des Kabinetts eine stärkere Stellung (Rey 1990: 129). Können die Verbände hier ihre Positionen nicht durchsetzen, stellt der Weg über den Bundesrat eine weitere Möglichkeit der Einflussnahme dar (Rey 1990: 129). Dabei hängt die Bereitschaft einzelner Länder, sich für die Positionen der Industrieverbände stark zu machen, oft weniger von der jeweiligen Parteienkonstellation innerhalb der Landesregierung als von der Bedeutung des jeweiligen Wirtschaftszweigs im Bundesland ab. Inhaltlich zielt das Lobbying von Wirtschaftsverbänden zunächst häufig auf eine völlige Verhinderung umweltpolitischer Maßnahmen. Dass sie damit nicht selten Erfolg haben, zeigt beispielsweise die Untersuchung von Pehle, wonach mehr als die Hälfte der befragten Ministerialbeamten im BMU „häufig“ oder „eher häufig“ erlebt haben, dass ihre Vorhaben am Widerstand der Wirtschaftsverbände gescheitert sind (Pehle 1998: 176 f.). Dabei betreffen durch Verbandsmacht gescheiterte Maßnahmen besonders häufig die Abteilungen, die für Immissions- und Gesundheitsschutz und Chemikalien sowie für Wasserund Abfallwirtschaft zuständig sind (Pehle 1998: 177). Erst in zweiter Linie geht es um die Reduzierung des Anwendungsbereichs einer Regelung (so wurden die sogenannten „Altstoffe“, die sich schon auf dem Markt befanden, nicht vom Chemikaliengesetz erfasst) oder um weniger strenge Auflagen (wie beispielsweise bei der Formulierung des Chemikaliengesetzes (Rey 1990) oder der Großfeuerungsanlagenverordnung (Mann 1994: 236 ff.)). 3.2 Konfrontative Handlungsform: Drohen und Klagen Wirtschaftsverbände beschreiten neben der verständigungsorientierten direkten Einflussnahme auf umweltpolitische Akteure auch konfrontative Wege. 14 So setzen sie z. B. die ökonomische Macht der von ihnen vertretenen Unternehmen ein, indem sie eine „systemrelevante Leistungsverweigerung“ (Offe 1969) glaubhaft androhen, um auf politischer Ebene Veränderungen zu erreichen, wobei diese Macht umso mehr wächst, je schwieriger die gesamtökonomische Lage ist und je empfindlicher politische Entscheidungsträger auf mögliche Arbeitsplatzverluste reagieren. In der politischen Realität geht es um eine große Bandbreite 14
Siehe allgemein zum Drohen als einer Methode der Interaktionsmacht Paris/Sofsky 1998.
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
von angedrohten Entscheidungen, die aber letztlich auf der Ebene der Unternehmen und nicht der Verbände zu treffen wären (Produktpolitik, Investitionsverweigerung, Abbau von Arbeitsplätzen, Verlagerung von Produktionszweigen oder ganzer Standorte ins Ausland; Berger 2004: 21, 75, 219 ff.; vgl. Rey 1990: 124; Garrelts 2004: 141; Töller 2005: 9). 15 Eine mit der Drohung verwandte, subtilere Handlungsmöglichkeit der Verbände stellen Warnungen dar. Warnungen sind Bestrafungen, die sich aus dem Handeln des Betreffenden selbst ergeben, sie prognostizieren erwartbare Wirkungen (also unterbleibende Investitionsentscheidungen von Unternehmen, negative Arbeitsplatzeffekte geplanter Maßnahmen oder eine Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen) und stellen letztlich maskierte Drohungen dar (Paris/Sofsky 1998: 15, 41 f.; Berger 2004: 21, 226). Eine weitere konfrontative Strategie stellt das Beschreiten des Rechtsweges dar (Benz 1994: 103). Da es in Deutschland jedoch kein Verbandsklagerecht gibt, 16 können die Verbände nur mit der Klageerhebung durch ihre Mitgliedsunternehmen drohen und diese ggf. auf dem Klageweg unterstützen. Ein prominentes Beispiel ist das Dosenpfand, dessen Verhängung Anfang der 2000er Jahre durch eine Vielzahl von Klagen, insbesondere gegen den staatlichen Akt der Feststellung einer Unterschreitung der Mehrwegquote, zumindest verzögert wurde (Garrelts 2004). Auch gegen die bereits eingeführte Ökosteuer machten Unternehmen und ihre Verbände unter Beschreitung des Rechtsweges bzw. Beauftragung juristischer Expertise mobil. 17 3.3 Argumentative Handlungsformen: Einflussnahme durch Expertise Typisch für die Umweltpolitik ist, dass wissenschaftliche Expertise eine große Rolle bei der Beurteilung ökologischer Gefahren und der Rechtfertigung politischer Strategien spielt (Lidskog/Sundqvist 2004; Böcher 2007). Zentral für umweltpolitische Fragen sind das ständige Aufeinandertreffen von Expertise und Gegenexpertise und die damit verbundene politische Entscheidungsfindung unter Unsicherheit (Beck 1986). Innerhalb einer solchen politischen Problemstruktur dienen Expertisen nicht (nur) dazu, wissenschaftliche Erkenntnisse als Entscheidungshilfe für die Politik zur Verfügung zu stellen, sie liefern (auch) Argumentationsmaterial und Legitimation für politische Akteure in politischen Konflikten. Außerdem geht es darum, politische Diskurse zu prägen, indem man zentrale Begriffe definiert und damit auch das Verständnis eines bestimmten Umweltproblems und möglicher Lösungen prägt (Hey 2003: 146). Wissenschaftliche Expertise wird darüber hinaus benutzt, 15
16 17
Die Argumentation Bergers, das Inaussichtstellen von Investitionen oder Deinvestitionen könnten die Wirtschaftsverbände nicht in Verhandlungsmacht umsetzen, weil die organisierten Firmen eine strukturelle Abneigung dagegen hätten, „ihren Verbänden Rechte abzutreten, die den Kern der Unternehmerfreiheit [...] tangieren“ (Berger 2004: 75), geht wohl etwas an der Realität politischer Drohungen und Warnungen vorbei. Eine Ausnahme bildet das Klagerecht für anerkannte Naturschutzverbände im Rahmen des Bundesnaturschutzgesetzes seit 2002 (Wolff 2004: 161). Im Einzelnen legten hier 2000 zwei Betreiber gewerblicher Kühlhäuser und fünf Unternehmen aus der Branche „gewerblicher Güterkraftverkehr“ eine Verfassungsbeschwerde gegen das Ökosteuergesetz ein (BGA-Pressemeldung 16 und 53; BGL Pressemeldung vom 07.01.2000; Die Welt vom 05.01.2000; siehe dazu auch das vom BGL beauftragte verfassungsrechtliche Gutachten von Schön und Herdegen (1999)). Der Bundesverband Güterkraftverkehr und Logistik (BGL) stellte darüber hinaus ein rechtliches Gutachten vor, das seine Argumente für die Klage zusammenfasst und die Verfassungsmäßigkeit der deutschen Ökosteuer bezweifelt (Herdegen/Schön 2000: 102 ff.; siehe dazu auch Böcher 2000).
IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
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um in politischen Konflikten Gegner von einer bestimmten Auffassung zu überzeugen oder politische Entscheidungen hinauszuzögern (Boehmer-Christiansen 1995: 197). Wirtschaftsverbände nutzen häufig die zu ihren umweltpolitischen Positionen passenden Inhalte wissenschaftlicher Expertisen, um sich im umweltpolitischen Prozess Gehör zu verschaffen oder ihr Lobbying bei konkreten Gesetzesvorhaben der Regierung wissenschaftlich zu legitimieren (z. B. Mann 1994: 239). Wirtschaftsverbände erzeugen aber auch selbst Expertise, indem sie z. B. auf Gutachten des verbändeeigenen Instituts der deutschen Wirtschaft zurückgreifen oder externe Expertisen in Auftrag geben, wenn sie sich davon eine wissenschaftliche Untermauerung ihrer umweltpolitischen Interessen erhoffen. Dass derartige Auftragsexpertisen aber nicht immer in die gewünschte Richtung gehen, erfuhr der BDI schon Ende der 1970er Jahre, als ein Gutachten im BDI-Auftrag – durchaus überraschend – erhebliche Arbeitsplatzpotentiale im Umweltschutz prognostizierte (Sprenger 1979; siehe auch Petschow 1997). In den 1990er Jahren gab der BDI als strikter Gegner ökologischer Steuerreformkonzepte ein Gutachten zur Bewertung der damals sehr kontrovers diskutierten Ökosteuervorschläge beim renommierten Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstitut an der Universität Köln in Auftrag, um Gegenexpertise zu Befürworterstudien wie der des DIW von 1994 aufzubauen. Allerdings legten die beauftragten Finanzwissenschaftler ein Gutachten vor, das eine ökologische Steuerreform durchaus positiv bewertete (Linscheidt/Truger 1995), so dass der BDI seine Position nicht weiter als wissenschaftlich untermauert vertreten konnte und in der Ökosteuerdebatte argumentativ in die Defensive geriet. 3.4 Technisch-kooperative Handlungsformen: Beteiligung in Netzwerken Gerade weil Umweltpolitik häufig Technikregulierung beinhaltet, ist die inhaltliche Beteiligung der Regelungsadressaten an der Politikformulierung und -umsetzung meist unerlässlich. So arbeiten Industrievertreter auch in interministeriellen Arbeitsgruppen (Schneider 1992: 118) und ggf. in Regierungsdelegationen mit, wenn es etwa um die Entwicklung transnationaler Regelungskonzepte geht. Die Beteiligung von Vertretern der chemischen Industrie und des VCI 18 an der Entwicklung der Chemikalienregulierung sowohl auf der OECD- als auch auf der EG-Ebene in den 1970er Jahren ist hierfür ebenso ein Beispiel (Schneider 1992: 116 f.) wie die Partizipation von DIHT-Vertretern an der deutschen Delegation im Brüsseler Artikel-19-Ausschuss, der die Durchführung der EMAS-Verordnung, aber auch deren Revision koordinierte, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre (Töller 1998). Dies kann man als ein Tauscharrangement interpretieren, „in dem Politikfomulierungsprärogative mit Informationen und kooperativem Verhalten ‚getauscht‘ wurden“ (Schneider 1992: 131). Insofern beschreibt die Beteiligung von Verbandsvertretern an umweltpolitischen Entscheidungsnetzwerken eine weit verzweigte informelle Involvierung in die inhaltlich-technische, aber auch die politische Weichenstellung, meist lange bevor der Politikprozess „in den ‚mainframe‘ parlamentarischer-pluralistischer Institutionen“ gelangt (Schneider 1992: 121). Die offizielle Verbandsanhörung stellt sich in solchen Fällen eher als eine „pluralistische Routine der Exekutive“ (Schneider 1992: 122) dar. 18
„Relevante Informationen über die Bedingungen, Interessen und Strategien der mehreren Tausend Kleinund Mittelbetriebe der chemischen Industrie in der Bundesrepublik sind im Prinzip (zu vertretbaren Kosten) nur zugänglich über die Kanäle des Monopolverbandes VCI“ (Schneider 1992: 130).
372
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
3.5 Kooperative Handlungsformen im Schatten der Hierarchie: Vereinbarungen Während Verbände und staatliche Akteure in allen Phasen umweltpolitischer Entscheidungsprozesse, etwa bei der Vorbereitung oder der Umsetzung rechtlicher Maßnahmen, in gewisser Weise kooperieren, tritt im Fall von Umweltvereinbarungen die Staat-VerbändeKooperation an die Stelle verbindlicher rechtlicher Maßnahmen (Töller 2008c). Solche Vereinbarungen wurden Ende der 1960er Jahre erstmals und seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend zwischen der Bundesregierung und den jeweils zuständigen Wirtschaftsverbänden abgeschlossen. 19 Dabei traten als Gegenüber des Umweltministeriums (bis 1986 des Innenministeriums) meist sowohl ein oder mehrere Branchen- und Fachverbände als auch der BDI auf. 20 Während erste Vereinbarungen in den späten 1960er und den 1970er Jahren insbesondere den Gesundheitsschutz (etwa bei der Etikettierung von Wasch- und Reinigungsmitteln) zum Thema hatten, zielten Vereinbarungen der 1980er Jahre vor allem auf die Verwendung umwelt- oder gesundheitsschädlicher Stoffe ab. So wurde der Verzicht auf die weitere Verwendung von Asbest und PCP, später auch von FCKW, zwischen der Bundesregierung und den Branchenverbänden vereinbart und dann auch durchgeführt (Jacob/Jänicke 1998; Wicke/Braeseke 1998; Flotow/Schmidt 2001). In den 1990er Jahren wurden Vereinbarungen zum einen in der produktbezogenen Abfallpolitik (vgl. Busch/Jörgens 2001; Töller 2007) und zum anderen in der Energie- und Klimapolitik eingesetzt (Töller 2005, 2008c). Derartige Vereinbarungen kommen immer „im Schatten der Hierarchie“ zustande, d. h. unter Androhung einer gesetzlichen Maßnahme. Die Logik ihres Zustandekommens liegt im Kern darin, dass die staatlichen Akteure angesichts politischer und rechtlicher Unwägbarkeiten den umweltpolitischen „Spatz in der Hand“ bevorzugen (Lyon/Maxwell 2004: 192) 21 und auch darauf hoffen, dass gemeinsam ausgehandelte Maßnahmen von den Verbänden und ihren Mitgliedern selbst durchgesetzt werden. Wirtschaftsakteure können mit Vereinbarungen ökologische Effizienzgewinne realisieren22, größeren Spielraum bei der Vereinbarung von Umweltzielen mit unternehmerischen Zielen gewinnen und Unsicherheit in Bezug auf zukünftige Regulierungen reduzieren23 (Lyon/Maxwell 2004: 193; Croci 2005: 12 f.; Bressers/de Bruijn 2005: 271; Töller 2008a). 19 20
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23
Diese Konstellationen wurden in der Literatur mitunter auch als neokorporatistische Arrangements bezeichnet oder in Analogie zu diesen analysiert. In Abschnitt 4.3 legen wir dar, warum wir Korporatismus als Konzept in diesem Zusammenhang nicht für einschlägig halten. Während verschiedene Autoren von großer Skepsis auf Seiten des BDI gegenüber seiner Inkorporierung in die Politik durch die Übernahme von Lenkungsaufgaben berichten (Mann 1994: 25; Bührer 2000: 46 ff.; Berger 2004: 102), scheint der Verband gegen die Einbindung der Verbände in die Umweltpolitik nie große Bedenken gehabt zu haben (vgl. BDI 2004). Dabei hat die Beteiligung des BDI an solchen Vereinbarungen eher symbolischen Charakter, denn die Verpflichtung zur konkreten Umsetzung liegt immer bei den Branchen- und ggf. Fachverbänden. Wenn wir politischen Akteuren nicht alleine ein Interesse an einer Problemlösung unterstellen wollen (Mayntz 2001: 17), so wäre ein weiteres mögliches Interesse am Abschluss von Vereinbarungen die öffentliche „De-Thematisierung“ im jeweiligen Problembereich (zur De-Thematisierung von Umweltproblemen durch symbolische Gesetzgebung siehe Newig 2004, dieser Mechanismus lässt sich problemlos auf den Abschluss von Vereinbarungen übertragen). Die Kosten für die Vermeidung einer bestimmten Emissionsmenge sind bei kleineren Anlagen meist höher als bei großen Anlagen. Daher werden rechtliche Regelungen, die für alle gleichermaßen gelten, von Ökonomen als ökonomisch ineffizient kritisiert (z. B. Michaelis 1996: 42 ff.). Eine ungleiche Verteilung von Vermeidungsverpflichtungen innerhalb einer Branche erlaubt es hingegen, Reduzierungen vor allem dort durchzuführen, wo dies am kostengünstigsten geschehen kann. Über die Praxisrelevanz dieses Ansatzes und brancheninterne Kompensationsmechanismen weiß man aber nach wie vor wenig. Dabei wird davon ausgegangen, dass sie nicht nur zum Schein kooperieren, um Zeit zu gewinnen.
IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
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Die Problematik der Vereinbarungen liegt darin, dass die Verbände die Verpflichtungen eingehen, sie aber ihre Mitgliedsunternehmen, wie bereits angesprochen, nicht immer dazu bewegen können, diese Verpflichtungen auch einzuhalten. Die Implementation der Vereinbarungen gilt daher als umso prekärer, je zahlreicher und heterogener die Verbandsmitglieder sind (Cansier 2001). Dass bei einer Nichtbeachtung freiwilliger Maßnahmen ein Verbandsausschluss droht wie im Falle der Qualitätsgemeinschaft des Bundesverbandes Deutscher Fertigbau, deren Mitglieder sich u. a. zum Verzicht auf schädliche Holzschutzmittel verpflichteten (Ronge 1992: 56), ist eine klare Ausnahme, weil solchen Vereinbarungen das Interesse der Verbände am Erhalt ihrer Mitglieder entgegensteht. Daher bleiben den Verbänden jenseits moralischer Appelle und Maßnahmen wie Benchmarking, die Effektivitätsüberprüfungen mit der Schaffung von Transparenz kombinieren (Meister/Banthien 1998: 125), kaum wirksame Sanktionsmittel gegenüber ihren Mitgliedern (Cansier 2001). Hatte der Neuabschluss solcher Umweltvereinbarungen zwischen Mitte der 1980er und Mitte der 1990er Jahre enorm zugenommen (110 bis heute), so nehmen die Zahl und die Bedeutung von Vereinbarungen in den letzten vier bis fünf Jahren deutlich ab, was mit den Logiken des europäischen Rechts, aber auch mit veränderten parteipolitischen Präferenzen zusammenhängt (Töller 2007, 2008c). 3.6 Proaktive Handlungsformen: Branchenprogramme und Managementsysteme Spätestens seit den 1990er Jahren gehört zu den verbandlichen Handlungsmöglichkeiten in der Umweltpolitik auch, freiwillig und eigenverantwortlich eine proaktive verbandliche und betriebliche Umweltpolitik zu betreiben. Beispiele hierfür sind Branchenprogramme, wie das Responsible-Care-Programm der chemischen Industrie, Umweltmanagementsysteme, wie ISO 1400 und EMAS, oder auch die Zertifizierung umweltfreundlicher und nachhaltiger Produktionsweisen oder Produkte, z. B. im Holzsektor, durch Zertifizierungssysteme wie FSC oder PEFC (Klins 2000; Cashore/Auld/Newson 2003). 24 Das Responsible-Care-Programm wurde vom kanadischen Verband der chemischen Industrie 1985 in Reaktion auf den Chemieunfall in Bhopal aufgelegt und – auch in Reaktion auf den Brand bei Sandoz im Jahr 1986 – 1991 vom deutschen Verband der Chemischen Industrie (VCI) übernommen. In diesem Programm geht es vor allem darum, den Umgang mit den Produkten der chemischen Industrie im Hinblick auf Umwelt und Gesundheit zu verbessern, hierüber gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit Transparenz herzustellen und dadurch das angeschlagene Image der chemischen Industrie wiederherzustellen. 25 Teilnehmende Unternehmen verpflichten sich, einen „angemessen hohen Grad an Schutz für Gesundheit und Sicherheit der Mitarbeiter, Kunden, der Öffentlichkeit und der Umwelt zu gewährleisten“ (Meister/Banthien 1998: 114; auch: Ronge 1992: 53). Stärker als Umweltprogramme (aber nicht ausschließlich) nach innen gerichtet sind Umweltmanagementsysteme, die es Unternehmen ermöglichen, sich in systematischer Weise 24
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Der 1993 in Toronto gegründete Forest Stewardship Council (FSC) wurde insbesondere durch UmweltNGOs initiiert, während das Paneuropäische Nachhaltigkeitszertifikat (PEFC) von Waldbesitzerverbänden gegründet wurde, um ein den Interessen der Forstwirtschaft eher dienliches, eigenes Zertifizierungssystem als Gegengewicht zum FSC zu etablieren (Cashore/Auld/Newson 2003: 235). Immerhin beinhalten die Leitlinien auch das Postulat, dass die chemische Industrie „ungeachtet der wirtschaftlichen Interessen die Vermarktung von Produkten einschränken oder deren Produktion einstellen“ wird, falls diese nach entsprechender Risikobewertung eine Gefahr für Gesundheit oder Umwelt darstellen.
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
mit ihren Umweltauswirkungen auseinanderzusetzen und diese zu reduzieren. Während die Entscheidung des individuellen Unternehmens für ein solches System sowohl durch die Erkenntnis getrieben ist, dass Umweltschutz auch betriebswirtschaftlich Sinn machen kann, als auch meist auf eine Kommunikation mit Dritten abzielt (Töller 2001; Delmas/Montiel 2008), ist der Einsatz der Wirtschaftsverbände (vor allem des DIHT) für dieses Instrument in einem größeren regulierungspolitischen Kontext zu sehen. Von der Propagierung von EMAS, dem von der Europäischen Union formulierten Umweltmanagementsystem, in dessen Verwaltung die Verbände selbst involviert sind, 26 versprach man sich bei den Wirtschaftsverbänden Mitte bis Ende der 1990er Jahre vor allem eine umweltpolitische Deregulierung oder zumindest Erleichterungen bei anderen umweltrechtlichen Verpflichtungen – eine Erwartung, die sich nur sehr bedingt erfüllt hat (Heinelt et al. 2001, Schmidt-Räntsch 2006: 7). Insbesondere im Rahmen derartiger freiwilliger Initiativen kommt den Wirtschaftsverbänden nicht nur die Aufgabe zu, solche Maßnahmen zu konzipieren und zu operationalisieren. Vielmehr sind die Verbände hier, anders als die meisten ihrer Mitglieder, „in einer Position, aus der heraus sie ersehen können, wo Kooperation zwischen Unternehmen [...] sinnvoll, d. h. Komplementaritäten nutzbar sind.“ (Meister/Bathien 1998: 124). 4
Erklärungsansätze
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass sich in der Umweltpolitik sowohl pluralistische Muster der Interessenvermittlung finden als auch solche, die mithin als neokorporatistisch bezeichnet werden. 27 Gleichwohl hat das in der Verbändeforschung klassische Gegenüber von Pluralismus und (Neo-)Korporatismus als konkurrierenden Erklärungsansätzen für unterschiedliche Phänomene die Diskussion um die Interessenvermittlung in der Umweltpolitik nie wesentlich geprägt. Wir gehen im Folgenden auf die für die Umweltpolitik einschlägigen Erklärungsansätze der ökonomischen Theorie der Politik“ und die Diskussionen zur Staatsentlastung und Gemeinwohlfähigkeit der Wirtschaftsverbände ein. 4.1 Wirtschaftsverbände und Umweltpolitik aus Sicht der ökonomischen Theorie der Politik 4.1.1 Theorie der Regulierung Schon in den 1970er Jahren beschäftigte sich die ökonomische Theorie der Politik mit der Frage, welche Interessen Wirtschaftsverbände bei umweltpolitischen Entscheidungsprozessen vertreten. Bahnbrechend war dabei die Erkenntnis, dass Unternehmen Regulierungen 26
27
Zum einen wird die Liste registrierter EMAS-Betriebe beim DIHK geführt (http://www.dihk.de/index.html?/ inhalt/themen/innovationundumwelt/umweltberatung/audit.html), zum anderen liegt die Akkreditierung der unabhängigen Gutachter, die die Durchführung von EMAS in den Betrieben überprüfen, in den Händen der wirtschaftseigenen DAU (Deutsche Akkreditierungsstelle Umwelt). Deren Tätigkeit wird überwacht vom UGA (Umweltgutachterausschuss), der beim BMU eingerichtet ist und in dem neben den beteiligten Ministerien, Vertretern von Gewerkschaften und Umweltverbänden die Wirtschaftsverbände eine zentrale Rolle spielen (http://www.uga.de/; vgl. Schmidt-Räntsch 2006: 5). So kann man die Handlungsform des Lobbying als pluralistisches Muster verstehen (vgl. Crouch 2000: 25), während Formen des kooperativen und selbstregulativen Handelns im Prinzip neokorporatistischen Mustern entsprechen.
IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
375
nicht unbedingt generell ablehnen, sondern vielmehr solche Regulierungen fordern, die ihren Interessen an höheren Gewinnen entsprechen, indem der Markteintritt für neue, konkurrierende Unternehmen erschwert wird (Stigler 1971: 5). Buchanan und Tullock (1975) erklärten in einem ähnlichen Modell, dass ein umweltpolitisches Ordnungsrecht eher den Regulierungsinteressen der Unternehmen entspricht als marktwirtschaftliche Instrumente, da es höhere Marktzutrittsbarrieren für konkurrierende Unternehmen schafft. Demnach werden Wirtschaftsverbände also eine umweltpolitische Regulierung im Sinne rechtlicher Maßnahmen bevorzugen (siehe auch Hahn 1989, 1990; Bressers/Huitema 1999). Jenseits der Frage, welche umweltpolitischen Interessen Unternehmen bzw. ihre Verbände haben, stellen sich in der Theorie der Regulierung staatliche Regulierungsmaßnahmen letztlich immer als das Resultat der Nachfrage bestimmter Interessengruppen nach dieser Regulierung dar (Hansjürgens 2000: 158). Ein solches Verständnis politischer Entscheidungsprozesse ist aber unterkomplex, wie wir an anderer Stelle ausführlich gezeigt haben (Böcher/Töller 2007). 4.1.2 Neue Politische Ökonomie (NPÖ) Aus Sicht der Neuen Politischen Ökonomie rückt u. a. die (unterschiedliche) Organisierbarkeit gesellschaftlicher Interessen in den Mittelpunkt, ein Problem, das in der Umweltpolitik besonders folgenreich ist. Im Anschluss an Mancur Olsons „Logik des kollektiven Handelns“ (1968) argumentieren zahlreiche NPÖ-Autoren (z. B. Jaeger 1994; Gawel 1995) dass umweltpolitische Befürworterinteressen ungleich schwerer zu organisieren sind als Verursacherinteressen, da es sich beim Umweltschutz um ein Kollektivgut 28 handelt, dessen positive Wirkung nicht auf Verbandsmitglieder begrenzbar ist, erst zeitlich verzögert eintritt und unter Umständen erst nachfolgenden Generationen zugutekommt. Der ausgeprägte Kollektivgutcharakter des Gutes Umwelt lässt es für den Einzelnen rational erscheinen, sich gerade nicht umweltgerecht zu verhalten, sondern das Engagement für den Umweltschutz anderen zu überlassen. Nach dieser ökonomischen Theorie der Politik besteht somit ein logisches Ungleichgewicht zwischen der Organisations- und Durchsetzungsfähigkeit von Verursacherinteressen (Wirtschaftsverbänden) und den Betroffeneninteressen (Umweltverbänden), womit die Machtpotenziale von Wirtschaftsverbänden in der Umweltpolitik erklärt werden können. Industrieverbände sind demnach schlagkräftige Gruppen mit homogenen Interessen, bei denen die Früchte des Engagements unmittelbar jedem Unternehmen in Form höherer Gewinne zugutekommen (Böcher 2001). 29 Eine ähnlich schlagkräftige Vertretung von Umweltschutzinteressen ist aus der Sicht der NPÖ nicht zu erwarten: Wirtschaftsverbände beeinflussen danach die Umweltpolitik hinsichtlich ihrer Verursacherinte28
29
Kollektive Güter charakterisieren sich durch die Nichtteilbarkeit von Produktion und Konsumtion, die Nichtrivalität und nicht zuletzt die Nichtausschließbarkeit. Kollektive Güter gelten als ein typischer Fall von Marktversagen: Weil von einem kollektiven Gut wie sauberer Luft niemand ausgeschlossen werden kann, hat niemand einen Anreiz, zur Erhaltung derselben beizutragen. Nach Jaeger (1994: 132) lassen sich Interessen umso leichter organisieren und verfügen über umso größeren Einfluss auf politische Prozesse, je individueller, homogener und partikularer die zu vertretenden Interessen sind; je unmittelbarer spürbar die Vorteile sind, die die Interessengruppe ihren Mitgliedern verschafft; je mehr sichere private (Gegenwartsgüter) eine Gruppe im Vergleich zu unsichereren Zukunftsgütern anbietet; je besser das Trittbrettfahrerproblem ausgeschaltet wird; je niedriger die Organisationskosten der Gruppe sind und schließlich je reichlicher sie mit finanziellen Mitteln und Know-how ausgestattet ist.
376
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
ressen deutlich stärker als Umweltverbände mit ihrem Interesse an einer stärkeren umweltpolitischen Regulierung (Böcher 2009). 4.2 Korporatismus, Staatsentlastung und Gemeinwohlfähigkeit der Wirtschaftsverbände? Insbesondere die verschiedenen Formen der Kooperation zwischen Wirtschaftsverbänden und Staat sind in der Literatur als „neokorporatistische Arrangements“ bezeichnet worden (z. B. Hilbert/Voelzkow 1984: 142; Schmitter/Grote 1997: 550; Rennings et al. 1997; Linscheidt 2000). Das Korporatismuskonzept verspricht unseres Erachtens aber keine sinnvolle Einordnung der Kooperation zwischen Staat und Wirtschaftsverbänden in der Umweltpolitik, und zwar aus konzeptionellen wie aus empirischen Gründen (so auch Pehle 1998: 164). Der zentrale konzeptionelle Unterschied ist, dass das Korporatismuskonzept mit dem Idealtyp des omnipotenten, monolithischen „Interventionsstaates“ arbeitet, in dem der Primat der Politik herrscht und die organisierten Interessen an der staatlichen Politik beteiligt werden (vgl. Mayntz/Scharpf 1995: 25). Kooperative Umweltpolitik ist hingegen eher zwischen dem Idealtyp des Steuerungsstaates und dem des moderierenden Staates zu verorten (Braun 1999:13; vgl. Le Galès 1995: 17 f.). Der wichtigste empirische Unterschied besteht darin, dass bei korporatistischen Arrangements Verbände „verbindlich und regelmäßig an der Formulierung wie auch der Ausführung beteiligt, gewissermaßen in die Politikentwicklung ‚inkorporiert‘“ werden (Czada 1983: 210), während es bei den meisten Kooperationsformen in der Umweltpolitik zu einer stark themenbezogenen, situativen Einbeziehung verbandlicher Akteure durch den Staat kommt, die im Prinzip jederzeit zur Disposition steht, wenn der „verhandelnde Staat“ (wieder) zum „befehlenden Staat“ wird (Prätorius 2000). 30 Deutlich erhellender als das Korporatismuskonzept ist die Diskussion, die an der Staatsentlastungsfunktion der Verbände ansetzt. Sie hebt darauf ab, dass die „Aktivitäten von Verbänden und ihre Einbindung in den staatlichen Politikprozess (…) für das Gemeinwohl durchaus förderlich sein“ können (Grande 2000: 17), weil „Verbände (…) intermediäre Leistungen an[bieten], die sowohl zur Herstellung, wie zum Vollzug staatlicher Entscheidungen nützlich sein können und dabei in zwei Richtungen vermitteln. Sie transportieren einerseits Gesichtspunkte der Gesellschaft in das politische System. (…) Verbände vermitteln andererseits Gesichtspunkte der Politik in die Gesellschaft und unterstützen so den Vollzug staatlicher Entscheidungen“ (Berger 2004: 25 f.; vgl. Streeck 2000: 55 ff.).
Dies ist insbesondere im von multiplem „Staatversagen“ besonders betroffenen Bereich der Umweltpolitik (Jänicke 1992: 433 f.; Vobruba 1992: 87) eine wichtige Analyseperspektive. Umweltpolitik gilt daher geradezu als Vorreiter einer allgemeinen Tendenz seit den 1970er und 1980er Jahren, eine Gemeinwohlverträglichkeit wirtschaftlichen Handelns einzufordern: „Die Umweltverträglichkeit bildete den Auftakt und das Modell für diverse weitere ‚Verträglichkeiten‘ bis hin zur – der Allgemeinheit des Gemeinwohls sehr nahe kommenden – ‚Sozialverträglichkeit‘“ (Ronge 1992: 50). Dabei liegt empirisch betrachtet der Beitrag der Wirtschaftsverbände zum Gemeinwohl weniger darin, den Staat einseitig 30
Hinzu kommt, dass jedenfalls mit einer engeren Korporatismusdefinition nur tripartistische Arrangements gemeint sind, während Umweltvereinbarungen typischerweise bilaterale Arrangements sind (Pehle 1998: 163).
IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
377
von bestimmten Steuerungsaufgaben zu entlasten. In Situationen, in denen autoritatives staatliches Entscheiden unter vielfältigen Einschränkungen stattfand und stattfindet, erlaubt es Kooperation den staatlichen Akteuren vielmehr, überhaupt zu handeln und auch Handlungsfähigkeit zu demonstrieren (Töller 2008c). 31 Andererseits funktioniert dies nur unter der Bedingung der glaubwürdigen Androhung staatlicher Interventionen, die den „Verbandsspitzen die Lösung von Legitimationsproblemen gegenüber ihren Mitgliedern“ erleichtern (Vobruba 1992: 103). Insofern handelt es sich hier um ein von Vobruba und anderen treffend beschriebenes Phänomen der „Staatsentlastung durch Verbände“ bei gleichzeitiger „Verbändeentlastung durch den Staat“ (ebd.). Diese seit den späten 1980er Jahren zunehmend wichtige Leistung der Wirtschaftsverbände für die Umweltpolitik hatte im Kern drei Triebkräfte: erstens die – auch als PorterHypothese bezeichnete – Erkenntnis, dass Umweltschutz nicht zwingend im Gegensatz zu (rein) unternehmerischen Zielen steht, wenn er beispielsweise hilft, Ressourcen zu sparen, Schwachstellen im Management oder in der Innovation aufzuzeigen, die Motivation der Mitarbeiter zu steigern, Folgekosten von Umweltschäden (z. B. Haftung) zu vermeiden oder das Image zu verbessern (z. B. Porter 1990; Bailey/Rupp 2004: 238; Hipp 2006: 241; Thumann 2006 ). Zweitens wurde die Umwelttechnologie in Deutschland zu einer Wachstumsund Exportbranche mit großem Potential (z. B. Weyrich 2006: 223). Die dritte Triebfeder war schließlich die Erkenntnis, dass mit verbändegeleiteten freiwilligen Maßnahmen unter Umständen autoritative Maßnahmen abgewendet werden können, was sich vor allem aus der Sicht ganzer Branchen oder Fachgruppen jedenfalls mittelfristig auch betriebswirtschaftlich rechnen würde. Wird ein Beitrag der Wirtschaftsverbände zum Gemeinwohl jedoch eher normativ verstanden als „Bereitschaft zur Vermeidung negativer Externalitäten“ im Sinne einer gesteigerten Reflexivität (Mayntz 1992: 18 ff.), dann mögen für die Umweltpolitik Zweifel angebracht sein. 32 Allenfalls die Nachhaltigkeitsdebatte und die auf ihre Art wirkungsvolle „Heuschreckendebatte“ mögen die gesellschaftlichen Erwartungen an das gemeinwohltaugliche Verhalten von Konzernen, aber auch Wirtschaftsverbänden gesteigert haben. 5
Umweltpolitische Phasenheuristik und Einfluss der Wirtschaftsverbände
Zwischen der verbandsinternen Integration und der externen Einflussnahme stehen die eigentlichen verbandlichen Positionen, die im politischen Prozess vertreten werden. Diese können in der Umweltpolitik – wie aufgezeigt – von kategorischer Zurückweisung umweltpolitischer Zielsetzungen – häufig mit dem Hinweis auf die Wettbewerbsfähigkeit der potenziell betroffenen Wirtschaftszweige – oder der Ablehnung bestimmter Instrumente zur Erreichung solcher Ziele über das Vorlegen von Argumenten für eine Abschwächung von Regelungsniveaus und Forderungen nach ganz bestimmten Regulierungen bis hin zur An31 32
Allerdings trug das Anbieten von Vereinbarungslösungen vor allem während der verschärften „StandortDeutschland-Debatte“ Mitte der 1990er Jahre auch dazu bei, autoritative staatliche Handlungsformen zunehmend unter Rechtfertigungszwang zu bringen (Töller 2008c). Dies ist möglicherweise auch deshalb der Fall, weil in der Umweltpolitik die von Mayntz formulierte strukturelle Bedingung für eine Gemeinwohlbezüge berücksichtigende Orientierung nicht gegeben ist: „dass innerhalb der Netzwerke, in die sie [die Verbandsakteure, M. B./A. E. T] eingebunden sind, sowohl die relevanten negativen Betroffenheiten artikuliert werden, wie auch die schlecht organisationsfähigen allgemeinen Interessen ihre Fürsprecher finden“ (Manytz 1992: 34).
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
kündigung und Umsetzung mitunter umfangreicher freiwilliger umweltpolitischer Vorleistungen gehen. Die empirische Ausprägung dieser verschiedenen wirtschaftsverbandlichen umweltpolitischen Positionen in der bisherigen Umweltpolitik der Bundesrepublik Deutschland möchten wir im Folgenden anhand einer Adaption der bewährten umweltpolitischen Phasenheuristik aufzeigen und weiter systematisieren (vgl. Müller 1986; Weßels 1989; Malunat 1994). 5.1 Phase I: Entdeckung der Umweltpolitik und „euphorische Phase“ (1969-1973) Als gegen Ende der 1960er Jahre die Umweltthematik erstmals in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wurde, standen die Wirtschaftsverbände dem zunächst durchaus aufgeschlossen gegenüber (Müller 1989: 7). So unterstützte der BDI damals in seinem Jahresbericht 1969/1970 eine Umweltpolitik, die bestehende Schäden repariert, forderte aber zugleich ein umweltpolitisches Vorsorgeprinzip ein (BDI 1970: 40). Diese Zeit war bei den Wirtschaftsverbänden dadurch geprägt, zunächst institutionelle Kapazitäten für die Bearbeitung des neuen politischen Themas aufzubauen: So wurde 1970 beim BDI die Kommission „Industrie und Umwelt“, die sich mit umweltpolitischen Grundsatzfragen beschäftigen sollte, gebildet, bevor 1972 ein Umweltausschuss aus Vertretern der verschiedenen Mitgliedsverbände gebildet wurde (Müller 1989: 8). Ähnlich richtete auch der DIHT 1971 erstmals einen „Arbeitskreis für Umweltschutz“ ein (Müller 1989: 8). Die Aufgeschlossenheit des BDI in dieser ersten Phase der deutschen Umweltpolitik ist nach Übereinstimmung in der Literatur vor allem damit zu erklären, dass die Kosten des Umweltschutzes noch kaum vorstellbar waren und daher auch nicht diskutiert wurden (Weßels 1989: 279; Müller 1986: 89 ff.; Schaltegger/ Frey 2001: 342). Allerdings kündigten sich hier zukünftige Konfliktlinien bereits an, da der BDI die Wettbewerbsneutralität der Umweltpolitik einforderte und – schon damals! – eine Harmonisierung von Umweltmaßnahmen in der EG forderte (Müller 1989: 8). 5.2 Phase II: Ölkrise und umweltpolitischer Abschwung (1974-1978) Mit der Ölkrise in den Jahren 1973/74 und der darauf folgenden weltweiten Rezession, die zu einer „Abwehrhaltung der Industrie gegenüber ökologischen Gesichtspunkten“ führte (Weßels 1989: 280; Müller 1986: 97), begann die erste Depressionsphase der deutschen Umweltpolitik. Nun galt das Augenmerk zunächst dem wirtschaftlichen Krisenmanagement und der Stabilisierung der sozialen Lage der Bevölkerung, worunter die Umweltpolitik zu leiden hatte. 33 Bei einem Spitzengespräch mit Bundeskanzler Schmidt („Gymnicher Gespräche“) machten Vertreter von Gewerkschaften und Industrie 1975 deutlich, dass „durch eine restriktive Umweltpolitik ein riesiger Investitionsstau entstehe, die Energieversorgung gefährdet sei und durch die allgemeine Überforderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit weitere Arbeitsplätze bedroht würden.“ (Malunat 1994: 6).
33
Allerdings sorgten auch innenpolitische Probleme für eine Krise der Umweltpolitik: Terrorismus wurde zum wichtigsten politischen Problem für den Innenminister, der seinem Ressort zugeordnete Umweltschutz trat dahinter vollständig zurück und innerhalb der FDP, die sich noch Jahre vorher als Umweltpartei zu profilieren gewusst hatte, erstarkte der wirtschaftsliberale Flügel, der die Umweltpolitiker lähmte.
IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
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Diese Klagen führten zu einer Entschleunigung der Umweltpolitik ab Mitte der 1970er Jahre (Müller 1986: 89 ff.; Weßels 1989: 281; Steuer 2004: 367). 5.3 Phase III: umweltpolitische Rekonsolidierung (1978-1982) Seit dem Ende der 1970er Jahre sah sich die Bundesregierung mit einer wachsenden und durch erste Wahlerfolge grün-alternativer Listen auf Landesebene auch parteipolitisch institutionalisierten Ökologiebewegung konfrontiert, die in den siebziger Jahren vor allem gegen die Kernenergie opponierte und ihren Höhepunkt schließlich 1980 mit der Gründung einer Bundespartei „Die Grünen“ fand. Durch den gleichzeitigen Widerstand der Wirtschaft gegen umfassende ökologische Konzepte befand sich die Bundesregierung jedoch umweltpolitisch in einer Zwickmühle. Eine zunehmend kritische Medienberichterstattung und ein zum ersten Mal wirklich sichtbares Umweltproblem wie das Waldsterben, das zu Beginn der achtziger Jahre ins Blickfeld der Öffentlichkeit geriet, führten zu einer Diffusion des umweltpolitischen Metiers in breitere gesellschaftliche Schichten, die zunehmend die staatliche Umweltpolitik kritisierten. Dadurch verschoben sich die politischen Kräfteverhältnisse (Malunat 1994: 7). In den 1980er Jahren wuchs insgesamt der Bestand an umweltpolitischen Gesetzen deutlich (Schaltegger/Frey 2001: 344), wenngleich oft auf den Einsatz autoritativer Instrumente verzichtet wurde und stattdessen z. B. Vereinbarungen abgeschlossen wurden (Weßels 1989: 283; Töller 2008c). In den 1980er Jahren wurde aber auch deutlich, dass die Interessen der Wirtschaftsakteure gegenüber einer Umweltschutzregulierung ganz unterschiedlich sein können. So waren manchen Branchen umweltpolitische Regulierungen als Markteintrittsschranken für Konkurrenten willkommen (Jacob/Jänicke 1998: 537; theoretisch dazu Buchanan/Tullock 1975). 34 Auch erwies sich für manche Sub-Branchen das zunehmende ökologische Verbraucherbewusstsein (die „private Interventionsebene“, Jänicke 1992: 442) als ökonomisch folgenschwer. 5.4 Phase IV: umweltpolitische Kontinuität und Institutionalisierung (1983-1989) Die von 1982 an regierende christlich-liberale Bundesregierung brachte in der Umweltpolitik zunächst keine Änderung: Der für den Umweltbereich zuständige Innenminister Zimmermann sorgte unter dem Einfluss zunehmenden Problemdrucks (die Diskussion um das Waldsterben begann 1981) für eine Verschärfung der Luftreinhaltevorschriften, die zu dieser Zeit die größte umweltpolitische Leistung der konservativ-liberalen Regierung darstellte. 35 Dennoch wurde ein in der Umweltpolitik neuartiges „freundliches und kooperatives Klima“ im Verhältnis zur Wirtschaft und ihren Verbänden (Weßels 1989: 286) etabliert. 34
35
Jacob und Jänicke identifizierten bei der Regulierung von Chemikalien eine „Regulierungsspirale“, bei der der Verzicht auf die Verwendung gefährlicher Stoffe (z. B. Asbest oder PCP) zunächst durch Vereinbarungen geregelt und auch erreicht wurde und sich die bisherigen Hersteller erst für ein gesetzliches Verbot einsetzten, nachdem der Stoff praktisch nicht mehr verwendet wurde, um keinen Markt für neue Anbieter zu belassen (Jakob/Jänicke 1998). Aufgrund der emotionalen öffentlichen Diskussion über die Ursachen des Waldsterbens, die starke Luftverschmutzung und den daraus folgenden sauren Regen, erfuhr die Luftreinhaltepolitik eine starke Aufwertung.
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Weßels verortet in dieser Zeit eine Suche nach marktkonformen Lösungen, die allerdings bei genauem Hinsehen nur deshalb als „marktkonform“ gelten können, weil sie den Unternehmen relativ großen Spielraum bei der Umsetzung umweltpolitischer Ziele lassen.36 Das Reaktorunglück in Tschernobyl bedeutete für die deutsche Umweltpolitik eine Zäsur, da es im Juni 1986 zur Bildung des Bundesumweltministeriums und so zu einer weiteren Institutionalisierung der Umweltpolitik führte. 37 Die Übernahme des relativ neu eingerichteten Umweltministeriums durch Klaus Töpfer im Jahr 1987 markierte den Übergang zu einer intensiven umweltpolitischen Regulierung (Malunat 1994: 10) bei grundsätzlich weiterhin kooperativer Haltung gegenüber der Wirtschaft. Typisch für wirtschaftsverbandliche Positionen der 1980er Jahre war zudem das Drängen auf europäische umweltpolitische Harmonisierungserfolge, um nationale Wettbewerbsnachteile durch eine deutsche umweltpolitische Vorreiterpolitik zu verhindern. 5.5 Phase V: wiedererstarkender Konflikt Ökonomie vs. Ökologie und umweltpolitischer Abschwung (1989-1998) Die Ende der achtziger Jahre einsetzende weltweite Konjunkturkrise und vor allem die Probleme, die mit der deutschen Einheit und dem Primat der raschen Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West für die deutsche Politik entstanden, verschärften den Konflikt zwischen ökonomischen und ökologischen Zielen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre wieder: Offen gefordert wurde gerade von Wirtschaftsverbänden „ein Abbau der Umweltpolitik.“ 38 Anfang der 1990er Jahre forderte der BDI in seinem Konzept „Die Zukunft unserer Umwelt“ (BDI 1990) eine Ablösung der eher bürokratischen Umweltpolitik durch effizientere, marktwirtschaftliche Lösungen (BDI 1990: 7), wobei damit nicht etwa ökonomische Instrumente gemeint waren. Der BDI betonte besonders die ständig gestiegenen Umweltschutzaufwendungen der deutschen Wirtschaft und ihre Leistungen, beispielsweise die Verringerung der Luftbelastung durch Emissionen. Er bemängelte, dass immer mehr Gesetze verabschiedet würden und neue Produkte und Anlagen viel zu lange Genehmigungszeiten erforderten. Gefordert wurde, dass der Staat sich auf „die Rahmensetzung beschränkte und den Unternehmen die Wahl der geeigneten Maßnahmen überließe, um die Wirtschaft auf umweltpolitische Anforderungen auszurichten.“ (BDI 1990: 14). Insgesamt sind die späten 1980er und frühen 1990er Jahre vor allem durch den Wandel von einer defensiven zu einer offensiven Strategie der Wirtschaftsverbände gegenüber einer umweltpolitischen Regulierung zu charakterisieren (vgl. Schaltegger/Frey 2001: 351; Steuer 2004: 370 f.). Unter dem Eindruck einer Mitte der 1990er Jahre zugespitzten „Standort-Deutschland-Debatte“ begann eine Phase, die durch eine sehr ausgeprägte Kooperationsbereitschaft auf Seiten der christlich-liberalen Bundesregierung gekennzeichnet war 36
37 38
Die Verwendung von Marktinstrumenten im eigentlichen Sinne wird zwar, wie von vielen Autoren gezeigt, seit den 1970er Jahren zunehmend thematisiert, sie wurde jedoch gerade in Deutschland bis heute kaum in die Realität umgesetzt (Zittel 1997: 77 ff.; Schaltegger/Frey 2001: 348 ff.; Böcher/Töller 2007) und dies nicht zuletzt wegen des vehementen Widerstandes der Wirtschaftsverbände. Dies ist als Taktik der Bundesregierung zu werten, um gegenüber der wiedererstarkten Atomkraftopposition und der verunsicherten Bevölkerung Handlungskompetenz zu demonstrieren. Dies konstatierte der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Gutachten von 1994 (SRU 1994: Tz. 74).
IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
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(Koch 1997; Kern/Koenen/Loeffelsend 2003: 9 ff.; Töller 2008c). Während strikte regulative Programme erneut als „Jobkiller“ erschienen, wurde Kooperation in diesem Zusammenhang zu einem Instrument der Deregulierung. 5.6 Phase VI: Nachhaltigkeitsdebatte, rot-grüne Koalition und umweltpolitische Wiederbelebung (seit 1998) Die Zeit seit den späten 1990er Jahren ist durch widersprüchliche Entwicklungen gekennzeichnet: Einerseits brachte der Nachhaltigkeitsdiskurs, der sich in Deutschland mit Verspätung im Rahmen des „Agenda-21-Konzeptes“ verbreitete (Steuer 2004: 375; Jänicke/ Jörgens 2004: 306 f.), insgesamt eine eher normative Dimension in die Diskussion und definierte damit gesellschaftliche Verantwortlichkeiten in gewissem Maße neu. Damit wird u. a. Umweltschutz nicht mehr als eine Politik betrachtet, die von staatlichen Akteuren gegen Wirtschaftsakteure betrieben wird (z. B. Meister/Banthien 1998: 122). Vielmehr wird den Wirtschaftsakteuren im Sinne des Nachhaltigkeitskonzeptes, das auch eine ökonomische Dimension beinhaltet, eine eigene, aktive Rolle beim Schutz von Ressourcen und Umwelt im Sinne eines auch ökologisch zukunftsfähigen Wirtschaftens zugewiesen. Pure Konfrontation und eine Zurückweisung umweltpolitischer Forderungen ist keine akzeptable verbandliche Strategie mehr. Stattdessen ist es üblich, eigene Positionen durch Gemeinwohlbezogenheit zu untermauern (Kösters 1997: 222). Damit lösen sich die Konflikte allerdings nicht auf, sondern verschieben sich auf rivalisierende Gemeinwohldefinitionen (Vobruba 1992: 115 ff.; Hey 2003: 148). Eine gegenläufige Tendenz hierzu entstand mit der fortschreitenden wirtschaftlichen Globalisierung (Burgmer 1999: 19; s. u.). Die Regierungsübernahme durch die rot-grüne Koalition führte angesichts der hohen Priorität von Umweltfragen für Bündnis 90/Die Grünen zu einer alles in allem konfliktbereiteren Gangart gegenüber der Wirtschaft und ihren Verbänden (Kern/Koenen/Loeffelsend 2003; Mez 2004). Dies kann man an der praktischen Umsetzung zuvor jahrelang vergeblich diskutierter umweltpolitischer Maßnahmen wie der Ökosteuer ablesen (Bailey/Rupp 2004: 248), aber auch etwa an der Ablösung kooperativer Instrumente durch rechtliche Regelungen im Bereich der produktbezogenen Abfallpolitik (Töller 2007). Gerade die erstgenannte Maßnahme führte zu einer beispiellosen Interessenpolitik der deutschen Industrie, deren Organisationen sich prinzipiell alle oben genannten Handlungsformen zu eigen machten, um die Einführung einer Ökosteuer zu verhindern. Die Grünen mussten beim Wähler Wort halten, und so wurde die Ökosteuer 1999 – wenn auch mit zahlreichen Ausnahmeregelungen zugunsten der Wirtschaft – dennoch eingeführt (Böcher 1999). 6
Neuere Entwicklungen
6.1 Gestiegene Bedeutung und Strategiewandel der Umweltverbände Die noch Ende der 1980er Jahre zutreffende Beobachtung vieler Autoren, dass angesichts der asymmetrischen Organisations- und Konfliktfähigkeit der Verbände den Wirtschaftsverbänden allenfalls von Seiten der Gewerkschaften, nicht aber von Seiten der Umweltverbände
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etwas entgegengesetzt werden könnte (z. B. Rey 1990: 124, 136 f.), kann heute nicht mehr uneingeschränkt gelten. So vermögen es Umweltverbände und „expertenorientierte moralisch-politische Mobilisierungsagenturen“ (Lietzmann 2000: 273) trotz prinzipieller Schwäche (häufig durch die Unterstützung der Medien) erfolgreich Kampagnen gegen Unternehmen durchzuführen, was deren Position schwächt und die Wirtschaftsverbände bzw. einzelne Firmen unter Zugzwang setzen kann (wie im Falle des schwimmenden Öltanks „Brent Spar“ und der Verhinderung seiner Versenkung durch Greenpeaceaktivisten im Jahr 1995). Gleichwohl gaben in Pehles Untersuchung 36 von 150 befragten Ministerialbeamten des BMU an, dass sich der Einfluss von Umwelt- und Wirtschaftsinteressen die Waage halte, während doppelt so viele der Auffassung waren, dass die Wirtschaftsinteressen in aller Regel einflussreicher seien (Pehle 1998: 182 f.). Allerdings verhalten sich die Umweltverbände nicht mehr ausschließlich konfrontativ gegenüber Wirtschaftsinteressen, was u. a. auf eine „Auflösung alter Feindbilder“ zurückzuführen ist (Jacob/Jörgens 2001: 11). 39 6.2 Europäisierung Die vergangenen zwanzig Jahre sind durch eine durchgreifende „Europäisierung“ der deutschen Umweltpolitik im Sinne einer Rückwirkung der europäischen Integration auf die Entscheidungsprozesse und die inhaltliche Gestaltung nationaler Umweltpolitik gekennzeichnet. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte sind der Europäischen Gemeinschaft in mehreren Schüben umfassende Kompetenzen für die Verabschiedung kollektiv verbindlicher umweltpolitischer Regeln übertragen worden (Lenschow 2005). Diese wurden inzwischen ausgiebig genutzt, insbesondere zur Verabschiedung umfassender europäischer Richtlinien in fast allen umweltpolitischen Regelungsbereichen. Die europäische Politik hat insofern weitgehende Auswirkungen auf die deutsche Umweltpolitik (Radaelli 2003). 40 In der 15. Legislaturperiode (2002 bis 2005) wurden mehr als 80 % der vom Bundestag verabschiedeten Gesetze im Ressort Umweltpolitik durch europäisches Recht beeinflusst oder veranlasst (Töller 2008b). Ganze Regelungsbereiche wie die produktbezogene Abfallpolitik oder die Chemikalienpolitik sind heute durch europäische Regelungen weitgehend harmonisiert (vgl. Hey/Jakob/Volkerey 2007). Für die deutschen Wirtschaftsverbände verlieren durch die fortschreitende Integration einerseits Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat ihre Exklusivität. Als weitere wichtige „staatliche“ Akteure, Adressaten für den Verbandseinfluss und Partner für strategische Koalitionen kommen im europäischen „Mehrebenensystem“ insbesondere die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, aber ggf. auch die anderen nationalen Regierungen hinzu (Knodt/Quittkat 2005: 114 ff.). Dabei gilt die Kommission angesichts ihres vergleichsweise bescheidenen Beamtenapparates als besonders angewiesen auf die Expertise der Verbände und sie sucht den Kontakt auch, um die Akzeptanz europäischer Regelungen zu sichern (Kohler-Koch 2000: 138; vgl. Priddat/Speth 2006: 26). Gerade im Zusammenspiel der Generaldirektion Umwelt, des Umweltausschusses des Parlaments und des Um39 40
Kooperationen gehen Umweltverbände allerdings allenfalls mit einzelnen Wirtschaftsunternehmen ein, nicht aber mit deren Verbänden, wie die interessante Literaturstudie von Jakob und Jörgens zeigt (Jacob/Jörgens 2001). Auswirkungen hat nicht alleine die europäische Umweltpolitik, sondern insbesondere auch die Politik der Warenverkehrsfreiheit und die Politik der staatlichen Beihilfen, die eine gravierende Einschränkung für die nationale Umweltpolitik bedeuten (Töller 2007).
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weltministerrats scheint das europäische Regierungssystem aber durchaus in der Lage zu sein, „wirtschaftlichen Lobbyeinfluss relativ erfolgreich zu filtern und zu begrenzen“ (Hey 2003: 145). Eine Gefahr hierfür kann allerdings in einer Zunahme konsensualer Prozesse, von Netzwerken und verbandlicher Selbststeuerung auf der europäischen Ebene gesehen werden sowie in den sukzessiven Erweiterungsrunden, bei denen dem Umweltschutz tendenziell ein geringerer Stellenwert eingeräumt werden wird (Hey 2003: 145, 150). Im Einzelfall sind – analog zu den Mechanismen im nationalen Kontext – auch auf der Brüsseler Ebene Interventionen hochrangiger Wirtschaftsvertreter bei den Regierungschefs gegen die Pläne der Umweltminister als „Notbremse“ üblich (Hey 2003: 148). Man denke nur an die Intervention der Autolobby bei Bundeskanzler Schröder, als es 1999 um die europäische Altautoverordnung ging (Hurrelmann 2001). Andererseits verlieren mit der europäischen Integration die nationalen Wirtschaftsverbände das Vertretungsmonopol (Kohler-Koch 2000: 141; Burgmer 1999: 17). Obwohl so gut wie alle Dach-, Branchen- und Fachverbände nach und nach Vertretungen in Brüssel eingerichtet haben (Kohler-Koch 2000: 136), sind sie dort nur einige nationale Verbände unter vielen anderen. 41 Über verschiedene Mechanismen, 42 nicht zuletzt die Organisationsstruktur der UNICE und auch des CEFIC, gewinnen zudem große Konzerne in Brüssel tendenziell einen größeren Einfluss auf die Umweltpolitik (Kohler-Koch 2000: 142; Burgmer 1999: 104 ff.; Schneider/Grote 2006: 9 f.). 43 Gerade in der Umweltpolitik zeigt sich, dass es deutschen nationalen Wirtschaftsverbänden meist gelingt, die europäische Handlungsebene frühzeitig zu antizipieren 44 und ihren Einfluss auf europäischer Ebene geltend zu machen (Grote/Schneider 2006: 137 f.). 45 Im Fall des groß angelegten Regulierungsprojektes zur Chemikalienpolitik (REACH) lassen sich verschiedene Strategien der betroffenen Verbände aufzeigen. Zunächst war der Verband der Chemischen Industrie (VCI) ebenso wie die Sektorgewerkschaft IG BCE an der Aushandlung der Verhandlungsposition der Bundesregierung beteiligt (Lahl 2005: 17). Im Verlauf der Konkretisierung der Kommissionspläne sorgten mehrere Studien, die u. a. im Auftrag des BDI und des europäischen Chemieverbandes CEFIC die wirtschaftlichen Folgen der geplanten Regelung zu beziffern versuchten und massive Wertschöpfungs- und Arbeitsplatzverluste prognostizierten, für eine Verschärfung der politischen Diskussion auf der europäischen Ebene (SRU 2004: 469; Koch 2005: 181 ff.). Im Fall der von der Kommission seit Ende 2006 geplanten Reduktionsziele für die CO2-Emissionen von Kraftfahrzeugen waren es aber beispielsweise die deutschen Autokonzerne BMW, Volkswagen und DaimlerChrysler und nicht ihr Verband, der VDA, die in den 41 42 43 44
45
Hinzu kommt, dass europäische Branchenverbände nach verschiedenen Logiken organisiert sind, es gibt solche mit ausschließlicher Verbändemitgliedschaft, solche mit ausschließlicher Direktmitgliedschaft (z. B. Automobile) und Branchenverbände mit gemischter Mitgliedschaft (z. B. CEFIC; Burgmer 1999: 103). Einer dieser Mechanismen ist die Mehrfachrepräsentation von Konzernen, wie Burgmer exemplarisch anhand der BASF aufzeigt (Burgmer 1999: 104). Dass dies bereits im nationalen Kontext so ist, zeigen Priddat und Speth in ihrer Studie über Unternehmensrepräsentanten in Berlin (Priddat/Speth 2006). Ein schönes Beispiel hierfür ist die Kolumne von Julian Carroll, der seit Anfang der 1990er Jahre für die Verpackungsrundschau (offizielles Organ des Bundes Deutscher Verpackungs-Ingenieure, tatsächlich aber wohl das Organ der Verpackungsindustrie) über Politikentwicklungen aus Brüssel berichtet (http://www. verpackungsrundschau.de/englisch/f_start.html). Dies bestätigt die Ergebnisse sektorübergreifender Untersuchungen, wonach deutsche Wirtschaftsverbände in stärkerem Maße als ihre französischen oder britischen Korrelate „Mehrebenenspieler“ sind (Eising 2005: 329), für den Bereich der Umweltpolitik.
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
deutschen Medien die negativen Folgen einer solchen Maßnahme für die deutschen Hersteller (und die Arbeitsplätze) in den schillerndsten Farben ausmalten und sich im Januar 2007 gemeinsam mit den europäischen Vertretungen von Ford und General Motors in einem Brief an den Kommissionspräsidenten Barroso wandten, in dem verheerende Auswirkungen der geplanten Maßnahme für die europäischen Standorte und die dort angesiedelten Arbeitsplätze in Aussicht gestellt wurden (Corporate Europe 2007). Die Ursache dafür, dass hier der Europäische Verband der Automobilhersteller nicht vorrangig in Erscheinung trat, schien eine Spaltung zwischen den deutschen Herstellern, die eher Gebrauchsfahrzeuge und Luxusmodelle herstellen, und ihren südeuropäischen Konkurrenten zu sein, die die Anforderungen der Energieeffizienz eher erfüllen können (Corporate Europe 2007). Erst später im Prozess, als die Reduktionsziele bereits deutlich verwässert worden waren, trat der europäische Verband ACEA wieder in den Vordergrund. Ob die Europäisierung insgesamt zu einer Bedeutungszunahme europäischer Wirtschaftsverbände, zu einem Sich-Behaupten deutscher Wirtschaftsverbände (auch) in Brüssel oder zu einem Bedeutungsverlust der Verbände gegenüber Konzernen führt, kann im Moment nur für den Einzelfall bestimmt werden, größere Muster sind hier noch nicht klar zu erkennen. 46 Für die deutschen Wirtschaftsverbände kann man aber konstatieren, dass sie parallel zur Verfolgung von Zielen in Brüssel seit den frühen 1990er Jahre auf der nationalen Ebene europapolitische und vor allem auch europarechtliche Argumente instrumentalisieren, um nationale umweltpolitische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. 6.3 Globalisierung Die allgemein als Kern der ökonomischen Globalisierung betrachtete zunehmende internationale Beweglichkeit des Kapitals mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Handlungslogiken von Firmen betrifft die Rolle der Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik in mehrfacher Weise: Erstens lockert diese Entwicklung die Bindung der Firmen an den nationalen Produktionsstandort (Deutscher Bundestag 2002: 225; Streeck/Höpner 2003; Schneider/ Grote 2006: 8). Damit verbessert sich die Chance v. a. großer Firmen, ihre umweltpolitischen Ziele durch schon immer verwendete konfrontative Strategien, insbesondere durch das Drohen mit Produktionsverlagerungen, zu erreichen (Howlett/Ramesh 1995: 66; Peters 2002: 558 f.; Schneider/Grote 2006: 10). 47 Zweitens werden Entscheidungen über Produktion und Investition v. a. bei großen Konzernen in zunehmendem Maße von globalen Finanzmärkten und institutionellen Investoren beeinflusst und in abnehmendem Maße im nationalen Politikrahmen getroffen (Burgmer 1999: 89). Mit dieser Verlagerung von Entscheidungsprozessen, nicht nur von der nationalen auf die supranationale Ebene, sondern auch von der nationalen auf die internationale und nichtstaatliche Ebene (Burgmer 1999: 88; Jänicke/Jörgens 2004: 303), verlieren die nationalen Wirtschaftsverbände selbst an 46
47
Priddat und Speth stellen fest: „Das Thema Brüsseler Repräsentanz ist aber für viele [Unternehmen, M. B./A. E. T] nach wie vor ein ungelöstes Problem, was die Einbindung in die Unternehmensstrategie wie auch die Koordination mit den anderen Public Affairs-Büros anbelangt. Die Tendenz geht dahin, dass die Präsenz in Brüssel ausgebaut wird und man sich nicht auf die Verbände verlässt.“ (2006: 32 f.). Auch wenn die ökonomische Globalisierung dazu führen kann, dass es multinationalen Konzernen sinnvoll erscheint, global dieselben Umweltstandards zu erfüllen (Jänicke 2006: 465), müssen diese nicht unbedingt auf dem in Deutschland geltenden Niveau liegen.
IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
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Bedeutung (Schneider/Grote 2006: 8) und der Nationalstaat als handlungsfähiges Gegenüber wird tendenziell geschwächt (vgl. Jänicke 2006: 461). Während sich Wirtschaftsinteressen durchaus auch international organisieren, wird auf der Ebene staatlicher Akteure diese Entwicklung nicht durch die Ko-Evolution eines vergleichbar handlungsfähigen staatlichen Apparates begleitet; es entsteht auch in der Umweltpolitik ein „politisches Vakuum“ (Schneider/Grote 2006: 11). Drittens führt die ökonomische Globalisierung zu einer zunehmenden Heterogenität der Interessen von Firmen etwa innerhalb einer Branche, weil die größeren Märkte mehr Raum für Spezialisierung lassen und die Bandbreite der ökonomischen Integration naturgemäß zunimmt (Schneider/Grote 2006: 7; Streeck/Visser 2006: 248). Dies haben Grote und Schneider anhand der chemischen Industrie gezeigt, die angesichts der Expansion der Biotechnologie und der pharmazeutischen Industrie unter einem Verfall der Branchenidentität leidet (Grote/Schneider 2006: 122). Viertens schließlich führt die verstärkte Orientierung der Firmen am Shareholder Value zu einer tendenziellen Vernachlässigung von längerfristigen, gesellschaftlichen Aufgaben (Burgmer 1999: 19, 84), zu denen der Umweltschutz an vorderster Stelle gehört. Fünftens haben sich jedenfalls in weltweit tätigen Konzernen die Mechanismen der politischen Einflussnahme globalisiert, was die Rolle von Verbänden zugunsten von Konzernen und Public-Affairs-Agenturen schwächen dürfte, wie Priddat und Speth zeigen (2006: 25). Andererseits ist die Wirtschaft gerade im internationalen Kontext mit handlungsfähigen Umweltaktivisten konfrontiert, wie das Beispiel Greenpeace eindrucksvoll deutlich macht. Die Entwicklung des Responsible-Care-Programms durch die chemische Industrie als weltweit angelegtes Programm (s. o.) kann als eine Reaktion auf die Organisation und Strategien dieses internationalen Widersachers interpretiert werden (Kohler-Koch 2000: 135). 7
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Während die klassische, praxisinspirierte Einführung in die Umweltpolitik von Hartkopf und Bohne aus dem Jahre 1983 noch formuliert, „Industrieverbände und Unternehmen sind naturgemäß die Gegenspieler der Bundesregierung in der Umweltpolitik“ (Hartkopf/Bohne 1983: 159), hat spätestens die Diskussion über den „kooperativen Staat“ (Ritter 1990), der in der Umweltpolitik als besonders ausgeprägt gilt (Kneer 2003; Hansjürgens/Köck 2003), die Aufmerksamkeit auf die Kooperationspartner dieses kooperativen Staates gelenkt: die Wirtschaftsverbände. Damit wurde die zuvorderst konfliktorientierte Sichtweise in der Umweltpolitik jedenfalls teilweise revidiert. Über Phasen der eher kooperativen Umgangsweise zwischen Wirtschaftsverbänden und Staat und solche der Konfrontation hinweg ist das Verhältnis heute eher auf Kooperation als auf Konfrontation ausgerichtet, wobei für die konkrete Ausprägung die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung durchaus einen Unterschied macht (Kern/Koenen/Loeffelsend 2003; Mez 2004; Töller 2008c). Jenseits politisch prioritärer Themen bleibt das Verhältnis zwischen Wirtschaftsverbänden und Staat in der Umweltpolitik nach wie vor durch eine große Vielfalt der Handlungsformen und der Positionen geprägt. Es ist aber gerade in den vergangenen 20 Jahren durch die Europäisierung und Globalisierung weitreichenden Veränderungen unterworfen, deren Ausgang noch ungewiss erscheint. Die Auswirkungen der Globalisierung haben einerseits zu einem eher defensiven Verhalten der Unternehmen gegenüber gemeinwohlbezogenen Ansprüchen – darunter auch
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solchen der Umweltpolitik – geführt und damit die Politikfähigkeit der Verbände eher reduziert. Gegenläufige Tendenzen, die auch unter den Begriffen „Corporate Citizenship“ und „Corporate Social Responsibility“ diskutiert werden, finden in Deutschland insgesamt eher zögerlich Verbreitung. Eine grundsätzliche Zurückweisung umweltpolitischer Anliegen ist heute keine akzeptable Position von Wirtschaftsverbänden mehr. Das zeigt sich beispielsweise, wenn der BDI-Vorsitzende Jürgen R. Thuman in seinen Beitrag zum Geburtstagsband des BMU mit den Worten beginnt „Wie schaffen wir es, die Stärken des deutschen Umweltrechts auszubauen und die Schwächen zu beseitigen?“ (Thumann 2006: 272). Wie bereits erwähnt, sind umweltpolitische Positionen ohne Gemeinwohlbezug, und das bedeutet einen grundsätzlich positiven Bezug zum Umweltschutz, kaum noch akzeptabel. Kontrovers werden aber rivalisierende Gemeinwohldefinitionen. Nichtsdestotrotz zeigen jüngere Beispiele der Umweltpolitik, etwa die Diskussion um die ökologische Steuerreform, die Ausgestaltung des Emissionshandels oder die Gestaltung der Chemikalienpolitik, dass Wirtschaftsverbände auch im kooperativen, europäisierten und globalisierten Staat erfolgreich dazu in der Lage sind, Regelungsvorhaben in ihrem Sinne zu beeinflussen. Wirtschaftsverbände machen nach wie vor einen hohen Einfluss auf umweltpolitische Entscheidungen geltend: Die Prozesse, in denen derartige Entscheidungen getroffen werden, werden zwar zunehmend unübersichtlicher, die Einflussstrategien der Verbände jedoch gleichzeitig reicher an Varianten, Ebenen und Zielgruppen. Literatur Backhaus-Maul, Holger (2006): Gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 12/2006, S. 32í38. Bailey, Ian/Rupp, Susanne (2004): Politics, Industry and the Regulation of Industrial Greenhouse-Gas Emissions in the UK and Germany. In: European Environment, 14, S. 235í250. Bannenberg, Britta/Schaupensteiner, Wolfgang (2004): Korruption in Deutschland. Portrait einer Wachstumsbranche. München: Beck. BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) (1970): Jahresbericht 1969/70. Köln: BDI. BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) (1990): Die Zukunft unserer Umwelt. Perspektiven 2000. BDI Drucksache Nr. 230. Köln: BDI. BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) (2004): Freiwillige Vereinbarungen und Selbstverpflichtungen. Bestandsaufnahme freiwilliger Selbstverpflichtungen im Umweltschutz (Stand: Dezember 2004). Berlin: BDI. URL: http://www.bdi-online.de/sbrecherche/Dokumente/ Umweltpolitik/FWSV.pdf (zuletzt besucht am 31.3.2009). BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) (2005): Wettbewerbsfeld globaler Klimaschutz: deutsche Kompetenzen optimal nutzen. Positionspapier, Stand 25.10.2005. Berlin: BDI. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Benz, Arthur (1994): Kooperative Verwaltung: Funktionen, Voraussetzungen und Folgen. BadenBaden: Nomos Verlagsgesellschaft. Berger, Ulrike (2004): Organisierte Interessen im Gespräch. Die politische Kommunikation der Wirtschaft, Frankfurt a. M./New York: Campus. Böcher, Michael (1998): Konzepte für eine ökologische Steuerreform. Diskussionsprozeß und umweltpolitische Interessenstrukturen. Hamburg: diplomica. Böcher, Michael (1999): Ein Lehrstück. Warum die ökologische Steuerreform Fragment blieb. In: Universitas, 54, S. 792í799.
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IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
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IV.3 Wirtschaftsverbände in der Umweltpolitik
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394
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
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Arbeitgeberverbände und Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Walther Müller-Jentsch
1
Einleitung
Aus Geschichte und Gegenwart kennen wir eine Vielfalt von Unternehmerverbänden mit einem breiten Spektrum von Interessen und Verbandszielen. Gerhard Kessler (1907) unterschied in seinem historischen Abriss über die deutschen Arbeitgeberverbände vier Gruppen von Unternehmerverbänden: Verkehrsvereine, Schutzzollvereine, Kartelle und Syndikate, Arbeitgeberverbände. Er fügte hinzu: „für jeden Zweck eine neue Organisation“ (Kessler 1907: 7). Sieht man einmal vom gesetzlichen Kammersystem (Industrie- und Handelskammer, Handwerkskammer) ab, ist für die freiwillige Verbandsbildung der Unternehmen im heutigen Deutschland ein duales Organisationsprinzip charakteristisch, nämlich die Trennung der Vertretung von wirtschaftspolitischen Interessen einerseits und arbeitsmarktund sozialpolitischen Interessen andererseits. Als Grund für diese verbandliche Interessendifferenzierung wird häufig die Konkurrenzsituation der Unternehmen genannt (Streeck 1992; Müller-Jentsch 1997: 160 ff.). Der Wettbewerb auf den Produktmärkten, so die Begründung, schränke die unternehmerische Solidarität ein und lege daher eine Begrenzung der Organisationszwecke auf je spezifische Interessenausschnitte nahe – im Gegensatz zur solidarischen Organisierung von Arbeitnehmern, deren gesamtes Interessenspektrum (ökonomische, politische, soziale und kulturelle Interessen) bis in die jüngste Vergangenheit von einer Organisation, der Gewerkschaft, zumindest potentiell erfasst werden konnte. Die obige Erklärung der Begrenzung von Interessendomänen durch separate Verbandsbildung wird dadurch relativiert, dass in einer Reihe westlicher Länder die Trennung von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden nicht existiert (Traxler 2007). Auch in Ostdeutschland sind beim Aufbau von Unternehmerverbänden teilweise Gemeinschaftsverbände gegründet worden, die die Funktionen von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden unter einem Dach vereinigen (Bluhm 1996). Offensichtlich sind Prägungen in der Verbandsbildung auch stark von historischen Konstellationen abhängig, aber einmal ins Leben gerufen, folgen sie bestimmten institutionell vorgezeichneten Pfaden. 1 Für diese historische Erklärung der Trennung von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden spricht auch die Genese der separaten Organisierung von Unternehmerinteressen in der chemischen Industrie (siehe Abschnitt 2 dieses Beitrags). Die Arbeitgeberverbände der chemischen Industrie sind im bundesdeutschen Spektrum Akteure eines für den Rheinischen Kapitalismus (Albert 1992) prototypischen Sozialmodells. Die in dieser Branche von den maßgebenden kollektiven Akteuren ausgehandelte Interessenpolitik kann als paradigmatisches Muster praktizierter „Sozialpartnerschaft“ gelten. Trotz ihrer starken operativen Internationalisierung hat sich über Jahrzehnte eine „inlandszentrierte ‚Chemiepartnerschaft‘“ (Kädtler 2006: 66) herausgebildet, deren Dehnbarkeit und Anpassungsfähigkeit spätestens 1
Zum Konzept der Pfadabhängigkeit vgl. Thelen/Steinmo 1992; Thelen 1999.
396
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
seit der Jahrtausendwende durch den finanzmarktgetriebenen Globalisierungsdruck auf das Corporate Government der großen Industriekonglomerate auf die Probe gestellt wird. Als Industriezweig nimmt die stark exportorientierte chemische Industrie einen gewichtigen Platz in der deutschen Wirtschaft ein. Sie ist die viertgrößte Branche des verarbeitenden Gewerbes und erwirtschaftet rund zehn Prozent des Industrieumsatzes. Für eine kapitalintensive Branche ist der Anteil der Industriebeschäftigten eher unterdurchschnittlich; im Jahre 2007 belegte sie mit 437.000 Arbeitnehmern Platz sechs im verarbeitenden Gewerbe (VCI 2007). Sie ist seit Jahren die am stärksten internationalisierte unter den Industriebranchen; mehr als zwei Drittel ihres Gesamtumsatzes erwirtschaftet sie im Ausland (Kädtler 2006: 65). 2
Vorläuferorganisationen
Der älteste zentrale Unternehmerverband in der deutschen chemischen Industrie wurde 1877 als Wirtschaftsverband unter dem Namen „Verein zur Wahrung der Interessen der Chemischen Industrie Deutschlands“ (VCI 1952) gegründet. Erst 40 Jahre später, im Januar 1919, folgte die Gründung eines zentralen Arbeitgeberverbandes für die chemische Industrie, offenbar auf Anregung der Gewerkschaften, die an einem ebenbürtigen Verhandlungspartner interessiert waren. 2 Trotz der politischen Turbulenzen der Weimarer Republik bewahrte das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften in der chemischen Industrie eine relative Stabilität. Die mit den Gewerkschaften abgeschlossenen Tarifverträge blieben über ein Jahrzehnt mit geringen Abänderungen in Kraft und im Gegensatz zur 1924 aufgelösten Zentralarbeitsgemeinschaft blieb die Reichsarbeitsgemeinschaft Chemie bis 1933 bestehen. Während des Kapp-Putsches erklärten sich die Chemiearbeitgeber in einer Erklärung der Reichsarbeitsgemeinschaft sogar solidarisch mit den in den Generalstreik getretenen Arbeitnehmern (IG CPK 1988: 299). Beide Verbände wurden unter der nationalsozialistischen Diktatur aufgelöst und nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründet. 3
Zentrale und regionale Organisationen in der chemischen Industrie
Als Wirtschaftsverband nimmt der „Verband der Chemischen Industrie e. V.“ (VCI) die wirtschaftspolitischen Interessen seiner Mitgliedsunternehmen wahr, während der „Bundesarbeitgeberverband Chemie e. V.“ (BAVC) als Arbeitgeberverband die tarif- und sozialpolitischen Interessen vorrangig gegenüber den Gewerkschaften vertritt. Diskussionen über eine Zusammenlegung beider Chemieverbände, vom vormaligen BAVC-Präsidenten (1996/97) Ludwig Georg Braun angestoßen, führten zu keinem Ergebnis. Als Haupthindernisse einer Verbandsfusion werden die unterschiedlichen Mitgliederstrukturen und die differierenden Organisationsprinzipien – der BAVC ist föderal, der VCI zentral aufgebaut – angesehen. 3 Es existiert freilich ein Kontaktausschuss zwischen VCI 2
3
30 Jahre früher hatten umgekehrt die Metallarbeitgeber mit der Gründung ihres Gesamtverbandes deutscher Metallindustrieller (GDM) im März 1890 den letzten Anstoß für den Zusammenschluss der Berufsgewerkschaften im Metallgewerbe zum Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV) im Juni 1891 gegeben (Knips 1996: 292). Interview mit BAVC-Vertreter vom 03.11.2005. Zur Illustration: In Rheinland-Pfalz zählt der Arbeitgeberverband 131 Mitgliedsunternehmen mit 64.000 Beschäftigten, der Wirtschaftsverband nur 98 Mitgliedsunternehmen mit 53.350 Beschäftigten (http://www.chemie-rp.de/verbandszahlen.php, Stand: 31.12.2008).
IV.4 Arbeitgeberverbände und Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie
397
und BAVC, der insbesondere tarifpolitische Fragen erörtert, und in den Landesverbänden bestehen häufig Personalunionen von Vorständen und Geschäftsführern beider Verbände. Der BAVC wurde 1949 als Arbeitsring der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie e. V. gegründet; sein Sitz ist Wiesbaden. Als Spitzenverband mit zehn Mitglieds- bzw. Landesverbänden organisiert er insgesamt 1.900 Unternehmen, in denen knapp 550.000 Beschäftigte tätig sind. Dies entspricht einem Organisationsgrad von 90 Prozent der Unternehmen mit 95 Prozent der Beschäftigten in der chemischen Industrie. 4 Auf europäischer Ebene sind die deutschen Zentralverbände der Chemieunternehmer wiederum in zwei separaten supranationalen Vereinigungen organisiert: Der BAVC ist Mitgliedsverband der European Chemical Employers Group (ECEG), während der VCI dem europäischen Industrieverband Conseil Européen des Fédérations de l’Industrie Chimique (CEFIC) angehört. Als Verbandszweck des BAVC nennt die Satzung (§ 2):
die gemeinsame Erörterung von und Stellungnahme zu sozialpolitischen und sozialrechtlichen Fragen von grundsätzlicher und übergeordneter Bedeutung, um ein einheitliches Vorgehen zu sichern und nach außen zu bekunden und zu verbreiten; den Abschluss von Tarifverträgen mit Wirkung für diejenigen Mitgliedsverbände, die ihm dazu im Einzelfall eine besondere Vollmacht erteilt haben oder die dem Tarifvertrag nachträglich beitreten; die Festlegung von Grundsätzen für die tarifpolitische Koordinierung.
Satzungsgemäß ist der BAVC, der die übergeordneten tarif- und sozialpolitischen Interessen der selbständigen regionalen Arbeitgeberorganisationen wahrnimmt, föderalistisch aufgebaut. Die zehn Mitglieds- bzw. Landesverbände sind die folgenden:
AGV Chemie Baden-Württemberg Verein der Bayerischen Chemischen Industrie AGV Chemie und verwandte Industrien für das Land Hessen AGV für die Chemische Industrie in Norddeutschland AGV Nordostchemie Landesausschuss der Arbeitgeberverbände der Chemischen Industrie von NordrheinWestfalen AGV Chemie Rheinland-Pfalz AGV der Chemischen Industrie Saarland AGV der chemischen Industrie im Unterwesergebiet Landesausschuss der Arbeitgeberverbände der chemischen Industrie in Westfalen
4
Mitgliederstruktur
Die im Verband zusammengeschlossenen Unternehmen gliedern sich nach Betriebsgröße und Branchenstruktur wie folgt: 4
Schriftliche Auskunft des BAVC vom 17.4.2009.
398 Tabelle 1:
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln Mitgliedsunternehmen nach Betriebsgröße, 2008
Bis 100 Beschäftigte 101 bis 500 Beschäftigte 501 bis 1.000 Beschäftigte Über 1.000 Beschäftigte
Unternehmen
Beschäftigte
44 % 40 % 9% 7%
5% 26 % 18 % 51 %
Quelle: BAVC (2008).
Von den großen deutschen Industrieunternehmen gehörten 2006 die folgenden Chemieunternehmen zur Mitgliederdomäne des BAVC (VCI 2007): Bayer (106.000 Beschäftigte), Fresenius (105.000), BASF (95.000), Linde (55.000), Henkel (52.000), Boehringer Ingelheim (38.000), Degussa (35.000), Merck (30.000), Beiersdorf (17.000) und Lanxess (17.000). Tabelle 2: Mitgliedsunternehmen nach Branchenstruktur, 2005/2008 Unternehmen* Chemische Industrie Kunststoffverarbeitung Gummi- und Kautschukindustrie Mineralölverarbeitung Dienstleistungen und Sonstige (NE-Metalle, Aluminium, Glas, Keramik, chemische Dienstleistungen)
Beschäftigte**
65 % 9% 4% 3%
76,1 % 5,9 % 3,7 % 2,5 %
19 %
11,8 %
Quelle: BAVC; * 2008; ** 2005.
Mit 90 Prozent aller Chemieunternehmen, die rund 95 Prozent aller Arbeitnehmer der chemischen Industrie beschäftigen, verfügt der BAVC über einen außerordentlich hohen Organisationsgrad. Seinem Selbstverständnis nach handelt es sich um einen durch mittelständische Unternehmen geprägter Verband; dafür spricht auch die Tatsache, dass die Betriebsgröße bei 84 Prozent aller Mitgliedsunternehmen unter 500 Beschäftigten liegt. Freilich ist es für die global agierende Großchemie von Vorteil, wenn sie mit den eher binnenmarktorientierten mittelständischen Unternehmen gemeinsame Tarifverträge aushandelt, weil deren geringere Erträge ein starkes Argument für lohnpolitische Mäßigung sind. Jedenfalls legt der Verband Wert darauf, dass die mittelständischen Unternehmen in den Leitungs- und Koordinierungsgremien hinreichend vertreten sind. Die Zusammensetzung des derzeit amtierenden Vorstands zeigt, dass in führenden Positionen neben den großen Konzernen auch Mittelständler vertreten sind (vgl. Tabelle 3). Die jeweiligen Präsidenten beider Zentralverbände sind nichtsdestoweniger Vertreter der Großchemie: Derzeitiger VCI-Präsident ist Professor Ulrich Lehner, ein Mitglied des Gesellschafterausschusses der Henkel AG & Co. KGaA, Nachfolger von Werner Wenning (Vorstandsvorsitzender der Bayer AG), und derzeitiger BAVC-Präsident ist Eggert Voscherau (stellvertretender Vorstandsvorsitzender und Arbeitsdirektor der BASF). Auch in der Vergangenheit saßen immer Führungskräfte der großen Konzerne in den Vorständen der zentralen und regionalen Verbände.
IV.4 Arbeitgeberverbände und Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie
399
Tabelle 3: Zusammensetzung des Vorstands des BAVC, 2008 Präsident Eggert Voscherau, Stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes und Arbeitsdirektor der BASF SE Ludwigshafen Stellvertretende Vorsitzende Jan H. Peters, Leiter Corporate Human Resources Deutschland Bayer AG Leverkusen Peter Schiller, Geschäftsführer und Arbeitsdirektor der Roche Diagnostics GmbH Mannheim Vorstandsmitglieder Hartmut G. Erlinghagen, Mitglied des Management Board und Leiter Zentralbereich Administration der Merz GmbH & Co KGaA Frankfurt am Main Albert Franz, Geschäftsführer der Mainsite GmbH & Co. KG Obernburg Hans Paul Frey, Hauptgeschäftsführer Bundesarbeitgeberverband Chemie e. V. Wiesbaden Klaus Henlein, Geschäftsführer Fuchs Lubritech GmbH Weilerbach Dr. Andreas Hungeling, Geschäftsführer der PCK Raffinerie GmbH Schwedt/Uckermark Willibrord Lampen, Geschäftsführer und Arbeitsdirektor der Consumer Chemicals in Evonik Industries Essen Rainer Tschersig, Geschäftsführer der Hans Schwarzkopf & Henkel GmbH & Co. KG Hamburg Heinz-Gerhard Wente, Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Continental AG Hannover
Fünf Jahrzehnte lang fungierten die „großen Drei“ – Bayer, BASF und Hoechst – „als organisierendes und vereinheitlichendes Zentrum der industriellen Beziehungen in der chemischen Industrie“ (Kädtler 2006: 254). Nach der Zerlegung von Hoechst und der Konzernaufspaltung von Bayer hat allein BASF seine Position behaupten können. 5
Organisationsaufbau
Dachverband und Landesverbände haben zur Durchsetzung ihrer Interessen eine Reihe inner- und zwischenverbandlicher Gremien und Organe geschaffen, deren Funktion und Struktur im Folgenden dargestellt werden soll. 5.1 Dachverband Die Mitgliederversammlung setzt sich aus Vertretern der regionalen Mitgliedsverbände zusammen und wird mindestens einmal im Jahr zusammengerufen. Zu ihren Aufgaben zäh-
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
len u. a. die Beschlussfassung über Satzungsänderungen (mit Zweidrittelmehrheit), die Genehmigung des Haushaltsplans, die Festsetzung der Mitgliedsbeiträge sowie die Entlastung des Vorstandes und anderer Organe. Je 50 Mio. Euro der der Berufsgenossenschaft gemeldeten Lohn- und Gehaltssumme in einem Mitgliedsverband berechtigen zur Abgabe einer Stimme. Der Mitgliederrat ist für alle Angelegenheiten des BAVC zuständig, soweit sie nicht in die Kompetenz der Mitgliederversammlung fallen. Eine seiner wichtigsten Aufgaben besteht in der Wahl des Präsidenten und des Vorstandes. Er besteht aus etwa 25 Vertretern der einzelnen Mitgliedsverbände, wobei wiederum die Lohn- und Gehaltssumme über den Anteil der Vertreter entscheidet. Sitzungen des Mitgliederrates leitet der Präsident. Der Vorstand besteht aus dem Präsidenten als dem Vorsitzenden, zwei stellvertretenden Vorsitzenden sowie bis zu zehn weiteren Mitgliedern. Er leitet den BAVC und kann in dringenden Fällen auch Entscheidungen treffen, die ansonsten in die Kompetenz von Mitgliederrat und Mitgliederversammlung fallen. Für die laufenden Verbandsgeschäfte ist die Geschäftsführung unter Leitung eines Hauptgeschäftsführers zuständig. Sie ist mit zwölf akademischen Mitarbeitern, vorwiegend Juristen, sowie zwölf weiteren Beschäftigten besetzt. Die Geschäftsführung wird vom Vorstand berufen, der durch Dienstanweisung ihre Aufgaben im Einzelnen regelt. Dem Hauptgeschäftsführer (derzeit Hans Paul Frey) unterstehen fünf Geschäftsführer. Deren Ressorts umfassen: (a) Tarifpolitik, Sozialer Dialog und Arbeitsrecht; (b) Bildung, Wirtschaft und Arbeitsmarkt; (c) Sozialpolitik, Altersvorsorge und Arbeitsschutz; (d) Europa und internationale Sozialpolitik; (e) Presse und Öffentlichkeit. Neben diesen originär satzungsmäßigen Organen existiert mit dem sogenannten Koordinierungsrat ein weiteres Gremium, das für die Tarifpolitik der Arbeitgeber von größter Bedeutung ist. Er hat seine rechtliche Basis in den von der Mitgliederversammlung beschlossenen „Grundsätzen für die tarifpolitische Koordinierung“ (letzte Fassung vom 15. Mai 1998), die Bestandteil der Satzung sind. Der Koordinierungsrat fungiert als ein Ausschuss des Mitgliederrats. Jeder Mitgliedsverband entsendet einen Vertreter (sowie ein oder zwei ständige Stellvertreter), die jedoch über so viele Stimmen verfügen, wie der von ihnen vertretene Verband Mitglieder im Mitgliederrat hat. Die Vorstandsmitglieder des BAVC nehmen mit beratender Stimme an den Sitzungen teil, die vom Präsidenten geleitet werden. (Zu weiteren Details der Aufgaben siehe Abschnitt 6 dieses Beitrags.) Besondere Ausschüsse bestehen für:
Volkswirtschaft und Sozialstatistik Informations- und Öffentlichkeitsarbeit soziale Sicherheit Berufsbildung
Daneben existieren zahlreiche Arbeitskreise und Projektgruppen. 5.2 Regional- und Landesverbände Für die regionalen Arbeitgeberverbände ist das föderale Prinzip charakteristisch; ihm verdankt sich der Fachterminus Verbändeverband. In den meisten Bundesländern organisieren
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sich die Chemieunternehmen in landesweiten Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden, in einigen Ländern ist die Verbändelandschaft aufgesplitterter. So gehören dem Landesausschuss der Arbeitgeberverbände der Chemischen Industrie von Nordrhein-Westfalen wiederum fünf regionale Arbeitgeberverbände – Aachen, Niederrhein (früher Köln und Düsseldorf), Essen, Krefeld und Wuppertal – mit insgesamt 350 Mitgliedsunternehmen an. Nicht genug damit gibt es einen weiteren Landesausschuss der Arbeitgeberverbände der chemischen Industrie in Westfalen, der wiederum zwei eigenständige westfälisch(-lippische) Arbeitgeberverbände mit Sitzen in Bochum (für die Regierungsbezirke Münster und Arnsberg) und in Paderborn (für den Regierungsbezirk Detmold), mit insgesamt weiteren 130 Mitgliedsunternehmen zusammenfasst. Tarifverträge werden jeweils von den Landesausschüssen für den Tarifbezirk Nordrhein einerseits und den Tarifbezirk Westfalen andererseits ausgehandelt und abgeschlossen. Der Organisationsaufbau der Landes- und Regionalverbände entspricht in groben Zügen dem des Zentralverbandes, mit der charakteristischen Ausnahme, dass in den Mitgliederversammlungen die Stimmengewichtung unüblich ist; jede Firma hat grundsätzlich nur eine Stimme. Abweichend davon regelt die Satzung des Arbeitgeberverbandes Rheinland: „Jedes Mitglied hat eine Stimme. Im übrigen gewährt jedes angefangene 200 der am 1. Januar eines jeden Jahres Beschäftigten eine weitere Stimme (…). Kein Mitglied kann mehr als 5 % der in der Mitgliederversammlung vertretenen Stimmen abgeben.“5
6
Tarifpolitischer Prozess
Formal sind die Tarifträgerverbände auf Arbeitgeberseite die Landesverbände. Nur in ihrem Auftrag kann der BAVC auch Tarifverhandlungen führen und Tarifverträge abschließen. Eine außerordentlich wichtige tarifpolitische Aufgabe des BAVC ist indessen die Koordinierung der Tarifpolitik. Sie ermöglicht die zentrale Abstimmung innerhalb des Verbandes. Tarifpartner der Chemie-Arbeitgeber sind
die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) [Nachfolgeorganisation der IG Chemie-Papier-Keramik (IG CPK)] mit Sitz in Hannover und der Verband angestellter Akademiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie (VAA) mit Sitz in Köln.
Tarifverträge werden auf Landes-/Regionalebene und Bundesebene abgeschlossen. Während die reinen Entgelttarifverträge noch formal auf Landesebene abgeschlossen werden, haben die Manteltarifverträge schon seit 1953 einen bundesweiten Geltungsbereich. Auch die Regelung anderer Tarifmaterien hat der zentrale Arbeitgeberverband seit den 1960er Jahren durch die sukzessive Verlagerung der tarifpolitischen Kompetenzen immer stärker an sich gezogen. Für den tarifpolitischen Prozess sind der zentrale Koordinierungsrat, die zentrale Tarifkommission sowie die regionalen Tarifkommissionen auf Landesebene die politisch relevanten Gremien. 5
Satzung des Arbeitgeberverbandes Chemie Rheinland e. V. in der Fassung vom 19.8.2005, § 8, Zif. 6.
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Eine einflussreiche Stellung im tarifpolitischen Prozess nimmt der Koordinierungsrat ein (vgl. auch Abschnitt 5 dieses Beitrags). Er verfügt über eine Reihe von Rechten, die in den „Grundsätzen für die tarifpolitische Koordinierung“ als Satzungsbestandteil festgelegt wurden. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehört die Festlegung der „Richtlinien für die Tarifverhandlungen“, die für alle Mitgliedsverbände verbindlich sind, wenn sie mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen werden. Überdies hat jeder Mitgliedsverband dem Koordinierungsrat unverzüglich die Kündigung von Tarifverträgen und die von den Gewerkschaften erhobenen Forderungen sowie die Termine der Tarifverhandlungen anzuzeigen. Die in Tarifverhandlungen involvierten Mitgliedsverbände haben alle erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen, laufend über Stand und Ergebnis der Tarifverhandlungen zu informieren und zu allen Arbeitgeberbesprechungen einen vom Vorstand bestimmten Vertreter zuzulassen, der sie berät und auf die Einhaltung der für die Tarifverhandlungen festgelegten Richtlinien hinwirkt. Im Falle einer schwierigen Tarifeinigung mit den Gewerkschaften im Rahmen der verbindlichen Richtlinien hat der betreffende Mitgliedsverband dem Koordinierungsrat Gelegenheit zu geben, mit ihm die tarifpolitische Situation zu erörtern. Danach kann der Koordinierungsrat mit einfacher Mehrheit den Mitgliedsverband von seiner Verpflichtung zur Einhaltung der Richtlinien ganz oder teilweise befreien. Bei dieser Abstimmung hat jeder Vertreter eines Mitgliedsverbandes jeweils eine Stimme. Wie weitreichend die Koordinierungsrichtlinien sind, zeigt sich auch daran, dass die Gewährung übertariflicher Vergünstigungen und die Informationspolitik der Betriebe ebenfalls der Koordinationsverpflichtung unterliegen. So verpflichten sich die Mitgliedsverbände, auf die Mitgliedsfirmen dahingehend einzuwirken, dass sie vor der Gewährung übertariflicher Vergünstigungen von grundsätzlicher tarifpolitischer Bedeutung die Organe ihres Mitgliedsverbandes hören, welche sie davon abzuhalten suchen, „wenn sie [die Vergünstigungen] von tarifpolitisch präjudizierender Bedeutung sein können“. Gleiches gilt für Veröffentlichungen der Mitgliedsfirmen. Der zentralen Tarifkommission gehören 43 Mitglieder an (Vertreter der Unternehmen und Hauptgeschäftsführer der Mitgliedsverbände). Sie werden auf Vorschlag der Mitgliedsverbände vom BAVC ernannt. Die Mitgliedschaft im Koordinierungsrat und der zentralen Tarifkommission wird von vielen in Personalunion wahrgenommen. Dass die Koordinierung der Tarifpolitik, wie sie heute betrieben wird, ein Euphemismus für eine faktische Zentralisierung ist, bringt der langjährige Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Karl Molitor in einem Interview klar zu Ausdruck: „Mein erstes Jahrzehnt als Geschäftsführer galt eigentlich der Koordinierung. Da haben wir die Koordinierung beschlossen. So streng, wie sie wohl kein anderer Verband hat, das heißt, es gibt heute keine regionalen Verhandlungen mehr, ohne dass der Koordinierungsrat oder welche zentralen Gremien auch immer auf unserer Seite eingeschaltet werden und Vertreter anwesend sind und Ja und Nein sagen.“ (K. Molitor im Gespräch mit Hertle/Kädtler/Pirker 1990: 12).
Der tarifpolitische Prozess auf der Arbeitgeberseite lässt sich grob in drei Phasen einteilen: Vordiskussion, Reaktion auf die gewerkschaftlichen Forderungen (denen gewöhnlich eine Empfehlung des Hauptvorstandes an die Bezirke zugrunde liegt) und die eigentlichen Verhandlungen. Wird regional verhandelt, wählen die Tarifparteien als Pilotbezirk entweder Nordrhein, Rheinland-Pfalz oder Hessen. Deren Tarifverträge laufen einen Monat früher aus als die der anderen Tarifgebiete. Einen weiteren Monat nach diesen folgen das Saarland und
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der Osten Deutschlands. Im zeitlichen Verlauf einer Tarifbewegung wächst der Einfluss, den die Gremien des Dachverbandes auf den Willensbildungsprozess nehmen. Handelt es sich nicht von vornherein um Materien, die ohnehin durch bundeseinheitliche Verträge geregelt werden, dann beginnt die erste Verhandlungsrunde auf regionaler Ebene, während die zweite und dritte gewöhnlich auf Bundesebene stattfinden. Zur Regelung von Tarifstreitigkeiten haben die Tarifparteien bereits 1953 ein Schlichtungsverfahren vereinbart; die derzeit gültige Schlichtungsvereinbarung stammt aus dem Jahre 1976. Sie sieht die paritätische Besetzung der Schlichtungsstelle durch die beiden Parteien vor – unter Verzicht auf einen externen unparteiischen Vorsitzenden, wie er vielfach in Schlichtungsvereinbarungen anderer Wirtschaftssektoren, z. B. der Metall- und Elektroindustrie, üblich ist. Arbeitgeberverband und Gewerkschaft benennen jeweils drei Vertreter, bei regionalen Streitigkeiten von beiden Seiten einen Vertreter aus dem betroffenen Tarifbezirk. Es gibt nur eine Schlichtungsinstanz, deren mehrheitlich oder einstimmig gefasste Beschlüsse bindend sind. Als „prozedurale Selbstbindung“ (Keller 2008: 182) sollen Schlichtungsverfahren die Streikschwelle erhöhen. Gleichwohl mussten die Tarifparteien der chemischen Industrie seit Inkrafttreten der Schlichtungsvereinbarung von 1976 diese bisher nicht bemühen, weil alle Tarifergebnisse in freien Verhandlungen erzielt wurden (Förster 2009: 158). 7
Grundzüge der Verbandspolitik
Die chemische Industrie nimmt in der sozial- und tarifpolitischen Landschaft der Bundesrepublik eine Sonderstellung ein, die der BAVC mit dem Begriff „Bauwerk der ChemieSozialpartnerschaft“ selbstbewusst zum Ausdruck bringt. Seine Architekten waren Karl Molitor, 1960í1995 Hauptgeschäftsführer des zentralen Arbeitgeberverbandes, und Hermann Rappe, 1982í1995 Erster Vorsitzender der IG Chemie-Papier-Keramik. Allerdings hatten sie Vorläufer. Bereits seit der Neugründung des Arbeitgeberverbandes nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich führende Manager der chemischen Industrie um die Verbreitung einer die Interessengegensätze harmonisierenden Ideologie, indem sie sich in der Initiative „Die Waage“ (1951í1965) engagierten. Erster Geschäftsführer dieser zur Popularisierung von Ludwig Erhards „Sozialer Marktwirtschaft“ gegründeten Initiative war Franz Greiß (zugleich Gründungsvorsitzender des Bundes Katholischer Unternehmer und von 1949 bis 1951 Präsident des „Arbeitsrings“). Mithilfe von Demoskopie und PRDiensten organisierte die „Waage“ Werbekampagnen, um auf die Bevölkerung einzuwirken. Eine weitere Zielgruppe waren die Wirtschaftsführer der alten Ruhrindustrien, die sie für ein neues Wirtschaftsverständnis gewinnen wollte. „Insbesondere die Manager der Chemie-Industrie als einer stets von Innovationen lebenden und exportierenden Branche hatten die Zeichen der Zeit erkannt: Zukunft versprach nur das von Amerika transferierte Wirtschaftsmodell, in seiner deutschen Variante der sozialen Marktwirtschaft. (…) Movens Agere der Vereinsgründung [war,] Mittler zu sein in dem sich etablierenden Wechselspiel der Kräfte zwischen Industrie, Gewerkschaften und Staat, deren jeweilige Vertreter (…) durch werbende Überzeugung gewonnen werden mussten.“ (Schindelbeck/Ilgen 1999: S. 67).6 6
Im Oktober 2000 wurde mit der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ gewissermaßen eine Neuauflage ins Leben gerufen; ihr Geldgeber ist der Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Obwohl sie die direkte Ausein-
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7.1 Sozialpartner-Vereinbarungen Auffälligste Besonderheit der Chemie-Sozialpartnerschaft sind die „SozialpartnerVereinbarungen“. Dem Selbstverständnis der Tarifparteien zufolge handelt es sich bei den Sozialpartner-Vereinbarungen um Übereinstimmungen und Rahmenvereinbarungen mit einem außertariflichen Status. Während Tarifverträge rechtsverbindliche, zeitlich befristete Festschreibungen von Interessenkompromissen darstellen, beruhen Sozialpartner-Vereinbarungen auf der „Formulierung gemeinsamer Positionen zu bestimmten Fragen bzw. der Institutionalisierung themenbezogener Kooperationen, die keine der beiden Parteien rechtlich binden“ (Kädtler/Hertle 1997: 170). Bis Oktober 2007 hat der BAVC 40 außertarifliche Vereinbarungen mit den beiden Gewerkschaften – oft mit beiden gemeinsam, manchmal aber auch nur mit einer der beiden – abgeschlossen (BAVC 2007). So wurden beispielsweise die Vereinbarungen über Führungskräfte nur mit der VAA, die Vereinbarungen über Gruppenarbeit und Vertrauensleute nur mit der IG CPK bzw. IG BCE getroffen. Eine bedeutsame 41. Vereinbarung – „Verantwortliches Handeln in der Sozialen Marktwirtschaft“ – wurde am 14. August 2008 zwischen BAVC und IG BCE abgeschlossen. Auf einem gemeinsamen Internetportal „Chemie-Sozialpartner“ (http://www.chemiesozialpartner.de) sind die zwischen BAVC und der IG BCE getroffenen Vereinbarungen nach 15 Kategorien gruppiert: Altersschutz, Arbeitsschutz, Berufsbildung, Chancengleichheit, demografischer Wandel, Drogen, europäischer Sozialpartner-Dialog, gesamtdeutsche Entwicklung, Gruppenarbeit, Medien, soziale Marktwirtschaft, Standortsicherung und Beschäftigungsförderung, Umweltschutz – Responsible Care, Vertrauensleute, Weiterbildung und Schule. Herausgreifen wollen wir hier zunächst die Themen:
Berufsbildung, Weiterbildung demografischer Wandel Chancengleichheit Umweltschutz soziale Marktwirtschaft
Andere (wie Gruppenarbeit, Standortsicherung, Vertrauensleute, europäischer Sozialpartner-Dialog) werden unter den entsprechenden Schwerpunkten der Verbandspolitik (Abschnitte 7.2–7.5 dieses Beitrags) abgehandelt. 7.1.1 Berufsbildung, Weiterbildung Durch eine Grundsatzvereinbarung von 1987 rief der BAVC mit der IG Chemie-PapierKeramik einen paritätisch besetzten Chemie-Berufsbildungsrat ins Leben, der mindestens einmal jährlich tagt. Zu seinen Aufgaben gehören die Erarbeitung bildungspolitischer Zielvorstellungen, Empfehlungen zur Förderung der Berufsbildung sowie die Neu- und Weiterentwicklung von Aus- und Fortbildungsordnungen. Des Weiteren haben die Sozialpartner andersetzung mit den Gewerkschaften vermeidet, sind die wirtschaftsliberalen Positionen, für die sie wirbt, gegen die Gewerkschaften gerichtet (vgl. Speth 2004).
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1993 eine gemeinsame Stiftung zur Förderung der Weiterbildung gegründet, deren Stiftungskapital (acht Mio. DM) von beiden Seiten aufgebracht wurde und deren Organe (Vorstand und Beirat) von beiden Stiftern paritätisch besetzt werden. Ihre Aufgaben sind u. a.: die Entwicklung von Weiterbildungskonzepten und -programmen, die Erstellung von Unterrichtsmaterialien, die Entwicklung beruflicher Fortbildungsmodelle sowie die Beratung von Unternehmen und Betriebsräten. 7.1.2 Chancengleichheit Zur Frauenförderung haben die Sozialpartner 1989 gemeinsame Grundsätze erarbeitet, die den Charakter von Empfehlungen an die Unternehmen haben. Hervorgehoben wird dabei „Chancengleichheit statt Quoten“. Zu den wichtigsten Grundsätzen zählen: die aktive Einbeziehung von Frauen in Qualifizierungs-, Personalentwicklungs- und Fortbildungsmaßnahmen; die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familienbetreuung u. a. durch eine flexible Gestaltung der Arbeitszeiten und die Ermöglichung der Rückkehr ins Berufsleben. Statt der Bestellung von „sogenannten Frauenbeauftragten“ wird die Einrichtung von betrieblichen Arbeitskreisen „Frauenförderung“ bzw. „Chancengleichheit“ empfohlen. Als besonders wichtig wird die Mitwirkung der Betriebsräte und betrieblichen Führungskräfte hervorgehoben. 7.1.3 Demografischer Wandel Zu den Gesichtspunkten des lebenslangen Lernens und der demografischen Herausforderung haben BAVC und IG BCE im März 2006 in einem gemeinsamen Positionspapier vereinbart, „Zeitwertkonten“ für neue Gestaltungsmöglichkeiten, insbesondere für Qualifizierungszwecke („lebenslanges Lernen“), zu nutzen und Modelle für eine aufgrund der demografischen Entwicklung verlängerte Lebensarbeitszeit anzubieten. So können Arbeitnehmer während ihres aktiven Berufslebens auf einem Zeitwertkonto ein Guthaben ansparen, das beim (teilweisen) Ausscheiden aus dem Berufsleben zur Finanzierung bezahlter Freistellung herangezogen wird und so im Alter einen vorgezogenen Ruhestand bei Fortzahlung der Bezüge ermöglicht. Im Jahre 2008 schlossen die Sozialpartner einen Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ ab, der unter anderem eine betriebliche Qualifizierungsplanung und Qualifizierungsmaßnahmen, die Einrichtung von Langzeitkonten und die Bildung eines Demografiefonds (jährlich 300 Euro pro Arbeitnehmer) vorsieht. Auf der Basis einer Betriebsvereinbarung können Mittel aus diesem zur Unterstützung von Altersteilzeit und Teilrenten und für die tarifliche Altersvorsorge verwendet werden. 7.1.4 Umweltschutz In der chemischen Industrie hat der Umweltschutz eine eminente Bedeutung. Rechnung tragen dem allein vier Vereinbarungen der Sozialpartner. Die Umweltschutzübereinkunft von 1987 thematisiert nicht nur die Intensivierung der Altstoffüberprüfung durch ein besonderes Kuratorium, sondern auch die verstärkte Information der Betriebsräte und enge
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Kooperation mit der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie. Im gleichen Jahr unterzeichneten der BAVC und die IG Chemie-Papier-Keramik einen Gesellschaftsvertrag, der zur Gründung einer Gesellschaft zur Information von Betriebsräten über Umweltschutz (GIBUCI) führte. Einer Vereinbarung vom September 2001 ist zu entnehmen, dass diese Gesellschaft bis zu diesem Zeitpunkt auf über 100 Veranstaltungen zurückblicken konnte. Mit der neuen Vereinbarung wird das Seminarangebot durch zusätzliche Schulungsveranstaltungen erweitert. Für die Teilnahme an den Seminar- und Schulungsveranstaltungen werden Betriebsräte freigestellt und die Unternehmen tragen die Kosten. Der weltweiten Initiative der chemischen Industrie zu „Responsible Care“ ist eine Vereinbarung von 1999 gewidmet. Wie bereits die Umweltschutzübereinkunft von 1987 hat sie, als dritter Partner, auch der VCI unterzeichnet. Um der Initiative zum Erfolg zu verhelfen, wollen die unterzeichnenden Verbände „bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Produktion und für kontinuierliche Verbesserungen auf den Gebieten Arbeitssicherheit, Gesundheits- und Umweltschutz gemeinsam verantwortlich handeln“ (BAVC 2007: 138). Ein gemeinsames Gremium mit je drei Vertretern soll zweimal jährlich zusammentreten, „um sich über die Umsetzung von Responsible Care zu informieren, Erfahrungen auszutauschen und eine strategische Weiterentwicklung von Responsible Care zu diskutieren“ sowie „den angemessenen Dialog mit Politik, Umwelt- und Verbraucherverbänden (…) und der Öffentlichkeit“ (ebd.: 139) zu erörtern. 7.1.5 Soziale Marktwirtschaft (Wittenberg-Prozess) In Kooperation mit dem „Wittenberg-Zentrum für globale Ethik“ erarbeiteten Vertreter des BAVC und der IG BCE in der Lutherstadt Wittenberg im Juli 2008 gemeinsame Leitlinien für „Verantwortliches Handeln in der Sozialen Marktwirtschaft“. Den nach ihrem Selbstverständnis „ersten gemeinsamen Ethik-Kodex für eine gesamte Branche“ (IG BCE/BAVC 2009: 8) stellten sie am 18. August 2008 bei einer öffentlichen Veranstaltung unter Beteiligung des Bundespräsidenten in Berlin vor. Mit dieser Selbstverpflichtung zu verantwortlichem Handeln nach ethischen Grundsätzen „wollen die Chemie-Sozialpartner ihren Beitrag leisten, Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft zurückzugewinnen“ – eine „Wirtschaftsordnung (…), die allen Vorteile bringt“ (ebd.: 7), „die beste Rahmenordnung, um Wohlstand, sozialen Frieden und die Teilhabe aller dauerhaft zu ermöglichen“ (ebd.: 69). Die gemeinsam unterzeichneten Leitlinien erstrecken sich auf fünf Themengebiete:
Soziale Marktwirtschaft braucht unternehmerischen Erfolg Responsible Care als Prinzip der chemischen Industrie in der Gesellschaft „Gute Arbeit“ und Beteiligung für alle schaffen Global Fair Humankapital und -potential besser nutzen
Die Stichworte aus diesem Ethikkanon – unternehmerischer Erfolg, humane Arbeitsbedingungen, Mitbestimmung der Arbeitnehmer, faire Regeln im weltweiten Handel, ökologische Nachhaltigkeit – mögen dem kritischen Beobachter zwar wohlfeil klingen, sie eignen sich aber zumindest als eine Appellationsinstanz, die Maßstäbe für eine immanente Kritik an auftretenden Missständen setzt.
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Die Sozialpartner-Vereinbarungen bilden gleichsam das Fundament der spezifischen Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie; sie prägten das kooperative Sozialklima zwischen den Tarifparteien entscheidend. Neben den „regelmäßigen anlassungebundenen Verbandsspitzentreffs“ (Kädtler/Hertle 1997: 172) außerhalb der Tarifverhandlungen und dem vereinten Auftreten der Sozialpartner in der Öffentlichkeit bilden gemeinsam finanzierte und verwaltete Einrichtungen (Berufsbildungsrat, Stiftung, GIBUCI) das Herzstück der Sozialpartnerschaft. Diese Praxis erinnert übrigens auch an das in der westdeutschen Bauwirtschaft während der fünfziger bis siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts von Unternehmen und Gewerkschaft gemeinsam getragene Sozialkassensystem (Müller-Jentsch 1973). Diesem gegenüber stellen sie jedoch eine qualitative Steigerung zwischenverbandlicher Kooperation dar. Obwohl der Begriff der Sozialpartnerschaft wegen Ideologieverdachts von kritischen Sozialwissenschaftlern gemieden wird (sie ziehen ihm den Terminus „Konfliktpartnerschaft“ vor), ist er hier durchaus angebracht, zumal diese Partnerschaft in der jüngsten Sozialpartner-Vereinbarung mit der gemeinsamen Verpflichtung zum verantwortlichen Handeln im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft und ihrer Weiterentwicklung gleichsam ihre Apotheose gefunden hat. 7.2 Tarifpolitik Die zum Programm erhobene enge Kooperation zwischen den Sozialparteien der chemischen Industrie wird auch durch die Tarifpolitik gestützt. Zwar war bis Mitte der 1970er Jahre das tarifpolitische Klima eher konfliktuell als kooperativ geprägt: Die Auseinandersetzungen um eine betriebsnahe Tarifpolitik, der Konflikt über betriebliche vs. gewerkschaftliche Vertrauensleute (siehe Abschnitt 7.4 dieses Beitrags) und schließlich der vierwöchige Arbeitskampf um Lohnerhöhungen im Jahre 1971 markieren einige Konfliktschwellen der Vergangenheit. Nach dem für die Gewerkschaft desaströsen Verlauf des Arbeitskampfes (Bergmann/Jacobi/Müller-Jentsch 1979: 299-309) – dem ersten seit fünfzig Jahren in der chemischen Industrie – wurde auf der Gewerkschaftsseite bewusst auf kooperative Tarifpolitik gesetzt – ein Pfadwechsel, der vom Arbeitgeberverband hinfort mit tarifpolitischen Konzessionen und der Einbeziehung der Gewerkschaften in gemeinsame industriepolitische Projekte honoriert wurde (siehe Abschnitt 7.3 dieses Beitrags). In einigen Bereichen war die chemische Industrie Pionier für neue tarifvertragliche Lösungen, z. B. durch den Abschluss eines erstmalig einheitlichen Tarifvertrags für Arbeiter und Angestellte (Bundesentgelttarifvertrag 1987). Auch die heute gewöhnlich unter den Schlagworten Flexibilisierung und Dezentralisierung subsumierten Regelungen wurden vielfach in der chemischen Industrie erstmals vereinbart. „Seit 1994 haben die Tarifvertragsparteien der Chemischen Industrie insgesamt 14 so genannte Flexi-Instrumente vereinbart. Sie betreffen die Kernelemente, die den Faktorpreis der Arbeit bestimmen, nämlich die Arbeitszeit, das Entgelt und die Qualifizierung.“ (Frey 2005). Auf dem Gebiet der Arbeitszeit wurden Arbeitszeitkorridore, Verteilzeiträume, Wochenendarbeit, der Ausgleich von Mehrarbeit durch Freizeit und Qualifizierung sowie Altersteilzeit vereinbart. Demnach kann die tarifliche Regelarbeitszeit von 37,5 Stunden für bestimmte Arbeitnehmergruppen und einzelne Betriebsteile innerhalb eines Korridors von 35 bis 40 Stunden variiert und von der regelmäßigen Arbeitszeit innerhalb eines Verteilzeitraums von zwölf Monaten (in besonderen Fällen: 36 Monaten) abgewichen werden. Mehr-
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arbeit, die innerhalb des Verteilzeitraums nicht ausgeglichen wird, kann durch Freizeit kompensiert oder auf Langzeitkonten für diverse Zwecke (z. B. freiwillige Qualifizierung, Freistellung vor der Altersrente) gutgeschrieben werden. Einen Teil der Wochenarbeitszeitverkürzung mit Weiterbildungszeiten zu verrechnen, wurde 1988 erstmals in einem Tarifvertrag zwischen der Shell AG und der IG Chemie-Papier-Keramik vereinbart. Als erste Branche hat die chemische Industrie eine tarifvertragliche Regelung vereinbart, die es älteren Arbeitnehmern über 55 Jahren ermöglicht, ihre Arbeitszeit zu halbieren. Besonders attraktiv ist das sogenannte Blockmodell, dem zufolge Arbeitnehmer in der ersten Hälfte noch voll arbeiten, in der zweiten Hälfte bei fortlaufender Bezahlung aber von der Arbeit freigestellt werden. Vereinbarungen auf dem Gebiet des Arbeitsentgelts umfassen Entgeltkorridore, abgesenkte Einstiegstarife und Variationsmöglichkeiten bei der Jahresleistung. Aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit oder der Standort- und Beschäftigungssicherung können – mit Zustimmung der Tarifparteien – für alle Beschäftigten eines Betriebs die Tarifentgelte um bis zu 10 Prozent abgesenkt werden. Um Langzeitarbeitslosen den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen, wurde für das erste Beschäftigungsjahr ein untertariflicher Einstiegslohn vereinbart, der 90 Prozent des geltenden Tarifentgelts beträgt. Die tarifliche Jahresleistung (95 Prozent des tariflichen Monatsentgelts) kann bei tiefgreifenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit Zustimmung der Tarifparteien und des Betriebsrats gekürzt, gestrichen oder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Im Hinblick auf die Tarife in Ostdeutschland einigten sich die Tarifparteien 2002 auf eine schrittweise Niveauanpassung der Tarife auf 100 Prozent des für Berlin (West) geltenden Entgelttarifs bis 2009. Eine tarifliche Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern lehnen die Chemiearbeitgeber hingegen prinzipiell ab. Vielen dieser Tarifvereinbarungen kommt eine Vorreiterfunktion zu. „In Sachen tarifpolitische Innovationen“ wollen die Chemie-Arbeitgeberverbände „die Gesamtentwicklung in Deutschland prägen – nicht aus Eitelkeit, sondern weil sie den reformierten Flächentarifvertrag für zukunftsfähig halten“ (Frey 2005: 86). In diesem Sinne gaben sie in der Rheingauer Erklärung von 1996 ein grundsätzliches Bekenntnis zum Flächentarifvertrag ab. Darin heißt es: „Es gibt keine generelle Krise des Flächentarifvertrages in Deutschland. (…) BAVC und IG Chemie haben sich als Bundestarifparteien wiederholt zum Flächentarifvertrag und seiner Weiterentwicklung bekannt. (…) Die Herausforderungen des globalen Wettbewerbs müssen am Standort Deutschland unter seinen spezifischen Bedingungen angenommen werden. Hierbei ist die Durchsetzung radikal-ökonomischer Vorstellungen unrealistisch. (…) Arbeitgeberverbände ohne Tarifbindung sind kein Modell für die chemische Industrie. Solche ‚OT-Verbände‘ sind schwache Arbeitgeberverbände und das Ergebnis verfehlter Tarifpolitik.“ (Information des BAVC vom 18.10.1996).
Auch in den letzten Jahren verteidigten führende Repräsentanten des Arbeitgeberbandes wiederholt den Flächentarifvertrag. So etwa 2004 der Vorsitzende des Landesverbandes Chemische Industrie Rheinland-Pfalz und Vorstandsmitglied des BAVC, Ulrich Pitkamin: „Unsere Flächentarife gehören nicht zum alten Eisen, sondern sind Beispiele zukunftsgerichteter Tarifpolitik.“7 Der moderne Flächentarifvertrag diene als Ordnungsinstrument. 7
Presseerklärung des Landesverbandes Chemische Industrie Rheinland-Pfalz e. V. vom 1.7.2004.
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Die darin enthaltenen Öffnungsklauseln lieferten vielfältige Instrumente zur Flexibilisierung. Die Unternehmen könnten damit angemessen auf ihre aktuelle wirtschaftliche Situation reagieren. Für den Sozialwissenschaftler Jürgen Kädtler entwickeln sich „die Flächentarifverträge immer mehr zum Rahmengerüst für Öffnungsklauseln, welche die tatsächlichen Entgeltbedingungen für Teilbranchen oder Einzelunternehmen regeln“ (Kädtler 2008: 37). Dem kritischen Befund der „Erosion des Flächentarifvertrags“ hält der Gewerkschaftsvorsitzende Hubertus Schmoldt entgegen, dass die Tariföffnung die Zustimmung der IG BCE erfordere, die an strenge Bedingungen geknüpft sei (Schmoldt 2009: 47). Die Möglichkeit einer Mitgliedschaft ohne gleichzeitige Tarifbindung (sogenannte OT-Mitgliedschaft) haben bisher nur zwei Landesverbände eingeräumt: Niedersachsen und Nordostchemie. In anderen Wirtschaftszweigen, z. B. der Metall- und Elektroindustrie, ist diese Entwicklung bereits wesentlich weiter vorangeschritten. 7.3 Industriepolitik Industriepolitik ist auf der Unternehmerseite normalerweise eine originäre Aufgabe des Wirtschaftsverbandes, hier also des VCI. Für die chemische Industrie können wir indessen die Eigentümlichkeit konstatieren, dass auch der Arbeitgeberverband, in enger Kooperation mit seinen Tarifpartnern, diesem Politikfeld erhöhte Aufmerksamkeit widmet. Im Zusammenspiel von Sozialpartner-Vereinbarungen und konsensueller Tarifpolitik gewann der BAVC seine Tarifpartner gleichsam als „Hilfstruppen“ für eine veritable Industriepolitik – „Branchenlobbyismus“ nennen es etwas despektierlich die Kritiker. Mittels Verbändekorporatismus betriebene Industriepolitik finden wir in der Frühzeit der Bundesrepublik sowohl in der Bauwirtschaft wie auch im Bergbau und in der Textilindustrie. Während diese noch weitgehend als defensive Industriepolitik (Krisenpolitik) notleidender Branchen verstanden werden konnte, haben wir es im Falle der chemischen Industrie mit einer offensiven Industriepolitik (Wachstumspolitik) in einer zukunftsorientierten Branche zu tun. Ihre Koordinaten sind Technologiepolitik und Legitimationsbeschaffung. Bedingt durch diverse Skandale und Katastrophen (Dioxinvergiftung von Seveso, Düngemittellagerbrand bei Sandoz) rückten „die chemische Industrie und ihre Produkte (…) als zweiter Hauptgefahrenherd in den Brennpunkt der zunächst mehr oder weniger ausschließlich auf die Kernkraftwerke konzentrierten Bürgerinitiativenbewegung“ (Kädtler/Hertle 1997: 182). Auch in der Gewerkschaft machte sich eine erhöhte Sensibilität bemerkbar. Viele Mitglieder realisierten, dass Schadstoffe, die die Umwelt schädigen, auch an ihren Arbeitsplätzen schädliche Folgen zeitigen könnten. Mit der Kombination von Umwelt- und Arbeitsschutz versuchten die Verbandsspitzen diesen Bedenken Rechnung zu tragen. Der BAVC erkannte den Wert der Gewerkschaft für die Legitimationsbeschaffung: Man konnte sie bei „ungerechtfertigten“ und „unsachlichen“ Angriffen zur Verteidigung der chemischen Industrie mobilisieren; denn schließlich ging es um die Arbeitsplätze ihrer Mitglieder (so K. Molitor im Gespräch mit Hertle/Kädtler/Pirker 1990: 17). Damit wurde die Grundlage für einen Verbändekorporatismus gelegt, der auf gewerkschaftlicher Seite durch die Einrichtung einer forschungspolitischen Abteilung flankiert wurde (Kädtler/ Hertle 1997: 241). Die IG Chemie-Papier-Keramik half das Branchenimage aufzubessern, etwa indem sie in der politischen Öffentlichkeit für eine vorausschauende Industrie- und Forschungs-
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politik eintrat und den mangelnden Realismus umweltpolitischer Positionen der „Grünen“ anprangerte (Kädtler/Hertle 1997: 188 f.). Dass sich die Gewerkschaften schließlich bei der Chemikaliengesetzgebung auf deutscher und europäischer Ebene stärker einmischten und eigene Positionen einbrachten, war der Preis, den der Arbeitgeberverband umso bereitwilliger zahlte, als die IG Chemie-Papier-Keramik „bei allen Beratungen und Anhörungen konsequent darauf hinwirkt(e), dass vorschnelle Verbotsanforderungen ohne ausreichend abgesicherte technische und stoffliche Alternativen nicht zum Tragen kamen“ (IG CPK 1990: 251). Im Falle der Bio- und Gentechnikpolitik fanden die Chemieverbände in der Gewerkschaft wiederum einen aktiven Mitstreiter, der nicht nur ihr „Memorandum zur Gentechnik in Deutschland“ mitunterschrieb, sondern auch öffentlichkeitswirksam für die großen Chancen dieser unverzichtbaren Zukunftstechnologie warb (Kädtler/Hertle 1997: 256 ff.). Auch auf europäischer Ebene verstanden es die supranationalen Arbeitgeberverbände (European Chemical Employers Group – ECEG) und Wirtschaftsverbände (Conseil Européen des Fédérations de l’Industrie Chimique – CEFIC) der chemischen Industrie, ihren europäischen Sozialpartner, den sektoralen europäischen Gewerkschaftsbund der Chemiearbeiter (European Mine, Chemical and Energy Workers Federation – EMCEF) für eine gemeinsame Position zur europäischen Chemikalienpolitik (REACH) zu gewinnen. In dem „Joint Statement“ von 2003 und der „Joint Position“ von 2006 (BAVC 2007: 81 ff., 98 ff.) ist viel von der Verantwortung der chemischen Industrie für Gesundheit, Sicherheit, Umwelt und nachhaltige Entwicklung die Rede, aber auch von der Vermeidung „unnötiger Bürokratie“ und „unverhältnismäßiger Hemmnisse“ bei der vorgesehenen Registrierung und Evaluierung chemischer Produkte durch eine europäische Institution. 7.4 Betriebspolitik und Mitbestimmung In Fragen der betrieblichen und Unternehmensmitbestimmung bildeten die beiden Verbände, BAVC und VCI, mit ihren Pendants aus den anderen Wirtschaftssektoren meist eine gemeinsame Front gegen die Bestrebungen der Gewerkschaften nach einer Ausweitung der Mitbestimmung. Das galt sowohl im Hinblick auf die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 1972 wie auch auf die Verabschiedung des Mitbestimmungsgesetzes von 1976. Als der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften mit Blick auf den 1965 neu gewählten Bundestag eine Mitbestimmungsoffensive starteten, um das Modell der Montanmitbestimmung auf die übrige Wirtschaft zu übertragen, entfalteten der „Arbeitsring“ und der VCI eine publizistische Kampagne, die in dem Slogan mündete, die „Montanmitbestimmung“ bilde einen begrenzten (noch verkraftbaren) „Fremdkörper“ in der freien Wirtschaftsordnung, aber mit der Verallgemeinerung von Parität und Arbeitsdirektor werde die soziale Mitbestimmung in eine sozialistische Mitbestimmung transformiert. Mit zahlreichen Druckschriften wandten sich die Chemieverbände insbesondere an die leitenden Angestellten, nachdem die Union der leitenden Angestellten (ULA) sich dafür ausgesprochen hatte, „das bisherige Übergewicht der Anteilseigner im Aufsichtsrat durch den Einbau eines dritten Faktors neben Kapital und Arbeit“ zu beseitigen (ULA-Nachrichten vom 13.9.1973) – eine vom Arbeitgeberverband als „bedenklich“ eingestufte Stellungnahme. Aber schließlich verstanden es die Chemie-Arbeitgeber (und nicht nur sie), sich mit den durch das novellierte Betriebsverfassungsgesetz von 1972 und das Mitbestimmungsge-
IV.4 Arbeitgeberverbände und Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie
411
setz von 1976 geschaffenen Gegebenheiten zu arrangieren, insbesondere nachdem ihre Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das neue Mitbestimmungsgesetz „erfolgreich“ gescheitert war; denn das Urteil des Verfassungsgerichts schrieb die Unterparität der Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat fest (damit hatten die Arbeitgeberverbände ein wesentliches Ziel erreicht) . Eine Besonderheit der chemischen Industrie ist die Institution der betrieblichen Vertrauensleute. In den größeren Betrieben wählen alle Beschäftigten Vertrauensleute, unabhängig von ihrer oder deren Gewerkschaftszugehörigkeit. Daneben existieren gewerkschaftliche Vertrauensleute, die nur von Gewerkschaftsmitgliedern gewählt werden. In der Vergangenheit hat das Nebeneinander der Vertrauensleute heftige Konflikte in der IG Chemie-Papier-Keramik ausgelöst (vgl. Kädtler/Hertle 1997: Kap. 4). Der sozial engagierte Arbeitsdirektor der Hoechst AG und zeitweilige Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes (1978í1983) Erhard Bouillon schloss 1967 mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung über betriebliche Vertrauensleute ab (Mühlbradt 1982). Damit wurde erstmals in einer schriftlichen Vereinbarung die Stellung und Aufgabe einer Institution fixiert, die im Werk Hoechst bereits seit den 1920er Jahren existierte. Im regelmäßigen Turnus von drei Jahren gewählt, sollten die Vertrauensleute die Verbindung zwischen Belegschaft und Betriebsrat einerseits und zwischen Belegschaft und Betriebsführung andererseits durch regelmäßige Gespräche herstellen. Auch in anderen großen Chemieunternehmen wurden derartige Betriebsvereinbarungen abgeschlossen. In den 1970er Jahren unternahm die Gewerkschaft mehrere Bemühungen, die betrieblichen durch gewerkschaftliche Vertrauensleute zu ersetzen. Bis dahin hatte sie jene betrieblichen Vertrauensleute, die Gewerkschaftsmitglied waren, zu gewerkschaftlichen Vertrauensleuten ernannt. Da diese aber auch von gewerkschaftlich Nichtorganisierten gewählt wurden und die gewerkschaftlichen Vertrauensleute innerverbandliche Funktionen wahrnahmen, waren die Betriebsvereinbarungen über betriebliche Vertrauensleute innerhalb der IG Chemie-Papier-Keramik lange Zeit umstritten. Auf Gewerkschaftstagen kam es zu erbitterten Auseinandersetzungen. Die Linke lehnte sie als „seismographische Frühwarnstelle“ der Arbeitgeber ab (so das Vorstandsmitglied Plumeyer) (Kädtler/Hertle 1997: 75) und kritisierte die Betriebsräte, die derartige Vereinbarungen abgeschlossen hatten. Der Beschluss, keine neuen Betriebsvereinbarungen dieser Art abzuschließen, führte zu Konflikten mit den Betriebsräten (u. a. auch bei Bayer Leverkusen). Nach langwierigen innergewerkschaftlichen Kontroversen setzte sich schließlich als Lösung die Koexistenz von betrieblichen und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten durch. In einer Erklärung des Arbeitsrings Chemie vom Oktober 1974 heißt es: „In einer Reihe von Chemieunternehmen bestehen seit langer Zeit Regelungen, die die Wahlen, die Organisation und die Aufgaben von betrieblichen Vertrauensleuten betreffen. Diese im Einvernehmen mit den jeweiligen Betriebsräten bestehenden Organisationen sind nicht als irgendwie geartete Konkurrenz der gewerkschaftlichen Vertrauensleute anzusehen. Die Erfahrungen bestätigen vielmehr, dass beide Arten von Vertrauensleuten unterschiedliche, sich nicht überschneidende Aufgaben haben, ihre Koexistenz hat sich bewährt.“ (Zitiert nach Kädtler/Hertle 1997: 77).
