UTB 2827
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UTB 2827
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim • Basel Böhlau Verlag Köln • Weimar • Wien Wilhelm Fink Verlag München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern • Stuttgart • Wien Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen C.F. Müller Verlag Heidelberg Ernst Reinhardt Verlag München und Basel Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn • München Wien Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich Verlag Barbara Budrich Opladen • Farmington Hills Verlag Recht und Wirtschaft Frankfurt am Main WUV Facultas Wien
Walther L. Bernecker
Spanien-Handbuch Geschichte und Gegenwart
A. Francke Verlag Tübingen und Basel
Inhalt
IX
Chronologie zur spanischen Geschichte
3
II
Historische Karten
18
III
Politische Geschichte der Neuzeit
1. Traditionelle Problem- und Konfliktachsen 2. Zweite Republik und Bürgerkrieg 3. Die Franco-Diktatur 4. Monarchie und Demokratie Literatur
34 34 40 47 51 59
Vorwort
A
V
Politik
Verfassungsgeschichte der Neuzeit
1. Die Verfassung von Bayonne (1808) 2. Die Verfassung von Cädiz (1812) 3. Das "Königliche Statut" (1834) 4. Die progressistische Kompromißverfassung (1837) 5. Die gemäßigte Verfassung (1845) 6. Die demokratisch-revolutionäre Verfassung (1869) 7. Die Verfassung der Restauration (1876) 8. Die Verfassung der Zweiten Republik (1931) 9. Die "Grundgesetze" der Franco-Ära (1939-1975) 10. Die Verfassung der parlamentarischen Monarchie (1978) Literatur
Parteien, Parteiensysteme und Parteiengeschichte 1. Parteien und politische Strömungen im 19. Jahrhundert 2. Parteien in der Zweiten Republik (1931-1936/39) 3. "Einheitsparteien" in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts a) Die Diktatur von Miguel Primo de Rivera (1923-1930) b) Die Diktatur von Francisco Franco (1939-1975) 4. Parteien in der Demokratie (seit 1977) Literatur
61 61 64 67 69 72 73 75 77 80 83 86
87 87 95 106 106 107 109 134
VI
VI
Inhalt
136 136 1. Staatsform und Regierungssystem 138 Wahlen und parlamentarische Kräfteverhältnisse 2. 143 3. Politische Porträts: König und Ministerpräsidenten in der Demokratie . 149 Literatur
VII Der Staat der Autonomen Gemeinschaften
1. Chronologie zum (spanischen) Baskenland 2. Das Baskenland zwischen Terrorismus und Friedenssehnsucht Literatur
X
Das spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika 1. Der Kolonialismus in Amerika a) Das spanische Kolonialreich in Amerika: Chronologie b) Grundstrukturen und Entwicklungen des spanischen Kolonialreiches in Amerika 2. Der Neo-Kolonialismus in Afrika a) Das spanische Kolonialreich in Afrika: Chronologie b) Spanien und der Maghreb im 20. Jahrhundert Literatur
B
Wirtschaft
XI
Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975) 1. 2. 3. 4. 5.
Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Die Landwirtschaft Die Industrie Das Bank- und Kreditwesen Der Außenhandel
1. Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung 2. Die Wirtschaftsbereiche a) Der Primärsektor: Land-, Vieh-, Forst- und Fischereiwirtschaft b) Der Sekundärsektor: Industrie und Bauwirtschaft c) Der Tertiärsektor: Dienstleistungen 3. Spanien in der Weltwirtschaft Literatur
155 161 166 177
178 178 180 193
Spanien und Europa - ein ambivalentes Verhältnis 1. Historischer Rückblick: Zwischen Abschottung und Annäherung 2. Spanien und die EG/EU Literatur
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
150 150
VIII Das Baskenland - eine Problemskizze
IX
6. Transport und Verkehr 7. Staat und Wirtschaft Literatur
Der Zentralstaat: Regierungssystem, Staatsform, Wahlen
1. Die Regionalisierung des Landes nach 1975 2. Rechtsnatur, Kompetenzen und Finanzverfassung der Autonomen Gemeinschaften 3. Die Reform der Autonomiestatute 4. Die Autonomen Gemeinschaften im Überblick Literatur
VII
Inhalt
195 195 199 211 213 213 213 215 227 227 228 239
243 243 251 253 258 259
C
261 263 268 270 270 280 280 285 287 290 301
Bevölkerung und Gesellschaft
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
305 305 308 316
1. Das Bevölkerungswachstum 2. Auswanderung und Binnenwanderung Literatur
XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975) 1. Soziale Schichtung und Mobilität 2. Vom Sozialprotest zum Klassenkampf 3. Zur Entwicklung von Emanzipationsbewegungen Literatur
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
317 317 324 326 328
329
1. Demographische Grunddaten 329 a) Bevölkerungsentwicklung 329 b) Bevölkerungsstruktur 332 c) Regionale Verteilung der Bevölkerung 333 d) Nationalitäten der ausländischen Bevölkerung in Spanien 335 2. Gesellschaftliche Entwicklungen 337 a) Eheschließungen und Scheidungen 337 b) Entwicklung der Geburtenrate 338 c) Struktur der Privathaushalte 340 d) Soziale Schichtung und Sozialsystem 343 e) Jugend und Jugendkultur 347 3. Migrationen: Spanien vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland 351 Literatur 354
VIII
XVI
XVII
Inhalt
356 356 359 371
Der Arbeitsbereich: Arbeiterbewegung und Arbeitsbeziehungen .. 1. Die historische Arbeiterbewegung: Anarchismus und Sozialismus . . . . 2. Staatssyndikalismus und oppositionelle Arbeiterschaft im Franquismus . 3. Die Arbeiterbewegung in der Transition 4. Gewerkschaften und Arbeiterschaft in der Demokratie Literatur
372 372 377 381 383 394
Bildung und Schulwesen 1. Bildung und Schulwesen in der Neuzeit (bis 1975) 2. Bildung und Schulwesen in der Demokratie (1975-2006) Literatur
396 397 398 399 403 405 408 412 417
XIX
Das Militär 1. Militär und Politik in der neueren spanischen Geschichte 2. Die Streitkräfte in der Transition 3. Das Militär in der Demokratie: Von der Wehrpflicht zur Berufsarmee . . Literatur
418 418 426 430 434
XX
Anhang 1. Spanische Herrscher und Präsidenten 2. Siglen 3. Internetadressen Verzeichnis der Graphiken, Karten, Schemata und Tabellen Personenregister
435 435 440 444 447 456
XVIII Kirche, Staat und Religion 1. Das Verhältnis Staat — Kirche in historischer Perspektive 2. Kirche, Bürgerkrieg und früher Franquismus 3. Das Konkordat mit dem Vatikan (1953) 4. Die Distanzierung der Kirche vom Regime 5. Eine freie Kirche in einem freien Staat 6. Zur Glaubenspraxis der Spanier 7. Probleme zwischen Kirche und Regierung (2004/2006) Literatur
Vorwort
Spanien ist seit vielen Jahren das beliebteste Urlaubsland der Deutschen, die spanische Sprache ist die am schnellsten wachsende Fremdsprache in Deutschland, für spanische Geschichte und die Gegenwart des Landes interessieren sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Das vorliegende "Spanien-Handbuch" will der deutlich gestiegenen Nachfrage nach Information zu Spanien nachkommen. Es verbindet die historische Perspektive mit der Analyse der Gegenwart. Der Untertitel "Geschichte und Gegenwart" macht deutlich, daß die historischen Aspekte nicht nur als Hinführung zur eigentlichen DarStellung der neuesten Zeit dienen, sondern ihre eigene Berechtigung haben. Das "Handbuch" ist somit keine kurzatmige Einführung in das heutige Spanien; die einzelnen Aspekte werden vielmehr historisch hergeleitet, Geschichte und Gegenwart werden gleichberechtigt behandelt und bilden eine analytische Einheit. Thematisch konzentriert sich das "Handbuch" auf die drei großen Bereich Politik, Wirtschalt, Bevölkerung / Gesellschaft. Eine thematische Einheit "Kultur" wurde bewußt weggelassen: zum einen, da die Berücksichtigung aller relevanten Aspekte dieses Themenbereichs den Umfang des "Handbuchs" deutlich gesprengt hätte; zum anderen, da die Einbeziehung des kulturellen Bereichs eine nicht zu bewältigende inhaltliche und methodische Ausweitung bedeutet hätte. Andererseits werden in den der Politik und Gesellschaft gewidmeten Kapiteln immer auch kulturelle Fragen mit angesprochen (Sprachenproblematik, Bildungsfragen, Identitätsaspekte, Glaubenspraxis und Religion etc.), die über das Inhaltsverzeichnis problemlos zu finden sind. Trotz der Vielfalt der untersuchten Themen kann auch dieses "Handbuch" nicht alle Aspekte der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Spaniens erschöpfend behandeln. Die Auswahl der analysierten Bereiche orientierte sich an den Kriterien historische Relevanz und aktuelle Bedeutung. Die Literaturhinweise am Ende eines jeden Abschnitts enthalten zum einen die dem jeweiligen Kapitel zugrundeliegenden Titel, stellen zum anderen eine Basisbibliographie für weitergehende Recherchen zu nicht oder nur knapp abgehandelten Themen dar. Für äußerst wertvolle Unterstützung bei der Erstellung des "Handbuchs" danke ich den Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls Auslandswissenschaft Romanischsprachige Kulturen der Universität Erlangen-Nürnberg: Julie Cano, Eva Gerl, Heidrun Kuka, Melanie Röhser, Ina Roßbach. Sie haben Materialien zusammengestellt und gewissenhaft aufbereitet, bibliographiert und recherchiert, technische Grundlagenarbeit geleistet (Erstellen von Graphiken, Tabellen, Schemata und Karten), schließlich alles in mühevoller Detailarbeit in Form und auf den PC gebracht. Ohne ihre Hilfe läge das "Handbuch" in der jetzigen Form nicht vor. Verbliebene Mängel und Fehler habe selbstverständlich ich allein zu verantworten. Walther L. Bernecker
Nürnberg, Juli 2006
A POLITIK
3
I Chronologie zur spanischen Geschichte
218-206 v. Chr. Eroberung weiter Teile der Iberischen Halbinsel durch römische Truppen. 409 Alanen, Sueben und Vandalen beginnen die Invasion der Halbinsel, die zunächst mit den Römern verbündeten Westgoten besiegen die Eindringlinge und okkupieren Teile der Iberischen Halbinsel selbst. 507 Nach der Schlacht von VouiM bricht das Westgotenreich in Gallien zusammen, und die Westgoten ziehen sich auf die Iberische Halbinsel zurück. 589 Auf dem III. Konzil von Toledo wird der Katholizismus als Reichsreligion verkündet. 710 Westgotische Adelige rufen arabische Truppen zu Hilfe und erheben sich gegen den letzten rechtmäßigen König der Westgoten, Roderich. 711 Schlacht am Fluß Guadalete, Beginn der Araberherrschaft über die Iberische Halbinsel. 756 Abd ar-Rahman I. gründet ein von Damaskus unabhängiges Emirat in Al-Andalus. 1035 Ramiro I. löst die Grafschaft Aragonien aus dem navarresischen Reich heraus und erhebt sie zum unabhängigen Königreich. 1085 Im Zuge der Reconquista erobert König Alfons VI. von Kastilien Toledo und macht es zur Hauptstadt. 1118 Alfons I. von Aragonien erobert Zaragoza und erklärt es zu seiner Hauptstadt. 1134 Navarra wird nach mehrjähriger Besetzung durch Kastilien und Aragonien selbständig. 1212 Die Almohaden-Dynastie erleidet eine vernichtende Niederlage durch die vereinigten kastilischen, navarresischen und aragonesischen Heere bei Navas de Tolosa. 1230 Kastilien und Lehn werden zu einem Königreich vereint. 1238 Jakob I. von Aragonien erobert das Königreich Valencia und verleibt es — wie zuvor die Balearen — der Krone von Aragonien ein.
1257 Alfons X. von Kastilien läßt sich zum deutschen König wählen; dank seiner Förderung wird das Kastilische zur Nationalsprache. 1328 Johanna, Tochter Ludwigs X. von Frankreich. wird zur Königin von Navarra, das damit für ein Jahrhundert unter französische Herrschaft gerät. 1404 Französische Söldner nehmen die Kanarischen Inseln im Auftrag Kastiliens in Besitz. 1469 Prinzessin Isabella von Kastilien heiratet den Erbprinzen von Aragonien, Ferdinand. 1474 Isabella wird mit Hilfe Ferdinands zur Königin Kastiliens, Beginn des Erbfolgekrieges zwischen Isabella und ihrer Nichte Juana la Beltraneja. 1475 Ferdinand wird im Vertrag von Segovia zum Mitregenten in Kastilien und darf sich nunmehr Ferdinand V., König von Kastilien, nennen; der König von Portugal interveniert im Erbfolgekrieg zwischen Isabella und Juana. 1478 In Kastilien wird die Inquisition eingerichtet (in Aragonien erst 1486). 1479 Ferdinand wird als Ferdinand II. zum Herrscher über Aragonien, die verschiedenen Königreiche der Iberischen Halbinsel (mit Ausnahme Portugals) sind in Matrimonialunion vereint; zwischen Portugal und Kastilien kommt es zum Frieden von Alcacovas. 1492 Die Katholischen Könige (Ferdinand und Isabella) erobern die letzte moslemische Festung auf der Iberischen Halbinsel, das seit 1481 belagerte Granada, und verweisen die Juden des Landes; am 12. Oktober betritt Kolumbus zum ersten Mal den amerikanischen Kontinent; Nebrija veröffentlicht die erste kastilische Grammatik. 1494 Der Vertrag von Tordesillas teilt die Interessensphären Spaniens und Portugals in Übersee entlang einer Nord-Süd-Linie 370 Seemeilen westlich der Azoren.
4
I Chronologie zur spanischen Geschichte
1 Chronologie zur spanischen Geschichte
1497 Der Herzog von Medina Sidonia erobert Melilla. 1500 Aufstand der Mauren in Granada; Beginn der Siedlungskolonisation in Amerika. 1502 Ein königliches Edikt zwingt die Mauren zur Taufe oder zur Emigration. 1503 Errichtung der Casa de Contrataciön in Sevilla zur Organisation und Kontrolle des Schiffs-, Waren- und Personenverkehrs mit Amerika. 1504-1516 Nach dem Tod Isabellas regiert Ferdinand Kastilien für seine regierungsunfähige Tochter Juana ("die Wahnsinnige") als Regent. 1510 Spanische Truppen unterwerfen Algier und erobern Tripolis. 1511 Die Audiencia de Santo Domingo wird als erste Verwaltungsinstanz der neuen Kolonialverwaltung gegründet. 1512 Navarra wird der kastilischen Krone einverleibt. 1516 Durch den Tod Ferdinands des Katholischen am 23. Jan. fallen alle kastilischen und aragonesischen Reiche an seine regierungsunfähige Tochter Juana bzw. deren Sohn Karl. 1518 Die Cortes von Kastilien und Aragonien erkennen den Habsburger Karl als Karl I. an. 1519 Am 28. Juni wird Karl I. im Heiligen Römischen Reich zu Kaiser Karl V. gewählt; er benutzt die spanische Wirtschaftsmacht für seine universalistische kaiserliche Politik. 1519-1522 Hernän Cortes erobert Mexiko. 1520/21 Aufstand der städtischen Comuneros in Kastilien gegen die Überfremdung der nationalen Interessen. Am 23. April erfolgt die vernichtende Niederlage der Aufständischen in der Schlacht von Villalar. 1524 Formelle Konstituierung des Consejo Supremo y Real de las Indias als direkt der Krone unterstellter Verwaltungsinstanz der spanischen Besitzungen in Amerika. 1521-1526 Nach der Abwehr der französischen Invasion in Navarra verlagert sich der spanisch-französische Gegensatz nach Italien. In der Entscheidungsschlacht bei Pavia am 24. Febr. 1525 schlägt Karl I. Franz I. von Frankreich vernichtend und nimmt ihn gefangen. 1526 Im Frieden von Madrid diktiert Karl I. seinem Gefangenen die Friedensbedingungen.
Kaum aus der Gefangenschaft entlassen, widerruft Franz dieses Diktat und gründet die "Heilige Liga" von Cognac, an der sich neben dem Papst und den wichtigsten oberitalienischen Städten auch England beteiligt. 1526-1529 Der zweite Krieg zwischen Spanien und Frankreich (sowie der Heiligen Liga) verläuft analog zum ersten, Karl I. kann seinen Einfluß in Oberitalien sogar weiter ausbauen. Mit den Friedensverträgen von Barcelona und Cambray wird der Krieg gegen Frankreich und die Heilige Liga beendet. 1532-1533 Francisco Pizarro dringt ins peruanische Hochland vor und zerschlägt das Inkareich. 1536-1538 Dritter Krieg zwischen Karl I. und Franz I., der mit einem von Papst Paul III. vermittelten Waffenstillstand endet. 1542 Verabschiedung der Leyes Nuevas, die der indianischen Bevölkerung des spanischen Reiches weitgehende Gleichberechtigung verschaffen sollen. 1542-1544 Erneuter Krieg zwischen Frankreich und Spanien um Oberitalien. 1544 Der Friede von Cre beendet den Krieg. Karl I.N. hat wieder Luft, sich dem allgemeinen Konzil und der Herstellung der Glaubenseinheit zu widmen. Von 1545-1563 tagt das von Karl I. lange herbeigesehnte Konzil von Trient. 1545/46 Die Silbervorkommen von Potosf (Bolivien) und Zacatecas (Mexiko) werden entdeckt. 1552-1559 Krieg Karls I. (fortgeführt von seinem Sohn Philipp II.) gegen Frankreich. 1556 Abdankung Karls I. und Amtsübergabe an Philipp II. 1559 Friede von Cateau-Cambr6sis, der die Vorherrschaft Spaniens in Italien und den Besitz der burgundischen Territorien bestätigt. 1560 Erster Staatsbankrott. 1568 Nach zunehmenden Spannungen zwischen den spanischen Herrschern und der niederländischen Bevölkerung kommt es 1568 in den Niederlanden zum Aufstand des Prinzen von Oranien. 1570 Die Türken erobern Zypern. Spanien, Venedig und der Vatikan schließen sich erneut
zu einer "Heiligen Liga" zusammen, schlagen die Türken 1571 bei der Seeschlacht von Lepanto und beenden damit die moslemische Seeherrschaft im Mittelmeer. 1575 Zweiter Staatsbankrott. 1580-1640 Vereinigung Portugals mit Spanien in Personalunion, dadurch verlagern sich die Interessen Philipps II. stärker in den Atlantik und geraten so mit denen der aufstrebenden Seemacht England in Konflikt. 1581 Die in der Union von Utrecht zusammengeschlossenen sieben nördlichen Provinzen der Niederlande erklären sich einseitig für von Spanien unabhängig. 1588 Beim Versuch, in England zu intervenieren, erleidet die von Philipp II. ausgesandte Armada invencible eine verheerende Niederlage. 1589-1590 Philipp II. interveniert nach der Ermordung Heinrichs III. von Frankreich direkt mit einem spanischen Heer im 8. Hugenottenkrieg (1585-1590). Im Kampf um die französische Thronfolge erhebt Philipp II. 1590-1598 für seine Tochter Ansprüche auf den Thron und marschiert in Frankreich ein. Nachdem Heinrich IV. zum katholischen Glauben konvertiert ist und auch die französischen Katholiken die Kandidatur des spanischen Königs ablehnen, wird aus der innerstaatlichen Auseinandersetzung ein internationaler Krieg. Heinrich IV. erklärt 1595 Spanien offiziell den Krieg und verbündet sich ein Jahr später mit Elisabeth I. von England gegen die Spanier. Der Erhalt der Unabhängigkeit der nördlichen Niederlande wird offizielles Kriegsziel. 1596 Dritter Staatsbankrott. 1598 Friede von Vervins: Separatfrieden zwischen Spanien und Frankreich, kurze Zeit darauf stirbt Philipp II. 1604 Friedensschluß mit England. Der Krieg gegen Holland dauert hingegen bis 1606 bzw. 1609. Nachdem zunächst nur die Kampfhandlungen eingestellt worden waren, kommt es drei Jahre später zur Vereinbarung eines auf zwölf Jahre begrenzten Waffenstillstands. Zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges bringt Spanien 1619 die Rheinpfalz unter seine Kontrolle.
5
1621-1665 Philipp IV. und sein Günstling, der Conde-Duque de Olivares, versuchen, Spaniens abnehmende Weltgeltung mit Waffengewalt wieder herzustellen. 1621 endet der Waffenstillstand mit Holland. Der neu ausbrechende Krieg führt nach Anfangserfolgen der Spanier 1635 zum Kriegseintritt Frankreichs (und Englands) gegen Spanien. 1640 führen die sich häufenden Niederlagen zu Aufständen in Katalonien und Portugal. Portugal erklärt seine Unabhängigkeit. 1648 Spanien erkennt im spanisch-niederländischen Sonderfrieden die Unabhängigkeit der Generalstaaten an. Der spanisch-französische Krieg dauert auch nach dem Westfälischen Frieden noch fort und findet erst 1659 im Pyrenäenfrieden ein Ende. Der Pyrenäenfrieden kennzeichnet gleichzeitig den Beginn eines stetigen Machtverlusts Spaniens auch außerhalb Europas. Bereits 1660 geht Jamaika an England verloren. Von 1665-1675 übt Anna von Österreich, die Mutter des letzten Habsburgers Karls II., die Regentschaft für ihren Sohn aus. Unter dem schwachen und unfähigen König verliert Spanien weiter an Einfluß und muß 1668 im Vertrag von Aachen etliche strategische Plätze in Flandern an Frankreich abtreten sowie endgültig die Unabhängigkeit Portugals anerkennen. 1697 Mit Karl II. stirbt die Linie der spanischen Habsburger 1700 aus. Die Erbfolge tritt Philipp von Anjou als Philipp V. an. Dieser muß sich jedoch zwischen 1701 und 1713 im Spanischen Erbfolgekrieg gegen die Haager Allianz durchsetzen, die Erzherzog Karl von Habsburg als Thronfolger Karls II. einsetzen will. 1704 England erobert Gibraltar und Menorca. 1705 Valencia und Katalonien erkennen Karl von Habsburg als Karl III. an. 1713 Friede von Utrecht: Teilung des spanischen Erbes unter Philipp V. von Anjou (bleibt spanischer König und behält alle Kolonien), Österreich (erhält die italienischen und niederländischen Besitzungen Spaniens) und Savoyen (erhält Sizilien). Großbritannien setzt seine Gleichgewichtspolitik durch und steigt zur führenden Macht in Übersee auf, außerdem
6
I Chronologie zur spanischen Geschichte
behält es Gibraltar und Menorca. Des weiteren verbieten die Friedensvereinbarungen ausdrücklich für alle Zukunft eine spanisch-französische Personalunion. 1746-1759 Ferdinand VI. verfolgt einen Neutralitätskurs, läßt aber zum Schutz seiner überseeischen Besitzungen Heer und Flotte ausbauen. Im Vertrag von Aranjuez garantieren sich 1752 Spanien, Kaiser Franz von Habsburg und Kaiserin Maria Theresia ihre europäischen Besitzungen und die Neutralität Italiens. 1759-1788 Karl III. führt wichtige Reformen in der Verwaltung Spaniens sowie der Kolonien durch und modernisiert die Wirtschaft. Von 1779-1783 kämpfen Spanien und Frankreich im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen England. 1781 kommt es in Peru zum Tüpac-AmaruAufstand gegen die spanische Kolonialherrschaft. 1788-1808 Karl IV. steht ganz unter dem Einfluß seiner Frau und ihres Günstlings Manuel de Godoy, der ab 1792 auch die Regierungsgeschäfte übernimmt. Der innenpolitisch weiter am Aufgeklärten Absolutismus festhaltende Godoy führt Spanien durch das Bündnis mit dem revolutionären Frankreich in verlustreiche Kriege. Durch den Vertrag von San Ildefonso 1796 wird Spanien auf Seiten Frankreichs in einen Krieg gegen England und Portugal hineingezogen. Als 1798 in Spanien mit der Desamortisation (Enteignung und Verkauf von Kirchengütern) begonnen wird, wird Godoy aus seinen Ämtern entlassen. Aus dem Hintergrund zieht er jedoch weiterhin die Fäden der spanischen Politik. Die spanisch-französische Flotte erleidet vor Trafalgar 1805 eine vernichtende Niederlage. Nach dem Scheitern der französischen Invasion in England beteiligt sich Spanien an der Kontinentalblockade. 1807 Am 27. Oktober unterzeichnen Napoleon und Godoy den Vertrag von Fontainebleau, in dem eine Dreiteilung Portugals beschlossen wird. 1808 Gegen die Willkürherrschaft Godoys kommt es zum Aufstand von Aranjuez. Karl IV. dankt daraufhin zugunsten seines Sohnes Ferdinand VII. ab. Napoleon läßt seine Truppen Madrid besetzen und zwingt Karl und Ferdi-
I Chronologie zur spanischen Geschichte nand in Bayonne am 5. und 10. Mai zum Verzicht auf die spanische Krone. Statt dessen ernennt Napoleon seinen Bruder Joseph Bonaparte am 6. Juni zum spanischen König. Am 2. Mai 1808 beginnt der Volksaufstand gegen die französische Besatzung. Nach anfänglicher Überlegenheit gerät diese zunehmend in die Defensive, da sich die Spanier der Guerrillataktik bedienen. Am 21. Juli 1808 gelingt es den spanischen Aufständischen bei Baildn erstmals, in einem größeren Gefecht die französischen Truppen zu schlagen. 1812/13 Mit Unterstützung britischer Truppen schlagen die Spanier die französischen Truppen nun auch in offenen Feldschlachten bei Salamanca und Vitoria. Am 13. Nov. 1813 gesteht Napoleon im Vertrag von Valencay dem in Frankreich internierten Ferdinand VII. den spanischen Thron wieder zu. Von 1808-1814 tagen die Cortes in Cädiz unter dem Schutz der englischen Flotte. Die am 19. März 1812 von einer liberalen Minderheit beschlossene "Verfassung der spanischen Nation" ist eine der modernsten bis dahin veröffentlichten Verfassungen weltweit. Als Ferdinand VII. 1814 nach Spanien zurückkehrt, löst er die Cortes von Cädiz auf und annuliert die verabschiedete Verfassung. Von 1814-1820 kommt es zu einer Wiederbelebung des Absolutismus in Spanien. 1816-1825 Bis auf Kuba, Puerto Rico und die Philippinen müssen alle Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen werden. Am 1. Jan. 1820 Aufstand der Liberalen unter Rafael de Riego y Nüfiez. Ferdinand VII. sieht sich dadurch gezwungen, den Eid auf die Verfassung von Cädiz abzulegen. Die "konstitutionellen drei Jahre" von 1820-1823 werden durch zu Hilfe gerufene französische Truppen der Heiligen Allianz beendet. Nach der blutigen Unterdrückung der liberalen Bewegung regiert Ferdinand VII. bis 1833 erneut absolutistisch. Nach dem Tod Ferdinands erheben sowohl seine Gattin Maria Christina im Namen ihrer minderjährigen Tochter Isabella als auch sein Bruder Don Carlos Anspruch auf die Thronfolge. Der Streit führt zum ersten Karlistenkrieg von 1833-1839. Dieser spaltet das Land und kann nur durch den Kompromiß von Vergara beendet werden, der
eine Amnestie für die Karlisten vorsieht. Ihr Thronprätendent, Don Carlos, geht ins Exil. Da Maria Christina im ersten Karlistenkrieg von den Liberalen gestützt wird, ist sie gezwungen, einen liberalen Kurs einzuschlagen und 1834 eine neue Verfassung, das Estatuto Real, zu verabschieden. Es bleibt jedoch hinter der Verfassung von 1812 zurück. Um den Krieg gegen die Karlisten finanzieren zu können, wird 1835 das erste Desamortisations-Gesetz verabschiedet. 1836 Die durch ein pronunciamiento an die Macht gekommenen radikalen Liberalen (Progresistas) stellen die Verfassung von Cädiz wieder her, zwingen die Königin-Regentin Maria Christina 1840 zur Abdankung und ernennen ihren Führer Baldomero Espartero zum Regenten. Bereits 1843 wird Espartero von General Ramön Marfa Narväez gestürzt, woraufhin die spanischen Cortes 1844 die Thronfolgerin Isabella für volljährig erklären.
Isabellinische Ära (1844-1868) Während der 24 Regierungsjahre Isabellas II. lösen sich 34 Regierungen im Amt ab. Neben den Moderados von Narväez sind es vor allem die Progresistas Esparteros und die gemäßigte Uniion Liberal von Leopoldo O'Donnell, die abwechselnd die Regierungen stellen. 1845 erweitert eine neue Verfassung die Vorrechte der Krone und schränkt die Rechte des Parlaments ein. 1848 wird die erste spanische Eisenbahnlinie von Barcelona nach Matarö eingeweiht. 1858-1863 Während der ununterbrochenen Regierungszeit des gemäßigten O'Donnell erlebt Spanien zwar einen wirtschaftlichen Aufschwung, kann seine innenpolitische Instabilität jedoch auch durch außenpolitische Aktionen in Indochina, Marokko, Mexiko und im PazifikKrieg nicht überwinden. Mit der "Septemberrevolution" der Kriegsflotte vor Cädiz von 1868 stürzen die Progresistas Isabella II. und vertreiben die Bourbonen aus Spanien. 1868 beginnt der Krieg der zehn Jahre um die Unabhängigkeit Kubas.
7
1869 Verabschiedung einer neuen Verfassung und Gründung der Federacidn Obrera Regional Espatiola, einer unter dem Einfluß der Bakunisten stehenden Arbeiterorganisation. 1870 Herzog Amadeo d'Aosta von Savoyen wird von den Cortes zum neuen spanischen König Amadeus I. gewählt. Der deutsche Kandidat Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen hatte nach französischen Drohungen auf eine Kandidatur verzichtet. Napoleon III. erklärt Preußen dennoch den Krieg.