Aber erst Anfang der 1980er Jahre einigten sich Arbeitgeberverband und Gewerkschaft auf eine Vereinbarung, die diese Koexistenz festschrieb. Fortgeschrieben in der derzeitig geltenden Sozialpartner-Vereinbarung „Vertrauensleute“ von 2003 wird sie wie folgt geregelt:
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln Der BAVC empfiehlt seinen Mitgliedsunternehmen, in Betrieben mit mehr als 350 Beschäftigten die Durchführung von Wahlen gewerkschaftlicher Vertrauensleute im Betrieb außerhalb der Arbeitszeit zuzulassen. Die Sozialpartner gehen davon aus, dass in solchen Betrieben, in denen betriebliche Vertrauensleute gewählt werden, in Zukunft auch gewerkschaftliche Vertrauensleute gewählt werden. Die IG BCE stellt Regelungen über die betrieblichen Vertrauensleute nicht in Frage. Die gewerkschaftlichen Vertrauensleute üben ausschließlich gewerkschaftliche und keine betrieblichen Funktionen aus. Aus ihrer Tätigkeit dürfen ihnen keine Nachteile erwachsen.
Während der BAVC über keine Daten der Betriebe mit betrieblichen Vertrauensleuten verfügt, enthält der Geschäftsbericht der IG BCE Angaben über gewerkschaftliche Vertrauensleute: Demnach gab es Ende 2004 rund 18.000 Vertrauensleute in 4.569 Betrieben (IG BCE 2004: 118). Personenidentität zwischen betrieblichen und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten besteht bei etwa 80 Prozent im Werk Bayer Leverkusen. 8 Eine Sozialpartner-Vereinbarung von 1996 zur Gruppenarbeit greift die Anfang der 1990er Jahre aufkommende Diskussion über „teilautonome Gruppen“ und „direkte Partizipation“ (sowie „lean production“) auf. Die Vereinbarung vermittelt „gemeinsame Hinweise“ für eine „arbeitsgruppenbezogene Arbeitsorganisation“. Ausgehend von gleichgerichteten Interessen von Mitarbeitern und Unternehmen (Humanisierung der Arbeit und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit) offeriert sie Optionen für gewählte Gruppensprecher und Gruppengespräche. Teilautonome Arbeitsgruppen implizieren eine Reduzierung der Hierarchieebenen und veränderte Aufgaben für unmittelbare Vorgesetzte, die zu Bindegliedern zwischen Arbeitsgruppen und der Betriebsleitung werden können. Die eigenverantwortlichen Arbeitsgruppen sollen nicht in Konkurrenz zum Betriebsrat treten, auch dann nicht, „wenn der Betriebsrat bewusst auf einen Teil der nach dem BetrVG zustehenden Befugnisse verzichtet und diese an die Gruppenmitglieder delegiert“ (Rose 2009: 104). Die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat soll davon unberührt bleiben. Franz-Josef Rose zufolge wurde mit diesen „weitsichtigen Empfehlungen“ in der chemischen Industrie „Pionierarbeit“ geleistet, an die der Gesetzgeber bei der Novellierung des BetrVG von 2001 (§ 87 Abs. 1 Ziff. 13 u. § 28a) mit einem „rechtlichen Gerüst an normativen Vorgaben, die die Ein- und Durchführung von Gruppenarbeit erleichtern“ (ebd.) anschloss. Als die rot-grüne Bundesregierung die im Koalitionsvertrag avisierte Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes in Angriff nahm, verabschiedete der Arbeitgeberverband seine Vorstellungen im März 2000 unter dem Titel „Elemente einer zukunftsfähigen Betriebsverfassung – Position des BAVC“. Darin spricht sich der Verband dagegen aus, „weitere Mitbestimmungsrechte zum bestehenden und umfassenden Katalog zu addieren“ und gibt Verhandlungen und Vereinbarungen Vorrang vor gesetzlichen Regelungen. Außerdem plädiert er für die Beibehaltung des Betriebsbegriffs und für die Aufhebung getrennter Wahlverfahren von Arbeitern und Angestellten. Weil es „das Einheitsprinzip unserer Betriebsräte“ durch oppositionelle und radikale („rot-grüne“) Kandidaten gefährden könnte, hatte sich der Hauptgeschäftsführer des BAVC schon früher im Interview gegen die Aufnahme eines 8
Mündliche Auskunft des ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden Rolf Nietzard.
IV.4 Arbeitgeberverbände und Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie
413
zusätzlichen Minderheitenschutzes ausgesprochen (K. Molitor im Gespräch mit Hertle/ Kädtler/Pirker 1990: 17 f.). Ebenso entschieden äußert der BAVC innerhalb des Arbeitgeberlagers seine Bedenken gegen betriebliche „Bündnisse für Arbeit“ außerhalb der Tarifbindung, wie sie 2005 im Wahlprogramm von CDU und FDP gefordert worden waren, aber durch die Bildung der großen Koalition hinfällig wurden. 7.5 Die europäische Ebene: Betriebsräte und Sozialdialog Schon vier Jahre vor der Verabschiedung der EU-Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat (1994) verabschiedete der BAVC mit der IG Chemie-Papier-Keramik 1990 ein Positionspapier, nach dem einmal jährlich bilaterale oder multilaterale Kontakte zwischen Betriebsräten und Arbeitnehmervertretern der Tochtergesellschaften multinationaler Unternehmen zur gegenseitigen Information ermöglicht werden sollen. Eine jüngere gemeinsame Erklärung der European Chemical Employers Group (ECEG) und der European Mine, Chemical and Energy Workers Federation (EMCEF) vom Dezember 2002 postuliert einen permanenten sozialen Dialog der Sozialpartner der chemischen Industrie auf europäischer Ebene. Im Jahr 2004 unterzeichneten sie in Helsinki ein Positionspapier zu Bildung, Ausbildung und lebenslangem Lernen. Zwar strebte die europäische sektorale Arbeitgebervereinigung mit dem zugehörigen sektoralen Gewerkschaftsbund den Status eines formell anerkannten sektoralen Sozialpartner-Dialogs an (den sie mittlerweile auch erreicht haben), aber Tarifverhandlungen auf europäischer Ebene lehnen die Arbeitgeber weiterhin kategorisch ab. 8
Resümee
Die Politik der Arbeitgeberverbände der chemischen Industrie zeichnet sich im Vergleich mit anderen Industriezweigen durch einige Besonderheiten aus. Zwar sind in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zwischen der Metallindustrie und der chemischen Industrie weder tarif- noch sozialpolitisch große Differenzen auszumachen, aber ab Mitte der 1970er Jahre beschreiten die kollektiven Akteure beider Industriezweige divergierende Pfade. Möglicherweise wurde der erste große Arbeitskampf in der chemischen Industrie (1971), den die Gewerkschaft keineswegs erfolgreich beenden konnte, zur Scheidemarke. Sein Ausgang begünstigte die beginnende Evolution der „Chemie-Sozialpartnerschaft“. Deren Architekten – Karl Molitor auf der Arbeitgeber- und Hermann Rappe auf der Gewerkschaftsseite – erkannten früher als andere Akteure im „Tarifgeschäft“, dass selbst eine rational betriebene Tarifpolitik, weil sie immer auch (konfliktäre) Verteilungspolitik bleibt, der Einbettung in eine durch andere Politikbereiche stabilisierte Sozialpartnerschaft bedarf. Die weite Themenbereiche umfassenden außertariflichen Sozialpartner-Vereinbarungen und die Schaffung gemeinsam verwalteter Einrichtungen erwiesen sich als geeigneter Mörtel für das Fundament einer dauerhaften zwischenverbandlichen Kooperation. Als deren weitere Komponenten sind eine innovative Tarif- und konsensuelle Industriepolitik hervorzuheben. Man kann die Tarifparteien der chemischen Industrie durchaus als Vorreiter einer gesamtwirtschaftlich verantwortungsvollen und den Interessen beider Seiten Rech-
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Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
nung tragenden Tarifpolitik bezeichnen. Hinzu kommt eine dezidierte, die Interessen der Branche befördernde Industriepolitik, auf die sich die Chemiegewerkschaft, die bis in die 1970er Jahre einer konfliktorientierten Gewerkschaftspolitik verpflichtet war, als Juniorpartner und Lobbyist einließ. Sie riskierte dafür den Dissens mit einigen ihrer Schwesterorganisationen im DGB, namentlich der IG Metall. Natürlich lässt sich mit einiger Plausibilität argumentieren, dass die Erfolge der Chemiegewerkschaft nicht allein ihrer „geschmeidigen“ Politik zu verdanken sind, sondern auch teilweise der Praxis ihrer militanteren Schwester, der IG Metall. Schließlich vermochte diese bei den Chemiearbeitgebern die Erinnerung wachzuhalten, dass Gewerkschaften ihre Ziele auch mit traditionelleren und militanteren Mitteln durchsetzen können – ein „Schreckbild“, das die Konzessionsbereitschaft der Arbeitgeber gegenüber einem wirtschaftsfriedlichen Sozialpartner sicherlich eher zu stimulieren als zu hemmen geeignet war. Die Erfolge der Chemiegewerkschaft sind nicht nur in materiellen Größen zu messen, sie lassen sich auch als innovative Schritte auf dem Weg zu einem flexibleren und zukunftsfähigeren Tarifsystem lesen. Immerhin findet in der gegenwärtigen Reformdebatte die Gewerkschaft in den Repräsentanten ihres Arbeitgeberverbandes veritable Verteidiger des Flächentarifvertrags und einen entschiedenen Gegner betrieblicher „Bündnisse für Arbeit“ außerhalb des Tarifsystems. Die Vorstellung, Gewerkschaften oder Betriebsräte könnten gezwungen werden, als „Häuserkämpfer“ umzusatteln, ist abschreckend genug. In keinem anderen Wirtschaftszweig (außer dem auslaufenden Steinkohlenbergbau) haben die Tarifparteien sich so explizit zu einer Sozialpartnerschaft bekannt wie in der chemischen Industrie. Die „Chemiepartnerschaft“ hat die aktuellen Umstrukturierungen und Zerlegungen der großen Konzerne überdauert; der Gewerkschaftsvorsitzende Hubertus Schmoldt (2009) deutet die jüngeren Entwicklungen als eine „Erneuerung“ und nicht als Krise. Dafür spricht auch die aus dem „Wittenberg-Prozess“ hervorgegangene fulminante Sozialpartner-Vereinbarung von 2008, in der sich die Sozialpartner „zu ihrer Verantwortung für die Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft (…) unter den Bedingungen der Globalisierung“ bekennen (IG BCE/BAVC 2009: 69). Gleichwohl steht dieser Arbeitgeberverband in zwei für die Gewerkschaften entscheidenden Fragen in einer gemeinsamen Front mit den übrigen Arbeitgeberverbänden – in der kategorischen Ablehnung eines Bonus für Gewerkschaftsmitglieder und europaweiter Tarifverhandlungen. Auch in der Frage einer „Modernisierung“ der Unternehmensmitbestimmung unterstützt er die vor wenigen Jahren erarbeitete Position von BDA und BDI (BDA/BDI 2004). Man kann darin ein Indiz für den Fortbestand der Gegnerfreiheit der Sozialparteien auch in der chemischen Industrie sehen. Literatur Grundlegende Literatur Förster, Gottlieb (2009): Tarifformel Chemie. In: Frey, Hans Paul (Hrsg.): Bewahren – Verändern – Gestalten. Tarifpolitik und Arbeitsrecht in Zeiten der Globalisierung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfgang Goos. Heidelberg: Dr. Curt-Haefner-Verlag, S. 155í175. Frey, Hans Paul (2005): Sozialpartnerschaftliche Tarifpolitik. Die reformierten Flächentarifverträge der Chemischen Industrie. In: Busch, Hans Werner/Frey, Hans Paul/Hüther, Michael/Rheder, Britta/Streeck, Wolfgang: Tarifpolitik im Umbruch. Köln: Deutscher Instituts-Verlag, S. 83í134
IV.4 Arbeitgeberverbände und Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie
415
Kädtler, Jürgen (2006): Sozialpartnerschaft im Umbruch. Industrielle Beziehungen unter den Bedingungen von Globalisierung und Finanzmarktkapitalismus. Hamburg: VSA. Kädtler, Jürgen/Hertle, Hans-Hermann (1997): Sozialpartnerschaft und Industriepolitik. Strukturwandel im Organisationsbereich der IG Chemie-Papier-Keramik. Opladen: Leske + Budrich.
Weiterführende Literatur Albert, Michel (1992): Kapitalismus contra Kapitalismus. Frankfurt a. M.: Campus. BAVC (Bundesarbeitgeberverband Chemie) (Hrsg.) (2007): Chemische Industrie. Außertarifliche Sozialpartner-Vereinbarungen. Wiesbaden: BAVC. BDA/BDI (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände/Bundesverband der Deutschen Industrie) (Hrsg.) (2004): Mitbestimmung modernisieren. Bericht der Kommission Mitbestimmung. Berlin: BDA/BDI. Bergmann, Joachim/Jacobi, Otto/Müller-Jentsch, Walther (1979): Gewerkschaften in der Bundesrepublik. Bd. 1: Gewerkschaftliche Lohnpolitik zwischen Mitgliederinteressen und ökonomischen Systemzwängen. Frankfurt a. M.: Campus (3. Aufl.). Bluhm, Katharina (1996): Regionale Strategien unter Handlungsdruck – ostdeutsche Arbeitgeberverbände im Dezentralisierungsprozess der industriellen Beziehungen. In: Bergmann, Joachim/ Schmidt, Rudi (Hrsg.): Industrielle Beziehungen. Institutionalisierung und Praxis unter Krisenbedingungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 135í158. Hertle, Hans-Hermann/Kädtler, Jürgen/Pirker, Theo (Hrsg.) (1990): „Wir waren immer für Partnerschaft!“ Gespräch mit Dr. Karl Molitor. Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung 37. Berlin: Freie Universität Berlin. IG BCE (IG Bergbau, Chemie, Energie) (Hrsg.) (2004): Geschäftsbericht 2001í2004. Hannover: IG BCE. IG BCE/BAVC (IG Bergbau, Chemie, Energie/Bundesarbeitgeberverband Chemie) (Hrsg.) (2009): Verantwortliches Handeln in der Sozialen Marktwirtschaft. Der Wittenberg-Prozess der Chemie-Sozialpartner. Heidelberg: Dr. Curt Haefner-Verlag. IG CPK (IG Chemie-Papier-Keramik) (Hrsg.) (1988): Vom Fabrikarbeiterverband zur Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik. Materialien und Dokumente. Hannover: IG CPK. IG CPK (IG Chemie-Papier-Keramik) (Hrsg.) (1990): Geschäftsbericht 1988í1990. Hannover: IG CPK. Kädtler, Jürgen (2008): Bruchstellen der Sozialpartnerschaft. In: Mitbestimmung. Magazin der HansBöckler-Stiftung, 54, S. 34í38. Keller, Berndt (2008): Einführung in die Arbeitspolitik. Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmarkt in sozialwissenschaftlicher Perspektive. München: Oldenbourg (7. Aufl.). Kessler, Gerhard (1907): Die deutschen Arbeitgeberverbände. Leipzig: Duncker & Humblot. Knips, Achim (1996): Deutsche Arbeitgeberverbände der Eisen- und Metallindustrie, 1888í1914. Stuttgart: Franz Steiner. Mühlbradt, Helmut (1982): Betriebliche Vertrauensleute. Geschichte – Aufgaben – Zukunft. In: Hoechst AG (Hrsg.): Mitarbeiter, Unternehmen, Gesellschaft – ein Weltbild. Festschrift aus Anlaß des 25jährigen Dienstjubiläums von Erhard Bouillon. Frankfurt a. M.: Hoechst AG, S. 53í66. Müller-Jentsch, Walther (1973): IG Bau-Steine-Erden – Juniorpartner der Bauindustrie. In: Jacobi, Otto/Müller-Jentsch, Walther/Schmidt, Eberhard (Hrsg.): Kritisches Jahrbuch 1973. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 94í109. Müller-Jentsch, Walther (1997): Soziologie der Industriellen Beziehungen. Frankfurt a. M.: Campus (2. Aufl.). Rose, Franz-Josef (2009): Gruppenarbeit in Deutschland. In: Frey, Hans Paul (Hrsg.): Bewahren – Verändern – Gestalten. Tarifpolitik und Arbeitsrecht in Zeiten der Globalisierung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfgang Goos. Heidelberg: Dr. Curt Haefner-Verlag, S. 79í104.
416
Teil IV: Politikfelder und Organisationshandeln
Schindelbeck, Dirk/Ilgen, Volker (1999): „Haste was, biste was“. Werbung für die soziale Marktwirtschaft. Darmstadt: Primus Verlag. Schmoldt, Hubertus (2009): Sozialpartnerschafts-Debatte: Erneuerung, nicht Krise. In: Mitbestimmung. Magazin der Hans-Böckler-Stiftung, 55, S. 46í47. Speth, Rudolf (2004): Die politischen Strategien der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Streeck, Wolfgang (1992): Interest Heterogeneity and Organizing Capacity: Two Class Logics of Collective Actions? In: Streeck, Wolfgang: Social Institutions and Economic Performance. Studies of Industrial Relations in Advanced Capitalist Economies. London: Sage, S. 76í104. Thelen, Kathleen (1999): Historical Institutionalism in Comparative Politics. In: Annual Review of Political Science, 2, S. 369–404. Thelen, Kathleen/Steinmo, Sven (1992): Historical Institutionalism in Comparative Politics. In: Steinmo, Sven/Thelen, Kathleen/Longstreth, Frank (Hrsg.): Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis. Cambridge: Cambridge University Press, S. 1–32. Traxler, Franz (Hrsg.) (2007): Handbook of Business Interest Associations, Firm Size and Governance. London: Routledge. VCI (Verband der Chemischen Industrie) (Hrsg.) (1952): 75 Jahre Chemieverband. Frankfurt a. M.: VCI. VCI (Verband der Chemischen Industrie) (2007): Die Chemische Industrie in Deutschland, Stand: August 2007. URL: http://www.vci.de.
IV.4 Arbeitgeberverbände und Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie
417
Anhang Präsidenten und Hauptgeschäftsführer des zentralen Arbeitgeberverbandes der chemischen Industrie Zeitraum
Präsident
Funktion im Unternehmen
Hauptgeschäftsführer
1949
Dr. Edgar Jörg
Zugleich Vorsitzender des hessischen ChemieArbeitgeberverbandes
Dr. Ferdinand Bertrams (1949í1953)
1949í1951
Dr. Franz Greiß
Geschäftsführender Direktor Glanzstoff-Courtaulds, Köln
1951í1960
Fritz Faubel
Personalleiter Bayerwerk Uerdingen
Dr. Ludwig Losacker (1954í1959)
1960í1965
Heinz Scherf
Vorstandsmitglied Degussa Frankfurt am Main
Dr. Karl Molitor (1959í1995)
1965í1978
Otto Esser
Persönlich haftender Gesellschafter Merck Darmstadt
1978í1983
Erhard Bouillon
Arbeitsdirektor und Vorstandsmitglied Hoechst Frankfurt am Main
1983í1985
Dr. Wolfgang Jentzsch Arbeitsdirektor und stellvertretender Vorstandsvorsitzender BASF Ludwigshafen
1985í1990
Dr. Dieter Schlemmer
Persönlich haftender geschäftsführender Gesellschafter Henkel Düsseldorf
1990í1994
Justus Mische
Arbeitsdirektor und Vorstandsmitglied Hoechst Frankfurt am Main
1994í1996
Prof. Dr. Klaus Kleine-Weischede
Arbeitsdirektor und Vorstandsmitglied Bayer Leverkusen
1996í1997
Ludwig Georg Braun
Vorstandsvorsitzender Braun Melsungen
1997í2001
Paul Coenen
Arbeitsdirektor und Vorstandsmitglied Degussa-Hüls
2001í2005
Rüdiger Erckel
Geschäftsführer Boehringer Ingelheim
2005í
Eggert Voscherau
Arbeitsdirektor und Vorstandsmitglied BASF Ludwigshafen
Hans Paul Frey (ab 1995 bis heute)
Teil V Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
Europäische Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
Hans-Wolfgang Platzer
1
Einführung
Die auf der Ebene der Europäischen Union etablierte Organisationslandschaft der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände zeichnet sich im Vergleich zu allen anderen gesellschaftlichen Organisationsbereichen (europäischen Gewerkschaften, Umwelt- und Verbraucherverbänden etc.) dadurch aus, dass sie zahlenmäßig die bei weitem stärkste, in den Repräsentationsstrukturen die differenzierteste und im Binnengefüge die komplexeste ist. Das Organisationsgefüge europäischer Unternehmensverbände entspricht insoweit den nationalen, mitgliedstaatlichen Verhältnissen, als auch im EU-Rahmen die folgenden Strukturmuster der Interessenvertretung anzutreffen sind:
ein dreistufiger, nach Domänen differenzierter Organisationsaufbau (vor allem im Bereich des produzierenden Gewerbes) aus europäischen Fach- oder Spartenverbänden, europäischen Branchen- oder Sektorenverbänden und europäischen Dachverbänden; eine je spezifische Interessenrepräsentation nach Unternehmensgrößen, privaten bzw. öffentlichen Unternehmen; eine funktionale Differenzierung nach Verbänden mit rein wirtschaftlich-industrieller Aufgabenwahrnehmung (Industrieverbände), rein sozial- und arbeitspolitischer Funktion (Arbeitgeberverbände) und Verbänden, die beide Vertretungsbereiche vereinen; und die eigenständige europäische Organisation des Kammersystems.
Wie im nationalen Rahmen sind die europäischen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände als transnationale „Verbände von Verbänden“ nur ein Teil des Spektrums unternehmensbezogener Interessenvermittlung auf europäischer Ebene. So unterhalten die großen transnationalen Konzerne in einer im Zuge des Binnenmarktprojekts seit Mitte der 1980er Jahre signifikant gewachsenen Zahl ihre eigenen Unternehmensrepräsentanzen am Sitz der EUOrgane in Brüssel. Die Ressourcenausstattung und der Aktivitätenradius dieser inzwischen über 200 Verbindungsbüros stehen den entsprechenden Konzernvertretungen am jeweils nationalen Regierungssitz der Muttergesellschaft in nichts nach. Bei wichtigen industrieund technologiepolitischen Gemeinschaftsentscheidungen erfolgt die Einflussnahme der Konzerne zudem mittels Firmenkonsortien und „Produzentenclubs“ oder mittels nationaler Koordinierungskreise, wie etwa der „Association de Grandes Entreprises Francaises“ (Platzer 1999: 410 f.). Weiterhin spielen kommerzielle Beratungsagenturen – als eine der markanten jüngeren Erscheinungsformen des Eurolobbyismus – eine gleichfalls wichtige Rolle im Spektrum wirtschaftlicher Interessenvermittlung. Die Dienste dieser auf EU-Fragen spezialisierten rund 250 Kanzleien und Consultant Offices (eine detaillierte Analyse bietet Lahusen 2005) werden etwa von US-amerikanischen oder japanischen Konzernen, aber auch europäischen Unternehmen in Anspruch genommen, die kein eigenes EU-bezogenes „in-
V.1 Europäische Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände
421
house lobbying“ betreiben bzw. spezifische Anliegen verfolgen, die nicht im Rahmen von Verbänden vermittelbar sind. Schließlich unterhalten zahlreiche nationale Unternehmensdachverbände und größere Branchenverbände ihre eigenen Vertretungen am Sitz der Gemeinschaftsorgane: im Falle der Bundesrepublik der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) bereits seit Ende der 1950er Jahre, der Deutsche Raiffeisenverband (DRV) seit 1968 und mehrere größere Branchenverbände seit den 1980er Jahren (wohingegen beispielsweise der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erst 1997 folgte). Die Entwicklung dieses komplexen und dynamischen Gefüges unternehmerischer Interessenvermittlung in der EU – die gewachsene Organisationsvielfalt transnationaler Verbände (Greenwood et al. 1992; Mazey/Richardson 1993; Eichener/Voelzkow 1994; Platzer 1999; Weßels 2004), die Bedeutungszunahme der europäischen Ebene der Interessenvertretung für Organisationsentwicklungen und Einflussstrategien der nationalen Verbände (Streeck et al. 2006), die strategische EU-Lobbyarbeit von Großunternehmen (Fuchs 2005) – ist ebenso Reflex der allgemeinen Integrationsentwicklung wie konstitutiver Bestandteil der besonderen Systemeigenschaften der Europäischen Union. Zu den signifikanten Systemmerkmalen der EU zählen die im Zuge der Integration gewachsene Vergemeinschaftung von und Interdependenz zwischen Politikfeldern, die „vertikale“ Verflechtung und gegenseitige Durchdringung politischer Entscheidungsebenen – Region/Bundesland, nationalstaatliche Ebene, supranationales Institutionengefüge – und die dichten, „horizontalen“ zwischenstaatlichen und -gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb des Integrationsraumes. Neben den jeweils sektorspezifischen Integrationsentwicklungen innerhalb der EU finden schließlich die wachsenden außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Beziehungen und Aktivitäten der EU – etwa die Assoziierungs- und Kooperationspolitiken mit Drittstaaten – ihren Niederschlag im Interessen-, Organisations- und Handlungsspektrum der Verbände und Unternehmen. In diesem Kontext sozioökonomischer und politischer Integrationsprozesse in Europa widmet sich dieser Beitrag der trans- und supranationalen Ebene unternehmerverbandlicher Interessenvermittlung. Neben der Aufarbeitung des einschlägigen Forschungsstandes wurden hierzu umfangreiche empirische Daten zu aktuellen Entwicklungen der Verbände erhoben. Nach einem kurzen Überblick über den Forschungsstand werden zunächst die historische Entwicklung und das zahlenmäßige Wachstum der europäischen Wirtschaftsverbände sowie die EU-spezifischen Bedingungen des Entstehens und Wirkens von Verbänden mit Sozialpartner- und Arbeitgeberfunktionen analysiert. Danach werden in einem systematischen Überblick die Bandbreite der Organisationsmuster, Akteursprofile und Einflussstrategien der Verbände dargestellt und an exemplarischen Beispielen veranschaulicht und vertieft. Die für das EU-Mehrebenensystem konstitutiven dualen Strukturen aus nationaler und europäisch-multinationaler Interessenvertretung mit ihren vielschichtigen Kooperations- und Konkurrenzverhältnissen zwischen den Mitgliedsbünden eines EU-Verbandes werden angesprochen, ohne dass es im Rahmen dieses Beitrages möglich wäre, die jeweils nationalen Bedingungen eingehender zu behandeln. Gleiches gilt für das Direkt-Lobbying der großen Konzerne, das in seiner wachsenden Bedeutung dargestellt und gewürdigt wird, jedoch nicht in seinen Auswirkungen auf die EU-Politik insgesamt und in seinen Konsequenzen für die nationalen und europäischen Unternehmensverbände vertieft analysiert werden kann. Der Beitrag schließt mit einer Bewertung der maßgeblichen Entwicklungstrends und Reichweiten der Interessenvermitt-
422
Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
lung durch europäische Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände und versucht einen Ausblick auf künftige Entwicklungen des Gesamtgefüges unternehmerischer und konzernbezogener Interessenvermittlung im Mehrebenensystem der EU. 2
Zum Stand der Forschung
Die komplexen Wechselwirkungen zwischen der europäischen Interessenvermittlung gesellschaftlicher Akteure in der EU und der Effizienz und Legitimation gemeinschaftlicher Politik, einschließlich der Frage nach der Bedeutung der Verbändepolitik für die Gesamtentwicklung des EU-Staatenverbundes, sind seit jeher Gegenstände der Verbands- und Integrationsforschung. Auf einer zunächst sehr allgemeinen Ebene zusammengefasst und zugespitzt, stehen sich hierbei zwei Sichtweisen gegenüber: Auf der einen Seite betonen (Fall-)Studien und Politikfeldanalysen die Problematik eines beschleunigten, nach gesellschaftlichen Interessenbereichen ungleichgewichtigen Wachstums des Eurolobbyismus, die Bevorzugung wirtschaftlicher Interessen und die Beförderung klientelistischer Verteilungskoalitionen in einem durch die diffuse hoheitliche Struktur der EU begünstigten intransparenten und demokratisch-parlamentarisch nicht hinreichend kontrollierten Entscheidungssystem. Auf der anderen Seite erscheint, zumal in integrationsgeschichtlich orientierten Arbeiten, die Europapolitik von Verbänden als Teil einer Elitenkooperation, die Integrationsfortschritte erst ermöglichte. Durch die europäische Formierung und Vermittlung heterogener gesellschaftlicher Interessen, den Transfer von Erwartungen, Unterstützungsleistungen und Loyalitäten auf die überstaatlichen Integrationsebenen tragen europäische Verbände demnach zum Entstehen eines transnationalen gesellschaftlichen Raumes bei und verleihen den sich herausbildenden neuen Formen supranationaler Politikorganisation Rückhalt und Dynamik. Wissenschaftlich kontrovers sind auch die Versuche, die Muster der EU-Interessenvermittlung vor dem Hintergrund der nationalen Modelldebatte zum Verbände-Staat-Verhältnis zu charakterisieren und zu generalisieren. So wird das EU-Interessenvermittlungssystem als pluralistisch (Streeck/Schmitter 1991), elitär-pluralistisch (Coen 1998), quasi-pluralistisch (Schmidt 1999), netzwerkartig (Kohler-Koch 1999) und als in Teilen (EU-Sozialpolitik) neokorporatistisch (Falkner 1998) gekennzeichnet. Die einschlägige Forschungsliteratur zum Themenfeld „organisierte Interessen und europäische Integration“ war lange Zeit keineswegs dicht gesät und bot bestenfalls „… ein Kaleidoskop von Momentaufnahmen aus wechselnder theoretischer Perspektive“ (Kohler-Koch 1992: 81). Dies galt nicht zuletzt für die europäischen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände und gilt – gemessen an deren Zahl, Organisationsvielfalt und politisch-wirtschaftlicher Bedeutung – letztlich noch immer. Erst in jüngster Zeit ist im Zuge einer breit und systematisch angelegten EUGovernance-Forschung („Regieren in Europa“) auch das empirische und theoretische Wissen über Interessenpolitik im europäischen Mehrebenensystem weiter gewachsen (siehe den für den gegenwärtigen Forschungsstand repräsentativen Band Eising/Kohler-Koch 2005b). Innerhalb dieses Forschungsrahmens sind es wiederum in erster Linie Fallstudien über sektorale EU-Entscheidungsprozesse, die vertiefte Einblicke in die Politik einzelner europäischer Wirtschaftsverbände bzw. Unternehmen (u. a. Bieling 2005; Schumann et al. 2005) und europäischer Arbeitgeberverbände (Falkner et al. 2005) bieten. Auch die Veränderungen der Handlungsbedingungen und die Anpassungsprozesse auf nationaler Unternehmensverbandsebene sind vor dem Hintergrund der ökonomischen Internationalisierung und EU-
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Integration mittlerweile fundiert bearbeitet (Streeck et al. 2006). Die integrationswissenschaftlich seit geraumer Zeit behandelte Frage der grundlegenden ordnungs- und integrationspolitischen Konfliktformationen in der EU (für den Bereich der EU-Sozialpolitik: Platzer 1997, 2002) werden in jüngeren Untersuchungen um eine systematische Analyse der Interessen gesellschaftlicher Akteure einschließlich der Unternehmensverbände erweitert. Nach Weßels (2004: 195 ff.) sind die dominanten Konfliktlinien zwischen gesellschaftlichen Akteuren im EU-Rahmen weniger stark auf der integrationspolitischen Konfliktachse – national versus supranational – als vielmehr innerhalb eines ordnungspolitischen Konfliktdreiecks zu verorten, das das herkömmliche Links-rechts-Konfliktschema erweitert, nämlich innerhalb des „Triangels“ Arbeit, Kapital, Umwelt. Busemeyer et al. (2006), die mit Blick auf die Auseinandersetzungen um das „Europäische Sozialmodell“ eine „Landkarte der Interessen“ vermessen, zeigen auf einer allgemeinen Ebene, dass innerhalb des Unternehmerlagers in den EU-Ländern vergleichsweise kohärente strategische Positionen anzutreffen sind, weil es wirtschaftlichen Interessengruppen augenscheinlich leichter fällt, sich auf Positionen einer „negativen“ Integration (Marktliberalisierung, zwischenstaatlicher Ordnungswettbewerb etc.) zu verständigen, als dies etwa den Gewerkschaften in den Auseinandersetzungen um „positive“ Integration (supranationale Regulierung, EU-Wirtschaftsregierung, Vergemeinschaftung von Politikfeldern etc.) gelingt. Bislang liegen nur wenige Studien vor, die auf breiter empirischer Grundlage das Zusammenspiel zwischen der nationalen und europäischen Organisations- und Politikebene der Unternehmensverbände einschließlich des Verhältnisses von Dach- und Branchenverbänden thematisieren (Platzer 1984; aus der „Binnensicht“ eines Verbandsgeschäftsführers: Mann 1994: 294 f.). Einzelne Studien geben Aufschluss über das „Innenleben“ ausgewählter europäischer „business organisations“ (Greenwood 2002) bzw. darüber, wie die politische Architektur der EU die unternehmerverbandliche Interessenvermittlung beeinflusst (Grande 2000). Beträchtlicher Forschungsbedarf besteht nach wie vor darin, auf vergleichender Basis und differenziert nach Organisationsstufen (bzw. Ordnungsgraden) der Verbände, nach Sektoren und Verbandstypen die aktuellen Rollenprofile zu analysieren und die Entwicklungszusammenhänge innerhalb des gesamten unternehmerischen Verbandslagers auf europäischer Ebene zu erschließen. Wesentliche Forschungsfragen werfen schließlich die Einflussstrategien transnationaler Konzerne (TNK) auf. Trotz vorliegender empirischer Untersuchungen und Fallstudien (zum EU-Kontext u. a.: Eising 2004; zur „business power“ im Global-Governance-Kontext: Fuchs 2005) bleiben zahlreiche Fragen ungeklärt, insbesondere hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen konzernbezogenem EU-Lobbying, TNK-Netzwerken und kollektivem Handeln vermittels Unternehmerverbänden. 3
Historische Entwicklung und zahlenmäßiges Wachstum der europäischen Unternehmensverbände
Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts führte die sich intensivierende internationale Arbeitsteilung und Handelsverflechtung zu internationalen Zusammenschlüssen von Verbänden, vor allem im Bereich der gewerblichen Wirtschaft. Dieser durch die beiden Weltkriege unterbrochene Prozess transnationaler Verbändekooperation erhielt nach 1945 durch den MarshallPlan und die OEEC-Gründung (1948) neue Impulse (Platzer 1984: 29 ff.). Allein zwischen
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1945 und 1950 wurden rund 30 internationale und (west-)europäische wirtschaftliche Verbände etabliert; darunter als bedeutendste erste Nachkriegsorganisation der 1950 als Zusammenschluss 25 industrieller Spitzenverbände aus 17 europäischen Ländern gegründete Rat der europäischen Industrien (REI). Die Errichtung der EGKS im Jahr 1951 führte zum Zusammenschluss der betroffenen Verbände des Montansektors: Noch im selben Jahr gründeten die nationalen Stahlverbände der 6 EGKS-Staaten den Club der Stahlhersteller, 1953 schlossen sich die bergbaulichen Verbände im Studienausschuß des westeuropäischen Kohlebergbaus mit Sitz in Brüssel zusammen. Auch die industriellen Dachverbände formalisierten ihre Zusammenarbeit in der Union der Industrien der sechs Schumanplan-Länder. Mit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge ging ein erster großer Wachstumsschub europäischer Verbandsgründungen in den Bereichen Industrie, Landwirtschaft, Handel, produzierendes Gewerbe sowie – in Antizipation eines erwarteten Bedeutungszuwachses der EWG – im Dienstleistungssektor einher. Neben sektoralen unternehmerischen Verbänden wurde 1958 der bis heute führende Dachverband UNICE, die Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas gegründet, deren deutsche Mitglieder von Beginn an der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) waren. UNICE benannte sich Anfang des Jahres 2007 in BUSINESSEUROPE um. Von den gegenwärtig über 700 Euroverbänden der Privatwirtschaft, den Fach-, Branchen- und Dachverbänden der verschiedenen Sektoren, wurden allein 255 im Zeitraum zwischen 1958 und 1968 gegründet, davon über die Hälfte in den beiden ersten Jahren nach Schaffung des Gemeinsamen Marktes. Die Mehrzahl dieser Verbände sind originäre Neugründungen; andere entwickelten sich als EWG-bezogene Suborganisationen aus bestehenden Welt- oder Kontinentalorganisationen heraus. Rund 120 wirtschaftliche Euroverbände formierten sich im Zeitraum 1968í78. Der Mitgliederkreis ging bei einem guten Drittel der europäischen Verbände über den damaligen E(W)G -Rahmen hinaus. Die Verbände der (ehemaligen) EFTA-Staaten waren in vielen Fällen assoziierte Mitglieder. Im Zuge der verschiedenen EG-Erweiterungsrunden, die bei verschiedenen Euroverbänden zugleich mit Organisationsreformen einhergingen, erlangten sie den Status von Vollmitgliedern. Die mit dem Binnenmarktprozess und der Vertragsreform der Einheitlichen Europäischen Akte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einsetzende ökonomisch-politische Integrationsdynamik bewirkte weitere Verbandsgründungen, vor allem aber im Bereich bestehender Euroverbände z. T. weitreichende organisatorische Veränderungen (Aufstockung der Ressourcen, Differenzierung der Entscheidungsverfahren etc.). Die Zahl der auf europäischer Ebene gegenwärtig etablierten Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände lässt sich aus den verfügbaren Quellen (Datenbanken der EU-Kommission: CONNEX 2002 und 2004, die auf Angaben der Verbände beruhen) nicht exakt herausdestillieren, wohl aber annäherungsweise bestimmen (zur methodischen Problematik siehe Eising/Kohler-Koch 2005a: 18; dort findet sich auch eine historische Darstellung des kumulierten Wachstums nach „Domänen“ der gegenwärtig insgesamt 941 EU-Verbände). Nach dieser Systematik existieren in der Domäne „Industrie“ 279 Organisationen (ebd.). Diese Rubrik erfasst eindeutig die Zahl der wirtschaftlichen Fach-, Branchen- und Dachverbände des produzierenden Gewerbes. Demgegenüber sind in der Domäne „Dienstleistungen“ mit insgesamt 254 Organisationen neben den Verbänden der kommerziellen Sektoren wie Finanzdienstleistungen und Handel auch nicht gewinnorientierte Sektoren wie Gesundheits- und Bildungswesen erfasst. Nur Erstere, die aber zahlenmäßig weit überwiegen, sind den „Wirtschaftsverbänden“ zuzurechnen. Vergleichbare Unschärfen ergeben sich in der Domäne „Agrar“ mit kumulierten
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125 Organisationen; hier sind neben den Agrarverbänden auch die Organisationen der Nahrungs- und Genussmittelindustrie erfasst, die wiederum den europäischen Wirtschaftsverbänden zuzurechnen sind. In Anbetracht dieser Daten kommt Eising (2005: 318) zu dem Ergebnis, dass „(…) ca. 80 % der 941 EU-Verbände Arbeitgeber- oder Produzenteninteressen (repräsentieren)“: Mithin umfasst das Gesamtgefüge europäischer Unternehmensverbände rund 720 Organisationen. Demgegenüber nimmt sich die in der Kategorie „diffuse Interessen“ zusammengefasste Gesamtzahl von 149 Verbänden, die die Jugend-, Religions-, Sozial- und Wohlfahrts-, Umwelt-, Verbraucher-, Menschenrechts- und Entwicklungsverbände sowie Gewerkschaften umfassen (Eising/Kohler-Koch 2005b), vergleichsweise bescheiden aus. Allerdings zeigt der Vergleich mit der nationalstaatlichen Ebene ähnliche Relationen: So beträgt in Deutschland der Anteil der verbandsförmig organisierten Wirtschaftsinteressen 74 % aller Interessengruppen, während der Non-Profit-Bereich bei 19 % liegt (Sebaldt: 1997). 4
Europäische Arbeitgeberverbände: eine EU-spezifische Sonderentwicklung
Bedingt durch die geschichtliche Entwicklung der europäischen Integration mit ihrer vorrangig wirtschaftlichen Ausrichtung sind die weit überwiegende Zahl der unternehmerischen Organisationen reine Wirtschaftsverbände. Erst im Zuge der allmählichen Ausgestaltung der „sozialen Dimension“ des Binnenmarktes gegen Ende der 1980er Jahre und insbesondere mit der Etablierung des multi-sektoralen und sektoralen „Sozialen Dialogs“ durch den Maastrichter Vertrag (1993) sind einzelne sektorale und horizontale unternehmerverbandliche Organisationen in die Rolle eines „Sozialpartners“ und insoweit eines europäischen „Arbeitgeberverbandes“ hineingewachsen. Davor waren es nur die europäischen Dachverbände der privaten und öffentlichen Wirtschaft, UNICE (seit 2007: BUSINESSEUROPE) und CEEP, die aufgrund ihrer (auch nationale Arbeitgeberverbände umfassenden) Mitgliederstruktur traditionell auch eine sozialpolitische Interessenvertretung wahrnahmen. Sie waren in den 1970er Jahren an den „dreigliedrigen Konferenzen“ zwischen Sozialpartnern und Kommission bzw. Rat (Kohler-Koch/ Platzer 1986) und am zunächst rein konsultativen „Sozialen Dialog“ (dem sogenannten „ValDuchess-Prozess“) beteiligt, der Mitte der 1980er Jahre vom damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors initiiert worden war. Auf Branchenebene existierte hingegen „vor Maastricht“ lediglich eine europäische Arbeitgeberorganisation, die Organisation der Arbeitgeberverbände der westeuropäischen Metallindustrie (WEM). Deren Politik stand zum damaligen Zeitpunkt exemplarisch für die defensive Grundhaltung der europäischen Unternehmensverbände, die nicht bereit waren, die Rolle eines konzertierungsfähigen oder gar verhandlungswilligen Sozialpartners auszufüllen. So lehnte die WEM Vorstöße des Europäischen Metallgewerkschaftsbundes (EMB), einen die gesamte Metallbranche umfassenden sektoralen Sozialdialog einzurichten, um sozial- und rahmentarifpolitische Fragen auf europäischer Ebene zu behandeln, konsequent ab (Platzer 1991: 127 f.). Lediglich einzelne (sub)sektorale Industrieverbände, wie das EG-Verbindungsbüro der Schiffbauer (CLCN) oder der Koordinierungsausschuss der Werkzeugmaschinenindustrie (CECIMO) waren zu kontinuierlichen bilateralen Informationskontakten, die jedoch primär industrie- und handelspolitischen Themen galten, mit dem EMB bereit. Erst der mit dem Maastrichter Vertrag eingerichtete „neue Soziale Dialog“ bewirkte, sektoral und multi-sektoral, qualitative Veränderungen.
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Das im Maastrichter Abkommen zur Sozialpolitik enthaltene Verfahren zum neuen „Sozialen Dialog“, das von den europäischen Dachorganisationen der privaten und öffentlichen Arbeitgeber, UNICE und CEEP, sowie dem Europäischen Gewerkschaftsbund, EGB, erarbeitet und der Maastrichter Regierungskonferenz vorgeschlagen wurde, die es im Wesentlichen unverändert übernahm, ist eines der wenigen Beispiele eines konstitutionell strukturbildenden Impulses durch Euroverbände. Jenseits eines beiden europäischen Sozialparteien gemeinsamen Interesses, die eigene Rolle im Gefüge eines breit gefächerten EUVerbändesystems zu stärken, verbanden freilich Gewerkschaften und Arbeitgeber von Anfang an unterschiedliche Vorstellungen mit dieser neuen institutionellen Struktur: Während die Gewerkschaften im „Sozialen Dialog“ einen offensiv auszugestaltenden Rahmen der Konzertierung und Selbstregulierung durch die europäischen Sozialpartner sahen, der die nationale arbeits- und tarifpolitische Ebene (nach einem Kaskadenmodell) ergänzen bzw. fallweise auch ersetzen sollte, beton(t)en die Arbeitgeber den „Dialogcharakter“ und sehen im europäischen Sozialdialog unter Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip ein allenfalls sporadisch zu nutzendes Instrument „weicher“ Normierung und Rahmensetzung. Ungeachtet dieser unterschiedlichen strategischen Zielsetzungen der Arbeitsmarktparteien hat der Soziale Dialog die Handlungs- und Einflussbedingungen der europäischen Sozialpartner deutlich erweitert und die inner- wie zwischenverbandlichen Beziehungen verändert. Den europäischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, die bis dahin reine „Einflussträger“ waren (informelles Lobbying und institutionalisierte Anhörung etwa im Ständigen Ausschuss für Beschäftigungsfragen), steht nunmehr die vertraglich verankerte Option autonomer Kollektivverhandlungen auf europäischer Ebene offen sowie die Möglichkeit, als „Entscheidungsträger“ zu agieren, indem sie in bestimmten, vertraglich definierten Bereichen sozial- und arbeitspolitische Gesetzgebungsvorhaben an sich ziehen und Vereinbarungen treffen, die dann (qua Ministerratsbeschluss) in die gemeinschaftliche Sozialgesetzgebung übergehen. Nach letzterem Verfahren der „verhandelten Gesetzgebung“ sind auf multisektoraler Ebene bislang mehrere Materien bearbeitet worden. Während beispielsweise Verhandlungen über das stark politisierte Projekt „Europäische Betriebsräte“ (1993/94) scheiterten, wurden Rahmenvereinbarungen zum Elternurlaub (1995), zur Teilzeitarbeit (1997) und zu befristeten Arbeitsverträgen (1999) erfolgreich abgeschlossen. Die tarifautonome Option einer supranationalen „Selbstregulierung“ arbeits- und tarifpolitischer Gegenstände ist – trotz zahlreicher gewerkschaftlicher Vorstöße – erstmals 2002 mit einer Rahmenvereinbarung zur Telearbeit zum Tragen gekommen. Betrachtet man die Figurationsdynamik und die bisherige Bilanz erfolgreich abgeschlossener gegenüber gescheiterten Verhandlungen (dazu im Einzelnen: Falkner 2003), so zeigt sich, dass die Arbeitgeberseite vor allem „in the shadow of the law“ zu Verhandlungen bereit ist, d. h. dann, wenn eine EU-Gesetzgebung „droht“ und Verhandlungen eine relativ bessere Interessendurchsetzung (in der Argumentation der Arbeitgeber eine „flexiblere“ und „praxistauglichere“ Lösung) erwarten lassen. Im Bereich der sektoralen EU-Sozialdialoge ist die Entwicklung uneinheitlich und die Gesamtdynamik – ungeachtet nachhaltiger gewerkschaftlicher Forderungen, dieses Instrument intensiv und thematisch breit zu nutzen – insgesamt schwächer als im multisektoralen Bereich. Lediglich durch das Bestreben der EU-Kommission, auch den sektoralen Sozialdialog zu entwickeln, und durch ihre aktive Rolle eines „Prozessmanagers“ (u. a. durch 1998 neu festgelegte finanzielle Anreizstrukturen und Modalitäten der Anerkennung der Verbände) sind Entwicklungen in Gang gekommen, die dazu geführt haben, dass einzelne europäische Wirtschaftsverbände auf der Ebene der (Sub-)Branchen
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nunmehr auch in die Rolle eines sektoralen Sozialpartners hineingewachsen sind. Die gegenwärtig existierenden 31 sektoralen Sozialdialoge (Stand 2006), die zwischen 1999 und 2004 eingerichtet wurden, reichen vom audiovisuellen Sektor bis zur Zuckerindustrie. In diesen sektoralen Sozialdialogen ist die Unternehmerseite durch gegenwärtig insgesamt 50 europäische (Arbeitgeber-)Verbände vertreten. In einzelnen Sektoren agiert lediglich eine Branchenorganisation als sektoraler „Sozialpartner“, wie etwa im Bereich der Bauindustrie die European Construction Industry Federation (FIEC) oder im Bereich des Handels Eurocommerce, während in anderen Branchen drei bis vier Verbände vertreten sind. Im Bankenbereich etwa die European Association of Co-operative Banks (EACB), die European Saving Banks Group (ESBG) und die European Banking Federation (FBE) und im sektoralen Dialog der Zivilluftfahrt beispielsweise die Association of European Airlines (AEA), die Civil Air Navigation Service Organisation (CANSO), der Airport Council International (ACI-EURPE) und die International Air Carrier Association (IACA). Die gewerkschaftlichen Gegenspieler und Interaktionspartner im sektoralen Sozialdialog sind derzeit insgesamt 12 europäische Gewerkschaftsverbände, die die nationalen Branchengewerkschaften auf EU-Ebene repräsentieren. Bilanziert man die Gesamtentwicklung des „Sozialen Dialogs“ im sektoralen Bereich (Keller 2003), so bewegen sich die Politikergebnisse trotz einer signifikant gewachsenen Dichte der Beratungen überwiegend auf der Ebene „gemeinsamer Erklärungen“ zu konsensualen Themen wie Gesundheitsschutz, Berufsausbildung oder zu gemeinsamen industriepolitischen Interessenbereichen. Rahmenvereinbarungen in der Qualität von „Codes of Conduct“ wurden u. a. zur beruflichen Bildung im Bereich des europäischen Einzelhandels und der Versicherungen sowie in der Textilindustrie über die Bereiche Zwangsarbeit, Kinderarbeit, Nichtdiskriminierung und Koalitionsfreiheit abgeschlossen. Lediglich im See- und Schienenverkehrssektor und im Agrarsektor wurden bislang verbindliche tarifrelevante Vereinbarungen ausgehandelt. In diesen Ergebnissen spiegelt sich eine grundlegende Handlungsorientierung der Mehrzahl der europäischen sektoralen Arbeitgeberverbände wider, den „Sozialen Dialog“ primär als Forum des geregelten Informations- und Meinungsaustausches zu nutzen und nicht in Richtung eines transnationalen Verhandlungsrahmens zur Regulierung „harter“ arbeits- oder tarifpolitischer Materien zu entwickeln. Die Einrichtung des (multi-)sektoralen Dialogs hat gleichwohl im Arbeitgeberlager duale ebenenübergreifende Vernetzungsprozesse befördert: Auf nationaler Ebene hat beispielsweise die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mit den ihr angeschlossenen Fachspitzenverbänden, die ihrerseits Mitglied eines europäischen Branchenzusammenschlusses sind, einen Koordinierungskreis eingerichtet. Auf europäischer Ebene wurde unter Federführung des Industrie- und Arbeitgeberdachverbandes, UNICE (seit 2007: BUSINESSEUROPE), das Europäische Arbeitgebernetzwerk (European Employers Network, EEN) geschaffen, dem rund 60 europäische unternehmerische Branchenorganisationen angehören. Das ENN ist als ständiges, aber „informelles“ Informations- und Koordinierungsgremium konzipiert; es soll – so die offizielle UNICE-Verlautbarung – kein „Beschlussorgan“ und damit auch kein Verhandlungspartner für „Dritte“ sein (Platzer 1996: 122). Diese informatorische Vernetzung auf nationaler und europäischer Ebene dient dem erklärten Ziel, die defensive Grundhaltung gegenüber einer weiter gehenden supranationalen Regulierung auf sozial- und arbeitpolitischem Gebiet, die durch eine mögliche Eigendynamik einzelner sektoraler Sozialdialoge ausgelöst werden könnte, abzusichern. Obgleich die Branchenebene in der Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten noch immer eine für die Arbeitsbeziehungen und Tarifpolitik zentrale Gestaltungsebene ist, ist vor dem bisherigen Entwicklungshintergrund in der voraussehbaren Zukunft nicht
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damit zu rechnen, dass sich der europäische Sektorale Dialog in einer zur nationalen Ebene komplementären Weise entwickelt: „Sowohl der institutionelle Rahmen des Sozialprotokolls als auch die bestehenden Verbände sind zu schwach zum Aufbau korporatistischer Strukturen sowie zur Einleitung eines Quid-pro-quo-bargaining, das eine grundlegende und notwendige Voraussetzung für diese spezifische Form der Interessenvermittlung wäre.“ (Keller/Sorries 1999: 234). 5
Organisationsmuster und Akteursprofile
Die Entstehungsvoraussetzungen und Entwicklungen europäischer Unternehmensverbände sind vielfältig. Historisch und funktional ist dahingehend ein Muster zu erkennen, dass die Verbände primär den vertraglich-politischen Integrationsvorgaben durch die Anpassung ihrer Organisationsstrukturen folgen, während die Internationalisierung der Märkte und die relative Dichte der ökonomischen und technologischen Verflechtungen im Zuge der europäischen Marktintegration eine zwar wichtige, aber dennoch sekundäre Rolle spielt. D.h., das zahlenmäßige Wachstum, die funktionalen Differenzierungen und (partiellen) Kompetenzerweiterungen im Bereich der europäischen Unternehmensverbände, die durch die Binnenmarktvollendung ausgelöst wurden, reflektieren (bzw. antizipieren) die voranschreitende Integration der Märkte und die veränderten europäischen Wettbewerbsverhältnisse; sie sind vor allem aber Ausdruck einer organisationspolitischen Anpassung an die institutionell veränderten Entscheidungsverfahren und die erweiterten Kompetenzen der Union im Zuge der Vertragsreform, der Einheitlichen Europäischen Akte und der darauf folgenden Vertragsveränderungen (Maastricht, Amsterdam, Nizza) mit ihren vermehrten Mehrheitsentscheidungen im Rat und der Mitentscheidung des EP (Platzer 1984; Greenwood/Ronit 1994). Diese sog. „Reaktionsthese“ zur Erklärung von EU-Verbandsgründungen wurde in einer diachron angelegten, den gesamten EU-Verbändebereich umfassenden Untersuchung von Weßels (2004) empirisch unterfüttert. Im Unternehmensverbandsbereich können allenfalls einige wenige EU-Verbandsgründungen im Banken- und Versicherungssektor in den frühen 1960er Jahren als Beispiele für die sog. „Antizipationsthese“ herangezogen werden, d. h. als Beispiele für die Etablierung von Euroverbänden in Erwartung einer branchenspezifischen Integrationsdynamik, die dann (trotz der EWG-vertraglichen Möglichkeiten) erst später, im Fall des Banken- und Versicherungsbereichs faktisch erst im Laufe der 1990er Jahre, eintrat. Die oben genannten vertraglichen Veränderungen der EU-Kompetenzen und -Entscheidungsverfahren seit Mitte der 1980er Jahre haben die „Einflusslogik“ der Verbände deutlich verändert und die Notwendigkeit einer transnationalen Interessenabstimmung auf europäischer Ebene insofern verstärkt, als die Möglichkeiten eines nationalen Verbandes für eine (etwa über die nationale Regierung organisierte) Vetopolitik geringer wurden. Diese politischen Veränderungen der „Einflusslogik“, die, wie gezeigt, auch die Funktionserweiterungen sektoraler Wirtschaftsverbände in Richtung Arbeitgeberverbände erklären, finden schließlich darin ihren Ausdruck, dass mit der Integrationsdynamik seit den 1980er Jahren auch eine nachhaltige „Politisierung“ der Ausgestaltung des Binnenmarktes in seiner sozial-, regional-, umwelt- und verbraucherpolitischen Dimension einherging und -geht und die europäischen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände sich mit einer nach Zahl und Handlungsressourcen gleichfalls tendenziell gestärkten Szene konkurrierender Verbände auseinandersetzen müssen. Nicht nur diese Veränderungen der äußeren Verbandsumwelt (die
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„Einflusslogik“) prägen die Entwicklung eines transnationalen Verbandes in seinen fachlichen und räumlichen Zuständigkeiten, personellen und materiellen Ressourcen, verbandsinternen Organisationsstrukturen, Willensbildungsprozessen und Dienstleistungsprofilen. Das Organisationsprofil wird gleichermaßen – wenn auch nach Verbandstypen variierend – durch die jeweilige innere Verbandsumwelt (die „Mitgliederlogik“) beeinflusst, also durch die Eigenschaften der vertretenen Gruppe (deren Zahl, Struktur, Interessenlage etc.). Da diese inneren und äußeren Bedingungen, die in ihrer Wechselwirkung die Akteurseigenschaften eines Euroverbandes prägen, nach Sektoren, verbandlichen Aggregationsstufen usw. beträchtlich differieren und sich zudem über bestimmte Zeiträume hinweg wandeln, weisen die Organisations- und Rollenprofile europäischer Verbände eine enorme Variationsbreite auf. Diese reicht (um es zunächst nur an einem Ausstattungsmerkmal zu illustrieren) vom Brüsseler Ein-Personen-Sekretariat einzelner kleinerer Spartenverbände bis zum organisatorisch tief gestaffelten, ressourcenstarken Verband der Europäischen Chemiewirtschaft (CEFIC) mit rund 40 Sekretariatsmitarbeitern. Einige gemeinsame Organisationsmerkmale sind gleichwohl bei einer großen Zahl der europäischen Unternehmensverbände anzutreffen: Diese sind Föderationen nationaler Verbände mit eigener Rechtspersönlichkeit und Organisationsstatuten, mit einer europäischen Geschäftsstelle, Beratungsgremien, in denen haupt- oder ehrenamtliche Vertreter der nationalen Mitgliedsorganisationen mitarbeiten, und Entscheidungsgremien, die i. d. R. aus den Geschäftsführern oder Präsidenten der nationalen Mitgliedsverbände bestehen. In einzelnen europäischen Unternehmensverbänden gewinnt die Direktmitgliedschaft von (Groß-)Unternehmen an Bedeutung. So erhielt beispielsweise der europäische Chemieverband CEFIC Ende der 1980er Jahre eine duale Finanzierungs-, Arbeits- und Entscheidungsstruktur, die auf der einen Seite aus den nationalen Mitgliedsverbänden, auf der anderen aus über 40 Chemiekonzernen besteht (Platzer 1996: 125). Auch BUSINESSEUROPE, die vormalige Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE), ist als Verband von (nationalen) Dachverbänden bestrebt, die „unternehmerische Basis“ verstärkt in die Willensbildung und Finanzierung der europäischen Verbandsarbeit einzubeziehen. Mehrjährige organisationspolitische Kontroversen führten 1991 zur Einrichtung einer „UNICE advisory and support group“, der Unternehmen als Direktmitglieder angehören, die eigene Finanzierungsbeiträge leisten, deren Summe allerdings auf 25 % des UNICE-Gesamtbudgets begrenzt bleibt, um die Vorrangstellung der Verbände zu wahren (Tyskiewiz 1991). Die Kernaufgaben der europäischen Interessengruppen liegen in der Information der nationalen Mitglieder über „das Brüsseler Geschehen“ (die Bedeutung der Euroverbände als „Frühwarnsystem“ und „information brokers“ hat für die Mitgliedsorganisationen einen besonders hohen Stellenwert), in der Vertiefung des gegenseitigen Erfahrungsaustauschs, der Formulierung gemeinsamer europäischer Positionen und Forderungen und deren Vertretung gegenüber den EU-Entscheidungsinstanzen. Entscheidungen werden meist konsensual getroffen. Einige Verbände haben im Laufe der Zeit differenzierte Entscheidungsverfahren entwickelt; so z. B. die UNICE Anfang der 1990er Jahre (u. a. Quoren bei Mehrheitsentscheidungen, Budgetfragen gewichtet nach Beitragsleistungen der Mitgliedsverbände); andere Verbände haben bei innerverbandlich strittigen Fragen das Prinzip der „dissenting votes“ eingeführt, das auch gegenüber der Öffentlichkeit und den Einflussadressaten sichtbar gemacht wird. Fragt man nach der Fähigkeit der Verbände zur effektiven Interessenbündelung und -vermittlung, so variiert diese nicht nur zwischen einzelnen Verbänden, sondern ist auch innerhalb eines Verbandes sehr stark von den jeweiligen Regelungsmaterien abhängig. Wichtige Variablen sind die Spezifität der
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Interessen und der Homogenitätsgrad einer Verbandsdomäne. Entsprechend sind europäische Wirtschaftsverbände – und hier vor allem Verbände, die Sparten- oder Produktgruppeninteressen organisieren – bei technischen, produktbezogenen und wettbewerbsneutralen EU-Regelungen und Normierungsprozessen in der Lage, kohärente Positionen zu entwickeln und effektiv zu vertreten. Sie sind im Zusammenspiel mit den EU-Institutionen vielfach Teil einer „partizipativen Steuerung“, die in der Tendenz zu einer „(…) Ko-Evolution politisch-administrativer und verbandlicher Strukturen (…)“ (Eichener/Voelzkow 1994: 256) auf europäischer Ebene führt. Demgegenüber bleibt die Fähigkeit zur Interessenbündelung bei produktions- und standortgebundenen Regelungen sowie in sensiblen Bereichen der Forschungs-, Industrie- und Handelspolitik, mithin auf Feldern, in denen unterschiedliche Interessen und Ordnungstraditionen der nationalen Mitgliedsverbände aufeinandertreffen (können), nicht selten begrenzt und fallweise auch blockiert. Eine Stärkung der transnationalen Verbände ist, wie etwa im Chemie- und Pharmasektor, dann zu beobachten, wenn unter dem Druck einer kritischen Öffentlichkeit und möglicher, von den Verbänden abgelehnter Gesetzgebungsvorhaben der Euroverband zum Vermittler und Kontrolleur transnational wirksamer Verhaltenskodizes (gegenüber den nationalen Mitgliedern) wird (Greenwood/Ronit 1994: 31 f.). Auch die europäischen Dachverbände der privaten und öffentlichen Arbeitgeber, UNICE und CEEP, (wie der EGB) treten seit Mitte der 1990er Jahre – fallweise – als „autonome“ transnationale Akteure in Erscheinung: Indem sie durch ihre nationalen Mitglieder mandatiert werden, im Rahmen der Maastrichter Verfahren des „Sozialen Dialogs“ zu verhandeln und verbindliche Vereinbarungen zu treffen, können deren Ergebnisse (als Folge von Kompromissbildungsprozessen) nicht mehr von einzelnen nationalen Mitgliedsorganisationen kontrolliert werden (Falkner 1998; Dølvik 1999). Ganz generell lässt sich sagen: Den europäischen Unternehmensverbänden wächst dann – und zwar nicht nur bei Einzelentscheidungen, sondern auch über längere Zeiträume hinweg – eine vergleichsweise starke transnationale Akteursrolle zu, wenn diese sowohl von Seiten der „Mitgliederlogik“ (u. a. hoher Kooperationsgrad innerhalb und zwischen den nationalen Mitgliedsverbänden, ähnliche ordnungspolitische Traditionen, gemeinsame EU-bezogene Problemlagen) als auch von Seiten der „Einflusslogik“ (etwa hohes Gewicht suprastaatlicher Regulierung und sektoraler Steuerung in Bereichen der EU-Industrie-, -Forschungsund -Technologiepolitik) begünstigt wird. Um diese im hier vorgegebenen Rahmen notwendigerweise generalisierenden Befunde beispielhaft zu vertiefen, werden nachfolgend die Profile einzelner europäischer Unternehmensverbände (Stand 2006) skizziert, die zugleich das Spektrum unterschiedlicher Organisations- und Funktionstypen andeuten. BUSINESSEUROPE Die 1958 gegründete UNICE, die seit 2007 als BUSINESSEUROPE firmiert, repräsentiert gegenwärtig 39 Industrie- und Arbeitgeberdachverbände aus 33 europäischen Ländern. Ihr oberstes Entscheidungsorgan ist der Rat der (nationalen) Präsidenten. Das strategische Steuerungsorgan ist das Exekutivbüro, das die laufende Arbeit und die Umsetzung der jährlichen Agenda koordiniert und kontrolliert. Es besteht aus führenden Verbandsrepräsentanten der fünf größten EU-Länder sowie (nach einem Rotationsprinzip) fünf kleinerer europäischer Länder und einem Repräsentanten des Landes, das die EU-Präsidentschaft innehat. Das Exekutivbüro wird unterstützt durch den Exekutivausschuss, dem die Haupt-
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geschäftsführer aller Mitgliedsverbände angehören. Ein Brüsseler Sekretariat mit insgesamt 45 MitarbeiterInnen organisiert nach innen und außen das Tagesgeschäft des Verbandes, darunter die Arbeit von sieben zentralen Policy Committees, die die wesentlichen Felder der EU-Politik abdecken und wiederum von 60 (Ad-hoc-)Working Groups unterstützt werden, denen hauptamtliche Mitarbeiter der nationalen Verbände sowie Unternehmensexperten angehören. Nach Angaben von BUSINESSEUROPE sind insgesamt rund 1200 Personen für die inhaltliche Arbeit und innerverbandliche Willensbildung aktuell verfügbar bzw. potentiell mobilisierbar. Die erarbeiteten inhaltlichen Positionen (gegenwärtig über 100 Stellungnahmen jährlich; zum historischen Vergleich bis Mitte der 1980er Jahre mit deutlich geringeren jährlichen Stellungnahmen: Platzer 1984: 128 ff.) werden, abhängig vom Gegenstand und der politischen Relevanz eines Themas in unterschiedlichen Formen und auf unterschiedlichen Ebenen vermittelt; diese reichen von permanenten Arbeitskontakten des Sekretariats mit verschiedenen Arbeitsebenen der EU-Kommission bis zu Spitzengesprächen der Verbandsführung mit der Kommissionsspitze und dem Rat. Im historischen Längsschnitt betrachtet sind die Ressourcen, die innerverbandliche Interaktionsdichte und die Entscheidungsproduktion der Organisation, die als „Flagschiff“ der unternehmerischen Verbandsflotte auf europäischer Ebene bezeichnet werden kann, sukzessive gewachsen. Diese Organisationsentwicklung ist freilich weder mit einem quasi automatischen Bedeutungszuwachs gegenüber der nationalen Mitgliederbasis noch einer durchweg gestiegenen Einflussstärke im Kräftespiel der EU gleichzusetzen. Allein die Breite und Heterogenität der zu integrierenden mitgliedschaftlichen Interessen (BUSINESSEUROPE ist ein Dachverband von Dachverbänden, der im Gegensatz zu seinen nationalen Mitgliedern nicht die Branchenorganisationen einbezieht oder wie im Falle des EGB die europäischen Branchengewerkschaften als „zweite Säule“ integriert) setzen in zahlreichen Handlungsfeldern einer gebündelten und geschlossenen Interessenartikulation ihre natürlichen Grenzen. EUROCHAMBRES Die 1958 gegründete europäische Dachorganisation der Industrie- und Handelskammern, EUROCHAMBRES, steht exemplarisch für jene Verbände, die auf europäischer Ebene eine Vielzahl nationaler und regional-lokaler Mitgliedsorganisationen vertreten, deren Interessen- und Aufgabenfelder zugleich von den Struktur- und Regionalpolitiken der EU stark tangiert sind. Organisatorisch trägt EUROCHAMBRES diesen Bedingungen durch die sachliche und räumliche Ausdifferenzierung und Ausweitung von Netzwerkstrukturen der Information, Beratung und Kooperation Rechnung. EUROCHAMBRES ist das zahlenmäßig größte multinationale Business Network und repräsentiert über seine Mitgliedsorganisationen in zwischenzeitlich 32 Ländern europaweit 1200 regionale Kammern. Im Rahmen eines 1996 beschlossenen „strategischen Aktionsplanes“ baut(e) EUROCHAMBRES beispielsweise einen elektronischen Datenverbund auf, der spezifische Informationsdienstleistungen 14 Mio. Unternehmen in Europa zugänglich macht. Hervorstechendes Kennzeichen des Verbandsprofils von EUROCHAMBRES sind informatorische Dienstleistungsfunktionen gegenüber den nachgelagerten Kammerebenen, während die Rolle der europäischen Kammer-Dachorganisation als politisch sichtbarer und exponierter Einflussträger (auch aufgrund der Nichtbeteiligung an den Verfahren des „Sozialen Dialogs“) eher schwach ausgeprägt ist.