I. Republik Da Amadeus I. weder von Adel und Kirche noch von den Liberalen Zustimmung erfährt, dankt er am 11. Febr. 1873 enttäuscht ab. Noch am selben Tag wird in den Cortes mit großer Mehrheit die I. Republik ausgerufen. Durch die Uneinigkeit der Republikaner kann sich die junge Republik jedoch nicht stabilisieren. Diese Situation nützen die Karlisten aus und fallen von Frankreich aus in Spanien ein. Dadurch kommt es 1872-1876 zum zweiten Karlistenkrieg. Durch die anfänglichen Erfolge der Karlisten, die Spanien bis zum Ebro besetzen können, und den parallel stattfindenden Aufstand der Kantonisten sieht sich General Arsenio Martfnez Campos dazu veranlaßt, den Sohn Isabellas II., Alfons, am 29. Dez. 1874 zum König auszurufen.
Restauration (1874-1930) 1875 Alfons XII. beendet den Karlistenkrieg, entzieht dem Baskenland seine traditionellen Sonderrechte und schafft 1876 eine auf einer konstitutionellen Erbmonarchie, einem Zweikammersystem und dem Vetorecht des Königs basierende Verfassung. 1878 kommt es auf Kuba zum Waffenstillstand von Zanjön, der den Krieg der zehn Jahre beendet. 1879 wird der PSOE (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) auf Anregung von Pablo Iglesias in Madrid gegründet.
8
1 Chronologie zur spanischen Geschichte
1885 und 1902 Gemäß dem Pacto del Pardo wechseln sich der Konservative Cänovas del Castillo und der Liberale Sagasta an der Spitze der Regierung ab. Für die notwendigen Mehrheiten im Parlament sorgt das System der caciques (örtliche Honoratioren) durch Wahlbetrug. 1888 Gründung der sozialistischen Gewerkschaft UGT. 1892 Die Katalanen fordern in den Bases de Manresa Autonomie für Katalonien sowie die wirtschaftliche und politische Neustrukturierung Spaniens. 1895 Im Baskenland wird der PNV (Baskische Nationalistische Partei) gegründet. Auf Kuba beginnt erneut ein Aufstand gegen die spanische Kolonialherrschaft, der 1898 zum Krieg zwischen Spanien und den USA führt. Nach der Vernichtung seiner Flotte muß Spanien im Frieden von Paris Kuba, Puerto Rico und die Philippinen an die USA abtreten. Der Verlust der letzten großen Kolonien führt in Spanien zu einer tiefen Erschütterung der Gesellschaft. 1902 Alfons XIII. wird zum spanischen König gekrönt. Durch Annexionen in Marokko versucht Spanien einen Ersatz für die verlorenen Kolonien in Übersee zu erlangen. 1904 Frankreich erkennt das marokkanische Rifgebiet als spanische Einflußsphäre an. Durch die verlustreichen Feldzüge gegen die RifKabylen kommt es 1909 während der Semana trägica von Barcelona zu schwerwiegenden innenpolitischen Unruhen. 1910 Gründung der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT. In der französisch-spanischen Übereinkunft vom 27. Nov. 1912 werden die beiderseitigen Einflußsphären in Nordafrika endgültig voneinander abgegrenzt. 1913 Katalonien erhält durch die Zulassung der Mancomunitat Catalana erstmals Selbstverwaltungsrechte. 1914 Spanien erklärt seine Neutralität im Weltkrieg und zieht während des Krieges wirtschaftlich großen Nutzen aus dieser Haltung. Die Zuspitzung der militärischen Lage in Marokko und die – trotz Wirtschaftsboom – zunehmenden sozialen Probleme führen 1917
1 Chronologie zur spanischen Geschichte zum revolutionären Generalstreik und dadurch zu einer tiefgreifenden Regierungskrise. 1918 Das von Antonio Maura gebildete "Kabinett der nationalen Regierung" kann die Lage nicht stabilisieren. Der Aufstand der RifKabylen unter Abd el-Krim verschärft die Lage und führt 1921 zum Desastre de Annual.
Diktatur Primo de Riveras (1923-1930) Nach weiteren militärischen Niederlagen und anhaltenden innenpolitischen Problemen übernimmt General Miguel Primo de Rivera 1923-1930 die Macht und errichtet mit Zustimmung des Königs und ohne nennenswerte politische Opposition eine Diktatur. Nach positiven Anfängen verliert Primo de Rivera jegliche Unterstützung. Als die Weltwirtschaftskrise auch Spanien erfaßt, tritt Primo de Rivera am 28. Jan. 1930 zurück. General Dämaso Berenguer tritt seine Nachfolge als Ministerpräsident an. Aug. 1930 Im Pakt von San Sebastiän schließen sich bürgerliche und sozialistische Parteien zusammen und planen die Einführung der Republik. 14. Apr. 1931 In mehreren Städten wird die Republik ausgerufen, Alfons XIII. verläßt daraufhin Spanien, ohne auf seine Rechte zu verzichten.
II. Republik (1931-1936) Bereits kurz nach der Bildung einer provisorischen Regierung aus Republikanern und Sozialisten kommt es zu ersten antiklerikalen Ausschreitungen. Bei den Wahlen zu den Cortes Constituyentes (Verfassungsgebende Versammlung) am 28. Juni 1931 kommt es zu einem überwältigenden Wahlsieg der Republikaner und Sozialisten. Am 9. Dez. 1931 wird die Verfassung der Republik verkündet. Niceto Alcalä Zamora wird zum ersten Präsidenten der Republik gewählt. Die erste reguläre Regierung wird von Manuel Azafta als Ministerpräsident am 15. Dez. 1931 aus Republikanern, Sozia-
listen, Regionalisten und unabhängigen Kandidaten gebildet. Die verarmte Arbeiterschaft drängt mit militanten Aktionen ungeduldig auf eine rasche Landreform. 1932
10. Aug. Ein erster antirepublikanischer Aufstandsversuch des rechtsgerichteten Generals Jose Sanjurjo y Sacanell in Sevilla erschüttert die junge Republik. 15. Sept. Das Autonomiestatut für Katalonien wird verabschiedet. Zur gleichen Zeit versucht das Agrarreformgesetz, die jahrhundertealte ungerechte Landaufteilung zu reformieren. 1933 Anfang des Jahres kommt es unter Leitung der in der anarchosyndikalistischen CNT organisierten Arbeiter zu zahlreichen Aufstandsversuchen gegen die Republik. 8. Jan. und 29. Okt. 1933 Die faschistischen Juntas de Ofensiva Nacional-Sindicalista von Ramiro Ledesma Ramos und die rechtsextreme Falange Espatiola von Jos Antonio Primo de Rivera werden gegründet. Bereits 1934 schließen sie sich zusammen. 19. Nov. 1933 Die vereinigten Rechtsparteien erringen bei den Parlamentswahlen die Mehrheit. Am 18. Dez. 1933 bildet Alejandro Lerroux die neue Mitterechtsregierung. 1934 28. Apr. Der radikale Ricardo Samper löst die erste Regierung Lerroux ab. Am 4. Okt. kommt es erneut zur Regierungsbildung unter Lerroux, zum ersten Mal werden auch Politiker der rechten CEDA beteiligt. Als Reaktion der Linken kommt es zum Bergarbeiteraufstand in Asturien. Parallel dazu erklärt sich Katalonien für "unabhängig". Beide Aufstände werden blutig niedergeschlagen. 1935 Im Dez. löst der Präsident der Republik die Cortes als Reaktion auf die zunehmende innenpolitische Instabilität auf.
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1936 Am 15. Jan. schließen sich die Linksparteien zum Wahlblock der Volksfront zusammen und gewinnen die Parlamentswahlen am 16. Febr. deutlich. Manuel Azaria bildet eine Volksfrontregierung. Am 10. Mai wird Azafia zum Staatspräsidenten gewählt. Santiago Casares Quiroga tritt seine Nachfolge als Regierungschef an. Die seit Monaten einen Putsch vorbereitenden Militärs nehmen die Ermordung des Monarchistenführers Jos Calvo Sotelo am 13. Juli zum Anlaß und erheben sich am 17./18. Juli gegen die Republik. Durch den Widerstand großer Teile der Arbeiterschaft schlägt der Putsch fehl und weitet sich zum Bürgerkrieg. Bürgerkrieg (1936-1939) 19. Juli Josd Giral bildet die erste republikanische Regierung des Bürgerkrieges, die jedoch bereits am 4. Sept. von der Volksfrontregierung Francisco Largo Caballero abgelöst wird. In weiten Teilen der Republik kommt es unter Führung der Anarchisten und Linkssozialisten zu einer sozialen Revolution. In den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten kommt es am 1. Okt. zur Bildung einer "nationalen" Regierung unter Francisco Franco, die kurz darauf von Deutschland und Italien anerkannt wird. Bereits seit dem 28. Juli transportieren deutsche Flugzeugverbände Truppen der Aufständischen von Marokko nach Spanien. Der Angriff der Aufständischen gegen die Hauptstadt Madrid am 8. Nov. wird mit Hilfe der Internationalen Brigaden abgewehrt. 1937 Die Schlachten zu Beginn des Jahres bringen keiner der beiden Seiten einen entscheidenden Vorteil. 19. Apr. Franco schließt die zersplitterte Rechte zu einer Einheitspartei mit dem Namen FET y de las IONS zusammen. Am 26. Apr. zerstören deutsche Kampfflieger der "Legion Condor" die baskische Stadt Guernica. 18. Mai Im republikanischen Lager kommt es zu einer Regierungsumbildung, neuer Ministerpräsident wird Juan Negrfn. In Barcelona kommt es im Mai zu Kämpfen zwischen Anarchisten und Kommunisten.
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I Chronologie zur spanischen Geschichte
1938 30. Jan Franco bildet seine erste Regierung und erläßt das "nationale" Gesetz zur Organisation der Zentralverwaltung. 9. März Die "Charta" der Arbeit, das Grundgesetz der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik des franquistischen Spanien, wird erlassen. 15. Apr. Mit dem Erreichen des Mittelmeers bei Vinaroz teilen die Aufständischen das republikanische Territorium in zwei Teile. 25. Juli Der Beginn der mehrmonatigen Ebro-Schlacht leitet die Endphase des Bürgerkrieges ein. 1939 26. Jan. Die Truppen Francos marschieren in Barcelona ein. 5. Febr. Staatspräsident Azaria flieht nach Frankreich. Am 27. Febr. erkennen Großbritannien und Frankreich die Regierung Francos an. 27. März Spanien tritt dem Antikominternpakt bei; wenige Tage später kommt es zur Unterzeichnung des "Deutsch-Spanischen Freundschaftsvertrages" in Burgos. 1. Apr. Franco erklärt den Bürgerkrieg für beendet. Im fünf Monate später ausbrechenden Zweiten Weltkrieg erklärt sich das weitgehend verwüstete Spanien abwechselnd für neutral und nichtkriegführend.
Franco-Diktatur (1939-1975) 1939 - ca. 1948 Anhänger der Republik versuchen, einen Guerrillakrieg gegen das franquistische Spanien zu führen. 1940 14. Juni Spanische Truppen besetzen Tanger und annullieren den internationalen Status der Stadt. 1941 12. Febr. Franco und Mussolini treffen sich in Bordighera.
I Chronologie zur spanischen Geschichte
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24. Juni Franco entsendet die Divisiön Azul als "Freiwilligenverband" an die Ostfront. 25. Sept. Das Instituto Nacional de Industria zur Industrialisierung Spaniens wird gegründet.
1956 10. Febr. In Madrid kommt es zu Studentenprotesten gegen die Diktatur. 7. Apr. Spanien erkennt die Unabhängigkeit Marokkos an.
1967 28. Juni Das Gesetz über Religionsfreiheit wird verkündet. 10. Sept. Auf Gibraltar kommt es zu einer Abstimmung zugunsten Großbritanniens.
1942 17. Juli Erlaß des Gesetzes über die Bildung der neuen spanischen Cortes als Ständekammer. 20. Dez. Spanien und Portugal schließen den Pacto Ibärico.
1958 20. Jan. Spanien wird in die OEEC aufgenommen. 24. Apr. Nach Streiks und landesweiten Arbeiterprotesten wird ein Gesetz über kollektive Tarifabschlüsse verabschiedet; im Untergrund formieren sich die CCOO (Arbeiterkommissionen). 17. Mai Franco verkündet das Gesetz über die Prinzipien der Nationalen Bewegung. 20. Mai Spanien tritt dem Internationalen Währungsfond bei.
1968 11. Jan. Ein Teil der Madrider Universität wird nach Studentenunruhen geschlossen. 2. Aug. ETA ermordet den Polizeiinspektor Melitön Manzanas. 12. Okt. Guinea erklärt sich von Spanien unabhängig.
1945 19. März Don Juan de Borbön, der Sohn von Alfons XIII., verkündet öffentlich seine antifranquistische Haltung. 17. Juli Die Cortes verkünden das "Grundgesetz" der Spanier. 1946 8. Dez. Die UN empfehlen ihren Mitgliedern, die diplomatischen Beziehungen zu Spanien abzubrechen; bis auf Argentinien und den Vatikan folgen alle Mitglieder dieser Aufforderung. 1947 30. Jan. Ein Handelsabkommen zwischen Spanien und Argentinien sichert die spanische Grundversorgung auf niedrigstem Niveau. 26. Juli Franco regelt per Gesetz die Nachfolge in der Staatsführung und erklärt Spanien erneut zur Monarchie.
1959 Febr. Jugendliche aus dem Umfeld des PNV gründen ETA zum Kampf gegen die Diktatur. 21. Juli Die spanische Regierung verkündet den Stabilisierungsplan und leitet damit eine neue Wirtschaftspolitik ein. 1962 9. Febr. Spanien stellt einen Assoziationsantrag an die EWG. 1963 17. Jan. Ein erstes Dekret über Mindestlöhne wird verabschiedet. Apr. und Aug. Wiederholt werden FrancoGegner hingerichtet.
1950 4. Nov. Die UN heben ihren Boykottbeschluß gegen Spanien auf.
1964 9. Dez. Die EWG beginnt Vorgespräche mit der spanischen Regierung.
1953 30. Jan. Spanien wird in die UNESCO aufgenommen. 27. Aug. Das Konkordat zwischen dem Vatikan und Spanien wird unterzeichnet.
1966 11. März Beim Versuch, eine unabhängige Studentengewerkschaft zu gründen, kommt es zu zahlreichen Verhaftungen. 15. März Unter der Regie von Manuel Fraga Iribarne wird ein neues Pressegesetz verabschiedet. 14. Dez. Die von Franco vorgelegte Ley Orgänica del Estado (Staatsorgangesetz) wird per Volksentscheid angenommen.
1955 15. Dez. Spanien wird Mitglied der UN.
1969 4. Jan. Franco gibt Ifni an Marokko zurück. 23. Juli Prinz Juan Carlos wird zum Nachfolger Francos erklärt. 1970 29. Juni Spanien und die EWG unterzeichnen ein Präferenzabkommen. 1973 4. Juni Franco überträgt das Amt des Ministerpräsidenten an Admiral Luis Carrero Blanco. 31. Dez. Carlos Arias Navarro wird zum Nachfolger des von ETA ermordeten Carrero Blanco. 1974 12. Febr. Das "Regierungsprogramm der Öffnung" wird verabschiedet. 4. März Durch die Predigt des Bischofs von Bilbao verschärft sich der Konflikt zwischen Staat und Kirche. 9. Juli Nach der Einlieferung Francos in ein Krankenhaus übernimmt Juan Carlos erstmals das Amt des Staatschefs. 27. Nov. Hunderttausende fordern bei einem Streik ihre wirtschaftliche Besserstellung, eine Amnestie und Gewerkschaftsfreiheit. 21. Dez. Das Gesetz über die Zulassung "politischer Assoziationen" als Parteisurrogate wird verkündet.
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1975 18. Juni Die oppositionelle "Plattform der demokratischen Konvergenz" wird vom PSOE, den Christdemokraten u. a. Oppositionsgruppen gegründet. 27. Sept. Kurz nach der Verkündung eines harten Antiterrorgesetzes werden mehrere angebliche Terroristen hingerichtet. Dies führt zu heftigen antifranquistischen Demonstrationen in Europa und der Abberufung etlicher Botschafter aus Madrid. 1. Okt. Auf der Plaza de Oriente in Madrid kommt es zu einer letzten profranquistischen Massendemonstration. 14. Nov. Im "Abkommen von Madrid" tritt Spanien die Spanische Sahara an Marokko und Mauretanien ab. 20. Nov. Franco stirbt. 22. Nov. Juan Carlos wird zum König von Spanien ausgerufen. 5. Dez. Arias Navarro wird erneut mit dem Amt des Ministerpräsidenten betraut.
1976 4. Mai Die erste unabhängige Tageszeitung (El Pais) erscheint. 25. Mai Das Verbot, politische Versammlungen und Demonstrationen abzuhalten, wird aufgehoben. 9. Juni Ein neues Gesetz über politische Zusammenschlüsse (Parteiengesetz) wird erlassen. 1. Juli Arias Navarro tritt als Regierungschef zurück, zwei Tage später wird Adolfo Suärez zu seinem Nachfolger ernannt. 4. Aug. Die Regierung erläßt ein Amnestiegesetz. 15. Dez. Das Referendum über das Demokratisierungsprojekt wird abgehalten.
1977 30. März Durch ein neues Gewerkschaftsgesetz werden freie Gewerkschaften legalisiert, kurz darauf auch die Kommunistische Partei. 15. Juni Bei den ersten freien Parlamentswahlen seit 1936 siegt die UCD. 25. Okt. Die Regierung und die Opposition schließen den "Pakt von Moncloa", um die Wirtschaftskrise zu bekämpfen.
I Chronologie zur spanischen Geschichte
24. Nov. Spanien wird in den Europarat aufgenommen.
1985 12. Juni Spanien unterzeichnet die Beitrittsprotokolle zur EG.
1978 7. Dez. Die bereits am 31. Okt. von den Cortes verabschiedete Verfassung wird durch Volksabstimmung gebilligt.
1986 1. Jan. Spanien wird Vollmitglied der EG. 12. März Die Mehrheit der Spanier stimmt
1979 1. März Bei den nach Einführung der neuen
für einen Verbleib in der NATO. 22. Juni Trotz erheblicher Verluste behauptet der PSOE bei den Parlamentswahlen seine absolute Mehrheit.
Verfassung notwendigen Parlamentswahlen siegt erneut die UCD. 25. Okt. Im Baskenland und in Katalonien werden die Autonomiestatute per Volksentscheid angenommen.
1980 März Bei den Wahlen zu den Regionalparlamenten im Baskenland und in Katalonien kommt es jeweils zum Sieg der nationalistischen Parteien. 24. Juli Ein neues Gesetz zur Religionsfreiheit trennt Kirche und Staat. 21. Dez. Die Galicier stimmen über das galicische Autonomiestatut ab.
1981 29. Jan. Regierungschef Suärez tritt von seinem Amt zurück. 23. Febr. Einheiten der Guardia Civil unter Oberstleutnant Antonio Tejero unternehmen einen Putschversuch. 25. Febr. Leopoldo Calvo Sotelo wird zum neuen Regierungschef gewählt. 2. Aug. Die UCD und der PSOE vereinbaren die Umwandlung Spaniens in einen dezentralisierten Staat. 20. Okt. Die Andalusier stimmen mehrheitlich für die Annahme ihres Autonomiestatuts. 1982
30. Mai Spanien wird zum 16. Mitgliedsland der NATO. 28. Okt. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen kommt es zu einem Sieg der Sozialisten. 2. Dez. Felipe Gonzälez wird zum Ministerpräsidenten gewählt.
1988 14. Dez. Generalstreik gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der sozialistischen Regierung.
1989 1. Jan. Turnusgemäß übernimmt Spanien zum ersten Mal die EG-Präsidentschaft. 24. Apr. Spanien tritt der WEU bei. 19. Juni Die Pesete wird in das europäische Währungssystem integriert. 29. Okt. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen verfehlen die Sozialisten die absolute Mehrheit um ein Mandat. Felipe Gonzälez tritt seine dritte Amtszeit an.
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28. Mai Der PSOE erleidet zum wiederholten Mal schwere Verluste bei Kommunalwahlen. 1. Juli Spanien übernimmt die Präsidentschaft der EU. 15. Sept. Die Katalanen kündigen die Unterstützung der Sozialisten in den Cortes auf. 18. Dez. Javier Solana wird zum neuen NATO-Generalsekretär ernannt. 1996 3. März Bei den vorgezogenen Neuwahlen erringt der PP (38,85 %) einen knappen Sieg gegenüber dem PSOE (37,48 %). 4. Mai Jos6 Marfa Aznar (PP) wird zum neuen Regierungschef gewählt. 4. Okt. Die neue Regierung verkündet einen strengen Sparhaushalt für 1997.
1997 8. Apr. Die Regierung verkündet einen
kommen bei.
neuen Konvergenzplan zur Erfüllung der Maastrichtkriterien, außerdem kommt es zu weitreichenden Arbeitsmarktreformen, die zu einem deutlichen Sinken der Arbeitslosenquote führen. 19.-22. Juni Felipe Gonzälez verzichtet auf dem 34. PSOE-Kongreß auf die Wiederwahl zum Generalsekretär der Partei, sein Nachfolger wird Joaqufn Almunia. 13. Juli Nach der Ermordung eines baskischen Regionalpolitikers kommt es zu millionenfachen Anti-ETA-Demonstrationen in ganz Spanien. 1. Dez. Die 23 Vorstandsmitglieder der ETA-nahen Partei Heut Batasuna werden zu je sieben Jahren Gefängnis wegen "Zusammenarbeit mit einer bewaffneten Bande" verurteilt. 2. Dez. Spanien tritt der Militärstruktur der NATO bei.
1993 6. Juni Bei den vorgezogenen Neuwahlen
1998 2. Mai Der EU-Rat beschließt, daß die
erreicht der PSOE abermals nicht die absolute Mehrheit, stellt aber weiterhin die Regierung.
Europäische Währungsunion termingerecht am 1. Januar 1999 mit elf Teilnehmerstaaten, darunter Spanien, beginnt. 12. Sept. 23 nationalistische Parteien und Organisationen im Baskenland unterzeichnen die "Erklärung von Lizarra" als Friedensinitiative für das Baskenland.
1990 5. Febr. Der ehemalige Franco-Minister Manuel Fraga Iribarne wird Regierungschef Galiciens. 10. Apr. Jose Marfa Aznar wird zum Vorsitzenden des PP gewählt.
1991 25. Juni Spanien tritt dem Schengener Ab-
1995
8. Febr. Felipe Gonzälez wird verdächtigt, die illegalen GAL-Aktivitäten unterstützt zu haben.
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I Chronologie zur spanischen Geschichte
16. Sept. ETA verkündet einen unbefristeten und totalen Waffenstillstand ab dem 18. September. 25. Okt. Aus den Wahlen zum Regionalparlament des Baskenlandes gehen sowohl der PP als auch Euskal Herritarrok, der politische Arm von ETA, gestärkt hervor, der PNV bleibt mit knapp 28% stärkste Partei. 1999 18. Febr. Das Parlament beschließt die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht bis Ende 2002. 29. März Nach zähen Verhandlungen zwischen spanischen und deutschen Politikern einigen sich die Staats- und Regierungschef der Europäischen Union auf die Kernpunkte der Reform der Agrar- und Strukturpolitik sowie die Neuordnung der EU-Finanzierung (Agenda 2000). 4. Juni Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union ernennen den Spanier Javier Solana zum ersten hohen Repräsentanten für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik. 16.Aug. Jos6 Marfa Aznar stattet dem neuen marokkanischen Monarchen Mohammed VI. als erster europäischer Regierungschef einen offiziellen Besuch ab. 28. Nov. ETA kündigt ihren 1998 verkündeten Waffenstillstand mit Wirkung zum 3. Dezember und begründet dies mit der anhaltenden Repression gegen ihre Mitglieder.
2000 5. Febr. In El Ejido (Prov. Almerfa) kommt es zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die marokkanischen Arbeiter in der Region. 12. März Bei den Parlamentswahlen siegt der PP mit absoluter Mehrheit. Die Sozialisten müssen ihr schlechtestes Ergebnis seit 1979 hinnehmen. 19. Apr. Spanien und Großbritannien einigen sich auf einen Mechanismus zur Anwendung von EU-Recht in der britischen Kronkolonie Gibraltar. 26. Apr. In Madrid werden fünf Angeklagte wegen Entführung, Folter und Mordes von zwei
I Chronologie zur spanischen Geschichte mutmaßlichen ETA-Mitgliedern zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. 12.-16. Juli Eine Terrorwelle von ETA erschüttert Spanien. 18.-20. Sept. König Mohammed VI. von Marokko hält sich zu einem ersten offiziellen Staatsbesuch in Spanien auf. 21. Nov. ETA erschießt den sozialistischen Ex-Minister und Wirtschaftshistoriker Ernest Lluch in Barcelona, der Anschlag überschattet die Feierlichkeiten zum 25-jährigen Thronjubiläum von König Juan Carlos. 8. Dez. PP und PSOE unterzeichnen eine Vereinbarung, in der sie ihre parteipolitischen Interessen bei der Bekämpfung von ETA zurückstellen.
2001 13. Mai Bei den vorgezogenen Regionalwahlen im Baskenland siegt überraschend das Bündnis der gemäßigten Nationalisten unter Ministerpräsident Juan Jos6 Ibarretxe. 22. Juli Die Zentralregierung in Madrid warnt die autonome Regierung des Baskenlandes davor, eine Volksabstimmung über eine Abspaltung der Region von Spanien durchzuführen. 5. Sept. Zwischen Spanien und Marokko kommt es wegen der anhaltenden illegalen Einwanderung von Marokko nach Spanien zunehmend zu Spannungen. 2. Dez. In Madrid kommt es zu den bis dahin größten Protestaktionen gegen die Regierung Aznar und die von ihr durch das Parlament gepeitschte Ley Orgänica de Universidades. 31. Dez. Abschaffung der Wehrpflicht
2002 1. Jan. Spanien übernimmt den EU-Vorsitz. 20. Juni Landesweiter Generalstreik gegen die Umstrukturierung der Arbeitsgesetzgebung durch die Regierung Aznar. 27. Juni Die spanischen Cortes verabschieden ein neues Parteiengesetz, das ein dauerhaftes Verbot ETA-naher Parteien ermöglicht. 11. Juli Marokkanische Soldaten besetzen die Insel Perejil/Leila vor der marokkanischen Küste.
12. Juli Großbritanien und Spanien geben ihre Einigung über den zukünftigen Status von Gibraltar bekannt. 17. Juli Spanische Soldaten zwingen die marokkanischen Soldaten, Perejil zu verlassen. 20. Juli Spanien und Marokko legen ihren Konflikt um die Insel Perejil/Leila vorläufig bei. 3. Aug. Marokko erhebt erneut Ansprüche auf die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. 26. Sept. Der baskische Ministerpräsident Juan Jose Ibarretxe kündigt im baskischen Parlament an, das Baskenland zu einem mit Spanien assoziierten Freistaat machen zu wollen. 8. Okt. Unterzeichnung des Spanisch-Algerischen Freundschaftsvertrages durch Ministerpräsident Aznar und Präsident Bouteflika in Madrid. 7. Nov. Die Bevölkerung der britischen Kronkolonie Gibraltar lehnt eine geteilte Souveränität zwischen Großbritannien und Spanien über Gibraltar mit mehr als 99% ab. 20. Nov. Die Mitglieder der Verfassungskommission der Cortes verurteilen erstmals einstimmig und ohne Enthaltungen die franquistische Diktatur und fordern die Entschädigung ihrer Opfer. 2003 30. Jan. Spanien sowie sieben weitere Staaten veröffentlichen eine gemeinsame Erklärung, in der sie die US-amerikanische Irak-Politik unterstützen. 15. Febr. Mehr als drei Millionen Menschen in ganz Spanien protestieren gegen den Kurs der Regierung Aznar im Irak-Konflikt. 24. Febr. Spanien legt zusammen mit den USA und Großbritannien dem Sicherheitsrat der UN einen Resolutionsentwurf vor, der einen Militärschlag gegen den Irak legalisieren soll. 25. Mai Bei den landesweiten Kommunalund Regionalwahlen in 13 der 17 Autonomen Gemeinschaften wird der PSOE insgesamt zwar zur stärksten Partei, die erwarteten starken Verluste des PP bleiben jedoch aus. 28. Mai Amnesty International berichtet von Folter und Mißhandlungen in spanischen Haftanstalten und Internierungslagern für illegale Einwanderer.
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24. Juli Ein Vorauskommando der spanischen Streitkräfte trifft im Irak ein. Insgesamt entsendet Spanien 1300 Mann als Besatzungstruppen in den Irak. 2. Sept. Mariano Rajoy wird zum Generalsekretär und Spitzenkandidaten des PP für die Wahlen im März 2004 gewählt, Jose Marfa Aznar kandidert nicht mehr. 14. Dez. Durch das "Nein" Spaniens und Polens zur Veränderung der Stimmgewichtung innerhalb der EU scheitert die Einführung der EU-Verfassung zum geplanten Zeitpunkt. 2004 11. März Durch Bombenanschläge in den Madrider Bahnhöfen Atocha, Santa Eugenia und El Pozo werden 191 Menschen getötet und mehr als 1500 verletzt. Auf Druck der amtierenden Regierung Aznar wird der Verdacht sofort auf ETA gelenkt. Obwohl sich in den folgenden Tagen die Hinweise auf eine Täterschaft von islamistischen Terroristen verdichten, beharrt die Regierung des PP auf ihrer These der ETA-Täterschaft, um unmittelbar vor den Parlamentswahlen weiterer Kritik an ihrer Irakpolitik zu entgehen. Bei der Aufklärung des Attentats in den folgenden Monaten wird der Regierung Verschleierung und Manipulation vorgeworfen. 12. März In ganz Spanien nehmen mehr als 11 Millionen Menschen an Demonstrationen gegen die Terroranschläge und zum Gedenken der Opfer teil. 14. März Bei den Parlamentswahlen setzt sich überraschend die Sozialistische Arbeiterpartei PSOE unter Jose Luis Rodrfguez Zapatero mit 42,64% der abgegebenen Stimmen gegen die bisher mit absoluter Mehrheit regierende Volkspartei PP durch. 15. März Zapatero löst sein Wahlversprechen ein und kündigt den Rückzug der spanischen Truppen aus dem Irak an. 16. März Spaniens Sozialisten wollen die Blockadehaltung gegenüber der EU-Verfassung aufgeben. 22. Mai Kronprinz Felipe heiratet Letizia Ortiz Rocasolano in der Madrider AlmudenaKathedrale.