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European Round Table of Industrialists (ERT) Der ERT ist kein Verbändeverband, sondern ein Kreis bzw. eine Aktionsgruppe von gegenwärtig rund 45 Vorstandsvorsitzenden der größten europäischen Konzerne mit einem ständigen Sekretariat in Brüssel. Der ERT wird vielfach als prominentestes Beispiel eines unmittelbaren und nachhaltigen Einflusses gesellschaftlicher Akteure auf die „Integrationsphilosophie“ und Agenda der Europäischen Union genannt (Green Cowles 2002: 220 f.; Balanyá et al. 2001). Der 1983 ins Leben gerufene ERT hatte 1985 eine „Agenda for Action – Europe 1990“ vorgelegt, die das Binnenmarktprogramm („Weißbuch“) der damals neu ins Amt gekommenen EU-Kommission unter Jacques Delors nachhaltig prägte. Auch der Umsetzungsprozess wurde durch ein eigens eingerichtetes ERT-Gremium, das sich halbjährlich mit führenden Regierungsvertretern aller Mitgliedstaaten traf, kontinuierlich begleitet und systematisch beeinflusst. Vergleichbare ERT-Initiativen, die wiederum durch die Einrichtung wissenschaftlich-politischer Beratungsagenturen flankiert wurden, galten dem Projekt der Währungsunion. Balanyá et al. (2001) kommen in ihrer kritischen Studie „Konzern Europa“, die sich der Rolle der Großunternehmen und derer Verbände bzw. Netzwerke widmet, zu dem Ergebnis: „Obschon in der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt, ist der (…) ERT seit mehr als fünfzehn Jahren eine der wichtigsten politischen Kräfte in der europäischen Szenerie. Sein ungehinderter Zugang zu Spitzenpolitikern auf europäischer wie nationaler Ebene ist der Schlüssel zum erstaunlichen Erfolg (…) (ebd: 47). Wobei der ERT sich „… im Gegensatz zu den meisten anderen Unternehmenslobbygruppen in Brüssel nie darum bemüht (hat), bei der Detailgesetzgebung zu intervenieren. Er konzentriert sich stattdessen darauf, den großen Rahmen zu setzen und die Programme der EU mit langfristigen neuen Projekten zu besetzen“ (ebd.: 49). Der Europäische Verband der kleinen und mittleren Unternehmen (UEAMPE) Diesem europäischen Verband, dessen nationale Mitglieder sich auf die EU-25 begrenzen, gehören – abhängig von den nationalen Gegebenheiten – Wirtschaftskammern (wie im Falle Österreichs), Handwerkskammern (wie u. a. im Falle Frankreichs, Dänemarks oder Litauens) sowie in mehreren Ländern die nationalen (privatwirtschaftlichen) Dachorganisationen des Handwerks und der klein- und mittelständischen Unternehmen an; im Falle der Bundesrepublik der Zentralverband des Deutschen Handwerks und die Bundesvereinigung der Fachverbände des Handwerks (ZDH und BFH). Die politische Steuerung der europäischen Verbandsarbeit erfolgt durch ein Board of Directors, dem die Präsidenten oder Hauptgeschäftsführer der nationalen Mitgliedsorganisationen angehören. Ein rund 20-köpfiges Brüsseler Sekretariat koordiniert die Arbeit von derzeit neun ständigen Arbeitsausschüssen, die das gesamte für den Handwerksbereich und die kleinen und mittleren Unternehmen relevante Spektrum der EU-Politik sowohl auf der Ebene von Querschnittsthemen wie in (ausgewählten) sektoralen Bereichen abdecken. Verband der Europäischen Bauwirtschaft (FIEC) Dieser bereits 1905 gegründete Verband, der als Beispiel einer der zahlreichen europäischen Branchenverbände skizziert sei, repräsentiert 33 nationale Mitgliedsverbände aus 27
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europäischen Ländern und vertritt auf europäischer Ebene die Interessen von Bauunternehmen aller Größenordnungen im Bereich des Hoch- und Tiefbaus. Seine deutschen Mitglieder sind der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) und der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes (ZDB). Die Organe des Verbandes bilden die Generalversammlung, ein 12-köpfiges Präsidium als politisches Führungsorgan und ein aus 8 Personen bestehendes Sekretariat, das die drei Hauptressorts bzw. Kommissionen – Wirtschaft und Recht, Soziales und industriell-technische Fragen – und eine diesen zugeordnete begrenzte Zahl von (Ad-hoc-)Arbeitsgruppen organisiert bzw. leitet. Das Sekretariat kommuniziert und koordiniert die FIEC-Aktivitäten gegenüber mehreren europäischen und internationalen Partnerorganisationen, vermittelt die Branchenanliegen gegenüber anderen europäischen Branchen- und Dachverbänden der Wirtschaft und betreibt das „Tagesgeschäft“ der Interessenvermittlung gegenüber den verschiedenen Einflussadressaten auf europäischer Ebene. Im seit 1999 existierenden sektoralen Dialog der Bauwirtschaft vertritt FIEC als (von der EU-Kommission anerkannte) repräsentative europäische Organisation die bauwirtschaftlichen Interessen und agiert mithin als sektoraler „Sozialpartner“ und Gegenspieler der Europäischen Gewerkschaft der Bau- und Holzarbeiter (EFBWW). 6
Einflussstrategien
Das durch das Entscheidungssystem und die Kompetenzorganisation der EU vorstrukturierte Spektrum lobbyistischer Aktivitäten und die empirisch beobachtbaren Einflussstrategien der europäischen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände sind hinsichtlich der Handlungsformen, des Timings und der Wahl der Einfußadressaten breit gefächert und nach Domänen und Verbandstypen stark differierend. Dies macht eine generalisierende Beschreibung und modelltheoretische Erklärung – etwa mittels der traditionellen Theorien des Pluralismus oder Neokorporatismus – problematisch (Wolf 2005: 79 f.). Auch institutionenökonomische Ansätze, die die Interaktionen zwischen EU-Organen und Interessengruppen als Tauschbeziehungen modellieren, oder jüngere netzwerkanalytische (meist fallstudienbasierte) Ansätze, können bei aller Tiefenschärfe nur Teile der empirischen Vielfältigkeit der Prozessmuster europäischer Interessenvermittlung erfassen. Im Vergleich zu den Euroverbänden sind die empirischen und analytischen Erkenntnisse über die europäische Interessenvermittlung nationaler Wirtschaftsverbände und Unternehmen fundierter und repräsentativer. So haben die deutschen Verbände und Unternehmen neben organisationsinternen Anpassungen (Lang/ Grote 2005) im Zuge der europäischen Integration ihr Repertoire an Strategien der Interessenvermittlung dahingehend erweitert, dass sie „(…) neben ihrer Mitgliedschaft in EU-Verbänden im wesentlichen drei Strategien (nutzen), um ihre Interessen im EU-Mehrebenensystem zu vertreten: (1) Sie repräsentieren ihre Interessen direkt gegenüber den EU-Institutionen, (2) sie vertreten ihre Interessen gegenüber deutschen Institutionen und (3) sie bilden Koalitionen mit anderen Interessenorganisationen.“ (Eising 2005: 324).
Dabei unterscheidet Eising (ebd.: 325 f.) fünf Typen von Interessenorganisationen – Nischenverbände, gelegentliche Spieler, Traditionalisten, EU-Spieler und Mehrebenenspieler –, von denen nur die beiden Letzten ein systematisches EU-bezogenes Lobbying betreiben, das der Mehrebenenlogik der EU-Entscheidungsprozesse Rechnung trägt, während die Nischen-
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verbände weder national noch europäisch und die „traditionalistischen“ Verbände primär national und nur punktuell auf der EU-Ebene agieren. Insgesamt zeigt die Untersuchung, dass der Faktor Handlungskapazitäten ausschlaggebend für den sachlichen und räumlichen Umfang verbandlicher EU-Aktivitäten ist. Demzufolge entsprechen vor allem die unternehmerischen Dach- und ressourcenstarken Branchenverbände den letzten beiden Typen. Ein weiterer Befund ist, dass die Konzerne, „(…) im Durchschnitt mehr Kontakte mit nationalen Regierungen als nationale Verbände und mehr Kontakte mit EU-Institutionen als EUVerbände (unterhalten)“ (Eising 2005: 330). Versucht man trotz der oben genannten analytischen Einschränkungen einige Grundmuster der Einflussnahme und der spezifischen Rolle der EU-Verbände im Politikzyklus der EU zu skizzieren, der von einem Richtlinienentwurf der EU-Kommission oder ersten Rahmenfestlegungen (Grün- und Weißbücher, Haushaltsentwürfe etc.) bis zur nationalen Umsetzung und Implementierung einer EU-Entscheidung reicht, so verdienen folgende Elemente hervorgehoben zu werden: Die EU-Verbände sind Teil einer meist dualen und parallelen bzw. arbeitsteiligen Einflussstrategie, derer sich die unternehmerischen Verbände bedienen. Die europäischen Organisationen ergänzen und erweitern auf mulilateraler und transnationaler Ebene die autonom-direkten Aktionen ihrer nationalen Mitgliedsverbände gegenüber deren Regierungen (mithin deren mittelbare Einflussnahme auf Entscheidungen des Rates) und deren direkte Einwirkungsversuche auf der europäischen Organebene (neben Kommission und Europäischem Parlament sind dies auch die ständigen Vertretungen der Mitgliedstaaten sowie der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen). Nahezu ausschließliche Einflussadressaten der Euroverbände sind die supranationalen Organe auf EU-Ebene. Die EU-Kommission ist als Initiativorgan und Prozessmanager der Gemeinschaftspolitik unter strategischen wie zeitlichen Gesichtspunkten („timing of influence“) der vorrangige Einflussadressat der europäischen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände. Kommissionsentscheidungen basieren auf dem Kollegialprinzip. Gleichwohl öffnet die starke funktionale Segmentierung der Aufgabenfelder den einzelnen Generaldirektionen beträchtliche Gestaltungsspielräume. Die engen, oftmals routinisierten Informations- und Konsultationsprozesse zwischen den Generaldirektionen und dem jeweiligen Interessentenkreis sowie der jeweiligen Verbandsklientel eines Sektors bzw. Politikfeldes begünstigen entlang der Verantwortungsbereiche der Generaldirektionen (Landwirtschaft, Soziales usw.) die Herausbildung von „Verbandsherzogtümern“, zu denen im Falle der Unternehmensverbände traditionell die wirtschaftsbezogenen Generaldirektionen (Binnenmarkt, Außenwirtschaft, Verkehr, Industriepolitik, Forschung) zählen. Der Befund historischer EU-Verbändestudien, wonach die EU-Kommission die europäisch aggregierten Verbandsinteressen bevorzuge, mithin die Euroverbände als „privilegierte Partner“ behandle, ja sich diese geradezu „schaffe“, bedarf der Differenzierung und teilweise der Korrektur. Zwar übt die EU-Kommission, wie eh und je, durch ihre Gestaltung der formellen und informellen Konsultationspraktiken und nicht zuletzt durch finanzielle Mittel (Pollack 1997: 580 f.) auch einen steuernden und strukturierenden Einfluss auf Organisations- und Artikulationsmuster von europäischen Verbänden aus; jedoch ist sie, abhängig von Regelungsmaterien und Projekten, längst dazu übergegangen auch relevante nationale Verbände und Nicht-Regierungs-Organisationen zu konsultieren und insbesondere mit Konzernen und Unternehmenskonsortien strategisch zu interagieren (Schumann et al. 2005: 227 ff.). Ein Beispiel unter vielen für entsprechende Kommissionsinitiativen zur intensiven industrie- und handelpolitischen Kooperation mit (Groß-)Unternehmen ist der Transatlantic Business Dialog (TABD), den die EU-Kommission 1995 zusammen mit dem US-Handelsministe-
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rium ins Leben gerufen hat und der rund 100 der größten US-amerikanischen und europäischen Konzerne zu regelmäßigen Konsultationen zusammenführt (Cowles 1997, 2001). Auch das Europäische Parlament hat im Zuge seiner sukzessive erweiterten Mitentscheidungskompetenzen als Ort und Adressat gesellschaftlicher Interessenvermittlung und lobbyistischen Wirkens signifikant an Bedeutung gewonnen. Der nationalen Parlamentspraxis vergleichbar, umfasst das Spektrum der Austauschbeziehungen förmliche EP-Anhörungsverfahren von Verbänden und vielfältige sowohl von nationalen wie europäischen Interessengruppen getragene informelle Lobbyaktivitäten, darunter „parlamentarische Abende“, zu denen Verbände einladen, sowie gezielte Kontakte zu Ausschussvorsitzenden und Berichterstattern des EP. Soweit die Interessenvertretung über „eingebaute Lobbyisten“ stattfindet, d. h. über Abgeordnete, die zugleich Mitglied oder Funktionsträger einer Unternehmensorganisation sind, dominiert hier naturgemäß die nationale Verbandsanbindung. Gleiches gilt für den Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA), der unter den beratenden Ausschüssen der EU das wichtigste Organ einer institutionalisierten gesellschaftlichen Interessenrepräsentation darstellt und in dem die Arbeitgeber drittelparitätisch (neben den Gewerkschaften und sogenannten freien Berufen) vertreten sind. Vielfach werden die Willensbildungsprozesse innerhalb der Arbeitgebergruppe des WSA auch über die von entsprechenden Materien betroffenen europäischen Verbände kommuniziert bzw. mit deren fachlicher Unterstützung bewerkstelligt. Der Ministerrat bzw. die europäischen Fachministerräte sind im Entscheidungsstadium, nicht zuletzt aufgrund ihrer komplizierten Verfahren, die eine Kombination aus intergouvernementalem Bargaining und administrativer Kooperation darstellen, gegenüber einer unmittelbaren Verbandseinflussnahme weitgehend abgeschirmt. Im Falle der Tagungen des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs hat sich eine Praxis herausgebildet, wonach der amtierende Ratspräsident am Vorabend einer Ratstagung Delegationen der europäischen Dachverbände der Sozialpartner EGB und UNICE zu einem bilateralen, informellen Meinungsaustausch empfängt. Diese hier zunächst beschriebene Palette informeller Interessenvermittlung wird ergänzt durch die formelle, institutionalisierte Mitwirkung der Verbände im Rahmen eines umfangreichen Systems beratender Ausschüsse der Kommission und des Rats. Hier koordinieren die europäischen Verbände vielfach die Arbeit der (nationalen) Gremienvertreter bzw. sind durch Mitarbeiter des europäischen Verbandssekretariats unmittelbar involviert. 7
Zusammenfassung und Perspektiven
Allein durch das zahlenmäßige Übergewicht der europäischen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände gegenüber konkurrierenden gesellschaftlichen EU-Organisationen, aber auch aufgrund ihres mittleren bis hohen Organisationsgrades (gemessen an den potentiell in einer bestimmten Domäne organisierbaren nationalen Organisationen der EU-Mitgliedstaaten) erscheint deren Machtfülle enorm. Die in der Literatur vielfach vertretene These einer Dominanz von Kapitalinteressen in den (wirtschafts)politischen Entscheidungsprozessen der Europäischen Union dürfte zutreffen; freilich erst dann, wenn man die hier nicht eigens analysierte nationale Verbandsebene und vor allem das eigenständige europapolitische Agieren der transnationalen Konzerne mit einbezieht. Neben quantitativen Hinweisen, wie dem beschriebenen zahlenmäßigen Wachstum von Konzernrepräsentanzen in Brüssel oder dem oben skizzierten Beispiel des European Round Table of Industrialists (ERT), un-
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terstreichen Fallstudien das einflussreiche Agieren von Großkonzernen; etwa bei der Strukturierung sektoraler Märkte, wie beispielsweise durch Koppelgeschäfte zwischen der EUKommission und Energiekonzernen in der europäischen Elektrizitätspolitik (Schumann et al. 2005: 227 ff.). Eine Bilanz der Interessenvermittlung durch europäische Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände ergibt hingegen aufgrund vielfältiger und uneinheitlicher Entwicklungen, Organisationsformen und Funktionsprofile ein insgesamt differenziertes Bild: 1.
Was die Forschung über die Rollenprofile und die Handlungsfähigkeit europäischer Verbände generell konstatiert, gilt auch und in besonderem Maße für die europäischen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände: „Ein Euroverband kann Akteur auf der europäischen Bühne und mit Autonomie gegenüber seinen Mitgliedsverbänden ausgestattet sein; er kann Forum zur Kommunikation und Interessenabstimmung seiner Mitglieder sein; er kann auch lediglich Instrument sein, das von einzelnen Mitgliedern oder auch staatlichen Akteuren eingesetzt wird. Diese Rollen schließen sich nicht gegenseitig aus: ein Verband kann in einigen Sachfragen autonom agieren, während er in anderen nur ein Forum für seine Mitglieder bildet. Die Rolle, die ein Verband einnimmt, kann auch über die Zeit variieren.“ (Eising/Kohler-Koch 2005a: 29).
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Im historischen Längsschnitt betrachtet besaßen die europäischen Wirtschaftsverbände in den Anfangsjahren selten Akteursqualität, sondern hatten lange Zeit die Eigenschaft von „runden Tischen“ und Foren (Platzer 1984, 1999: 415). Über eine autonome Handlungsfähigkeit und Führungsrolle im innerverbandlichen Abstimmungsprozess verfügen sie auch heute nur in begrenztem Maße (Lahusen/Jauß 2001) und nur unter bestimmten Voraussetzungen. Hierzu zählen, wie gezeigt, ein hoher Grad an Interessenhomogenität unter den Mitgliedern (was bei fachlich spezialisierten Verbänden vielfach der Fall ist), bestimmte suprastaatliche Entscheidungskonstellationen, aus denen heraus eine Steuerungsfunktion der Euroverbände erwächst, etwa bei der Festlegung und Kontrolle verbandlicher „Selbstregulative“, und schließlich bestimmte sektorale Marktbedingungen (u. a. starke öffentliche Regulierung), die eine europäisch aggregierte Politikvermittlung durch die Euroverbände begünstigen oder bedingen. Gegenüber dergestalt ausgeprägten transnationalen Akteursqualitäten einzelner Euroverbände in wirtschafts- und industriepolitischen Bereichen werden sich die Funktionsprofile jener (sektoralen) Unternehmensverbände, die in die Rolle eines europäischen Arbeitgeberverbandes und eines Sozialpartners im Rahmen des Sozialen Dialogs hineingewachsen sind, aller Voraussicht nach in naher und mittlerer Zukunft kaum über den oben analysierten Status quo hinaus entwickeln. Selbst wenn die Gewerkschaften ihre Politik weitreichend transnational ausrichten würden, wäre dies allenfalls eine notwendige, aber ohne nachhaltige (supra-)staatliche Regelungsimpulse, d. h. ohne einen politisch gesetzten Anreizmechanismus für Verhandlungen („negotiate or we will legislate“), keine hinreichende Bedingung. Die mittelfristige arbeits- und sozialpolitische EU-Agenda mit ihrer Tendenz zur „weichen Regulierung“ und die vermehrte Rahmensteuerung verschiedener Politikfelder mittels der „offenen Koordinierungsmethode“ vermitteln diesbezüglich keine ausreichenden Impulse. Die Analyse konnte zeigen, wie im Zuge der Integrationsdynamik seit den 1980er Jahren (Binnenmarktvollendung, Wirtschafts- und Währungsunion, EU-Erweiterungen) nicht nur die Zahl europäischer Unternehmensorganisationen weiter gewachsen
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ist, sondern vielfach auch deren Ressourcenausstattung und Aktivitätenradius zugenommen hat, wodurch tendenziell auch eine Effektivierung der multilateralen Interessenabstimmung befördert wurde. Diese Entwicklungstendenz einer zunehmenden Transnationalisierung war und ist jedoch stets begleitet von einer Politik der nationalen (Mitglieds-)Verbände, ihrerseits ihre Europaarbeit so zu stärken und auszurichten, dass sie auf nationaler wie europäischer Ebene zur autonomen Vermittlung ihrer Interessen, einschließlich einer möglichst wirksamen Mitgestaltung und ggf. Kontrolle der Politik ihres Euroverbandes, fähig sind. Wie oben beschrieben, gilt dies nicht für alle nationalen (Klein-)Verbände, sondern für repräsentative, ressourcenstarke sektorale und multi-sektorale Organisationen. Und es gilt wiederum vornehmlich für nationale Verbände der großen EU-Mitgliedstaaten, darunter und mit an vorderster Stelle für die deutschen Verbände. Sie verfügen, bedingt durch die Größe und das Gewicht der nationalen Volkswirtschaft, über vergleichsweise hohe personelle und materielle Ressourcen, die sie auch in den transnationalen Verbänden zum Tragen bringen (können). Die Entwicklung des Verhältnisses der europäischen zur nationalen Organisationsund Handlungsebene der Verbände gestaltet sich, wie in der einschlägigen Literatur vielfach belegt, nicht (oder nur in eher seltenen Fällen) im Sinne eines Nullsummenspiels: Was die eine Ebene an Bedeutung gewinnt, verliert die andere. Selbst wenn im Zuge einer (nur schwer abschätzbaren, gegenwärtig und auf mittlere Sicht eher unwahrscheinlichen) weiteren Vertiefung der ökonomisch-politischen Integration die multilaterale und transnationale Interessenvermittlung auf europäischer Ebene weiter an Bedeutung gewinnen würde, ist davon auszugehen, dass sich die europäischen Unternehmensverbände in voraussehbarer Zukunft allenfalls graduell über die hier beschriebenen Rollenprofile hinaus entwickeln werden. D. h. sie werden auch weiterhin relevante (ggf. auch erweiterte) Funktionen, aber eben nur Teilfunktionen innerhalb einer Mehrebenen-Einflusslogik erfüllen, in der auch künftig die nationalen (dann ggf. noch stärker europäisierten) Mitgliedsverbände und die nationale Ebene der europapolitischen Interessenvermittlung ihr Gewicht behalten werden. Anders gelagert sind die Verhältnisse, wenn man im Gesamtspektrum der europäischen Vermittlung von Business Interests das eigenständige EU-Lobbying transnationaler Konzerne einbezieht. Hier sind im Zuge der Binnenmarktvollendung, aber auch aufgrund ökonomischer Globalisierungsprozesse seit den 1980er Jahren Entwicklungen in Gang gekommen, die mit den teilweise weitreichenden konzernstrukturellen Veränderungen (Müller et al. 2004: 58 ff.) auch die Bedingungen und Relationen zwischen kollektivem Handeln im Rahmen von Unternehmensverbänden und individuellen PrivateCorporate-Strategien verändert haben. Auch wenn diese Zusammenhänge in diesem Beitrag nicht Gegenstand einer vertieften Analyse sein konnten, zeigen die hier empirisch beleuchteten Beispiele doch eines: Das Direkt-Lobbying der Großunternehmen bzw. deren flexibel koordiniertes gemeinsames Agieren in den EU-Entscheidungsprozessen hat in den vergangenen beiden Dekaden eine neue Reichweite und Qualität angenommen. Diese konzernautonomen Einflussstrategien treten vielfach in Konkurrenz zur kollektiven Interessenvermittlung im Rahmen der nationalen wie europäischen Unternehmensverbände oder erschweren zumindest die verbandliche Interessenaggregation. Dies kann im Falle der Dominanz eines oder mehrerer Großkonzerne in einer Branche bis zur Marginalisierung der sektoralen Verbände führen, zumindest deren
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Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld Handlungs- und Entwicklungspotenziale deutlich einschränken. Die mit dem zunehmenden Direkt-Lobbying der Konzerne auf europäischer Ebene einhergehende Pluralisierung wirtschaftlicher Interessenvermittlung schmälert letztlich auch den seit den 1950er Jahren historisch gewachsenen und reklamierten Anspruch der europäischen Unternehmensdachverbände, bei gesamtwirtschaftlichen Fragen das jeweils repräsentative, legitimierte Sprachrohr auf europäischer Ebene (etwa im Falle der UNICE „the Voice of European Business“) zu sein.
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Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
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Unternehmerverbände im internationalen Vergleich Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
Franz Traxler
1
Einleitung
Analysen zu Unternehmerverbänden können sich auf drei grundlegende Theoriestränge stützen: die Theorie kollektiven Handelns sowie klassen- und organisationstheoretische Ansätze. Die Grundlage zu theoretisch gehaltvollen Studien zum Thema wurde dabei von der Theorie kollektiven Handelns geschaffen (Olson 1965). Deren Ausgangspunkt ist, dass jede Art von Interessenverbänden darauf abstellt, kollektive Interessen zu vertreten, von deren Nutzen kein Interessent, unabhängig davon, ob er Verbandsmitglied ist oder nicht, ausgeschlossen werden kann. Daraus ergibt sich ein prinzipieller Anreiz für am Eigeninteresse orientierte, rationale Interessenten, sich als „Trittbrettfahrer“ zu betätigen, d. h. dem Verband nicht beizutreten, um auf diese Weise an den Vorteilen der kollektiven Interessenvertretung teilzuhaben, ohne gleichzeitig durch die Entrichtung von Mitgliedsbeiträgen und andere Leistungen an deren Kosten mitzutragen. Unter Annahme einer hinreichend großen Zahl von Trittbrettfahrern folgt aus diesem „Problem kollektiven Handelns“, dass sich auf freiwilliger Basis und ohne spezifische („selektive“) Mitgliedsanreize nur relativ schwache Verbände entwickeln können bzw. die Verbandsbildung überhaupt scheitert. Gegenüber dieser Argumentation ist aus klassentheoretischer Sicht eingewendet worden, dass sie das Problem kollektiven Handelns unzulässig generalisiert (Offe/Wiesenthal 1980). Vernachlässigt wird dadurch die spezifische Problemlage kollektiven Handelns, die sich mit der unterschiedlichen Klassenlage von Kapital und Arbeit und damit jeweils für die Konstituierung von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften verbindet. Dabei spiegeln die Unterschiede in der Klassenlage strukturelle Vorteile des Kapitals in den Chancen zur Verbandsbildung und führen zu zwei klassenspezifischen „Logiken“ kollektiven Handelns. Denn in kapitalistischen Gesellschaften dominieren insgesamt die Interessen des Kapitals, mit der Konsequenz, dass sich kaum Probleme der Interessenvereinheitlichung stellen. Im Gegensatz dazu ist die Interessenlage der Arbeitskraft ambivalent, da sie einerseits systemimmanente und andererseits systemtranszendierende (antikapitalistische) Interessenbezüge in sich vereinigt. Insgesamt generiert die ungleich größere Heterogenität der Interessen der Arbeitskraft erheblich gravierendere Probleme der Ziel- und Organisationsbildung für die Gewerkschaften im Vergleich zu den Unternehmerverbänden, deren (potenzielle) Mitglieder sich durch eine hohe Homogenität der Interessen auszeichnen. Diese These wurde ihrerseits von einem organisationstheoretisch orientierten Forschungsstrang mit dem Verweis auf seine international vergleichenden Befunde zur Struktur von Unternehmerverbänden in Frage gestellt (Streeck 1991). Diese Befunde zeigen, dass die Zahl vergleichbarer Unternehmerverbände signifikant jene der Gewerkschaften übertrifft. Die Ursache dafür ist, dass Unternehmer nicht nur Arbeitgeberverbände unterhalten, die auf die Durchsetzung ihrer Arbeitsmarktinteressen abstellen, sondern darüber hinaus auch Wirtschaftsverbände, die sich auf die Vertretung anderer, sogenannter Produktmarktinteressen der Unternehmen spezialisiert haben. Wie die nähere Betrachtung zeigt, ist
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Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
es die Vielfalt der existierenden Wirtschaftsverbände, die zu der insgesamt deutlich größeren Zahl der Unternehmerverbände im Vergleich zu den Gewerkschaften führt. Aus diesem Tatbestand wird im Gegensatz zur Klassentheorie auf eine größere Interessenheterogenität auf Seiten des Kapitals geschlossen, da dessen größere verbandliche Fragmentierung als Ausweis einer entsprechend größeren interessenpolitischen Heterogenität begriffen wird. Von dieser interessenpolitisch ausgelegten Organisationstheorie der Interessenverbände hebt sich eine ressourcenpolitische Variante ab (Traxler 1993, 1995; Traxler/Blaschke/ Kittel 2001). Sie betont, dass die Bildung von Verbänden nicht nur eine Frage relevanter Interessen, sondern vor allem auch ein Problem verfügbarer Ressourcen darstellt: Selbst wenn es um vitale Interessen geht, unterbleibt die Gründung eines Verbandes zu deren Durchsetzung, wenn es an den erforderlichen Ressourcen in finanzieller oder personeller Hinsicht fehlt. Aus dieser ressourcenpolitischen Perspektive reflektiert die oben erwähnte größere Vielzahl von Unternehmerverbänden im Vergleich zu den Gewerkschaften nicht notwendigerweise eine größere Heterogenität der Unternehmerinteressen, sondern primär eine überlegene Ressourcenausstattung der Unternehmen. Diese Überlegenheit ist insbesondere im Fall der Arbeitgeber leicht einzusehen. Deren Unternehmen repräsentieren immer ein Kollektiv von Beschäftigten, das auf die Durchsetzung ihrer Ziele verpflichtet ist. Demgemäß ist die Mitgliedereinheit von Arbeitgeberverbänden die Firma als Kollektiv, jene der Gewerkschaften hingegen der Arbeitnehmer als Individuum. Dieser Sachverhalt scheint uns zur klassentheoretischen These von den Organisierungsvorteilen der Unternehmer zurückzuführen. Tatsächlich ist die Ungleichverteilung in der Ressourcenausstattung der Unternehmer und Arbeitgeber zwar klassenbedingt, in ihren Konsequenzen für die verbandliche Interessenvertretung insgesamt aber ambivalent. Im Verhältnis zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitgebern bedeutet sie einen Machtvorsprung der Arbeitgeber. Andererseits führt sie bezüglich des Verhältnisses zwischen den Mitgliedern und ihrem Verband dazu, dass die Arbeitgeber (ebenso wie die Unternehmer generell) von den Aktivitäten ihres Verbandes weniger abhängen als die Arbeitnehmer. Infolge ihrer überlegenen Ressourcenausstattung sind insbesondere die großen Unternehmen imstande, ihre Interessen ohne Verband „im Alleingang“ durchzusetzen. Die überlegene Ressourcenausstattung verleiht den Unternehmen daher nicht nur einen Machtvorsprung gegenüber den Arbeitnehmern, sondern auch gegenüber ihren eigenen Interessenverbänden. Zusätzlich befähigt diese Ressourcenausstattung die Unternehmen mehr zur rationalen Abschätzung der Kosten und Nutzen der Verbandsmitgliedschaft, eine Orientierung, die der Theorie kollektiven Handelns zufolge Trittbrettfahren begünstigt. Aus diesen einleitenden Überlegungen lassen sich eine praktische und eine analytische Schlussfolgerung ableiten. Zum einen ist davon auszugehen, dass weder Kapital noch Arbeit generell über einen strategischen Vorteil in der kollektiven Interessenvertretung verfügen. Gleichwohl bestehen jedoch klassenspezifische Unterschiede in den Problemen der Verbandsbildung. Zum anderen ist es jedenfalls für die empirische Analyse sinnvoll, die oben skizzierten Theoriestränge nicht als konkurrierende Alternativen, sondern als komplementäre Sichtweisen auf unterschiedliche Aspekte der Interessenverbände zu interpretieren. Davon ausgehend liegt diesem internationalen Vergleich die folgende thematische Gliederung zugrunde: Zunächst wird auf die Aktivitäten der Verbände eingegangen, wobei zwischen Interessenvertretung und Serviceleistungen differenziert wird. Danach wird ihre Mitgliederbindekraft unter besonderer Berücksichtigung der diesbezüglichen Relevanz der Tarifvertragsfunktion erörtert. Ein weiteres Thema bilden die Organisationsstrukturen der
V.2 Unternehmerverbände im internationalen Vergleich
443
Verbände. Die abschließenden Überlegungen konzentrieren sich auf deren Zukunftsperspektiven. 2
Aktivitäten
Wie oben erwähnt, ist grundlegend zwischen den Arbeitsmarkt- und den Produktmarktinteressen der Unternehmen zu unterscheiden. Diese Differenzierung orientiert sich an den jeweiligen Austauschpartnern der Unternehmen. Im Fall der Arbeitsmarktinteressen sind dies die Arbeitnehmer; in Bezug auf die Produktmarktinteressen alle anderen Wirtschaftssubjekte, mit denen Unternehmen in Geschäftsbeziehungen stehen: Lieferanten, Finanzinstitutionen sowie die Kunden in Form anderer Unternehmen bzw. der Endverbraucher. Im Verhältnis zu all diesen Austauschpartnern bestehen Interessenkonflikte hinsichtlich der Austausch- und Vertragsbedingungen, die prinzipiell auch zum Thema kollektiver Interessenvertretung gemacht werden können. Dabei richtet sich eine solche Interessenvertretung nicht unbedingt an die Austauschpartner selbst, sondern nicht zuletzt an den Staat als jene Instanz, die die wesentlichen Randbedingungen der Marktbeziehungen setzt. So könnte z. B. die Industrie versuchen, ihrem Interesse an niedrigen Energiepreisen durch die an den Staat gerichtete Forderung nach der Deregulierung der Energiewirtschaft Geltung zu verschaffen. In Abhängigkeit davon, welche Interessen tatsächlich zum Gegenstand verbandlicher Aktivitäten werden, lassen sich drei Grundtypen von Unternehmerverbänden unterscheiden: (Reine) Arbeitgeberverbände beschränken sich auf die Vertretung der Arbeitsmarktinteressen der Unternehmen, (reine) Wirtschaftsverbände sind auf Produktmarktinteressen spezialisiert, während Universalverbände sowohl die Arbeits- als auch die Produktmarktinteressen ihrer Mitglieder repräsentieren. In nahezu allen Ländern bildete sich im Zuge der kapitalistischen Entwicklung ein funktional spezifiziertes Verbändesystem der Unternehmen heraus. Zunächst entstanden noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts reine Wirtschaftsverbände, die sich in zwei Subgruppen ausdifferenzierten: branchen- und sektorspezifische Wirtschaftsverbände einerseits, territoriale, branchenübergreifende Wirtschaftsverbände („Kammern“) andererseits. In vielen Ländern erhielten die Kammern neben ihren Agenden der Interessenvertretung durch den Staat öffentliche Funktionen, mit der Konsequenz, dass ihnen häufig ein öffentlichrechtlicher Status samt Pflichtmitgliedschaft zugewiesen wurde. 1 Im Gegensatz dazu kam es zur Bildung von Arbeitgeberverbänden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Arbeitgeber zunehmend mit durchsetzungsfähigen Gewerkschaften konfrontiert wurden und daher die Notwendigkeit erkannten, ihre Arbeitsmarktinteressen zu organisieren. Die Interessenvertretung der Unternehmen beruhte damit auf drei Säulen: den branchenspezifischen Wirtschaftsverbänden, die die korrespondierenden Produktmarktinteressen ihrer Mitglieder bedienten, den Kammern, die sich auf territorialspezifische Ordnungsleistungen (z. B. Lizenzen und Zertifizierungen), Dienstleistungen und die sektorübergreifende Wirtschaftsförderung konzentrierten, und den Arbeitgeberverbänden. Dieser Ausdifferenzierungsprozess ist darauf zurückzuführen, dass sich Produkt- und Arbeitsmarktinteressen fundamental in ihren Bedingungen der Interessenvertretung unterscheiden (Streeck 1991). Betrachtet man die Unternehmen als Klasse, so sind Interessen1
Allerdings finden sich auch Länder (z. B. Großbritannien, Belgien, Schweden und Finnland), in denen die Mitgliedschaft in den Kammern freiwillig ist.
444
Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
konflikte, die den Produktmärkten entstammen, in der Regel endogener Natur: Sie entzünden sich innerhalb der Unternehmerschaft und entzweien sie, da die Produktmarktinteressen einer Unternehmergruppe den Produktmarktinteressen anderer Unternehmergruppen (nämlich ihren Austauschpartnern) gegenüberstehen. Im Gegensatz dazu sind die Interessenkonflikte, die im Arbeitsmarkt angelegt sind, exogen. Sie einen die Unternehmerklasse in ihrem Gegensatz zur Arbeitskraft. Anders als im Fall der Produktmarktinteressen lässt sich daher für die Arbeitsmarktinteressen aller Unternehmen ein gemeinsamer Nenner finden. Er ergibt sich z. B. im Bereich der Lohnpolitik durch jene Lohnerhöhung, die auch der Grenzbetrieb noch zu akzeptieren in der Lage ist. Diese Unterschiede in der Vereinheitlichbarkeit von Produkt- und Arbeitsmarktinteressen führen zu kontrastierenden Konsequenzen für die Abgrenzung der Verbandsdomänen. Zur Vertretung der Arbeitsmarktinteressen ist es sinnvoll, möglichst umfassende Verbände zu bilden. Dies folgt nicht nur aus der Exogenität des Gegeninteresses, sondern auch aus dem strategischen Imperativ, mindestens ebenso viele Bereiche des Arbeitsmarktes zu kontrollieren wie die Gegenpartei, um diese daran zu hindern, einzelne Arbeitgeber(gruppen) gegeneinander auszuspielen. Im Gegensatz dazu bedingt es die mangelnde Vereinheitlichbarkeit der Produktmarktinteressen, die Verbandsdomänen so eng zu schneiden, dass alle Produktmarktinteressen, die mit jenen der eigenen Klientel kollidieren, externalisiert werden können. Dementsprechend zeigt der internationale Vergleich, dass die Wirtschaftsverbände die Arbeitgeberverbände nicht nur signifikant in der Häufigkeit übertreffen, sondern auch signifikant engere Mitgliederdomänen aufweisen (Traxler 1993). Die Trias von Wirtschaftsverbänden, Kammern und Arbeitgeberverbänden war im Regelfall allerdings insofern durchwachsen, als sie mit einer mehr oder weniger großen Zahl von Universalverbänden koexistierte. Am ehesten vermochte sich dieser Verbändetypus auf der Ebene der Primärverbände durchzusetzen, da deren Domäne vergleichsweise eng geschnitten werden konnte, sodass sie die Vertretung der Produkt-, aber auch der Arbeitsmarktinteressen der Mitglieder erlaubte. Im Vergleich dazu kennzeichnete die Verbände der höheren Ebene („Verbändeverbände“) infolge ihrer umfassenderen Domäne eine stärkere funktionale Differenzierung. Sie war daher besonders ausgeprägt auf der Dach- bzw. Spitzenverbandsebene, wobei die Wirtschaftsverbände dieser Ebene sich typischerweise auf die Vertretung von abgrenzbaren Makrosektoren beschränkten. Unter ihnen waren bzw. sind die traditionell stärksten und einflussreichsten Verbände jene der Industrie. Im Vergleich dazu ist für die Arbeitgeberspitzenverbände eine sektorübergreifende Domänenabgrenzung charakteristisch. In einer Reihe von Ländern gelang allerdings auch die Etablierung von Universalverbänden auf der Spitzenebene. Der Umstand, dass die klassischen Fälle funktionaler Spezialisierung sich neben Deutschland in den skandinavischen Ländern finden, während in den romanischen Ländern Universalspitzenverbände auf eine lange Tradition zurückblicken können, lässt den Schluss zu, dass diese Unterschiede in der Strukturbildung in Zusammenhang mit den Arbeitsbeziehungen stehen. In Ländern, in denen die Arbeitsbeziehungen hauptsächlich durch den Tarifvertrag im Zusammenwirken mit starken Gewerkschaften geregelt wurden, fanden Arbeitgeberverbände die besten Entwicklungsbedingungen vor. Ein größeres Gewicht staatlicher Regulierungen in den Arbeitsbeziehungen hat hingegen die Universalverbände begünstigt. Das Muster funktionaler Spezialisierung ist seit längerer Zeit einem Erosionsprozess unterworfen, in dessen Verlauf Universalverbände zunehmend an die Stelle reiner Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände treten. Eingeleitet wurde dieser Trend zunächst durch
V.2 Unternehmerverbände im internationalen Vergleich
445
verstärkte Fusionen von Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden der nachgeordneten (d. h. branchen- und sektorspezifischen) Ebene seit den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, ehe er in der Folge auch die Spitzenverbände erfasste: In einer Reihe von Ländern (Norwegen: 1989; Finnland und Irland: 1993; Schweden: 2001; Japan 2002) kam es zum Zusammenschluss zwischen dem Arbeitgeberdachverband und dem einflussreichsten Wirtschafts- bzw. Industrie-Spitzenverband. In Portugal weitete der bedeutendste Arbeitgeberverband seine Zuständigkeiten in den Achtzigerjahren auf wirtschaftsverbandliche Agenden aus. In Dänemark wurde der Spitzenverband DA de facto zum Universalverband, nachdem der Industriearbeitgeberverband als sein wichtigstes Mitglied mit dem industriellen Wirtschaftsverband unter dem Dach der DA fusionierte. In Neuseeland zeichneten sowohl die Ausweitung der Zuständigkeiten des Arbeitgeberspitzenverbandes als auch Fusionen der nachgeordneten Ebenen für dessen Transformation in einen Universalverband verantwortlich. Das bedeutet, dass in den Ländern nach Tabelle 1 allein Deutschland und die Schweiz noch über Arbeitgeberspitzenverbände verfügen. Für diesen Trend lassen sich drei wesentliche Ursachen erkennen. Zum einen unterläuft die wachsende Interdependenz der Politikfelder die traditionelle Aufgabenteilung der Verbände. So können z. B. Arbeitsmarktprobleme kaum mehr isoliert von anderen Politikbereichen bearbeitet werden. Des Weiteren lässt der wachsende Wettbewerbsdruck auch die Verbände nicht unberührt. Es sind daher die (großen) Unternehmen selbst, die auf eine „Flurbereinigung“ der Verbändelandschaft drängen, um dadurch ihre Kosten für Verbandsmitgliedschaften abzusenken. Drittens bedingt die tendenzielle Verlagerung der Tarifverhandlungen auf die Unternehmensebene Funktionseinbußen der Arbeitgeberverbände. Tabelle 1 enthält Basisdaten zu dem jeweils größten Arbeitgeber- bzw. Universaldachverband für 22 Länder, unter Einschluss ihrer tarifpolitischen Rolle. Etwa ein Drittel dieser Verbände ist direkt mit Tarifverhandlungen befasst. Seit den späten Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts hat diese Zahl bedingt durch die Dezentralisierung des Tarifsystems abgenommen. In den meisten Ländern handelt es sich dabei um eine „organisierte“ Dezentralisierung, in deren Rahmen die Verbände der Arbeitsmarktparteien Rahmenabkommen für die Verhandlungen auf mitgliedernäheren Ebenen vereinbaren (Traxler/ Blaschke/Kittel 2001). In diesen Fällen hat sich ein Funktionswandel der Spitzenverbände von genuinen Verhandlungsaufgaben hin zu Koordinierungsaktivitäten vollzogen. Davon unterscheidet sich die Situation in Deutschland und Schweden, wo die Spitzen nur indirekt über ihre Mitgliedsverbände am tarifpolitischen Geschehen teilhaben. In der überwiegenden Zahl der Länder liegt die Hauptlast tarifpolitischer Regulierung bei den Branchen- und Sektorverbänden. In einigen Ländern (z. B. Italien, Portugal, Spanien) werden von den Spitzen gelegentlich „soziale Pakte“ ausgehandelt. In allen Ländern mit Spitzenverbänden zählt die Vertretung der Unternehmerinteressen gegenüber dem Staat zu deren wesentlichen Aufgaben. In Großbritannien und Neuseeland beschränken sie sich auf diesen Bereich, nachdem seit den Achtziger- bzw. Neunzigerjahren so gut wie keine Flächentarifverträge abgeschlossen wurden. 2 Ähnlich verhält es sich in Osteuropa, wo die Unternehmerverbände gewöhnlich über kein Verhandlungsmandat für Tarifbeziehungen verfügen. Ausnahmen bilden nur Slowenien und die Slowakei, wo der Flächentarif in den Tarifbeziehungen dominiert. Im Gegensatz zu Großbritannien und Neuseeland sind die Spitzenverbände Osteuropas häufig in tripartistische Beiräte eingebunden. 2
Der Begriff Flächentarif wird hier im Gegensatz zum Haustarif, d. h. als bilateral verbandliche Tarifvereinbarung verstanden.
446
Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
Deren Bedeutung liegt aber eher im Bereich symbolischer Politik als in realen Steuerungsfunktionen. In den USA und Kanada, wo Flächentarife nie Bedeutung erlangen konnten, 3 gibt es nicht einmal Spitzenverbände, die sich mit Arbeitsmarktinteressen befassen. Wie der internationale Vergleich zeigt, nimmt das Tarifsystem und die damit verbundene Regelungsfunktion der Verbände einen wesentlichen Einfluss auf deren Chancen zur Teilhabe an staatlichen Politiken insgesamt (Traxler 2004). In gesamtwirtschaftlich koordinierten Tarifsystemen verfügen die Verbände über signifikant umfassendere Teilhabechancen als in unkoordinierten Systemen. In koordinierten Ländern ist jener Spitzenverband der bevorzugte Partner der Regierung, der diese Koordinierungsfunktion erfüllt, selbst wenn er nicht die größte Zahl an Firmen repräsentieren sollte. Unterliegen die Tarifabschlüsse einem sektorübergreifenden Koordinierungsprozess, verleiht dies den beteiligten Verbänden makroökonomisches Gewicht, das Anlass für den Staat ist, diese auch in andere als einkommens- und sozialpolitische Fragen einzubeziehen. Ein solcher Anreiz für den Staat entfällt im Fall unkoordinierter Tarifsysteme ebenso wie im Fall von Verbänden, die keine tarifpolitische Rolle spielen. Neben den Gewerkschaften und dem Staat als den primären Adressaten der Interessenvertretung der Unternehmerverbände hat die Beeinflussung der Öffentlichkeit vermittels systematischer Kampagnen und Meinungsbildung zunehmend an Bedeutung gewonnen. Zum einen reflektiert dies den oben skizzierten Funktionswandel, namentlich die abnehmende Relevanz der Tariffunktion und den Trend zu Universalverbänden. Zum anderen entspricht dies der Vorreiterrolle des Kapitals in der Forcierung einer Agenda, die sich umrisshaft als neoliberaler Umbau der Gesellschaft beschreiben lässt: Deregulierung, Privatisierung und der Rückbau des Wohlfahrtsstaates. Vor diesem Hintergrund erfüllen politische Kampagnen und verstärkte Öffentlichkeitsarbeit eine doppelte Legitimationsfunktion. Intern geht es darum, die Konfliktpotentiale innerhalb der eigenen Mitgliedschaft zu überspielen, die durch die Bildung von Universalverbänden erheblich zugenommen haben. Extern soll dem neoliberalen Projekt Legitimität verschafft werden. Die Serviceleistungen heben sich von der Interessenvertretung dadurch ab, dass es sich nicht um kollektive, sondern um private Güter handelt. Das bedeutet, dass Nichtmitglieder von deren Nutzen ausgeschlossen werden können. Bei hinreichender Attraktivität wirken sie als selektiver Anreiz zum Erwerb der Mitgliedschaft und somit als Mittel zur Eindämmung des Trittbrettfahrerproblems (Olson 1965). Dies impliziert, dass derlei Serviceleistungen für die Mitglieder unentgeltlich oder billiger als für Nichtmitglieder angeboten werden. Dies ist die vorherrschende Praxis der Unternehmerverbände, wobei sich allerdings eine Tendenz wachsender Kommerzialisierung ausmachen lässt. Sie ist besonders ausgeprägt in Neuseeland und zielt darauf ab, den völligen Verlust der Tariffunktion zu kompensieren (Carrol/Tremewan 1993). In den Niederlanden sind die Unternehmerverbände zunehmend dazu übergegangen, spezielle Subeinheiten zur kommerziellen Unternehmensberatung einzurichten (Visser/Wilts 2006). Generell folgt das Angebot an Dienstleistungen jenen Themenfeldern, die jeweils durch die Interessenvertretung abgedeckt werden. In ihrem Kern handelt es sich dabei um Informations- und Beratungsdienste. Im wirtschaftsverbandlichen Bereich ist solchen Leistungen ein beachtlicher Anreizcharakter vor allem in Zusammenhang mit staatlichen Programmen zur Wirtschaftsförderung beizumessen, in die in Europa die Verbände regelmäßig eingebunden sind. Im arbeitgeberverbandlichen Bereich leiten sie sich aus der Tariffunktion ab. Weiter gehende Leistungen in diesem Bereich sind die Unterstützung beim Abschluss von Haustari3
In Kanada finden sich vereinzelt Flächentarife in einigen Branchen und Provinzen.
V.2 Unternehmerverbände im internationalen Vergleich
447
fen, die Vertretung vor dem Arbeitsgericht sowie im Arbeitskampf die finanzielle Unterstützung durch den Solidaritätsfonds des Verbandes. Die drei letztgenannten Leistungen sind Grenzfälle zur Interessenvertretung, da sie zwar einerseits mitgliederspezifische Dienste darstellen, andererseits aber auch zur Durchsetzung kollektiver Interessen beitragen. Tabelle 1: Die bedeutendsten nationalen Spitzenverbände (1994í96) Land
Name
A AUS B CDN CH D DK E F FIN I IRL JP N NL NZ P PL S SI UK USA
WKÖ CAI (1994-95), ACCI VBO/FEB –– ZSAO, SAVa BDA DA CEOE CNPFb TT C IBEC Nikkeiren NHO VNO (1994), VNO-NCW NZEF CIP KPP SAF GZS CBI ––
Organisationsgrad*
Tarifpolitische Rolle**
Dominanter Tariftypus
Relevanz der AVE***
100 75c 72 0 37 72d 39 72 74 44 39 39 40e 31 79 90 34 20-25f 55 100 54 0
3 3 3 – 2 1 3-2 2 2 3 2 3 2 3 2 0 2 0 1 3 0 1
FT FT FT HT FT FT FT FT FT FT FT FT HT FT FT HT FT HT FT FT HT HT
2 2 2 0 1 1 0 2 2 2 0 0 0 0 2 0 3 0 0 2 0 0
* **
In Arbeitnehmern; Periodendurchschnitt oder rezentester Wert. Lohnverhandlungen: 0 = keine Rolle; 1 = indirekte Rolle, via Mitgliederverbände; 2 = Koordinierung der Mitgliederverbände; 3 = Tarifvertragspartei. *** AVE = Allgemeinverbindlicherklärung; inklusive Pflichtmitgliedschaft; 0 = nicht existent; 1 = begrenzt; 2 = umfassend. a ZSAO, 1996 umbenannt in SAV. b CNPF, 1998 umbenannt in MEDEF. c 1997 d Westdeutschland e 1997 f 2002 FT = Flächentarif; HT = Haustarif. A = Austria, AUS = Australien, B = Belgien, CDN = Canada, CH = Schweiz, D = Deutschland, DK = Dänemark, E = Spanien, F = Frankreich, FIN = Finnland, I = Italien, IRL = Irland, JP = Japan, N = Norwegen, NL = Niederlande, NZ = Neuseeland, P = Portugal, PL = Polen, S = Schweden, SI = Slowenien, UK = Großbritannien, USA = Vereinigte Staaten von Amerika. Quelle: Traxler/Blaschke/Kittel (2001); Datensatz des Instituts für Wirtschaftssoziologie, Universität Wien.
Die Anreizwirkung der Serviceleistungen variiert mit der Firmengröße. Kleinere Firmen sind aus nahe liegenden Gründen stärker auf die Dienste der Verbände angewiesen als die
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Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
größeren Unternehmen, die ihrerseits vielfach den Verbänden Personal und Expertise zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben bereitstellen. Neben dem Solidaritätsfonds ist die Beteiligung an der Willens- und Zielbildung der Verbände der stärkste Mitgliedschaftsanreiz für große Unternehmen. Denn durch die stärkere Gewerkschaftspräsenz in ihren Betrieben unterliegen sie einerseits einem höheren Risiko, zur Arena eines Streiks zu werden; andererseits verleiht ihnen ihre überlegene Ressourcenausstattung einen erheblichen Einfluss auf die Verbandspolitik. 3
Mitgliedschaft und Tariffunktion
Der Zusammenschluss der Unternehmen zum Zwecke der Vertretung ihrer Arbeitsmarktinteressen bedarf der besonderen Betrachtung. Denn er ist unwahrscheinlicher als im Fall der Produktmarktinteressen. Dies liegt an einer Eigentümlichkeit des Arbeitsmarktes, nämlich der strukturellen Machtasymmetrie zuungunsten der Arbeitnehmer (Offe/Hinrichs 1984). Infolge ihrer überlegenen Ressourcenausstattung ziehen die Arbeitgeber individuelle Austauschbeziehungen mit der Arbeitskraft grundsätzlich jedem kollektiven Arrangement vor. Deshalb besteht für sie keinerlei Anlass, sich zu assoziieren, solange es keine Gewerkschaften gibt. Gewerkschaften sind eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für den Zusammenschluss der Arbeitgeber. Ist die Präsenz der Gewerkschaft im Unternehmen schwach, kann der Arbeitgeber sie ignorieren oder deren Mitglieder aus dem Unternehmen hinausdrängen. Ist sie stark, bietet sich der Abschluss eines Haustarifs fern jeglicher Verbandsmitgliedschaft an. Insofern steht und fällt der Anreiz zur verbandlichen Organisierung der Arbeitsmarktinteressen mit dem Stellenwert des Flächentarifs. Diesen Zusammenhang unterstreicht der internationale Vergleich. Wie oben skizziert, gibt es in jenen Ländern, in denen der Haustarifvertrag dominiert, entweder überhaupt keine Unternehmerverbände auf Spitzenebene oder nur Universalverbände, für die Themen der Arbeitsbeziehungen von untergeordneter Bedeutung sind. Der Stellenwert des Flächentarifs ergibt sich aus seinem Potential, positive und/oder negative Anreizwirkungen für die Unternehmen zu entfalten. In der Literatur finden sich vier positive Anreize des Flächentarifs (z. B.: Clegg 1976; Sisson 1987; Traxler/Blaschke/Kittel 2001): im Zusammenhang mit den Beschäftigungsverhältnissen eine nachhaltigere Reduktion von Transaktionskosten als im Fall des Haustarifs; die Kartellierung der Arbeitskosten und möglicherweise auch der Produktpreise; die Neutralisierung des Gewerkschaftseinflusses im Unternehmen selbst als Konsequenz der Auslagerung der Tariffunktion; Anreize der Mitgliedschaft in Universalverbänden, die nichts mit den Arbeitsbeziehungen zu tun haben. Solche Anreize gründen in der Vertretung von bzw. Dienstleistungen für Produktmarktinteressen. Sind sie hinreichend attraktiv, akzeptiert das Unternehmen auch die Bindung des Flächentarifs, den der Universalverband kontrahiert. Umgekehrt besteht auch für Verbände, die die Arbeitsbeziehungen nicht zu ihren Prioritäten zählen, ein Anreiz, die Tariffunktion zu übernehmen. Wie oben dargestellt, sind der Abschluss von Flächentarifen und deren gesamtwirtschaftliche Koordinierung der Schlüssel für die Mitsprache in anderen relevanten Politikfeldern. 4 4
In einigen Ländern ist dieser Zusammenhang formal festgeschrieben. So haben z. B. in Spanien nur repräsentative Tarifverbände Konsultationsrechte in der staatlichen Willensbildung und Anspruch auf staatliche Zuschüsse.
V.2 Unternehmerverbände im internationalen Vergleich
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Während positive Anreize Unternehmen dafür „belohnen“, sich der Geltung des Flächentarifs durch die Mitgliedschaft im kontrahierenden Verband zu unterstellen, begründen negative Anreize Nachteile für jene Unternehmen, die dies nicht tun. Negative Anreize können die Gewerkschaften oder der Staat setzen. Gewerkschaften generieren solche Anreize, wenn sie gegenüber den Unternehmen außerhalb des Flächentarifs eine „Durchbruchstaktik“ verfolgen, die diese nacheinander mit Forderungen konfrontiert und gegeneinander ausspielt. Im Zusammenhang damit erfährt die Schutzfunktion des kontrahierenden Unternehmerverbandes eine Aufwertung, insbesondere dann, wenn er über einen Solidaritätsfonds verfügt. Der wichtigste staatliche Anreiz zur Verbandsmitgliedschaft resultiert aus dem Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung. Ist es gängige Praxis in einem Land, Flächentarife für allgemeinverbindlich zu erklären, müssen die Unternehmen damit rechnen, dass sie der Geltung des Tarifs auch dann unterworfen werden, wenn sie dem kontrahierenden Verband nicht angehören. Unter diesen Umständen ist es für die größeren Unternehmen rational, dem Verband beizutreten, um dadurch dessen Tarifpolitik mitgestalten zu können. Die kleineren Unternehmen, deren verbandsinterner Einfluss geringer ist, haben Grund zum Beitritt, weil er ihnen den Zugang zu Serviceleistungen eröffnet, die sie für die Umsetzung des Tarifvertrags brauchen. In einigen Ländern (Belgien, Frankreich, Niederlande) wird die Allgemeinverbindlicherklärung als Mittel zur Finanzierung öffentlicher Funktionen der Tarifverbände (z. B. betreffend der Sicherheit am Arbeitsplatz, Berufsausbildung und Arbeitslosenunterstützung) verwendet: Die Tarifparteien vereinbaren eine Abgabe der Unternehmen zur Finanzierung dieser Aufgaben im Tarifvertrag. Durch dessen regelmäßige Allgemeinverbindlicherklärung wird diese Abgabe für alle Unternehmen obligatorisch. In ihren Effekten unterscheidet sich dieses Arrangement kaum von der gesetzlich begründeten Pflichtmitgliedschaft. Sie stützt den Flächentarif in Österreich und Slowenien, da in diesen Ländern die öffentlich-rechtlichen Kammern als die zentralen Universalverbände fungieren, die insofern auch die Tariffunktion wahrnehmen. In Österreich genießen die Tarifverbände und der Flächentarif noch dadurch besonderen Schutz, dass das Arbeitsrecht die Tariffähigkeit nur Verbänden, nicht jedoch – mit wenigen explizit gelisteten Ausnahmen – den Unternehmen selbst zugewiesen hat. Das Gegenmodell zu diesen die Tarifverbände stützenden Regulierungen findet sich in den USA und Kanada. Deren Arbeitsrecht konterkariert tendenziell den Abschluss von Flächentarifen und die Bildung von Tarifverbänden der Arbeitgeber, indem es bei der Zuweisung eines Verhandlungsmandats an die Gewerkschaften auf den Betrieb bzw. das Unternehmen als den Geltungsbereich dieses Mandats abstellt. Im Ländervergleich bestehen große Unterschiede darin, inwieweit die oben erwähnten Anreize zu Abschluss von Flächentarifen und zur Bildung von Tarifverbänden der Unternehmer gegeben sind. Dementsprechend variiert auch der Organisationsgrad der Unternehmerverbände beträchtlich (Tabelle 1). Die Daten in Tabelle 1 dokumentieren nur den Organisationsgrad des bedeutendsten, sektorübergreifenden Unternehmerdachverbandes, bezogen auf dessen Mitgliederdomäne. Da in jedem Land eine Vielzahl kleiner, unabhängiger Unternehmerverbände existiert, ist die Ermittlung eines aggregierten Organisationsgrades nicht möglich. Die Spannweite reicht von null Prozent (USA, Kanada, wo es derlei Dachverbände nicht gibt) bis zu 100 Prozent (Österreich, Slowenien infolge der Pflichtmitgliedschaft). Selbst unter Ausklammerung der beiden Länder mit Pflichtmitgliedschaft sind die Unterschiede im Organisationsgrad beachtlich. Wie die quantitativ-komparative Analyse zeigt, ist die Häufigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen die wesentlichste Determinante, die auch den Einfluss des gewerkschaftlichen Organisationsgrades dominiert
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Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
(Traxler/Blaschke/Kittel 2001; Traxler 2004). Ein signifikant positiver Effekt auf den Organisationsgrad der Unternehmerverbände geht vom gewerkschaftlichen Organisationsgrad nur in jenen Ländern aus, in denen es keine Praxis der Allgemeinverbindlicherklärung gibt. Andernfalls ist die gewerkschaftliche Mitgliederstärke für die Neigung der Unternehmer, dem Arbeitgeberverband beizutreten, unerheblich. Darüber hinaus zeigen vergleichende Studien, dass die Wahrscheinlichkeit der Mitgliedschaft in einem Unternehmerverband signifikant mit der Firmengröße zunimmt (Traxler 1993, 1995). Nach der Firmengröße differenzierte Daten zum gewerkschaftlichen Organisationsgrad (Visser 1991) und zur tarifliche Deckungsrate (Traxler 1994) deuten darauf hin, dass die größeren und kleineren Firmen in ihrer Beitrittsneigung am stärksten in jenen Ländern divergieren, in denen es keine Allgemeinverbindlicherklärung gibt. Insgesamt ist aus international vergleichender Sicht die Frage, ob und in welchem Ausmaß Flächentarife für allgemeinverbindlich erklärt werden, von zentraler Bedeutung für die Mitgliederstärke und Bindekraft von Arbeitgeberverbänden. Diese wissen in der Regel die Funktion der Allgemeinverbindlicherklärung für die Stabilisierung ihrer Organisation zu schätzen und nehmen sie von ihrer sonst üblichen Kritik an „marktdirigistischen“ Eingriffen aus. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet diesbezüglich die BDA in Übereinstimmung mit der überwiegenden Mehrheit ihrer Mitgliedsverbände, deren Politik auf die weitgehende Zurückdrängung dieses Rechtsinstituts abstellt (Kirsch 2003). 4
Organisationsstrukturen
Ein Charakteristikum der Interessenvertretung der Unternehmer ist die ausgeprägte organisatorische Differenzierung. Dies gilt nicht allein für große Länder, wie Deutschland, wo die BDA etwa 1000 Mitgliedsverbände zählt, sondern auch für kleine Länder. In Portugal waren 1996 insgesamt 436 Universal- und Arbeitgeberverbände registriert; die Vergleichszahl für Schweden zu Anfang des neuen Jahrtausends liegt bei etwa 100. In diesen Daten sind die Wirtschaftsverbände noch nicht einmal enthalten. Diese starke interorganisatorische Differenzierung steht im Zusammenhang mit dem spezifischen Kräfteverhältnis zwischen Mitgliedern und Verband. Da die großen Unternehmen ressourcenmächtiger sind als ihre Verbände, haben diese ihre Domänen auf deren spezielle Interessen zuzuschneiden. Im Fall der Universal- und Wirtschaftsverbände, die (auch) die Produktmarktinteressen ihrer Mitglieder zu vertreten haben, führt dies zu partikularistischen Domänenfestlegungen. Diese starke horizontale Differenzierung geht einher mit einer tiefen hierarchischen Gliederung des Verbändesystems, das von den Primärverbänden bis zur Spitzenorganisation oft drei oder mehr Ebenen selbständiger Verbände umfasst. Diese „Verbändepyramide“ ist darauf ausgelegt, die vielfältigen Interessen in einem schrittweisen Prozess zu vereinheitlichen oder ihn auch auf jener Ebene abzubrechen, auf der die Chance der Konsensbildung endet. So ist es eine weit verbreitete Praxis der Universalspitzenverbände, auf die Vereinheitlichung nicht kompromissfähiger (Produktmarkt-)Interessen zu verzichten und diesbezüglich den Mitgliedsverbänden freie Hand zu lassen. Anders als die Produktmarktinteressen unterliegen Arbeitsmarktinteressen dem strategischen Imperativ zur umfassenden Koordinierung, sodass sie auch eher einem Vereinheitlichungsprozess in nicht konsensfähigen Themen unterworfen werden. In diesem Fall obsiegen in der Regel die mächtigsten Mitglieder des Spitzenverbandes. Ein Beispiel dafür bietet der schwedische Arbeitgeberverband der
V.2 Unternehmerverbände im internationalen Vergleich
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Metallindustrie, der unter Androhung des Austritts aus dem Spitzenverband SAF einerseits die Aufkündigung der zentralisierten Tarifverhandlungen und andererseits interne Reformen zur nachhaltigen tarifpolitischen Schwächung des Spitzenverbandes erzwang (Swenson/ Pontusson 2000). Tabelle 2 gewährt einen Einblick in die Struktur des Verbändesystems jener schon in Tabelle 1 betrachteten Länder. Angesichts der großen Zahl der Verbände konzentriert er sich auf jene Verbände, die unabhängig sind (d. h. keinem Verband höherer Ordnung angehören), deren Mitgliederdomäne so umfassend ist, dass sie mindestens zwei Einsteller nach der ISIC-Systematik der Wirtschaftsaktivitäten abdecken, 5 und die direkt oder indirekt an der Tarifpolitik teilhaben. Für jene Länder, die keine solchen Verbände aufweisen, sind, in Klammer gesetzt, jene Verbände dokumentiert, die zumindest die zuerst genannten Anforderungen der Unabhängigkeit und des Mindestumfangs der Mitgliederdomäne erfüllen. Das meistverbreitete Muster ist, dass ein allgemeiner (d. h. die Privatwirtschaft umfassender) Verband mit einem oder mehreren engeren Verbänden koexistiert. Es sind im Wesentlichen drei Parameter, mit deren Hilfe die engeren Verbände ihre Domäne spezifizieren: Sie beziehen sich auf die Genossenschaften als eine spezifische Eigentumsform, auf Makrosektoren, die den Handel oder die Industrie umfassen, sowie auf die Firmengröße und das Handwerk als ein spezifisches Produktionssystem. Mit Ausnahme Australiens verstehen sich alle firmengrößenspezifischen Verbände als Repräsentanten der Klein- und Mittelbetriebe. Bedenkt man, dass das Handwerk eine besondere Form des Klein- und Mittelbetriebes darstellt, so zeigt sich, dass die überwiegende Mehrzahl der engeren Verbände auf die Vertretung des wirtschaftlichen „Mittelstandes“ spezialisiert ist. Dies unterstreicht, dass die Firmengröße eine der wichtigsten interessenpolitischen Scheidelinien innerhalb des Unternehmerlagers markiert (Traxler/Brandl/Pernicka 2007). Neben der Abklärung der Mitgliederdomäne ist die Definition der Mitgliedereinheit und der Rechtsfolgen der Mitgliedschaft konstitutiv für die Organisation der Verbände. Im Fall der primären Verbände ist die Mitgliedereinheit in der Regel das Unternehmen, in Abgrenzung zum Eigentümer oder den leitenden Angestellten. Verbände höherer Ordnung haben entweder ausschließlich Verbände niedrigerer Ordnung als Mitglieder oder sie organisieren sowohl solche Verbände als auch die Unternehmen selbst. Direkte Mitgliedschaften von Firmen sind selbst auf der Ebene des Spitzenverbandes nicht ausgeschlossen. Sie gibt es in acht der zwanzig in Tabelle 1 gelisteten Organisationen.6 Die Direktmitgliedschaft in Verbänden höherer Ordnung ist als Angebot an die Großunternehmen zu verstehen. Diese tragen dann regelmäßig den Löwenanteil zum Verbandsbudget bei und nehmen dementsprechend eine Schlüsselposition in Verbandsangelegenheiten ein (Traxler/Brandl/ Pernicka 2007). Die Rechtsfolgen der Mitgliedschaft sind dann von besonderer Relevanz, wenn es zu den regelmäßigen Aufgaben eines Verbandes zählt, bindende Vereinbarungen im Namen der Mitglieder zu treffen. Die bedeutendste unter diesen Aufgaben ist der Abschluss von Tarifverträgen. In der überwiegenden Mehrzahl der Länder hat die Mitgliedschaft in einem 5
6
Die neun inhaltlich spezifizierten ISIC-Einsteller sind: Land- und Forstwirtschaft; Bergbau; Sachgütererzeugung; Energie- und Wasserversorgung; Bauwesen; Handel, Beherbergungs- und Gaststättenwesen; Verkehr und Nachrichtenübermittlung; Kredit- und Versicherungswesen, Immobilien und unternehmensbezogene Dienstleistungen; öffentliche Verwaltung, Bildungs- und Gesundheitswesen, soziale und private Dienstleistungen. Zwei weitere Verbände (KPP und die Nachfolgeorganisation von Nikkeiren) ließen Firmen als Direktmitglieder nach 1996 zu.