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25. Mai Die Regierung beabsichtigt die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe sowie die Legalisierung der Abtreibung. 13. Juni An den Wahlen zum Europäischen Parlament beteiligen sich 45,94% der Wahlberechtigten. Der PSOE erreicht 25 Mandate, der PP 24, eine Koalition nationalistischer Parteien namens GALEUSCA erhält zwei Mandate. 30. Aug. Die Regierung plant einen drastischen Kurswechsel in der Ausländerpolitik. Sie will illegalen Einwanderern, die Arbeit haben, ein Bleiberecht geben. 15. Okt. Sieben Monate nach den Madrider Anschlägen wird der mutmaßliche Anführer des islamistischen Terrorkommandos identifiziert. 15. Nov. Die verbotene baskische Partei Batasuna legt einen Friedensplan vor und ruft dazu auf, den bewaffneten Kampf zu beenden. Ihr Vorsitzender schlägt Spanien und Frankreich ein Referendum über die Zukunft des Baskenlandes vor. 6. Dez. Die baskische Untergrundorganisation ETA verübt um die Mittagszeit zeitlich abgestimmte Bombenanschläge in mehreren spanischen Städten. 2005 2. Febr. Das spanische Parlament lehnt den umstrittenen Unabhängigkeitsplan (Plan lbarretxe) für das Baskenland ab. 20. Febr. In einem Referendum, an dem 41 % der Stimmberechtigten teilnehmen, ratifiziert Spanien als erstes Land die Verfassung der Europäischen Union mit einer Zustimmung von 78,5% der Abstimmungsteilnehmer. 30. Juni Das Parlament beschließt die Zulassung der Homosexuellenehe.
29. Sept. Beim Ansturm hunderter afrikanischer Flüchtlinge auf die Exklave Ceuta sterben zwei Menschen. 10. Okt. Marokko beginnt mit der Abschiebung von etwa 1000 illegalen Flüchtlingen, die in der Vorwoche in die spanischen Nordafrika-Exklaven Ceuta und Melilla geflohen waren. Das Verhalten der spanischen Regierung in der Flüchtlingspolitik wird von der EU sowie Amnesty International kritisiert. 14. Okt. In Salamanca findet der XV. Iberoamerika-Gipfel statt. Themen sind vor allem die Problemfelder Staatsverschuldung und Migration. 2006 1. Jan. Ein Gesetz zum Nichtraucherschutz tritt in Kraft. 4.-6. März Parteitag des PP; heftige Attacken gegen die Nationalitäten- und Antiterrorismuspolitik des PSOE. 2. Mai Verabschiedung des neuen andalusischen Autonomiestatuts im Regionalparlament von Sevilla. 11. Mai Bruch der katalanischen Regionalregierung wegen der Ablehnung des neuen Autonomiestatuts durch die ERC. 19. Mai Billigung des "Plan Afrika" zur Eindämmung des Zustromes illegaler schwarzafrikanischer Einwanderer auf die Kanarischen Inseln. 9. Juni Arbeitsmarktreform; Besserstellung der Zeitarbeit. 18. Juni Annahme des neuen Autonomiestatuts durch Referendum in Katalonien (74% Zustimmung bei einer Wahlbeteiligung von knapp 50%). 28. Juli Gesetzesprojekt zur Rehabilitierung der Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur.
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II Historische Karten
II Historische Karten
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II Historische Karten Karte 1: Hispania in römischer Zeit
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Provinzgrenzen •
Provinzhauptstädte
Karte 1 zeigt die Iberische Halbinsel zur Zeit von Kaiser Caracalla (211-217) zu Beginn des 3. Jahrhunderts. Schon nach dem Zweiten Punischen Krieg (218-201 v. Chr.) hatten die Römer Hispania in Provinzen aufgeteilt: Hispania Citerior (näher an Italien gelegen) und Hispania Ulterior (der von Italien weiter entfernte Teil). Die Lex provinciae aus dem Jahr 133 v. Chr. legte eine Provinzeinteilung fest, die (bei vielfältigen Veränderungen) während der gesamten republikanischen Periode (2. und 1. Jahrhundert v. Chr.) Bestand haben sollte. Eine Neugliederung des Gebiets nahm sodann Kaiser Augustus (29 v. Chr.-14 n. Chr.) vor: Er unterteilte die Provinz Hispania Ulterior in zwei: Baetica und Lusitania; Hispania Citerior wurde zu Tarraconensis (einschließlich der kantabrischen Nordküste). Außerdem führte er zwei Provinzkategorien ein: die senatorischen, die "befriedet" waren und dem Senat unterstanden, und die kaiserlichen, deren Romanisierungsprozeß noch nicht abgeschlossen war und die dem Kaiser direkt unterstanden. Baetica wurde zu einer senatorischen Provinz und einem Prokonsul unterstellt, Lusitania und Tarraconensis wurden zu imperialen Provinzen. Caracalla schuf mit Gallaecia eine neue Provinz. Zu diesem Zeitpunkt war Hispania bereits weitgehend romanisiert, Latein hatte allmählich die einheimischen Sprachen verdrängt. In der Literatur kennt man diese Epoche als die "goldene Phase" Hispaniens, das in den laudes Hispaniae der lateinischen Literatur als privilegierter Teil des Imperium Romanum besungen wurde.
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Karte 2:
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Karte 2 zeigt die politisch-territoriale Organisation des westgotischen "Spania" im 7. Jahrhundert. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts waren bereits die Sueben, Vandalen und Alanen in Hispania einmarschiert und hatten den größten Teil des iberischen Territoriums unter sich aufgeteilt (Sueben und Vandalen: Gallaecia; Alanen: Lusitania und Cartaginensis; Vandalen: Baetica und das nordafrikanische Mauretania). Sehr schnell folgten die Westgoten als foederati Roms, deren Hauptstadt Tolosa (Toulouse) war; sie bekämpften im 5. Jahrhundert vor allem die Sueben, die sich in den Nordwesten (Gallaecia) zurückziehen mußten. Nach Niederlagen gegen die fränkischen Merowinger zogen sich die Westgoten zu Beginn des 6. Jahrhunderts ganz auf die Iberische Halbinsel zurück. Die Historia Gothorum des Heiligen Isidor von Sevilla (570-636) berichtet über diese Zeit. Die Westgoten bildeten allenfalls eine 200.000 Personen umfassende militärische Oberschicht, die sich zum Arianismus bekannte und von den sechs bis sieben Millionen katholischen Hispano-Romanen getrennt lebte. Von entscheidender Bedeutung war die Herrschaft Leovigilds (572-586), der die territoriale, juristische und religiöse Vereinheitlichung Iberiens vorantrieb. 587 traten Rekared I. und mit ihm alle Westgoten zum Katholizismus über. Die Westgoten orientierten sich bei ihrer Territorialeinteilung an den römischen Provinzen. Die Tarraconensis wurde zu Iberia, die Cartaginensis zu Aurariola, der Norden wurde Autrigonia genannt, Gallaecia behielt den Namen, von der Bätica spaltete sich im Nordwesten Hispalis ab, Lusitania wurde beibehalten. Septimania reichte im Nordosten über die Halbinsel hinaus. Die Balearen blieben unter vandalischer und spätier byzantinischer Herrschaft. Das Liber Iudiciorum von 654 faßte die Gesetzestexte des Westgotenreiches zusammen.
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Karte 3: Historische Regionen
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Karte 3 zeigt die "historischen Regionen" der Iberischen Halbinsel. Sowohl die territoriale Einteilung als auch die Bezeichnungen der "historischen Regionen" haben sich im Mittelalter, während der Reconquista, herausgebildet. Sie waren großteils bis ins 20. Jahrhundert in Gebrauch. Erst der "Staat der Autonomien", der im Gefolge der Verfassung von 1978 entstand, schuf teilweise neue politische Einheiten und andere Bezeichnungen. "Alt-Kastilien" (Castilla la Vieja) und Leön bilden heute die Autonome Gemeinschaft Kastilien-Leön, "NeuKastilien" (Castilla la Nueva) wurde zur Autonomen Gemeinschaft Kastilien-La Mancha. Die Karte weist Portugal als eine selbständige politische Einheit aus. Ausgehend vom nördlichen Braga, das zu einem bedeutenden Bischofssitz wurde, entwickelte sich der politisch eine Zeitlang im Königreich Galicien zusammengehörige Nordwesten der Halbinsel (mit einer gemeinsamen Sprache, dem Galicisch-Portugiesischen) politisch auseinander, als die Grafschaft Portucale sich nach Süden ausbreitete und sich aus Galicien bzw. später dem Königreich Leön herauslöste. Im 12. Jahrhundert wurde das Königreich Portugal gegründet.
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Karte 4: Emirat von Cördoba
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Karte 4 zeigt das Emirat von Cördoba im 8. Jahrhundert. 711 waren die moslemischen Berber und Araber mit geringen Kräften (etwa 40.000 Mann) als Verbündete einer Partei in das vom Bürgerkrieg zerrissene Westgotenreich eingedrungen, in dem damals ungefähr 6 Mio. Menschen lebten. Die großen Städte, auch die westgotische Hauptstadt Toledo, kapitulierten rasch. Gegenüber dem militärischen Druck der Franken unter Karl Martell (714-741) blieb die Expansion der Moslems auf das Gebiet des Westgotenreichs beschränkt. Der einzige überlebende Nachkomme der von den Abbasiden ausgerotteten Omajjadendynastie von Damaskus errichtete seine Herrschaft als eigenständiges "Emirat" mit Sitz in Cördoba. Er unterdrückte innenpolitische Gegner und Aufstände und legte die Grundlagen für einen unabhängigen Staat. Die Muslime festigten ihre Herrschaft durch ein politisch-militärisches Verwaltungssystem, in dem die wichtigsten Städte mit Garnisonen Schwerpunkte bildeten. Wirtschaftliche Grundlagen des muslimischen Emirats bildeten Landwirtschaft und Gartenbau, die einen Aufschwung erlebten (Bewässerungsanlagen, Obstpflanzungen, Reis, Baumwolle). Hoch entwickelt war auch die Pferde- und Maultierzucht. Gewerbe und Handwerk standen in Blüte, bedeutend waren auch die Textilproduktion (Sevilla) und das Waffenhandwerk (Toledo). Einnahmequellen des Emirats waren Steuern der nichtmoslemischen Grundherren, Erträge aus staatlichem Grundbesitz, Einkünfte aus der Münzprägung und Lösegeldzahlungen für gefangene Christen. Um das große Gebiet verwalten zu können, schufen die Emire sechs Provinzen: Braga (Galicien), Wrida (das römische Lusitania). Toledo (das alte Cartaginensis), Zaragoza (das frühere Tarraconensis), Al-Andalus (das römische Baetica) und Septimania (mit der Hauptstadt Narbona).
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Karte 5: Die Reconquista
(10. Jahrhundert)
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VIII Das Baskenland – eine Problemskizze
Literatur
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sein. Denn trotz aller Einschränkungen läßt sich sagen, daß ETA durch die Sicherheitskräfte in den letzten Jahren sehr geschwächt worden ist und ihre Strukturen ernsthaft angeschlagen sein dürften. Die Polizei konnte erhebliche Erfolge verbuchen. Allein 2001 wurden 135 etarras festgenommen, 2004 noch einmal 131, zwischen 1996 und 2000 waren 250 inhaftiert worden. Immer häufiger wurden ETA-Mitglieder auch in Frankreich verfolgt und gefangengenommen. Die Fahndungserfolge und spektakulären Waffenfunde waren (auch) das Ergebnis der verbesserten Zusammenarbeit zwischen spanischer und französischer Polizei. Im Jahr 2002 saßen über 500 etarras in spanischen Gefängnissen ein. Im Frühjahr 2006 verdichteten sich die Hinweise auf eine bevorstehende Grundsatzerklärung von ETA. Am 22. März war es schließlich soweit: ETA erklärte eine "dauerhafte Waffenruhe", die am 24. März beginnen sollte. In einer vom baskischen Fernsehen ausgestrahlten Videoaufzeichnung nannte eine vermummte ETA-Sprecherin den Gewaltverzicht einen "Anstoß zu einem demokratischen Prozeß". In der Erklärung verlangte die Terrorgruppe eine Anerkennung der Rechte der Basken als "Volk" und eine Garantie dafür, daß im Baskenland "alle politischen Optionen" möglich sein sollten. (Diese Forderung war eine Umschreibung für die Wiederzulassung der verbotenen Batasuna-Partei.) Am Abschluß des "demokratischen Prozesses" müsse die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Basken stehen; wörtlich hieß es: "Am Ende dieses Prozesses müssen die baskischen Bürger das Wort haben und über ihre Zukunft entscheiden können." Der spanische und der französische Staat müßten die Ergebnisse "ohne irgendeine Einschränkung" anerkennen. Die Reaktionen auf die ETA-Ankündigung waren überwiegend von Erleichterung und Zuversicht geprägt. Ministerpräsident Zapatero sprach von einem "langen und schwierigen" Weg, der nun bevorstehe, während Oppositionsführer Rajoy sofort davor warnte, den Terroristen durch Konzessionen bei Verhandlungen einen "politischen Preis" zu bezahlen. Der Regierungschef bot der konservativen Opposition enge Zusammenarbeit bei den bevorstehenden Verhandlungen an. Die Regierung wollte aber zunächst einmal abwarten, ob der Gewaltverzicht sich nur auf tödliche Attentate bezog oder auch Straßengewalt und Erpressungen mit einbezog. In den ersten Monaten des Jahres 2006 hatte ETA immer wieder mit vorab angekündigten Bombenanschlägen, Attentaten mit großen Sachschäden, Straßengewalt sowie Droh- und Erpresserbriefen mit der Forderung, die "Revolutionssteuer" zu bezahlen, auf sich aufmerksam gemacht. Kommentatoren wiesen darauf hin, daß auch in der Erklärung vom 22. März nicht die Rede von einer ETA-Auflösung oder von einer Ablieferung der Waffen ist; Skepsis bleibe angesagt. Bei aller Zurückhaltung in der Einschätzung der neuen Situation überwogen im Frühjahr 2006 die Hoffnungen. Der 22. März 2006 könnte der Anfang vom Ende von ETA gewesen sein.
Literatur Abascal Conde, Santiago: zDerecho de autodeterminaciön?: Sobre el pretendido derecho de secesiön del "Pueblo Vasco". Madrid 2004 Aranzadi, Juan: Good-Bye, ETA. San Sebastiän 2005 Baeza, Alvaro L.: El final de ETA. Agur a las armas: historia ETA 1958-2005. Madrid 2005
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VIII Das Baskenland — eine Problemskizze
Baeza, Älvaro L.: El Plan Ibarretxe: los protagonistas. Madrid 2005 Clark, Robert P.: The Basque Insurgents. Wisconsin 1984 Dfaz Herrera, Jos& Los mitos del nacionalismo vasco de la Guerra Civil a la secesiön. Barcelona 2005 Elorza, Antonio: Tras la huella de Sabino Arana. Madrid 2005 Granja, Josä Luis de la: El siglo de Euskadi. Madrid 2003 Heiberg, Marianne: The Making of the Basque Nation. Cambridge 1989 Lang, Josef: Das baskische Labyrinth. Frankfurt am Main 1988 Mees, Ludger: Nationalism, Violence and Democracy. The Basque Clash of Identities. Hampshire 2003 Pablo, Santiago de /Mees, Ludger/Rodriguez Ranz, Josä A.: El pändulo patriötico. Barcelona 2005 Ugalde, Martin de: Nueva sintesis de la historia del Pafs Vasco desde la prehistoria hasta el gobierno de Garaikoetxea. San Sebastian 2004 Waldmann, Peter: Ethnischer Radikalismus. Ursachen und Folgen gewaltsamer Minderheitenkonflikte am Beispiel des Baskenlandes, Nordirlands und Quebecs. Opladen 1989 Waldmann, Peter: Militanter Nationalismus im Baskenland. Frankfurt am Main 1990 Woodworth, Paddy: Dirty War, Clean Hands. ETA, the GAL and Spanish Democracy. Cork 2001
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IX Spanien und Europa - ein ambivalentes Verhältnis
Die Debatte über das Verhältnis Spaniens zu Europa ist so alt wie die "Abkoppelung" der Iberischen Halbinsel von einer als gemeineuropäisch verstandenen Entwicklung in der Neuzeit. Spanier selbst haben die Differenz ihres Landes zu Europa immer wieder dichotomisch als Rückständigkeit versus Fortschritt charakterisiert, diesen Gegensatz allerdings – je nach Perspektive – unterschiedlich bewertet: entweder als zivilisatorische Unterlegenheit gegenüber wissenschaftlich-rationaler Überlegenheit, oder als geistig-moralische Stärke gegenüber materialistischem Fortschrittsfetisch. Wird nun als ein entscheidendes Kriterium für die Auseinanderentwicklung von Spanien und Europa der Stand der industriellen Entwicklung, die ökonomische Leistungsfähigkeit des Landes oder volkswirtschaftliche Prosperität angesehen und darauf hingewiesen, daß der Abstand zwischen dem Süden und dem Norden der Pyrenäen im Verlauf der Neuzeit immer größer wurde, so liegt es nahe, nach den entscheidenden Weichenstellungen zu fragen, die auf der einen Seite zu dynamischer Entfaltung, auf der anderen zu Stagnation und Dekadenz führten.
1. Historischer Rückblick: Zwischen Abschottung und Annäherung Als Kriterien für die Ausformung eines neuzeitlich-westlichen Wirtschaftsstils gelten zum einen dessen geistig-wissenschaftliche Fundierung, zum anderen die Verinnerlichung und Legitimierung der Arbeit. Seit den religionssoziologischen Untersuchungen von Max Weber wird in der Forschung ein Zusammenhang zwischen der protestantischen Ethik und dem Aufstieg des Frühkapitalismus im 16. Jahrhundert gesehen (Weber 1981; vgl. auch Ludwig 1988). Die im protestantischen Calvinismus angelegte rastlose Berufsarbeit sollte durch ihre innerweltlichen Erfolge dem Christen offenbaren, ob er zu den Erwählten Gottes zählte, die sich durch materiellen Erfolg seine Gnade erarbeitet hatten. Das antireformatorische Spanien Karls V. und Philipps Il. nun bekämpfte nicht nur die religiösen Neuerungen des 16. Jahrhunderts, sondern schottete sich auch von der zusehends auf Rationalität und Naturwissenschaften beruhenden geistig-ökonomischen Entwicklung ab, blieb scholastischen Lehren verhaftet, lehnte im wirtschaftlichen Bereich weltimmanente Nützlichkeitserwägungen ab, richtete seinen Blick weg von Europa und verwandte seine Energien auf die vollständige Eroberung und Unterwerfung des jüngst erworbenen Weltreichs in Übersee. Die Vertreibungen von Juden und Muslimen im 15. und 16. Jahrhundert, deren Folgen unmittelbar auf das Problem der bald danach einsetzenden spanischen "Dekadenz" verweisen, waren Ausdruck jener (gegen angenommene Überfremdungsgefahren gerichteten) Abwehrhaltung, die fortan so häufig anzutreffen sein würde: gegen Protestanten und Aufklärer, Liberale und Sozialisten, Freimaurer und Demokraten. Im 18. Jahrhundert führten der Einfluß aufgeklärten Gedankenguts und seine Bekämpfung zur Herausbildung jener zwei Strömungen, die Marcelino Men&Klez y Pelayo die "Heterodoxen" und die "Anti-
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IX Spanien und Europa — ein ambivalentes Verhältnis
Heterodoxen" genannt hat. Erstere waren die aufgeklärten Neuerer, letztere die konservativen Verteidiger des traditionellen und traditionalistischen Spanien. Der Entwicklungsvorsprung Europas nahm im 19. Jahrhundert unaufhaltsam zu. Während die Industrialisierung in Großbritannien, Frankreich, Belgien und Deutschland ein gesamtwirtschaftliches Wachstum vorher unbekannten Ausmaßes bewirkte und weitreichende Folgen im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich zeitigte, war Spanien durch innenpolitische Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Liberalen unversöhnlich gespalten.
Historischer Rückblick: Zwischen Abschottung und Annäherung
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n Die Krise von 1898 Das ungelöste "Problem Spanien" sollte gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder voll aufbrechen. Auslöser war der Verlust der letzten spanischen Überseekolonien (Kuba, Puerto Rico, Philippinen) im Krieg von 1898 gegen die USA. Wohl kein zweites Ereignis wirkte sich auf die Restaurationsmonarchie und – in einem umfassenderen Sinne – auf die weitere Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert nachhaltiger aus als der Verlust dieser letzten Kolonien. Bis heute werden in der spanischen Historiographie jene Ereignisse als das "Desaster von 1898" bezeichnet. Es ging dabei keineswegs nur um das Ende Spaniens als Kolonialmacht; der koloniale Niedergang wurde vielmehr bereits von Zeitgenossen als Zusammenbruch des Restaurationssystems, von vielen Systemvertretern gar als eine Art finis Hispaniae gedeutet; die vielzitierte spanische "Dekadenz" und der "Verlust der Größe Spaniens" erhielten in der Kriegsniederlage von 1898 ihren symbolhaften Ausdruck. Das Erwachen aus dem imperialen Traum löste in Spanien eine gewaltige Bewegung aus, die teils geistig-literarisch, teils politisch-reformerisch orientiert war. Philosophen und Schriftsteller erblickten Spanien in einer tiefen Krise, aus der entweder die Rückbesinnung auf das "wahre Wesen" oder die "Europäisierung" des Landes herausführen konnten. Die nationale Hoffnungslosigkeit der "Generation von 1898" (La generaciön del 98) führte allerdings zu den unterschiedlichsten Zukunftsvisionen, Zielprojektionen und politischen "Ratschlägen".
europäischen Vorbildern mündete allerdings in eine elitär gefärbte "Germanisierungsthese". Als Sprachrohr fortschrittlicher Ideen aus dem Ausland gründete Ortega 1923 die Kulturzeitschrift Revista de Occidente. Vor allem aufgrund seines Essays La rebeliön de las masas ("Der Aufstand der Massen") wurde der Philosoph als Herold der Einigung Europas gefeiert, der schon früh die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Integration des Kontinents erkannt habe. Von den ersten übernationalen Anläufen der Zwischenkriegszeit (Völkerbund, PaneuropaBewegung) wurden auch die spanischen Europäisten jener Zeit geprägt; einige von ihnen – etwa Eugenio d'Ors und Salvador de Madariaga – nahmen auch aktiv an jenen institutionellen Erfahrungen teil. Und als 1931 die Zweite Spanische Republik gegründet wurde, schien endgültig jene geistig-politische Richtung im öffentlichen Leben Spaniens die Oberhand zu gewinnen, die für Außenorientierung und Europa-Zugewandtheit eintrat. Die vorübergehende Dominanz des "westeuropäischen Modells" – das sich in parlamentarischer Demokratie, Pluralismus, Marktwirtschaft und wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen äußerte – ließ sich nach Ausrufung der Zweiten Republik allenthalben in Politik und Kultur feststellen. Der politische Konsens, von dem die Zweite Spanische Republik in den 30er Jahren getragen wurde, war äußerst brüchig. Die Reformpolitiker wollten einen laizistischen und liberalen Staat schaffen, der den bürgerlichen Vorstellungen Ausdruck verlieh. Erstrebt wurde daher eine demokratische Verfassung, eine Militärreform, die Beschränkung der Macht der Kirche, eine Bildungsreform. Die Durchführung dieser Reformmaßnahmen hatte sowohl eine soziale als auch eine ideologische Polarisierung im Land zur Folge. Die Agrarreformen und der laizistische Staat wurden von der grundbesitzenden Oligarchie bzw. von der Kirche als frontaler Angriff auf ihre säkularen Rechte verstanden; das "traditionale" und das "moderne" Modell standen sich unversöhnlich gegenüber. Da das parlamentarische System den traditionellen Eliten keine Mechanismen zur Bewahrung ihrer privilegierten Position an die Hand gab, rekurrierten sie auf das Militär zur gewaltsamen Wiederherstellung ihrer vordemokratischen Stellung. Der Bürgerkrieg von 1936 besiegelte sodann das Scheitern des modernisierend-"europäisierenden" Reformismus.
n Polarisierung der Positionen In der Zwischenkriegszeit griff die akademische Elite auf die Möglichkeit von Auslandsaufenthalten zurück, absolvierte Studien in verschiedenen europäischen Ländern (vornehmlich in Deutschland) und trug anschließend zur Propagierung "europäischen" Gedankenguts an spanischen Universitäten bei. Was diese Elite aus dem Ausland mitzubringen vermeinte, waren Technik und Methode. Zu jenen Erben der 98er Generation gehörte auch Jos Ortega y Gasset (1883-1955), dessen gesonderte Erwähnung insofern gerechtfertigt erscheint, als er wie kaum ein zweiter Spanier im 20. Jahrhundert die "Europäisierung" Spaniens und den Anschluß des Landes an den "Fortschritt" Westeuropas gefordert hat. Gründe für diese Forderung gab es, Ortega y Gasset zufolge, mehr als genug, war er doch der Meinung: "Die ganze Geschichte Spaniens [...] ist die Geschichte einer Dekadenz gewesen." Insbesondere die letzten drei Jahrhunderte waren nur "Schlaf, Verblödung, Egoismus" (zit. nach Lafn Entralgo 1948, 113). Die Abrechnung mit der Heuchelei der alten Politik fand 1921 in Ortegas Essay Esparia invertebrada ("Spanien ohne Rückgrat") statt; die Forderung nach Regenerierung an
n Der franquistische Sonderweg 1)er Ausgang des Bürgerkrieges sollte das spanisch-europäische Verhältnis jahrzehntelang prägen und jenen "Sonderweg" bedingen, den das franquistische Spanien bis in die 60er I a hre hinein propagierte. Hatte im Bürgerkrieg die Linke die Hoffnung gehegt, Spanien als zweites sozialistisches Land der Geschichte installieren zu können, so machte die Rechte bewußt die glorreiche spanische Vergangenheit zum Leitstern ihrer Bestrebungen. Die franquistische Propaganda setzte fortan Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Freiinaurerei – die modernisierungswilligen und Europa zugewandten Kräfte der Zweiten Republik – mit dem ewigen "Antispanien" gleich, verkündete die konservative Ideologie vom einmaligen Sonderweg Spaniens und seiner kreuzfahrerischen Mission in der Zeit der Säkularisierung und der Ausbreitung des Sozialismus und machte nahezu alle Modernisierungsmaßnahmen des vorangegangen Jahrfünfts rückgängig. Politisch und ökonomisch schlug Spanien nach Bürgerkrieg und Weltkrieg somit einen "Sonderweg" ein, der teils freiwillig gewählt war, teils von außen auferlegt wurde. Der in den 60er Jahren von den Regime-Propagandisten zur Lockung sonnenhungriger Mittel- und
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IX Spanien und Europa – ein ambivalentes Verhältnis
Nordeuropäer entwickelte Tourismusslogan Spanien ist anders stellte auch ein bewußt vorgetragenes ideologisch-politisches Selbstbekenntnis dar. Der politische Sonderweg, der das franquistische Spanien von der westeuropäischen Entwicklung unterschied, sollte bis zum Tode des Diktators beibehalten werden: Hatte Franco bereits wenige Wochen nach Beendigung des Bürgerkrieges programmatisch Spaniens Beziehungen zur Außenwelt als Defensivhaltung gegen eine weltweite Verschwörung charakterisiert, so sollte das Regime von dieser Grundeinschätzung nie abweichen. Wie sehr das repressive System des Franquismus den "europäischen" Werten entgegenstand, läßt sich schon der Tatsache entnehmen, daß in jenen Jahren das Nachdenken der spanischen Intellektuellen über Europa zumeist ein Plädoyer für eine Öffnung des Landes war. Europa wurde zum Maßstab, und der Hinweis auf diese europäische Vielfalt zur Kritik an der aufgezwungenen politischen und kulturellen Uniformität Spaniens. Der Bezug auf Europa war (direkt oder verklausuliert) Ausdruck von Diskonformität und Perspektive ermutigender Hoffnung auf Freiheit und Demokratie. Die Vision war nicht auf wirtschaftliche Besserstellung, sondern auf soziale, politische und kulturelle Entwicklung gerichtet. Ein geradezu paradigmatisches Beispiel für diese Einstellung war jener (in Spanien selbst und international vielbeachtete) Kongreß der Europäischen Bewegung im Juni 1962 in München, dem Persönlichkeiten aus den verschiedensten politischen Lagern der demokratischen Opposition gegen Franco (u. a. Salvador de Madariaga, Jos Maria Gil Robles, Rodolfo Llopis) beiwohnten. Die Teilnehmer an der Münchner Konferenz sahen sich in den Wochen nach ihrer Tagung einer Hetz- und Verleumdungskampagne ausgesetzt, wie sie in Spanien schon lange nicht mehr erfolgt war. Beschimpft als "ewige Feinde Spaniens" wurden sie verbannt, abgeschoben oder mit Redeverbot belegt. Deutlicher hätte die anhaltende Dichotomie Spanien-Europa in der Franco-Ära nicht zum Ausdruck gebracht werden können. n Die Öffnung nach Europa: Abendland-Ideologie und Wirtschaftsliberalisierung Eine wesentliche Rolle für die Zunahme an internationaler Akzeptanz des Franco-Regimes spielten der Katholizismus und die damit eng verknüpfte Abendland-Ideologie. Der Katholizismus war es, der nach 1945 im Ausland den Gedanken der Vorbildlichkeit Spaniens für eine europäische Neuordnung belebte und bei der konservativen Grundgestimmtheit der 50er Jahre wesentlich zur Aufwertung des franquistischen Regimes beitrug. Spanien wurde wieder bruchlos in die christliche Einheit Europas eingeordnet, die Wallfahrt nach Santiago de Compostela als Bindeglied abendländischer Gemeinschaftsidee verherrlicht, der Gedanke der europäischen Einheit und die Idee des christlichen Abendlandes gleichgesetzt. Die Regierungsumbildung von 1957, durch die zum ersten Mal Vertreter des Opus Dei in das Kabinett aufgenommen wurden, stellte einen grundlegenden Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, eine Veränderung der Entscheidungs- und Lenkungsmechanismen auf wirtschaftlichem Gebiet und den Erwerb einer neuen Legitimitätsbasis für das autoritäre Regime dar. Die Männer des Opus Dei, die im folgenden Jahrzehnt die spanische Wirtschaftspolitik weitgehend bestimmen sollten, waren die eigentlichen Exponenten jener "technokratischen" Ideologie, deren Verfechter seit den späten 50er Jahren offen auf eine durchgreifende Modernisierung der antiquierten spanischen Wirtschaftsstruktur hinarbeite-
Spanien und die EG/EU
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ten, eine forcierte ökonomische Expansion auf der Grundlage eines selbständigen, aber vom Staat geförderten Unternehmertums anstrebten und Spanien enger an Europa, vor allem an den Gemeinsamen Markt, heranführen wollten. Der wirtschaftliche Aufschwung der 60er Jahre zog gewaltige Veränderungen im sozioökonomischen und sozio-kulturellen Bereich nach sich: Die Demographie nahm immer ausgeprägter die Muster entwickelter Industrienationen an: Erhöhung der Lebenserwartung, Nachlassen der Geburtenhäufigkeit, Anwachsen der älteren Bevölkerung, Rationalisierung des generativen Verhaltens. Die Wanderungsbewegungen führten zu hochgradiger Verdichtung der spanischen Bevölkerung in wenigen Provinzen, zu gewaltigen Verschiebungen im Siedlungsgefüge und in deren Gefolge zu einer hohen Urbanisierungsrate. Die Erwerbsstruktur paßte sich mit ihrem Übergewicht an Beschäftigten im tertiären und sekundären Bereich gegenüber der Landwirtschaft weitgehend der anderer Industriegesellschaften an. Im Gefolge der Industrialisierung und Arbeitsplatzspezialisierung nahm die Professionalisierung und intergenerative Berufsmobilität in nahezu allen Bereichen deutlich zu. Die Alphabetisierung erreichte Quoten, die in etwa entwickelten Industrienationen entsprachen. Bildungspolitisch waren die letzten 50 Jahre ein Übergang von einem zuvor noch massiven Analphabetentum zu einer soziokulturellen Differenzierung. Die Familienstruktur entwickelte sich immer deutlicher auf die sogenannte Kernfamilie hin, die Erwerbsquoten der Frauen stiegen rasch. Das Wertesystem (Einstellung zur Ehescheidung, Sexualität, Emanzipation) war fundamentalen Wandlungen unterworfen; der reale Säkularisierungsprozeß der Bevölkerung schritt weit voran; Leistung und Erfolg zählten bald zu den "positiven" Werten in der spanischen Gesellschaft. In vielerlei Hinsicht widersprach damit das Ergebnis der franquistischen Politik den ursprünglichen Intentionen: Am Ende der Franco-Herrschaft war die spanische Gesellschaft politisierter, urbanisierter und säkularisierter denn je, die Arbeiter und Studenten waren so aufsässig wie noch nie, die Autonomie- und Selbständigkeitsbewegungen der Regionen ausgeprägter als zu jedem anderen Zeitpunkt der neueren spanischen Geschichte, Sozialisten und Kommunisten bei den ersten Wahlen nach Francos Tod so erfolgreich wie nie zuvor, die spanische Wirtschaft finanziell und technologisch vom internationalen Kapital in geradezu beängstigendem Ausmaß abhängig. Nie zuvor in seiner Geschichte dürfte Spanien wirtschaftlich und sozial so "europäisch" gewesen sein wie im Übergang zur Demokratie nach dem Ende des autoritären Regimes.
2. Spanien und die EG/EU Spanien mag zwar am Ende der Franco-Ära ökonomisch und sozial weitgehend europäisiert gewesen sein; politisch befand es sich allerdings nicht in der Europäischen Gemeinschaft, obwohl seine Bemühungen um engeren Anschluß an die EWG weit zurückreichen. Bis zur Unterzeichung der Römischen Verträge hatte Spanien der europäischen Integrat ionsbewegung kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Erst nach Gründung der EWG reagierte die spanische Regierung, die eine interministerielle Kommission einsetzte und 1962 selbst einen Beitrittsantrag an die EWG richtete. Brüssel reagierte auf den damaligen Assoziierungsantrag mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft ausgesprochen zurückhaltend, nachdem
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IX Spanien und Europa – ein ambivalentes Verhältnis
eine wesentliche Voraussetzung für die Mitgliedschaft — eine demokratische Grundordnung — in Spanien fehlte. Erst 1970 schlossen die EWG und Spanien schließlich ein Präferenz-Handelsabkommen ab, nachdem jahrelange und schwierige Verhandlungen vorausgegangen waren, bei denen Spanien zuerst eine Antwort auf sein Beitrittsgesuch von 1962 verlangte, sodann sich mit Gesprächen über ein Handelsabkommen zufrieden gab, dessen Aushandlung sich mehrere Jahre hinzog (Marquina Barrio 1989). n Der lange Weg in die Europäische Gemeinschaft Als in der Übergangszeit nach Francos Tod die außenpolitischen Weichenstellungen vorgenommen wurden, stand Spanien vor der Entscheidung, ob es sich stärker an (West-) Europa anlehnen, ob es die außereuropäische, vor allem die lateinamerikanische und die nordafrikanische Karte spielen oder ob es sich eine blockfrei-neutralistische Ausrichtung geben sollte. Mit der Übergabe des offiziellen Beitrittsgesuchs am 28. Juli 1977 vollzog das inzwischen demokratische Spanien die eindeutige Hinwendung zu Europa. Im gleichen Jahr noch wurde der iberische Staat in den Europarat aufgenommen, zwei Jahre später unterzeichnete Madrid die Europäische Menschenrechtskonvention (Niehus 1988; Armero 1989). Als von spanischer Seite 1977 der erneute Beitrittsantrag gestellt wurde, geschah dies im Bewußtsein, eine historische Weichenstellung vorzunehmen. In Spanien setzte eine neue Phase der Diskussion über Europa ein: Die erhoffte EG-Mitgliedschaft wurde mit Rückkehr zur "Normalität" und in das "gemeinsame Haus" Europa, mit wirtschaftlicher Modernisierung, mit Verhinderung einer politischen Involution gleichgesetzt. Die Öffnung Spaniens nach Europa und die zunehmende Akzeptanz durch Europa auf der einen sowie der Prozeß des innerspanischen Wandels auf der anderen Seite bedingten sich gegenseitig. Es bestand somit eine Korrelation zwischen dem inneren Demokratisierungsprozeß und dem Bestreben, die außenpolitische Isolierung aufzubrechen. Im Verlauf der Beitrittsverhandlungen veränderten sich die spanischen Vorstellungen Europa gegenüber zumindest in drei Kernbereichen: Wurde die EG zunächst als eine Art Schutzbeauftragter der noch schwachen spanischen Demokratie gesehen, so überwog allmählich immer deutlicher die Vorstellung, die spanische Demokratie habe sich ohne nennenswerte Einflüsse von außen stabilisiert und die EG sei keineswegs ein Garant für die Sicherung der Demokratie. Im Hinblick auf den Modernisierungsimpuls durch die Gemeinschaft wich die ursprüngliche Vorstellung einer von außen einwirkenden ökonomischen Wandlungsstrategie der Überzeugung, Modernisierung sei eine weit über die Wirtschaft hinausreichende Aufgabe der eigenen Gesellschaft. Und galt bezüglich der Regionalismusproblematik Europa als Inbegriff von Vielfalt und Dezentralisierung, so führten die Zweifel über die föderalen Wirkungsmöglichkeiten der Gemeinschaft zur Umkehrung der ursprünglichen Vorstellungen; schließlich galt Spanien als Beispiel für andere Länder Europas. Die Enttäuschungen und Unsicherheiten über Europa haben sogar Spekulationen über isolationistische spanische Sonderwege wieder zum Leben erweckt (Frey 1988). In der Schlußphase wurden die Beitrittsverhandlungen durch ein weiteres Problem erheblich belastet. Für die EG ging es bei der zweiten Süderweiterungsrunde nämlich nicht nur um Fragen der Integrationspolitik und der wirtschaftlichen Interessen, sondern darüber
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hinaus um sicherheitspolitische Erwägungen, präsentierte sich Spanien doch als wichtiges Operationsgebiet zwischen den Kanarischen Inseln und den Pyrenäen. Immer deutlicher verschmolzen EG-Beitritt und Verbleib in der NATO politisch zu einem Projekt, was sich hinsichtlich der Akzeptanz des spanischen EG-Beitritts durch die Öffentlichkeit als höchst problematisch erweisen sollte, denn während Europa eigentlich bei der Mehrheit der Spanier unumstritten war, lehnten sie einen NATO-Verbleib ebenso deutlich ab. Die Vermengung beider Fragen mußte notwendigerweise zu einer stärkeren Distanzierung von Europa führen, das als Erpressung empfundene Junktim wurde scharf abgelehnt. Die Wahlen von 1982 hatte die Sozialistische Partei auch wegen ihrer Anti-NATO-Parolen gewonnen; sie hatte in Aussicht gestellt, daß sie im Falle der Regierungsübernahme ein Referendum über den Verbleib des Landes in der Atlantischen Verteidigungsgemeinschaft abhalten würde. Nachdem Felipe Gonzälez Ministerpräsident geworden war, merkte er rasch, daß die angestrebte Zugehörigkeit zur EG vom Verbleib in der Verteidigungsallianz nicht zu trennen war. Die europäischen Mächte und die USA legten aus geostrategischen Gründen größten Wert auf einen Verbleib Spaniens in der NATO. Es war auch kein Geheimnis, daß die Sicherheitserwägungen eine wesentliche Rolle bei der Zustimmung zur Aufnahme in die EG spielten. Damit geriet die spanische Regierung in eine politische Zwickmühle, da einerseits die Alliierten keinen Zweifel am engen Zusammenhang zwischen EGund NATO-Mitgliedschaft ließen, andererseits die Sozialisten vor der Regierungsübernahme für einen NATO-Austritt plädiert hatten. Entscheidend für den Meinungsumschwung des spanischen Regierungschefs zugunsten des Verbleibs in der NATO dürfte schließlich der "Druck" von außen gewesen sein: das faktische EG-NATO-Junktim; der Hinweis der USA, daß ohne einen Verbleib Spaniens im Bündnis die wirtschaftliche und technologische USHilfe drastisch reduziert werden müsse; das Argument der EG-Staaten, daß Profit in der Wirtschaftsgemeinschaft mit Engagement im Verteidigungsbündnis zu kompensieren sei. Immer mehr Sozialisten wurden daraufhin zu Vernunft-"Atlantikern". Das gefährliche Referendum über Spaniens Verbleib in der NATO gewann Gonzälez mit dem ausdrücklichen Hinweis auf Spaniens Zukunft in Europa. n Spaniens europäische Identität dir die Spanier gingen während der Beitrittsverhandlungen und danach — auch wenn primär über wirtschaftliche Angleichungsprobleme diskutiert wurde — die kulturellen und politischen Aspekte der EG-Mitgliedschaft nie verloren. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß der spanische Beitritt zur EG ökonomisch, politisch und kulturell drei bedeutende historisc he Funktionen erfüllt: Zum einen beschleunigte die Beteiligung an den Institutionen der Gemeinschaft — im ökonomischen Bereich — die Außerkraftsetzung der traditionellen Funktionsprinzipien der spanischen Wirtschaft. Die volle Teilhabe an den Mechanismen der internationalen Arbeitsteilung in Westeuropa öffnete die spanische Wirtschaft einem breiten, dynamischen Konkurrenzmarkt, was zwar einerseits zu schmerzhaften Anpassungsprozessen führte, andererseits jedoch die ökonomischen Abschottungsversuche der Vergangenheit endgültig zu einem Relikt der Erinnerung verkommen ließ. — Zum anderen wurde Spanien — im politischen Bereich — in den Prozeß multilateraler Zusammenarbeit integriert und erhielt damit Informationen und Mitwirkungsrechte an Entscheidungen, die die /ukunft Europas und damit der Welt mitbedingen. — Zum dritten schließlich führte die Mit-
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IX Spanien und Europa — ein ambivalentes Verhältnis
sprache in Europa - im Hinblick auf nationale Identitätsfindung - zu einer stärkeren Solidarisierung mit europäischen Geschicken; Spanien fand damit zu seinem europäischen Schicksal zurück, von dem es zuletzt durch den Franquismus fast ein halbes Jahrhundert lang entferntgehalten worden war. Daß Spanien heute zweifellos ein demokratisches und europäisches Land ist, bedeutet in historischer Perspektive, daß das lange Zeit ungelöste politische Problem dieses Landes sowie die Frage seiner Identität als europäische Nation als geklärt betrachtet werden können (Miguel/Escuin 1997). Die europäische Modernität Spaniens läßt sich an vielen Indikatoren aufzeigen: Mitte der 90er Jahre wies das Bruttoinlandsprodukt Spanien als die Nummer 8 in der Weltskala der Staaten aus; im Hinblick auf den Human Development Index (Lebenserwartung, Alphabetisierungs- und Einschulungsquote, Pro-Kopf-Einkommen) war es das neunte Land der Welt; die Lebenserwartung bei Geburt liegt für Männer bei etwas über 73 und für Frauen bei etwas über 81 Jahren. Der Urbanisierungsgrad beträgt 76%. Die Hälfte der Erwerbsbevölkerung ist im Dienstleistungssektor tätig, während die Beschäftigten im Agrarbereich nur noch 8,3% der Erwerbsbevölkerung, ungefähr eine Million Menschen, betragen. Die Landwirtschaft trägt nur noch 3,4% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Spanien verfügt über rund 60 Universitäten mit 1,5 Millionen Studierenden; seit Mitte der 80er Jahre studieren mehr Frauen als Männer; Frauen stellen ungefähr 50% der Erwerbsbevölkerung. Im Jahr 1976, zu Beginn der Demokratisierungsphase, fuhren rund fünf Millionen Autos in Spanien, 1994 waren es 13,5 Millionen. In dem traditionellerweise katholischen Land sank die Zahl der kirchlichen Hochzeiten zwischen 1976 und 1985 um rund 100.000, während die der standesamtlichen Trauungen im gleichen Zeitraum um rund 48.000 zunahm. 1978 wurde der Verkauf von Empfängnisverhütungsmitteln legalisiert, 1981 die Ehescheidung, 1985 die Abtreibung. Von den knapp 40 Millionen Einwohnern unternahmen im Jahr 1995 über 21 Millionen eine Auslandsreise. Kein Zweifel: Spanien hat eine Gesellschaft mit klarer Dominanz der städtischen Mittelschichten und einem relativ hohen Lebensstandard. Die Probleme, denen sich Spanien ausgesetzt sieht, sind Probleme entwickelter Gesellschaften: die Finanzierung der Sozialsysteme, der städtische Verkehr, die Unsicherheit auf den Straßen, neue Formen der sozialen Marginalisierung, jugendliche Gegenkulturen, Drogenproblematik, Umweltgefährdung. Typisch moderne Krankheiten wie Herz-KreislaufPathologien und Krebs sind die häufigsten Todesursachen. Die überkommenen Stereotypen treffen somit schon längst nicht mehr auf Spanien zu. Seit Mitte der 80er Jahre wuchs die spanische Wirtschaft weit überdurchschnittlich schnell. Die Maastrichtkriterien wurden erfüllt, im Mai 1998 trat das Land der Europäischen Währungsunion bei. Seit gut zwei Jahrzehnten läßt sich Spanien als eine stabile Demokratie bezeichnen, die Monarchie als Staatsform wird von der überwiegenden Mehrheit der Bürger akzeptiert. In Übereinstimmung mit der Verfassung von 1978 ist Spanien kein zentralistischer Staat mehr, sondern ein Staat der Autonomen Gemeinschaften, deren Kompetenzen und Handlungsrahmen ständig erweitert wurden und Spanien faktisch als einen Bundesstaat erscheinen lassen. Die territoriale Neuordnung gehört zu den bedeutendsten politischen Reformen, die es je in Spanien gegeben hat, weil sie das Problem des Regionalismus und des ethnischen Nationalismus einer Lösung erheblich näherbrachte und damit zur Stabilisierung der politischen und institutionellen Ordnung beitrug.
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Trotz einiger kritischer Erscheinungen ist das Fazit für Ende des 20. Jahrhunderts eindeutig: Sämtliche Umfragen lassen erkennen, daß die meisten Spanier optimistisch und zukunftsorientiert sind. Ein Vergleich mit dem Ende des vorhergehenden Jahrhunderts ist aufschlußreich: Erlebte die spanische Öffentlichkeit das Jahr 1898 in einem Klima tiefer Krise und Depression, so war es 100 Jahre später gerade umgekehrt. Soziologen sprechen von einem Ende des Jahrhunderts des Pessimismus. Sahen die Intellektuellen von 1898 die Ges chichte Spaniens als eine Aufeinanderfolge von irregeleiteten Sonderwegen, Dekadenz und Niedergang an, so ist heute - bei aller realistischen Einschätzung der bestehenden Probleme die Rede von Optimismus, wirtschaftlicher Dynamik, demokratischer Stabilität und europäischer Zugehörigkeit. Aus dieser Perspektive ist Spanien längst in Europa angekommen. n Europäisch-atlantische Turbulenzen während der Regierungszeit der Konservativen
Seit dem Übergang Spaniens in die Demokratie stand für die Mehrzahl der Politiker und Bürger fest, daß die Zukunft des Landes in Europa lag. Verstärkt worden war diese Überzeugung während der langen Regierungszeit von Ministerpräsident Felipe Gonzälez, dessen Politik von Anfang an auf Integration Spaniens in die europäischen Strukturen ausgerichtet war. In engem Zusammenwirken mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Präsidenten Franwis Mitterrand bewerkstelligte die sozialistische Regierung den Eintritt Spaniens in die EG. Die Ära Gonzälez (1982-1996) repräsentiert gewissermaßen das spanische Modell der Konstruktion Europas: enge Anlehnung an Deutschland und Frankreich, Erweiterung der EG-Politik auf den Mittelmeerraum, Einbeziehung Lateinamerikas in die außenpolitische Dimension Europas, Friedensinitiativen in Nahost. Da Spanien zugleich von den Regional- und Kohäsionsfonds der EG enorm profitierte, kann von einer harmonischen Phase der Beziehungen zwischen dem iberischen Land und Europa gesprochen werden. Als Josä Maria Aznar von der konservativen Volkspartei (Partido Popular, PP) 1996 die Regierung übernahm, bezeichnete er die Konvergenz mit Europa als einen zentralen Bereich seiner Außenpolitik, in dem er vor allem auf Kontinuität setzte. Diese Kontinuität ä ußerte sich primär in der Beibehaltung der europapolitischen Ziele von der sozialistischen zur konservativen Regierung. Die beiden wichtigsten Ziele lauteten: Zugehörigkeit Spaniens zu den Kernländern der für 1999 vorgesehenen Währungsunion; und Wahrung der spanis chen Position als Kohäsionsland auch nach der geplanten EU-Osterweiterung. Zugleich setzte der PP aber auch neue außenpolitische Akzente: Es ging darum, die transatlantischen Beziehungen der Europäischen Union zu intensivieren und die Rolle Spaniens in der NATO neu zu definieren. Der eingeschlagene Weg einer Allianz mit den USA ging zu Lasten anderer traditioneller elder spanischer Außenpolitik, die vor allem in Europa, dem Mittelmeerraum und Lateina merika liegen. Im europäischen Kontext nahm die Regierung Aznar bewußt die Funktion eines Protagonisten des "Neuen Europa" wahr. Statt zur Achse Frankreich-Deutschland suchte sie die Nähe zu Großbritannien und den EU-Beitrittsländern, vor allem zu Polen, um ihrem neuen Rollenverständnis Geltung zu verschaffen. Am deutlichsten wurde die spanische Hinwendung zu den USA in der Irakpolitik. 1997 bereits unterstützte Spanien bedenkenlos die Haltung Washingtons, Madrid stimmte zusam-
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IX Spanien und Europa — ein ambivalentes Verhältnis
men mit der angelsächsischen Allianz einer militärischen Intervention zu und stellte dem US-Heer seinen Luftraum zur Verfügung. Die Regierung Aznar entwickelte in den Folgejahren ein Profil absoluter Solidarität mit der Regierung der USA; diese Haltung wird gemeinhin als Atlantismus bezeichnet. Im Jahr 2000 gewann die konservative Volkspartei die Parlamentswahlen mit absoluter Mehrheit. Danach war die Politik Aznars von der Absicht geprägt, Spanien zu einer der stärksten Mächte Europas zu machen, in den Kreis der G-7-Staaten aufgenommen zu werden, als nicht-ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertreten zu sein. Ein strategischer außenpolitischer Plan sah vor, daß Spanien eine führende Rolle in der EU zu übernehmen habe, daß das wirtschaftliche und kulturelle Gewicht Spaniens im lateinamerikanischen Bereich zu stärken sei, daß das Land sich allen Regionen der Welt zu öffnen habe und daß in der globalisierten Welt von heute eine solidarische Haltung besonders wichtig sei, daher vor allem Anstrengungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit unternommen werden müßten. Mit diesem Plan überschritt Spanien deutlich die traditionellen Grenzen früherer Politik. n Der Bruch des außenpolitischen Konsenses: der Irak-Krieg Der Irak-Krieg spaltete im Frühjahr 2003 die öffentliche Meinung Europas, die darniederliegende Friedensbewegung erlebte eine unerwartete Renaissance, das Thema polarisierte den Alten Kontinent. In manchen Ländern — wie in Großbritannien — entfremdete der kriegerische Einsatz die Regierung von ihrer Wählerbasis, in anderen — etwa in Deutschland — trug die Gegnerschaft zum Krieg zum Wahlerfolg der Kriegskritiker bei. Spanien stellte im europäischen Kontext gewissermaßen einen Sonderfall dar. Kein anderes europäisches Land unterstützte, sieht man vom kriegführenden Großbritannien ab, den Kurs der US-Regierung so vorbehaltlos und entschieden wie Spanien, genauer: die spanische Regierung; in keinem europäischen Land aber war die öffentliche Meinung derart entschieden gegen den Krieg wie in Spanien. Umfrageergebnisse erbrachten rund 90% Ablehnung, und selbst nach Abschluß der Kampfhandlungen vertraten noch 78% die Meinung, der Angriff auf den Irak sei nicht gerechtfertigt gewesen. Obwohl der (militärische) Beitrag Spaniens zum Krieg ohnehin zu vernachlässigen war, hätte man aufgrund der gewaltigen, sich über Wochen hinziehenden Massenproteste in nahezu allen wichtigen Städten Spaniens vermuten können, es gehe um eine Existenzfrage von Staat und Nation. Nicht einmal in Großbritannien waren die Proteste so massiv. Aznar setzte voll auf die USA, überzeugt davon, daß der einzige verbleibende Hegemon der Weltpolitik die Orientierungsmarke spanischer Außenpolitik sein müsse. Der Atlantismus wurde der Absprache mit den EU-Partnern vorgezogen, da nach Überzeugung des spanischen Ministerpräsidenten Spaniens außenpolitische Zukunft in einer engen Allianz mit den USA lag. Daß die kriegerische Option an der Seite der USA zu ernsthaften Verstimmungen mit seinen EU-Partnern Frankreich und Deutschland führen würde, hielt Aznar anfangs wohl für äußerst unwahrscheinlich. Er ging nämlich davon aus, daß die ablehnende Haltung Frankreichs und Deutschlands vorübergehend sei und beide Länder schließlich den US-Kurs unterstützen würden. Möglicherweise hat Aznar den Dissens mit Frankreich und Deutschland auch bewußt weitergetrieben, nachdem mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, daß der außen-
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politische deutsch-französische Schulterschluß — Paris und Berlin verkündeten ihre Übereinstimmung in der Irakfrage anläßlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Elysee-Vertrages — ohne Absprache mit anderen europäischen Partnern erfolgt war; nicht von Anfang an zur Teilnahme an der "Achse Berlin-Paris" eingeladen worden zu sein, dürfte bei Aznar Erinnerungen an jene Zeiten wachgerufen haben, als Spanien außenpolitisch nicht ernstgenommen wurde. Hier mußte selbstbewußt ein deutlicher Kontrapunkt gesetzt werden. Verschätzt hat sich Aznar auch im Hinblick auf die Reaktion der spanischen Gesellschaft. Millionenfach wurde die Ablehnung des Regierungskurses in nicht endenden Massendemonstrationen zum Ausdruck gebracht. Nachdem der konservative Partido Popular bei den Wahlen des Jahres 2000 die absolute Mehrheit errungen hatte, wurde nun sehr schnell deutlich, daß die Antikriegs- und Antiregierungsdemonstrationen nicht nur von Anhängern der Opposition durchgeführt, sondern zu einem Großteil auch von Wählern des PP sekundiert wurden. Das Ansehen Aznars sank auf einen Tiefpunkt, nachdem die Sympathiewerte in den vorhergehenden Monaten wegen des ungeschickten Krisenmanagements nach dem Unglück des Öltankers Prestige, der die größte Umweltkatastrophe in der Geschichte des Landes hervorgerufen hatte, ohnehin bereits deutliche Blessuren erlitten hatte. Allenthalben bekam Aznar heftigen Gegenwind zu spüren. n Das "Bettelsyndrom" Was die originäre Zugehörigkeit Spaniens zur Euro-Zone betrifft, so entwickelten sowohl die sozialistische als auch die konservative Regierung aufgrund der historisch begründeten Angst Spaniens vor einer zu großen Distanz zu Europa eine Zukunftsvision, bei der der Beitritt zur Währungsunion für Spanien mit Wohlergehen, Beschäftigung und Zukunftschancen gleichgesetzt wurde. Aznar präsentierte die Teilnahme Spaniens an der Wirtschafts- und Währungsunion als eine historische Wende für sein Land. Während der ersten Legislaturperiode der konservativen Regierung (1996-2000) wurde Spaniens Verhältnis zu Europa von Kritikern als eine Politik der reinen "Gewinnoptimierung", des Nettoempfangs und der Nutznießung interpretiert; das Wort vom "Bettelsyndrom" machte die Runde. Aus den 1992 eingerichteten Kohäsionsfonds erhielt Spanien zwischen 1994 und 1999 nicht weniger als 55 % sämtlicher Mittel. Jeder EU-Versuch, den spanischen Anteil zu reduzieren, wurde von seiten Madrids mit der Drohung beantwortet, die Reform der EU zu blockieren. Auf dem Berliner EU-Gipfel von 1999 konnte Aznar in einem persönlichen nächtlichen Duell mit Bundeskanzler Schröder schließlich sogar durchsetzen, daß Spanien fortan 62 % des Kohäsionsfonds zurückerhielt. Aznar verfolgte ein klares Ziel: Spanien solle im Rahmen einer erweiterten EU weiterhin den Status eines Großen genießen. Spanien sollte bei der Einführung des Rotationsprinzips ständig in der EU-Kommission vertreten sein, im Rat wiederum sollte es unter den Großen Fünf sein, von denen bereits drei mit ihren Stimmen eine Sperrminorität bilden können. Von zukunftsträchtiger Bedeutung wurde auf der Regierungskonferenz von Nizza die Stimmenverteilung innerhalb des Ministerrates. Spanien erhielt damals 27 Stimmen zugesprochen, womit das Land sehr zufrieden sein konnte. Aznar selber argumentierte, daß Spanien bei der Schlacht von Nizza am besten davongekommen sei (Areilza Carvajal 2001; Elorza 2001). Zu den grundlegenden europapolitischen Zielen der Regierung Aznar gehörte somit die Anerkennung Spaniens als "großes" Mitgliedsland der EU und die Forderung, Empfänger
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IX Spanien und Europa – ein ambivalentes Verhältnis
von Regionalfonds zu bleiben. Letzteres Ziel wurde zu einem Konfliktthema in Zusammenhang mit der geplanten Osterweiterung der EU. Denn obwohl die spanischen Regierungen ebenso wie die Mehrheit der Spanier die Erweiterung befürworteten, hielt Madrid an zwei substantiellen Vorstellungen fest: an der vollständigen Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes und an der Verpflichtung, sich innerhalb der finanziellen Perspektiven zu bewegen, die 1999 beim Europäischen Rat von Berlin beschlossen worden waren. Das Festhalten am Status quo wurde von spanischer Seite vor allem wegen des Kohäsionsprinzips und seiner Konsequenzen befürwortet – immerhin machen die europäischen Subventionen über 1% des spanischen Bruttosozialproduktes aus. Gegenwärtig sind noch elf der 17 Autonomen Gemeinschaften Spaniens Ziel- 1 -Fördergebiete, nachdem ihr durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen (noch) bei unter 75% des Pro-Kopf-BIP der EU liegt. An die 28% der europäischen Ziel- 1 -Fördermittel fließen (noch) nach Spanien, außerdem erhält das Land etwa 62 % der EU-Mittel aus den Kohäsionsfonds. Seit langem ist Spanien der größte Nettoempfänger europäischer Gelder aus den Strukturund Kohäsionsfonds. Schon im April 2001 legte die spanische Regierung ein Memorandum vor, in dem die Union in Betracht ziehen sollte, daß die Osterweiterung einen "statistischen Effekt" hervorrufen würde, durch den einige spanische Regionen über 75 % des EU-Bruttosozialprodukts erreichen und so den Anspruch auf Hilfe verlieren würden. Da die Einnahmen in diesen Regionen nicht wirklich, sondern nur durch einen einfachen "statistischen Effekt" steigen würden, forderte das spanische Memorandum, diese Regionen weiterhin zu unterstützen. Hiermit eröffnete Spanien das Thema der Haushalts-Budgetierung in Zusammenhang mit der Osterweiterung zu einem Zeitpunkt, zu dem noch keine Verhandlungen diesbezüglich anstanden. Deutschland und andere Länder, etwa Frankreich, waren radikal dagegen, Spanien Garantien einzuräumen, die diesen Effekt relativieren bzw. aufheben würden. Allerdings beschloß Brüssel, um diesen statistischen Nachteil auszugleichen, das neue Zielprogramm "Konvergenz und Konkurrenzfähigkeit", demzufolge die betroffenen Regionen in einer Übergangszeit weiterhin 66 % der Beihilfen erhalten, die sie bekommen hätten, wenn sie noch Ziel-1-Regionen wären (Gillespie/Younges 2001). Der Berliner Gipfel von 1999 hatte den Spaniern mehr als 56 Milliarden € aus den Regional- und Kohäsionsfonds der EU für die Jahre 2000-2006 gebracht; fast 40% der gesamten EU-Strukturförderung fließen seitdem in spanische Bauprojekte. Damit ist das Land zum mit Abstand größten Nettoempfänger der EU geworden. Im Finanzzeitraum 2007-2013 dürfte Spanien mindestens 30% dieser Fonds verlieren. Durch die drohende Streichung des Kohäsionsfonds würde Spanien ersatzlos auf rund zwölf Milliarden € verzichten müssen. Seit seinem Beitritt zur EG (1986) bis 2005 hat Spanien über 93 Milliarden € aus den Fördertöpfen der EU erhalten. Deshalb strebt das Land langjährige Übergangsfristen an, bevor die Förderung endgültig ausläuft. 2003 betrug der Nettosaldo der europäischen Gelder 8,7 Milliarden € zugunsten Spaniens; das waren 1,21 % des spanischen BIP. 2005 erhielt Spanien immer noch 7,8 Milliarden €, 24% sämtlicher unter den 25 EU-Staaten verteilter Mittel. Einige weitere Zahlen lassen die enorme Bedeutung Europas für Spanien erkennen: Seit 1987 bis heute sind Jahr für Jahr im Durchschnitt 0,8% des spanischen BIP auf Nettozahlungen der EU zurückzuführen. 90 % aller ausländischen Investitionen in Spanien kommen aus EU-Ländern. Jährlich wer-
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den knapp 300.000 Arbeitsplätze in Spanien dank EU-Mitteln geschaffen; vier von zehn spanischen Autobahn- und Schnellstraßenkilometern sind mit EU-Mitteln gebaut worden; 87% der (jährlich über 52 Millionen) Spanien-Touristen kommen aus EU-Ländern; 74% der spanischen Exporte gehen in EU-Länder, 66 % der spanischen Importe kommen aus EULändern; 24% der spanischen Einnahmen aus der Landwirtschaft sind auf direkte EU-Hilfen zurückzuführen; seit dem EG-Beitritt Spaniens (1986) sind bis 2004 die Überweisungen von EU-Agrarsubventionen an Spanien um das 30 fache gestiegen; zwischen 2000 und 2003 haben 16 Millionen Spanier direkt von den EU-Sozialfonds profitiert; 46% der in den Fischfang fließenden EU-Fördermittel gingen (im Zeitraum 2000-2006) nach Spanien. Ohne EU-Mittel gäbe es heute keinen Hochgeschwindigkeitszug (AVE) in Spanien. 38 % aller seit 1986 in den Eisenbahnbau geflossenen Mittel stammen aus EU-Töpfen. Im Frühjahr 2005 ließ sich die Luxemburger EU-Ratsführung auf den spanischen Vorschlag ein, Übergangslösungen für den Kohäsionsfonds für die Zeit nach 2006 vorzusehen. Zumindest zeichnet sich ab, daß in den Jahren 2007 und 2008 Spanien weiterhin (wenn auch weniger) Mittel aus diesen Fonds erhält (zuvor waren 60 % dieser Fondsmittel nach Spanien geflossen). Allerdings wird in den nächsten Jahren der spanische EU-Beitrag in jedem Fall drastisch steigen: von (2005) 9,8 Milliarden € auf (2013) 15,8 Milliarden €. Rechnet man die spanischen Mindereinnahmen aus der EU-Kasse und die spanischen Mehrausgaben in die EU-Kasse zusammen, dann ergibt sich eine Differenz von rund sechs Milliarden €, die Spanien ab 2007 pro Jahr einbüßen wird. Der Nettosaldo der Finanzflüsse zwischen Spanien und der EU zwischen 2000 und 2006 betrug 48 Milliarden € zugunsten Spaniens; für den Zeitraum 2007 bis 2013 ist ein Nettosaldo von nurmehr fünf Milliarden € vorgesehen. Ab 2013 würde Spanien zu einem Nettozahler. Die Negativauswirkungen auf das Wirtschaftswachstum dürften gewaltig sein. Die folgende Tabelle läßt den für jedes Jahr einzeln ausgewiesenen Nettosaldo Spaniens mit der EU erkennen (s. Tab. 6, S. 208). Folgt man den EU-Finanzplanungen für die Periode 2007-2013, dann soll Spanien 30% der bisher erhaltenen Kohäsionsfonds verlieren. Die EU-Erweiterung von 2004 kostet Madrid somit knapp 40 Milliarden €, rund 0,6 % des spanischen BIP. Die Entwicklung der EU-Mittel für Spanien zwischen 1.0000 e, „,, 2000 und 2013 sieht folgender. ,. oo maßen aus (ab 2007 handelt es sich , r 8.000vorerst nur um den vorgeschlagenen Finanzentwurf der EU-Kommission): 6.000 -
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2000 131 02 03 04 05 66 1/7 08 09 10 11
12 13
Graphik 3: Finanzsaldo der EU-Mittel für Spanien (in Mio. €) 2000-2013 (ab 2006: Prognose)
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IX Spanien und Europa - ein ambivalentes Verhältnis
Spanien und die EG/EU
Tab. 6: Finanzsaldo Spaniens mit der EU 1986-2005 (in Mio. €) Jahr
Einzahlungen Spaniens
Zuwendungen der EU
Saldo
1986
666,52
616,04
-50,49
1987
825,19
1.043,36
218,17
1988
1.340,26
2.298,27
958,01
1989
1.726,71
2.813,94
1.087,23
1990
2.251,99
2.970,80
718,81
1991
3.280,32
5.618,26
2.337,94
1992
3.893,36
5.861,67
1.968,31
1993
4.451,10
6.787,83
2.336,74
1994
4.828,53
6.913,44
2.084,91
1995
3.702,23
10.535,74
6.833,51
1996
4.441,48
9.928,72
5.487,24
1997
5.409,11
10.403,52
4.994,41
1998
5.234,82
11.136,75
5.901,94
1999
5.028,67
10.489,46
5.460,80
2000
6.650,06
10.961,19
4.311,13
2001
6.776,93
12.287,20
5.510,27
2002
8.193,28
15.320,16
7.126,88
2003
8.496,65
16.858,81
8.362,16
2004
9.275,14
16.179,46
6.904,32
2005
10.130,21
15.759,58
5.629,37
Insgesamt
96.602,56
174.784,20
78.181,64
n Die Wahlen vom 13. März 2004: die außenpolitische Wende Unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. März 2004 haben die drei Tage später stattfindenden Parlamentswahlen in Spanien einen Regierungswechsel erbracht. In der Außenpolitik waren deutliche Gewichtsverschiebungen zu erwarten, nachdem der sozialistische Kandidat Josä Luis Rodriguez Zapatero wiederholt angekündigt hatte, aus der Koalition der "US-Willigen" in das Lager der "UN-Willigen" überzuwechseln. Mit dem bereits im Wahlprogramm angekündigten und kurz nach der Regierungsübernahme durchgeführten Rückzug der 1.300 spanischen Soldaten aus dem Irak setzte ein Zerfall der Kriegskoalition ein, der begleitet wurde von einer erneuten Hinwendung Spaniens nach Europa. Das bedeutete eine Abkehr von der Strategie der Vorgängerregierung, die Europa von der Peripherie her gedacht und aus dieser Perspektive auch europapolitische Allianzen zu bilden versucht hatte, ergänzt um transatlantische Koalitionen.