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Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
Tarifverband unabdingbar die Tarifbindung des Mitglieds zur Folge. Dies ist wohl auf die weite Verbreitung der Allgemeinverbindlicherklärung zurückzuführen, durch die ein Ausscheren aus der Tarifbindung zwecks Unterbietung des Flächentarifs unmöglich wird. Im Einklang mit der Ordnungsfunktion der Allgemeinverbindlicherklärung ist allerdings der Abschluss von Haustarifen durch Verbandsmitglieder nicht ausgeschlossen, sofern diese die Arbeitnehmer nicht schlechter stellen als der Flächentarif. Dies ist z. B. gängige Praxis der großen Unternehmen der Niederlande, die gleichzeitig auch Mitglieder des jeweiligen Tarifverbandes sind. In Österreich werden in Ausnahmefällen Haustarife durch den Verband selbst im Namen des betreffenden Mitglieds vereinbart. Tabelle 2: Das Verbändesystem der Unternehmer (1991í98)* Land
A AUS B CDN CH D DK E F FIN I IRL JP N NL NZ P PL S SI UK USA
Gesamtzahl
1 2í3 1 0 2 1 1 2 3 2 11í10 1 1 2 4í2 [1] 1í2í3 [3] 3 4 [1] 0
Zahl der Verbände nach Differenzierungsparametern Allgemein
Firmengröße, Produktionssystem
Genossenschaften, öffentliches Eigentum
Makrosektor
1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2í1 [1] 1 [2] 1 2 [1] 0
0 1 0 0 1 0 0 1 2 0 5 0 0 0 2í1 0 0í1 [1] 0 2 0 0
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 5í4 0 0 0 0 0 0 0 2 0 0 0
0 0í1 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 1 0 0 0í1 0 0 0 0 0
* Nationale Spitzenverbände, deren Domäne mindestens 2 ISIC-Einsteller umfasst. Spitzenverbände ohne tarifpolitische Rolle in Klammern. Quelle: Siehe Tabelle 1.
Davon heben sich Mitgliedschaftsregeln ab, die explizit zwischen zwei Typen von Mitgliedern differenzieren: der Mitgliedschaft mit bzw. ohne Tarifbindung (OT). Damit wird es den Mitgliedern anheim gestellt, ob sie sich der Tarifkompetenz des Verbandes unterwerfen. Diese Differenzierung im Mitgliederstatus war in einigen Sektoren Großbritanniens verbreitet, solange es den Flächentarif gab (Armstrong 1984). Nennenswerte OT-Praktiken gibt es gegenwärtig innerhalb Westeuropas nur in zwei Ländern. In Deutschland wurde seit Mitte der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts OT von einer wachsenden Zahl primärer Tarif-
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verbände in Reaktion auf den Mitgliederrückgang eingeführt. Wie in Großbritannien haben auch in Deutschland OT-Mitglieder Zugang zu allen Serviceleistungen des Verbandes. Verfügbare Daten weisen darauf hin, dass vor allem die kleineren Unternehmen von dieser Option Gebrauch machen (EIRO 2005). In Dänemark entwickelte sich eine spezielle Variante von OT im Gefolge des Zusammenschlusses von Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden, wenn diese als Subeinheiten des neuen Verbandes fortbestanden. In diesen Fällen unterliegen jene Firmen, die nur der wirtschaftsverbandlichen Subeinheit zugehören, nicht der Geltung der durch den Verband ausgehandelten Tarifverträge (Jørgensen/Traxler 2007). Im Gegensatz zu Deutschland ist in Dänemark kein Trend zur OT-Mitgliedschaft zu erkennen – ein Umstand, zu dem die vergleichsweise starken dänischen Gewerkschaften gewiss beitragen. In jedem Fall manifestiert sich im Phänomen OT die Schwäche der freiwilligen Bindekraft der Tarifverbände der Unternehmen, die nur durch externe Organisationshilfen in Form der oben dargestellten Anreize entschärft werden kann. 5
Schlussfolgerungen und Zukunftsperspektiven
Wenn es richtig ist, dass die raison d’être von Arbeitgeberverbänden in der Tariffunktion liegt, sieht sich vor allem dieser Typus von Unternehmerverband mit einer schwierigen Zukunft konfrontiert. Denn so gut wie alle positiven Anreize für den Flächentarif haben an Wirkung verloren. Seine Kartellfunktion wird durch die wirtschaftliche Internationalisierung unterlaufen. Der Ausbau der Mitbestimmung in Europa, die in den Siebzigerjahren ihren Anfang nahm und mit der Richtlinie zum europäischen Betriebsrat fortgeführt wurde, relativiert auch den Nutzen des Flächentarifs als Mittel der Neutralisierung der Gewerkschaften im Betrieb, da in allen Ländern die gesetzlichen Belegschaftsvertreter in die Gewerkschaften weitgehend integriert sind. In die gleiche Richtung weist die tendenzielle Schwächung der Organisationsmacht der Gewerkschaften. Aber auch für die Wirtschaftsund Universalverbände ergeben sich Probleme infolge der Veränderungen in ihrem wirtschaftlichen Umfeld. Dazu zählen die wachsende Zahl der Klein- und Mittelbetriebe, die schwer zu organisieren ist, die Kontraktion des industriellen Sektors als der traditionellen Hochburg der Unternehmerverbände sowie der auf den Unternehmen lastende Wettbewerbsdruck, der Anlass gibt, ihre Verbandsmitgliedschaften auf den Prüfstand zu stellen. Da es kaum Zeitreihendaten zur Mitgliedschaft in Unternehmerverbänden gibt, ist es schwer, die Effekte dieser Veränderungen abzuschätzen. Vorliegende Analysen weisen darauf hin, dass der Organisationsgrad der Verbände (gemessen an den Beschäftigten) über die letzten beiden Jahrzehnte eher stabil geblieben ist (Traxler/Blaschke/Kittel 2001; Traxler 2004). Wie es scheint, vermochten sich die Verbände durch Änderungen in Funktion und Struktur an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Der Funktionswandel besteht in der Umorientierung von Arbeits- zu Produktmarktinteressen; in der organisierten Dezentralisierung des Tarifsystems, die – anders als ihr unorganisiertes Pendant – den Verbänden Koordinierungsaufgaben belässt, sowie in der Kommerzialisierung der Dienste der Verbände. Mit diesem Funktionswandel verbinden sich Restrukturierungen, die auf Effizienzsteigerung und Kostensenkung abstellen. In diesem Zusammenhang stehen Personalabbaumaßnahmen ebenso wie die Fusionen von Verbänden und die Kommerzialisierung der Dienste. Diese Restrukturierung ermöglichte den Spitzenverbänden mehrerer Länder substantielle Beitragsreduktionen.
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Diese funktionalen und strukturellen Anpassungsprozesse generieren allerdings Folgeprobleme: Durch die Bildung von Universalverbänden wachsen die interne Interessenheterogenität und somit auch die Konfliktpotentiale. Jenseits einer kritischen Grenze der Öffnung des Flächentarifs könnten die Tarifverbände die Kontrolle über die Betriebsparteien verlieren und die organisierte in unorganisierte Dezentralisierung umschlagen. An der Absenkung der Mitgliedsbeiträge und am Schwenk von unentgeltlichen zu kostenpflichtigen Diensten im Zuge der Kommerzialisierung könnten sich Kontroversen über die interne Verteilungsgerechtigkeit entzünden, da sich die Mitglieder in ihrer Beitragsleistung und im Bedarf an Diensten unterscheiden. Zusätzlich macht die Kommerzialisierung die Verbände zu Konkurrenten ihrer (potenziellen) Mitgliedsfirmen, wenn diese vergleichbare Dienste anbieten. All diese Folgeprobleme vertiefen insbesondere die Interessengegensätze zwischen kleinen und großen Unternehmen, da sie tendenziell Erstere treffen, während Letztere die primären Nutznießer der Reformen sind. Der institutionelle Kontext, in den Unternehmerverbände eingebunden sind, ist maßgebend dafür, inwieweit sie diese Folgeprobleme bewältigen können. Diesbezüglich kommt der Allgemeinverbindlicherklärung infolge des besonderen Stellenwerts der Tariffunktion für das politische Gewicht der Verbände eine Schlüsselrolle zu. Insofern ist die bemerkenswerte Stabilität der Verbände im Ländervergleich wesentlich auf die weit verbreitete Praxis der Allgemeinverbindlicherklärung zurückzuführen (Tabelle 1). Umgekehrt verzeichneten die Verbände jener drei Länder einen starken Mitgliederrückgang, in denen dieses Arrangement immer schon wenig belangreich war und/oder langfristig an Bedeutung verlor. In Großbritannien und Neuseeland steht dieser Bedeutungsverlust im Zusammenhang mit dem Verfall des Flächentarifs, 7 in Deutschland mit dem traditionellen Skeptizismus vor allem der Arbeitgeberseite gegenüber diesem Instrument. 8 Anders als im Fall der meisten anderen Verbände Westeuropas kommt für die deutschen Verbände als Problem hinzu, dass ihr Aufgabenprofil immer noch stark auf Arbeitgeberfunktionen zugeschnitten ist. Dadurch verfügen sie über weniger Mittel als die Universalverbände anderer Länder, die aus Unternehmersicht abnehmende Attraktivität der Tariffunktion durch alternative Angebote zu kompensieren. Diese spezifische Ausgangskonstellation mag erklären, warum allein die deutschen Arbeitgeberverbände in OT ein Instrument zur Mitgliederintegration sehen. Da der selektive Anreiz von OT an arbeits- und tarifrechtliche Serviceleistungen gekoppelt bleibt, ist von diesem Ansatz keine nachhaltige Lösung des Mitgliederproblems zu erwarten. Langfristig sind selbstdestruktive Effekte nicht auszuschließen. Denn die Verbreitung von OT trägt zur Erosion des Flächentarifs bei, von dessen Fortbestand und Effektivität die Attraktivität der mit OT verbundenen Serviceleistungen letztlich abhängt. Insgesamt lässt sich im Vergleich zu den anderen Tariffunktionen wahrnehmenden Unternehmerverbänden Westeuropas eine Sonderentwicklung in Deutschland konstatieren, die durch einen starken Mitgliederrückgang, eine unveränderte Spezialisierung auf arbeitgeberverbandliche Funktionen, die Einführung von OT und die Ablehnung der Allgemeinverbindlicherklärung gekennzeichnet ist (Traxler/Huemer 2007). Demgegenüber ist festzuhalten, dass ohne Rückhalt durch eine Allgemeinverbindlicherklärung der Organisationsgrad 7 8
In Großbritannien verloren in den Achtzigerjahren die Arbeitgeberverbände etwa 50 % ihrer Mitglieder (Millward et al. 1992); in Neuseeland ging in den Neunzigerjahren der Organisationsgrad der NZEF von 90 % auf 67 % der Arbeitnehmer zurück (Traxler 2004). Für Deutschland gibt es Zeitreihen nur zur Mitgliedschaft von Gesamtmetall. Sie dokumentieren einen kontinuierlichen Rückgang. Nimmt man die Tarifbindung als Indikator für den Organisationsgrad der Arbeitgeber, deutet deren Entwicklung auf einen generellen Mitgliederrückgang innerhalb der BDA.
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der Unternehmerverbände allein in Skandinavien stabil blieb. Dies liegt am außerordentlich hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad in diesen Ländern. Freiwillige Unternehmerverbände können auf die Tariffunktion schwer verzichten, da sie ihnen jenes Gewicht verleiht, das sie zu wichtigen Partnern der Regierung in allgemeinen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik macht. Dabei stehen sie vor dem Dilemma, dass ihre Mitglieder – nicht zuletzt infolge der Schwächung der Gewerkschaften – einen immer geringeren Nutzen in dieser Funktion erkennen und sich neue „Geschäftsfelder“, die die Mitglieder nachhaltig attrahieren könnten, nicht ausmachen lassen. Ihre Fähigkeit, diese divergierenden Imperative der Interessenvertretung und Mitgliederintegration auszutarieren, gerät damit immer stärker in Abhängigkeit von staatlichen Organisationshilfen. Literatur Armstrong, E. G. A. (1984): Employers Associations in Great Britain. In: Windmuller, John P./ Gladstone, Alan (Hrsg.): Employers Associations and Industrial Relations. Oxford: Clarendon Press, S. 44í78. Carrol, Peter/Tremewan, Peter J. (1993): Organising Employers. The Effect of the Act on Employers and the Auckland Employer Association. In: Harbridge, Raymond (Hrsg.): Employment Contracts. New Zealand Experiences. Wellington: Victory University Press, S. 185í196. Clegg, Hugh A. (1976): Trade Unionism under Collective Bargaining. Oxford: Blackwell. Jørgensen, Carsten/Traxler, Franz (2007): Denmark. In: Traxler, Franz/Huemer, Gerhard (Hrsg.): The Handbook of Business Interest Associations, Firm Size and Governance. A Comparative Analytical Approach. London: Routledge, S. 85í106. EIRO (2005): Gesamtmetall Prepares to Accept New Members. In: eironline, ID: DE0503101N, 1.4.2005. URL: http://eurofound.europa.eu/eiro/2005/03/inbrief/de0503101n.html (zuletzt besucht am 7.12.2009). Kirsch, Joachim (2003): Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen – ein Instrument in der Krise. In: WSI Mitteilungen, 56, S. 405í412. Millward, Neil/Stevens, Mark/Smart, David/Hawes, W. R. (1992): Workplace Industrial Relations in Transition. Aldershot: Dartmouth. Offe, Claus/Hinrichs, Karl (1984): Sozialökonomie des Arbeitsmarktes: primäres und sekundäres Machtgefälle. In: Offe, Claus (Hrsg.): Arbeitsgesellschaft. Frankfurt a. M.: Campus, S. 44í86. Offe, Claus/Wiesenthal, Helmut (1980): Two Logics of Collective Action. Theoretical Notes on Social Class and Organisational Form. In: Political Power and Social Theory, 1, S. 67í115. Olson, Mancur (1965): The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups. Cambridge/London: Harvard University Press. Sisson, Keith (1987): The Management of Collective Bargaining. Oxford: Blackwell. Streeck, Wolfgang (1991): Interest Heterogeneity and Organizing Capacity. Two Logics of Collective Action? In: Czada, Roland/Windhoff-Héritier, Adrienne (Hrsg.): Political Choice. Institutions, Rules, and the Limits of Rationality. Frankfurt a. M./New York: Campus, S. 161í198. Swenson, Peter/Pontusson, Jonas (2000): The Swedish Employer Offensive against Centralized Bargaining. In: Iversen, Torben/Pontusson, Jonas/Soskice, David (Hrsg.): Unions, Employers, and Central Banks. Cambridge: Cambridge University Press, S. 77í107. Traxler, Franz (1993): Business Associations and Labour Unions in Comparison. Theoretical Perspectives and Empirical Findings on Social Class, Collective Action and Associational Organizability. In: British Journal of Sociology, 44, S. 673í691. Traxler, Franz (1994): Collective Bargaining. Levels and Coverage. In: OECD Employment Outlook 1994. Paris: OECD, S. 167í194.
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Abkürzungen ACCI BDA C CAI CBI CEOE CNPF DA GZS IBEC KPP NHO Nikkeiren NZEF SAF SAV TT VBO/FEB VNO VNO-NCW WKÖ ZSAO
Australian Chamber of Commerce and Industry Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Confindustria Confederation of Australian Industry Confederation of British Industry Confederación Española de Organizaciones Empresariales Conseil National du Patronat Français Dansk Arbejdsgiverforening Gospodarska zbornica Slovenije Irish Business and Employers’ Confederation Konfederacja Pracodawcow Polskich Næringslivets Hovedorganisasjon Japan Federation of Employers’ Associations New Zealand Employers’ Federation Svenska Arbetsgivareföreningen Schweizerischer Arbeitgeberverband Teollisuus ja Työnantajat Verband van Belgische Ondernemingen – Fédération des Entreprises Belgique Verbond van Nederlandse Ondernemingen Vereniging van Nederlandse Ondernemers – Nederlands Christelijke Werksgeversverbond Wirtschaftskammer Österreich Zentralverband Schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen
Die Europapolitik der deutschen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
Werner Bührer
Folgt man den öffentlichen Verlautbarungen deutscher Wirtschaftsverbände, so zählte und zählt ihr „unbeirrtes Eintreten für die europäische Integration“ 1 zu ihren größten Leistungen. Mochte diese integrationsfreundliche Haltung anfangs auch hauptsächlich aus dem Motiv gespeist gewesen sein, rasch Anschluss an die westliche Welt und ihre Märkte zu finden und das durch die „Verstrickungen“ mit dem Nationalsozialismus ramponierte Ansehen der deutschen Wirtschaft wieder aufzupolieren, so lässt inzwischen die schiere Zahl „europäisierter“ Politikfelder wenig Raum für nationale Eigenbröteleien. Immerhin „mehr als 60 Prozent“ der deutschen Gesetze, so die Wahrnehmung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), würden mittlerweile „in Brüssel“ beschlossen (BDI 2008: 65). Auch wenn diese Zahl zu hoch gegriffen sein mag,2 die Bedeutung der Europäischen Union insbesondere nach Maastricht, Binnenmarkt, Euro und Osterweiterung ist auch für die deutsche Wirtschaft zweifellos enorm. Im Folgenden geht es um die Einstellung der Spitzenverbände der Industrie in der Bundesrepublik Deutschland zur europäischen Integration und die daraus resultierende Politik. 3 Im Mittelpunkt steht der BDI, weil die Europapolitik als Teil der Außenpolitik seine ureigene Domäne darstellte und noch immer darstellt und er nach allgemeiner Einschätzung nach wie vor den größten – wenngleich schwindenden – Einfluss auf die Politik ausübt. Die beiden anderen Dachverbände, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) als sozialpolitische Interessenvertretung auf Bundesebene – allerdings anders als die sie tragenden Branchenverbände ohne tarifpolitische Kompetenzen – und die Spitzenvertretung der zahlreichen regional organisierten Industrie- und Handelskammern, der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT, der sich inzwischen Deutscher Industrie- und Handelskammertag, DIHK, nennt) werden ebenso wie einzelne Branchenspitzenverbände vor allem dann berücksichtigt, wenn sie wichtige Beiträge zum europapolitischen Diskurs oder zur deutschen Europapolitik leisteten (allgemein Bührer 2007). Was die Branchenorganisationen angeht, war dies hauptsächlich in den frühen Jahren der europäischen Einigung der Fall; für den DIHK und die BDA gilt, dass sie im
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So der damalige BDI-Präsident Rolf Rodenstock in einer Rede anlässlich des 30-jährigen Jubiläums seines Verbands, zitiert nach: 30 Jahre BDI. Rede des BDI-Präsidenten Rolf Rodenstock am 26.11.1979 in Köln. BDI-Drucksache 129. Köln: BDI 1979, S. 8. In der politischen Öffentlichkeit kursieren mitunter sogar deutlich höhere Zahlen. Vgl. dazu die politikwissenschaftliche Kontroverse über den „Mythos“ einer 80-prozentigen Europäisierung zwischen Töller (2008), König/Mäder (2008, 2009) und Göler (2009). Zur Begrifflichkeit: Den auch in den einschlägigen Quellen auftauchenden Terminus „europäische Integration“ verwende ich für die zunächst auf Westeuropa konzentrierte, aber den Kern und Ausgangspunkt der heutigen EU bildende, etappenweise Integration europäischer Länder, die sich institutionell anfangs in der OEEC und der EGKS, später in der EWG-EG-EU niedergeschlagen hat. Mit „westdeutschen“ oder „deutschen“ (Spitzen-)Verbänden sind in der Bundesrepublik Deutschland – nicht nur in deren westlichen Regionen – residierende und agierende Verbände gemeint.
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Zuge der Verwirklichung des Binnenmarktes bzw. der Versuche einer Stärkung der „sozialen Dimension“ der EU an europapolitischem Gewicht gewonnen haben. 1
Forschungsstand
Monografische Literatur zum Europaverständnis und zur Europapolitik deutscher Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände ist recht dünn gesät. Zu nennen sind die frühe, aber noch immer wichtige Studie von Haas (2004, Originalausgabe 1958), zugleich ein erster Meilenstein der funktionalistischen Integrationsforschung, sowie ferner einige politik- und geschichtswissenschaftliche Arbeiten seit den späten 1970er Jahren, die sich entweder auf den BDI (Platzer 1984; Raithel 1984; Rhenisch 1999), einen bestimmten Branchenverband (Bührer 1986) oder auf ein konkretes Politikfeld, nämlich die Außenwirtschaftspolitik (Tudyka 1978), konzentrierten. Haas beobachtete für die Zeitspanne zwischen der Gründung der Montanunion und der Unterzeichnung der Römischen Verträge einen deutlichen Einstellungswandel bei den Wirtschaftsverbänden: „Lukewarm support for the European idea in its federal form has turned to indifference“ (Haas 2004: 176). Außerdem hob er bereits zwei wichtige Merkmale im Verhältnis der Wirtschaftsverbände zu Europa hervor: Zum einen sei die europapolitische Haltung der verschiedenen Branchen geprägt von dem Grad ihrer Betroffenheit durch die jeweilige Integrationsinitiative, zum anderen sei die Verbandsspitze deutlich europafreundlicher eingestellt als die Mitgliedschaft (ebd.). Diese Befunde wurden durch die beiden erwähnten geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen (Rhenisch 1999; Bührer 1986) teilweise bestätigt, allerdings nunmehr auf einer wesentlich breiteren und gesicherten empirischen Grundlage. Die Studien konstatierten einen teilweise beträchtlichen Einfluss des Stahlverbands bzw. des BDI auf die Formulierung bestimmter Verhandlungspositionen, wiesen aber die These zurück, die beiden Verbände oder gar „die“ Industrie hätten für den Fall grundlegender Differenzen mit der Politik der Bundesregierung über eine Vetoposition verfügt. Haas’ mit Blick auf die erste Hälfte der 1950er Jahre formulierte These, die Wirtschaftsverbände hätten die Europaidee nur „lauwarm“ unterstützt, muss allerdings für spätere Phasen der Integrationsgeschichte stark relativiert werden (Bührer 2008). Platzer kam in seiner Untersuchung, die sich zwar auf den BDI und den europäischen Dachverband UNICE konzentrierte, aber auch die nationalen und europäischen Verbände der chemischen Industrie und des Maschinenbaus sowie die BDA berücksichtigte, zu dem Ergebnis, dass der BDI „insbesondere in ordnungspolitischen Fragen auf die Formulierung und Implementierung integrationspolitischer Maßnahmen einwirkte“, die „in den Aufbaujahren der Gemeinschaft getroffenen Grundsatzentscheidungen jedoch weithin dem ‚Primat der Politik‘ folgten“ (Platzer 1984: 264). Speziell mit den Reaktionen verschiedener Branchen innerhalb der Gemeinschaft auf die Binnenmarkt-Initiative und den voraussichtlichen branchenspezifischen Auswirkungen des Binnenmarktes befasst sich der von Mayes (1991) edierte Sammelband. Das Defizit an Monografien zu den Europavorstellungen und -strategien der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände wird zumindest teilweise ausgeglichen durch einschlägige Darstellungen und Analysen in umfassenderen Arbeiten entweder zur Geschichte und Politik der Verbände oder zur europäischen Integration allgemein. In der Verbändeforschung wurden und werden das Europaverständnis und die Europapolitik meist mehr oder weniger ausführlich thematisiert, so etwa schon in Braunthals früher Studie über den BDI
V.3 Die Europapolitik der deutschen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände
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(1965), später von Mann (1994), Burgmer (1999) oder zuletzt Bührer/Grande (2000). Während Mann (1994: 204) jedoch die „integrationspolitische Orientierung“ noch als „tragendes Element der Gesamtstrategie des BDI“ betont und mit der Exportabhängigkeit der deutschen Industrie begründet, konstatiert Burgmer (1999: 89) abnehmende Gestaltungsmöglichkeiten nationaler Verbände. Auch in den neueren Studien und Sammelbänden zum Thema Lobbyismus fehlt die europäische Dimension fast nie. Allerdings liegt der Akzent hier stärker auf dem konkreten Lobbying auf der europäischen Ebene und weniger auf den Konzepten und Zielen der nationalen Verbände (van Schendelen 2006; Lösche 2007; Michalowitz 2007). Mit anderen Worten, das Forschungsinteresse verlagerte sich mehr und mehr auf die Interessenvermittlung auf europäischer Ebene und auf deren Rückwirkungen auf die nationalen Verbände und Verbandssysteme (Eising 2001, 2005; Richardson 2006; Platzer 2008) sowie auf die Frage, ob im Zuge des Integrationsprozesses ein „EuroKorporatismus“ entstanden sei (Streeck 2006; Schäfer/Streeck 2008). Die Rolle auch und gerade der deutschen Interessenverbände, denen ein besonders großer Einfluss auf die Europapolitik sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene nachgesagt wurde und teilweise noch wird, fand in der Europaforschung stets Beachtung, angefangen bei Diebold (1959) über Willis (1968), Dichgans (1980), Küsters (1982), Milward (1984), Gillingham (1991) und Moravcsik (1998) bis zu Dyson/Featherstone (1999). In jüngster Zeit erschienen mehrere Sammelbände mit politik- und geschichtswissenschaftlichen Studien als Resultate der Forschungen zum europäischen Mehrebenensystem oder zur Governance (zuletzt Eising/Kohler-Koch 2005; Tömmel 2008; Gehler/Kaiser/ Leucht 2009; Kaiser/Leucht/Rasmussen 2009). In diesem Kontext, aber auch unabhängig davon, gilt das Forschungsinteresse neuerdings der Rolle „europäischer“ Unternehmerzusammenschlüsse (van Apeldoorn 2000; Cowles 2009) und Unternehmen (Schröter 2008) im Einigungsprozess, ohne jedoch deren möglicherweise konfliktträchtiges Verhältnis zu den herkömmlichen Verbänden auf dem Feld europäischer Interessenpolitik explizit zu thematisieren. Erwähnt zu werden verdient schließlich, dass Thesen einer von den Unternehmerverbänden gestützten oder gar exekutierten deutschen Hegemonialpolitik in Europa, wie sie im Anschluss an ältere neomarxistische Studien von Deppe (1975) und die Dokumentation von Opitz (1977) noch vor einigen Jahren vorgetragen wurden (Sandkühler 2002), zurzeit keine Beachtung finden. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass sich vor allem in der politikwissenschaftlichen Forschung zum Europaverständnis und zur Europapolitik deutscher Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände der Schwerpunkt von der Frage nach dem Einfluss dieser Verbände auf die amtliche Europapolitik sowie auf die Entscheidungsprozesse in Luxemburg bzw. Brüssel verlagert hat auf die Interessenvermittlung auf europäischer Ebene und deren Rückwirkungen auf die nationale Arena. 2
Instrumente und Organe verbandlicher Europapolitik
Welche Bedeutung die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder entstehenden Spitzenverbände der Wirtschaft europapolitischen Angelegenheiten von Anfang an beimaßen, dokumentiert die Einrichtung besonderer Abteilungen und Ausschüsse: Der BDI installierte bereits ein Jahr nach seiner Gründung einen „Europa-Ausschuss“ sowie eine Europaabteilung in der Hauptgeschäftsführung, die sich um die Grundlinien der Europapolitik des Verbands und
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um Kontakte zu den Spitzenverbänden der westeuropäischen Nachbarländer kümmern sollten (BDI 1954: 170í184). Im Jahr 1958 eröffnete der BDI das „Büro Brüssel“ zur Vertretung seiner Interessen gegenüber der Kommission und als Verbindungsstelle zum europäischen Dachverband UNICE. Im Zuge der Ausdifferenzierung der Europapolitik auf nationaler und europäischer Ebene übernahmen die verschiedenen Fachabteilungen mehr und mehr auch „europäische“ Aufgaben. Die Koordination aller entsprechenden Aktivitäten und die Grundsatzarbeit oblag der Abteilung „Europapolitik“ in der Hauptgeschäftsführung, die direkt dem Hauptgeschäftsführer unterstand; sie wurde später in „Koordinierungsbüro für Europafragen“ umbenannt, ihr Leiter fungierte zugleich als ständiger Vertreter des BDI in Brüssel. Das dortige Büro diente der BDI-Zentrale in Köln und später in Berlin auch als eine Art „Frühwarnsystem“ (Platzer 1984: 74í78; Mann 1994: 205). Gegenwärtig (2008) weisen fast alle fachlichen Aktivitäten mehr oder weniger ausgeprägte europäische Dimensionen auf, so dass der BDI auf einen speziellen Ausschuss verzichtet. Der Komplex „Europa und Brüssel“ bildet eines von 13 „Kompetenzfeldern“, in der Hauptgeschäftsführung kümmert sich das „Büro des Präsidenten und der Hauptgeschäftsführung“ um grundlegende Fragen der Europapolitik (BDI 2008). Die BDA hat die binnenorganisatorischen Zuständigkeiten im Wesentlichen ähnlich geregelt, wenngleich der Grad der Ausdifferenzierung geringer war und ist als beim BDI. Die Erledigung europapolitischer Aufgaben oblag lange Zeit der Abteilung für „Internationale Sozialpolitik“ im Zusammenspiel mit einem „Ausschuss für Sozialpolitik“ in der Gemeinschaft. Ende der 1990er Jahre trug diese Abteilung den Namen „Internationale Sozialpolitik und Europäische Union“, heute lautet die Reihenfolge umgekehrt. Diese Namensänderung spiegelt vermutlich die Schwerpunktverlagerung der internationalen Aktivitäten der BDA weg von der International Labor Organization hin zur EU wider. Die Abteilung besteht, das Büropersonal nicht mitgerechnet, aus sechs Personen, darunter bemerkenswerterweise sogar – einschließlich der Leiterin – vier Frauen. Zu ihren Aufgaben zählen die Vertretung sozialpolitischer Positionen im europäischen Kontext und die Interessenwahrnehmung gegenüber nationalen und europäischen Institutionen sowie die Mitarbeit in internationalen Organisationen und die Kontaktpflege mit ausländischen Schwesterverbänden; die Koordinierung der entsprechenden Aktivitäten der Mitgliedsverbände leistet der Ausschuss für „Sozialpolitik in der Europäischen Union“ (Platzer 1984: 258; Bührer 2000; www.bda-online.de). Beim DIHT dauerte es etwas länger, ehe besondere Instanzen zur Bearbeitung europapolitischer Fragen eingerichtet wurden. Erst 1957 entstand eine Abteilung für europäische wirtschaftliche Integration, im folgenden Jahr konstituierten sich zwei Ausschüsse zur Erledigung der nach Gründung der EWG wachsenden Zahl an Aufgaben. Zuvor waren europapolitische Angelegenheiten im Hauptausschuss oder im Außenwirtschaftsausschuss des DIHT erörtert worden (DIHT 1958: 53, 1959: 325). Eine ausschließlich mit Europaangelegenheiten befasste Abteilung existiert heute indes nicht mehr; für die Beziehungen zu den Brüsseler Institutionen und zum Dachverband der Kammern sowie für die Bearbeitung von Fragen des Binnenmarktes ist vielmehr die Abteilung „Europa, Umwelt, Energie- und Verbraucherpolitik“ zuständig. Der DIHK verzichtet auch auf einen besonderen Europaausschuss, unterhält jedoch eine Vertretung bei der EU (Bührer 1995; www.dihk.de). Die Branchenspitzenverbände und die größeren Fachverbände haben die Zuständigkeiten für Fragen der Europapolitik alle nach dem gleichen Muster geregelt. Waren es nach Kriegsende vor allem die Interessenvertretungen der Eisen- und Stahlindustrie oder des
V.3 Die Europapolitik der deutschen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände
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Bergbaus, die aufgrund der Verlagerung wesentlicher Entscheidungen auf die europäische Ebene früh entsprechende verbandsinterne Strukturen schufen, folgten mit der Gründung der EWG nach und nach auch alle anderen Branchen. Der Stellenwert, den die Europapolitik in den einzelnen Verbänden jeweils genoss und genießt, lässt sich recht gut daran ablesen, welchen Platz die damit befassten Abteilungen in der organisatorischen Hierarchie einnehmen und an welcher Stelle des Jahresberichts ihre Arbeit dokumentiert wird. Es fällt jedenfalls auf, dass das Europakapitel in den Jahresberichten etwa des BDI während der Phase der „Eurosklerose“ in den 1970er und frühen 1980er Jahren nach hinten rückte, nachdem es zunächst stets weit vorne platziert war. 3
Die Europapolitik der Spitzenverbände
Obwohl für die Unternehmerverbände die wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Aspekte und Effekte der Einigung von Anfang an eindeutig im Vordergrund standen, nahmen sie immer wieder auch zu politischen, institutionellen und konzeptionellen Fragen Stellung. 4 Zumindest die Haltung des BDI blieb seit Ende der fünfziger Jahre, als sich mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft das moderat supranationale, kleineuropäische Integrationsmodell gegenüber konkurrierenden Konzepten vorerst durchgesetzt hatte, bemerkenswert konstant; im Großen und Ganzen gilt dies aber auch für die anderen Spitzenverbände. Es stellt sich also nicht die Frage nach dem „Ob“, sondern nur nach dem „Warum“ der Unterstützung der Einigungsbemühungen durch BDI, BDA und DIHT/DIHK – zumal die Zustimmung zu „Europa“ an der „Basis“, also bei den „einfachen“ Verbandsmitgliedern, in den einzelnen Branchen und Unternehmen, keineswegs so eindeutig und einhellig ausfiel und noch immer ausfällt wie an der Spitze der Verbände. Diese Beobachtung unterstreicht im Übrigen die zuletzt häufig geäußerte These, die europäische Integration sei ein „Elitenprojekt“ 5 bzw. das Ergebnis einer „Spezialistenpolitik“ (Vobruba 2005: 9). Zwischen Kooperation und Integration: von den Anfängen bis zum „Luxemburger Kompromiss“ Erste Überlegungen und Vorschläge deutscher Unternehmerverbände und einzelner Industrieller zur Zusammenarbeit in Europa und entsprechende praktische Erfahrungen datieren aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Spektrum der damals erörterten und erprobten Formen reichte von der transnationalen Kooperation bei der Erschließung von Kohlerevieren und bei Unternehmensgründungen über den Aufbau montanindustrieller Gesellschaften über Ländergrenzen hinweg bis zum Kohle-Erz-Austausch bei der Stahlerzeugung. Obwohl dies mit Europapolitik und -diskursen im heutigen Sinne wenig zu tun hatte, bereiteten Debatten etwa über Schutzzoll oder Freihandel, wie sie in und zwischen den großen Interessenverbänden im Kaiserreich geführt wurden (Lambi 1963), doch den Boden für spätere integrationspolitische Vorstellungen und Strategien. In den 1920er Jah4 5
Dieses Unterkapitel orientiert sich an einem bereits publizierten Aufsatz (Bührer 2008), wurde aber gegenüber der ursprünglichen Fassung gekürzt, überarbeitet und aktualisiert. So z. B. Jürgen Habermas, zitiert nach „Fern jeder Vision“, ZEIT online, 29.11.2007 (Zugriff 4.4.2008); vgl. auch Vobruba 2007; Haller 2009.
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ren traten als neue Elemente Gebietsschutzabkommen und Marktregelungen in Gestalt internationaler Kartelle sowie erste Formen institutionalisierter internationaler bzw. transnationaler Zusammenarbeit im Rahmen des Genfer Völkerbunds oder der in Paris residierenden Internationalen Handelskammer hinzu. Deren „Deutsche Gruppe“, die sich aus Vertretern von sechs Spitzenverbänden, darunter des DIHT und des Reichsverbands der Deutschen Industrie (RDI), zusammensetzte und einen ständigen Vertreter nach Paris entsandte, stellte das erste erfolgreiche Beispiel koordinierter Interessenwahrnehmung auf internationaler Bühne dar (Bührer 2003). Der geographische Schwerpunkt der stärker politisch motivierten Konzepte lag in „Mitteleuropa“, während die wirtschaftlichen Projekte auch das Terrain der späteren westeuropäischen Integration einschlossen. Im Unterschied zu Letzterer waren insbesondere die deutschen Überlegungen, ganz gleich ob politischer oder wirtschaftlicher Provenienz, von mehr oder weniger deutlich artikulierten Hegemonieerwartungen und Führungsansprüchen geprägt. Diese Tendenz kennzeichnete in noch höherem Maße die Planungen zur „Neuordnung Europas“ während des Zweiten Weltkrieges, an denen sich auch einzelne Unternehmen sowie die in Reichs- und Wirtschaftsgruppen umbenannten früheren Spitzen- und Branchenverbände beteiligten (Opitz 1977; Elvert 1999). Viele Überlegungen und Projekte industrieller Kreise zur wirtschaftlichen und politischen Integration Europas mussten nach dem Zweiten Weltkrieg also keineswegs am Nullpunkt ansetzen. Mit dem ersten Integrationsprojekt der Nachkriegszeit, dem Marshallplan und der „Organisation for European Economic Co-operation“ (OEEC), tat sich die Wirtschaft Westdeutschlands zunächst recht schwer. Doch bald avancierte die OEEC für nahezu die gesamte Dauer ihrer Existenz, also bis in die späten 1950er Jahre, zur beliebtesten Kooperationsorganisation. Die anfängliche Skepsis richtete sich weniger gegen die OEEC selbst als vielmehr gegen den Marshallplan bzw. das „European Recovery Program“ (ERP), dessen politisch-organisatorische Verwirklichung Aufgabe der OEEC war. Kritik von Seiten der deutschen Industrie provozierten insbesondere die vermeintlich planwirtschaftlich-interventionistischen Züge des ERP, die Fehlallokation der Mittel mit der Folge von „Doppelinvestitionen“ zu Lasten der deutschen Seite sowie das zu hohe Tempo und die Unausgewogenheit der Politik der Handelsliberalisierung, über die sich etwa der Gesamtverband der Textilindustrie heftig beklagte. Nachdem die westdeutsche Zahlungsbilanzkrise 1950/51 nicht zuletzt mit Unterstützung der Europäischen Zahlungsunion (EZU), die unter dem Dach der OEEC operierte, rasch überwunden werden konnte, verwandelte sich die kritische Haltung in Zustimmung. Neben dem großen räumlichen Einzugsbereich schätzten die Spitzenverbände vor allem den beträchtlichen Handlungsspielraum, den die OEEC den Teilnehmerstaaten dank der intergouvernemental angelegten, auf dem Einstimmigkeitsprinzip beruhenden Entscheidungsstrukturen bot (Bührer 1997). Ein eher lockerer Verbund westeuropäischer Industrieländer als Zwischenetappe auf dem Weg zur Rekonstruktion einer liberalen, zumindest von staatlichen Einflüssen weitgehend freien Weltwirtschaft nach dem Vorbild der Verhältnisse vor 1914 schien einer exportorientierten Wirtschaft wie der westdeutschen vorteilhafte Bedingungen zu bieten: „Die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen und politischen Integration Europas ist heute (…) beinahe unbestritten“, konstatierte etwa der DIHT, eine „Steigerung der Produktivität unserer eigenen Volkswirtschaft wird erfolgreich und auf Dauer nur in dem weitergespannten Rahmen einer gemeineuropäischen Wirtschaft zu verwirklichen sein“ (DIHT 1954: 24). Die Liberalisierung des innereuropäischen Handels durch den Abbau der Kontingente und seine Steigerung mittels der Multilaterali-
V.3 Die Europapolitik der deutschen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände
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sierung des Zahlungsverkehrs, also die beiden wichtigsten Vorhaben, mit denen die OEEC und die EZU die Integration der westeuropäischen Volkswirtschaften vorantreiben wollten, ernteten prinzipielle Zustimmung. So lobte der BDI Mitte der 1950er Jahre die OEEC als das „bisher erfolgreichste Instrument europäischer wirtschaftspolitischer Integration“: sie komme „ohne supranationale Befugnisse“ aus und gründe ihre Tätigkeit allein auf die Zustimmung ihrer Mitglieder (BDI 1955: 18). Die beiden außenpolitisch einflussreichsten Spitzenverbände der deutschen Industrie favorisierten während der „Gründerjahre“ der heutigen Europäischen Union also offensichtlich ein integrationspolitisches Konzept, das in der einschlägigen Literatur mit dem Begriff der „negativen Integration“ gefasst wird, d. h. Integration durch Deregulierung (Tinbergen 1954; Kösters/Beckmann/Hebler 2001). Angesichts solcher integrationspolitischer Präferenzen lösten die zweite, auf Dauer noch erfolgreichere Initiative der Nachkriegszeit, der Schumanplan, und die aus der französischen Initiative erwachsene „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS), beim BDI verständlicherweise zwiespältige Reaktionen aus. Die erste ausführlichere Stellungnahme vom Juni 1950 schwankte noch zwischen grundsätzlicher Zustimmung und der speziellen Sorge, dass „eine neue überstaatlich fundierte Bürokratie mit ausgesprochen planwirtschaftlichen Tendenzen“ entstehen könnte, wie BDI-Präsident Fritz Berg argwöhnte. 6 Die Warnungen vor einem exzessiven Dirigismus und umfassenden „Bewirtschaftungsvollmachten“ der Hohen Behörde nahmen im Verlauf der Verhandlungen über den Schumanplan sogar noch zu. Dass in der Bundesrepublik dennoch keine einheitliche Gegenfront der Industrie zustande kam, hing vor allem damit zusammen, dass die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie als Vertretung einer unmittelbar betroffenen Branche ungeachtet ernster Bedenken dem französischen Plan aus „politischen“ Erwägungen letztlich zustimmte. Nur eine direkte Beteiligung an der Montanunion bot die Möglichkeit, die einseitigen Kontrollen und Beschränkungen rasch abschütteln zu können; außerdem ließ sich die vom Stahlverband favorisierte Form wirtschaftlicher Kooperation, die Reorganisation eines internationalen Kartells zur branchenintern-transnationalen Regelung der drängenden Produktions-, Preis- und Absatzfragen aufgrund amerikanischer Widerstände kaum realisieren. Die Wirtschaftsvereinigung vertraute deshalb darauf, durch eine gezielte und geschickte Personalpolitik „von innen“ auf die Arbeit der Hohen Behörde der EGKS Einfluss nehmen zu können. Hingegen attackierte der BDI, dem die unmittelbar betroffenen Branchen Kohle und Stahl damals formell noch gar nicht angehörten, nach dem Start der Montanunion deren Aktivitäten und das zugrundeliegende supranationale Integrationskonzept „von außen“ (Bührer 1986; Kipping 1996). In der Ablehnung des Supranationalismus wusste sich der BDI übrigens mit der BDA einig, ebenso in dem – am Ende von Erfolg gekrönten – Bemühen, die Übertragung nennenswerter sozialpolitischer Kompetenzen an die EGKS unbedingt zu verhindern (Bührer 2000). Für wirklich bedeutsam hielt die BDA die Montanunion anfangs ohnehin nicht – ihr Hauptaugenmerk galt eindeutig dem „innerstaatlichen Bereich der Sozialpolitik“ (BDA 1953: 244). Dass der BDI trotz seiner Bedenken auf eine kompromisslose Opposition gegen die Montanunion verzichtete, resultierte auch aus dem Entschluss seines Präsidenten, die Außenpolitik Konrad Adenauers im Allgemeinen und dessen Europapolitik mit ihrem Herzstück, der Aussöhnung mit Frankreich, im Besonderen ungeachtet integrationspolitischer Differenzen zu unterstützen.
6
Berg, zitiert nach dem Protokoll der ersten ordentlichen Sitzung des Hauptausschusses und der ersten wirtschaftspolitischen Tagung in Schwetzingen am 7.6.1950 (= BDI-Drucksache Nr. 5), S. 16.
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Das Dilemma, vor dem die Spitzenverbände der westdeutschen Industrie angesichts der verschiedenen Integrationsinitiativen der fünfziger Jahre standen, wird am Beispiel der Montanunion besonders deutlich. Sie akzeptierten, mehr oder weniger widerstrebend, die supranationale Integration in Gestalt der EGKS vor allem aus Einsicht in die politische Notwendigkeit: Ein zügiges Comeback ohne eine aktive Beteiligung an den Bemühungen um die wirtschaftliche Integration Europas, in welcher Form auch immer, schien kaum möglich. Ausschließlich wirtschaftliche Überlegungen hätten wahrscheinlich eine gegenteilige Entscheidung zur Folge gehabt: Denn sowohl das Vertrauen der Unternehmerschaft in die langfristige Überlegenheit der westdeutschen Industrie als auch ihr marktwirtschaftliches Credo hätten eigentlich gegen eine Beteiligung gesprochen. Die Verbände ordneten sich mit ihrer gewissermaßen widerstrebenden Zustimmung zum Einigungsprojekt den Interessen der Schwerindustrie unter, die in Gestalt der Wirtschaftsvereinigung Stahl und einflussreicher „Sympathisanten“ im BDI wie Fritz Berg, Hermann Reusch, der „grauen Eminenz“, und Hauptgeschäftsführer Wilhelm Beutler den europapolitischen Entscheidungsprozess in der Industrie dominierten. Der Einfluss des BDI und der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie – als wichtigste Akteure aus dem Lager der Industrie – auf die Entscheidungen auf Regierungsebene lässt sich nicht exakt bestimmen. An den Schumanplan-Verhandlungen waren jedenfalls einige prominente Industrielle und Verbandsvertreter beteiligt – allerdings stärker in den eigens einberufenen Sachverständigengremien als in der Verhandlungsdelegation (Bührer 1986: 179í185). Auch fanden manche Befunde und Forderungen aus den zahlreichen Memoranden und Analysen aus Verbandskreisen teilweise wörtlich Eingang in die offiziellen Materialien des Bundeswirtschaftsministeriums für die Unterhändler in Paris. Verglichen mit ihren Kollegen aus den anderen fünf Teilnehmerländern verfügten die deutschen Unternehmer in den Verhandlungen über den Schumanplan zweifellos über die größten Mitsprachemöglichkeiten – und auf jeden Fall über größere als in den späteren Verhandlungen über die EWG. Die mehr oder weniger deutlich artikulierte, weitverbreitete Skepsis gegenüber dem Konzept der supranationalen Integration überdauerte sogar die Konferenz von Messina, auf der die Weichen in Richtung eines Gemeinsamen Marktes gestellt worden waren. Völlig unbeeindruckt votierte das Präsidium des BDI weiter für den „OEEC-Stil“ und gegen „eine Fortsetzung der Integration auf dem Wege supranationaler Institutionen unter Aufgabe von Souveränitätsrechten“. 7 Die Römischen Verträge entsprachen deshalb wegen der zwar verwässerten, aber nicht völlig eliminierten Supranationalität nur zum Teil den Wünschen der Industrie. Mit der ordnungspolitischen Ausstattung des Gemeinsamen Marktes, die unübersehbar vom „neoliberalen“ deutschen Modell beeinflusst war, konnten die Verbände indes durchaus zufrieden sein (Rhenisch 1999; Wegmann 2002). Der DIHT zeigte sich jedenfalls beruhigt, dass „marktwirtschaftliche Prinzipien“ beachtet und ein „übersteigerter Perfektionismus“ bei den Vertragsbestimmungen vermieden worden seien (DIHT 1957: 25). Die Mängel des Vertrages müssten im Interesse eines guten politischen Verhältnisses zwischen Deutschland und Frankreich in Kauf genommen werden (DIHT 1958: 44). Die BDA sorgte sich vor allem um das Fortbestehen der in der Bundesrepublik erprobten und bewährten sozialen Ordnung einer „freiheitlichen, eigenverantwortlichen Regelung der Sozialpolitik durch die unmittelbar Betroffenen“ und warnte insbesondere vor jeglichen
7
Protokoll der Präsidialsitzung am 8.6.1955, BDI-Archiv (künftig BDIA), Hauptgeschäftsführung (künftig HGF), Pro 4.
V.3 Die Europapolitik der deutschen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände
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Bestrebungen zur sozialpolitischen Harmonisierung. 8 Bemerkenswerterweise interessierte das institutionelle Gefüge der Römischen Verträge in Verbandskreisen zunächst nur am Rande: Zum einen setzte der BDI auf gezieltes und intensives Lobbying;9 zum anderen hing nach Ansicht beispielsweise des BDI-Hauptgeschäftsführers Wilhelm Beutler das „richtige Arbeiten“ des Gemeinsamen Marktes in hohem Maße „von den die Vertragsvorschriften ausführenden Persönlichkeiten“ ab. 10 Dieses personalpolitische Kalkül ging allerdings nicht auf: Die Institutionen bestimmten den Gang des Integrationsprozesses ungemein stärker als die Personen. Die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) betrachtete der BDI konsequenterweise keineswegs als Endstadium des Einigungsprozesses, vielmehr visierte er eine „euro-atlantische“ Wirtschaftsgemeinschaft unter Einschluss der OEEC an. Die von britischer Seite mit massiver Unterstützung durch Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard propagierte OEEC-weite Freihandelszone befürwortete der Bundesverband nicht nur als wichtigen Schritt in diese Richtung, sondern auch als Beitrag zur Überwindung der drohenden handelspolitischen Spaltung Westeuropas – immerhin bewegte sich der Anteil der Länder der späteren European Free Trade Association (EFTA) am westdeutschen Außenhandel in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre etwa auf der gleichen Höhe wie derjenige der EWG. Als diese Pläne am Ende scheiterten (Bührer 1997: 363í380; Schulte 1999), war die Enttäuschung zwar groß – die befürchteten Einbrüche im Handel blieben jedoch aus. In den integrationspolitischen Kontroversen der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre versuchten die Wirtschaftsverbände, sich möglichst viele Optionen offen zu halten. Sie lobten die Bemühungen um eine politische Union, wie sie insbesondere von französischer Seite propagiert wurde, und drängten auf den zügigen Ausbau der Zollunion der Sechs in Richtung einer Wirtschaftsunion, setzten sich aber gleichzeitig und mit Nachdruck für einen „Brückenschlag“ zur 1960 gegründeten EFTA sowie für den Beitritt Großbritanniens zur EWG ein. Einer Erörterung der Frage, ob diese Ziele überhaupt miteinander vereinbar waren, wichen die Verbandsstrategen aus. Im Grunde erschien ihnen eine Erweiterung der Gemeinschaft jedoch wichtiger als ihre Politisierung oder Vertiefung, worunter in Industriekreisen damals eher eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsländern verstanden wurde als eine Stärkung der supranationalen Elemente und Prozeduren der Gemeinschaft. So setzten die Spitzenverbände ihre zweigleisige Integrationspolitik fort: Sie bekannten sich zur EWG und propagierten gleichzeitig den wirtschaftlichen Zusammenschluss „Gesamteuropas“. Adenauer, dem nicht die supranational intendierte Sechserintegration an sich, aber ein gutes Verhältnis zu Frankreich am Herzen lag, hätte sich wohl auch durch Einwände aus der Industrie nicht von seinem Kurs abbringen lassen; dass er sich gegen Erhard am Ende durchsetzen und der mit der EWG eingeschlagene Weg fortgesetzt werden konnte, dazu trug die Unterstützung vor allem von Seiten des BDI aber zweifellos bei. Entschlossen, die Außenpolitik des Kanzlers zu unterstützen, war es Berg und der Hauptgeschäftsführung gelungen, Kritiker etwa aus der Textilindustrie und dem
8 9
10
Vgl. Erdmann 1955; Erdmann war bei der BDA beschäftigt. „Der Arbeitgeber“, in dem sein Beitrag erschien, war und ist das Verbandsorgan der BDA. Vgl. auch BDA 1957: 268 ff., 1958: 26. „Zum Beispiel gab es für die deutsche Industrie einen einzelnen Mann, der unaufhörlich uns alle und insbesondere mich besuchte“, so die Klage eines Brüsseler Beamten (Europäische Kommission 2007: 329. Bei dem Lobbyisten handelte es sich um Heinrich Eichner, der beim BDI u. a. mit europapolitischen Fragen befasst war. Protokoll der Präsidialsitzung am 16.5.1957, BDIA, HGF, Pro 5.
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Flugzeugbau, die der EWG skeptisch oder ablehnend gegenüberstanden (Rhenisch 1999: 186í196), auf die „offizielle“ Position des Spitzenverbands zu verpflichten. Auf das Scheitern der Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien im Januar 1963 reagierte der Bundesverband trotz der dramatisch klingenden Formulierung vom „schwarzen Tag“ für die deutsche Exportwirtschaft und die Einheit des Westens bemerkenswert gelassen. Er vermochte diesem Fehlschlag sogar einen positiven Aspekt abzugewinnen: Die ursprünglich „überwiegend politisch bzw. emotional“ motivierte Einstellung zur europäischen Integration habe inzwischen einer realistischeren Betrachtungsweise Platz gemacht; dies sei jedoch kein Schaden für die europäische Sache, denn mit „Enthusiasmus“ allein lasse sich Europa ohnehin nicht bauen (BDI 1963: 14, 63í64; Bange 1998). Jedenfalls hielt der Bundesverband an seinen beiden Zielen – der Aufnahme Großbritanniens in die EWG und der Fortentwicklung der Gemeinschaft – unbeirrt fest.11 Ähnlich pragmatisch reagierte der Verband auch auf die ungleich schwerere Krise vom Juni 1965, als der EWG-Ministerrat keine Einigung über die künftige Finanzierung des Gemeinsamen Agrarmarktes erzielen konnte. Die französische Regierung praktizierte daraufhin bekanntlich eine „Politik des leeren Stuhls“ und stellte ihre Mitarbeit in den Entscheidungsgremien der EWG ein – auch aus Protest gegen die Kommission, deren politische Ambitionen insbesondere dem französischen Staatspräsidenten de Gaulle entschieden zu weit gingen (Götz 1995; Ludlow 2006). Der BDI zeigte für diese Haltung durchaus Verständnis. Um disponieren zu können, brauche die Industrie verlässliche Marktdaten: „Fehlt diese Sicherheit und muss gar befürchtet werden, dass die wirtschaftliche Integration (…) der Gefahr ständiger politischer Eingriffe ausgesetzt ist“ – und damit waren gewiss nicht nur die Regierungen, sondern auch die ehrgeizige Kommission gemeint –, „dann bringt die EWG möglicherweise auf längere Sicht den Unternehmen eher Nachteile“.12 Der BDI plädierte deshalb für einen schnellen Ausbau der Gemeinschaft zur „Wirtschaftsunion“, für die Beseitigung aller Wettbewerbsverzerrungen und die Intensivierung der Kooperation zwischen den Unternehmen. Eine Änderung der Abstimmungsmodalitäten im Ministerrat und eine Ausweitung der Kontrollbefugnisse des Parlaments hielt der Verband hingegen nicht für vordringlich. Die französische Ablehnung des Majoritätsprinzips stieß beim BDI sogar auf „volles Einverständnis“: Das Mehrheitsstimmrecht sollte, so der BDIPräsident, möglichst wenig und, sofern für ein Land „wichtige nationale Dinge“ auf dem Spiel stünden, gar nicht angewandt werden. Die Hauptsorge des BDI galt der Rückkehr Frankreichs in die EWG. Substantielle Zugeständnisse, gar eine Änderung der Römischen Verträge, lehnten die Mitglieder des Präsidiums allerdings ab, weil sie darauf vertrauten, dass die Franzosen – sei es aus Rücksicht auf die eigenen Interessen, sei es aufgrund des Drucks der Partnerländer – über kurz oder lang nach Brüssel zurückkehren würden: „Das Ganze ist eine Nervenfrage.“ 13 Dass der schließlich in Luxemburg ausgehandelte Kompromiss in der Frage der Mehrheitsbeschlüsse zusammen mit der gleichzeitig beschlossenen Einengung des Handlungsspielraums der Kommission auf eine Schwächung der supranationalen Kompetenzen der EWG und eine „Renationalisierung“ der Europapolitik hinauslief, 14 störte den BDI nicht. Das innovativste und dominierende integrationspolitische Konzept der „Gründerjahre“ der heutigen EU, der Supranationalismus, hatte damit vorerst 11 12 13 14
Rundschreiben der Hauptgeschäftsführung vom 27.2.1963, BDIA, HGF, Büro 27. Erklärung des BDI zur EWG-Krise vom 1.10.1965, Mannesmann-Archiv, M 80.601. Protokoll der Gemeinsamen Präsidial- und Vorstandssitzung am 22.11.1965, BDIA, HGF, Pro 12. Gegenteiliger Ansicht ist Rolf Lahr (Lahr 1983).
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ausgedient – unter aktiver Mithilfe der Bundesregierung und mit stillschweigender Billigung seitens des Bundesverbands. In dieser Zeit europapolitischer Routine veröffentlichte der BDI ein Memorandum zur Zukunft der EWG, das seine damaligen integrationspolitischen Vorstellungen prägnant bündelte. Zwei Hauptziele wurden darin formuliert: zum einen die baldige Verwirklichung „binnenmarktähnlicher Verhältnisse durch beschleunigte Weiterentwicklung der Zollunion zur Wirtschaftsunion“, zum anderen die Fortsetzung der „Bemühungen um die regionale Erweiterung der Gemeinschaft“. Angesichts der „Notwendigkeit einer Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Stellung Europas in der Welt“ könne man nicht bei der Gemeinschaft der Sechs stehen bleiben, auch wenn deren Zusammenhalt nicht gefährdet werden dürfe. 15 Eine innere Stärkung der Gemeinschaft erhoffte sich der Verband vor allem von einer Harmonisierung der nationalen Steuersysteme, einer gemeinsamen Energiepolitik, einer Angleichung der nationalen Wettbewerbspolitiken, der baldigen Formulierung einer gemeinsamen Industriepolitik und vom Übergang zu einer gemeinsamen Handelspolitik, da andernfalls die Zollunion ein Torso bleiben und die „Gefahr von Disproportionen“ in den Industriestrukturen heraufbeschworen werde. 16 Der BDI blieb also bei seiner Linie und forderte den inneren Ausbau der Gemeinschaft und ihre gleichzeitige Erweiterung, ohne sich vom damaligen Stillstand der Einigungsbemühungen sonderlich beeindrucken zu lassen. Die Spitzenverbände arbeiteten auch nicht auf eine aktivere Rolle, gar auf eine Art leadership der Bundesrepublik im Einigungsprozess hin. Dies hätte in den 1960er Jahren höchstwahrscheinlich einen Streit mit der französischen Regierung provoziert (Ludlow 2006: 211í212). Das Bestreben der Bundesregierung, eine solche direkte Konfrontation zu vermeiden, lag im Interesse der deutschen Industrie. Insbesondere der BDI war, wie erwähnt, fest entschlossen, auf den französischen Nachbarn Rücksicht zu nehmen. Neue Projekte – alte Probleme: vom Werner-Plan zum Binnenmarkt Erst das Treffen der Staats- und Regierungschefs der EG-Länder in Den Haag im Dezember 1969 gab dem Einigungsprozess neue und wirksame Impulse. Der BDI wertete die Konferenz als herausragendes integrationspolitisches Ereignis, da sie die „mehrjährige Phase der Stagnation beendet“ und die „Weichen für die Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft“ gestellt habe (BDI 1970: 20, 64í65). Das Plädoyer für einen „echten Binnenmarkt“ resultierte aus der Überzeugung der Verbandsspitze, dass eine „bloße Zollunion als Rahmen für einen Markt mit gleichen Wettbewerbsgrundlagen“ nicht ausreiche; die Wirtschaft sei bekanntlich für ihre langfristigen Dispositionen auf „klare Daten“ angewiesen. Eine „zunehmend bessere Abstimmung zwischen den Sechs über ihre wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen und eine Koordinierung der Konjunktur- und Währungspolitik bis hin zur Kongruenz“ müsse folglich „essentieller Bestandteil des weiteren Integrationsprogrammes“ sein (ebd.). Die Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion, so der BDI, verlange „von den Regierungen in zunehmendem Maße Souveränitätsverzichte, die kaum ganz leicht fallen dürften“, aber gleichwohl unumgänglich seien (ebd.). Ob die Vereinheitlichung der Wirtschaftspolitik oder die Errichtung einer Währungsunion Vorrang haben sollte – ein Disput, der in den 1980er Jahren unter der Überschrift „Lokomotivtheorie vs. Krönungs15 16
Memorandum vom 22.8.1967, BDIA, HGF, Pro 16. Vgl. Fn. 15.
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theorie“ wiederauflebte –, ließ der BDI offen. Umso nachdrücklicher forderte er eine regionale Erweiterung der Gemeinschaft, von der er sich eine Steigerung des Handels und zusätzliche Wachstumsimpulse versprach. Der DIHT reagierte zurückhaltender und bewertete vor dem Hintergrund der Währungsturbulenzen infolge der Wechselkursänderungen in der Bundesrepublik und in Frankreich die Chancen für eine harmonisierte Wirtschafts- und Währungspolitik skeptisch. Das „vertragswidrige Einstimmigkeitsprinzip in Brüssel“ konserviere die „letztinstanzliche politische Verantwortung jeder nationalen Regierung“ (DIHT 1970: 16í18). Fortschritte versprach sich der DIHT vor allem von einer schrittweisen Übertragung wirtschaftspolitischer Entscheidungsbefugnisse auf die EWG-Ebene. Intern kommentierte auch der BDI die Beschlüsse von Den Haag und die ersten Schritte zu ihrer Verwirklichung merklich kritischer. Wie der DIHT bemängelte er den fehlenden Mut zum Supranationalismus: Der Stufenplan zur Wirtschafts- und Währungsunion vermeide „kurz- und mittelfristig die Übertragung weiterer Souveränitätsrechte an supranationale Institutionen“ und vertraue stattdessen auf die „Vernunft“ der Mitgliedsregierungen – doch diese Hoffnung sei eine „Illusion“. 17 Und mit Blick auf die kompromissbereite Haltung der Bundesregierung gegenüber Großbritannien im Zusammenhang mit einem künftigen Beitritt hieß es sogar: „In allen EWG-Krisen haben wir als härtesten Kern den supranationalen Charakter insbesondere der Institutionen verteidigt“; wenn nun nach den Worten des Bundeskanzlers „ein Europa unterhalb der Supranationalität und oberhalb der klassischen Diplomatie“ angestrebt werde, dann „wird nicht jene EWG erweitert, für die in den vergangenen Krisen gekämpft wurde“. 18 Auch wenn solche Standpunkte insbesondere auf Seiten des BDI vorerst nur verbandsintern artikuliert wurden – deutete sich hier möglicherweise ein integrationspolitischer Kurswechsel an? Favorisierten die Spitzenverbände im Grunde doch das supranationale Modell, wenn es ihnen, wie im Fall der Wirtschaftsund Währungsunion, sachlich geboten erschien? Den nach dem damaligen luxemburgischen Regierungschef benannten Werner-Plan vom Oktober 1970 bedachte der DIHT jedenfalls mit dem Prädikat „ein großer Wurf“ (DIHT 1971: 18), und auch der BDI sparte nicht mit Lob, weil der Plan einen „erfolgversprechenden Weg zur schrittweisen Herbeiführung einer Wirtschafts- und Währungsunion und damit letztlich auch zur politischen Einigung Europas“ eröffne. Gleichzeitig rügte er den EWG-Ministerrat wegen der Vertagung der Entscheidungen über die zweite und dritte Phase des Übergangs zur Wirtschafts- und Währungsunion (BDI 1971: 41í42; allgemein Kaelberer 2001: 97í123). Kein Zweifel, zu Beginn der siebziger Jahre legte der BDI Wert auf ein europafreundliches Image: Die Industrie, so hieß es in einer internen Aufzeichnung, sei „immer pro Europa (so groß als irgend möglich)“ und „immer der festeste Halt während der zurückliegenden europäischen Krisen“ gewesen, genauso wie sie jetzt „ohne Einschränkung“ die Pläne für eine Wirtschafts- und Währungsunion unterstütze. 19 Die bevorstehende Erweiterung der Gemeinschaft begrüßte der BDI zwar als bedeutenden einigungspolitischen Fortschritt, aber seine Freude wurde gedämpft durch die „schwere innere Krise“ der Gemeinschaft, die nach Ansicht des Bundesverbands durch den „währungspolitischen Alleingang der Bundesrepublik gerade in einem Zeitpunkt hervorge17 18 19
„Was ist seit Den Haag geschehen?“, Aufzeichnung ohne Verfasser und ohne Datum (vermutlich Mai/Juni 1970), BDIA, HGF, Büro 20. Vgl. Fn. 17. Aufzeichnung Neef vom 6.1.1971, BDIA, HGF, Büro 20. Die Aufzeichnung diente der Vorbereitung auf ein Fernsehinterview mit dem BDI-Präsidenten Berg.