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Die neue sozialistische Regierung sah es als ihre Aufgabe an, das Land international aus der von ihr als Isolierung empfundenen "Ehrgeiz-Falle" der Regierung Aznar herauszuführen. Dabei bekennt sich die Partei des sozialistischen Regierungschefs zu Europa und zu einer an Multilateralismus orientierten Außenpolitik. Die Reform des UN-Sicherheitsrates sowie eine gemeinsame Vertretung der EU bei den Vereinten Nationen sind konkrete Initiativen, die die neue Regierung vorantreibt. Für die künftige Außenpolitik sollten folgende Grundprinzipien gelten: eine eindeutige Priorität für die Vertiefung und Erweiterung der EU; die Unterstützung der internationalen Legalität, wie sie die UN repräsentieren; das handlungsleitende Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Iberoamerikanischen Gemeinschaft; eine umfassende, nicht nur außenpolitisch motivierte Initiative zur Förderung von Dialog und Kooperation mit allen Ländern der Mittelmeerregion und zur Herbeiführung einer gerechten und dauerhaften Lösung des arabisch-israelischen Konflikts; die Anerkennung der Bedeutung des transatlantischen Dialogs auf der Grundlage einer gleichgewichtigen Beziehung zu den USA bei gleichzeitiger politischer Autonomie gegenüber den Vereinigten Staaten auch auf bilateraler Ebene; der Kampf gegen den Terrorismus und das organisierte Verbrechen, national wie international. Für die Umsetzung dieser Grundorientierungen wollte die Regierung Zapatero die vier zentralen Achsen spanischer Außenpolitik - EU, Iberoamerika, Mittelmeerraum und transatlantische Beziehungen - im Sinne eines Kurswechsels neu gestalten und einen Teil des insbesondere in den letzten vier Jahren der Regierung Aznar eingeleiteten Wandels der spanischen Außenpolitik zurücknehmen. n Spaniens Rückkehr nach Europa Die außenpolitische Kurskorrektur wurde allgemein als eine Rückkehr nach Europa interpretiert. Rodrfguez Zapatero sprach selbst davon, daß er Spanien "in das Herz Europas zurückgeführt" habe. Das Motto der Sozialistischen Partei für die Europawahlen vom 13. Juni 2004 lautete denn auch dementsprechend: "Wir kehren nach Europa zurück" ( Volvemos a Europa) - eine deutliche Kritik an der vorhergehenden konservativen Politik, die aus dieser Sicht Spanien von Europa entfernt hatte. Allerdings wurde die schon seit längerem bekannte Indifferenz der spanischen Bevölkerung gegenüber europäischen Themen auch bei der Wahl zum Europaparlament sichtbar: Gerade einmal 46% der Wahlberechtigten gingen zur Abstimmung. Es war die niedrigste Beteiligung, seit es Wahlen zum Europäischen Parlament gibt. Klare Sieger waren mit 43,37% die Sozialisten (rund acht Prozentpunkte mehr als bei den letzten Europawahlen), allerdings hart verfolgt von den Konservativen, die sowohl ihr Ergebnis der Europawahlen von 1999 (um 1,5 Prozentpunkte) als auch ihr Ergebnis der wenige Monate zuvor stattgefundenen spanischen Parlamentswahlen (um rund vier Prozentpunkte) verbessern konnten. In Straßburg wurde der spanische Sozialist Josä Borrell zum Präsidenten des Europaparlaments gewählt. Mit seiner neuen Außenpolitik befand sich Zapatero in voller Übereinstimmung mit der mehrheitlichen Meinung der spanischen Bevölkerung: 76 % der Spanier waren Mitte 2004 gegen die Führungsposition der USA in der Welt, 86% gegen die auswärtige Politik von George W Bush eingestellt. Traditionellerweise waren die außenpolitischen Alternativen Atiantismus und Europäismus keine sich ausschließenden Optionen für Spanien gewesen. Der überzeugte Europapolitiker Felipe Gonzälez etwa hatte 1995, während der spanischen EU-Präsidentschaft,
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IX Spanien und Europa – ein ambivalentes Verhältnis
zusammen mit Bill Clinton und Jacques Santer in Madrid die neue Transatlantische Agenda sowie den Entwurf einer neuen euro-amerikanischen Deklaration unterzeichnet. Repräsentative Umfragen haben im Frühjahr 2004 ergeben, daß die Spanier sich nach wie vor ungern zwischen Europäismus und Atlantismus entscheiden wollten. 80 % der Befragten sprachen sich dafür aus, daß Europa die erste außenpolitische Priorität zukomme, einem Europa allerdings, das keine Supermacht darstelle; und jeder dritte Bürger war der Meinung, daß Europa und die USA gleichermaßen wichtig seien. Die Massendemonstrationen gegen die spanische Beteiligung am Irakkrieg lassen somit die Interpretation zu, daß diese Politik Aznars einen in der spanischen Außenpolitik lange Zeit vorherrschenden Konsens der Ausgewogenheit zwischen Europa und den USA preisgegeben und sich einseitig dem Atlantismus verschrieben hat. Der Scheidung von Bush und dem schnellen, ja: überstürzten Truppenabzug aus dem Irak folgte das Ja zum europäischen Verfassungsentwurf. Am 20. Februar 2005 hielt Spanien als erstes Land der EU ein Referendum zum Verfassungsvertrag ab. Die Wahlbeteiligung war mit 42,3% zwar gering, das Ergebnis jedoch eindeutig: 76,7% stimmten für, 17,2% gegen den Verfassungsvertrag, rund 6% gaben leere Wahlzettel ab. Mit dem "Haager Programm" einigten sich die Innen- und Justizminister der Europäischen Union 2005 sodann auf eine langfristige Politikagenda, deren Schwerpunkte der Kampf gegen den Terrorismus, die Einwanderungspolitik und die Integration von Einwanderern in die Gesellschaft der Union ist. Da ca. 20 % aller "illegalen" Flüchtlinge die EU über Spanien erreichen, ist eine gemeinsame europäische Immigrationspolitik für die spanische Europapolitik prioritär (vgl. hierzu ausführlicher Kap. XV, 3: Migrationen: Spanien vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland). n Ausblick Seit nunmehr 20 Jahren ist Spanien solide in den europäischen Strukturen verankert, und in vielerlei Hinsicht läßt sich sogar sagen, daß Spanier so etwas wie "Vorzeige-Europäer" geworden sind. Daran hat auch der atiantistische Kurs der Regierung Aznar nichts (oder nur vorübergehend etwas) ändern können. Schon lange vor den Wahlen vom März 2004 kündigte Aznar an, daß er nicht wieder für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren werde. An seine Stelle trat sein bisheriger Stellvertreter, der ihm völlig loyale galicische Jurist Mariano Rajoy, der im wesentlichen die Fortführung der bisherigen PP-Politik in Aussicht stellte. Im Wahlkampf wiederholten die Konservativen stets dieselben Parolen: staatliche Einheit, Kampf gegen den Terrorismus, Wirtschaftswachstum, Protagonismus Spaniens in Europa und in der Welt. Wahlforscher stellten zwar vor der Wahl eine allmähliche Hinwendung der Wähler zur Sozialistischen Partei fest; trotzdem gingen bis kurz vor den Wahlen von 2004 nahezu alle Beobachter von einem sicheren Wahlsieg der Konservativen aus. Die Frage war nur, ob der PP mit absoluter oder nur mit relativer Mehrheit siegen würde. Die Sozialisten kündigten unter ihrem Spitzenkandidaten Josd Luis Rodrfguez Zapatero eine radikale Kehrtwendung in der Außenpolitik und zahlreiche Reformen in der Innenpolitik an. Besondere Betonung legten sie auf ein "plurales Spanien"; das hieß, daß sie sich zu einer Reform der Autonomiestatuten (im Rahmen der Verfassung) bereiterklärten, daß darüberhinaus die Autonomen Gemeinschaften stärkere Berücksichtigung in der Euro-
Literatur
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päischen Union finden sollten. Rodrfguez Zapatero stellte einen "ruhigen Wechsel" in Aussicht. Nach ihrem überraschenden Wahlsieg nahmen die Sozialisten in mehreren Politikfeldern eine Kursänderung vor. Dies gilt vor allem für die Europapolitik. Rodriguez Zapatero wandte sich entschieden den traditionellen Verbündeten Spaniens in Europa, Deutschland und Frankreich, zu, beendete die Blockadehaltung gegenüber der europäischen Verfassung und signalisierte auch bei anderen Streitfragen Entgegenkommen. Die Frage ist, wie lange dieser europafreundliche Kurs beibehalten wird, nachdem inzwischen klar steht, daß die üppigen Finanzzuwendungen aus der Brüsseler Kasse sehr bald deutlich abnehmen und schließlich ganz versiegen werden. Spätestens dann steht eine erneute Debatte über das Verhältnis Spaniens zu Europa ins Haus.
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IX Spanien und Europa – ein ambivalentes Verhältnis
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
1.
Der Kolonialismus in Amerika
a) Das spanisches Kolonialreich in Amerika: Chronologie 1479 Im Vertrag von Alcäcovas zwischen Kastilien und Portugal wird der Konflikt um die Erbfolge in Kastilien beigelegt, die beiderseitigen Interessen im Atlantik werden abgegrenzt; Portugal verzichtet zugunsten Kastiliens endgültig auf die Kanarischen Inseln, im Gegenzug erlangt es die Anerkennung einer auf der Höhe von Kap Bojador angenommenen in Ost-WestRichtung verlaufenden Grenzlinie, südlich derer den Portugiesen ein Schiffahrts-, Handels- und Entdeckungsmonopol zugesprochen wird; der Papst sanktioniert den Vertrag. 1492 Abschluß der Capitulaciones de Santa Fe zwischen den Katholischen Königen und Kolumbus zur Entdeckung des westlichen Seewegs nach Asien und zur Monopolisierung des daraus erhofften Handels; am 12. Oktober betritt Kolumbus zum ersten Mal eine zum amerikanischen Kontinent gehörige Insel. 1494 Am 4. Juni werden im Vertrag von Tordesillas die Interessensphären Spaniens und Portugals in Übersee entlang einer Nord-SüdLinie 370 Seemeilen westlich der Azoren aufgeteilt, der östliche Teil (Brasilien) gehört zur portugiesischen, der westliche Teil Amerikas zur spanischen Einflußsphäre. 1498 Vasco da Gama erreicht im Auftrag der portugiesischen Krone auf dem Seeweg um Afrika Indien. 1499/1500 Der Portugiese Pedro Alvares Cabral und der Spanier Vicente Yäriez Pinzön landen zeitgleich (aber unabhängig voneinander) als erste Europäer in Brasilien. 1503 Gründung der Casa de la Contrataciön in Sevilla und Monopolisierung des Verkehrs nach Amerika durch diese Stadt.
1507 In der Weltkarte Martin Waldseemüllers wird erstmals der südliche Teil des neuen Kontinents nach dem Seefahrer Amerigo Vespucci benannt. 1508 Papst Julius II. verleiht der kastilischen Krone die Patronatsrechte über die zu errichtende Kirchenorganisation in Amerika. 1511 Diego Colön, Sohn des Kolumbus, initiiert die Eroberung Kubas; der Dominikanerpater Antonio de Montesinos prangert die Grausamkeit der Spanier bei der Eroberung Amerikas erstmals an; auf Santo Domingo werden die erste audiencia (Gerichtsbezirk) und der erste Bischofssitz in Amerika gegründet. 1512 Die Leyes de Burgos, die ersten königlichen Gesetze für Amerika, gewähren den Ureinwohnern unter kastilischer Herrschaft die persönliche Freiheit. 1513 Der Kronjurist Palacios Rubios verfaßt das Requerimiento, einen Text, der die indigenas ultimativ zur Unterwerfung und Annahme des christlichen Glaubens auffordert; als Gegenleistung werden ihnen persönliche Freiheit und ihr Besitz garantiert; Vasco Nüriez de Balboa überquert die mittelamerikanische Landenge und stößt in der Nähe Panamas auf den Pazifik. 1519 Hernän Cortös beginnt mit der Eroberung Mexikos; Karl V. vergibt die erste Lizenz zur Einfuhr schwarzafrikanischer Sklaven nach Amerika; Fernäo de Magalhäes beginnt die erste Weltumsegelung; Panama wird gegründet; auf Hispaniola kommt es zur ersten Pockenepidemie Lateinamerikas. 1523/4 Der Consejo Real y Supremo de las Indias wird als unabhängige Zentralbehörde für die amerikanischen Reiche eingerichtet.
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Der Kolonialismus in Amerika
X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
1528 Das Augsburger Kaufmannsgeschlecht der Welser erlangt das Monopol zur Kolonisation Venezuelas. 1537 Papst Paul III. erklärt, daß die Indianer vernunftbegabte Menschen und in der Lage seien, den christlichen Glauben anzunehmen; Asunciön wird gegründet. 1564 Die spanische Krone reagiert auf die überhandnehmende Tätigkeit der englischen Freibeuter durch die Einführung des Flottensystems, bei dem mehrmals jährlich große Flottenverbände unter Geleitschutz von Spanien bzw. Amerika aus aufbrechen, um ihre Waren dadurch sicher ans Ziel zu bringen. 1573 Philipp II. erläßt mit den Ordenanzas de descubrimiento, nueva poblaciön y pacificaciön de las Indias einen umfangreichen Gesetzestext, der detailliert die Bedingungen für weitere Vorstöße und Kolonisationsmaßnahmen in Amerika festlegt; mit der Manila-Galeone (Nao de China) wird eine regelmäßige Schiffsverbindung zwischen den Philippinen und Neu-Spanien geschaffen, die den kompletten Handel sowie die Kommunikation zwischen den Philippinen und dem Mutterland übernehmen soll. 1598 Im Todesjahr Philipps II. erscheint die von de Bry illustrierte Fassung von Las Casas'
Brevisisma relaciön de la destrucciön de las Indias, die die Grausamkeit der Spanier in Kupferstichen belegt und maßgeblich zur Verbreitung der leyenda negra beiträgt. 1680 Die Portugiesen gründen auf dem zu Spanien gehörenden Gebiet des heutigen Uruguay (Vertrag von Tordesillas) die Colonia do Sacramento, was zu wiederholten Konflikten zwischen den beiden Kolonialmächten führt. 1697 Im Frieden von Ryswick tritt Spanien den westlichen Teil der Insel Hispaniola (Haiti) an Frankreich ab. 1702-1712 Durch die Vergabe des Sklavenhandelsmonopols (Asiento de Negros) an die französische Guinea-Kompanie werden erstmals nichtspanische Unternehmen am offiziellen Amerikahandel der Spanier beteiligt. 1743-1754 Der Marqus de la Ensenada, ein engagierter Reformpolitiker und Minister Philipps V., forciert die Flottenbaupolitik und beendet die Steuerpacht in Amerika.
1750 Vertrag von Madrid zwischen Spanien und Portugal, in dem ein Abweichen vom Vertrag von Tordesillas und die Festlegung neuer Grenzen entsprechend der geographischen Gegebenheiten vereinbart wird; als Folge dieses Vertrages kommt es zu einem Aufstand in den Jesuitenmissionen am östlichen Ufer des Rio Uruguay, der erst 1756 niedergeschlagen werden kann. 1764-1787 Einführung des Intendantensystems in Hispanoamerika. 1765-1771 Generalvisitation in Neu-Spanien durch Josd de Gälvez als Grundlage des späteren Reformprogramms; Beginn der Liberalisierungsmaßnahmen im Amerikahandel. 1767 Die Jesuiten werden aus Hispanoamerika vertrieben. 1803 Haiti wird von Frankreich unabhängig.
1804 Karl IV. überträgt per Dekret die consolidackin de los vales reales (Desamortisation von Kirchengütern) auf Amerika. 1810 In Caracas, Cartagena, Bogotä und Quito werden Juntas eingesetzt. 13.3.1811 Die Cortes von Cädiz schaffen den 'Eingeborenentribut' ab. 1813 Die Unabhängigkeitsbewegung in Lateinamerika erhält durch Simön Bolivar einen neuen Anstoß. 1819 Nach seiner Ernennung zum Präsidenten von Groß-Kolumbien besiegt Simön Bolivar am 7. August die Royalisten bei Boyacä und marschiert in Bogotä ein; Spanien verkauft Florida an die USA. 24.2.1821 Im Plan von Iguala machen die Royalisten um Iturbide in Allianz mit den Unabhängigkeitskämpfern den Weg für die Unabhängigkeit Mexikos frei. 7.12.1824 Bei der Schlacht von Ayacucho, Peru, erleiden die royalistischen Truppen eine endgültige Niederlage in Hispanoamerika; der spanische Vizekönig kapituliert daraufhin. 1836-1894 Spanien erkennt Schritt für Schritt die Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Länder formell an. 1845 Spanien verfügt die Abschaffung des Sklavenhandels für Kuba, setzt den Erlaß aber nicht um.
1861 Santo Domingo kehrt kurzzeitig zur spanischen Monarchie zurück; Spanien interveniert zusammen mit Frankreich und Großbritannien in Mexiko, um die Beendigung des Schuldenmoratoriums der Regierung Juärez zu erzwingen. 1868-1878 Auf Kuba kommt es zum ersten Aufstand gegen die spanische Kolonialherrschaft. 1895 Beginn des zweiten kubanischen Unabhängigkeitskrieges.
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1896 Auf den Philippinen beginnt die Unabhängigkeitsbewegung einen Aufstand, der erst mehrere Jahre nach der Übernahme der Inseln durch die USA beendet wird. 1898 Der Aufstand der Kubaner weitet sich zum Spanisch-Amerikanischen Krieg aus; im Verlauf des Krieges besetzen die Vereinigten Staaten Kuba, Puerto Rico und die Philippinen; im Frieden von Paris verliert Spanien diese letzten großen Kolonien seines alten Kolonialreiches.
b) Grundstrukturen und Entwicklungen des spanischen Kolonialreiches in Amerika Der spanische Teil der Iberischen Halbinsel gehörte während des Mittelalters zum großen Teil zum islamischen Herrschaftsbereich. In seinem christlichen Norden zerfiel er in mehrere unabhängige Königreiche, die ab dem 13. Jahrhundert nach einer Ausweitung ihrer Herrschaftsbereiche strebten. Nach der dynastischen Einigung Spaniens durch die Heirat Isabellas von Kastilien mit Ferdinand von Aragonien (1469) wurden alle Kräfte auf die Rückeroberung (Reconquista) Granadas, der letzten islamischen Machtbastion auf der Iberischen Halbinsel, konzentriert. Dies gelang am 2. Januar 1492. Die Reconquista schuf wichtige Anknüpfungspunkte und Voraussetzungen für die unmittelbar nach ihrem Abschluß einsetzende Eroberung (Conquista) Amerikas – und zwar sowohl bezüglich der Vorgehensweise als auch hinsichtlich der Motive und Zielsetzungen. Diese Zusammenhänge zeigen sich anhand der zur Zeit der Reconquista entwickelten Tradition privater Beutezüge ins islamische Feindesgebiet, die nach einem stets gleich bleibenden Schema abliefen: Gegen einen relativ bescheidenen Anteil am Gewinn einer Expedition beauftragte die Krone eine Gruppe von Kriegern, einen Rückeroberungszug in feindliches Territorium durchzuführen. Das Streben nach Landbesitz und Beute sowie der staatliche Wunsch nach einer Ausweitung des Herrschaftsbereichs und das weltlich-religiöse Anliegen des Papsttums nach Wiederherstellung des orbis christianus, der Welt des christlichen Abendlandes, lieferten die Anstöße für Reconquista und Conquista gleichermaßen. n Die Träger der spanischen Expansion und ihre Zielsetzungen Drei Hauptfaktoren wirkten mit unterschiedlichem Gewicht und in wechselseitiger Beeinflussung auf die spanische Expansion und Kolonisation in Amerika ein: die Krone, die Konquistadoren und Kolonisten sowie die Kirche. Schiffahrt und Handel nach Lateinamerika wurden staatlich gefördert und über eine wirtschaftliche Monopolbehörde (Casa de Contrataciön) in Sevilla kontrolliert, um die Zolleinnahmen und Abgaben aus den überseeischen Unternehmungen für die Krone zu sichern (vgl. Pietschmann 1989, 19ff.). Schon bald zielte die Kolonialpolitik der Krone zusätzlich darauf ab, in Übersee eine kontinuierliche staatliche Herrschaft zu errichten und einen möglichst homogenen Untertanenverband aufzubauen. Deswegen verfolgte sie auch das Ziel, die autochthone Bevölkerung Amerikas kulturell in eine christlich-spanisch geprägte Weltordnung einzubinden (vgl. Schmitt 1991, 46).