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rufen wurde, als sich die EWG an der Schwelle zur Wirtschafts- und Währungsunion befand und damit die ersten Schritte auf dem Wege zu einer politischen Gemeinschaft unternahm“. Anstatt, wie im Werner-Plan vorgesehen, die „Festigung der Währungsparitäten“ in Angriff zu nehmen, habe Bonn „integrationspolitisch entgegengesetzt entschieden“, den Wechselkurs der DM freigegeben und damit einen „tiefen Schock“ bei den EG-Partnern ausgelöst. Doch „wenn es ernst werden soll mit der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, muss in erster Linie die Kommission ihr volles Gewicht haben und die Regierungen müssen bereit sein, entscheidende Kompetenzen tatsächlich auf die Institutionen der Gemeinschaft zu übertragen“. Erst ein solcher Verzicht liefere „die eigentliche Probe darauf (…), wie ernsthaft die Mitgliedsregierungen der Gemeinschaft die Wirtschafts- und Währungsunion wollen“ (BDI 1972: 10í11). Aus Sicht des Bundesverbands stand jedenfalls fest: Für die deutsche Politik gab es „keine Alternative zur europäischen Integration“, denn kein „klassischer Nationalstaat würde in den harten weltwirtschaftlichen Auseinandersetzungen allein bestehen können“. 20 Mit dem Beitritt Dänemarks, Großbritanniens und Irlands zu den Europäischen Gemeinschaften zum 1. Januar 1973 ging der krisenhafte Abschnitt der Einigung keineswegs zu Ende. Vielmehr setzte sich ein Trend fort, der im Laufe der 1960er Jahre immer deutlicher zu Tage getreten war und in Gestalt der außerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft stattfindenden Treffen der Staats- und Regierungschefs zum vorläufigen Abschluss kam: Das supranationale Integrationskonzept verlor zusehends an Attraktivität, die Regierungen waren immer weniger bereit, ihre Entscheidungshoheit durch „Brüssel“ einengen zu lassen. Auch beim BDI gewann man den Eindruck, als seien „die nationalen Interessen wieder im Vormarsch“. Deshalb forderte der BDI den Aufbau eines „vom Ministerrat unabhängigen Zentralbanksystems“ und die Angleichung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedsstaaten (BDI 1973: 23í26). Im gewohnten Gegensatz zum öffentlich demonstrierten verhaltenen Optimismus zeigte man sich intern ziemlich ernüchtert: Die politische Zielsetzung der Römischen Verträge sei verwässert und durch ökonomische Sachzwänge ersetzt worden, hieß es in einem internen Papier, eine solche Politik könne Europa jedoch „nicht länger tragen“. Deshalb müssten die neun Regierungen „jetzt entscheiden, ob sie die drängenden großen Probleme in ihren Staaten (…) national oder gemeinschaftlich angehen“ wollten. Für den BDI stand indes fest: „Es gibt auch nach einer sorgfältigen Analyse der nationalen, der europäischen, der weltweiten Probleme keine andere Lösungsmöglichkeit als die Fusion der vorhandenen nationalen Kräfte in Europa“ – vorzugsweise in Form einer Wirtschafts- und Währungsunion. 21 Doch die desintegrierenden Tendenzen in der Gemeinschaft verschärften sich Mitte der siebziger Jahre sogar noch: Die Weltwirtschaftskrise, die auch Westeuropa 1974 mit voller Wucht erfasste, ließ nationale Alleingänge zur Überwindung der vielfältigen wirtschafts-, finanz- und währungspolitischen Probleme plötzlich wieder verlockend erscheinen. Der DIHT warnte deshalb davor, auf „nationalistische Lösungen“ zu setzen und „das erreichte Niveau einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft durch autarkistische Bestrebungen“ zu gefährden (DIHT 1975: 23). Nachdem die Erwartung des BDI, der Europäische Rat könnte die Rolle eines neuen „Motors“ der Integration übernehmen, sich nicht erfüllt hatte, schöpfte der Verband vor allem aus dem Bericht des belgischen Ministerpräsidenten Leo Tinde20 21
Aufzeichnung Neef vom 14.8.1972, BDIA, HGF, Büro 21. Die Aufzeichnung diente der Vorbereitung auf eine Unterredung mit dem Bundeskanzler Willy Brandt. Aufzeichnung Neef vom 12.12.1973, BDIA, HGF, Büro 22.
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Teil V: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände im internationalen Umfeld
mans die Hoffnung auf einigungspolitische Fortschritte. Dessen Aktionsprogramm zur Vereinheitlichung der Außen- und Verteidigungspolitik, zur Schaffung einer Wirtschaftsund Währungsunion sowie zur Stärkung der europäischen Institutionen einschließlich der Direktwahl des Europäischen Parlaments unterstützte der BDI ohne Einschränkung. Allerdings müssten den wiederholten Integrationsbeteuerungen „endlich Taten folgen“. Die Gemeinschaft stehe vor der Entscheidung, „ob sie den Pfad des allmählichen Verfalls weiter beschreitet oder durch eine neue Kraftanstrengung zu echten Integrationsfortschritten im Inneren“ gelangen wolle (BDI 1976: 25í29). Das bereits 1974 als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise entwickelte sozialpolitische Aktionsprogramm der EG-Kommission, das unter anderem Forderungen nach mehr Beschäftigung und besseren Partizipationsmöglichkeiten der „Sozialpartner“ auf EG- und der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene enthielt, löste auf Seiten der Verbände erwartungsgemäß nur verhaltene Zustimmung aus: Die BDA konzedierte immerhin, dass Fortschritte im Einigungsprozess nur möglich seien, wenn die anvisierte Wirtschafts- und Währungsunion durch eine „soziale Komponente“ ergänzt werde (BDA 1976: 130í131). Ein internes, „europäische Zwischenbilanz“ überschriebenes 23-seitiges Papier eines BDI-Mitarbeiters vom Dezember 1977 22 lässt erkennen, dass die Warnungen vor einem schleichenden Bedeutungsverlust der Gemeinschaft keine wohlfeile Rhetorik waren, sondern Ausdruck ernsthafter Sorgen im Verband. Die meisten Regierungen seien „an essentiellen Integrationsfortschritten zur Zeit nicht interessiert“, so die Diagnose, weil sie aus innenpolitischen Gründen keinen weiteren „Verzicht auf nationale Souveränität zugunsten der Gemeinschaft“ leisten wollten. Auch in der Industrie sei man mit der EG „in ihrem jetzigen Zustand“ ganz zufrieden. Der bisher erreichte Stand bot nach Ansicht des Verfassers jedoch keinen Schutz vor einem „allmählichen Verfall“ der Gemeinschaft und einer „Degenerierung“ zu einer „reinen Zollunion oder Freihandelszone“. Das wachsende Desinteresse an weiteren Integrationsfortschritten sei umso unbegreiflicher, als die ursprünglichen Beweggründe für die Einigung – der Trend zur „Großraumwirtschaft“, die handelsfördernden Effekte, der Schutz vor „Kollektivismus und Diktaturen“ – seither „nichts an Aktualität“ eingebüßt hätten. Der Beitritt Großbritanniens habe ebenfalls nicht die erhofften Impulse ausgelöst, vielmehr räumten inzwischen selbst manche ehemaligen Fürsprecher Großbritanniens ein, dass „die Warnungen de Gaulles vor einem zu schnellen Beitritt der Briten vielleicht doch nicht so unberechtigt“ gewesen seien. Als weitere Gründe der Europamüdigkeit nannte der Bericht die nachlassende Anziehungskraft des Einigungsgedankens in der Bevölkerung, irreführende Klagen über eine angebliche „deutsche Zahlmeisterrolle“ und die „Schwerfälligkeit des gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesses“. Zur Überwindung der Probleme schlug der Verfasser des Papiers eine dem Wettbewerbsprinzip verpflichtete Wirtschafts- und Industriepolitik vor, die Unterstützung der Bemühungen der Kommission um die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion, eine gemeinsame Forschungs- und Industriepolitik, eine ausgabenreduzierende Reform der Agrarpolitik und effizientere Entscheidungsverfahren. Letzteres Ziel könne durch eine schrittweise „Lockerung bei der Anwendung der Einstimmigkeitsregel“ erreicht werden. Der Europaexperte des BDI warnte allerdings davor, den Europäischen Rat in ein „Ersatzorgan der normalen EG-Räte“ zu verwandeln, da die Staatschefs damit „völlig überfordert“ seien. Der Gedanke eines Kern-Europa, wie er im Tindemans-Bericht erstmals angeklungen war, erschien ihm durchaus plausibel: Ein engerer politischer Zusammenschluss der Länder, „die dazu bereit 22
E. Metzger (1977): Europäische Zwischenbilanz, BDIA, HGF, Büro 221.
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und fähig sind, wäre zwar keine Ideallösung“, aber „immer noch besser als eine allmählich dahinsiechende Gemeinschaft“. Die aus Sicht der Unternehmerverbände erforderlichen einigungspolitischen Impulse ließen jedoch noch etliche Jahre auf sich warten. In der Zwischenzeit konzentrierte sich der BDI darauf, den Vollzug längst gefasster Beschlüsse anzumahnen und die Regierungen dafür zu tadeln, dass sie „Europapolitik sozusagen nur im Nebenberuf“ betrieben (BDI 1980: 15í17). Die BDA konzentrierte ihre europapolitischen Aktivitäten auf die Abwehr der nach dem damaligen „Sozialkommissar“ Henk Vredeling benannten Richtlinie vom Oktober 1980 zur Erweiterung der Unterrichtungs- und Anhörungsrechte der Arbeitnehmer in nationalen und multinationalen Konzernen. Wegen der „völlig unterschiedlichen rechtlichen, politischen, aber auch traditionellen Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedsstaaten“ hielt die Bundesvereinigung ein „verbindliches Gemeinschaftsinstrument in diesem Bereich“ für nicht akzeptabel (BDA 1981: 132). Ziel dieser Abwehrbemühungen war es, eine europäische Mitbestimmungsregelung bereits im Ansatz zu blockieren und den strategischen Vorsprung der Arbeitgeber, den die transnationalen Unternehmensstrukturen ihnen verschafften, zu zementieren. Aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Unterzeichnung der Römischen Verträge konzedierte der BDI zwar Erfolge beim Aufbau eines gemeinsamen Marktes sowie bei der Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und einer gemeinsamen Handelspolitik, beklagte aber zugleich, dass „der Konsens über das Endziel des Integrationsprozesses“, nämlich die „Schaffung eines europäischen Bundesstaates“, zerbrochen sei. Die Hoffnung, dass die „Erosion“ der Gemeinschaft doch noch abgewendet werden könnte, knüpfte der BDI in erster Linie an die sogenannte Genscher-Colombo-Initiative, die darauf abzielte, die wirtschaftliche und politische Integration besser miteinander zu verzahnen (BDI 1982: 190í192). Und in der Tat beendeten bekanntlich erst die aus diesem deutsch-italienischen Vorstoß entstandene „Einheitliche Europäische Akte“ und das auf Betreiben des neuen Kommissionspräsidenten Jacques Delors verabschiedete Binnenmarktprogramm die Phase der „Eurosklerose“ (Ross 1995: 26í39). Die Bedeutung dieser beiden Initiativen wird in der Forschung kontrovers diskutiert: Der amerikanische Historiker John Gillingham (2003: 496) lobt die „Einheitliche Europäische Akte“ als „the most important single development in the history of European integration“, weil sie den Marktprinzipien in Europa zum Durchbruch verholfen habe. Im Gegensatz dazu deutet der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Jörg Huffschmid (2007) beide Projekte als entscheidende Schritte in Richtung einer „neoliberalen Deformation Europas“. Wie zu erwarten, begrüßte der BDI beide Initiativen, weil sie der europäischen Einigung „neuen Schwung“ verliehen hätten. Gerade vom Binnenmarkt erhoffte er sich einen entscheidenden Beitrag zur „Revitalisierung der europäischen Wirtschaft“. Dieses Projekt erschien dem Bundesverband sogar als ein Schritt von „historischer Dimension“. Allerdings müsse bei der Verwirklichung des Binnenmarkts das Subsidiaritätsprinzip beachtet werden: Gemeinschaftsregelungen seien nur dann erforderlich, wenn sie eine „echte Verbesserung gegenüber entsprechenden nationalen Bestimmungen“ brächten (BDI 1988: 341í349). Signalisierte diese Verteidigung eigener bzw. nationaler Handlungsspielräume eine erneute Abkehr von dem zuvor propagierten Supranationalismus? Kurz nach der Unterzeichnung der „Einheitlichen Europäischen Akte“ hatte der BDI den Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen an die „zu erwartenden Ergebnisse“ geknüpft und deshalb bei „währungs-, finanz- sowie bei ordnungspolitischen Grundsatzfragen“ gegen Mehrheitsent-
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scheidungen votiert. Außerdem hatte er sich dafür eingesetzt, die Gemeinschaft „im Konsens aller Mitgliedsstaaten“ weiterzuentwickeln, und davor gewarnt, durch ein „allzu forsches integrationspolitisches Vorpreschen“ eine „neue Aufspaltung Westeuropas“ zu riskieren (BDI 1986: 225). Bekam der BDI, kaum dass die Einigungsbemühungen den lang ersehnten „neuen Schwung“ aufgenommen hatten, Angst vor der eigenen Courage in Sachen Supranationalismus? Zumindest ließ seine Integrationsrhetorik in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die Eindeutigkeit des vorigen Jahrzehnts vermissen. Im Unterschied dazu hob der DIHT hervor, dass die Vollendung des europäischen Binnenmarktes „vor allem die Aufgabe von nationalen Souveränitätsrechten zugunsten europäischer, gemeinsamer Regelungen“ verlange (DIHT 1987: 26). Kontinuität kennzeichnete auch die Haltung der BDA – allerdings in entgegengesetzter Richtung: Erwartungsgemäß setzte sie sich vehement gegen alle Versuche zur Wehr, die „soziale Dimension“ der EG im Zusammenhang mit der Verwirklichung des EG-Binnenmarktes zu stärken: Ein „Sozialer Dialog“ zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, wie ihn die „Einheitliche Europäische Akte“ vorsah, könne nur unverbindlichen Charakter haben (Bührer 2000: 22). Eine generelle Abkehr zumindest des BDI und des DIHT von ihrer tendenziell supranational orientierten Integrationspolitik lässt sich also in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nicht behaupten, eher eine gewisse Sorge insbesondere auf Seiten des BDI, dass die marktwirtschaftlichen Fundamente und Regelungen der EG doch nicht tragfähig genug sein könnten. Vertiefung und Erweiterung – Herausforderungen seit den 1990er Jahren Die frühen neunziger Jahre waren gekennzeichnet durch die Erweiterung der Gemeinschaft auf 15 Mitgliedsländer, den Einstieg in den Binnenmarkt und die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion gemäß den Verträgen von Maastricht. Dass die Schritte in Richtung einer wirtschafts- und währungspolitischen Vereinheitlichung beim BDI auf Beifall stießen, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Großen Wert legten er und die anderen deutschen Spitzenverbände insbesondere auf eine der Geldwertstabilität verpflichtete, unabhängige europäische Zentralbank. Fortschritte auf diesem Sektor müssten jedoch mit Fortschritten auf dem Weg zur politischen Union einhergehen; dazu bedürfe es auch einer institutionellen Weiterentwicklung. So plädierten die Verbände beispielsweise für eine „spürbare Stärkung der Befugnisse des Parlaments“ sowie für „Sanktionsmechanismen“, um den Verträgen „im Einzelfall die notwendige Durchschlagskraft zu verleihen“. Die Kompetenz, Sanktionen zu verhängen, sollte dem Europäischen Gerichtshof zustehen. 23 Das Ergebnis von Maastricht stellte den BDI allerdings nicht vollauf zufrieden. Die „Abtretung sämtlicher geld- und währungspolitischer Befugnisse an ein supranationales Organ wie die Europäische Zentralbank“ erforderte seiner Ansicht nach nämlich „übereinstimmende wirtschaftspolitische Konzeptionen und Prioritäten, aber auch einen dauerhaften politischen Grundkonsens“, der erst durch eine politische Union gesichert sei. Diese „Parallelität“ von Wirtschafts- und politischer Union war nach Überzeugung des Verbands nicht erreicht worden; dennoch hielt man es für wünschenswert, dass der Vertrag „aus übergeordneten politischen Gründen in Kraft“ treten sollte (BDI 1992: 323). Der BDI zählte auch zu den entschiedensten Befürwortern des Euro – ungeachtet der massiven Kritik vor allem 23
Gemeinsame Stellungnahme zur Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, Köln/Bonn, 20.6.1991; zu den Impulsen durch „Maastricht“ vgl. Elvert 2006: bes. 121-131.
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aus wissenschaftlichen Kreisen (vgl. z. B. die BDI-Broschüre „Der Euro: Chance für die deutsche Industrie“, BDI 1996; zur Kritik vgl. Hankel/Nölling/Schachtschneider 1998). Der DIHT sah ebenfalls keinen Anlass, „sich vor einer europäischen Währung zu fürchten“, zumal die Bedingungen für die „langjährige Stabilität der DM auf die anderen EGWährungen“ ausgeweitet werden würden und „viele EG-Länder in den letzten Jahren große Fortschritte hin zur Geldwertstabilität“ gemacht hätten: „Die DM wird damit weder geopfert noch verschleudert.“ Um die Sorgen um die Funktionsfähigkeit und Sicherheit des Geldsystems zu zerstreuen, müssten die übrigen EG-Staaten ihren Notenbanken jedoch „alsbald die vereinbarte Unabhängigkeit gewähren “ (DIHT 1992: 10). Mit Blick auf die für 1996 geplante Regierungskonferenz votierten BDA und BDI in einem gemeinsamen Memorandum vom Mai 1995 24 für eine „kontinuierliche Fortentwicklung“ der Gemeinschaft zu einem „immer engeren Zusammenschluss Europas“ bei gleichzeitiger „Sicherung des erreichten Integrationsstandes“. Eine „Reform der Union an ‚Haupt und Gliedern‘“ hielten die beiden Spitzenverbände nicht für erforderlich. Erwartet wurde also kein qualitativer Sprung nach dem Vorbild der Einheitlichen Europäischen Akte oder des Maastrichter Vertrages. An einer „Neuauflage der Krise“, in die das Zustimmungsverfahren zu letzterem Vertrag die Gemeinschaft gestürzt habe, könne schließlich „niemand interessiert sein“. Auf Ablehnung stieß im Interesse einer Angleichung der Wettbewerbsbedingungen auch ein „Europa à la carte“ bzw. ein Europa der „unterschiedlichen Geschwindigkeiten“. Erweiterungen sollten künftig durch die schrittweise Annäherung zwischen der Gemeinschaft und den beitrittswilligen und -fähigen Ländern vorbereitet werden, und zwar unter strenger Beachtung des „acquis communautaire“. Als Voraussetzungen für die Aufnahme neuer Mitglieder nannte das Memorandum eine „Anpassung der Institutionen“, eine Reform der Agrarpolitik und eine „Neuordnung der Strukturfonds“. Ferner sollte die EUPolitik stärker an den Grundsätzen der Subsidiarität ausgerichtet werden. Als übergeordnetes Ziel der Reformbemühungen wurde die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der EU genannt; erreicht werden sollte dieses Ziel mittels einer „Deregulierung“. Eine Ausweitung der sozialpolitischen Kompetenzen der Gemeinschaft lehnten die beiden Verbände, wie kaum anders zu erwarten, entschieden ab. Mit Blick auf mögliche institutionelle Reformen rangierten die Erhaltung der Handlungsfähigkeit der Organe und die Verbesserung der Effizienz des Entscheidungsprozesses ganz oben. Um auf neue Entwicklungen gesetzgeberisch so schnell reagieren zu können wie konkurrierende Nationalstaaten, z. B. die USA und Japan, war es nach Ansicht der BDA und des BDI erforderlich, die Zahl der Kommissare zu begrenzen, aber die Rolle der Kommission als „Motor“ der Gemeinschaft zu bewahren. Ferner sollte die Legitimation des Europäischen Parlaments erhöht werden. Für Beschlüsse des Ministerrats sollten künftig in verstärktem Maße qualifizierte Mehrheitsentscheidungen zugelassen werden; allerdings verlangten der BDI und die BDA, dass „in politisch besonders sensiblen Bereichen“ wie Finanzen, Steuerharmonisierung oder Industriepolitik am Einstimmigkeitsprinzip festgehalten werde. Diese Position gegenüber institutionellen Reformen behielten die beiden Spitzenverbände bei. In einem gemeinsamen Schreiben an das Auswärtige Amt 25 bekräftigten sie ihr „überragendes Interesse an handlungsfähigen Organen“. Als Voraussetzungen nannten der 24 25
BDI/BDA: Erste Überlegungen zur Regierungskonferenz 1996. Köln, Mai 1995. – Dieses und die in den beiden nächsten Anmerkungen genannten Dokumente wurden mir dankenswerterweise von der BDA zur Verfügung gestellt. BDI/BDA an Hoyer vom 26.5.1997.
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BDI und die BDA erneut eine „Vereinfachung der Entscheidungsverfahren im Europäischen Parlament“, eine „neue Stimmengewichtung im (vergrößerten) Rat, die der Bevölkerungsmehrheit Rechnung“ trage – einschließlich der Möglichkeit einer „superqualifizierten Mehrheit“ bei besonders wichtigen Entscheidungen –, sowie eine Begrenzung der Zahl der Kommissare auf zwanzig. Kontinuität demonstrierten die Verbände schließlich auch in der Frage der Erweiterung: In einem Positionspapier zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 26 begrüßten BDI und BDA die geplante Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten, weil sie „die Perspektive eines großen Binnenmarktes mit über 450 Millionen Verbrauchern“ eröffne – allerdings unter der Bedingung der Wahrung des „acquis communautaire“. Übergangsfristen „im Kernbereich des Binnenmarktes“ lehnte der BDI ab, um Wettbewerbsverzerrungen vorzubeugen (BDI 2002: 59). Auf die Frage, ob im Falle eines Zielkonflikts der Vertiefung oder der Erweiterung der Vorzug zu geben sei, ging der BDI nach wie vor nicht explizit ein; allerdings deutet die Betonung des „acquis communautaire“ darauf hin, dass zumindest die Sicherung des erreichten Stands der Integration für ihn Priorität genoss. Der DIHK wurde nach der Erweiterung der EU auf 25 Mitgliedsstaaten deutlicher: „Europa sollte sich jetzt auf die Vertiefung der Integration konzentrieren, bevor neue Schritte der Erweiterung getan werden.“ (DIHK 2006: 3). In der Frage einer EU-Mitgliedschaft der Türkei votierte die Industrie hingegen uneinheitlich: Während die Exportindustrie, repräsentiert durch den Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels, einen Beitritt der Türkei „aus wirtschaftlichen und politischen Gründen für wünschenswert“ hielt, änderte der BDI nach einem Wechsel im Amt des Präsidenten seine Haltung. Anders als Michael Rogowski, der mit Nachdruck für Verhandlungen mit dem Ziel eines Beitritts plädiert hatte, sprach sich Jürgen Thumann in Übereinstimmung mit der CDU lediglich für eine „privilegierte Partnerschaft“ mit der Türkei aus.27 In den 1990er Jahren kamen auch die Bemühungen um ein „soziales Europa“ spürbar voran – initiiert vor allem von der Kommission, unterstützt von den Gewerkschaften, anfangs mehr oder weniger widerstrebend akzeptiert von den Unternehmerverbänden (Falkner 1998). Hatten Letztere vor „Maastricht“ Versuche, etwa die Europäische Sozialcharta oder den Sozialen Dialog auf europäischer Ebene mit Leben zu erfüllen, weitgehend ignoriert und mitunter sogar blockiert, so gaben sie nach Abschluss des Vertrages ihre desinteressierte Haltung auf – nicht zuletzt, weil sie im Rahmen des „Sozialpartnerverfahrens“ mit den Gewerkschaften eigenständig bestimmte Vereinbarungen aushandeln konnten (Leiber/ Schäfer 2008: 121í123; allgemein Hartenberger 2001). Dieser Kurswechsel bedeutete indes nicht, dass die grundsätzlichen Bedenken gegen eine Europäisierung der Sozialpolitik fallengelassen worden wären: Die sozialpolitischen Systeme und Errungenschaften der einzelnen Mitgliedsländer, erklärten die BDA und der BDI beispielsweise in den bereits zitierten Überlegungen zur Regierungskonferenz von 1996, 28 seien „so eng mit den unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Traditionen verbunden, dass jedes weitere Bestreben in Richtung weiterer Harmonisierung schädlich wäre und die Akzeptanz der europäischen Integration bei der Bevölkerung ernsthaft gefährden würde“. Wenn insbesondere die BDA sich dennoch in die Verhandlungen über die Regelungen etwa zu den Euro26 27 28
BDI/BDA: Positionspapier zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Köln, September 1998. Vgl. „Wirtschaft uneins über Türkei-Beitritt“ und „Thumanns Eröffnung“, beide in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.1.2005. BDI/BDA 1995, vgl. Fn. 27.
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päischen Betriebsräten (Lecher et al. 2001; Traum 2005) einschaltete und am Europäischen Sozialen Dialog beteiligte, so geschah dies in der Absicht, „praxisnahe“ und „passgenaue“ Lösungen unter Beachtung der jeweiligen nationalen und betrieblichen Traditionen zu ermöglichen. Eine erfolgreiche Arbeit der Sozialpartner sollte die EU-Kommission überdies dazu veranlassen, „weniger Regulierungsinitiativen“ zu starten und die „autonome Arbeit der Sozialpartner stärker zu gewichten“.29 Zum Abschluss dieses Überblicks über die integrationspolitischen Positionen der Spitzenverbände ein kurzer Blick in die jüngste Vergangenheit: Eine publikumswirksame Möglichkeit, „europäische“ Überzeugungen zu demonstrieren, bot der Europatag, den die BDA und der BDI gemeinsam im Januar 2007 in Berlin veranstalteten – übrigens in Fortführung einer Tradition, die der BDI 1952 mit dem „Europatag“ in Trier „erfunden“ hatte. BDAPräsident Dieter Hundt unterstrich bei dieser Gelegenheit, dass es an „der Idee der Europäischen Union (…) keinen Zweifel geben“ könne und dürfe: „Die deutsche Wirtschaft steht zur europäischen Einigung“. Gerade sie profitiere von der EU, die zu „Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung“ beitrage – eine Behauptung, die vor dem Hintergrund geringer Wachstums- und hoher Arbeitslosigkeitsraten in der Bundesrepublik allerdings ziemlich floskelhaft anmutet. 30 Sein Kollege Jürgen R. Thumann vom BDI betonte ebenfalls die Bedeutung der EU und nannte fünf vordringliche Aufgaben: erstens die „Rechtsvereinfachung“ und den „Abbau von Bürokratie“; zweitens „Fortschritte beim Europäischen Verfassungsvertrag“ – gemeinsames Ziel von Politik und Wirtschaft in Deutschland müsse es sein, „die Substanz des Verfassungsvertrages zu retten“; drittens „mehr Innovation, Forschung und Bildung“ – „weg von Regionalförderung und Landwirtschaft, hin zu Innovation und Wettbewerbsfähigkeit“; viertens „eine strategisch und global ausgerichtete Energieund Klimapolitik“ und fünftens „einen voll funktionsfähigen europäischen Binnenmarkt“ als Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. „Wir wollen Europa machen“, bekräftigte der BDI-Präsident: „Das liegt uns am Herzen. Und das ist für unsere Zukunft ohne Alternative“. 31 Dieses Bekenntnis zu Europa wiederholten der BDI und die BDA in ihrer Stellungnahme zur „Berliner Erklärung“ der Bundesregierung anlässlich des Treffens der Staatsund Regierungschefs während der deutschen Ratspräsidentschaft im Jahr 2007: Die deutsche Wirtschaft bleibe „ein kräftiger Motor der europäischen Einigung“. Gerade ein stark exportorientiertes Land wie die Bundesrepublik müsse ein hohes Interesse an einem „voll funktionsfähigen Binnenmarkt“, einer „stabilen Währung“ und an „offenen Märkten“ haben. Und fast beschwörend heißt es wieder: „Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung in Deutschland“ seien „ohne eine erfolgreiche europäische Integration undenkbar“. 32 Diese überaus positive Einstellung gegenüber der europäischen Integration, wie sie die beiden Spitzenverbände hier und in früheren Stellungnahmen zum Ausdruck brachten, kontrastiert allerdings auffallend mit den eher indifferenten oder sogar negativen Stimmen, die anlässlich des 50. Jubiläums der Römischen Verträge in einer Umfrage zu Tage gefördert wurden: Danach beurteilten nur 14 Prozent der befragten Unternehmer den Einfluss der europäischen Politik und Gesetzgebung auf die Aktivitäten ihres eigenen Unternehmens als „sehr“ oder „überwiegend positiv“, während immerhin insgesamt 33 Prozent mit „sehr negativ“ 29 30 31 32
BDI/BDA: Europas Stärken ausbauen. BDA-Drucksache IX/025/09: 41. Rede auf dem Europatag der Deutschen Wirtschaft, http://www.bda-online.de. „Europa machen“. Rede von Jürgen R. Thumann auf dem Europatag von BDA und BDI, www.bdi.eu. BDA/BDI: Presse-Information Nr. 31/2007.
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oder „überwiegend negativ“ antworteten. Ähnlich fielen die Antworten auf die Frage aus, ob das eigene Unternehmen vom europäischen Binnenmarkt profitiert habe: 34 Prozent entschieden sich für „sehr stark“ oder „stark“, 40 Prozent für „wenig“, immerhin 23 Prozent für „gar nicht“ und 1 Prozent registrierte sogar „eher Nachteile“. 33 Dagegen fielen die Antworten auf eine Umfrage der Börsen-Zeitung zur Europapolitik unter den DAX-30Unternehmen eindeutig positiv aus: Fast unisono wurde die EU als „zuweilen verkannte beispiellose Erfolgsstory“ gewürdigt. 34 Anscheinend glauben sich Großunternehmen auf der EU-Ebene nicht nur besser vertreten als kleine und mittlere, um die sich die EU erst seit einigen Jahren intensiver kümmert; 35 ihre positive Einstellung lässt den Schluss zu, dass sie von der Integration offensichtlich stärker profitieren als die kleinen und mittleren Unternehmen. Diese Umfrage bestätigt überdies die eingangs erwähnte These, bei der europäischen Einigung handle es sich um ein „Elitenprojekt“, und unterstreicht den überwiegend politischen Charakter des Einigungsprojekts. Dazu passt auch der Befund einer neuen empirischen Studie zum Selbstbild der deutschen Wirtschaftselite, die unter anderem zu dem Ergebnis kommt, dass sich nur eine „verschwindend geringe Minderheit“ von 5 Prozent der Spitzenmanager politisch engagiere. Gleichzeitig bilden für annähernd 80 Prozent der befragten Manager „internationale Netzwerke einen inzwischen fast selbstverständlichen Faktor im unternehmerischen Alltag“ (Buß 2007: 219, 245). In Unternehmerkreisen existiert also offensichtlich ein eher funktionalistisch motivierter europafreundlicher Grundkonsens, der nicht mit den Erfahrungen im täglichen „operativen Geschäft“ übereinstimmen muss. 4
Zusammenfassung und Perspektiven
Welche Merkmale kennzeichneten die Haltung des BDI, der BDA und des DIHT/DIHK zur europäischen Integration? Zunächst einmal bleibt zu konstatieren, dass sich alle drei Spitzenverbände einer europafreundlichen Rhetorik befleißigten. Insbesondere der BDI und der DIHK beurteilten die europäische Einigung stets prinzipiell positiv. Ernstere Bedenken wurden eher intern artikuliert und richteten sich in erster Linie gegen vermeintliche oder tatsächliche Defizite in der Wettbewerbsordnung und -politik, mangelnde Effizienz, Bürokratismus und Dirigismus. Die drei Spitzenverbände waren nicht allein an einer Integration der Märkte interessiert, sondern sprachen sich wiederholt für eine stärkere politische Integration aus. Einig waren sie sich auch in der Ablehnung substanzieller sozialpolitischer Kompetenzen der Gemeinschaft – zumindest dann, wenn solche Regelungen das in der Bundesrepublik erreichte Niveau zu überbieten drohten. Im Streit zwischen „Supranationalisten“ und „Intergouvernementalisten“ verhielten sich die Verbände eher abwartend, supranationale Strukturen und Verfahren wurden aber keineswegs grundsätzlich abgelehnt – im Gegenteil: Sofern diese ihren wirtschafts- und ordnungspolitischen Vorstellungen entgegenkamen oder handels- und währungspolitische Vorteile versprachen, zeigten die Ver33 34 35
Business-Monitor, März 2007. URL: http://www.handelsblatt.com/pshb?fn=relhbi&sfn=buildhbi&strucid= page_200013&pageid=page_300025&bmc=cn_hnavi&bmc=cn_includeticker&statisch=http://ticker.vhb.de/ psticker/fn/tick/sfn/main_bild/design/1/pageid/61752/index.html. „Schwerpunkt: 50 Jahre Römische Verträge“, in: Börsen-Zeitung vom 17.3.2007; das Zitat stammt von Georg Funke von der Hypo Real Estate Group. Vgl. „Der Mittelstand sitzt in Europa am Katzentisch“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.11.2004 sowie Müller 2002.
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bände eine erstaunlich supranationale Einstellung. „Vertiefung“ und „Erweiterung“ stellten aus der Sicht etwa des BDI keine Gegensätze dar; dessen ungeachtet tendierte der Verband im Zweifelsfall eher zur „Vertiefung“ – allerdings mitunter weniger im Sinne einer Stärkung der supranationalen Elemente und Prozeduren der Gemeinschaft, sondern vielmehr im Sinne der Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsländern. Eine aktive Rolle der Kommission lag durchaus im Interesse der Dachverbände, solange sie der Verwirklichung von Wettbewerb und Effizienz diente. Die Inthronisation des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs wurde begrüßt, doch wünschte man keine Ausdehnung seiner Befugnisse zu Lasten des Ministerrats und der Kommission, die dem Lobbying der Unternehmerverbände leichter zugänglich schienen. Den Gerichtshof und später die Europäische Zentralbank schätzten die Spitzenverbände als unabhängige Instanzen. Entscheidende Bedeutung kam aus ihrer Sicht nicht zuletzt dem persönlichen Faktor zu, d. h. der „richtigen“ Besetzung der einflussreichen Posten in den Organen der Gemeinschaft. Dieses Kalkül ging allerdings nicht auf – Institutionen erwiesen sich als wirkungsvoller als Personen. Alles in allem fanden der BDI und der DIHT – die BDA hielt sich in europapolitischen Angelegenheiten anfangs noch zurück – bereits in den späten 1950er Jahren zu einer pragmatisch pro-europäischen Haltung. Für die amtliche Europapolitik der Bundesrepublik und die maßgeblichen politischen Akteure in Bonn war diese integrationsfreundliche Grundeinstellung jedenfalls von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Den aktuellen Zustand der Europäischen Union umschreibt der BDI mit dem Begriff „politische Großbaustelle“. Die daraus abgeleitete Agenda lässt sich knapp so zusammenfassen:
den EU-Reformvertrag zügig ratifizieren, die EU „mit Augenmaß“ erweitern, den Europäischen Binnenmarkt voranbringen, die Lissabon-Strategie zügig umsetzen, die Industriepolitik der EU richtig ausrichten und die EU-Finanzierung modernisieren.
Damit demonstriert der BDI gemeinsam mit der BDA – in Brüssel firmieren sie neuerdings als „BDI/BDA The German Business Representation“ – seine Entschlossenheit, den Einigungsprozess aktiv und beschleunigend zu unterstützen. Die EU war und ist wichtig für die Exportnation Deutschland: Der BDI wird nicht müde, auf die enorme Bedeutung des großen Binnenmarkts und die enge wirtschaftliche Verflechtung Deutschlands mit den EUPartnern hinzuweisen. Die essentials, auf die es ihm dabei ankommt, sind allerdings die altbekannten: höhere Effizienz und Transparenz, eine Industriepolitik, die auf die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet ist und nicht durch einen aus Sicht des Verbands unverhältnismäßigen Umwelt- oder Verbraucherschutz belastet wird, und eine Reduzierung der Ausgaben für Agrarpolitik. Für die Türkei fordert der BDI „weiterhin eine klare europäische Perspektive“ – eine Formel, die eine Vollmitgliedschaft zumindest nicht ausschließt (BDI 2008). Ganz oben auf der Agenda steht die Europapolitik jedoch gegenwärtig nicht. Unter den im Juni 2008 verabschiedeten zehn Strategien des BDI für das kommende Jahrzehnt rangiert „Europa“ erst auf dem neunten Platz (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.6.2008) und auch im aktuellen Jahresbericht steht das „Kompetenzfeld Europa und Brüssel“ erst an vorletzter Stelle. Ob dies Anzeichen für ein schwindendes europapoliti-
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sches Interesse und Engagement sind, bleibt abzuwarten. Auf die Kritik des Leiters der EUBeratergruppe zum Bürokratieabbau, Edmund Stoiber, die deutschen Wirtschaftsverbände nähmen die EU auf die leichte Schulter,36 reagierten diese jedenfalls mit Unverständnis und Empörung. Literatur Grundlegende Literatur Eising, Rainer/Kohler-Koch, Beate (Hrsg.) (2005): Interessenpolitik in Europa. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. Haas, Ernst B. (2004): The Uniting of Europe. Political, Social, and Economic Forces, 1950í1957. Notre Dame, Ind.: University of Notre Dame Press (Nachdruck; Originalausgabe: Stanford, CA: Stanford University Press 1958). Platzer, Hans-Wolfgang (1984): Unternehmensverbände in der EG – ihre nationale und transnationale Organisation und Politik. Kehl am Rhein/Straßburg: Engel. Rhenisch, Thomas (1999): Europäische Integration und industrielles Interesse. Die deutsche Industrie und die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Stuttgart: Steiner.
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36
„Stoiber kritisiert Wirtschaftsverbände“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.8.2009.
V.3 Die Europapolitik der deutschen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände
479
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V.3 Die Europapolitik der deutschen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände
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Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
Samuel Greef
1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7
Basisdaten zu Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Deutschland Ökonomische Basisdaten: Bruttoinlandsprodukt Entwicklung von BIP-Wachstum, Verbraucherpreisen und Arbeitslosigkeit Erwerbspersonen und Erwerbsquote in Deutschland Erwerbstätige nach Stellung im Beruf Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen (Grafik) Arbeitnehmer in Teilzeitbeschäftigung
485 486 487 488 489 490 491
2 2.1 2.2 2.3
Unternehmensdemografie in Deutschland Betriebe in Deutschland Unternehmen, Beschäftigte, Umsatz Kleine und mittlere Unternehmen im Vergleich zu Großunternehmen
492 493 493
3 Historische Entwicklung Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in Deutschland 4 Interessenvertretung in der Arbeitswelt 4.1 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände 4.1.1 Typologie der Unternehmerverbände 4.2 Arbeitnehmerverbände und Gewerkschaften 4.2.1 Gewerkschaftstypologie 4.2.2 Mitgliederentwicklung der DGB-Gewerkschaften 5 Spitzen- und Dachverbände der Arbeitgeber(verbände) 5.1 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) 5.1.1 Präsidenten der BDA 5.1.2 Hauptgeschäftsführer der BDA 5.1.3 Organisationsstruktur der BDA 5.1.4 Regionalstruktur der BDA 5.2 Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) 5.2.1 Präsidenten des BDI 5.2.2 Hauptgeschäftsführer des BDI 5.2.3 Organisationsstruktur des BDI 5.3 Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK) 5.3.1 Organisationsstruktur des DIHK
494
502 504 505
506 507 508 509 510 511 512 513
484
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
6 Daten zu den wichtigsten Arbeitgeberverbänden 6.1 Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitgeberverbände 6.1.1 Mitgliedsfirmen in Verbänden von Gesamtmetall 6.1.2 Beschäftigte bei Mitgliedsfirmen in Verbänden von Gesamtmetall 6.2 Bundesarbeitgeberverband Chemie 6.3 Hauptverband der Deutschen Bauindustrie 6.4 Unternehmerverband Deutsches Handwerk 6.5 Arbeitgeberverband des privaten Bankgewerbes 6.6 Arbeitgeberverband der Versicherungsunternehmen in Deutschland 6.7 Tarifgemeinschaft deutscher Länder 6.8 Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände
514 515 516 516 516 516 517 517 517
7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7
518 518 519 519 520 521 522
Tarifverhandlungen und -verträge Tarifbindung – Beschäftigte Flächentarifbindung – Beschäftigte Verbands- und Firmentarifverträge Zahl der Unternehmen mit Firmentarifverträgen Allgemeinverbindliche Tarifverträge Entwicklung tariflicher Regelungen Streiks und Aussperrungen
8 Arbeitgeberverbände in internationaler Perspektive 8.1 Nationale Spitzenverbände der Arbeitgeber in Europa 8.2 Nationale Spitzenverbände der Arbeitgeber in Europa – Mitgliedszahlen
523 524
9
525
Adressen von Arbeitgeberverbänden und Dachverbänden
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten 1
485
Basisdaten zu Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Deutschland
1.1 Ökonomische Basisdaten:* Bruttoinlandsprodukt BIP nominal2 Jahr1
Mio. €
Veränderung zum Vj. in %
BIP real3 Mio. €
Veränderung zum Vj. in %
1970 1975 1980 1985 1990 1991a
360.600 551.010 788.520 984.410 1.306.680 1.415.800
+4,8 +6,9 +4,5 +8,8 +8,4
58,60 67,22 75,98 80,88 95,14 100,00
+4,9 +0,5 +0,0 +5,3 +5,1
1991b 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
1.534.600 1.646.620 1.694.370 1.780.780 1.848.450 1.876.180 1.915.580 1.965.380 2.012.000 2.062.500 2.113.160 2.143.180 2.163.800 2.210.900 2.242.200 2.325.100 2.428.200 2.495.800 2.409.800
+7,3 +2,9 +5,1 +3,8 +1,5 +2,1 +2,6 +2,4 +2,5 +2,5 +1,4 +1,0 +2,2 +1,4 +3,7 +4,4 +2,8 í3,5
85,36 87,26 86,56 88,86 90,54 91,44 93,09 94,98 96,89 100,00 101,24 101,24 101,02 102,24 103,01 106,27 108,89 110,26 105,46
+2,2 í0,8 +2,7 +1,9 +1,0 +1,8 +2,0 +2,0 +3,2 +1,2 +0,0 í0,2 +1,2 +0,8 +3,2 +2,5 +1,3 í4,8
Anmerkungen: * Rechenstand der Ergebnisse: 1970í1991a: November 2008; 1991bí2008: Dezember 2009. 1 Bis 1991a früheres Bundesgebiet; ab 1991b Deutschland. 2 In jeweiligen Preisen. 3 Revidiert, bis 1991a: Kettenindex 1991a = 100; ab 1991b: Kettenindex 2000 = 100. Quellen: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2008): Statistisches Taschenbuch 2008. Bonn: BMAS, Tabelle 1.2: Bruttoinlandsprodukt. DIW (Hrsg.) (2010): Wochenbericht Nr. 1í2/2010, Die wichtigsten Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für Deutschland, S. 25. Statistisches Bundesamt Deutschland: GENESIS-Online, Tabelle VGR des Bundes – Bruttowertschöpfung, Bruttoinlandsprodukt, https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/online?sequenz=tabelleAufbau&selectionname= 81000-0001 (abgerufen am 1.12.2009).
486
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
1.2 Entwicklung von BIP-Wachstum, Verbraucherpreisen und Arbeitslosigkeit*
Anmerkungen: * Bis 1990 früheres Bundesgebiet; ab 1991 Deutschland. BIP-Wachstum = Veränderung des nominalen BIP (jeweilige Preise) im Vergleich zum Vorjahr. Arbeitslosenquote = Arbeitslose in % der abhängigen Erwerbspersonen (ohne Soldaten). Verbraucherpreise = Veränderung des Verbraucherpreisindexes zum Vorjahr. Quellen: Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.) (2009): Monatsbericht Dezember 2009, Tabelle 5.1: Bestand an Arbeitslosen und Arbeitslosenquoten, http://www.pub.arbeitsagentur.de/hst/services/statistik/000100/html/monat/200912.pdf (abgerufen am 8.1.2010). Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2008): Statistisches Taschenbuch 2008. Bonn: BMAS, Tabelle 1.2: Bruttoinlandsprodukt, Tabelle 2.10: Arbeitslose, Kurzzeitarbeiter, Tabelle 6.1: Verbraucherpreisindex. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.) (2002): Statistisches Taschenbuch 2002. Bonn: BMAS, Tabelle 9.16: Preisindex für Lebenshaltung. DIW (Hrsg.) (2010): Wochenbericht Nr. 1í2/2010, Robuster Konjunkturverlauf kein Anlass zur Euphorie, S. 11. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Lange Reihen, Arbeitsmarkt, Tabelle 089: Erwerbstätige und Erwerbslose, http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/download/zeitreihen/ ZR089.xls (abgerufen am 20.5.2009). Eigene Darstellung.
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
487
1.3 Erwerbspersonen und Erwerbsquote in Deutschland Erwerbspersonen2 Jahr1
Insgesamt
Veränderung zum Vj.
in 1.000
Davon erwerbslos
Erwerbsquote3 (15-65 Jahre)
in %
1970 1975 1980 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991a
26.798 26.947 27.978 29.683 30.044 30.391 30.795 31.170 31.829 32.279
í1,5 +1,6 +1,5 +1,2 +1,2 +1,3 +1,2 +2,1 +1,4
0,4 2,3 1,7 6,7 6,0 5,8 5,7 5,1 4,5 3,9
66,2 66,6 67,1 67,2 67,7 68,2 68,8 69,0 70,8 70,5
1991b 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
40.823 40.600 40.598 40.811 40.774 40.939 41.198 41.566 41.742 42.175 42.402 42.517 42.551 42.956 43.314 43.246 43.258 43.361 43.458
í0,5 +0,0 +0,5 í0,1 +0,4 +0,6 +0,9 +0,4 +1,0 +0,5 +0,3 +0,1 +1,0 +0,9 í0,1 +0,1 +0,2 +0,2
5,3 6,2 7,5 8,1 7,9 8,6 9,2 9,0 8,2 7,4 7,5 8,3 9,2 9,7 10,6 9,8 8,3 7,2 7,6
72,6 72,4 71,9 72,1 71,9 71,4 71,7 71,7 72,2 72,1 72,6 72,8 73,3 73,3 73,7 74,8 75,5 – –
Anmerkungen: 1 Bis 1991a früheres Bundesgebiet; ab 1991b Deutschland. 2 Erwerbstätige (Inländerkonzept) und Erwerbslose. 3 Erwerbsquote: Anteil der Erwerbstätigen unter den 15- bis 65-Jährigen. Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Lange Reihen, Arbeitsmarkt, Tabelle 089: Erwerbstätige und Erwerbslose, http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/download/zeitreihen/ZR089.xls (abgerufen am 4.12.2009). Statistisches Bundesamt (2009): Jahr 2009: Weniger Erwerbstätige, mehr Erwerbslose als im Vorjahr, Pressemitteilung Nr.001 vom 4.1.2010, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm /2010/01/PD10__001__13321 (abgerufen am 4.1.2010).
488
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
1.4 Erwerbstätige nach Stellung im Beruf Jahr1
Erwerbstätige Inländer (in 1.000) Insgesamt
Selbständige2
Arbeitnehmer
1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1991a
19.997 22.830 26.247 26.887 26.724 26.307 27.452 27.632 30.276 30.870
6.323 5.990 5.990 5.129 4.425 3.665 3.213 3.118 3.160 3.203
13.674 16.840 20.257 21.758 22.299 22.642 24.239 24.514 27.116 27.667
1991b 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
38.664 38.066 37.541 37.488 37.546 37.434 37.390 37.834 38.339 39.038 39.209 38.994 38.633 38.796 38.741 38.996 39.656 40.220 40.148
3.520 3.577 3.625 3.725 3.749 3.742 3.816 3.865 3.857 3.915 3.983 4.003 4.073 4.222 4.355 4.391 4.436 4.434 4.411
35.144 34.489 33.916 33.763 33.797 33.692 33.574 33.969 34.482 35.123 35.226 34.991 34.560 34.574 34.386 34.605 35.220 35.786 35.737
Anmerkungen: 1 Bis 1991a früheres Bundesgebiet; ab 1991b Deutschland. 2 Einschließlich mithelfender Familienangehöriger. Quellen: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2008): Statistisches Taschenbuch 2008. Bonn: BMAS, Tabelle 2.5: Erwerbstätige nach Stellung im Beruf. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Lange Reihen, Arbeitsmarkt, Tabelle 089: Erwerbstätige und Erwerbslose, http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/download/zeitreihen/ ZR089.xls (abgerufen am 4.12.2009). Statistisches Bundesamt (2009): Jahr 2009: Weniger Erwerbstätige, mehr Erwerbslose als im Vorjahr, Pressemitteilung Nr.001 vom 4.1.2010, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/ 2010/01/PD10__001__13321 (abgerufen am 4.1.2010).
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
489
1.5 Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen*
Jahr1
Primärer Sektor (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei)
Sekundärer Sektor (Produzierendes Gewerbe)
Tertiärer Sektor (Dienstleistungen)
in % 1970 1975 1980 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991a
8,4 6,6 5,1 4,4 4,3 4,1 3,9 3,7 3,5 3,3
46,5 42,4 41,1 38,1 37,8 37,3 36,9 36,7 36,6 36,1
45,1 51,0 53,8 57,5 57,9 58,6 59,2 59,6 59,9 60,6
1991b 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
3,9 3,4 3,2 3,0 2,9 2,6 2,5 2,5 2,5 2,4 2,4 2,3 2,3 2,2 2,2 2,1 2,1 2,1 2,1
36,6 35,2 34,0 33,1 32,6 31,7 31,0 30,4 29,5 28,9 28,3 27,6 27,0 26,4 25,9 25,6 25,5 25,4 24,9
59,5 61,4 62,8 63,9 64,6 65,7 66,5 67,1 68,0 68,7 69,3 70,1 70,7 71,3 71,9 72,3 72,4 72,5 73,0
Anmerkungen: * Arbeitnehmer, Selbstständige und mithelfende Familienangehörige. 1 Bis 1991a früheres Bundesgebiet; ab 1991b Deutschland. Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Lange Reihen, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Tabelle 023: Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen, http://www.sachverstaendigenratwirtschaft.de/download/zeitreihen/ZR023.xls (abgerufen am 4.12.2009). Statistisches Bundesamt (2009): Jahr 2009: Weniger Erwerbstätige, mehr Erwerbslose als im Vorjahr, Pressemitteilung Nr.001 vom 4.1.2010, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/ 2010/01/PD10__001__13321 (abgerufen am 4.1.2010).
490
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
1.6 Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen* 80,0 Dienstleistungsbereich 70,0 60,0
in Prozent
50,0 40,0 30,0
Produzierendes Gewerbe
20,0 10,0
Land- und Forstwirtschaft,Fischerei
1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991a 1991b 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
0,0
Anmerkungen: * Arbeitnehmer, Selbstständige und mithelfende Familienangehörige. Bis 1991a früheres Bundesgebiet; ab 1991b Deutschland. Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Lange Reihen, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Tabelle 023: Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen, http://www.sachverstaendigenratwirtschaft.de/download/zeitreihen/ZR023.xls (abgerufen am 4.12.2009). Statistisches Bundesamt (2009): Jahr 2009: Weniger Erwerbstätige, mehr Erwerbslose als im Vorjahr, Pressemitteilung Nr. 001 vom 4.1.2010, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/ 2010/ 01/PD10__001__13321 (abgerufen am 4.1.2010). Eigene Darstellung.
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
491
1.7 Arbeitnehmer in Teilzeitbeschäftigung*
Anmerkungen: * Teilzeitquote in Prozent aller weiblichen/männlichen Arbeitnehmer. Bis 1990 früheres Bundesgebiet; ab 1991 Deutschland. Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2009): Statistisches Taschenbuch 2009. Bonn: BMAS, Tabelle 2.5 A: Arbeitnehmer in Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung. Eigene Darstellung.
492 2
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten Unternehmensdemografie in Deutschland
2.1 Betriebe in Deutschland (nach Beschäftigtengrößenklassen) 2006 Branche Handel, Instandhaltung und Reparatur Kfz Freiberufliche wiss. und techn. Dienstleistungen Baugewerbe Grundstücks- und Wohnungswesen Gastgewerbe Verarbeitendes Gewerbe Erbringung von sonstigen Dienstleistungen Gesundheits- und Sozialwesen Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen Verkehr und Lagerei Information und Kommunikation Kunst, Unterhaltung und Erholung Erziehung und Unterricht Erbringung von Finanz- und Versicherungsleistungen Energieversorgung Wasserver- und -entsorgung, Beseitigung von Umweltversch. Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden Insges. 3.751.481 Betriebe:
Betriebe je Beschäftigtengrößenklasse1 und Branche 0 bis 9 10 bis 49 50 bis 249 ab 250 Gesamt 734.678 69.052 11.779 1.059 21,7 % (89,97 %) (8,46 %) (1,44 %) (0,13 %) 443.750 22.660 2.988 408 12,5 % (94,45 %) (4,82 %) (0,64 %) (0,09 %) 349.222 32.504 2.991 170 10,3 % (90,73 %) (8,45 %) (0,78 %) (0,04 %) 295.349 3.083 509 44 8,0 % (98,78 %) (1,03 %) (0,17 %) (0,01 %) 264.060 14.015 1.665 108 7,5 % (94,36 %) (5,01 %) (0,59 %) (0,04 %) 209.937 48.072 16.957 4.249 7,4 % (75,19 %) (17,22 %) (6,07 %) (1,52 %) 234.694 10.092 1.881 254 6,6 % (95,05 %) (4,09 %) (0,76 %) (0,10 %) 202.756 24.371 8.544 1.788 6,3 % (85,39 %) (10,26 %) (3,60 %) (0,75 %) 148.183 13.735 6.343 820 4,5 % (87,64 %) (8,12 %) (3,75 %) (0,48 %) 117.851 18.409 3.958 594 3,8 % (83,69 %) (13,07 %) (2,81 %) (0,42 %) 120.085 9.024 2.375 433 3,5 % (91,03 %) (6,84 %) (1,80 %) (0,33 %) 97.069 2.529 544 102 2,7 % (96,83 %) (2,52 %) (0,54 %) (0,10 %) 66.223 14.264 2.521 418 2,2 % (79,38 %) (17,10 %) (3,02 %) (0,50 %) 67.366 6.481 2.517 742 2,1 % (87,37 %) (8,41 %) (3,26 %) (0,96 %) 15.275 1.042 616 201 0,5 % (89,15 %) (6,08 %) (3,60 %) (1,17 %) 10.952 3.052 921 98 0,4 % (72,90 %) (20,32 %) (6,13 %) (0,65 %) 2.223 669 116 41 0,1 % (72,91 %) (21,94 %) (3,80 %) (1,34 %) 90,1 % 7,8 % 1,8 % 0,3 % 100 %
Anmerkungen: 1 Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter. Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland: GENESIS-Online, Betriebe (Unternehmensregister-System 95), Tabelle: 52111-0002, https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/online?sequenz=tabelleAufbau&selectionname=521110002 (abgerufen am 5.1.2010). Eigene Darstellung; eigene Berechnungen.
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
493
2.2 Unternehmen, Beschäftigte, Umsatz Unternehmensklasse1
Unternehmen
Beschäftigte
Umsatz (Mill. €)
Anzahl
Anteil
Anzahl
Anteil
Höhe
Anteil
Kleinstunternehmen Kleine Unternehmen Mittlere Unternehmen Großunternehmen
1.357.922 257.998 46.629 11.508
81,1 % 15,4 % 2,8 % 0,7 %
3.818.295 4.451.397 3.828.937 8.621.750
18,4 % 21,5 % 18,5 % 41,6 %
282.483 478.218 614.840 2.595.555
7,1 % 12,0 % 15,5 % 65,4 %
Gesamt:
1.674.0572
20.720.379
3.971.096
Anmerkungen: 1 Kleinstunternehmen: bis 9 Beschäftigte und bis 2 Mill. Euro. Kleine Unternehmen: bis 49 Beschäftigte und bis 10 Mill. Euro. Mittlere Unternehmen: bis 249 Beschäftigte und bis 50 Mill. Euro. Großunternehmen: über 250 Beschäftigte oder über 50 Mill. Euro. (Definitionen angelehnt an Empfehlungen der EU-Kommission vom 6. Mai 2003.) 2 Die Abweichung zur Anzahl der Betriebe in Tabelle 2.1 ergibt sich aus unterschiedlichen Datengrundlagen (insb. bei den Kleinstunternehmen). Tabelle 2.2 weist Stichpunktdaten aus und zählt alle Beschäftigten, Tabelle 2.1 weist Berichtsjahresdaten aus und zählt ausschließlich sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (sie enthält auch im Laufe des Jahres aufgelöste Unternehmen, Dubletten bei Namens- oder Adressänderungen und aus anderen Gründen eigentlich nicht in die Statistik einzubeziehende Unternehmen). Quelle: Kless, Sascha/Veldhues, Bernhard (2008): Ausgewählte Ergebnisse für kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland 2005. In: Wirtschaft und Statistik, 3/2008, S. 225í241, hier S. 231.
2.3 Kleine und mittlere Unternehmen im Vergleich zu Großunternehmen
Quelle: Kless, Sascha/Veldhues, Bernhard (2008): Ausgewählte Ergebnisse für kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland 2005. In: Wirtschaft und Statistik, 3/2008, S. 225í241, hier S. 234.
494 3
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten Historische Entwicklung
Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in Deutschland Jahr
Arbeitgeberverbände
Gewerkschaften
1848
Gründung der Allgemeinen deutschen Arbeiterverbrüderung
1854
Bundestagsbeschluss: Verbot aller Vereine, die kommunistische, sozialistische oder politische Ziele verfolgen
1861
Gründung des Deutschen Industrieund Handelstages (DIHT) als Dachverband aller Industrie- und Handelskammern
1860í70: Gründungsjahre vieler Arbeiterbildungsvereine, lokaler Berufsorganisationen und gewerkschaftlicher Zentralverbände
Aufhebung des Koalitionsverbots zwecks Verabredung/Vereinbarung günstigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen (Sachsen) 1863
Konstituierung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV)
1868
Gründung des Verbandes Deutscher Arbeiterschaften
1869
Gründung des ersten Arbeitgeberverbandes: Deutscher Buchdruckerverein Gewerbeordnung: Aufhebung des Koalitionsverbotes für Teile der gewerblichen Arbeitnehmerschaft, Anerkennung von Streik und Aussperrung, Verbot politischer Betätigung von Gewerkschaften
1876
Gründung des ersten großen industriellen Spitzenverbandes als Kampfverband gegen die Freihandelspolitik: Centralverband Deutscher Industrieller (CVDI)
1878
Gründung des Vereins der Anhaltischen Arbeitgeberverbände (erstmals Benutzung des Wortes „Arbeitgeber“ im Verbandsnamen) Sozialistengesetz: Auflösung von 17 Zentralverbänden und 120 lokalen Berufsorganisationen (bis 1890)
1889
Gründung der ersten Frauengewerkschaft Kaufmännischer und gewerblicher Hilfsverein weiblicher Angestellter
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
495
Jahr
Arbeitgeberverbände
Gewerkschaften
1890
Gründung des Gesamtverbandes Deutscher Metallindustrieller als Branchendachverband
Gründung der Generalkommission der Freien Gewerkschaften Deutschlands als Dachorganisation der sozialistisch orientierten Gewerkschaften
1891
Gründung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes Gewerbeordnung: Einführung von Arbeiterausschüssen
1894
Gründung der ersten christlichen Gewerkschaft
1895
Gründung des Bundes der Industriellen (BDI) als Konkurrent zum CVDI
1896
Gründung des Verbandes von Arbeitgebern der sächsischen Textilindustrie
1899 1904
Gründung des Gesamtverbandes Christlicher Gewerkschaften Gründung der Zentralstelle der Arbeitgeberverbände aus Anlass des Ausstandes der Textilarbeiter in Crimmitschau Gründung der dem CVDI nahestehenden Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände Gründung des dem BDI nahestehenden Vereins deutscher Arbeitgeberverbände (VDA)
1913
Bildung der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände als dachverbandlicher Zusammenschluss von CVDI und BDI
1916
Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst: erstmalige ausdrückliche staatliche Anerkennung der Wirtschaftsvereinigungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, obligatorische Arbeiter- und Angestelltenausschüsse in Betrieben ab 50 Beschäftigten
496 Jahr
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten Arbeitgeberverbände
1918
Gewerkschaften Gründung des Deutschen Beamtenbundes (DBB)
Arbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands (Zentralarbeitsgemeinschaft): tripartistische Verhandlungsstruktur (1924 aufgelöst) Verordnung über Tarifvertrag, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten: Tarifnormen gelten zwingend für Arbeitsverhältnisse der beteiligten Gewerkschaften und Arbeitgeber, Einführung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen 1919
Fusion von CVDI und BDI zum Reichsverband der deutschen Industrie (RDI)
Gründung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) Gründung des Gesamtverbandes Deutscher Angestellten-Gewerkschaften (GEDAG)
Weimarer Verfassung: Koalitionsfreiheit und Mitbestimmungsrecht 1920
Umbenennung des GEDAG in Allgemeiner freier Angestelltenbund (Afa-Bund) Betriebsrätegesetz
1923
Aufhebung der Arbeitszeitverordnung, Einschränkung der Streikfreiheit und Tarifautonomie
1933
Erzwungene Selbstauflösung der Arbeitgeberverbände
Zwangsauflösung der Gewerkschaften
Bildung der Deutschen Arbeitsfront (DAF) als Zwangsvereinigung von Arbeitern, Angestellten und Unternehmern 1934
Gesetz zur Vorbereitung des organischen Aufbaus der deutschen Wirtschaft: Zwangsmitgliedschaft und Gleichschaltung aller Wirtschaftsverbände Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG): Aufhebung von Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Streikrecht, Betriebsräten
1936
Errichtung der Reichswirtschaftskammer, Eingliederung des DIHT als Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern
1945
Auflösung der Deutschen Arbeitsfront durch Kontrollratsgesetz, Zulassung von Zusammenschlüssen durch Kontrollratsdirektive
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten Jahr
Arbeitgeberverbände
1946
497 Gewerkschaften Gründung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) in der sowjetischen Besatzungszone
1947
Gründung der Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeber der Westzone
1948
Aus der Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeber der Westzone entsteht das Zentralsekretariat der Arbeitgeber des Vereinigten Wirtschaftsgebietes für die amerikanische und britische Besatzungszone.