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Der Kolonialismus in Amerika
Der Historiker und Befreiungstheologe Enrique Dussel (10f.) hat ein Interaktionsschema entworfen, aus dem das Zusammenwirken der für die Conquista relevanten Kräfte deutlich wird. Er geht von fünf Akteuren aus: dem Staat (der Krone), dem Geldkapital, den Konquistadoren, den Missionaren und dem "Herrschaftsobjekt", also den Unterworfenen (Indios und später schwarze Sklaven). Letztere bildeten den gesellschaftlichen Block der Unterdrückten, die ersteren vier Kräfte stellten den Machtblock. Jeder dieser Akteure übte unterschiedliche Funktionen aus: Der Staat (1) kontrollierte als entscheidender Akteur mit seiner Herrschaft die gesamte Struktur der Conquista (c, d, e). Der Konquistador (2) rekrutierte sich häufig aus der sozialen Schicht des Adels, zumeist des verarmten Landadels (hidalgos), dessen Existenz wegen der Landwirtschafts- und Viehzuchtkrise in Spanien durch den Eroberungs- und Plünderungszug in Übersee materiell gesichert werden sollte. Die spanischen und immer häufiger auch die europäischen Kaufleute (3) — etwa die Fugger oder die Welser — streckten als Finanziers das erforderliche Kapital zur Finanzierung der Expeditionen vor. Die Schwäche des spanischen Bürgertums infolge der Mauren- und Judenvertreibung verlieh diesen Vertretern des Kapitals große Macht über die Krone und den Adel. Kirche und Missionare (4) spielten als Vertreter der spanischen Christenheit bei der Conquista eine wesentliche Rolle; die Amtskirche lieferte die religiöse Legitimation der Eroberung und führte die "geistliche Conquista" durch. Der Indio und später der Negersklave (5) bildeten als Herrschaftsobjekte die Basis der Machtpyramide, deren Ausbeutung das ganze System erst funktionieren ließ. Schema 4: Die fünf Akteure der Conquista (16. ih.) (3) Das (spanische und europäische) Geldkapital
b
a
(1) Der spanische Staat c d (2) Der Adel 4 (der Konquistador)
e
► (4) Die Kirche (der Missionar)
fl
(5) Der Indio (der Negersklave)
Mit dem Ende der Reconquista wurde eine große Zahl militärisch geschulter und geprägter Menschen freigesetzt, die aufgrund ihrer kriegerischen Vergangenheit alle Voraussetzungen für die koloniale Invasion Amerikas mitbrachten. Die Konquistadoren erhofften sich von
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den überseeischen Unternehmungen in erster Linie einen materiellen und damit sozialen Aufstieg und ließen sich auch auf Dauer in den neu erworbenen Gebieten nieder, sofern damit der verbunden war (vgl. Pietschmann 1989, 21ff.). Die Kirche unterstützte die kolonialen Zielsetzungen der iberischen Könige, da sie aufgrund des Patronatskirchentums an die weltlichen Machtstrukturen gebunden war. Indem der Papst Portugal 1455 und Spanien 1486 bzw. 1508 das Patronatsrecht über neu eroberte Gebiete zusprach, erhielten die iberischen Herrscher den Auftrag und das Recht zur Christianisierung und kirchlichen Verwaltung dieser Gebiete. Insgesamt hielten sich im 15. und 16. Jahrhundert ökonomisch-machtpolitische und missionarisch-zivilisatorische Zielsetzungen in der Kolonialpolitik der spanischen Krone in etwa die Waage. Die den Konquistadoren rasch nachrückenden Missionsorden sahen in den machtpolitischen Aspirationen der Eroberer ein entscheidendes Hemmnis für die Verbreitung des katholischen Glaubens unter den Indianern. Unter der Führung von Bartolom de Las Casas bekämpften vor allem die allein an religiösen Belangen orientierten Bettelorden (Dominikaner, Franziskaner), die Konquistadoren sowohl vor Ort als auch an den Königshöfen der Mutterländer (vgl. Pietschmann 1989, 24). n Die Etappen der spanischen Kolonisation Lateinamerikas
Die "Entdeckung" und Inbesitznahme Lateinamerikas durch Spanien erfolgte in zwei Schüben: Während der ersten Etappe bis etwa 1508 brachten die Konquistadoren die (spanischen) Antillen unter ihre Kontrolle und erkundeten die zentral- und südamerikanischen Küsten. Nach der Schaffung von sicheren Operationsbasen vollzog sich in einer zweiten Etappe die eigentliche Eroberung und Durchdringung Zentral- und Südamerikas. Da sich der Orienthandel auf dem Landwege im Verlaufe des 15. Jahrhunderts weiter verteuerte, gelangte Kolumbus mit dem Vorschlag an die iberischen Königshäuser, eine Schiffspassage nach Indien (= Asien) zu suchen. Nachdem Portugal den Plan des Kolumbus als unrealistisch abgelehnt hatte, wurde er von spanischen Finanzkreisen aufgegriffen und an die um einen außenpolitischen Erfolg bemühten "Katholischen Könige" herangetragen. Als Kolumbus schließlich am 12. Oktober 1492 in der von ihm berechneten Entfernung von Europa auf der anderen Seite des Atlantiks Inseln vor einem Festland antraf, gab es für ihn keinen Zweifel, daß er Asien erreicht hatte. In Wirklichkeit war er auf einen den Europäern unbekannten Kontinent gestoßen, der zuerst "Neue Welt" und einige Zeit später, im Anschluß an die Küstenfahrten des in portugiesischen Diensten stehenden Florentiners Amerigo Vespucci, "Amerika" genannt wurde. Noch bevor die spanische Expansion nach Amerika über das Stadium der Entdeckung hinauskam, meldete Portugal seinerseits Ansprüche auf Amerika an. Unter Berufung auf den Vertrag von Alcawvas machte Portugal geltend, daß die 1492 entdeckten Inseln portugiesisches Interessengebiet seien. Da Portugal durch den Besitz der Azoren viel günstiger zum neuen Kontinent lag, sah sich Spanien zu einer Einigung mit Portugal gezwungen. Unter der Vermittlung des Papstes lösten die beiden iberischen Mächte im Jahre 1494 im Vertrag von Tordesillas ihren Streit. Sie teilten die außereuropäische Welt durch einen um 270 kastilische Meilen nach Westen verschobenen Längengrad in eine kastilische und eine portugiesische Hälfte. Dadurch fiel mit Ausnahme Brasiliens ganz Lateinamerika in die Interessensphäre Spaniens.
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Ab 1495 gewährte die spanische Krone privaten Expeditionen das Recht, ein bestimmtes Gebiet für Kastilien in Besitz zu nehmen. Als Gegenleistung wurden dem Anführer die zentralen zivilen und militärischen Ämter in der eroberten Region übertragen und der gesamten Mannschaft wirtschaftliche Privilegien in Aussicht gestellt. Nach Erhalt der königlichen Zustimmung, der so genannten Kapitulation, mußte der Anführer die Expedition selbständig finanzieren und organisieren (vgl. Pietschmann 1989, 22). Mit dieser Vorgehensweise erreichte die Krone mit einem Schlag zwei Ziele: Sie konnte die Kosten der Entdeckungs- und Eroberungsfahrten auf private Geldgeber abwälzen, behielt aber gleichzeitig die Kontrolle über die koloniale Entwicklung, indem sie die Ausreise der Expeditionen von ihrer Genehmigung abhängig machte. Unmittelbar im Anschluß an die Eroberung eines Küstenstreifens erfolgte die Gründung von Städten. Sie dienten der Konzentration der zahlenmäßig der autochthonen Bevölkerung unterlegenen Konquistadoren, als militärische Stützpunkte und als Basen für die kolonialistische Durchdringung des jeweiligen Hinterlandes. Damit war der Übergang zur Eroberung des gesamten Kontinents und zur Siedlungskolonisation vollzogen. Die Siedler strebten vor allem nach Gold, Arbeitskräften und Land. Da sie selbst nicht zur Leistung körperlicher Arbeit bereit waren, stieg der Bedarf an Arbeitskräften stetig an und löste räumlich immer weiter ausgreifende Sklavenjagden aus. Ähnlich raumgreifend wirkte sich der Hunger nach Edelmetallen und Landbesitz aus. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde das hispanoamerikanische Kolonialreich in seinen annähernd endgültigen Umrissen geschaffen (vgl. Reinhard 1985, 49 ff.). n Die Rechtfertigung und die Methoden der spanischen Conquista Der Besitzanspruch der Spanier über die transatlantischen Gebiete wurde in den Bullen Papst Alexanders VI. aus dem Jahre 1493 anerkannt und damit völkerrechtlich die europäische Expansion nach Lateinamerika sanktioniert. Wie schmal die Nahtstelle zwischen Entdeckung und Eroberung war — und damit zwischen Krieg und Frieden —, zeigt sich im sogenannten requerimiento: Es handelte sich dabei um ein Schriftstück, das den Indianern vorgelesen wurde und in welchem diese unter Hinweis auf die Weltherrschaft des Papstes ultimativ aufgefordert wurden, sich den Spaniern zu unterwerfen. Es versteht sich von selbst, daß die Indianer nicht in der Lage waren, die Konquistadoren sprachlich und inhaltlich zu verstehen; für die Spanier war das requerimiento aber ein ausgezeichnetes Mittel, die Verantwortung für ihre Taten auf die autochthone Bevölkerung abzuschieben. Die Hinweise auf den Erfolgszwang, die überlegene Waffentechnik, Strategie und Härte allein vermögen die schnellen Erfolge der Konquistadoren nicht zu erklären. Grundsätzlich fiel den Spaniern die Unterwerfung der Indios um so leichter, je höher deren zivilisatorisches Niveau und je zentralisierter ihre politische Ordnung war. In sehr vereinfachender Weise lassen sich die indianischen Ureinwohner des Kontinents in dieser Hinsicht in drei Gruppen einteilen: 1. Die Hochkulturen Mexikos, Mittelamerikas und des Andenraumes mit stark gegliederter, hierarchisierter Gesellschaftsordnung und straffer politisch-religiöser Organisation; 2. die seßhaften Volksgruppen der Karibik und der tropisch-subtropischen Zonen mit weitaus weniger ausgeprägter sozialer Gliederung und Durchorganisierung; 3. die ganz oder teilweise nomadisierenden Stammesverbände in den
Der Kolonialismus in Amerika
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Karte 14: Von den Handelsstützpunkten zur Siedlungskolonisation
Atlantischer Ozean -1
CORTES betritt Tenochtitlan am 8.11. 1519
t
Gründung von Santo Domingo 1496
SANTO DOMINGO
MEXI Vertrag von Tordesillas 1494
zu den Philippinen Legazpi und Urdaneta 1564-65
PANAMA BALBOA entdeckt das Südmeer am 29. 9. 1513 "*"..
Pazifischer
Pinzon 1499
Pizarro 1532-33
Ozean PIZARRO be Cuzco am 15.11. 1533
N,
O
Magellan 1519-20
Ausgangsstellung der Conquista
Cabral 1500 VALDIVIA gründet Santiago am 12.2. 1541
' Magellan 1519-20
Halt j 12, (553
entscheidende Etappe
.4,2) wichtige Entdeckungsreise
gemäßigten Breiten des südlichen Amerika und nördlichen Mexiko, die als Jäger- und Sammlergesellschaften nur eine geringe soziale Differenzierung und nur rudimentäre Formen politischer sowie religiöser Organisation kannten (vgl. Pietschmann 1989, 10 f.) Im Falle der Hochkulturen kamen den Eroberern innenpolitische Spannungen der Großreiche entgegen, die sie für ihre Zwecke nutzten, indem sie sich mit unterworfenen Völkern zum Sturz der Herrscher verbanden. So war es im Falle der Eroberung Mexikos ein Bündnis mit den Totonaken und den Tlaxcalteken, das Hernän Corts den Einmarsch in
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Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Tenochtitlän, den Mittelpunkt des aztekischen Großreiches, ermöglichte. Die Gefangennahme des obersten Herrschers war ein weiteres Mittel, das meist ausreichte, um den gesamten Verwaltungsapparat lahmzulegen und um auch die letzte Widerstandskraft der adeligen Krieger zu brechen. Der Erfolg dieser Strategie zeigte sich bei der endgültigen Eroberung Mexikos, als der aztekische Herrscher Moctezuma II. im Jahre 1520 gefangen gesetzt werden konnte, sowie im Falle der Unterwerfung der Inka-Kultur in Peru, deren gottähnlich verehrter Kaiser Atahualpa 1532 in die Hände von Francisco Pizarro fiel (vgl. Schmitt, Bd. 2, 1984, 308ff.). Bei den zumeist friedfertigen Völkerschaften der zweiten Gruppe stießen die Europäer in der Regel auf keinen oder nur auf vorübergehenden Widerstand. Mehr Zeit und Gewalt erforderte die Unterwerfung der weitverstreut lebenden und kriegerischen Nomadenstämme an der Nord- und Südgrenze des Kolonialreichs. So konnte ein Teil der Araukaner Südchiles und Südargentiniens bis ins späte 19. Jahrhundert hinein seine Unabhängigkeit bewahren. Im Verlauf der spanischen Landnahme kam es zu einer wechselseitigen Beeinflussung der aufeinandertreffenden Kulturen (vgl. Pietschmann 1989, 10 ff.). In jedem Fall ergaben sich biologische und kulturelle Vermischungsprozesse, die dazu führten, daß die Spanier teilweise die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen der Indianer respektierten – wenn auch zumeist nur, um sie für ihre eigenen Interessen zu instrumentalisieren.
Der Kolonialismus in Amerika
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Konquistadoren und ihren Anspruch auf Belohnung für die Eroberung vorsichtig behandeln, um die Fortführung der Expansion nicht zu gefährden. Die Bekämpfung der politischen Auswirkungen der Encomienda betrieb die Krone in erster Linie über den konsequenten Aufbau eines staatlich kontrollierten Verwaltungsapparates. Den Ausgangspunkt dazu bildete die Einrichtung von kollegialen Gerichtsbehörden (Audiencias), die die immer wiederkehrenden Streitigkeiten der Konquistadoren um die Verteilung der Encomienda-Ansprüche beendeten und der Macht der Kolonisten erste Schranken setzten (vgl. Pietschmann 1989, 25). Bald trat neben die Audiencias das Amt des Vizekönigs, der als unmittelbarer Vertreter der Krone die oberste Regierungsgewalt ausübte und die Monarchie nach außen vertrat. Im 16. Jahrhundert entstanden zunächst zwei Vizekönigreiche: Neu-Spanien (1536) und Peru (1543). Aus ihnen gingen im 18. Jahrhundert zwei weitere hervor, nämlich Neu-Granada (1739) und Rio de la Plata (1776). Diese Vizekönigreiche waren in Generalkapitanate und Gouvernements eingeteilt, in deren Händen die Verantwortung für die Militär-, Zivil- und Finanzverwaltung lag. Schema 5: Verwaltungsbereiche und Ämter in der spanischen Kolonialverwaltung, um 1610 König Justizverwaltung
Militärverwaltung
Zivilverwaltung
Finanzverwaltung
vl
n Das koloniale Herrschaftssystem der Spanier Der für die Krone kritische Punkt einer kolonialen Unternehmung war meist im Moment des Sieges der Konquistadoren erreicht, als es darum ging, den Übergang zur dauerhaften Herrschaft und zur Kolonisation zu vollziehen. Dies wurde durch zwei institutionelle Mechanismen erreicht, die in der Übergangsphase zwischen Inbesitznahme und Kolonisation auch die staatliche Ordnung der hispanoamerikanischen Kolonien prägten: die Gründung von Städten und das System der Encomienda. Dieses bestand darin, daß Gruppen von Eingeborenen einem Teilnehmer des Conquista-Zuges "anvertraut", d. h. in Encomienda übergeben wurden. Der Konquistador erhielt dadurch in Form von indianischen Naturalabgaben und Arbeitsleistungen Anspruch auf Tributleistungen, die der Krone geschuldet wurden. Dafür verpflichtete er sich, militärisch einsatzbereit zu sein, sich dauernd in den eroberten Gebieten niederzulassen sowie die Indianer zu christianisieren und zu beschützen (vgl. Reinhard 1985, 60f.). In wirtschaftlicher Hinsicht diente die Encomienda unter Ausnutzung der Arbeits- und Produktivkraft der Indianer der ökonomischen Ausbeutung des Kontinents und der Belohnung bzw. Bereicherung der Kolonisten. Dies hatte zur Folge, daß sie sich kaum von der Sklaverei unterschied, obwohl sie den Indianern formell den Status freier Lohnarbeiter zuerkannte. Faktisch war die Encomienda gleichzusetzen mit hemmungsloser Ausbeutung der Indianer, mit gewaltsamer Rekrutierung der Arbeitskräfte und Terror, wobei oft nicht einmal das Existenzminimum an Nahrung bereitgestellt wurde (vgl. Konetzke 1965, 190 ff.). Die Encomienda förderte Feudalisierungstendenzen, die einerseits eine Überausbeutung der Indianer befürchten ließen und andererseits eine Gefahr für den politischen Einfluß der Krone auf die innere Entwicklung der Gebiete darstellten. Aus diesen Gründen mußte die Encomienda den Widerspruch der Krone hervorrufen. Diese mußte allerdings die
Consejo de Indias
5
Casa de Contrataciön
Vizekönig Audiencia Gouverneur
Generalkapitän
Junta de Hacienda Tnbunal de Cuentas
► Provinzgouverneur
Justicia Mayor • Alcalde Mayor • oder Corregidor Alcaldes Ordinarios
Cajas Reales
♦
Temente de Capten General oder Camtan a Guerra
ge
Cabildo
Anmerkung: In den Fällen, m denen statt der Amtsbezeichnung des Beamten der Name der Institution genannt wird, handelt es sich um Kollegialbehörden. = Verwaltungsbereiche in der Hand eines Beamten oder einer Behörde. 4---> = in Personalunion vereinigte Amter bzw. Präsidium über eine Kollegialbehörde.
Neben die staatlichen traten mit den Erzbistümern, Bistümern und Diözesen kirchliche Verwaltungseinheiten sowie – unabhängig von diesen – ein von den Bettelorden und später auch von den Jesuiten bestrittener Apparat der Indianermissionen. Beiden kirchlichen Strukturen kam jedoch wegen des Patronatsrechts der Krone keine administrative, juristi-
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X
Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
sche oder politische Selbständigkeit zu. Der gesamte spanische Verwaltungsapparat unterstand zwei direkt der Krone unterstellten, gleichberechtigten, mit unterschiedlichen Verantwortungsbereichen ausgestatteten Zentralbehörden im Mutterland: der für den gesamten Handels-, Nachrichten-, Verwaltungs- und Personenverkehr zuständigen Casa de Contrataciön in Sevilla sowie dem ebenfalls direkt der Krone gegenüber verantwortlichen Consejo de Indias (Indienrat) als oberster Verwaltungs- und Finanzbehörde, höchstem Gericht und Leitungsinstanz für die Kirche (vgl. Reinhard 1985, 75 ff.). Die riesige Entfernung zwischen den hispanoamerikanischen Gebieten und dem spanischen Herrschaftszentrum machte es unvermeidlich, daß die staatliche Kontrolle nicht ebenso unmittelbar ausgeübt werden konnte wie im Mutterland.
n
Die Eingeborenenpolitik Spaniens
Die Eroberer und Kolonisatoren sprachen sich für eine gewaltsame Integration der einheimischen Bevölkerung aus. Die Sklaverei sowie der faktische Arbeitszwang im System der Encomienda waren ihrer Ansicht nach dazu am besten geeignet. Dieser Sichtweise hielten die proindigenistischen Missionare entgegen, daß die Indianer durch eine solche Strategie vernichtet würden. Sie verlangten, die Indianer rechtlich zu freien Vasallen unter dem Schutz der Krone zu machen und sie durch eine schrittweise Vermittlung der spanischen Lebensweise in den Staatsverband zu integrieren. Nicht nur wegen der politischen Implikationen des Encomienda-Systems setzte die spanische Krone in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehr und mehr auf die Strategie der Missionare. Zu dieser Haltung trugen vielmehr auch religiös-zivilisatorische und ökonomisch-machtpolitische Überlegungen bei: Zum einen war es aufgrund päpstlicher Weisung verboten, Eingeborene, die — zumindest potentiell — vor der Annahme des Christentums standen, gegen ihren Willen als Sklaven und reine Arbeitstiere zu halten (vgl. Piepke 1989, 124). Zum anderen bedurften Staat und Wirtschaft eines gesunden und leistungsfähigen sowie eines disziplinierten Untertanenverbandes. Aus diesen Gründen erließ die Krone die ersten Indianerschutzgesetze und übertrug den Bettelorden — ab 1556 auch den Jesuiten — die Aufgabe, die autochthone Bevölkerung durch die allmähliche Vermittlung eines christlich-spanischen Kulturkonzeptes in den Reichsverband zu integrieren. In den 1512 verabschiedeten "Gesetzen von Burgos" wurde das Zusammenleben von Spaniern und Indianern streng reglementiert. Die Krone erklärte die unter spanischer Herrschaft lebenden Eingeborenen zu freien Vasallen der Krone, die aber zum Zwecke der Christianisierung und Europäisierung in möglichst enger Gemeinschaft mit den europäischen Siedlern leben sollten. Zu diesem Zweck sollten sie in der Nachbarschaft der Europäer in Dörfern angesiedelt werden. Ein Priester und ein weltlicher Beamter sollten sie zu einem christlichen Leben und zu geregelter Arbeit anhalten (vgl. Pietschmann 1989, 24). Las Casas und die Dominikaner, denen dieser Indianerschutz bei weitem nicht ausreichte, erlangten 1537 von Papst Paul III. die Bulle Sublimis Deus, in der ausdrücklich und keineswegs überflüssigerweise festgehalten wurde, die Indianer seien rationale menschliche Wesen wie andere und als solche zur Annahme der christlichen Botschaft fähig. Mittels dieser päpstlichen Rückenstärkung bewirkte Las Casas 1542 beim Kaiser eine Revision der Indiogesetze, die auf eine drastische Einschränkung der Verfügungsgewalt der Kolonisten über die Indianer abzielten. In diesen Leyes nuevas wurde die Indianersklaverei endgültig
Der Kolonialismus in Amerika
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verboten und die Encomienda praktisch abgeschafft (vgl. Reinhard 1985, 80 ff.). Die faktischen Auswirkungen der veränderten Rechtslage blieben jedoch gering. Zum einen konnte sie vor Ort nur schwerlich durchgesetzt werden, und zum anderen lösten sie Aufstände der Siedler gegen die Beeinträchtigung ihrer Privilegien aus. Die Indianerschutzpolitik gipfelte Mitte des 16. Jahrhunderts auf Vorschlag der Dominikaner in der räumlichen Trennung indianischer und europäischer Gemeinwesen und teilte die kolonialen Gebiete in zwei Repüblicas ein: die Indianergemeinden (repüblica de Indios), die zwar ebenfalls nach spanischem Gemeinderecht verwaltet wurden, aber den Indianern ein gewisses Maß an kommunaler Selbstverwaltung und die freie Wahl ihrer Gemeindeautoritäten unter der Oberaufsicht eines Corregidor garantierten, und die spanischen Munizipien (repüblica de espanoles) (vgl. Pietschmann 1989, 25). Dieses Konzept fand seine vollkommenste Verwirklichung in den von Las Casas vorgeschlagenen Missionsreservaten, den so genannten Reduktionen. Sie sollten es ermöglichen, die Indianer unter Ausschluß spanischer Siedler und allein mit missionarischer Überzeugungskraft an die spanische Lebensweise heranzuführen (vgl. Reinhard 1985, 83 f.). Fernziel blieb also die Hispanisierung. Am erfolgreichsten in dieser Hinsicht war der sogenannte "Jesuitenstaat" im unwegsamen Gebiet von Paraguay — die Bezeichnung ist insofern falsch, als auch die Jesuiten der staatlichen Kontrolle unterstanden und deswegen keinen autonomen Staat aufbauen konnten. In dieser Reduktion schufen die Jesuiten, indem sie die spanische Kommunalverwaltung und indianische Lebensformen miteinander verknüpften, ein fast 200 Jahre überdauerndes wirtschaftlich blühendes Gemeinwesen (vgl. Prien 1978, 262 ff.). Letztlich dienten die Reduktionen der Grenzsicherung, indem sie ausnahmslos in unwirtlichen Gebieten angelegt wurden. Diese Leistungen zeigen, daß die Kirche über die Missionierung auch vor Ort eine äußerst wichtige Funktion für das spanische Herrschaftssystem in Lateinamerika innehatte.
n Das Wirtschaftssystem der spanischen Kolonien Insgesamt stellten die Edelmetalle, vor allem Silber, das bei weitem wichtigste Produkt dar, das Spanien aus seinen Kolonien bezog; als Rohstoffe oder als Zahlungsmittel für die Einfuhr spanischer Konsumgüter machten sie in der Zeit von 1531 bis 1700 zwischen 90 und 99 % des Wertes der Sendungen nach Spanien aus. Das Interesse der Krone an den Edelmetallen erklärt sich aus ihren hohen Militärausgaben als katholische Führungsmacht in Europa und dem tiefen Entwicklungsstand der spanischen Wirtschaft im 16. und 17. Jahrhundert. Die Habgier der Konquistadoren war damit mehr als ein individuelles Laster; sie war individueller Ausdruck genereller wirtschaftlicher und sozialer Tendenzen. Der Bergbau war in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung für die Entwicklung der Landwirtschaft. Dort, wo reichhaltige Edelmetallminen entdeckt wurden und deshalb eine zahlreiche Bevölkerung zusammenströmte, entstand ein rasch ansteigender Bedarf an Lebensmitteln (vgl. Konetzke 1965, 306). Dieser Bedarf ließ sich bald über die traditionelle Form der landwirtschaftlichen Produktion, die Encomienda, nicht mehr decken. Aus diesem Grund entstanden etwa zur selben Zeit wie die Silberminen aus der Zusammenlegung von Encomienda-Landstücken die noch heute für Lateinamerika typischen agrarischen Großbetriebe, Hacienda und Plantage. Die Hacienda ist gekennzeichnet durch aus-
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
gedehnten Landbesitz, extensive Bewirtschaftung, geringe Produktivität und Binnenmarktorientierung; sie produzierte vor allem Fleisch und Getreide. Die in Monokulturen angelegten, kapitalintensiveren Plantagen wurden meist unter Einsatz von afrikanischen Sklaven bewirtschaftet. Sie waren vor allem in den Küstenzonen der Andengebiete, Brasiliens und auf den Antillen verbreitet und im Gegensatz zu den Haciendas auf den Export von Rohstoffen und Nahrungsmitteln — Zucker, Kakao, Tabak, Baumwolle, Färbstoffe — ausgerichtet. Neben diesen beiden Formen der landwirtschaftlichen Produktion fanden sich nur selten kleinbäuerliche Betriebe und bäuerliche Siedlungsgemeinschaften, die für den Eigenbedarf insbesondere der indianischen Bevölkerung produzierten. Die hispanoamerikanische Wirtschaft war in das spanische Monopolhandelssystem eingebunden, das im wesentlichen bis zum Ende der Kolonialzeit beibehalten wurde. Sevilla blieb Monopolhafen und Sitz der Monopolbehörde Casa de Contrataciön. Damit behielt die Amerikapolitik des Mutterlandes einen restriktiven Charakter. Das Monopol wurde lange Zeit aus zwei Gründen aufrechterhalten: Zum einen, um andere europäische Mächte — allerdings erfolglos — vom Amerikahandel fernzuhalten und zum anderen, um die spanischen Exporte nach Amerika nicht durch eine dortige Eigenproduktion zu beeinträchtigen. Neben der Textilmanufaktur erreichten von den verarbeitenden Betrieben in Hispanoamerika lediglich das Gold- und Silberhandwerk eine gewisse Bedeutung (vgl. Konetzke 1965, 322 ff.). Neben dem erwerbswirtschaftlichen Monopolismus wirkte auch das staatliche Steuersystem stark auf das Wirtschaftsleben der Kolonien ein. Auf dem Handel lasteten eine Export- und eine Importabgabe. Im Zeichen des Merkantilismus ging es der spanischen Krone darum, so schnell wie möglich so viel wie möglich aus den amerikanischen Kolonien herauszuholen, um die stets leeren Staatskassen zu füllen (vgl. Reinhard 1985, 96).
Karte 15: Das spanische Kolonialreich im 18. Jahrhundert
USA
tatsächliche Grenze;2
der spanischer Besiedi '.......
Vereinigte Stäliten von Amerika seit 1776-5‚ Florida
1783-1783 Mit.
Golf von
Vizekönigreich 6uadalajar
ATLANTISCHER OZEAN
Mexiko .°
Sento Domingo
t1Meiiko
-1697 an Frankreich •= 2. r:" Jemeica Santo Domingo; 0> 1655 Karibik von England 0 erobert •
Neu Spanien o
Guatemäl
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Vizeköni re ch 1717gotä Neu-Graiiiida
Gua ana
1739 vom Vizekönigreich Peru etrennt
Gude,
dar
izekönigreich
111 Die Bevölkerungsentwicklung in Hispanoamerika Schätzungen gehen davon aus, daß im 16. Jahrhundert etwa 300.000 Spanier nach Amerika auswanderten, wobei aber nicht alle auf Dauer blieben. Alle individuellen Entschlüsse zur Auswanderung, wie auch zu einer vorübergehenden Reise in die überseeischen Gebiete, bedurften aufgrund des seit dem Vertrag von Tordesillas allein dem spanischen Staat vorbehaltenen Entdeckungs- und Herrschaftsrechts einer staatlichen Erlaubnis (vgl. Schmitt, Bd.3, 1986, 269 ff.). Dabei achtete die Casa de Contrataciön in der Auswahl der Emigranten auf die Nützlichkeit und Zuverlässigkeit der Leute, so daß vor allem Bauern und Handwerker als Siedler zugelassen wurden. Im Zuge der europäischen Durchdringung Amerikas kam es zu einem dramatischen Rückgang der indianischen Bevölkerung. Die wesentlichste Ursache für das indianische Massensterben lag in den von den Europäern eingeschleppten Bakterien und Viren — Pocken, Grippe, Typhus, Lungenentzündung —, die sich in viel rascherem Tempo als die Europäer selbst unter der autochthonen Bevölkerung ausbreiteten (vgl. Reinhard 1985, 62ff.). Dazu kamen die Folgen der wirtschaftlichen Ausbeutung und der durch die Zerstörung der traditionellen Dorfstrukturen eingeleiteten politischen und sozialen Veränderungen, von denen insbesondere die indianischen Hochkulturen betroffen waren: In Zentralmexiko ging die Bevölkerung von 25,2 Millionen Einwohnern im Jahre 1519 auf 2,6 Millionen 1568 und auf eine Million im Jahre 1605 zurück, und in Peru war in der Zeit zwischen 1520 und 1620 ein Bevölkerungsrückgang von 93 % zu verzeichnen. (vgl. Reinhard 1985, 63).