1949
Gründung der Sozialpolitischen Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeberverbände des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, dann Umbenennung in Vereinigung der Arbeitgeberverbände Gründung des Ausschußes für Wirtschaftsfragen der industriellen Verbände
Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB): 16 Einzelgewerkschaften aus den drei Westzonen Gründung der Deutschen AngestelltenGewerkschaft (DAG)
Wiedergründung des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT) Tarifvertragsgesetz (TVG): Wiederherstellung der Tarifautonomie Grundgesetz: Koalitionsfreiheit 1950
Umbenennung des Zentralsekretariats der Arbeitgeber des Vereinigten Wirtschaftsgebietes in Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)
Gründung des Deutschen Beamtenbundes (DBB)
Umbenennung des Ausschußes für Wirtschaftsfragen der industriellen Verbände in Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) 1950
IHKn und Gewerkschaften: Hattenheimer Gespräche zur Montanmitbestimmung
1951
Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie Kündigungsschutzgesetz
498
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
Jahr
Arbeitgeberverbände
1952
Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)
1953
BDA-Grundsatzprogramm: Gedanken zur sozialen Ordnung
Gewerkschaften
Gesetz über die Errichtung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Arbeitsgerichts- und Sozialgerichtsgesetz Errichtung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte 1954
Schlichtungsabkommen: Unterzeichnung durch BDA und DGB auf dem Margarethenhof
1957
Gesetze zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten
1959
Gründung des Christlichen Gewerkschaftsbundes Deutschlands (CGB)
1967
Konzertierte Aktion zwischen Vertretern des Staates, der Tarifparteien und der Wissenschaft, um ihr Handeln in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik untereinander abzustimmen (bis 1977)
1968
BDA-Grundsatzprogramm: Freiheitliche soziale Ordnung heute und morgen
1969
Arbeitsförderungsgesetz
1970
Lohnfortzahlungsgesetz
1972
Reform des Betriebsverfassungsgesetzes
1974
BDA-Grundsatzfragen: Fortschritt aus Ideen und Leistung
1976
Gesetz über die paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Betrieben mit mehr als 2.000 Beschäftigten (mit Verfassungsbeschwerde durch die Arbeitgeber angefochten; in der Folge Aufkündigung der Konzertierten Aktion durch den DGB)
1977
Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer durch die RAF
1978
Warnstreiks, Schwerpunktstreiks und Abwehraussperrungen in der Metallindustrie sowie in der Druck- und Verlagsindustrie
1982
BDA-Denkschrift: Soziale Sicherheit in der Zukunft
1983
BDA-Denkschrift: Strategien zum Abbau der Arbeitslosigkeit
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
499
Jahr
Arbeitgeberverbände
Gewerkschaften
1984
In der Metall- und in der Druckindustrie führen die längsten und härtesten Arbeitskämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik in der Schlichtung zu einer Flexibilisierung der Arbeitszeitregelungen und einer Regelarbeitszeit von 38,5 Stunden pro Woche. Gemeinsamer Aufruf von BDA und DGB: Arbeitszeit, Mehrarbeit und Beschäftigung
1985
Gemeinsame Erklärung der Bundesregierung und der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft: Alle Beschäftigungsmöglichkeiten nutzen BDA-Memorandum: 20-PunkteProgramm für mehr Beschäftigung Gemeinsame Erklärung von Bundesregierung, DGB und BDA: Offensive zur beruflichen Qualifizierung von Arbeitslosen
1986
BDA-Leitsätze zur Sozial- und Gesellschaftspolitik
1990
Eintritt der neu gegründeten Arbeitgeberverbände aus den neuen Bundesländern in die BDA
Selbstauflösung des FDGB (DDR)
Gemeinsame Erklärung von DGB und BDA: Zurückhaltende Lohnpolitik 1994
BDA-Memorandum: Sozialstaat vor dem Umbau. Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit sichern
Vereinbarung von Beschäftigungssicherungstarifverträgen (Verkürzung der Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich, Förderung der Ausbildung)
1996
Fusion der IG Bau-Steine-Erden (IG BSE) und Gewerkschaft GartenbauLandwirtschaft-Forstwirtschaft (GGLF) zur IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU)
1997
Fusion der IG Bergbau-Energie, IG Chemie-Papier-Keramik und Gewerkschaft Leder zur IG Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE)
500
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
Jahr
Arbeitgeberverbände
Gewerkschaften
1998
BDA-Memorandum: Sozialpolitik für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. Ordnungspolitische Grundsätze der BDA
Integration der Gewerkschaft Textil in die IG Metall
Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit: Beschäftigungsorientierte Lohn- und Tarifpolitik (bis 2002) 1999
Gemeinsame Erklärung von BDA und DGB zum Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit
2000
BDA-Bildungsoffensive Initiative Freiheit und Verantwortung – Corporate Citizenship von BDI, BDA, DIHK und ZDH
Integration der Gewerkschaft HolzKunststoff in die IG Metall
Verabredung einer beschäftigungsorientierten Lohn- und Tarifpolitik beim Spitzentreffen des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit 2001
Umbenennung des DIHT in Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK)
Fusion von DAG, DPG, HBV, IG Medien und ÖTV zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di)
Initiative BDA-pro-job.de
Streik und erster eigenständiger Tarifvertrag der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit
Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 2002
BDA-Memoranden: Bremsklötze beseitigen - Beschäftigung schaffen; Neuaufbruch in der Sozialen Sicherung
2003
BDA-Memorandum: Bürokratieabbau jetzt! Vorschläge zur Entbürokratisierung des Arbeits- und Sozialrechts BDA-Konzept zur Modernisierung des Tarifrechts: Für eine neue Balance in der modernen Tarifautonomie
Scheitern des zweiwöchigen Arbeitskampfes der IG Metall zur Durchsetzung der 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland Erste bundesweite DGB-Tarifverträge zur Leih- und Zeitarbeit
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
501
Jahr
Arbeitgeberverbände
Gewerkschaften
2004
BDA-Memorandum: Europa wettbewerbsfähiger machen
Pforzheimer Abkommen: Öffnungsklausel zur Abweichung vom Tarifvertrag in der Metallindustrie zur Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung
Bericht der gemeinsamen Kommission von BDA und BDI: Mitbestimmung modernisieren BDI-Gesamtreformkonzept: Für ein attraktives Deutschland. Freiheit wagen – Fesseln sprengen 2005
Arbeitgeberforum: Wirtschaft und Gesellschaft
2006
Neuer Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) Streik der Ärztegewerkschaft Marburger Bund für einen eigenständigen Tarifvertrag
2007
Gründung des Transatlantic Economic Streik der Gewerkschaft deutscher Council (TEC) auf Initiative von BDI Lokomotivführer (GDL) für einen und Bundesregierung eigenständigen Tarifvertrag BDI G8 Business Summit: Growth and Responsibility
2008
Vorschläge von BDI und BDA: Bürokratie abbauen – Mehr Wertschöpfung und Arbeitsplätze Wittenberg-Prozess: Sozialpartnervereinbarung – IG BCE und BAVC verständigen sich auf einen Ethik-Kodex für die chemische Industrie („Leitlinien für verantwortliches Handeln in der Sozialen Marktwirtschaft“)
Quellen: Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (2009): Daten zur Geschichte der BDA und der deutschen Arbeitgeberverbände, www.bda-online.de (abgerufen am 5.1.2010). Dietrich, Sven (2003): Anhang. In: Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 614í696, hier 623í627. Schroeder, Wolfgang (2009): Stichwort: Unternehmerverbände. In: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (6. Aufl.), S. 710í719. WSI: WSI-Tarifarchiv, Tarifchronik 1945 bis 2008, http://www.boeckler.de/559_21360.html (abgerufen am 5.1.2010). Eigene Zusammenstellung.
502 4
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten Interessenvertretung in der Arbeitswelt
4.1 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände 4.1.1 Typologie der Unternehmerverbände Arbeitgeber organisieren sich in Unternehmerverbänden. In Deutschland hat sich eine dreidimensionale Struktur der Vertretung von Arbeitgeberinteressen herausgebildet. Die Unternehmerverbände lassen sich daher in Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände sowie Industrie- und Handelskammern unterteilen. Arbeitgeberverbände Die Arbeitgeberverbände vertreten die tarif- und sozialpolitischen Interessen ihrer Mitgliedsunternehmen. Sie treten als kollektive Tarifakteure auf und schließen in dieser Funktion Tarifverträge mit den Gewerkschaften ab. Dienstleistungen für ihre Mitglieder erbringen sie in Form von tarif-, personal- und sozialpolitischer Beratung. Sie vertreten die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber dem Staat und anderen Organisationen. Sie sitzen in staatlichen Gremien und beteiligen sich an der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen. Die Spitzenorganisation der Arbeitgeberverbände ist die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Wirtschaftsverbände Die Wirtschaftsverbände vertreten die wirtschaftspolitischen Interessen ihrer Mitgliedsunternehmen. Insbesondere versuchen sie durch Lobbying Einfluss auf das politische System zu nehmen. Neben der Interessenvertretung kommt ihnen aber auch eine koordinierende Aufgabe zu. Sie erarbeiten beispielsweise rechtliche und technische Standards auf Branchenebene. Der Spitzenverband der Wirtschaftsverbände ist der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Industrie- und Handelskammern Die Industrie- und Handelskammern vertreten die wirtschaftlichen Interessen von Gewerbetreibenden gegenüber Kommunen, Landesregierungen und staatlichen regionalen Einrichtungen. Im Gegensatz zu den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden ist die Mitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern nicht freiwillig. Als öffentlich-rechtliche Körperschaften mit verpflichtender Mitgliedschaft übernehmen die IHKn partiell staatliche Aufgaben. Die IHKn sind im Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) zusammengeschlossen. Eine strikte Trennung zwischen reinen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden ist nicht immer gegeben. In einigen Branchen obliegt den Arbeitgeberverbänden auch die wirt-
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
503
schaftpolitische Interessenvertretung. Auf der Landesebene ist die verbandliche Trennung sogar die Ausnahme. In diesen Fällen wird von einem integrierten Verband gesprochen. Literatur Schroeder, Wolfgang (2009): Stichwort: Unternehmerverbände. In: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (6. Aufl.), S. 710í719.
504
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
4.2 Arbeitnehmerverbände und Gewerkschaften 4.2.1 Gewerkschaftstypologie Gewerkschaften lassen sich anhand von zwei Ebenen unterscheiden. Auf der politischweltanschaulichen Ebene entspricht eine Gewerkschaft entweder dem Typ der Einheitsoder der Richtungsgewerkschaft. Bei einer Richtungsgewerkschaft ist die parteipolitische oder weltanschauliche Orientierung eines Arbeitnehmers für die Mitgliedschaft wichtig. In der Einheitsgewerkschaft organisieren sich Arbeitnehmer unabhängig von ihrer Bindung an religiöse oder politische Werte. Auf der arbeitsmarktbezogenen Ebene lassen sich Industrie- bzw. Branchengewerkschaften von Berufs-, Fach- und Betriebsgewerkschaften unterscheiden. Industriegewerkschaften organisieren alle Arbeitnehmer eines Sektors oder einer Branche unabhängig von ihrem Beruf, ihrer Qualifikation oder ihrer Betriebszugehörigkeit. Umfasst eine Gewerkschaft mehrere Sektoren, wird von einer Multibranchengewerkschaft gesprochen. Berufsgewerkschaften vertreten einen einzelnen Berufsstand, Fachgewerkschaften mehrere Berufe eines Fachs (bspw. soziale Berufe). Betriebsgewerkschaften dagegen stehen allen Arbeitnehmern eines Unternehmens offen. In Deutschland hat sich nach dem zweiten Weltkrieg das Prinzip der Industrie- und Einheitsgewerkschaft durchgesetzt. Gewerkschaftstyp
Beispiel Ebene I: politisch - weltanschaulich
Einheitsgewerkschaft
Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Gewerkschaften des Christlichen Gewerkschaftsbundes (CGB)
Richtungsgewerkschaft
Ebene II: arbeitsmarktbezogen Industrie- und Branchengewerkschaft/ Multibranchengewerkschaft Berufsgewerkschaft Fachgewerkschaft Betriebsgewerkschaft
IG Metall, ver.di Marburger Bund, Gewerkschaft deutscher Lokführer (GDL) Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) Japan
Eigene Darstellung.
Literatur Hassel, Anke (2003): Organisation – Struktur und Entwicklung. In: Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 102í121, hier S. 104í108. Müller-Jentsch, Walther (1997): Soziologie der Industriellen Beziehungen. Eine Einführung. Frankfurt a. M./New York: Campus, S. 106.
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
505
Streeck, Wolfgang (1993): Klasse, Beruf, Unternehmen, Distrikt. In: Strümpel, Burkhard/Dierkes, Meinolf (Hrsg.): Innovation und Beharrung in der Arbeitsmarktpolitik. Stuttgart: SchäfferPoeschel, S. 39í68, hier 39í46.
Tausende
4.2.2 Mitgliederentwicklung der DGB-Gewerkschaften 45
12.000
40 10.000
30
8.000
25 6.000 20 15
4.000
Organisationsgrad in %
35
10 2.000 5
Mitglieder
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
1966
1964
1962
1960
1958
1956
1954
1952
0 1950
0
Organisationsgrad
Eigene Darstellung; eigene Berechnung.
Gewerkschaft
2001
2003
2005
2007
2008
IG Metall
2.710.226
2.525.348
2.376.225
2.306.283
2.300.563
ver.di
2.806.496
2.614.094
2.359.392
2.205.145
2.180.229
IG Bergbau, Chemie, Energie
862.364
800.762
748.852
713.253
701.053
IG Bauen – Agrar – Umwelt
509.690
461.162
391.546
351.723
336.322
Gew. Erziehung und Wissenschaft
268.012
260.842
251.586
248.793
251.900
Transnet
306.002
283.332
259.955
239.468
227.690
Gew. Nahrung – Genuss – Gaststätten
250.839
236.507
216.157
207.947
205.795
Gew. der Polizei
185.380
181.100
174.716
168.433
167.923
7.899.009
7.363.147
6.778.429
6.441.045
6.371.475
Gesamt:
Quelle: DGB: Mitgliederzahlen. Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften, http://www.dgb.de/dgb/mitgliederzahlen/ mitglieder.htm (abgerufen am 6.1.2010).
506 5
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten Spitzen- und Dachverbände der Arbeitgeber(verbände)
5.1 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) 5.1.1 Präsidenten der BDA Amtszeit
Name, Vorname
Amtsdauer
28.01.1949 – 22.01.1954
Raymond, Walter
5 Jahre
63 Jahre
24.05.1886 – 15.06.1972
22.01.1954 – 25.06.1964
Paulssen, Hans Constantin
11 Jahre
61 Jahre
05.06.1892 – 18.01.1984
25.06.1964 – 11.12.1969
Balke, Siegfried
5 Jahre
62 Jahre
01.06.1902 – 11.06.1984
11.12.1969 – 06.12.1973
Friedrich, Otto Andreas
4 Jahre
67 Jahre
03.06.1902 – 08.12.1975
06.12.1973 – 18.10.1977
Schleyer, Hanns-Martin
4 Jahre
58 Jahre
01.05.1915 – 18.10.1977
16.03.1978 – 11.12.1986
Esser, Otto
9 Jahre
60 Jahre
01.06.1917 – 28.11.2004
11.12.1986 – 12.12.1996
Murmann, Klaus
10 Jahre
54 Jahre
03.01.1932 –
12.12.1996 –
Hundt, Dieter
2009 für weitere 2 Jahre gewählt
58 Jahre
30.08.1938 –
7 Jahre
60 Jahre
Durchschnitt:
Alter bei Lebensdaten Amtsantritt
Quelle: BDA: Daten zur Geschichte, http://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/id/BDA-Praesidenten (abgerufen am 5.1.2010). Eigene Darstellung.
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
507
5.1.2 Hauptgeschäftsführer der BDA Amtszeit
Name, Vorname
Amtsdauer
25.05.1949 – 31.12.1963
Erdmann, Gerhard
14 Jahre
53 Jahre
31.01.1896 – 16.07.1974
01.10.1963 – 30.09.1974
Eichler, Wolfgang
11 Jahre
54 Jahre
02.11.1908 – 10.05.2005
01.07.1974 – 31.12.1989
Erdmann, Ernst-Gerhard
15 Jahre
48 Jahre
22.08.1925 –
01.10.1989 – 30.09.1996
Himmelreich, Fritz-Heinz
7 Jahre
59 Jahre
27.02.1930 –
01.10.1996 –
Göhner, Reinhard
43 Jahre
16.01.1953 –
Durchschnitt:
12 Jahre
Alter bei Lebensdaten Amtsantritt
51 Jahre
Quellen: BDA: Daten zur Geschichte, http://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/id/BDA-Hauptgeschaeftsfue (abgerufen am 5.1.2010). Göhner, Reinhard (Hrsg.) (1999): 50 Jahre BDA – 50 Jahre Politik für die Wirtschaft. Köln: BDA. Internationales Biographisches Archiv, www.munzinger.de (abgerufen am 5.1.2010). Eigene Darstellung.
508
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
5.1.3 Organisationsstruktur der BDA Die „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ ist ein eingetragener Verein (e. V.) ohne Gewinnerzielungsabsicht und wird über Mitgliedsbeiträge finanziert.
Ausschüsse (10 + 4 mit BDI)
Präsident Vizepräsidenten
– begleiten die politische Arbeit – erarbeiten Stellungnahmen und Eingaben
Juristischer Vorstand
Vorstand (90) – beschließt die Politikrichtlinien – setzt Ausschüsse ein – Jedes Mitglied hat Sitz und Stimme im Vorstand.
Geschäftsführung (3)
Abteilungen (10)
Präsidium (47) – leitet die Tätigkeiten im Rahmen der Vorstandsrichtlinien –- gewählt aus der Mitte des Vorstandes
Mitgliederversammlung – Wahl- und Haushaltsrecht – entlastet die anderen Organe
Mitglieder sind Verbände privater Arbeitgeber (58 Bundesfachverbände und 14 Landesvereinigungen). Die Mitgliedschaft ist freiwillig.
Quelle: BDA: Über uns. Organisation, http://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/id/Organisation (abgerufen am 5.1.2010). Eigene Darstellung.
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
509
5.1.4 Regionalstruktur der BDA
BDA
Bundesfachspitzenverbände (58)
Überfachliche Landesvereinigungen (14)
Landesfachverbände
Regionale Fachverbände
Überfachliche Regionalverbände
Betriebe (1 Mio., die 20 Mio. Arbeitnehmer beschäftigen) Quelle: BDA (Hrsg.) (2009): 60 Jahre BDA. 60 Jahre Stimme der deutschen Wirtschaft. Berlin: BDA, S. 29.
510
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
5.2 Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) 5.2.1 Präsidenten des BDI Amtszeit
Name, Vorname
19.10.1949 – 31.12.1971
Berg, Fritz
23 Jahre
48 Jahre
27.08.1901 – 03.02.1979
01.01.1972 – 31.12.1976
Sohl, Hans-Günther
5 Jahre
66 Jahre
02.05.1906 – 13.11.1989
01.01.1977 – 19.10.1977
Schleyer, Hanns-Martin
1 Jahr
62 Jahre
01.05.1915 – 18.10.1977
06.03.1978 – 18.08.1978
Fasolt, Nikolaus
1 Jahr
56 Jahre
21.07.1921 –
25.09.1978 – 31.12.1984
Rodenstock, Rolf
6 Jahre
61 Jahre
01.07.1917 – 06.02.1997
01.01.1985 – 31.12.1986
Langmann, Hans Joachim
2 Jahre
61 Jahre
05.10.1924 –
01.01.1987 – 31.12.1990
Necker, Tyll
4 Jahre
57 Jahre
02.02.1930 – 29.03.2001
01.01.1991 – 31.08.1992
Weiss, Heinrich
2 Jahre
49 Jahre
05.06.1942 –
28.09.1992 – 31.12.1994
Necker, Tyll
3 Jahre
62 Jahre
s. o.
01.01.1995 – 31.12.2000
Henkel, Hans-Olaf
6 Jahre
55 Jahre
14.03.1940 –
01.01.2001 – 31.12.2004
Rogowski, Michael
4 Jahre
62 Jahre
13.03.1939 –
01.01.2005 – 31.12.2008
Thumann, Jürgen R.
3 Jahre
63 Jahre
17.08.1941 –
01.01.2009 –
Keitel, Hans-Peter
wurde am 24. Nov. 2008 auf 2 Jahre gewählt
62 Jahre
04.08.1947 –
5 Jahre
59 Jahre
Durchschnitt:
Amtsdauer
Alter bei Lebensdaten Amtsantritt
Quelle: BDI (2009): 60 Jahre BDI. Die Präsidenten des BDI, http://www.bdi.eu/2588.htm (abgerufen am 5.1.2010). Internationales Biographisches Archiv, www.munzinger.de (abgerufen am 5.1.2010). Eigene Darstellung.
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
511
5.2.2 Hauptgeschäftsführer des BDI Amtszeit
Name, Vorname
Amtsdauer
19.10.1949 – 16.09.1957
Beutler, Wilhelm
8 Jahre
62 Jahre
05.09.1887 – 11.09.1966
17.09.1957 – 20.05.1963
Stein, Gustav
6 Jahre
54 Jahre
19.04.1903 – 21.10.1979
21.05.1963 – 26.08.1968
Wagner, Hellmuth
5 Jahre
46 Jahre
* 1917
15.11.1969 – 17.06.1974
Neef, Fritz
5 Jahre
56 Jahre
10.01.1913 – 29.08.1979
18.06.1974 – 31.12.1975
Dichgans, Hans
2 Jahre
67 Jahre
16.05.1907 – 21.03.1980
01.01.1976 – 30.06.1977
Neef, Fritz
1 Jahr
63 Jahre
s. o.
01.01.1977 – 31.12.1989
Mann, Siegfried
12 Jahre
50 Jahre
21.09.1926 –
01.01.1990 – 31.12.2006
Wartenberg, Ludolf-Georg von
16 Jahre
48 Jahre
22.09.1941 –
15.11.2007 –
Schnappauf, Werner
54 Jahre
30.08.1953 –
Durchschnitt:
7 Jahre
Alter bei Lebensdaten Amtsantritt
56 Jahre
Quellen: Auskunft des BDI vom 7.1.2010. Internationales Biographisches Archiv, www.munzinger.de (abgerufen am 5.1.2010). Eigene Darstellung.
512
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
5.2.3 Organisationsstruktur des BDI Der „Bundesverband der Deutschen Industrie“ ist ein eingetragener Verein (e. V.) ohne Gewinnerzielungsabsicht und wird über Mitgliedsbeiträge finanziert.
Präsident Vizepräsidenten
Ausschüsse (17 + 4 mit BDA)
Vorstand (32)
Präsidium (26)
– beschließt die Richtlinien für die Arbeit des BDI – setzt Ausschüsse ein – wählt 15 Mitglieder des Präsidiums
– kann weitere Mitglieder kooptieren
– erarbeitet die wirtschaftspolitischen Positionen des BDI
Geschäftsführung (3)
Mitgliederversammlung - besteht aus den Vertretern der Mitglieder - Stimmenzahl der Vertreter richtet sich nach der Beschäftigtenzahl – Wahl- und Haushaltsrecht – entlastet die anderen Organe
Mitglieder sind Wirtschaftsverbände und Arbeitsgemeinschaften der Industrie und industrienaher Dienstleister. Die Mitgliedschaft ist freiwillig.
Quelle: BDI: Der BDI. Organisation und Struktur, http://www.bdi.eu/88.htm (abgerufen am 5.1.2010). Eigene Darstellung.
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
513
5.3 Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK) Mitglieder des „Deutschen Industrie- und Handelskammertages“ sind die öffentlich-rechtlichen Industrie- und Handelskammern. Der DIHK ist keine öffentlich-rechtliche Körperschaft (im Unterschied zu den IHKn), sondern ein eingetragener Verein (e. V.). 5.3.1 Organisationsstruktur des DIHK
Präsident – Repräsentant gegenüber Politik und Öffentlichkeit
Vorstand (27-31)
Geschäftsführung (6)
Fachausschüsse (15)
– berät den Präsidenten – verantwortet die wirtschaftspolitischen Richtlinien des DIHK – bereitet die Beschlüsse der Vollversammlung vor
– gerichtliche und außergerichtliche Vertretung des DIHK
– beraten den DIHK
Vollversammlung – besteht aus den Präsidenten und Hauptgeschäftsführern der Industrie- und Handelskammern – Wahl des Präsidenten und geschäftsführenden Vorstandes – bestätigt den erweiterten Vorstand
Quelle: DIHK: Wir über uns, www.dihk.de (abgerufen am 5.1.2010). Eigene Darstellung.
Mitglieder sind die öffentlichrechtlichen Industrie- und Handelskammern. Die Mitgliedschaft ist freiwillig.
514
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
6
Daten zu den wichtigsten Arbeitgeberverbänden
6.1 Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitgeberverbände e. V. Der Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitgeberverbände (Gesamtmetall) ist der Dachverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie. Er wurde 1890 unter dem Namen Verband Deutscher Metallindustrieller gegründet. Heute besteht er aus 14 Tarifträgerverbänden mit insgesamt 3.897 Mitgliedsfirmen und 1.772.173 Beschäftigten sowie 8 Verbänden ohne Tarifbindung (OT) mit 2.469 Mitgliedsfirmen und 329.298 Beschäftigten (Stand: 31.08.2009). Quelle: Gesamtmetall: Tabelle 1.2: Die Verbände von Gesamtmetall, http://www.gesamtmetall.de/gesamtmetall/meonline.nsf/ id/DE_Zeitreihen (abgerufen am 5.1.2010).
6.1.1 Mitgliedsfirmen in Verbänden von Gesamtmetall* 11.000 10.000 9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000
Tarifträger Alte Bundesländer
OT Alte Bundesländer
Tarifträger Neue Bundesländer
OT Neue Bundesländer
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
1975
1974
1972
1970
0
Anmerkungen: * 2003 und 2004 ohne OT-Mitgliedschaften von HESSENMETALL. Quelle: Gesamtmetall: Tabelle 1.2: Die Verbände von Gesamtmetall, http://www.gesamtmetall.de/gesamtmetall/meonline.nsf/ id/DE_Zeitreihen www.gesamtmetall.de (abgerufen am 5.1.2010). Eigene Darstellung.
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
515
Tausende
6.1.2 Beschäftigte bei Mitgliedsfirmen in Verbänden von Gesamtmetall* 3.400 3.200 3.000 2.800 2.600 2.400 2.200 2.000 1.800 1.600 1.400 1.200 1.000 800 600 400 200
TarifträgerBeschäftigteAlteBundesländer TarifträgerBeschäftigteNeueBundesländer
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
1975
1974
1972
1970
0
OTBeschäftigteAlteBundesländer OTBeschäftigteNeueBundesländer
Anmerkungen: * 2003 und 2004 ohne OT-Mitgliedschaften von HESSENMETALL. Quelle: Gesamtmetall: Tabelle 1.2: Die Verbände von Gesamtmetall, http://www.gesamtmetall.de/gesamtmetall/meonline.nsf/ id/DE_Zeitreihen (abgerufen am 5.1.2010). Eigene Darstellung.
516
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
6.2 Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) Der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) ist der tarif- und sozialpolitische Spitzenverband der deutschen chemischen Industrie. Er wurde 1949 gegründet und hat seinen Sitz in Wiesbaden. Mit 10 regionalen Mitgliedsverbänden vertritt er die Interessen von 1.900 Chemiefirmen und 550.000 Beschäftigten. Quelle: BAVC: Der Verband, http://www.bavc.de/bavc/web/web.nsf/id/pa_verband.html (abgerufen am 5.1.2010).
6.3 Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie vertritt als Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband sowohl die wirtschafts- als auch die sozial- und tarifpolitischen Interessen der deutschen Bauindustrie. Er wurde 1948 gegründet und untergliedert sich in 15 bauindustriellen Landesverbände sowie fünf außerordentliche Mitgliedsverbände. Quelle: Die Deutsche Bauindustrie: Über uns, http://www.bauindustrie.de/index.php?page=4 (abgerufen am 5.1.2010).
6.4 Unternehmerverband Deutsches Handwerk (UDH) Der Unternehmerverband Deutsches Handwerk (UDH) ist nach der Strukturreform der Handwerksorganisationen 2004 aus der Bundesvereinigung der Fachverbände des Deutschen Handwerks (BFH) hervorgegangen. Diese war 1949 als Interessenvertretung der Handwerker in Arbeitgeberfunktion gegründet worden. Der UDH gehören heute 36 Zentralfachverbände des Handwerks an. Quelle: Zentralverband des deutschen Handwerks: Unternehmerverband Deutsches Handwerk, http://www.zdh.de/ handwerksorganisationen/unternehmerverband-deutsches-handwerk-udh/unternehmerverband-deutsches-handwerk. html (abgerufen am 5.1.2010).
6.5 Arbeitgeberverband des privaten Bankgewerbes (AGV Banken) Der Arbeitgeberverband des privaten Bankgewerbes (AGV Banken) vertritt die sozialpolitischen Interessen der in privatrechtlicher Form geführten Banken und Bausparkassen. Er wurde 1954 gegründet und ihm gehören rund 140 Institute mit 160.000 Beschäftigten an. 101 Institute sind tarifgebunden. Quelle: AGV Banken: Der AGV Banken, www.agvbanken.de (abgerufen am 5.1.2010).
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
517
6.6 Arbeitgeberverband der Versicherungsunternehmen in Deutschland Der Arbeitgeberverband der Versicherungsunternehmen in Deutschland vertritt die tarifund sozialpolitischen Interessen von 238 Versicherungsunternehmen mit über 200.000 angestellten Mitarbeitern (Stand Nov. 2009). Er wurde 1950 gegründet und geht auf den Arbeitgeberverband Deutscher Versicherungsunternehmen von 1919 zurück. Quelle: Arbeitgeberverband der Versicherungsunternehmen in Deutschland: Wir über uns, www.agv-vers.de (abgerufen am 5.1.2010).
6.7 Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) ist die Arbeitgebervereinigung der deutschen Bundesländer bzw. eines bundeslandbeherrschenden Arbeitgeberverbandes. Sie wurde 1949 gegründet. Derzeit sind 14 deutsche Länder Mitglied, nachdem Berlin 1994 ausgeschlossen wurde und Hessen 2004 austrat. Quelle: Tarifgemeinschaft deutscher Länder: Die TdL, www.tdl-online.de (abgerufen am 5.1.2010).
6.8 Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ist der tarifpolitische und arbeitsrechtliche Dachverband der kommunalen Verwaltungen und Betriebe in Deutschland. Sie wurde 1949 gegründet und geht auf den Arbeitgeberverband deutscher Gemeinden und Kommunalverbände von 1920 zurück. Mitglied sind 16 kommunale Arbeitgeberverbände (KAV) in den Bundesländern. Sie vertreten etwa 10.000 kommunale Arbeitgeber im öffentlichen Dienst mit zwei Millionen Beschäftigten. Quelle: Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände: Der Verband, www.vka.de (abgerufen am 5.1.2010).
518 7
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten Tarifverhandlungen und -verträge
7.1 Tarifbindung – Beschäftigte*
7.2 Flächentarifbindung – Beschäftigte*
Anmerkung: * Angabe in Prozent aller Beschäftigten. Quelle: IAB Betriebspanel 1995 bis 2007.
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
519
7.3 Verbands- und Firmentarifverträge 80.000
50
40 AnzahlgültigerTarifverträge
60.000 35 50.000
30
40.000
25 20
30.000
15 20.000 10 10.000
AnteilFirmentarifverträgeinProzent
45
70.000
5
0
0 1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
VerbandsͲundFlächentarifverträge(West)
VerbandsͲundFlächentarifverträge(Ost)
Firmentarifverträge(West)
Firmentarifverträge(Ost)
2008
AnteilFirmentarifverträge(inProzent)
Quellen: Bahnmüller, Reinhard (2008): Tarifeinheit - Bestandsaufnahme und Perspektive. Unveröffentlichtes Manuskript, 29. Januar 2008. Stuttgart, S. 3. Müller-Jentsch, Walther (2007): Strukturwandel der industriellen Beziehungen. ‚Industrial Citizenship‘ zwischen Markt und Regulierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 109. WSI (2009): WSI-Tarifhandbuch 2009. Frankfurt a. M.: Bund-Verlag, S. 102. Eigene Berechnung; eigene Darstellung.
7.4 Zahl der Unternehmen mit Firmentarifverträgen Jahr
Anzahl West
Anzahl Ost
Gesamt
1990 1995 2000 2002 2004 2006 2008
2.100 2.924 4.492 5.102 5.742 6.885 6.872
450 1.588 1.923 1.961 2.251 2.544 2.427
2.550 4.512 6.415 7.063 7.993 9.429 9.299
Quelle: WSI (2009): WSI-Tarifhandbuch 2009. Frankfurt a. M.: Bund-Verlag, S. 102.
520
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
7.5 Allgemeinverbindliche Tarifverträge Jahr
Anzahl der allgemeinverbindlichen Tarifverträge Früheres Bundesgebiet
1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
448 479 504 572 585 608 601 590 588 577 596 563 530 554 513 536 615 565 537 537 509 449 414 425 412 380 363 354 305 297 281 273 278 291
Im Laufe des Jahres neu hinzugekommen
Neue Bundesländer
Früheres Bundesgebiet
7 56 93 95 118 122 144 163 179 171 171 188 175 179 194 173 176 172
140 213 215 202 206 212 201 150 147 159 148 159 148 170 116 176 147 149 144 116 93 101 95 68 68 62 40 28 32 11 8 13 16 30
Neue Bundesländer
52 56 35 47 43 44 45 31 34 20 19 28 18 26 11 3 5
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Verzeichnis der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge, http://www.bmas.de/portal/25382/arbeitsrecht__verzeichnis__allgemeinverbindlicher__tarifvertraege__01__04__2008. html (Stand: 1. Juli 2009, zuletzt besucht am 19.1.2010).
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
521
7.6 Entwicklung tariflicher Regelungen Jahr
1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Tariflöhne und -gehälter1 Durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeiten Arbeiter
Angestellte
39,7 43,2 45,5 48,7 51,3 54,1 57,6 60,8 63,4 65,6 67,3 69,2 71,3 74,1 76,1 78,0 81,0 85,9 91,0 94,6 96,2 100,0 90,6 94,0 96,0 98,3 100,0 102,0 104,1 106,9 109,0 110,3 111,9 114,7
41,0 44,4 46,8 49,8 52,3 54,9 58,1 61,0 63,6 65,8 67,4 69,5 71,8 74,5 76,4 78,2 81,1 86,1 90,5 94,4 95,9 100,0 89,8 92,3 94,9 98,0 100,0 102,8 104,8 107,6 109,8 111,2 112,5 114,7
West
40,1 40,1 40,0 40,0 40,0 39,6 39,4 39,3 39,0 38,5 38,3 38,1 38,0 37,8 37,7 37,5 37,5 37,4 37,4 37,4 37,4 37,4 37,4 37,4 37,4 37,3 37,4 37,4 37,4
Durchschnittliche tarifliche Urlaubstage
Ost
West
Ost
40,2 40,1 40,0 39,8 39,6 39,5 39,4 39,4 39,2 39,1 39,1 39,1 39,1 39,0 39,0 39,0 39,0 39,0
22 ½ 23 23 ½ 24 24 ½ 25 26 27 28 28 ½ 29 29 29 29 29 29 29 29 29 29 29 ½ 29 ½ 29 ½ 29 ½ 29 ½ 29 ½ 29 ½ 29 ½ 29 ½ 29 ½ 29 ½ 29 ½ 29 ½ 30 30
26 27 27 27 ½ 28 ½ 29 29 29 29 29 29 29 29 29 29 29 30 30
Anmerkungen: 1 Bis 1995 früheres Bundesgebiet, Kettenindex 1995 = 100; ab 1996 Deutschland, Kettenindex 2000 = 100. Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2009): Statistisches Taschenbuch 2009. Bonn: BMAS, Tabellen 4.1, 4.9, 5.1.
522
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
7.7 Streiks und Aussperrungen Jahr
1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Streiks
Aussperrungen
Beteiligte Arbeitnehmer
Ausgefallene Arbeitstage
184.000 334.000 23.000 179.000 250.000 36.000 117.000 34.000 299.000 63.000 45.000 253.000 40.000 94.000 399.000 78.000 116.000 155.000 34.000 44.000 257.000 208.000 598.000 133.000 401.000 183.000 166.000 14.000 4.000 199.000 7.000 61.000 428.000 57.000 101.000 17.000 169.000 106.000 154.000
93.000 2.599.000 66.000 545.000 1.051.000 69.000 412.000 24.000 2.548.000 405.000 128.000 58.000 15.000 41.000 2.921.000 35.000 28.000 33.000 42.000 100.000 364.000 154.000 1.545.000 593.000 229.000 247.000 98.000 53.000 16.000 79.000 11.000 27.000 310.000 163.000 51.000 19.000 429.000 286.000 132.000
Betroffene Arbeitnehmer
Ausgefallene Arbeitstage
202.000
1.884.000
52.000
122.000
188.000 15.000
1.733.000 78.000
172.000
3.565.000
1.000 1.000
2.000
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2009): Statistisches Taschenbuch 2009. Bonn: BMAS, Tabelle 3.3: Streiks und Aussperrungen.
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten 8
523
Arbeitgeberverbände in internationaler Perspektive
8.1 Nationale Spitzenverbände der Arbeitgeber (NEPAs) in Europa Land Italien Ungarn Portugal Norwegen Schweden Finnland Frankreich Irland Slowenien Dänemark Griechenland Niederlande Österreich Spanien Belgien Deutschland Luxemburg Vereinigtes Königreich
Anzahl von Abgrenzung des relevanten Bereichs der NEPAs NEPAs Allgemein Sektor KMU Genossenschaften Sonstiges 16 8 7 5 5 4 4 4 4 3 3 3 2 2 1 1 1
1 2 1 1 1
1
1
1 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1
6 2 5 3 1 3 1 1 2 1 1 1
5 3 1 1 1 2 1 2
4 2 1 1
1
1 1 1
Quelle: Behrens, Martin/Traxler, Franz (2003): Arbeitgeberverbände in Europa. In: eirobserver 11/2003, http://www.eurofound. europa.eu/eiro/2003/11/study/tn0311102S.htm (abgerufen am 8.12.2009).
524
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
8.2 Nationale Spitzenverbände der Arbeitgeber (NEPAs) in Europa – Mitgliedszahlen Land Österreich Belgien Dänemark Finnland
NEPA
WKÖ FEB/VBO DA, SALA und FA TT PT Deutschland BDA Irland IBEC Italien Confagricoltura Coldiretti Cia Confindustria Confapi Confetra Confcommercio Confesercenti Confartigianato Cna Claai Legacoop Confcooperative Unci Agci Luxemburg UEL Niederlande VNO-NCW Norwegen NHO, HSH, FA, SamFo und LA Slowenien OZS GZS ZDS ZDODS Spanien CEOE und CEPYME Vereinigtes Königreich CBI
Mitgliedschaft Erfasste Unternehmen (in %) Angestellte (in %) 100 85í90 – 7 12 – – 30 25 38 3 2 41 56 18 16 11 5 14 22 8 7 – –
100 – 52 66 54 – 60 – – – 51 23 56 – 31 – – – 35 39 11 – 80 etwa 90
– 100 100 2 21
58 100 100 35 12
75 13
– < 42
Quelle: Behrens, Martin/Traxler, Franz (2003): Arbeitgeberverbände in Europa. In: eirobserver 11/2003, http://www.eurofound. europa.eu/eiro/2003/11/study/tn0311102S.htm (abgerufen am 8.12.2009).
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten 9
Adressen von Arbeitgeberverbänden und Dachverbänden
Arbeitgeberverband des privaten Bankgewerbes (AGV Banken) Burgstraße 28 10178 Berlin www.agvbanken.de
[email protected] Tel.: 030 5900112-70 Fax: 030 5900112-79 Arbeitgeberverband der Versicherungsunternehmen in Deutschland Arabellastraße 29 81925 München www.agv-vers.de
[email protected] Tel.: 089 922001-0 Fax: 089 922001-51 Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) Abraham-Lincoln-Straße 24 65189 Wiesbaden www.bavc.de
[email protected] Tel.: 0611 77881-0 Fax: 0611 77881-24 Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) Breite Straße 29 10178 Berlin www.bdi.eu
[email protected] Tel.: 030 2028-0 Fax: 030 2028-2450 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Haus der Deutschen Wirtschaft Breite Straße 29 10178 Berlin www.arbeitgeber.de
[email protected] Tel.: 030 2033-0 Fax: 030 2033-1055 Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK) Breite Straße 29 10178 Berlin www.dihk.de
[email protected] Tel.: 030 20308-0 Fax: 030 20308-1000 Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitgeberverbände (Gesamtmetall) Voßstraße 16 10117 Berlin www.gesamtmetall.de
[email protected] Tel.: 030 55150-0
525
526
Anhang: Geschichte – Organisation – Basisdaten
Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) Kurfürstenstraße 129 10785 Berlin www.bauindustrie.de
[email protected] Tel.: 030 21286-0 Fax: 030 21286-240 Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) Georgenstraße 23 10117 Berlin www.tdl-online.de
[email protected] Tel.: 030 2888439-0 Fax: 030 2888439-22 Unternehmerverband Deutsches Handwerk (UDH) Mohrenstraße 20/21 10117 Berlin www.zdh.de
[email protected] Tel.: 030 20619-0 Fax: 030 20619-460 Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) Allerheiligentor 2í4 60311 Frankfurt am Main www.vka.de
[email protected] Tel.: 069 920047-50 Fax: 069 920047-99
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabellen Mittelstandsdefinition in Deutschland seit Einführung des Euro ....................................... 88 Mittelstandsdefinition der EU ............................................................................................ 88 Zur wirtschaftlichen Bedeutung des unternehmerischen Mittelstands ............................... 88 Organisationstypen der Mittelstandsverbände ................................................................... 91 Allgemeine Mittelstandsverbände in Deutschland und ihre Mitglieder ............................. 92 Die zentralen Verbände des Mittelstands ........................................................................... 94 Verbände mit Schiedsgericht nach Branchen ................................................................... 157 Regelung des Stimmrechts in Arbeitsgeber- und Wirtschaftsverbänden ......................... 159 Grundlagen der Beitragsberechnung in Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden ............ 163 Unternehmen und Beschäftigte in der IKT-Branche ........................................................ 185 Anzahl Zeitarbeitsunternehmen ....................................................................................... 195 Mitgliedschaft deutscher Verbände in europäischen Organisationen ............................... 268 Verbandsfärbung des Deutschen Bundestages ................................................................. 272 Gesamtökonomische Performance und die Zentralisierung der Tarifverhandlungen ...... 332 Typen von Wirtschaftsverbänden ..................................................................................... 365 Mitgliedsunternehmen nach Betriebsgröße ...................................................................... 398 Mitgliedsunternehmen nach Branchenstruktur ................................................................. 398 Zusammensetzung des Vorstands des BAVC .................................................................. 399 Präsidenten und Hauptgeschäftsführer des zentralen Arbeitgeberverbandes der chemischen Industrie .................................................................................................. 417 Die bedeutendsten nationalen Spitzenverbände ............................................................... 447 Das Verbändesystem der Unternehmer ............................................................................ 452
528
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Abbildungen Beschäftigte bei Mitgliedsfirmen und Arbeitgeberorganisierungsgrad bei Gesamtmetall .............................................................................................................. 176 Beschäftigte bei Mitgliedsfirmen und Arbeitgeberorganisierungsgrad des Bundesarbeitgeberverbands Chemie .......................................................................... 177 In Zeitarbeit beschäftigte Arbeitnehmer in Deutschland ...................................................194 Anzahl der akkreditierten Verbände auf der „Lobbyliste“ des Deutschen Bundestages .................................................................................................... 265 Aufgaben regionaler Arbeitgeberverbände ...................................................................... 285 Landesvereinigung der Arbeitgeberverbände Nordrhein-Westfalens .............................. 287 Territoriale Beschäftigungspakte als Teil europäischer Beschäftigungspolitik ................ 290 Klassifizierung von Interessenverbänden der Wirtschaft ................................................. 301 Kontinuum der Sicherheit des Organisationsbestandes kleinerer AGV ........................... 321
Über die Autoren
529
Über die Autoren Über die Autoren
Behrens, Martin, geb. 1967, Dr., Wissenschaftler im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Forschungsschwerpunkte: komparative industrielle Beziehungen, Arbeitsbeziehungen in den USA, Betriebsräte, Arbeitgeberverbände. Veröffentlichungen: Still Married after All These Years? Union Organizing and the Role of Works Councils in German Industrial Relations. In: Industrial and Labor Relations Review (2009); Learning from the Enemy? Internal Union Restructuring and the Imitation of Management Strategies, Ithaca/New York 2002; Die Gewerkschaften in den neuen Bundesländern am Beispiel der IG Metall: Tarif- und Industriepolitik, Düsseldorf 1995. E-Mail:
[email protected]. Böcher, Michael, geb. 1971, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Forstund Naturschutzpolitik der Georg-August-Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Politikfeldanalyse Umwelt- und Naturschutzpolitik, die Rolle von Expertise und wissenschaftlicher Politikberatung im politischen Prozess, Regional Governance. Veröffentlichungen: Discourse and Expertise in Forest and Environmental Governance. Hrsg. mit L. Gießen/D. Kleinschmit, Amsterdam 2009; Regional Governance und integrierte ländliche Entwicklung. Hrsg. mit M. Krott/S. Tränkner, Wiesbaden 2008; Instrumentenwandel in der Umweltpolitik im Spannungsfeld zwischen Politiklernen und politischen Interessenkonflikten – das Beispiel ökologische Steuer in Deutschland. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (2007). E-Mail:
[email protected]. Bührer, Werner, geb. 1950, Prof. Dr., apl. Professor für Zeitgeschichte an der Technischen Universität München. Forschungsschwerpunkte: Unternehmerverbände, Geschichte der Bundesrepublik, deutsch-französische Beziehungen, Geschichte der europäischen Integration. Veröffentlichungen: Ruhrstahl und Europa, München 1986; Westdeutschland in der OEEC, München 1997; Henry Axel Bueck. Mein Lebenslauf. Hrsg., Stuttgart 1997; Unternehmerverbände und Staat in Deutschland. Hrsg. mit E. Grande, Baden-Baden 2000. E-Mail:
[email protected]. Greef, Samuel, geb. 1982, M. A., Politologe; wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl Politisches System der BRD an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: industrielle Beziehungen, Organisations- und Gewerkschaftsforschung. Veröffentlichungen: Berufsgewerkschaften. Gewerkschaften und die Politik der Erneuerung. Hrsg. mit W. Schroeder/V. Kalass, Düsseldorf 2010; Kleine Arbeitnehmerverbände als Herausforderung für das deutsche Gewerkschaftsmodell, München 2009; Kleine Gewerkschaften und Berufsverbände im Wandel. Mit W. Schroeder/V. Kalass, Düsseldorf 2008. E-Mail:
[email protected].
530
Über die Autoren
Groser, Manfred, geb. 1944, Prof. Dr., Professor (em.) für Politikwissenschaft an der Universität Bamberg. Forschungsschwerpunkte: neue politische Ökonomie, Verbände, Dritter Sektor. Veröffentlichungen: Gemeinwohl und Ärzteinteressen, Gütersloh 1992; Die Neue Soziale Frage. Mit W. W. Veiders, Melle 1979; Grundlagen der Tauschtheorie des Verbandes, Berlin 1979; Ökonomische Theorie des Politischen Wettbewerbs. Mit P. Herder-Dorneich, Göttingen 1977. E-Mail:
[email protected]. Haipeter, Thomas, geb. 1967, Dr. habil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: industrielle Beziehungen, Industrie- und Arbeitssoziologie. Veröffentlichungen: Tarifabweichungen und Flächentarifverträge. Eine Analyse der Regulierungspraxis in der Metall- und Elektroindustrie, Wiesbaden 2009; Arbeitgeberverbände in der Metall- und Elektroindustrie. Mit G. Schilling, Hamburg 2006; Mitbestimmung bei VW. Neue Chancen für die betriebliche Interessenvertretung?, Münster 2000. E-Mail:
[email protected]. Henneberger, Fred, geb. 1961, Dr., Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen, Schweiz; Direktor am Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitsrecht (FAA-HSG). Forschungsschwerpunkte: Arbeitsmarktökonomie, Arbeitspolitik und Arbeitsbeziehungen. Veröffentlichungen: Arbeitsplatzstabilität und Arbeitsplatzwechsel. Mit A. Sousa-Poza, 2. Aufl., Bern 2007; Studien zum Arbeitsmarkt, Bern 2004; Globalisierung und Arbeitsmarkt. Mit S. Graf/M. Vocke, Baden-Baden 2000; Arbeitsmärkte und Beschäftigung im öffentlichen Dienst, Bern 1997. E-Mail: fred.henneberger @unisg.ch. Keller, Berndt, geb. 1946, Prof. em. Dr., bis 2009 Professor für Arbeits- und Sozialpolitik an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Arbeitspolitik des öffentlichen Sektors, Folgeprobleme der europäischen Integration, Flexicurity, atypische Beschäftigungsverhältnisse, Zusammenschlüsse von Gewerkschaften. Veröffentlichungen: Einführung in die Arbeitspolitik. Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmarkt in sozialwissenschaftlicher Perspektive, 7. völlig überarb. Aufl., München/Wien 2008; Multibranchengewerkschaft als Erfolgsmodell? Zusammenschlüsse als organisatorisches Novum – das Beispiel ver.di, Hamburg 2004; Ver.di: Triumphmarsch oder Gefangenenchor? Neustrukturierung der Interessenvertretung im Dienstleistungssektor, Hamburg 2001; Europäische Arbeits- und Sozialpolitik, 2. völlig überarb. und stark erw. Aufl., München/Wien 2001; Arbeitspolitik des öffentlichen Sektors, Baden-Baden 1993; Arbeitsbeziehungen im öffentlichen Dienst. Tarifpolitik der Gewerkschaften und Interessenpolitik der Beamtenverbände, Frankfurt a. M./New York 1983; Obdachlose. Zur gesellschaftlichen Definition und Lage einer sozialen Randgruppe. Mit H. Abels, Opladen 1974; Theorien der Kollektivverhandlungen. Ein Beitrag zur Problematik der Arbeitsökonomik, Berlin 1974; Theorien über den Einfluss des Neutralen auf Schlichtungsverhandlungen, Berlin 1973. E-Mail:
[email protected]. Krickhahn, Thomas, geb. 1956, Dr., wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule BonnRhein-Sieg. Forschungsschwerpunkte: Wirtschaftsverbände, Qualitätsmanagement, Evaluationsforschung. Aktuelle Veröffentlichung: BWL für Dummies. Mit T. Amely, Weinheim 2009. E-Mail:
[email protected].
Über die Autoren
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Lesch, Hagen, geb. 1964, Dr. rer. pol., Diplom-Volkswirt, Senior Economist am Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW); Arbeitsbereich: Lohn- und Tarifpolitik/Arbeitskämpfe. Veröffentlichungen: Arbeit und Fairness. Die Suche nach dem gerechten Lohn. Mit J. Bennett, Köln 2010; Gewinnbeteiligung. Eine theoretische und empirische Analyse auf Basis des IW-Zukunftspanels. Mit O. Stettes, Köln 2008; Ökonomik des Tarifrechts, Köln 2006; Arbeitsbeziehungen im Wandel, Köln 2004; Streitpunkt „lohnpolitischer Verteilungsspielraum“, Köln 2002; Lohnpolitik in einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Internationale Kooperation versus Dezentralisierung, Lohmar 1999. E-Mail:
[email protected]. Menez, Raphael, geb. 1970, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt. Forschungsschwerpunkte: Industrie- und Organisationssoziologie, Verbändeforschung, industrielle Beziehungen. Veröffentlichungen: Interessenverbände in der IKT-Branche. Die Organisationsfähigkeit von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden unter neo-institutionalistischer Perspektive, Tübingen 2007; Arbeitsregulation in der IT-Branche. Organisationsbedarf und Organisationsfähigkeit aus gewerkschaftlicher Sicht. Mit K. Töpsch, Stuttgart 2003. E-Mail:
[email protected]. Müller-Jentsch, Walther, geb. 1935, Prof. em. Dr. rer. pol., Professur für Soziologie (Lehrstuhl Organisation und Mitbestimmung) an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsund Forschungsschwerpunkte: industrielle Beziehungen; Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationssoziologie; Soziologie der Kunst. Veröffentlichungen: Arbeit und Bürgerstatus, Wiesbaden 2008; Strukturwandel der industriellen Beziehungen, Wiesbaden 2007; Organisationssoziologie, Frankfurt a. M./New York 2003; Konfliktpartnerschaft, 3. Aufl., München 1999; Soziologie der Industriellen Beziehungen, 2. Aufl., Frankfurt a. M./New York 1997. E-Mail:
[email protected]. Paster, Thomas, PhD, geb. 1975, derzeit Postdoc-Fellow am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG) in Köln; Promotion im Juni 2009 am Europäischen Hochschulinstitut (Florenz) mit einer Dissertation zur Rolle der Arbeitgeberverbände in der Entwicklung des deutschen Sozialstaats. Forschungsschwerpunkte: vergleichende politische Ökonomie, Wohlfahrtsstaatsforschung, Arbeitgeberverbände, Europäisierung. Veröffentlichungen: The New Modes of EU Governance. Combining Rationalism and Constructivism in Explaining Voluntarist Policy Coordination in the EU. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (2005); The Renewability of Social Democracy. In: European Political Science (2008). E-Mail:
[email protected]. Platzer, Hans-Wolfgang, geb. 1953, Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft/Europäische Integrationspolitik an der Hochschule Fulda; Inhaber eines ad personam Jean Monnet Chair. Forschungsschwerpunkte: europäische Interessenverbände, transnationale Arbeitsbeziehungen, sozial-ökonomische EU-Integrationsprozesse. Veröffentlichungen: Die globalen und europäischen Gewerkschaftsverbände. Handbuch und Analysen zur transnationalen Gewerkschaftspolitik. Mit T. Müller, Berlin 2009; Industrial Relations in Central and Eastern Europe. Mit H. Kohl, Brüssel 2004; European Works Councils. Negotiated Europeanisation. Mit W. Lecher/S. Rüb/K.-P. Weiner, Aldershot 2002; Unternehmensverbände in der EG – ihre nationale und transnationale Organisation und Politik, Kehl/Straßburg 1984. E-Mail:
[email protected].
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Über die Autoren
Preusse, Joachim, geb. 1979, M. A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Forschungsschwerpunkte: PR-Theorie, Verhältnisse von Medien und Politik, PR politischer Organisationen, Issues Management, PR-Evaluation. Veröffentlichungen: Zum Status quo der PR-Beratungs-Forschung. Stand und Perspektiven eines vernachlässigten Forschungsfeldes. Mit J. Schmitt. In: U. Röttger/S. Zielmann (Hrsg.): PR-Beratung. Theoretische Konzepte und empirische Befunde, Wiesbaden 2009; Issues Management. Mit U. Röttger. In: T. Nolting/A. Thießen (Hrsg.): Krisenmanagement in der Mediengesellschaft. Potentiale und Perspektiven in der Krisenkommunikation, Wiesbaden 2008. E-Mail:
[email protected]. Sack, Detlef, geb. 1965, Prof. Dr., Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie. Veröffentlichungen: Governance und Politics. Die Institutionalisierung öffentlich-privater Partnerschaften in Deutschland, Baden-Baden 2009; Soziale Demokratie, die Stadt und das randständige Ich. Dialoge zwischen politischer Theorie und Lebenswelt. Hrsg. mit U. Thöle, Kassel 2008; Abschied von der Binnenmodernisierung? Kommunen zwischen Wettbewerb und Kooperation. Hrsg. mit M. Oppen/A. Wegener, Berlin 2005. E-Mail:
[email protected]. Schroeder, Wolfgang, geb. 1960, Prof. Dr., Professor für Politisches System an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Sozialverbände, Parteien- und Organisationsforschung. Veröffentlichungen: Kleine Gewerkschaften und Berufsverbände im Wandel. Mit S. Greef/V. Kalass, Düsseldorf 2008; Strategische Akteure in drei Welten. Die deutschen Gewerkschaften im Spiegel der neueren Forschung. Mit D. Keudel, Düsseldorf 2008; Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand, Wiesbaden 2000; Katholizismus und Einheitsgewerkschaft, Bonn 1992. E-Mail:
[email protected]. Silvia, Stephen J., geb. 1959, Prof. Dr., Professor und Director of Doctoral Studies an der American University, Washington, D.C., Vorstandsmitglied der Labor Employment Research Association, DC Chapter. Veröffentlichungen: The Elusive Quest for Normalcy. The German Economy since Unification. In: German Politics and Society (2010); German Trade Unionism in the Postwar Years. The Third and Fourth Movements. In: C. L. Phelan (Hrsg.): Trade Unions since 1945. Towards a Global History, Oxford 2009; Why are German Employers Associations Declining? Arguments and Evidence. Mit W. Schroeder. In: Comparative Political Studies (2007). E-Mail:
[email protected]; Homepage: http://www.american.edu/sis/faculty/ssilvia.cfm. Speth, Rudolf, geb. 1957, Dr. phil., Vertretung der Professur „Politisches System der BRD/ Staatlichkeit im Wandel“ am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Verbändeforschung und Interessenpolitik, politische Kommunikation, Dritte-Sektor-Forschung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement. Veröffentlichungen: Bericht zur Lage und Entwicklung des Engagements in Deutschland in der Projektgruppe ZENG (2009) am WZB; Verbändeforschung. Mit A. Zimmer. In: V. Kaina/A. Römmele (Hrsg.): Politische Soziologie, Wiesbaden 2009; Advokatorische Think Tanks und die Politisierung des Marktplatzes der Ideen, Berlin 2006; Die fünfte Gewalt. Lobbyismus in Deutschland. Mit T. Leif, Bonn 2006; Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland. Mit T. Leif, Wiesbaden 2003. E-Mail:
[email protected].
Über die Autoren
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Strünck, Christoph, geb. 1970, Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitik, Wirtschafts- und Verbraucherpolitik, Interessengruppen und Interessenvermittlung. Veröffentlichungen: Re-Shaping Consumer Policy in Europe?, German Policy Studies (2008); Die Macht des Risikos. Interessenvermittlung in der amerikanischen und europäischen Verbraucherpolitik, Baden-Baden 2006; Mit Sicherheit flexibel? Chancen und Risiken neuer Beschäftigungsverhältnisse, Bonn 2003; Vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den 90er Jahren. Mit R. G. Heinze/J. Schmid, Opladen 1999. E-Mail:
[email protected]. Töller, Annette Elisabeth, geb. 1968, Professorin für Politikfeldanalyse an der Fernuniversität Hagen. Forschungsschwerpunkte: Umweltpolitik, kooperative/freiwillige Politikformen, Europäisierung von Policies. Veröffentlichungen: Warum kooperiert der Staat? Kooperative Umweltpolitik im Schatten der Hierarchie, Baden-Baden 2010 (i. E); Measuring and Comparing the Europeanization of Public Policies. In: Journal of Common Market Studies (2010); Freiwillige Regulierung zwischen Staat und Markt. Der Deutsche Corporate Governance-Kodex (DCGK). In: Der Moderne Staat (2009); Kooperation als Trend? Verwendungsmuster und Ursachen kooperativer Politikformen in den Niederlanden, Deutschland und den USA. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft (2008); Kooperation im Schatten der Hierarchie. Dilemmata des Verhandelns zwischen Staat und Wirtschaft. In: G. F. Schuppert/M. Zürn (Hrsg.): Governance in einer sich wandelnden Welt. PVS-Sonderheft, Wiesbaden 2008; E-Mail: annette.toeller@ fernunihagen.de. Traxler, Franz, geb. 1951, gest. 2010, Prof. Dr., Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Wien. Arbeitsgebiete: Arbeitsbeziehungen und Interessenorganisationen im internationalen Vergleich. Buchveröffentlichungen: Handbook of Business Interest Associations, Firm Size and Governance. Hrsg. mit G. Huemer, Routledge 2007; National Labour Relations in Internationalized Markets. Mit S. Blaschke/B. Kittel, Oxford 2001; The Role of Employer Associations and Labour Unions in the EMU. Hrsg. mit G. Huemer/M. Mesch, Ashgate 1999; Organized Industrial Relations in Europe. What Future? Hrsg. mit C. Crouch, Avebury 1995. Weitbrecht, Hansjörg, geb. 1938, Prof. Dr., Honorarprofessor an der Universität Heidelberg. Assistenz und Promotion bei Prof. M. R. Lepsius in Mannheim 1968. Leitende Personalfunktionen bei IBM, der Landesgirokasse und Boehringer Mannheim. 1996 Gesellschafter und Mitbegründer der O & P Consult GmbH, Heidelberg, Organisations- und Personalentwicklungsberatung. Forschungsschwerpunkte: Organisation, Management und industrielle Beziehungen. Veröffentlichungen: The Changing Contours of German Industrial Relations. Mit W. Müller-Jentsch, München/Mering 2003; Wirkung und Verfahren der Tarifautonomie, Baden-Baden 1973; Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie, Berlin 1969. E-Mail:
[email protected]. Weßels, Bernhard, geb. 1955, Dr., Privatdozent, lehrt an der Berlin Graduate School of the Social Sciences (BGSS) der Humboldt-Universität zu Berlin Politikwissenschaft und ist wissenschaftlicher Angestellter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Abteilung „Demokratie“. Arbeitsbereiche: vergleichende Wahl- und
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Über die Autoren Einstellungsforschung, Interessenvermittlung und politische Repräsentation. Veröffentlichungen: Die Bundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse. Hrsg. mit F. Brettschneider/O. Niedermayer, Wiesbaden 2007; Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik. Ein Handbuch. Hrsg. mit W. Schroeder, Wiesbaden 2003; Verbände und Demokratie in Deutschland. Hrsg. mit A. Zimmer, Opladen 2001. E-Mail:
[email protected].
Zielmann, Sarah, geb. 1976, M.A., bis Ende Oktober 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft der WWU Münster. Forschungsschwerpunkte: Politische PR, Organisationskommunikation, Medien im Wandel der Öffentlichkeit. Veröffentlichungen: PR-Beratung. Mit U. Röttger, Wiesbaden 2009; Vom Wissen und Nicht-Wissen einer Wissenschaft. Mit K. Pühringer, Münster 2006. E-Mail:
[email protected].