225
Der Kolonialismus in Amerika
Vizeköni reic
Pernam •
Brasilien
Lima
•
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Peru CNA (Litelatereb
PAZIFISCHER OZEAN
Sli -e Rio de Janeiro Hauptstadt 1763
Viz 'ne eich 17. Santiago
Peru enos Aires
Audiencia Chile
1776 an Vizekönigreich Peru von S amen beanspruchtes, edoairn'clit besiedeltes Gebiet • Hauptstadt eines Vizekönigreichs 0 Sitz einer Audiencia
dE
226
X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Aus drei Gründen setzte im 16. Jahrhundert die Einfuhr afrikanischer Sklaven nach Lateinamerika ein: Zum ersten wegen des Massensterbens der Indianer, zum zweiten infolge des frühzeitigen (1500) königlichen Verbots der Indianersklaverei, zum dritten aufgrund der Arbeitsunwilligkeit der Einwanderer. Sogar Geistliche befürworteten zunächst die Einfuhr von Negersklaven, insbesondere um die weniger robusten Indianer vor der Vernichtung zu schützen. In der Tat zeigten sich die Negersklaven in Leistungsfähigkeit, Ausdauer und Fügsamkeit den Indianern bei weitem überlegen. Insgesamt wurden von 1492 bis 1870 etwa 1,5 Millionen schwarze Sklaven aus Afrika nach Hispanoamerika verschleppt. Die entsprechenden Zahlen für die Antillen und Brasilien liegen noch weit höher (vgl. Reinhard 1985, 90). n Die Sozialstruktur in Hispanoamerika Im Zuge der Conquista bildete sich in Hispanoamerika eine streng hierarchische Gesellschaftsordnung nach spanischem Vorbild heraus. An der Spitze der kolonialen Gesellschaft standen die leitenden Beamten der Krone und der hohe Klerus, die oft dem spanischen Geburts- oder Dienstadel entstammten. Wurden die höchsten kirchlichen und staatlichen Ämter meist mit Spaniern besetzt, so waren auf den mittleren und unteren Stufen der Behördenpyramide auch Kreolen, d.h. in Amerika geborene Spanier anzutreffen. Zusammen mit dem Gros der Händler, Kaufleute und mit angesehenen Handwerkern des Textilgewerbes und der Edelmetallverarbeitung bildeten sie die nächste soziale Stufe. Neben den weniger angesehenen städtischen Berufsschichten — etwa den Bauarbeitern — zählte vor allem die breite Masse der unfreien indianischen bäuerlichen Bevölkerung zur Unterschicht (vgl. Reinhard 1985, 91). Parallel zu dieser Rangordnung entstand nach und nach eine soziale Stufenabfolge aufgrund ethnisch-rassischer Merkmale. Im Sinne dieser Rangordnung war es entscheidend, ob sich jemand zur kleinen Gruppe der Weißen zählen konnte oder nicht. Allerdings bestanden auch innerhalb der beiden rassischen Hauptgruppen feinere Abstufungen. So galt etwa ein in Spanien Geborener einem in Lateinamerika geborenen Weißen gegenüber als überlegen. Der indianische Adel erfuhr lange Zeit eine relativ großzügige Behandlung, indem er oft in seinen ursprünglichen Funktionen belassen wurde und eine Reihe von Privilegien genoß, die ihn dem spanischen Niedrigadel gleichstellten. Dagegen hatte die übrige indianische Bevölkerung keinen eindeutigen Platz in der rassisch-sozialen Stufenfolge, da sie als schlecht in die spanische Kultur integrierte Bevölkerungsmehrheit eine autochthone Subkultur am Rande der Kolonialgesellschaft bildete (vgl. Pietschmann 1989, 12). Ambivalent war der Status der Mischlinge, vor allem der Mestizen, die aus Verbindungen zwischen Europäern und Indianerinnen hervorgingen. Ursprünglich waren diese in keiner Weise diskriminiert, sanken jedoch im Laufe der Zeit zu Bürgern minderen Rechts herab. Dazu trug auch der Umstand bei, daß sie meist unehelichen Verbindungen entstammten. Die unterste Stufe in der rassisch-sozialen Rangfolge wurde überall von den schwarzen Sklaven und ihren Nachkommen eingenommen.
Der Neo-Kolonialismus in Afrika
2.
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Der Neo-Kolonialismus in Afrika
a) Das spanische Kolonialreich in Afrika: Chronologie 1497 Der Herzog von Medina Sidonia erobert Melilla. 1556 Melilla fällt an die spanische Krone. 1580-1661 Tanger geht von Portugal an Spanien über. 1640 Portugal tritt Ceuta an Spanien ab. 1778 Portugal tritt Fernando Pöo an Spanien ab. 1843 Spanien besetzt die Nachbarinseln von Fernando Annobön, Corisco, Elobey Grande und Elobey Chico. 1859/60 Spanische Truppen erobern Tetuän, die Einnahme Tangers wird von den Briten verhindert. 1860 Marokko überläßt Spanien "für immer" Sidi Ifni, einen Küstenstreifen gegenüber den Kanarischen Inseln, der bereits seit dem 15. Jahrhundert zur spanischen Interessensphäre gehörte. 1890 Spanien besetzt Rio Muni und macht es zusammen mit den vorgelagerten Inseln um Fernando Pöo zur Kolonie Guinea Espatiola. 1904 Spanien und Frankreich verständigen sich auf die Aufteilung Marokkos in eine spanische und eine französische Einflußsphäre. 1906 Internationale Konferenz von Algeciras zur Lösung der ersten Marokko-Krise; im Anschluß kommt es in Cartagena zum zweiten spanisch-französischen Vertrag über Marokko. 1909 Die Proteste gegen die Verschiffung junger Spanier in den Kolonialkrieg nach Marokko führen zur Semana trägica in Barcelona. 1912-1956 Der nördliche Teil Marokkos ist unter der Bezeichnung Protectorado de Marruecos Teil des neokolonialen Reichs der Spanier. 1921 Beginn des Aufstandes der Rif-Kabylen unter Abd el-Krim gegen die spanische Protektoratsmacht und Proklamation der Rif-Republik; beim Desastre de Annual verlieren die spanischen Streitkräfte mehr als 13.000 Soldaten. 1936 Spanische Kolonialtruppen setzen mit deutscher Hilfe von Marokko nach Spanien über und kämpfen auf Seiten der Aufständischen im Spanischen Bürgerkrieg.
1956 Spanien gibt den von ihm besetzten Teil Marokkos formal frei, bis Anfang der 60er Jahre bleiben allerdings spanische Truppen in Marokko stationiert. 1957 Beginn des "Ifni-Krieges". 1959 Die Kolonie Guinea Espatiola erhält den Status einer Provinz. 1960 Der Entkolonialisierungsbeschluß der UNO schließt Ceuta und Melilla ausdrücklich mit ein. 1963 Spanien organisiert ein Plebiszit in Guinea Espatiola, in dem sich die Mehrheit der Bevölkerung für die Unabhängigkeit von Spanien ausspricht; am 1. Januar 1964 erhält die Provinz die Verwaltungsautonomie. 12.10.1968 Nach einem von der UNO überwachten Referendum in Guinea Espatiola erklärt sich die spanische Provinz für unabhängig und wird von Spanien geräumt. 4.1.1969 Spanien übergibt Sidi Ifni an Marokko; Sahara Espafiol wird zur spanischen Provinz erklärt. 1973 Der Frente Polisario, der für die Unabhängigkeit der West-Sahara sowohl von Spanien als auch von Marokko kämpft, wird gegründet. 1975 Das Unabhängigkeits- bzw. Abtretungsverfahren für Ceuta und Melilla wird eingefroren. 14.11.1975 Im "Abkommen von Madrid" vereinbaren Spanien, Marokko und Mauretanien die Übertragung von Sahara Espafiol an die beiden letztgenannten Staaten. 13.3.1995 Ceuta und Melilla erhalten das Sonderstatut einer Ciudad Autönoma. 11.7.2002 Besetung der Insel Perejil durch marokkanische Soldaten. 17.7.2002 Spanische Elitesoldaten vertreiben die Marokkaner von der Insel. Oktober 2005 Fast 2000 afrikanische Flüchtlinge überwinden einen doppelten Stacheldrahtzaun um die Autonomen Städte Ceuta und Melilla und gelangen damit auf "europäisches Gebiet".
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Spanien und der Maghreb im 20. Jahrhundert
Von seiner geographischen Lage her ist die Iberische Halbinsel der Teil Europas, der Afrika am nächsten kommt. Lediglich die Meerenge von Gibraltar trennt die beiden Kontinente. Somit ist es naturgegeben, daß Spanien eine wichtige Rolle als Transitraum zwischen den Kulturen beider Kontinente in Vergangenheit und Gegenwart spielt(e). Von besonderer Bedeutung waren und sind dabei die Beziehungen zu den Ländern des Maghreb, und hier wiederum vor allem die zu Marokko. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf das Verhältnis Spaniens zu seiner nordafrikanischen Nachbarregion im 20. Jahrhundert. Geprägt wurden die Beziehungen vom Imperialismus und Kolonialismus Spaniens. In Nordafrika betrieb das iberische Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ebenso wie Frankreich, eine neokolonialistische Politik und machte den Nordteil Marokkos zu einem spanischen Protektorat. Der Kampf gegen die dortigen Rifkabylen in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts war außerordentlich hart und grausam, seit 1927 konnte die Region als einigermaßen "befriedet" gelten. In der einen oder anderen Form aber belastete das Marokkoproblem auch weiterhin die spanische Politik. Marokko sollte zu Beginn und im Verlauf des Spanischen Bürgerkrieges (1936-1939) abermals eine wichtige Rolle für das iberische Land spielen. In Marokko siegte der Aufstand Francos von Anfang an, von dort setzte der Putschgeneral auf das Festland über, das Afrikaheer mit seinen ca. 45.000 Mann schloß sich sofort dem Militärputsch an. Die "maurische Leibgarde" (Guardia Mora), mit der sich Franco nach dem Krieg jahrzehntelang schmückte, erinnerte Spanien lange daran, daß der Sieg über die Demokratie mit maßgeblicher Hilfe der afrikanischen Truppen errungen worden war. Eine eigentliche Kolonialpolitik betrieb das Franco-Regime nicht. Spanisch-Marokko wurde von einem Hochkommissar regiert, spanische Unternehmen beuteten die spärlichen Erzvorkommen und landwirtschaftlichen Erträge des Landes aus. Die Kolonialpolitik erschöpfte sich im wesentlichen in der geordneten Durchführung der Entkolonisierung der spanischen Besitzungen in Nordafrika. 1956 beschloß Spanien, Marokko die Unabhängigkeit zu gewähren, falls Frankreich für seinen Verantwortungsbereich dasselbe tat. Die Kolonialkrise hatte 1953 mit den Handlungen der Nationalisten in Französisch-Marokko eingesetzt; diese provozierten den Sturz und die Gefangensetzung von Sultan Mohammed V. Das spanische Regime unterstützte den marokkanischen Nationalismus und verschaffte sich auf diese Weise die Anerkennung der arabischen Welt, die der Franquismus in jener ersten Phase der vorsichtigen außenpolitischen Öffnung dringend benötigte. Die Haltung der spanischen Regierung provozierte allerdings auch eine Reaktion gegenüber der spanischen Besetzung der marokkanischen Nordzone. Im März 1956 erkannte Frankreich die Unabhängigkeit seiner Besatzungszone an, Spanien mußte einen Monat später nachziehen. Ungeklärt blieben allerdings zwei Fragen: die Zukunft von Ifni und die der Westsahara. Beide Gebiete wurden von Marokko reklamiert; Spanien wiederum führte seine Ansprüche auf historische Rechte zurück. Die Ifni-Frage wurde als erste gelöst: Zwischen November 1956 und Februar 1958 kam es zu einem Krieg, der mit dem Verlust des nördlichen Teils von Ifni endete. Die Saharafrage blieb vorerst offen und ein Streitpunkt zwischen Spanien und Marokko.
Der Neo-Kolonialismus in Afrika
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Karte 16: Spanien erkennt 1956 die Unabhängigkeit Marokkos an
MITTELMEER TÄNGER
CEUTA AN Tres Forcas
Gipfel von Gomera
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Rio = Fluß Seit der Erlangung seiner Unabhängigkeit beanspruchte Marokko die Souveränität über Spanisch-Sahara (der Wüstenstreifen am Atlantik erstreckt sich über 270.000 km 2), später machte auch Mauretanien auf den südlichen Teil Ansprüche geltend. Spanien war jedoch nicht bereit, auf seine Überseeprovinz zu verzichten, diente ihr diese doch als militärischer Flankenschutz für die Kanarischen Inseln. Durch dieses ungelöste Kolonialproblem litten die traditionell guten spanisch-arabischen Beziehungen nicht unerheblich. Nach der Entkolonisierung Marokkos förderte Spanien die Stammesbewegung zugunsten der saharahui. 1967 wurde in der Westsahara eine autonome Verwaltung unter einer "Generalversammlung der Sahara" eingesetzt. Die "Partei der Nationalen Union Saharas" (Partido de Union Nacional Saharahui, PUNS) trat sogleich für eine Beibehaltung der engen Beziehungen mit Spanien ein. 1973 bildete sich jedoch der Frente Polisario als nationalistische politische Kraft, die für die Unabhängigkeit des Territoriums eintrat. Obwohl der marokkanische König kurzfristig die Sahara-Selbstverwaltung unterstützte, änderte er — bedrängt durch ein instabiles politisches Klima im Landesinneren — bald seine Meinung und
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Der Neo-Kolonialismus in Afrika
X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
Karte 17: Marokko 1957 Angriffe auf IFNI
forderte die Eingliederung der Sahara in sein Nationalgebiet. Marokko brachte den Fall sogar vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag; dabei schloß es in seine Forderung gleich die beiden spanischen Städte Ceuta und Melilla mit ein. Die spanische Regierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Carlos Arias Navarro reagierte auf die massiven marokkanischen Druck- und Drohgebärden, indem sie ein Referendum für die Selbstbestimmung der Sahara ansetzte. Die Abstimmung sollte ursprünglich im Frühjahr 1975 stattfinden. Nachdem es im Herbst jenes Jahres jedoch immer noch nicht dazu gekommen war, fällten der Haager Gerichtshof und die UNO einen Beschluß zugunsten des Selbstbestimmungsrechts des Volks der Sahara, somit gegen die Interessen der Marokkaner. In den letzten Jahren des Francoregimes spitzte sich das Saharaproblem gefährlich zu, vor allem, seit in den 60er Jahren gigantische Phosphat-Reserven und wertvolle Eisenerzvorkommen in dieser Region entdeckt worden waren. Ende 1973 verabschiedete die UN-
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Vollversammlung erneut eine Resolution, in der Spanien aufgefordert wurde, in SpanischSahara eine Volksabstimmung über die Zukunft des Gebietes abzuhalten. Ab Juli 1974 startete der marokkanische König Hassan II. eine weltweite diplomatische Offensive, in der er sehr bald erkennen ließ, daß er nur eine Volksabstimmung akzeptieren würde, die als Ergebnis den Anschluß des phosphatreichen Saharagebietes an Marokko vorsah. 1974/75 verstärkten Marokko, Algerien und Spanien ihre Truppen an den Grenzlinien der Sahara. Inzwischen nahm auch die Guerrillatätigkeit des Frente Polisario (Volksfront fur die Befreiung der Sahara) und anderer Untergrundorganisationen in Spanisch-Sahara immer mehr zu. Im Sommer 1975 gab König Hassan bekannt, daß er noch im Laufe des Jahres "friedlich oder militärisch" Spanisch-Sahara zurückerobern werde, und im Oktober verkündete er, daß 350.000 freiwillige unbewaffnete Marokkaner unter seiner Führung einen "Grünen Marsch" in die Spanische Sahara bis zur Hauptstadt el-Ayoun unternehmen würden. Während Franco in der Agonie lag, flog Prinz Juan Carlos als amtierender Staatschef nach el-Ayoun, konnte jedoch nicht verhindern, daß wenige Tage später — parallel zu hektischen diplomatischen Aktivitäten der Vereinten Nationen — der Grüne Marsch durchgeführt wurde. In der zweiten Novemberwoche einigten sich sodann Marokko, Mauretanien und Spanien über die Entkolonisierung von Spanisch-Sahara. Der völlig überstürzte Rückzug der Spanier aus der Sahara war, wenige Stunden vor dem Tode Francos, die erste außenpolitische Maßnahme von Juan Carlos. Es mag mehr als nur ein Zufall gewesen sein, daß das physische Ende des Diktators zugleich mit dem Ende der spanischen Präsenz in Nordafrika — sieht man von Ceuta und Melilla ab, die allerdings ebenfalls von Marokko reklamiert werden — zusammenfiel. Franco hatte in den 20er Jahren seine militärische Karriere in Nordafrika begonnen, auf die Soldaten der dort stationierten Fremdenlegion hatte er sich im Bürgerkrieg bedingungslos verlassen können. Die Symbolträchtigkeit, die der Gleichzeitigkeit dieser beiden Ereignisse — Tod Francos und politischdiplomatische Niederlage in der Nordafrikafrage — innewohnte, war unübersehbar. Im Februar 1976 mußte Spanien endgültig die Sahara verlassen. Im "Abkommen von Madrid" (14. November 1975) hatte Spanien lediglich die Verwaltungshoheit, nicht aber die Souveränität über das bis dahin "Spanisch-Sahara" und fortan "Westsahara" genannte Gebiet an Marokko und Mauretanien übertragen. Über ihre Zukunft sollten die saharahui später selbst entscheiden. Diese Art der "Entkolonisierung" kann nur als mißglückt bezeichnet werden. Das Sahara-Problem war nicht gelöst, sondern erst geschaffen worden.
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Die Saharafrage
Die anhaltenden Auseinandersetzungen um die Saharafrage bescherten Spanien ein weiteres Problem: Auf den Kanarischen Inseln bildete sich, unter aktiver Mithilfe Marokkos und Algeriens, eine "Befreiungsbewegung" (Movimiento por la Autonomia e Independencia del Archiplago Canario, MPAIAC). Eines der Hauptziele der spanischen Regierungen bestand deshalb in der zweiten Hälfte der 70er Jahre darin zu verhindern, daß die Organisation Afrikanischer Staaten und die UNO die "Afrikanität" der Kanarischen Inseln erklärten. 1978 verweigerten schließlich die afrikanischen Staatsoberhäupter auf einer Tagung in Khartum der kanarischen Befreiungsbewegung die Anerkennung. Nach dem Abzug der Spanier im Februar 1976 besetzte die marokkanische Armee sofort den Nordteil der Westsahara. Marokkanische Soldaten und Polizisten gingen hart gegen die
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saharahui vor, etwa die Hälfte der Westsahara-Bevölkerung floh in die Gegend von Tindouf in Algerien. Der Frente Polisario kämpfte militärisch mehrere Jahre lang gegen die marokkanische Besatzungsmacht. Das politisch und militärisch schwache Mauretanien zog sich 1979 aus dem Krieg in der Westsahara zurück und verzichtete zugleich auf den ihm zugeteilten Südteil der Sahara zugunsten des Frente Polisario. Ende der 80er Jahre stabilisierten sich die Stellungen beider kriegführender Parteien, nachdem Marokko einen 1.500 km langen, radarüberwachten "Verteidigungswall" um die "nützliche" Westsahara gezogen hatte. Um den Konflikt zu lösen, stimmten die Kontrahenten 1989 einem Referendum zu, das unter Aufsicht der Vereinten Nationen abgehalten werden sollte. Dazu kam es aber bis heute nicht. Im September 1991 begann schließlich ein bis heute andauernder Waffenstillstand. In den 90er Jahren kamen die Verhandlungen über die Westsahara nicht vom Fleck. Die Vereinten Nationen setzten mit James Baker, dem ehemaligen US-Außenminister, einen Sonderbeauftragten für die Saharafrage ein, der sich redlich um eine einvernehmliche Lösung bemühte, verschiedene Pläne vorlegte und unermüdlich mit den Konfliktparteien verhandelte – alles umsonst. Erst nach der Jahrtausendwende sollte wieder Bewegung in die Verhandlungen kommen. Im April 2002 sprachen sich die USA für eine Autonomieregelung für die Sahara im Rahmen des marokkanischen Staatsverbandes und damit gegen die Abhaltung eines Selbstbestimmungsreferendums in der früheren spanischen Kolonie aus. Spanien und der Frente Polisario (als Vertretung der Sahara-Bevölkerung) sprachen sich gegen den US-Vorschlag und für eine Volksabstimmung aus. Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stimmte der Eingliederung der Westsahara (als autonome Provinz) in Marokko nicht zu, verlängerte vielmehr das Mandat der UN-Mission für die Vorbereitung eines Referendums. Im Januar 2003 legte der UN-Sonderbeauftragte James Baker einen (weiteren) Plan für die Zukunft der Region vor. Zu diesem Zeitpunkt konnte die UNO bereits auf elf Jahre Verhandlungen und Zahlungen über rund 500 Millionen Dollar zurückblicken, die vor allem für Behelfsunterkünfte, -schulen und -krankenhäuser zur notdürftigen Versorgung von rund 300.000 versprengten saharahui eingesetzt worden waren. Allein Baker hatte die Streitparteien neunmal an den Verhandlungstisch gebracht – jedesmal ohne Ergebnis. Auch diesem Plan sollte es nicht besser gehen: Während ihn der Frente Polisario mit gewissen Einschränkungen annahm, lehnte ihn Marokko ab, da er ein Selbstbestimmungsreferendum vorsah, das (angeblich) "die Sicherheit des Landes und die Aufrechterhaltung der Ordnung" gefährdete. Ende Juli 2003 nahm der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Plan einstimmig an, was Marokko allerdings unbeeindruckt ließ. n Krisen und Konflikte: Ceuta, Melilla und die Petersilieninsel Natürlich lassen sich die Beziehungen Spaniens zum Maghreb nicht auf die Saharafrage reduzieren, wenn auch dieses bis heute ungelöste Problem nahezu alle anderen Aspekte mit beeinflußt. Das läßt ein kursorischer Überblick über die konfliktive Beziehungsgeschichte der letzten Jahrzehnte deutlich werden: Nach der "Entkolonisierung" der Sahara ging es Spanien in Nord-Afrika vor allem um eine Politik des Gleichgewichts. Die Beziehungen mit Marokko blieben allerdings angespannt. 1979 erkannte Spanien den Frente Polisario an, 1981 akzeptierte Madrid die Hal-
Der Neo-Kolonialismus in Afrika Karte 18: Die Saharafrage
Ceuta
Casablanca
ALGERIEN
• Tinduf
Kap Jubi EI Aiün
Villa Cisneros
MAURETANIEN MALI
• Nuakchott
Grüner Marsch
/1/
Vorrücken Mauretaniens nach dem spanischen Rückzug
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tung Algeriens zur Saharafrage. Zum damaligen Zeitpunkt war Spanien mehr denn je von den algerischen Gaslieferungen abhängig und konnte seinen wichtigsten Handelspartner in Afrika nicht verprellen. Hassan II. sprach offen davon, daß Spanien ein "doppeltes Spiel" zu Lasten Marokkos trieb, dementsprechend harsch waren auch die marokkanischen Reaktionen: 1977 ratifizierte Marokko das Fischfangabkommen mit Spanien nicht, zu Beginn der 80er Jahre engte Marokko die spanischen Fischfangrechte erheblich ein, wiederholt kam es zur Kaperung spanischer Schiffe durch Marokkaner. Zugleich verstärkte Rabat seine Ansprüche auf die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla und betrieb einen regelrechten Handelskrieg gegen die beiden Städte. Außerdem drohte Marokko damit, daß es die Zugehörigkeit der Kanarischen Inseln zu Spanien in Frage stellen könnte. Eine gewisse "Beruhigung" trat in den Beziehungen erst mit der Machtübernahme durch die Sozialisten (1982) ein. Hatte die Sozialistische Partei unter Felipe Gonzälez ursprünglich eine Haltung vertreten, die den Interessen des Frente Polisario und Algeriens entgegenkam, so näherte sich die spanische Regierungspartei nunmehr Marokko an. Sie ersetzte die spanische Gleichgewichtspolitik zwischen Algerien und Marokko durch eine Politik der globalen politischen Zusammenarbeit mit allen Ländern des Maghreb, wobei die Beziehungen mit Marokko allerdings Vorrang behielten. 1988 etwa wurde zwischen Madrid und Rabat ein Rahmenvertrag zur wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenarbeit unterzeichnet, der eine entschiedene Unterstützung Marokkos bedeutete. Weitere Abkommen betrafen die militärische Zusammenarbeit, die Garantie für Investitionen und eine (bis heute nicht begonnene) Brückenverbindung zwischen Europa und Afrika. Mit diesen diplomatischen Aktivitäten dachte Spanien (irrtümlicherweise), die marokkanische Forderung nach Ceuta und Melilla auf Eis legen, die Differenzen über den Selbstbestimmungsprozeß der Sahara beilegen und ein Abkommen zur Überlassung der marokkanischen Fischgründe an die spanische Fischfangflotte erreichen zu können. Der Beitritt Spaniens zur EG (1986) gab den spanisch-marokkanischen Wirtschaftsbeziehungen eine erneute Wendung. Der Streitfall über die Fischereirechte wurde nun, zugleich mit den Auseinandersetzungen um den Gemüse-Export, zu einem Problem der gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik gegenüber Marokko. Rabat nutzte das Thema geschickt aus und konnte bei Verhandlungen Zollsenkungen für seine Gemüse- und Obstexporte in die EG durchsetzen. Die Fischfangflotten von EG-Staaten wurden schließlich allerdings doch aus marokkanischen Gewässern ausgeschlossen, worunter vor allem die spanische Flotte litt. Außerdem sind bis heute die Grenzen der Hoheitsgewässer zwischen Spanien und Marokko nicht festgelegt. Die spanische Politik gegenüber Algerien hing lange Zeit eng mit dem Saharaproblem (und vorübergehend mit der von Algerien behaupteten Zugehörigkeit der Kanarischen Inseln zu Afrika) zusammen. Algerien hat kontinuierlich Druck auf Spanien ausgeübt, um in Madrid in der Saharafrage eine antimarokkanische Haltung durchzusetzen. Seit Algerien aber intern mit Problemen des fundamentalistischen Islamismus zu kämpfen hat, konnten die Beziehungen zu Spanien weitgehend normalisiert und auf wirtschaftlichem Gebiet (spanische Investitionen, algerischer Gasexport) intensiviert werden. Auch im Maghreb betrieb die sozialistische spanische Regierung eine weitgehend erfolgreiche Politik. Wegen der zunehmenden Instabilität in Algerien näherte sich Madrid in den 80er und 90er Jahren wieder Marokko an, obwohl mehrere bilaterale Differenzen ungelöst
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waren. 1989 besuchte Hassan II. Spanien; der Besuch förderte die gegenseitige Annäherung zwischen beiden Staaten. Vorläufiger Höhepunkt der Entspannungspolitik zwischen Spanien und Marokko war die Unterzeichnung des "Abkommens über gute Nachbarschaft, Freundschaft und Zusammenarbeit" im Januar 1991. In ihm wurde u. a. die gegenseitige Verpflichtung zur friedlichen Lösung der territorialen Probleme festgelegt. Trotz des "Tauwetters" zwischen beiden Staaten blieben weitere Krisen nicht aus, etwa als die Autonomiestatute von Ceuta und Melilla (1994) verabschiedet wurden. Eine Eskalation der Krise konnte allerdings (auch wegen des guten persönlichen Einvernehmens von König Hassan II. und König Juan Carlos I.) verhindert werden. Madrid unterstützte auch die "Union des Arabischen Maghreb", die im Februar 1989 von Algerien, Libyen, Marokko, Mauretanien und Tunesien mit dem Ziel der politischen Stabilisierung der Region gebildet wurde. In den Regierungsjahren der konservativen Volkspartei (1996-2004) konnte ein allgemeiner Rückgang des spanischen Einflusses im Mittelmeerraum festgestellt werden. Die Inthronisation des neuen Königs Mohammed VI. (1999) weckte zwar vorübergehend auf beiden Seiten Hoffnungen, schnell stellte sich jedoch heraus, daß die ohnehin angespannten bilateralen Beziehungen durch die anhaltende illegale Einwanderung von Marokkanern nach Spanien und die spanische Unterstützung einer Volksabstimmung in der westlichen Sahara weiter verschärft wurden. Schließlich weigerte sich Rabat im Jahr 2000, das Fischfangabkommen mit der EU zu erneuern, was zu einer undiplomatischen Reaktion Aznars führte, der öffentlich "Konsequenzen" androhte. Marokko erblickte in dieser Erklärung eine Drohung und zog – nachdem es zu verschiedenen unliebsamen Zwischenfällen gekommen war – im Oktober 2001 seinen Botschafter von Spanien ab. Als die diplomatische Krise mit Marokko andauerte, verstärkte Spanien wieder seine Beziehungen mit Algerien. Auf dem euromediterranen Gipfeltreffen im April 2002 in Valencia unterzeichnete Algerien einen Assoziationsvertrag mit der EU; zustandegekommen war dieser Vertrag wesentlich aufgrund spanischer Bemühungen. Der algerische Präsident Bouteflika sprach sogar von der Herstellung einer "mustergültigen strategischen Allianz" zwischen Spanien und Algerien. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet wurde die Zusammenarbeit intensiviert. Zum bedeutendsten Projekt wurde der Bau einer zweiten Erdgas-Pipeline, die vom algerischen Beni Saf direkt ins spanische Almerfa (nicht über marokkanisches Gebiet) gehen und 2006 abgeschlossen sein soll. Spanien bezieht 60% seines Erdgaskonsums aus Algerien. Die Verbesserung der Beziehungen Spaniens zu Algerien ging Hand in Hand mit einer Verschlechterung der Beziehungen zu Marokko: Im April 2001 war die Verlängerung des Fischereiabkommens gescheitert, im August schoben Spanien und Marokko sich gegenseitig die Schuld an der hohen Zahl "irregulärer Immigranten" zu, im Oktober wurde der marokkanische Botschafter aus Madrid abberufen, im Dezember der hispano-marokkanische Gipfel abgesagt; im Januar 2002 beklagte sich Marokko über die spanische Berichterstattung zum Saharakonflikt, im Februar protestierte Marokko gegen ein spanisches Dekret, das Lizenzen für Probe-Erdölbohrungen in kanarischen Gewässern zuließ; im Mai brachte das spanische Außenministerium seine ernste Besorgnis darüber zum Ausdruck, daß das Saharagebiet von immer mehr marokkanischen Kolonisten "besetzt" werde; Anfang Juli protestierte Rabat gegen ein spanisches Flottenmanöver vor der (spanischen) AlhucemasFelseninsel (gegenüber der marokkanischen Küste). Als im ersten Halbjahr 2002 Spanien
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den EU-Vorsitz innehatte, schlug Ministerpräsident Jos Maria Aznar vor, all jenen Ländern die europäische Entwicklungshilfe zu streichen, die ihre Grenze nicht kontrollierten und (illegale) Migranten nach Europa passieren ließen. Diese Initiative war zweifellos gegen Marokko gerichtet. Zur größten Spannung zwischen beiden Ländern kam es im Juli 2002, als die Marokkaner die vor ihrer Küste liegende (unbewohnte) Insel Perejil ("Petersilie") militärisch besetzten, um auf diese Weise ihren Anspruch auf das Eiland, das sie Leila oder Tura nennen, geltend zu machen. Nach einer knappen Woche holten spanische Streitkräfte die Handvoll marokkanische Marinesoldaten von der Petersilieninsel und hißten die spanische Flagge. Die marokkanische Regierung rief daraufhin den UN-Sicherheitsrat an und forderte den sofortigen und bedingungslosen Abzug der spanischen Streitkräfte. Rabat bezeichnete die spanische Aktion als eine "Kriegserklärung". Ein offener Krieg zwischen beiden Ländern konnte nur dank der schnellen Vermittlung durch US-Außenminister Colin Powell verhindert werden. Obwohl das gewaltsame Vorgehen der spanischen Seite in der veröffentlichten Meinung Spaniens z.T. erhebliche Kritik erfuhr, begrüßten in einer Blitzumfrage Ende Juli über 75% der befragten Spanier die Politik ihrer Regierung. Während der Krise um die Petersilieninsel wies der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi die Marokkaner darauf hin, daß die "bevorzugten Beziehungen" zwischen Marokko und der Europäischen Union durch die illegale Besetzung der Insel beschädigt würden. Wenige Wochen vor der Krise hatte Marokko 40 Millionen € aus dem europäischen MEDA-Budget erhalten, um bessere Programme zur Kontrolle der illegalen Auswanderung von Marokkanern entwickeln zu können. Zwischen 1996 und 1999 hatte die EU Marokko Entwicklungshilfe in Höhe von 630 Millionen € zukommen lassen, für den Zeitraum 2000-2006 waren weitere 251 Millionen € an Hilfsleistungen und 323 Millionen an Darlehen von seiten der Europäischen Investitionsbank vorgesehen. Den größten wirtschaftlichen Vorteil zog Rabat jedoch aus dem im März 2000 unterzeichneten Assoziationsabkommen mit der EU, das eine graduelle Liberalisierung der Zolltarife im Lauf der folgenden zwölf Jahre vorsieht. Allein im Jahr 2001 exportierte Marokko Waren im Wert von 6,2 Milliarden € – rund 75 % seiner Gesamtexporte – in die EU und importierte von dort Güter im Wert von 7,4 Milliarden € – ca. 50 % all seiner Importe. Hintergrund der diplomatisch-militärischen Krise um die "Petersilieninsel" war die marokkanische Forderung nach Abtretung von Ceuta und Melilla sowie der Streit um die Abgrenzung der Hoheitsgewässer um die Kanarischen Inseln. Beide Streitpunkte werden von Marokko als Druckmittel gegen Spanien benutzt, um von Madrid in der Saharafrage eine marokkofreundliche Haltung zu ertrotzen: Spanien soll endlich der Annexion des Saharagebiets durch Marokko zustimmen und seine Unterstützung der Selbstbestimmungsansprüche der saharahui aufgeben. Die Forderung nach Rückgabe von Ceuta und Melilla taucht regelmäßig in marokkanischen Erklärungen auf. Zumeist ist die Rede von "besetzten Städten", womit die marokkanische Regierung sämtliche spanische Ansprüche auf die Orte, die in Afrika (und vor seinen Küsten) liegen, leugnet. Andererseits läßt Spanien im Konflikt mit Marokko keinen Zweifel daran, daß es an der "Hispanität" von Ceuta und Melilla nicht rütteln läßt. Politisch und verfassungsrechtlich seien die beiden Städte "integraler Bestandteil Spaniens", militärisch sind sie gut gesichert, wirtschaftlich sollen sie weiter konsolidiert werden.