Sachregister Sachregister
35-Stunden-Woche 36, 249 Abfallpolitik 367, 368, 372, 381, 382 Abkommen von Wassenaar 252, 255 acquis communautaire 473, 474 Agenda 21 381 aggregierte Interessen 270 Agrarpolitik 473, 477 Akteursautonomie 317, 326, 334 Aktionsgemeinschaft Wirtschaftlicher Mittelstand (AWM) 92, 94 allgemeine Arbeitgeberverbände 155 Allgemeinverbindlicherklärungen 23, 247, 325, 331, 336, 449, 450, 452, 454 Allianzen 276 alternative Unternehmerorganisationen 365 Anhörungsverfahren 435 Antikommunismus 17, 34, 39 Anti-Streikvereine 29, 40 Antizipationsthese 428 Arbeiterbewegung 344, 345, 346, 350, 351, 352, 353, 358 Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Differenzierung von Mitgliederrollen 160–62 duales Organisationsprinzip 395 duales System der Repräsentation 136, 149 Einbindung in den Prozess der Gesetzgebung 269 Entscheidungsdezentralisation 136 Entwicklungstendenzen 165–66, 264–66 europäische Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände 420–38 funktionale und organisatorische Differenzierung 12, 29, 32 historische Entwicklung 443 im internationalen Vergleich 164, 441–55 Imageprobleme 56 in Politik und Gesellschaft 260–77 Informations- und Kommunikationsbranche 184–88 intermediäre Position 261 Konfliktbearbeitung und -verarbeitung 155–57 Loyalitätssicherung 137 Mitgliedsbeiträge 162, 163 Mitgliedschaftsvarianten 172 Organisationsstrukturen 148–66, 171–74 Parteien 271–74 privilegierter Zugang zur Politik 269 Produktmarkt- und Arbeitsmarktinteressen 149
Ressourcen 162–64, 165 Schiedsgerichte 157 selektive Trennung von Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden 153–54 Spitzenverbände 149, 153, 260, 262, 268, 276, 308, 332 Stimmrechte und Partizipation 158–60 verbandliche Doppelfunktion 238 Verflechtung 238 vertikale Differenzierung 154–55 Vorfeldorganisationen 157–58 Zeitarbeitsbranche 198–200 Arbeitgeberverband der Metall- und Elektroindustrie (VBM) 283 Arbeitgeberverband der Versicherungsunternehmen in Deutschland 517 Arbeitgeberverband des privaten Bankgewerbes (AGV Banken) 516 Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleistungen (AMP) 199 Arbeitgeberverband Qualifizierter Personaldienstleister Mercedarius 200 Arbeitgeberverband Rhein-Wupper 285 Arbeitgeberverbände 12, 71, 126, 136, 149, 210, 238, 301, 420, 443, 502 aktuelle Probleme 138–40 Beitrittsmotivation 281 Bestandssicherung 192 Dezentralisierung 254 Dienstleistungen 180 Durchsetzungsschwäche 35–36 ehrenamtliche Vorstände 31, 280 Einflusslogik 237 Führungspersonal 35 Funktion 26–40 Gegenverbände 12, 26, 248, 249, 280 Geschäftsleitung 31 Geschichte 26–40 Gewerkschaften 236–56 Handlungslogik 12–13 Heterogenität 236–37, 240, 254, 256 historische Entwicklung 236, 280, 494–501 initiative Rolle in der Tarifpolitik 237, 238, 254, 329 integrierte Landesvertretungen 38 interne Restriktionen 39 Kompromissfindung 237 Konfliktfähigkeit 252
536 Lohnpolitik 243–46 Mitgliederloyalität 237 Mitgliederrückgang 148 Mitgliederversammlung 158–59 Mitgliedschaftslogik 237, 254 Organisationsfähigkeit 282 Organisationsgrad 35, 39, 175–78 organisationspolitische Perspektiven 40 Prinzip der Ämtertrennung 31, 35 Rekrutierung 192 Serviceleistungen 249 Sozialpolitik 342–58 Spitzenverbände 280, 444, 445 Tarifpolitik 316–36 Verbandsflucht 176 Verpflichtungsfähigkeit 282 Arbeitgeberverbände im öffentlichen Sektor 105– 24 Angestellte und Arbeiter 105 BDA 116 Beamte 106 Besonderheiten der öffentlichen Sektors 115– 17 Entwicklungstendenzen 122–24 Organisationsgrad 117 Rechtsstatus der Beschäftigtengruppen 105–6 Tarifverhandlungssystem 120–22 Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss (ANG) 155 Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) 198, 246, 336 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) 197 Arbeitsanreize 352, 353, 354, 357, 358 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 356 Arbeitsgemeinschaft Selbständige in der SPD (AGS) 95 Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU) 37, 92, 94 Arbeitsgemeinschaften 276 Arbeitsgerichte 344 Arbeitskampf 447 Arbeitskampffonds 156 Arbeitskonflikte historische Entwicklung 248–50 Reformbedarf aus Arbeitgebersicht 252–53 Arbeitskosten 330, 350 Arbeitskostenwettbewerb 247 Arbeitskreise 292 Arbeitslosenfürsorge 353 Arbeitslosengeld II (ALG II) 246 Arbeitslosenversicherung 344, 347, 348, 352–53, 354, 356 Arbeitslosigkeit 318 Arbeitsmarktinteressen 135, 198, 284, 342, 441, 443, 444, 448, 450 Arbeitsmarktpolitik 334 Arbeitsmarktprogramme 289 Arbeitsmarktverwaltung 344
Sachregister Arbeitsplatzabbau 370 Arbeitsrecht 71 Arbeitsschutz 409 Arbeitsunfälle 352 arbeitswissenschaftliche Beratung 283, 288 Arbeitszeitkorridore 328, 407 Arbeitszeitmodelle 290 Arbeitszeitverkürzung 33 Arbeitszeitverlängerungen 328 Auftragsexpertisen 371 Ausbildung 292 Ausbildungspakte 291, 293 Ausbildungsplatzabgabe 288, 291 Ausbildungsplätze 288 Ausbildungssystem 347 Auslandshandelskammern 73 Ausschuss für Wirtschaftsfragen der industriellen Verbände 53 Außenseiterkonkurrenz 247 außertarifliche Sozialpartnervereinbarungen 255 Aussperrung 30, 32, 35, 36, 39, 157, 248, 251, 252, 253, 255, 280, 286, 318 Austauschpartner 443 Austrittsgründe 321 Automobilindustrie 54, 56, 211 Automobilkonzerne 383 Autonomie gegenüber den Mitgliedern 322 Bad Godesberger Programm 350 Bankensektor 176, 237, 245, 251 Bankenverband 228 Basissicherung 357, 358 Baugewerbe 251, 320 Bauwirtschaft 238, 246, 247, 409 Beratungsagenturen 420 Bergbau 409, 461 Bergbau-Verein 49 Berliner Erklärung 253, 475 Berliner Republik 268 Bertelsmann Stiftung 228 berufliche Weiterbildung 292 Berufsbildung 404 Berufsbildungssystem 292 Berufsgenossenschaften 344, 354, 406 berufsständische Ethik 368 Berufsverbände 301 Besatzungszeit 52–53 Beschäftigungspakte 289 Beschäftigungssicherung 327 Beteiligung an der Willens- und Zielbildung 448 Betriebe als Akteure im System industrieller Beziehungen 317–19 betriebliche Altersvorsorge 343 betriebliche Bündnisse für Arbeit 241, 242, 243, 327, 413, 414 betriebliche Reorganisationsprozesse 76 betriebliche Sozialprogramme 348 Betriebskrankenkassen 354
Sachregister Betriebsräte 241, 292, 322, 326, 327, 330, 333, 335, 336, 405, 411, 412 Betriebsvereinbarungen 240, 330, 411 Betriebsverfassungsgesetz 330, 410, 412 Betroffeneninteressen 375 Bezahlung unter Tarif 282 Bildungsarbeit 288 Bildungswerke 158 Binde- und Integrationskraft 317 Bindekraft der Tarifverbände 450, 453 Bindungswirkung 130, 140 Bio- und Gentechnikpolitik 410 Bismarck’sche Sozialreformen 29, 344, 351–52 Bismarck’scher Sozialstaat 353, 354, 356 Blockademacht 58 Bonner Republik 16, 261 bottom-up policy 288 Branchenlobbyismus 409 Branchenprogramme 373 Branchenumweltorganisationen 365 Branchenverbände 91, 268, 276, 284, 301, 302, 343, 363, 365, 366, 367, 369, 372, 434, 445, 457 Brüsseler Repräsentanzen 266, 267, 384, 420, 435 Brüsseler Verbandsvertretungen 421 Bund der Industriellen 29, 50 Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) 175, 242, 243, 255, 320, 324, 326, 328, 396, 397, 399, 401, 404, 406, 409, 410, 413, 516 Mitgliederstruktur 397–99 Organisationsaufbau 399–400 Organisationsgrad 177, 397, 398 Bundesarbeitsgericht (BAG) 212–14 Bundesarchitektenkammer 93 Bundesärztekammer 93 Bundesfachspitzenverbände 343 Bundesfachverbände 331 Bundesinnungsverband des GebäudereinigerHandwerks 247 Bundesländer 288–91 Bundespolitik 288 Bundesrat 369, 382 Bundesregierung 262, 298, 372, 382 Bundessteuerberaterkammer 93 Bundestagsabgeordnete 298 Bundestagsausschüsse 369 Bundesumweltministerium 380, 382, 386 Bundesverband Breitbandkommunikation (breko) 190 Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) 11, 32, 38, 44, 45, 54, 55, 74, 94, 153, 172, 247, 262, 266, 267, 268, 273, 277, 283, 284, 305, 326, 332, 342, 363, 364, 365–66, 366, 367, 371, 372, 378, 380, 421, 424, 457, 458, 502, 510–12 Europapolitik 459–60, 461–78 Gewerkschaften 55 Globalisierung 59–60 Landesvertretungen 154, 172 Mittelstand 60, 95
537 Präsident 46 Public Relations 302–3 Struktur 154 wirtschaftspolitische Expertise 58 Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) 367 Bundesverband der Freien Berufe (BFB) 93, 94 Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie 268 Bundesverband der Selbständigen (BDS) 92, 94, 268 Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels (BGA) 93, 94 Bundesverband deutscher Dienstleistungsunternehmen (BVD) 200 Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) 188, 189–90, 190 Bundesverband Druck und Medien 192 Bundesverband für freie Kammern 77 Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM) 57, 178, 188, 189, 190, 265, 267, 268 Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) 92 Bundesverband mittelständischer Mineralölunternehmen (UNITI) 93 Bundesverband mittelständischer Privatbrauereien 93 Bundesverband Zeitarbeit und Personaldienstleistungen (BZA) 197, 199 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) 11, 27, 28–29, 31– 32, 32, 33, 37, 38, 94, 116, 153, 171, 240–41, 245, 247, 248, 252, 254, 262, 266, 267, 268, 273, 276, 283, 284, 291, 326, 331, 332, 336, 342, 343, 355, 356, 424, 427, 450, 454, 457, 458, 502, 506–9 Arbeitskreise 343 Ausschüsse 343 Europapolitik 33, 460, 461–78 externe Konfliktaustragung (Arbeitskampf) 155–57 Fachspitzenverbände 153 Landesverbände 153 Quer- und Mehrfachmitgliedschaften 153 Sozialpolitik 32 Struktur 153–54 Verband der Verbände 343 Bundesvereinigung der Fachverbände des Handwerks (BFH) 432 Bundesvereinigung Deutscher Dienstleistungsunternehmen 197 Bundesvereinigung Liberaler Mittelstand 95 Bundesvereinigung Mittelständischer Bauunternehmen (BVMB) 93 Bundesverfassungsgericht 78, 175, 273, 411 Bundesverwaltungsgericht 77, 78
538 Bundeswirtschaftsministerium 464 Bundeswirtschaftsrat 54 Bündnis 90/Die Grünen 381 Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit 37, 196, 288, 290, 291 Bündnisse für Arbeit 55, 276, 280, 357 BUSINESSEUROPE 33, 424, 425, 427, 429, 430– 31 Campaigning 222 CDU 75, 262, 271, 273, 413 CDU/CSU 95, 242, 262, 270, 271, 272, 273, 274 Mittelstand 93, 95 Centralverband Deutscher Industrieller (CDI) 29, 49, 70, 351 Chancengleichheit 405 chandlerianisches Unternehmensmodell 184 Charta of the European Chambers of Commerce and Industry 77 Chemikalienpolitik 371, 382, 383, 386, 410 chemische Industrie 36, 54, 216, 217, 242, 245, 250, 251, 252, 255, 320, 322, 324, 328, 329, 333, 334, 364, 371, 373, 385, 395–414, 430, 458 Betriebspolitik 410–13 Chemie-Sozialpartnerschaft 395, 403, 413, 414 Industriepolitik 409–10 Koordinierungsrat 400, 401–2 OT-Mitgliedschaften und -Verbände 324, 409 Regional- und Landesverbände 400–401 Schlichtungsverfahren 403 Skandale 409 Sozialpartner-Vereinbarungen 404–7 Tarifkommission 402 Tarifpolitik 401–3, 407–9 Verbandsfusion 396 Chief Executive Officers (CEOs) 225, 267, 432 christlich-liberale Bundesregierung 379, 380 Club der Stahlhersteller 424 Clubtheorie 237 Conseil Européen des Fédérations de l’Industrie Chimique (CEFIC) 397, 410 Corporate Social Responsibility 60, 222, 225, 230, 329, 386 Council of European Employers of the Metal, Engineering and Technology-Based Industries (CEEMET) 268, 335 Dachverbände 53, 91, 254, 364, 434, 444, 448, 449, 450 DAX-30-Unternehmen 224, 476 Deckungsrate 322 Deindustrialisierung 318 Dekade des sozialen Friedens 249 Dekommodifizierung 353 demografische Entwicklung 334 demografischer Wandel 405 Demokratiekonzeptionen 270 Denationalisierung 76 Deregulierung 446, 473 De-Thematisierung von Umweltproblemen 372
Sachregister Deutsche Arbeitsfront (DAF) 31 Deutsche Bahn 248 deutsche Einheit 33–35, 56, 75, 210, 214–15, 318, 355–56 Deutsche Lufthansa 248 Deutsche Telekom 190 Deutsche Volkspartei (DVP) 262 Deutscher Bauernverband 273 Deutscher Braunkohlen Industrieverband 155 Deutscher Bühnenverein 155 Deutscher Bundestag 77, 264–65, 369, 382 Verbandsfärbung 271–72 Deutscher Gewerbeverband 268 Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) 246, 364, 410, 414, 421 Deutscher Handels- und Gewerbeverein 49 Deutscher Handelstag (DHT) 49, 70 Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK) 66, 73, 93, 94, 171, 266, 267, 268, 276, 342, 364, 366, 457, 460, 502, 513 Europapolitik 461, 474, 476 Deutscher Industrie- und Handelstag (DIHT) 50, 53, 71, 93, 262, 353, 371, 378, 421, 460 Europapolitik 461, 462, 464, 468, 469, 472, 473, 477 Deutscher Mittelstands-Bund (DMB) 92 Deutscher Raiffeisenverband (DRV) 421 deutscher Regelungsansatz 366 Deutscher Verband für Post, Informationstechnologie und Telekommunikation (DVPT) 190 Deutschland AG 264, 275 Deutschland als Nischenproduzent für hochwertige Qualitätsgüter 317 Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP) 262 Dezentralisierung 37 Die Grünen 379, 410 Die Linke 95 Dienstleistungsdomäne 424 Dienstleistungsökonomie 318 Dienstleistungsqualität 266 Dienstleistungssektor 54, 56, 60, 172, 178, 239, 251, 424 Dilemma der Vereinbarkeit von Repräsentation und Effektivität 303, 307 Direktmitgliedschaft von (Groß-)Unternehmen 429, 451 Disziplinierungsmittel gegenüber Verbandsmitgliedern 368 dominante Branchen 321 Dominanz von Kapitalinteressen in der EU 435 Doppelpräsidentschaft 56 Dosenpfand 370 dreigliedrige Konferenzen 425 dreigliedriges Verbandssystem 11 Drei-Säulen-Struktur 19, 57, 71, 126 dreistufiger Organisationsaufbau 420 dritte Säule 66, 80
Sachregister Druckindustrie 36, 191, 250, 251 duale Ausbildung 318 duale Einflussstrategie 434 duale Entsorgungsindustrie 365 Dualisierung des Rundfunks 298 Dualisierung des Tarifsystems 217 Düsseldorfer Programm 350 Dynamisierung der Renten 355 EG-Erweiterungsrunden 424 Ehrenamt 18 Ehrenmitgliedschaften 160, 172 Eigentümer-Unternehmen (ASU) 18–19, 326 Eigentümerunternehmer 18, 31, 35 Eigenvorsorge 358 Einfluss auf gegnerische Organisationen 304 Einflusslogik 17, 140, 151–52, 171, 282, 289, 293, 317, 321, 324, 333, 366, 368–74, 428, 429, 430 Einflussnahme durch Expertise 363 Einheitliche Europäische Akte 266, 382, 424, 428, 471, 472, 473 Einheitsversicherung 358 Einstiegstarife 328, 408 einzelbetriebliche Verhandlungen mit dem Betriebsrat 326, 332 einzelbetriebliches Regelungsmodell 333 Einzelhandel 93, 213, 238, 246, 251, 427 Eisen- und Stahlindustrie 364, 460 Elektroindustrie 54 Eliten 292, 294 Elitenkooperation 422 Elitenprojekt 461, 476 EMAS 374 Emissionshandel 364, 386 endogene Konflikte 444 Energie- und Klimapolitik 366, 372 Energiekonzerne 436 Energiepolitik 367 Energiesektor 224, 275 Energiewirtschaft 443 Entflechtung der Printmedien 298 Entgeltkorridore 328, 408 Entgelt-Rahmenabkommen (ERA) 287 Entscheidungsfindung unter Unsicherheit 370 Entsendeproblematik 247 Entwicklungskorridore 330 Ergänzungstarifverträge 239, 240, 242, 327–28 Erster Weltkrieg 261 EU-Erweiterungen 436 EU-Lobbying 423, 437 Euro 472 EUROCHAMBRES 73, 77, 267, 268, 431 Eurolobbyismus 420, 422 Europäische Betriebsräte 413, 426, 453, 475 europäische Branchenverbände 33, 267, 427 europäische Dachverbände 276, 425 Europäische Dienstleistungsrichtlinie 75 europäische Förderprogramme 289
539 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 424, 463, 464 Europäische Gemeinschaften (EG) 469, 470 europäische Integration 76–77, 247, 274, 335, 382, 421, 425, 433, 457 Erweiterung 465, 467, 468, 474, 477 Vertiefung 437, 465, 474, 477 Europäische Kommission 33, 267, 276, 335, 382, 425, 426, 434, 466, 469, 473, 474, 477 europäische Mitbestimmungsregelung 471 Europäische Mittelstands-Union (EMSU) 95 Europäische Sozialcharta 474 europäische Strukturpolitik 289 europäische Tarifverträge 335 Europäische Union 260, 420, 475, 477 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 465, 466, 467, 468 europäische Wirtschaftsverbände 266, 384, 421 Europäische Zahlungsunion (EZU) 462, 463 Europäische Zentralbank 469, 472, 477 europäischer Binnenmarkt 420, 425, 428, 432, 436, 437, 457, 467, 471, 472, 474, 475, 476, 477 Europäischer Gerichtshof 472, 477 Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB) 426, 430, 435 Europäischer Metallgewerkschaftsbund (EMB) 425 Europäischer Rat 267, 425, 428, 434, 435, 469, 470, 477 europäisches Mehrebenensystem 421, 422 Europäisches Parlament 267, 382, 428, 434, 435, 466, 470, 473 Europäisches Sozialmodell 423 Europäisierung 11, 14, 19, 22, 54, 56, 59, 75, 140, 264, 266–68, 274, 289, 382–84, 385 Europamüdigkeit 470 Europapolitik 457–78 Europaverband der Selbständigen (BvD) 95 europaweite Tarifverhandlungen 413, 414 European Association of Craft, Small and Mediumsized Enterprises (UEAPME) 33, 95, 267, 268, 432 European Automobile Manufacturers Association (ACEA) 384 European Centre of Employers and Enterprises providing Public services (CEEP) 33, 425, 426, 430 European Chemical Employers Group (ECEG) 397, 410, 413 European Chemicals Industry Council (CEFIC) 267, 268, 383 European Employers Network (EEN) 427 European Engineering Industries Association (EUnited) 268 European Federation of Pharmaceutical Industry Associations (EFPIA) 268 European Free Trade Association (EFTA) 465
540 European Information and Communications Technology Industries Association (EICTA) 268 European Mine, Chemical and Energy Workers Federation (EMCEF) 410, 413 European Recovery Program (ERP) 462 European Round Table of Industrialists (ERT) 267, 268, 432, 435 European Trade Union Confederation (ETUC) 33 Eurosklerose 461, 471 Euroverbände 424, 426, 428, 429, 430, 433, 434, 436 exit power 346 exogene Konflikte 444 Exportorientierung 10 Fachverbände 91, 301, 302, 343, 365, 372 Fachvereinigungen 284 fairer Wettbewerb 292 Familienunternehmen 282, 293 FDP 78, 95, 242, 270, 271, 272, 273, 274, 378, 413 Féderations Européennes des Branches Industrielles (FEBIs) 267 Finanzmarktlogik 23 Firmenkonsortien 420 Flächentarifverhandlungen 333 Flächentarifverträge 10, 14, 21, 23, 37, 40, 161, 172, 173, 179, 209, 210, 211, 212, 216, 217, 236, 239–43, 245, 249, 254, 255, 256, 273, 276, 281, 316, 318, 319, 322, 324, 326, 328, 330, 332, 334, 336, 408, 414, 445, 448, 449, 450, 452 Erosion 454 Flexibilisierung 241, 242, 255, 287, 318, 328, 409 Flexibilität 322 Kartell- und Ordnungsfunktion 326 negative Anreize 449 Öffnung 454 positive Anreize 448, 453 Produktivitäts- und Innovationsfunktion 326 Sicherung der Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten 326 Flexibilisierung der Arbeitszeit 33 Flick-Affäre 274 Flugzeugbau 466 Flurbereinigung der Verbändelandschaft 445 Föderalismus 76, 280–94, 400 Fördermitgliedschaften 160 Frankfurter Erklärung zur Reform des Flächentarifs vom 17. November 1997 37 Frauenförderung 405 freie Verbände 52, 70, 71 Friedenspflicht 241, 248, 249, 250, 251, 253, 325, 326, 331 Frühverrentungspolitik 344, 356 Fundstellenverzeichnis des Deutschen Bundestages 274 funktionale Aufgabenteilung 343
Sachregister funktionale Ausdifferenzierung des intermediären Systems 264, 265 funktionale Differenzierung 420, 444 funktionale Spezialisierung 444 funktionalistische Verbandstheorie 152 Funktionswandel 453 Fusion der Dachverbände 12, 32, 38, 56, 57, 59, 154, 266, 445 Fusionen 445, 453 Gastmitgliedschaften 139, 160, 172 Gastronomie 246 Gefahrengemeinschaft 156, 286 Gegenmachtfunktion 140 Gegenverbände 30, 40 gemäßigter Kapitalismus 13 Gemeinsame Geschäftsordnung (GGO) 262, 269 Gemeinsamer Agrarmarkt 466 Gemeinsamer Markt 424, 464, 465 Gemeinschaftsausschuss der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft 94 Gemeinschaftsverbände 395 Gemeinwohl 376, 381, 386 Gemeinwohlorientierung 264, 386 Gemeinwohlverträglichkeit wirtschaftlichen Handelns 376 gemischte Verbände 292 Generationenwandel Siehe Generationswechsel Generationswechsel 18–19, 22, 34, 35, 39, 56, 281, 284, 293, 294, 321 Genfer Völkerbund 462 Gesamtmetall 27, 28, 36, 37, 152, 155, 175, 216, 221, 228, 229, 241, 253, 255, 268, 280, 320, 324, 326, 331, 336, 343, 403, 454, 514–15 Organisationsgrad 176 OT-Mitgliedschaften und -Verbände 177–78, 324 gesamtwirtschaftliche Nachfrage 244 Geschlossenheit 320, 322 gesellschaftliche Akzeptanz 60 gesellschaftlicher Wandel 16–18 Gesetzgebungsprozess 343 Gesetzgebungsvorhaben 426 Gesundheitspolitik 334 Gesundheitsschutz 372 Gesundheitswesen 248, 275 Gewerkschaften 12, 15, 22, 29, 30, 33, 34, 37, 38, 39, 43, 55–56, 71, 136, 137, 211, 217, 218, 236– 56, 271, 280, 282, 283, 291, 292, 293, 294, 301, 304, 316, 319, 324, 325, 326, 328, 331, 333, 334, 335, 336, 342, 344, 350, 351, 352, 354, 355, 378, 381, 395, 404, 407, 409, 410, 411, 413, 414, 420, 423, 426, 436, 441, 442, 443, 448, 449, 453, 474, 504–5 Anpassungsbereitschaft 254 Branchengewerkschaften 364 Defensivposition 237 europäische Gewerkschaftsverbände 427 Fachgewerkschaften 343
Sachregister historische Entwicklung 494–501 Kooperationspartner der Arbeitgeber 247 künftige Rolle 253–56 Legitimationsbeschaffung 409 Lohnpolitik 243–46 Mitgliederwanderungen 248 Öffnungsklauseln von Tarifverträgen 240, 241 OT-Verbände und -Mitgliedschaften 161 qualitative Tarifpolitik 255, 256 quantitative Tarifpolitik 243 rivalisierende Berufsgewerkschaften 239, 242, 248, 254, 256 Schwäche 276 Spartengewerkschaften 253, 254, 256 standortorientierte Tarifpolitik 255 Streikfähigkeit 248 tarifpolitische Offensive 256 tarifpolitischer Einfluss 243 gewerkschaftlicher Organisationsgrad 281, 325, 450, 455 Ghenter System 352 Gleichschaltung 71 Global Player 14, 15 globale Finanzmärkte 384 Globalisierung 11, 14–16, 19, 22, 39, 43, 56, 59, 140, 180, 236, 245, 249, 253, 254, 256, 264, 291, 330, 336, 381, 384–85, 385, 396, 414, 437 grenzüberschreitende Tarifpolitik 256 Groß- und Außenhandel 251 Groß- und Einzelhandel 286 Große Koalition 54 große Unternehmen 15, 89, 100, 130, 135, 136, 141, 158, 211, 217, 223, 245, 273, 318, 320, 324, 326, 327, 333, 367, 398, 421, 434, 436, 437, 442, 445, 448, 449, 450, 454, 476 Großindustrie 50, 351, 353 Gruppenarbeit 412 Günstigkeitsprinzip 240, 241, 242, 327, 332 Handel 293 Handelskammern 68 Handwerk 247, 271, 451 Handwerkskammern 70, 79, 172, 432 Handwerksordnung 71 Härtefallklauseln 327 Hartz-Kommission 197 Hauptstelle der deutschen Arbeitgeberverbände 30 Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) 247, 433, 516 Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE) 93, 94, 367 Haus der Europäischen Kammern 95 Haus der Europäischen Wirtschaft 95 Haushaltsverbände 301 Haustarifverträge 21, 161, 217, 239, 293, 322, 448, 452 Heterogenisierung 58, 140, 166 Heterogenität 15, 129, 150, 275, 317, 321, 333, 363, 366, 373, 385, 431, 441, 442, 454
541 Heuschreckendebatte 377 hierarchische Gliederung des Verbändesystems 450 High-Trust-Beziehungen 318, 325 Hochrisikosektoren 348 Holzindustrie 36, 251 Homogenität 317, 321, 344, 375, 430, 436, 441 humankapitalbasierte Sektoren 347 Humankapitalbildung 350 Humankapitalinvestitionen 345, 347, 348, 352, 357, 358 Hump-Shape-Hypothese 249 IG BAU 200 IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) 240, 242, 255, 324, 364, 383, 401, 404, 406 IG Chemie 364 IG Chemie-Papier-Keramik (IG CPK) 401, 403, 404, 406, 408, 409, 410, 411, 413 IG Metall 32, 36, 37, 152, 186, 191, 201, 214, 216, 239, 240, 242, 249, 253, 255, 280, 283, 335, 343, 414 IHKG 71 Implementation umweltpolitischer Maßnahmen 367 Individualisierung 17, 22, 39, 58, 179, 307 Industrialisierung 283 Industrial-Relations-Forschung 236 Industrie- und Handelskammern 12, 48, 52, 66–80, 171, 172, 266, 342, 431, 502 Anpassungsprozesse 79 Aufgaben 72 Corporate Identity 73 Domänenkonflikte 76 Entwicklungstendenzen 75–78 europäische Integration 76–77 Finanzierung 77, 79 Geschichte 68–71 Handlungslogik 13 Hauptgeschäftsführer 72, 73 Heterogenität 72–73 Interessenvertretung 74 Kammerorgane 72 Landesarbeitsgemeinschaften 73 Leistungserbringung 74 Mitbestimmung 71 Mittelstand 94 Pflichtmitgliedschaft 15, 66, 67, 68, 72, 76, 77– 78, 80, 174–75 politischer Einfluss 74–75 Präsident 72, 73 Prinzip der doppelten Repräsentation 72 Reform 67–68 Regionalisierung 76 Struktur 72 Vollversammlung 72, 73, 77, 79 Vorstand 73 wirtschaftliche Selbstverwaltung 71 Wirtschaftskammer 79
542 Zufriedenheit der Mitglieder 74, 78–79, 80 Industrieflügel 262 industrielle Arbeitgeber 354 industrielle Beziehungen Koordinierung 250 Zentralisierung 250 industrieller Frieden 349 industrieller Sektor 453 Industriepolitik 409, 414 Industrieverband Körperpflege und Waschmittel (IKW) 365 Industrieverbände 342, 420 Informations- und Beratungsdienste 446 Informations- und Kommunikationsbranche 56, 183–202 Arbeitgeberverbände 191–92 BDI 188–89 Entwicklungstendenzen 201, 202 gesamtwirtschaftliche Bedeutung 184–85, 185– 86 Gewerkschaften 184, 186, 191 individualisierte Arbeitsregulation 187, 188 Organisationsgrad 186 OT-Verbände 192 Softwaresektor 190 Struktur 185 System der industriellen Beziehungen 186–88 tarifliche Arbeitsregulation 187 Telekommunikationssektor 190 unternehmensbezogene Arbeitsregulation 187, 188 Wirtschaftsverbände 188–90 Informationsfunktion 270 Informationsgesellschaft 299 Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) 38, 158, 221, 228–30, 357, 403 innerverbandlicher Interessenausgleich 292 Innovationsfähigkeit 322 Innovationskultur 226 institutionelle Investoren 384 Institutionenökonomie 433 Institutionenordnung 316 Institutionentransfer 34, 56, 75, 210, 355, 356 instrumentelle Machtressourcen 345 Integration 60 Integrationsfähigkeit 16 Integrationsprobleme 34 integrierte Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände 11, 503 Interdependenz der Politikfelder 421, 445 Interessenartikulationsfähigkeit 310 Interessenbündelung 429, 430 Interessendivergenz 76 Interessendurchsetzungsfähigkeit 307, 310 Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ) 197, 199 Interessenverband Selbständiger 92 Interessenverbände der Wirtschaft 300, 301
Sachregister Interessenvermittlungsfähigkeit 307 Interessenvertretung Siehe Lobbying Intergouvernementalismus 476 intermediäre Organisationen 26, 126, 220, 221 internationale Beweglichkeit des Kapitals 384 Internationale Handelskammer 73, 462 internationale Kartelle 462, 463 internationale Verbände 335 internationale Wettbewerbsfähigkeit 370 internationaler Wettbewerb 179, 250, 331 Internationalisierung 14, 59, 98, 249, 277, 294, 330, 345, 428, 453 interne Informations- und Vermittlungsleistungen 300 interne Verteilungsgerechtigkeit 454 interorganisatorische Differenzierung 450 Interventionsstaat 376 Investitionen 345 Investitions- und Innnovationsbedingungen 327 Investitionsentscheidungen 370 Investitionsnachfrage 244 Investitionsverweigerung 370 Jahrhundert der Mitglieder 18 Jahrhundert der Verbände 17, 20, 43 Job-AQTIV-Gesetz 193, 196 Jugend in Arbeit 289 Kaiserreich 248, 350, 352, 353, 357, 461 Kalter Krieg 33 Kammerforschung 67 Kammergesetz 69 Kammern 443, 449 Kammersystem 420 Kammerverbände 91 Kampagne „Du bist Deutschland“ 221, 226–28 Kampagne „Forschung ist die beste Medizin“ 226 Kampagnen 222, 226, 288, 308, 357, 382, 403, 410, 446 Kanzleramt 269 Kanzlerrunden 268 Kartell der Tarifverbände 331 Kartellparteien 272 Kaskadenmodell 426 kaufmännische Korporationen 69 Kautschukindustrie 251 Kernenergie 379, 380 Kern-Europa 470 Kfz-Handwerk 237 Klassenkampf 280 Klassenkonflikte 294, 346, 347, 349, 352 Klassenlage von Kapital und Arbeit 441 Klassentheorie 131–33, 441, 442 klientelistische Verteilungskoalitionen 422 Klimaschutzpolitik 367 KMU 15, 21, 27, 37, 139, 179, 211, 217, 245, 246, 273, 318, 320, 321, 323, 324, 326, 329, 333, 353, 367, 398, 447, 450, 451, 453, 454, 476 KMU-Verband der Klein- und Mittelstandsunternehmen 92
Sachregister Koalitionsfreiheit 250, 325 kollektive Güter 128, 170, 286, 319, 375, 446 kollektive Interessen 441, 447 kollektive Konfliktregelung 326 kollektive Tarifvertragsparteien 325 kollektives Handeln 437 Kollektivgutproblematik 100, 118, 128, 282 Kombilohn 288 Kommerzialisierung 446, 453, 454 Kommunale Arbeitgeberverbände 106–9 Bundesebene 113–14 Dachverband 110 Dienstleistungen 118–19 Gruppenausschüsse 108–9 Haupt- oder Verhandlungsausschuss 107 Mitgliederversammlung 107 Mitgliedschaft 106 Ressourcen 111–12 VKA 119–20 Vorstand 107–8 Kommunikation 298–310 Kommunikationsgesellschaft 299 Kompromiss- und Politikfähigkeit 317 Kompromissfähigkeit 327 Konfliktkosten 319 konfliktorische Kooperation 294 Konfliktpartnerschaft 218, 236, 407 konfrontative Handlungsformen 363 Konjunktur 321 Konkurrenten 282, 292 Konkurrenz 395 Konsensbildung in der Entscheidungsfindung 318 Konsumnachfrage 244 Konsumstabilisierung 345 Kontrollkompetenz 322 konzertierte Aktion 55 Konzertierung 289 kooperative Umweltpolitik 376 kooperativer Staat 385 kooperativer Wettbewerb 13 Koordinationsfähigkeit 333 koordinierte Ökonomie 260, 261, 263, 292 koordinierte Tarifsysteme 446 koordinierter Kapitalismus 275 Koordinierung 445, 446, 450, 453 Koordinierungskreis 427 Koordinierungsrichtlinien 335 Korporatismus 11, 54, 140, 150, 223, 263–64, 270, 293, 372, 376 Ende des Korporatismus 274, 275 moderater Korporatismus 331 korporatistische Arrangements 140, 264, 335, 357, 376 korporatistische Entscheidungsgremien 357 korporatistische Selbstverwaltung 356, 358 korporatistische Strukturen 261 Erosion korporatistischer Strukturen 230, 261 korporatistische Tendenzen 336
543 korporatistische Tradition 224 korporatistisches Elitenkartell 264 korporatistisches Modell 331 Korruption 368 Kostendruck 211 Kosteneinsparungen im Sozialbereich 356, 357 Kosten-Nutzen-Kalkül 150, 275, 276, 281, 442 Kostenverlagerung auf die Zulieferer 327 Kräfteparallelogramm 263 Kriegsausschuss der Deutschen Industrie 50 Krise der intermediären Organisationen 220 Krisenpolitik 409 Kündigung von Tarifgemeinschaften 237 Kunststoffindustrie 251 Landesbanken 224 Landesregierungen 280, 288, 289, 369 Landesverbände 400 Landesvereinigungen 280, 282, 284, 288, 291, 292, 331, 343 Landwirtschaft 354, 424 latente Gruppen 128 Law Firms 267, 268–69, 325, 420 Lebensmitteleinzelhandel 224 Legitimation 300, 370 Legitimationsbeschaffung 409 Legitimationsgewinne 270 Legitimität 344 Leistungskürzungen im Sozialbereich 356 liberale Marktökonomie 260, 276, 277 Liberalisierung 17, 275, 333 Liberalisierung des innereuropäischen Handels 462 Lobbying 222, 223, 230, 249, 260–61, 267, 274, 275, 277, 298, 305, 309, 363, 368–69, 371, 374, 465, 477 direktes Lobbying von Unternehmen 223–26, 275, 421, 437, 438 direkt-persönliches Lobbying 20, 300 informelles Lobbying 426, 435 Multi-Voice-Lobbying 223, 267 Lobbyingdienstleister 268, 269 Lobbyismus 459 Lobbyisten 221, 224, 275, 435 lobbyistisches Mehrebenensystem 267 Lobbyliste 93, 264–65 Logik der unkoordinierten Märkte 333 Lohndumping 246 Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 294 Lohnkosten 342, 348, 355, 357 Lohnkostensteigerungen 318 Lohnpolitik 211, 243–46, 444 angebotsorientierte Lohnpolitik 244 Erfolgsbeteiligungen 245 gesetzlicher Mindestlohn 246–47 Inflationsausgleich 243, 245 leistungsabhängige Vergütung 245 Lohnzurückhaltung 244, 254 marktgerechte Lohndrift 244
544 produktivitätsorientierte Lohnpolitik 243, 244 relative Lohnzurückhaltung 290 Umverteilungskomponente 243 variable Einmalzahlungen 244 lohnpolitischer Verteilungsspielraum 249, 253 lokale Arbeitgeberverbände 282, 289 lokale Honoratiorenmilieus 283 Machtressourcenansatz 346 magisches Viereck 10 makroökonomische Performanz 249 Makrosektoren 444 managergeführte Unternehmen 19, 35 Margarethenhof-Vereinbarung 250, 251, 252 Markenverbände 158 Marktinstrumente 380 marktkonforme Lösungen 380 marktliberale Umweltbedingungen 275 Marktliberalisierung 320, 423 Marktmacht 318 Marshallplan 423, 462 Maschinenbau 54 Massenmedien 299 Medialisierung 59, 220, 230 Medien 298, 299, 304 Medienarbeit 307 Medienberichterstattung 308 Mediengesellschaft 221, 226, 273, 298–310, 299, 310 Medienkampagnen 357 Medienlogik 299 medienöffentliche Aufmerksamkeit 304 Medienpräsenz 304, 307, 308, 309 Mediensystem 299 Medienunternehmen 226 Mehrebenen-Einflusslogik 437 Mehrebenenlogik 433 Mehrebenenpolitik 267, 289 Mehrebenenspieler 433 Mehrebenensystem 335, 382 Mesokorporatismus 289 Metall- und Elektroindustrie 32, 191, 214–15, 216, 237, 241, 244, 251, 253, 255, 322, 323, 329, 334, 403 Organisationsgrad 320 Metall-Arbeitgeberverbände 274 Metallindustrie 27–28, 36, 39, 217, 249, 252, 293, 326, 327, 413 Metallrente 343 Mindestarbeitsbedingungengesetz 336 Mindestlöhne 14, 198, 246–47, 329 Ministerialbürokratie 298, 343, 345, 369 Ministerien 269, 270, 369 Ministerrat 466, 473, 477 Mitbestimmung 39, 317, 318, 325, 332, 406, 410, 453 Mitbestimmungsgesetz 410, 411 Mitgliederaustritte 319 Mitgliederbindung 307
Sachregister Mitgliederdomäne 451 Mitgliedereinheit 442, 451 Mitgliederlogik 140, 317, 321, 323, 324, 333, 335, 336, 363, 366–68, 429, 430 Mitgliederrückgang 454 Mitgliederstärke 450 Mitgliederverbände 91 Mitgliederverlust 324 Mitgliedschaftsanreize 169, 170, 448 Mitgliedschaftsentwicklung 20–21, 22, 304 Mitgliedschaftslogik 17, 151–52, 169–71, 171, 282 Mittelstand 85, 87–90, 215, 271, 354 Interessenvertretung 96–97 mittelständisches Milieu 100 Netzwerke 90 staatliche Förderung 101 Standortnachteil 98 Steuerrecht 98 Tarifabschlüsse 100 wirtschaftliche Bedeutung 88, 89 Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU (MIT) 93, 94, 95, 271 Mittelstandsdefinition 88 Mittelstandsgesellschaft 87 Mittelstandsverbände 85–103 Abgrenzung 96 allgemeine Mittelstandsverbände 97, 102 Branchen- und Fachverbände 93, 102 Dachverbände 93, 95, 102 Deregulierung 101 Entwicklungstendenzen 102–3 Europäisierung 95 Europaverbände 95 Heterogenität 100, 102 Interessenvertretung 99 Legitimation 97 Mitgliederzahlen 90, 97 Organisationstypen 90, 92 Qualität der Interessenvertretung 96 Rationalisierungsprozesse 103 Serviceleistungen 99 spezifische Interessen von KMU 100–101 Verbandsfusionen 102 Vernetzung 97–98, 101–2 Zufriedenheit der Mitglieder 98–99 Mobilisierungsagenturen 382 Modell Deutschland 9–11, 20, 21–23, 26, 39, 40, 261, 281, 284, 291, 292, 293, 294 moderierender Staat 376 moderner Sozialstaat 346 Montanmitbestimmung 54, 410 Montanunion 458, 463, 464 Multiebenenverbände 154 multi-employer bargaining 319 Nachfolgeregelung 293 Nachhaltigkeitsdebatte 377, 381 Nachkriegszeit 16–17, 353–54 Nachrichtenfaktoren 308
Sachregister nationale Koordinierungskreise 420 Nationalsozialismus 31, 44, 51–52, 262, 457, 462 Nationalstaat 336, 385 Nebenprodukttheorie 128 negative Arbeitsplatzeffekte 370 negative Integration 423, 463 Neokorporatismus 151–52, 374, 433 neokorporatistische Arrangements 372, 376 neoliberaler Umbau der Gesellschaft 446 neoliberales Modell der industriellen Beziehungen 330 Neopluralismus 152, 263 Netzwerkanalyse 433 Netzwerke 292, 293, 431 neue Bundesländer 33–35, 75, 137–38, 177, 239, 246, 318, 319, 320, 323, 355–56, 395 Organisationsbedarf 138 Organisationsfähigkeit 138 Organisationsgrad 175 OT-Mitgliedschaften und -Verbände 34–35, 214–15 Verbändeaufbau 34 wirtschaftlicher Strukturwandel 356 neue Eigentumsverhältnisse 281 neue Eliten 293 Neue Partnerschaft 37 neue politische Ökonomie 150–51, 375–76 neue soziale Marktwirtschaft 228 neuer Mittelstand 87 Neustrukturierung der Verbändelandschaft 262 New-Deal-Reformen 348, 349 nichtöffentliche Verbandskommunikation 299 nichttarifgebundene Betriebe 323 Niedriglohnkonkurrenz 247, 356 Niedriglohnsektor 246, 356 Nischenverbände 433, 434 Novemberrevolution 262, 350 NRW Metall 283 offene Koordinierungsmethode 436 Offener Wirtschaftsverband von klein- und mittelständischen Unternehmen (OWUS) 95 öffentliche Verbandskommunikation 299 öffentlicher Dienst 237, 245, 251 öffentlicher Druck 300 Öffentlichkeit 56, 225, 226, 298, 299, 342, 446 Öffentlichkeitsarbeit Siehe Public Relations Öffnungsklauseln 217, 237, 239–40, 242, 250, 327, 328, 332, 409 Zustimmungsvorbehalt 240, 243, 327 Ökologiebewegung 379 ökologische Effizienzgewinne 372 ökologische Nachhaltigkeit 406 ökologische Nischenverbände 365 Ökonomie vs. Ökologie 364, 380 ökonomische Sachzwänge 256 ökonomische Theorie der Politik 374–77 ökonomischer Strukturwandel 15, 20, 56, 75 Ökosteuer 364, 370, 371, 381, 386
545 Oligarchisierungsthese 285 Ölkrise 249, 378 Olson, Mancur 68, 117–20, 127–31, 150, 170, 280, 375, 441 Ordnungsfunktion 270 Organisation der Arbeitgeberverbände der westeuropäischen Metallindustrie (WEM) 425 Organisation for European Economic Co-operation (OEEC) 423, 462, 463, 465 Organisationsbedarf 134 Organisationsfähigkeit 134, 139, 317, 319–22, 333 Organisationsgrad 23, 130–31, 132, 133, 151, 319–22, 320, 331, 332, 333, 449–50, 449, 453, 454 Organisationsloyalität 306, 307 Organisationsmacht 331 Organisationsneigung der Firmen 363 Organisationstheorie 441–42, 286, 441–42 Orientierung am Tarifvertrag 322, 323, 334 Orientierungsfunktion 270 Osterweiterung 457 OT-Mitgliedschaften und -Verbände 22, 34–35, 36, 40, 139, 155, 161–62, 165, 172–73, 172–73, 177–78, 209–18, 237, 240, 245–46, 254, 281, 282, 286, 293, 321, 323–24, 409, 452, 454 chemische Industrie 409 Folgewirkungen 216–18 Holzindustrie 173, 209, 215 Informations- und Kommunikationsbranche 192 Instrumentalisierung 216 Kunststoffindustrie 215 Metall- und Elektroindustrie 215 Metallindustrie 209 mitgliederorientierte Strategie 217 Mitgliedschaftsbeiträge 209 Mittelstand 215 öffentlicher Sektor 117 Rechtsprechung 212–14 Steine- und Erdenindustrie 215 tarifpolitisches Instrument 214, 217, 245–46 Textilindustrie 173 Ursachen und Motive 210–12 verbandliche Konstruktion 209 Vorreiterbranchen 215 Outputfunktion 299 Outsourcing 35, 211 Papierindustrie 251 paritätische Selbstverwaltung 344 Parlamente 342, 345 Parlamentskreis Mittelstand (PKM) 95 Parteibindung 272 Parteien 271–74, 298, 342, 345 Parteienfinanzierung 273–74 Parteiengesetz 273 Parteiensystem 273 Parteien-Verbände-Integration 271 Parteispenden 274, 368
546 Parteiverbände 91 partikulare Interessenvermittlung 304 Partikularinteressen 225, 264, 270 partizipative Steuerung 430 Pazifizierung 351, 357 PDS 95 Personalabbaumaßnahmen 453 Personalunion 291 Personenverbände 301 Pfadabhängigkeit 263, 317, 330, 336, 395 Pflichtmitgliedschaft 77–78, 99, 129, 172, 174–75, 276, 443, 449 Pforzheimer Abkommen 239, 240, 242, 255, 327 pharmazeutische Industrie 54, 59, 265, 430 Pluralisierung 21, 58, 264, 438 Pluralismus 103, 128, 263, 270, 303, 374, 433 pluralistisches Lobbysystem 275 Politikausführung 270 Politikberatung 222 Politiker 309 Politikfähigkeit 326, 329, 330, 334, 386 Politikformulierung und -umsetzung 371 Politiknetzwerke 270 politisch-administratives Entscheidungssystem 298, 306, 308, 309, 310 politische Diskurse 370 politische Interessendurchsetzung 305, 306 politische Interessenvermittlung 305 politische Kommunikation 220–30, 221–22 integriertes Kommunikationskonzept 225–26, 230 Professionalisierung 222, 225, 261 politische Kommunikationsagentur 228, 229 politische Rahmenbedingungen 346 politische Union 465, 472 politischer Unternehmer 131, 171, 189 Porter-Hypothese 377 positive Integration 423 Pressearbeit 307 Pressemitteilung 307 Primärverbände 444, 450 Prinzip des sozialen Kompromisses 351 private Beratungsunternehmen 325 private Güter 128, 446 Private-Corporate-Strategien 437 Privatisierung 446 Produktivität 352 Produktmärkte 317, 318 Produktmarktinteressen 135, 198, 284, 342, 441, 443, 444, 448, 450 Produzentenclubs 420 Produzentenlogik 23 Professionalisierung der Politik 273 Profitabilität 345 Public Affairs 222 Public Affairs Consultants 267 Public Interest Groups 267 Public Relations 222, 298–310, 446
Sachregister Determinanten 304 Einfluss auf die Gesetzgebung 304 Einfluss von Mitgliederstrukturen auf die PR 307 gesellschaftliche Funktion 303 Institutionalisierungsgrad 302, 309, 310 Instrument der politischen Interessendurchsetzung 303–4 Instrumente 307 Integrationsfunktion 303 Intensität 305 Kernfunktion 300 Mitgliederorientierung 307 Professionalisierung 310 Public-Relations-Stellen 304 Typen der Institutionalisierung 306 Zielgruppen 306 Zugang zu Medien 308 Zusammenspiel mit Lobbying 309 Public-Affairs-Agenturen 221, 222, 223, 224, 230, 268, 269, 385 Public-Affairs-Konzept 224, 225 Public-Relations-Forschung 301–2 Public-Relations-Strategie 225 Push-Strategie 289 Qualifikation der Mitarbeiter 318, 347 Qualifizierung 318 Qualifizierungsregelung 328 Qualifizierungstarifverträge 255, 256 Rahmenabkommen 445 Rahmenvereinbarungen 426, 427 Rat der europäischen Industrien (REI) 424 Rational-Choice-Theorie 128, 170 Rationalisierung 318 Rationalisierung durch Institutionen 294 Rationalisierungsprozesse 102 REACH 366, 383, 410 Reaktionsthese 428 Rechtsfolgen der Mitgliedschaft 451 Referenten 269 reformistische Kräfte 349 Regierungen 342 Regierungsinitiative „Partner für Innovation“ 226 Region 282–83 regionale Arbeitgeberverbände 31, 39, 280–94 Dienstleistungen 280, 281, 294 Entwicklungstendenzen 293–94 Funktionäre 281 Geschäftsführer 283, 291 Geschichte 291 Hierarchiestufen 283 interne Willensbildung 281 Kernfunktionen 285 kollektive Güter 286 Kooperationsbereitschaft 291 Mitgliederstärke 281 Organisationsstrukturen 283–85 personelle Kontinuität 283
Sachregister personelle Verflechtungen 283 selektive Dienstleistungen 286 Trennung in Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände 284 Vorstände 281, 283, 291 regionale Beratungszentren 288 regionale und lokale Beschäftigungsbündnisse 289 regionale Wirtschaftskultur 283 regionales Sozialkapital 281, 283, 288, 291, 292, 293 Regionalisierung 75, 76, 289 Regionalverbände 155, 400 Regulierungsdichte 224 Reichsarbeitsgemeinschaft Chemie 396 Reichsgruppe Industrie 262 Reichsstand der Deutschen Industrie 262 Reichstag 262 Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) 50, 261, 262, 353, 462 Reichswirtschaftskammer 51 Reichswirtschaftsrat 51 Rekrutierungsfähigkeit 336 Rente 334 Renten- und Invalidenversicherung 351 Rentenreform 355 Reorganisation 266 Repräsentation partikularistischer Interessen 322 Repräsentationslücken 14, 20, 22 Responsible Care 406 Responsible-Care-Programm 373, 385, 406 Ressortlogik 369 Ressourcen 304, 442, 448 Ressourcenansatz 134–37 ressourcenpolitische Organisationstheorie 442 Restrukturierungen 453 revolutionäre Gefahren 349 Rezession 378 Rheingauer Erklärung 324 Rheinischer Kapitalismus 260, 275, 291, 395 Riester-Reform 343 Römische Verträge 424, 458, 464, 465, 466, 469, 471, 475 rot-grüne Bundesregierung 381, 412 Rückbau des Wohlfahrtsstaates 446 Säule I 266 Schlichtung 250–52, 403 Kompromissschlichtung 253 obligatorische Schlichtungsverfahren 248, 252, 253 Pendelschlichtung 253 Schlichterspruch 251 Schlichtungsabkommen 250–52 Schlichtungsstelle 251 Ultima-Ratio-Prinzip 251 Zwangsschlichtung 51, 250 Schnuppermitgliedschaften 161, 172 Schreiber-Plan 355 schulische Bildung 288
547 Schumanplan 463, 464 Schutzfunktion 449 Schutzgemeinschaft 156, 286 Schwarzarbeit 246 schwarze Listen 30, 248 schwedisches Industrieabkommen 252 schweizerisches Friedensabkommen 252 Schwerindustrie 49, 51, 54, 55, 347, 351, 352, 464 sektorale Ausdifferenzierung 56 sektorale Konflikte 346, 348 sektorale Lohnverhandlungen 249 sektorale Marktbedingungen 436 sektorale soziale Dialoge 425 Sektorverbände 445 Selbstverpflichtung 281, 406 Selbstverwaltungskörperschaften 260, 276 selektive Anreize 102, 179, 281, 286, 441, 446 selektive Dienstleistungen 286 selektive Güter 171, 179 selektiver Ausschluss von Verbandsleistungen 368 semisouveräner Staat 276 Septemberstreiks von 1969 249 Serviceleistungen 446, 449 Shareholder-Value-Orientierung 276, 385 Skandalisierungspotenzial 310 Solidaritätsfonds 447, 448, 449 Sonderkündigungsrechte 139, 173–74 Sondersteuergebiet DDR 356 Sozialdemokraten 351, 352, 354, 358 soziale Dialoge 33, 335, 413, 425, 426, 427, 428, 430, 433, 436, 472, 474, 475 soziale Marktwirtschaft 33, 350, 403, 406 soziale Pakte 445 soziale Selbstverwaltung 10, 32, 39, 343, 344 soziale Stabilität 350 sozialer Frieden 248, 318, 319, 320, 350, 355 sozialer Trialog 55 Sozialgesetzgebung 426 Sozialistengesetze 351 Sozialkapital 292, 294 Sozialkassensystem 407 Sozialleistungen bedarfsgeprüfte Sozialleistungen 353, 358 einkommensbezogene Sozialleistungen 356, 358 Sozialpartner 425, 426, 427, 433, 436, 470, 474, 475 Sozialpartnerschaft 12, 33, 280, 294, 395 Sozialpartner-Vereinbarungen 411, 412, 414 Sozialplantarifverträge 243, 253, 256 Sozialpolitik 334, 342–58 Anpassungsthese 346, 347, 348–49, 350 Arbeitskostendimension 350 Eigeninteressensthese 346, 347–48, 350, 357 Eindämmungsstrategie 350 Interessenhomogenität 343 konservative Sozialpolitik 358
548 Kostenbegrenzungen 351 Pazifizierungsdimension 350 Pazifizierungsstrategie 350 Präferenzwandelsthese 349 sozialdemokratische oder liberale Sozialpolitik 358 sozialstaatliche Institutionen 345 wirtschaftliche Effizienzeffekte 345 Zentralisierung 343 Sozialpolitische Arbeitsgemeinschaft Steine und Erden 155 sozialpolitische Harmonisierung 465 sozialpolitische Institutionen 346 sozialpolitische Reformen 346, 348, 349, 350, 351, 356, 357, 358 Sozialstaat 292 Ausbau des Sozialstaats 355, 357, 358 Bismarck’scher Sozialstaat 353, 354, 356 historische Entwicklung 346, 350–57 sozialstaatliche Institutionen 346 Sozialversicherung 292 Sozialversicherungsprogramme 351 Sozialversicherungssysteme 276 Spartentarifverträge 254 SPD 77, 95, 350 spezifische Dienstleistungen 286 Spielarten-des-Kapitalismus-Ansatz 347 Staat 53, 54–56, 57, 443, 445, 449, 455 staatliche Akteure 363 staatliche Disziplinierungsmaßnahmen 368 staatliche Handlungsfähigkeit 270 staatliche Interventionen 377 staatliche Regulierung 224, 375, 444 staatliche Vergünstigungen 368 staatliche Verwaltung 344 staatliche Zwangsschlichtung 51 staatliches Engagement 336 staatliches Handeln 270 staatsbürgerliche Vereinigungen 273 Staatsentlastungsfunktion 376, 377 staatsfreie Sozialsphäre 325 Staat-Verbände-Beziehungen 363 Staat-Verbände-Kooperation 372 Stabilität 60, 260 Stahlkonzerne 224 Stakeholder-Konzept 291 Standardisierung der Arbeitsbedingungen 326 Standort-Deutschland-Debatte 380 Standortsicherung 59, 327, 408 Standortvereinbarungen 328 Steine- und Erdenindustrie 251 Steuerbefreiung beim Verkauf großer Unternehmensbeteiligungen 294 Steuereinnahmen 345 steuerpolitische Reformen 356 Steuerungs- und Selbststeuerungspotential 58 Steuerungsfunktion 436 Steuerungspotentiale 289
Sachregister Steuerungstheorie 263 Stiftungen 222, 225, 405, 407 Straßenfahrzeugbau 364 Streik 29, 35, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 255, 280, 286, 318, 320, 448 Streikanfälligkeit 249, 250 Streikbewegungen 280 Streikfonds 172 Streikkassen 249 Streikrecht 252, 325, 330 Streikversicherungen und Streikentschädigungsgesellschaften 156 Streikversicherungsfonds 343 strukturelle Anpassung 247 strukturelle Machtressourcen 345 Strukturfonds 473 Strukturfunktionalismus 169 Strukturkrise 211 Strukturwandel 98 Studienausschuß des westeuropäischen Kohlebergbaus 424 Stufentarifverträge 356 Subsidiaritätsprinzip 426 Substitutionalitätsproblem 140 Südwestmetall 191, 283 supranationale Integration 463, 464, 465, 466, 468, 469, 471, 472, 476 supranationale Politikorganisation 422 supranationale Regulierung 423, 427 supranationale Selbstregulierung 426 symbolische Gesetzgebung 372 symbolische Politik 446 System der funktionalen Interessenvermittlung 270 System kommunizierender Röhren 9, 36, 39, 236 Systeme der industriellen Beziehungen duales System der industriellen Beziehungen 316, 317, 325, 326, 330, 333, 334 Einfluss auf die politische Performanz 330 endogene Reformen 331 internationale Konvergenz 330 Koordination 331, 333 moderat korporatistisches Modell der industriellen Beziehungen 330, 333, 334 neoliberales Modell der industriellen Beziehungen 330 nichtduales System der industriellen Beziehungen 325–26, 330, 333 Pfadabhängigkeit 331 spezifisch deutscher Weg der Anpassung 330 unkoordinierte Verhandlungen 331 Verhandlungsstrukturen 331 Wettbewerbsfähigkeit 331 systemrelevante Leistungsverweigerung 369 Tarifabsenkungen 327 Tarifabweichungen 335 Tarifautonomie 12, 14, 55, 71, 247, 248, 250, 254, 280, 292, 316, 317, 319, 325, 330, 332, 336
Sachregister Tarifbindung 23, 217, 243, 245, 321, 322–23, 332, 452 Europa 323 Tarifbruch 237, 322 Tarifeinheit 242, 248, 253, 254 tariffähige Branchenverbände 280 Tarifflucht 140, 239, 241, 247 Tariffunktion 446, 448, 449, 453, 454, 455 Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und PSA (CGZP) 197, 198, 199, 200 Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) 112– 13, 517 Organe 112–13 Organisationskrise 122–23 Verhandlungskommissionen 113 Tarifgemeinschaften 248, 253 Tarifkartell 325, 332 Tarifkommissionen 286 tarifliche Sonderklauseln 281 tarifliche Überregulierung 322 Tariföffnungen 324 Tarifpartnerschaft 320 Tarifpolitik 71, 237, 249, 288, 316–36, 342, 343, 407–9 Altersvorsorge 328 Arbeitsentgelt 408 Arbeitszeit 407 betriebliche Komponente 329 betriebliche Lösungen 329 betriebsnähere Tarifpolitik 255, 407 Dezentralisierung 239, 240, 243, 256, 284, 330, 407, 445, 453 dreigliederiges Modell 329 Einmalzahlung 329 Flexibilisierung 293, 407 Jahresleistung 328 Kerngeschäft Tarifpolitik 325 kontrollierte Dezentralisierung 330 kooperative Tarifpolitik 407 Koordinierung 402 Langzeitkonten 328 organisierte Dezentralisierung 330 Pilotbezirke 402 Qualifizierung 328 Zentralisierung 324, 330, 402 Tarifstandards 246 Tarifsteigerungen 327 Tarifsysteme 446 Tarifverbände 240, 241, 245, 254 Tarifverfassungsgesetz 212 Tarifverhandlungen 239, 244, 248, 254, 282, 286, 325, 445 Arbeitskampfrisiko 249 Dezentralisierung 325, 326, 327, 330–32, 332 grundlegender Verteilungskonflikt 244 Konfliktlösungsmechanismen 239 Konfliktpotenzial 249 Koordination 333
549 makroökonomische Relevanz 330 Verlagerung auf die Unternehmensebene 445 Zentralisierungsgrad 249, 331, 332 Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ 328, 405 Tarifvertrag zur Förderung der Integration von Jugendlichen 328 Tarifvertrag zur Gestaltung des demografischen Wandels 256, 329 Tarifverträge 35, 404 Tarifvertragsgesetz 173, 214, 327 Tarifvertragssystem 349 Tauscharrangement 371 Tauschlogik 270 Tauschtheorem 222 Tauschtheorie 170 Technologiepolitik 409 Teilöffentlichkeiten 226 territoriale Beschäftigungspakte 290 Territorialverbände 91 Tertiarisierung 60, 178, 180 Textilbranche 36 Textilindustrie 49, 173, 351, 409, 427, 462, 465 The European Engineering Industries Association (ORGALIME) 268 Theorie der Regulierung 374–75 Theorie des kollektiven Handelns 68, 117–20, 127–31, 150, 282, 441 Thinktanks 222, 225, 302 Tourismusbranche 245 traditionalistische Verbände 434 traditionelle Formen der Vergemeinschaftung 307 Traditionsunternehmen 291 trans- und supranationale Interessenvermittlung 421 Transatlantic Business Dialog (TABD) 434 Transformationsprozess 19–21 transnationale Akteursrolle 430 transnationale Interessenabstimmung 428 transnationale Konzerne 420, 423 transnationale Kooperation 461 transnationale Regelungskonzepte 371 transnationale Verbände 421, 429, 430 transnationale Verbändekooperation 423 Transnationalisierung 437 tripartistische Arrangements 376 tripartistische Beiräte 445 tripartistische Gremien 289 tripartistische Koordinierung 289 Trittbrettfahrerproblem 68, 118, 128, 139, 170, 282, 319, 325, 367, 375, 441, 442, 446 überbetriebliche Konfliktregelung 325 überbetriebliche Tarifverhandlungen 325 überbetriebliche Vereinbarungen 318 übertarifliche Vergünstigungen 402 Ultima-Ratio-Prinzip 251, 252 Umsetzung von Tarifverträgen 286 Umverteilung von sozialen Risiken 347, 348
550 Umweltmanagementsysteme 373 Umweltpolitik 343, 363–86 „begünstigte“ vs. „belastete“ Industrie 366 Abschottung von Märkten 368 Beteiligung in Netzwerken 371 Drohen und Klagen 369, 370 Einflussnahme durch Experten 370–71 erhöhte Produktionskosten durch Regulierungen 364 Handlungsformen 363 Investitionssicherheit 368 Konflikt zwischen Arbeit und Umweltschutz 364 Kostenvermeidung 368 Lobbying 368–69 Positionen 363 proaktive Umweltpolitik 373–74 Rechtsweg 370 umweltpolitische Deregulierung 374, 381 umweltpolitische Phasenheuristik 377–81 umweltpolitische Regulierung 366, 379, 380 umweltpolitisches Vorsorgeprinzip 378 verbandliche Akteure 363 Vereinbarungen 372–73 Verhinderung umweltpolitischer Maßnahmen 369 Warnungen 370 Umweltprobleme als Industrialisierungsfolgen 364 Umweltschutz 54, 375, 381, 386, 405, 409, 477 Umweltschutzkosten 364 Umwelttechnologie 377 Umweltverbände 375, 376, 381, 382, 420 Unabhängigkeit 451 Unfallversicherung 344, 348, 351, 352 UNICE Advisory and Support Group (UASG) 268, 429 Union der Industrien der sechs SchumanplanLänder 424 Union der leitenden Angestellten (ULA) 410 Union mittelständischer Unternehmen (UMU) 92 Union of Industrial and Employers’ Confederations of Europe (UNICE) 267, 268, 383, 424, 425, 426, 427, 429, 430–31, 435, 438, 458, 460 Universalspitzenverbände 444, 450 Universalverbände 443, 444, 446, 448, 450, 453, 454 universelle Einheitsversicherung 354 unkoordinierte Tarifsysteme 446 Unterlaufen von Tarifverträgen 322 Unternehmen als politische Akteure 223 Unternehmensrepräsentanzen 221, 223, 224–26, 230, 267, 268 Unternehmensverbände 284, 301 Unternehmerklasse 444 Unternehmerlager 302 Unternehmerverband Deutsches Handwerk (UDH) 516
Sachregister Unternehmerverband IndustrieService + Dienstleistungen (UIS) 200 Unternehmerverband mittelständische Wirtschaft (UMW) 92 Unterschreitung der Tarifnormen 327 Unterstützungsfonds 156, 286 Val-Duchess-Prozess 425 Variabilisierung der Vergütung nach Leistung 329 Varianten des Kapitalismus 11, 292 Verallgemeinerungsfähigkeit 151, 282 verarbeitende Industrie 51 Verband angestellter Akademiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie (VAA) 401, 404 Verband der Anbieter von Telekommunikationsund Mehrwertdiensten (VATM) 190 Verband der Automobilindustrie (VDA) 56, 365, 366, 383 Verband der Chemischen Industrie (VCI) 154, 364, 365, 366, 369, 371, 373, 383, 396, 406, 409, 410 Verband der Elektrizitätswirtschaft (VDEW) 364, 367 Verband der Europäischen Bauwirtschaft (FIEC) 432–33 Verband der Europäischen Chemiewirtschaft (CEFIC) 429 Verband der Kommunalen Unternehmen (VKU) 367 Verband der Verbände 52, 366, 420 Verband der Verbundwirtschaft (VRE) 367 Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) 57, 154, 164, 188, 189, 242, 267, 268, 365, 366 Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA) 268 Verband Selbständiger und Gewerbetreibender 92 Verbändeentlastung durch den Staat 377 Verbändekorporatismus 409 Verbändepyramide 450 Verbände-Staat-Verhältnis 422 Verbändeverbände 29, 400, 444 verbandliche Fragmentierung 442 verbandliche Interessenrepräsentation 303 Verbandsabstinenz 138 Verbandsanhörung 371 Verbandsausschluss 368, 373 Verbandsaustritt 266 Verbandsdefinitionen 300 Verbandsflucht 281 Verbandsherzogtümer 262, 434 Verbands-Public-Relations 302 Verbetrieblichung 327 Verein deutscher Arbeitgeberverbände 30 Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (VBW) 283 Vereinigung der deutschen Arbeitgeber 50 Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (VDA) 30, 261, 262, 352, 353
Sachregister Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) 109–11, 517 Gruppenausschüsse 110–11 Mitgliederversammlung 110 Präsidium 110 Vorstand 110 Vereinigung Mittelständischer Unternehmen 92 Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) 123, 186, 201, 213, 240, 241 Vergemeinschaftung von Politikfeldern 421, 423 Verhandlungsmacht 333, 370 Verkehrswesen 248, 252 Verlagerung der Produktion ins Ausland 318, 328, 345, 364, 370, 384 Verlust des Vertretungsmonopols 267, 383 Vermittlungsleistungen 220 Vernetzung 427 Verordnung über das Schlichtungswesen 250 Verpflichtungsfähigkeit 282, 289, 293, 317, 319, 322–23, 331, 363, 367, 373 Versicherungswirtschaft 354, 355, 427 Verteilungskonflikte 249 Vertrag von Amsterdam 266 Vertrag von Maastricht 35, 266, 425, 426, 457, 472, 473, 474 Vertrauen 292, 300 Vertrauensbeziehungen 292, 294 Vertrauensleute 407, 411–12 Verursacherinteressen 375 Verwaltung für Wirtschaft 53 Verzicht auf Arbeitskampf 250 Volksparteien 272 Vollbeschäftigung 345 Wach- und Sicherheitsgewerbe 246 Wachstumspolitik 409 Währungsunion 432, 436, 457 Waldsterben 379 Warnstreik 252 weiche Regulierung 436 Weimarer Reichsverfassung 261 Weimarer Republik 30, 43–44, 51, 248, 250, 260, 261, 262, 272, 344, 352–53, 396 Weiterbildung 404, 405 Weltmarkt 318 Weltwirtschaftskrise 56, 349, 353, 469, 470 Werner-Plan 468, 469 West-Ost-Lohnangleichung 249, 408 Wettbewerb zwischen den Volkswirtschaften 252, 256 Wettbewerbsbedingungen 348 Wettbewerbsdruck 249, 254, 445, 453 Wettbewerbsfähigkeit 211, 244, 247, 345, 377, 408, 477 Wintelismus 184, 185 wirtschaftliche Rahmenbedingungen 236 wirtschaftlicher Mittelstand 87, 451 wirtschaftlicher Wandel 253 Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA) 435
551 Wirtschafts- und Währungsunion 467, 468, 469, 470, 472 Wirtschaftskammer 79 Wirtschaftskammern 126 wirtschaftsliberale Reformen 228 wirtschaftsnahe Strukturförderung 289 wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen 98 Wirtschaftsrat Deutschland 271 Wirtschaftsunion 465, 466, 467, 472 Wirtschaftsverband Stahl und Metallverarbeitung (WSM) 268 Wirtschaftsverbände 12, 32, 71, 126, 136, 149, 238, 425, 443, 444, 450, 453, 502 Ausschuss 46 Dienstleistungen 58, 180 Frauen 47–48 Funktion 43–65 Generalversammlung 46 Geschäftsführung 46–47 Geschichte 43–65 Handlungslogik 13 Interessenaggregation und -artikulation 220 Interessenbildung 220 Kommunikationsverhalten 220 Krise 220 Mitgliederversammlung 46 Mittelstand 96 organisationale Ausdifferenzierung 134 Organisationsgrad 178 Organisationsstruktur 45–48 Präsident 46 Präsidium 46 Typen 364, 365 Vorstand 46 Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie 458, 463, 464 Wirtschaftswachstum 32, 345 Wirtschaftswunder 249 wissenschaftliche Expertise 370 Wittenberg-Prozess der Chemie-Sozialpartner 329, 406, 414 Wohlfahrtsregime 276 Wohlfahrtsstaatsmodelle konservatives (korporatistisches) Modell 358 liberales (residuales) Modell 356, 358 sozialdemokratisches (universalistisches) Modell 358 Zeitarbeitsbranche 183–202 Arbeitgeber- und Unternehmerverbände 198– 200 Arbeitgeberverbände 199 christliche Gewerkschaften 197, 198, 199, 200 DGB-Gewerkschaften 196, 197, 198, 199, 200 Dynamik 193 Entwicklungstendenzen 201, 202 equal pay/equal treatment 196, 197, 199 individualisierte Arbeitsregulation 195 KMU 195
552 Struktur und wirtschaftliche Bedeutung 193–95 System der industriellen Beziehungen 195–98 tarifliche Entlohnung 198 Tarifverträge 197–98, 200 unternehmensbezogene Arbeitsregulation 195 Zeitwertkonto 405 Zentralarbeitsgemeinschaft 50 Zentralisierung der Verbände 333 Zentralverband des Deutschen Baugewerbes (ZDB) 247, 433 Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) 93, 94, 266, 268, 276, 305, 432 Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) 188, 189, 268, 365, 366
Sachregister Zentrumspartei 352 Zertifizierungssysteme 373 Zielgruppen der externen Öffentlichkeitsarbeit 306 Zigarettenindustrie 251 Zollvereinsländischer Eisenhütten- und BergwerksVerein 49 Zugang zum Regierungssystem 304, 305 Zukunftsfähigkeit 327 Zulieferer- und Abnehmerbetriebe 100, 211 Zweiter Weltkrieg 462 zwischenstaatlicher Ordnungswettbewerb 423 zwischenverbandliche Interessenfragmentierung 151