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Ceuta ist seit 1640 spanisch (zuvor war es portugiesisch), es umfaßt 20 km 2 und zählt heute rund 75.000 Einwohner; Melilla wurde 1597 nach internen Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Berbern von Spanien erobert, es umfaßt 12 km 2 und weist 68.000 Einwohner auf. Beide Städte waren schon in spanischem Besitz, als es noch keinen marokkanischen Staat gab. Das ist bis heute das wichtigste völkerrechtliche Argument der spanischen Regierung für die Zugehörigkeit der Städte zu Spanien. Inzwischen wohnen in beiden Städten zunehmend mehr Menschen arabisch-marokkanischer Herkunft (in beiden Fällen rund ein Drittel), allerdings haben die meisten von ihnen inzwischen die spanische Staatsbürgerschaft erhalten, nachdem es 1985/86 zu erheblichen Unruhen (mit Toten und Verletzten) im Kampf der ansässigen Marokkaner um das Recht auf die spanische Staatsangehörigkeit gekommen war. Spanien läßt sich seine Besitzungen in Nordafrika durchaus etwas kosten, finanziell hängen beide Städte am Madrider Subventionstropf. Vom Jahresetat Ceutas in Höhe von 230 Millionen € etwa steuert der spanische Staat 120 Millionen bei, rund 52 %. Industrie, Landwirtschaft und Bauwesen erwirtschaften zusammen rund acht% des Bruttosozialprodukts, die übrigen 92 % werden von "Dienstleistungen" aufgebracht. Die spanische Regierung verfolgt das Ziel, die "ökonomische Abhängigkeit" der Städte von Marokko zu verringern, aus eigener Kraft neue Arbeitskräfte zu schaffen und mehr private Investitionen anzulocken; für das Haushaltsjahr 2003 etwa erhielt Ceuta rund 90 Millionen € aus der Madrider Staatskasse zugesprochen, um damit vor allem den Bau eines Containerhafens zu finanzieren. Beide Städte sind Freihäfen und Sondersteuergebiete; trotzdem hat sich nur wenig produzierendes Gewerbe dort angesiedelt. In beiden Städten ist der Handel mit Abstand der wichtigste Wirtschaftszweig. Nach Ceuta überqueren täglich 20.000 Personen die Grenze, nach Melilla sind es sogar 30.000. Sie versorgen sich dort mit zollfreien Waren aller Art, entweder zum Eigenkonsum oder um sie jenseits der Grenze wieder gewinnbringend zu verkaufen. Zehntausende (Schätzungen sprechen von 45.000 Personen) leben vom lukrativen Schmuggel von Haschisch, Tabak, Getränken oder Lebensmitteln. Er soll sich – zwischen den zwei Exklaven und Marokko – jährlich auf 1,5 Milliarden € belaufen. Eine Studie des spanischen Landwirtschaftsministeriums spricht davon, daß der illegale Handel dreimal so hoch ist wie der legale. Die Behörden von Ceuta und Melilla haben nicht nur gegen den Schmuggel anzukämpfen, sondern auch gegen die illegale Einwanderung. In Ceuta z. B. sind allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2004 von der Guardia Civil rund 5.000 Versuche vereitelt worden, illegal in die Stadt zu kommen. Beide Exklaven schützen sich mit Stacheldrahtzäunen: Der von Ceuta ist 8,2 km, der von Melilla 12 km lang. Momentan sind beide noch drei Meter hoch; sie sollen allerdings in die Höhe ausgebaut werden, um das Überklettern weiter zu erschweren. Sowohl die hohen spanischen Investitionen als auch die politischen Erklärungen der letzten Jahre lassen deutlich werden, daß Spanien an seinen nordafrikanischen Vorposten auch in Zukunft festhalten will.
n Ausblick: Alte Probleme und ein Neuanfang Die Krise zwischen Spanien und Marokko, deren Höhepunkt die Auseinandersetzung um die "Petersilieninsel" war, machte sich in vielen Bereichen bemerkbar, auch im finanziellen. Im Jahr 2002 fiel die Finanzhilfe Spaniens für Marokko um ca. 40% niedriger aus als
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ursprünglich geplant. Davon betroffen waren mehrere Entwicklungsprojekte, u. a. eine ländliche Stromversorgung, ein Straßenteilstück, eine Schule oder Wasserversorgungsanlagen für die Landwirtschaft. Beiden Seiten war klar, daß sie wieder aufeinander zugehen mußten. Vorsichtige Wiederannäherungsschritte erfolgten bereits im Spätherbst 2002: Nach den marokkanischen Wahlen gratulierte Ministerpräsident Aznar dem neuen Regierungschef in Rabat, Driss Jettou, und drückte die Hoffnung auf einen Neuanfang aus. Im Dezember öffnete König Mohammed VI. die marokkanischen Fischfanggründe für die durch die Prestige-Umweltkatastrophe stark geschädigte galicische Fischfangflotte. Im Dezember 2003 versprach Spanien Rabat Entwicklungshilfe in Höhe von 390 Millionen € (bis 2007). Auch in vielen anderen Punkten kamen sich beide Regierungen wieder näher: bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung etwa oder bei der Gewährung von Bohrrechten an die spanische Erdölfirma Repsol. Keine Fortschritte gab es allerdings in der Saharafrage. Anfang 2004 unterbreitete Marokko zwar den Vereinten Nationen einen Alternativplan zur Zukunft der Sahara, der eine (nur sehr beschränkte) Autonomie für die frühere spanische Kolonie vorsieht; dieser Vorschlag führte die Diskussion aber nicht weiter. Erschwert wurde die Situation außerdem durch den Rücktritt, im Juni 2004, von James Baker von seinem Amt als UNO-Sonderbeauftragter für die Westsahara. Ein Neubeginn in den bilateralen Beziehungen schien sich nach dem Regierungswechsel in Spanien im März/April 2004 anzukündigen. Der neue sozialistische Ministerpräsident Jose Luis Rodrfguez Zapatero unternahm seine erste Auslandsreise demonstrativ nach Casablanca, sprach von einer "strategischen Beziehung" mit Marokko und definierte als wichtigste Gesprächsthemen den gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus sowie eine Entwicklungspolitik, die beiden Seiten nütze. Ähnlich drückte sich Mohammed VI. aus. Die Probleme zwischen beiden Ländern waren zwischenzeitlich nicht weniger, sondern durch das Attentat vom 11. März in Madrid mehr geworden. Die gemeinsame Bekämpfung des Terrorismus bekam vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die meisten Terroristen des Madrider Massakers vom März 2004 marokkanischer Herkunft waren, einen ganz anderen Stellenwert; der Islamismus hatte schon im Mai 2003 in Casablanca ein Blutbad angerichtet; mit seinen "Schläferzellen" aus maghrebinischen "Afghanistanveteranen" und ausgewanderten Extremisten strahlt er über Spanien nach Mittel- und Nordeuropa aus; der von den Haschischfeldern des Rif ausgehende Rauschgifthandel hat in den letzten Jahren weiter zugenommen, ebenso die irreguläre Völkerwanderung aus Schwarz- und Nordafrika über die Kanarischen Inseln und Spanien nach Europa. Verglichen mit diesen Hauptproblemen klingen die alten Reizthemen wie Fischerei, die Zukunft der Exklaven und die Reibereien wegen der kleinen vorgelagerten Felseninseln wie Nebensächlichkeiten. Auch mit dem Saharaproblem sah sich der neue spanische Ministerpräsident schnell konfrontiert. Da sich seine ersten Erklärungen etwas unverbindlich anhörten, erfuhr er sofort heftige Angriffe von seiten des Frente Polisario, der argwöhnte, der sozialistische Regierungschef habe die traditionelle spanische Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts der saharahui preisgegeben, um sich Rabat und Frankreich anzunähern. In der Tat setzte die neue Westsahara-Politik von Rodrfguez Zapatero andere Schwerpunkte: Nach dem Scheitern der verschiedenen Baker-Pläne mahnte er eine "kreative Lösung" der UNO an, bestand
Literatur
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aber nicht mehr auf einem Referendum der saharahui; damit näherte er sich etwas der französischen Position an, die in den letzten Jahrzehnten stets die Politik Rabats unterstützt hatte. Eine enge Zusammenarbeit beschlossen Madrid und Rabat noch auf einem anderen Gebiet: Beide Staaten wollten unter dem Dach der UNO eine gemeinsame Friedenstruppe 2004 nach Haiti senden — ein Novum in der bilateralen Geschichte beider Länder. So erfreulich diese Entspannung zwischen Spanien und Marokko ist, darf sie andererseits nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Hauptprobleme fortbestehen: Es geht um die Kontrolle der (legalen und illegalen) Einwanderung, um die Zukunft der Westsahara mit ihrem großen ökonomischen Potential (Bodenschätze, Fischgründe, Erdölfunde), um die Bekämpfung des Drogenhandels. In Spanien leben heute rund 600.000 Moslems, von denen 90% Marokkaner sind. Deren Rimessen in ihr Heimatland sind die wichtigste Devisenquelle Marokkos. Die Situation dieser Einwanderer ist für beide Länder von größter Bedeutung. Spanien ist inzwischen zum wichtigsten Einwanderungsland in der EU geworden: 2003 registrierte das Land 600.000 Immigranten, die überwiegend aus (Nord-)Afrika (und Lateinamerika) kamen. Madrid weiß, daß die EU auf die Mitarbeit von Marokko angewiesen ist, um den Immigrantenstrom zu kontrollieren und zu kanalisieren. Vor allem aber: Spanien (und die EU insgesamt) muß ein vitales Interesse an der ökonomischen und sozialen Entwicklung Marokkos haben, um das Land politisch zu stabilisieren, die Reformkräfte zu unterstützen und den radikalen Kräften den Wind aus den Segeln zu nehmen. Eine europäische Politik, die in Marokko die demokratische Öffnung, den wirtschaftlichen Aufschwung und die soziale Entwicklung fördert, liegt daher in unser aller Interesse.
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X Das Spanische Kolonialreich in Amerika und Afrika
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WIRTSCHAFT
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XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
1.
Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung
Die europäische Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts beginnt und endet mit Agrarkrisen. Die eine setzte gegen Ende der napoleonischen Kriege ein und dauerte bis 1830, die andere begann um 1880 und betraf vor allem Getreide, dessen Preis infolge umfangreicher Importe aus Übersee und Rußland rapide verfiel. Die gegen 1817 einsetzende große Agrarkrise äußerte sich ebenfalls in einem dramatischen Preisverfall. War der Getreidepreis während des 18. Jahrhunderts kontinuierlich angestiegen, halbierte er sich nunmehr innerhalb weniger Jahre. Setzt man den Index der Weizenpreise in Zentral- und Westeuropa für den Durchschnitt der Jahre 1813 bis 1817 mit 100 an, betrug er 1825 nurmehr 51, d.h. fast nur noch die Hälfte. In Spanien ist ein ähnlicher Preisverfall zu registrieren, der bei einigen Produkten sogar noch ausgeprägter war (Garrabou 1975). Ein gravierender Belastungsfaktor zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Zusammenbruch des Kolonialhandels. Der spanisch-amerikanische Handel lag seit 1797 darnieder und konnte sich in der Folgezeit, sieht man von der kurzen Zeitspanne 1802/03 ab, nicht mehr erholen. Von den 34 Jahren zwischen 1779 und 1812 war Spanien 22 Jahre lang im Kriegszustand — entweder mit Frankreich oder mit England. Der Zusammenbruch des kolonialen Handelssystems ist daher nicht auf die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen zurückzuführen, sondern reicht weiter zurück. Er ist Ausdruck der Unfähigkeit Spaniens, sich auf den Weltmeeren gegen seine Gegner durchzusetzen. Die Folgen dieses Handelseinbruchs mußten weitreichend sein, da es über die Abhängigkeit Spaniens, insbesondere Kataloniens, von seinem Kolonialmarkt gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts — in Zusammenhang mit den bourbonischen Reformen — keinen Zweifel gibt (Garcia-Baquero 1972; Delgado u. a. 1986). Die ökonomische Folge des Kolonialverlustes war der Zwang zur Umorientierung der Wirtschaftsaktivität auf den spanischen Binnenmarkt. Dieser aber bestand aus einer Vielzahl lokaler, allenfalls regionaler landwirtschaftlicher Kleinmärkte inmitten einer primär subsistenzorientierten Agrarwirtschaft. Überregionalen Handel mit Landwirtschaftsprodukten gab es nur in einigen Küstengebieten und im Versorgungsnetz um die Landeshauptstadt. Zwischen dem kastilischen Binnenland und den Küstenregionen bestand demgegenüber kein kontinuierlicher Handel (Fontana 1975). Seit infolge der europäischen Kriege die Verbindung Spaniens mit den Überseekolonien weitgehend unterbrochen war und nach 1808 die Abfallbewegung eingesetzt hatte, verschlechterte der unzulängliche Entwicklungsstand des spanischen Binnenmarktes die ökonomische Situation der Handels- und Industriebourgeoisie ganz erheblich, da das Ancien Regime keine "Kompensation" für den Verlust des Kolonialmarktes anzubieten hatte. Damit zerbrach aber der stillschweigende Konsens, der im 18. Jahrhundert zwischen Grundherren, Bourgeoisie und Ancien Reime bestanden hatte. Während die Landwirtschaft
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XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
weitgehend der Aristokratie und Kirche vorbehalten geblieben war, hatte die Bourgeoisie den Handel mit Lateinamerika betrieben. Das Ancien Regime überließ den katalanischen Textilfabrikanten monopolartig den Kolonialmarkt, wofür diese im Gegenzug das absolutistische System unterstützten und politischen Ambitionen entsagten. Dieser ökonomischpolitische Konsens hatte aber nur Gültigkeit, solange das Regime der Handels- und Industriebourgeoisie den Kolonialmarkt sichern konnte. Als diese "Geschäftsgrundlage" entfiel, das Außenhandelssystem zusammenbrach und damit die ökonomische Basis des Ancien Regime erschüttert wurde, setzte in der spanischen Bourgeoisie ein Bewußtwerdungsprozeß ein, der allmählich zu der Überzeugung führte, daß das politische System selbst das allgemeine Wachstum verhinderte. Die notwendige Wirtschaftsentwicklung konnte nicht in einem Regime erfolgen, welches das System der "Toten Hand", der Majorate und grundherrschaftlicher Privilegien aufrechterhielt. Daher mußten die bürgerlichen Kreise nicht nur mit dem grundherrschaftlichen Landwirtschaftssystem, sondern darüber hinaus und vor allem mit dem absolutistischen Staat in Konflikt geraten, der die Aufrechterhaltung der ineffizienten Agrarstruktur politisch ermöglichte. Im Verlauf des einsetzenden Prozesses gaben Händler und Fabrikanten ihre Unterstützung der traditionellen Monarchie auf, nachdem deutlich geworden war, daß der absolutistische Staat nicht in der Lage war, die ökonomischen und politischen Reformen durchzuführen, die zur Herausbildung eines "nationalen" Marktes erforderlich gewesen wären (Fontana 1975). Die wichtigste Rationalisierungsmaßnahme, zugleich eine der beachtenswertesten Leistungen der Regierung der Moderados, war die Steuerreform von Alejandro Mon und Santillän aus dem Jahr 1845, die nahezu unverändert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Kraft blieb. Die pragmatische und maßvolle Reform erfaßte aber nur rund 50% der Abgaben, da die andere Hälfte des Steueraufkommens aus Zöllen und Staatsmonopolen (Tabak, Stempelmarken) stammte. Die neuen Veranlagungskategorien, die nunmehr für das ganze Staatsgebiet galten, waren die Grundsteuer, die Industrie- und Handelsabgaben, die Konsum-, Hauszins- und Hypothekensteuer. Obwohl das Mon-Santillän-System sozial unausgeglichen war und die Steuerabschöpfungsmöglichkeiten bei weitem nicht nutzte, etablierte es doch eine einigermaßen stabile Steuereintreibungspraxis, die erst 1899 durch die Reformen von Raimundo Fernändez Villaverde um die Besteuerung von Einkünften aus Kapital und Arbeit ergänzt wurde. Parallel zur Finanz- und Steuerreform läßt sich in der isabellinischen Ära auch eine Entwicklung des Bankwesens feststellen, das insgesamt allerdings — vor allem im Vergleich mit Mitteleuropa — unterentwickelt blieb. Noch zu Zeiten Ferdinands VII. war 1829 die "Bank von San Fernando" (Banco Espariol de San Fernando) als offizielle Emissionsbank gegründet worden; sie trat an die Stelle der 1782 gegründeten "Bank von San Carlos" (Banco Nacional de San Carlos), die seit der Jahrhundertwende praktisch bankrott war, nachdem ihr die Regierung Karls IV. die Bewirtschaftung der Staatsschuld, der vielzitierten vales reales, übertragen hatte. Wirtschaftlich betrachtet waren die Jahre von 1839 bis 1866 im wesentlichen eine Phase des Aufschwungs, die durch die Krisen von 1847/49 und 1857/59 unterbrochen wurde. Seit Beginn der 60er Jahre waren die Krisensymptome jedoch, vor allem in der Baumwollindustrie, unübersehbar. Die Lieferschwierigkeiten von Rohbaumwolle aus den USA wegen des dortigen Bürgerkrieges führten zu einer Produktionskrise in Katalonien, die noch
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dadurch verstärkt wurde, daß ein Teil der Kapitalinvestitionen in den Eisenbahnbau floß. In den 60er Jahren war in der katalanischen Textilindustrie — vor allem im Vergleich zur starken Entwicklung der Jahre 1840 bis 1850 — eine Stagnation zu registrieren (Gömez Mendoza 1982). Die wichtigste Tätigkeit der Kreditgesellschaften bestand zu jener Zeit darin, enorme Mengen von Eisenbahnaktien auf den in- und ausländischen Finanzmärkten zu plazieren. In Anbetracht dieses Zusammenhangs ist es nicht verwunderlich, daß die internationale Finanzkrise von 1866, die zur Unterbrechung des ausländischen Investitionsflusses nach Spanien führte, auf den spanischen Eisenbahnbau zurückwirken mußte. Jetzt rächte sich, daß der Eisenbahnbau von Anfang an spekulativ angelegt war und das Produktionsniveau des Landes dem raschen Verkehrsmittelausbau nicht entsprach. Der Ertrag der Eisenbahnen hatte zwischen 1861 und 1868 um 15 % abgenommen, die Zahl der Passagiere und der transportierten Güter war zurückgegangen, was auf die zu hohen Tarife und die Schrumpfung der gesamtwirtschaftlichen Tätigkeit zurückzuführen war (Fontana 1975, 110-115). Die Spekulation mit Eisenbahnaktien war nur ein Aspekt — wenn auch im Jahrzehnt vor der Septemberrevolution von 1868 der wichtigste — des ökonomischen Verhaltens der bürgerlichen Schichten. Diese investierten nicht in Industrieunternehmungen, sondern außer in Eisenbahnaktien in Immobilien und an der Börse. In Madrid übernahmen seit der zweiten Hälfte der 1850er Jahre private Sparkassen mit Börsenspezialisierung (tontineras) indirekt die Finanzierung des Eisenbahngeschäftes; die bekanntesten waren La Tutelat; EI Porvenir de las Familias, Montepio Universal, La Nacional. Die Fragilität dieser Unternehmungen bestand darin, daß sie an den Konjunkturverlauf der Börse gebunden waren. Schon vor Mitte der 60er Jahre breitete sich allmählich Mißtrauen gegenüber diesen Institutionen aus. Zugleich verlagerte sich der Investitionsschwerpunkt der Mittelschichten auf Immobilien. Mit dem Börsenkrach von 1866 gingen die meisten Ersparnisse verloren. Die Immobilienspekulation nahm demgegenüber sprunghaft zu. Sie hatte ihren Ursprung in Mendizäbals Desamortisation, durch die vier Fünftel der städtischen Liegenschaften, die zuvor der "Toten Hand" gehört hatten, auf den freien Markt geworfen worden waren. Verstärkt wurde die Spekulation durch den Bevölkerungsanstieg der Städte, insbesondere Madrids, die erforderlichen Baumaßnahmen und den Anstieg der Mieten. Eine Unmenge privater Sparkassen fungierte als Immobiliengesellschaften. Die Grundstückspreise in der Hauptstadt stiegen dramatisch. Setzt man den Index für das Jahr 1848 mit 100 an, hatte er 1863 auf dem Höhepunkt der Preisentwicklung 448 erreicht! Die Krise von 1866 beendete die Aufwärtsentwicklung auch auf dem Immobiliensektor, die überhitzte Konjunktur brach zusammen. Eine deutliche Rezession wurde eingeleitet. Kostete ein Quadratfuß (12,88 Quadratfuß = 1 Quadratmeter) Land 1865 noch 144 reales, so 1866 nur noch 89 und 1867 sogar nur 73,5 reales. Viele Gesellschaften gingen bankrott, kleine und mittlere Sparer verloren massenhaft ihre Investitionen. Die übereilte Liquidierung zahlreicher Gesellschaften führte andererseits dazu, daß solventere (Groß-)Investoren selbst aus der Liquidation der Firmen noch Kapital schlugen. Der Zusammenbruch des Börsen- und Immobiliengeschäfts brachte daher für viele Investoren hohe Verluste, aber für einige, z.B. die Sociedad Espatiola de CrMito Comercial oder den Banco Hipotecario de Espafia, auch zusätzliche Akkumulationsmöglichkeiten (Bahamonde 1981).
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XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Die Krise, die schließlich in die Revolution von 1868 mündete, war globaler Art und umfaßte viele Bereiche. Der vom Eisenbahnbau ausgehende Impuls hatte weite Sektoren der Wirtschaft erreicht, und die "nationale Regeneration" war in eine "desarrollistische" Mystik gemündet, die sich nationalpolitisch in die Vorstellung eines mächtigen Vaterlandes umsetzte. Ministerpräsident O'Donnell konzentrierte sich auf den Bau von Kasernen und Schiffen; eine Reihe außenpolitischer Abenteuer setzte ein, die ihren Höhepunkt in der Einnahme des nordafrikanischen Tetuän fanden. Dieser abermalige "Kreuzzug" gegen die "ungläubigen" Moslems kostete über 70.000 Tote. 1866 machte sich die Krise im Eisenbahnbau bemerkbar. Der spanische Handel mit Kuba ging um ein Drittel zurück, der Außenhandel litt allgemein unter einer deutlichen Rezession, was wiederum zum Stillstand der katalanischen Webstühle führte. Da aber gleichzeitig der Krieg gegen Chile und Peru geführt wurde, sah sich Regierungschef O'Donnell zur Bewältigung der Finanznot zu einer Erhöhung der Bodensteuer um 10% gezwungen. Die Aufträge an die Werftindustrie mußten rückgängig gemacht werden, wodurch die katalanische Eisenindustrie noch tiefer in die Krise geriet. 1867 gesellte sich zu diesen Krisenerscheinungen noch eine Subsistenzkrise, der Weizenpreis erlebte den stärksten Anstieg des ganzen Jahrhunderts. Ökonomisch bildete das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts insofern einen Kontrast zur wirtschaftlichen Situation der vorangegangenen Jahrzehnte, als in einigen peripheren Landesteilen – vor allem in Katalonien und im Baskenland – ein enormer Industrialisierungsschub stattfand, der die regionalen Strukturen grundlegend veränderte. Bemerkenswert ist, daß für das 19. Jahrhundert gesamtwirtschaftlich keineswegs von Stagnation gesprochen werden kann, vielmehr dieser Zeitraum eine "wirtschaftliche Modernisierung" (SänchezAlbornoz) erlebte: Die Landwirtschaft wurde zunehmend agrarkapitalistisch betrieben, der Eisenbahnbau erlebte einen Boom, das Bankensystem entwickelte sich, die katalanische Textilindustrie erfuhr ein beachtliches Wachstum, der Bergbau erhielt nach 1868 eine stets zunehmende Bedeutung, in Asturien und später in Vizcaya entstanden schwerindustrielle Zentren, nach 1870 nahm der Außenhandel erheblich zu, der Telegraph wurde eingeführt, das Steuersystem und die Staatsverwaltung wurden rationalisiert, das Bildungssystem erfuhr Reformen, die Urbanisierung nahm zu – alles Indizien einer Wirtschaft und Gesellschaft in Bewegung. Und trotzdem: Während des gesamten 19. Jahrhunderts blieb die Landwirtschaft der vorrangige Wirtschaftszweig, der auch im wesentlichen die soziale Struktur des Landes bestimmte. Die Beschäftigungslage entsprach dabei der Bevölkerungssituation auf dem Land. Bei dem Versuch, die Gründe für die späte und dann nur zögernde Industrialisierung festzustellen, verweisen nahezu alle Autoren auf den unterentwickelten Agrarbereich. Die Desamortisation bewirkte keine "Agrarrevolution" im technisch-produktiven Sinne. Die Landwirtschaft blieb weiterhin extensiver Bewirtschaftung unterworfen, die Latifundienstruktur wurde sogar ausgeweitet. Die Knappheit an heimischem Kapital verhinderte, daß neue Bewirtschaftungsformen eingeführt wurden. Die landwirtschaftliche Produktivität konnte nicht gesteigert werden. Der Fehlschlag der "Agrarrevolution" wirkte sich mithin negativ auf die Entwicklung der Industrie aus (Nadal 1977, 398). Der negative Saldo im Industriebereich ist vor allem in jenen Regionen festzustellen, die zu Beginn des Jahrhunderts relativ gute Entwicklungschancen aufwiesen, dann aber ihren Entwicklungsvorsprung einbüßten und, ökonomisch betrachtet, zurückblieben. Andalusien
Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung
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etwa erlebte im Verlauf des 19. Jahrhunderts einen Prozeß relativer Peripherisierung im Verhältnis zu den spanischen Entwicklungszentren. Gekennzeichnet war dieser Prozeß durch die enge Interaktion von landwirtschaftlichen Strukturschwächen und Konjunkturkrisen einerseits, von De-Industrialisierung und ihren sozioökonomischen Folgen andererseits. Die südliche Region hat daher, trotz ihrer reichen Bodenschätze und einiger regional konzentrierter protoindustrieller Ansätze, keinen industriell getragenen Wirtschaftsaufschwung erlebt. Statt dessen setzte nach 1860 ein kontinuierlicher Prozeß der De-Industrialisierung ein, der – zusammen mit den weiteren Faktoren: landwirtschaftliche Strukturschwäche, traditionelle Dominanz der Beschäftigung landloser Arbeiter in latifundistischen Großbetrieben, hoher Grad an Konfliktivität, Dauerarbeitslosigkeit und Abwanderung, ausländische Enklaven im Bergbau, institutionelle Barrieren wie etwa protektionistische Zölle, Fehlen einer ausgeprägten Unternehmermentalität – entscheidend zur heutigen relativen Unterentwicklung Andalusiens beigetragen hat. Der entscheidende Faktor zur Erklärung der Ablösung des Südens durch den Norden sind die Produktionskosten, vor allem die teuren Brennstoffe. In Mälaga betrug wegen der überdurchschnittlich hohen Kohlekosten 1865 der Abgabepreis für eine Tonne Roheisen schließlich 158, in Oviedo nur 104 Peseten. Der asturische Koks leitete damit den seit den 1860er Jahren unaufhaltsamen Niedergang der andalusischen Eisenindustrie ein. Bevor sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Asturien und im Baskenland die Schwerindustrie entwickelte, hatte Katalonien an der Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung gestanden. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die katalanische (Leicht-)Industrie insgesamt positiv. Die erste Phase der Restaurationsära wurde sogar als "Goldfieber" (febre d'orj bezeichnet. In jenen Jahren besaß die Provinz Barcelona noch über 40% der spanischen Industrie. Die Bedeutung des öffentlichen Sektors für die wirtschaftliche Modernisierung wird von den meisten Autoren kritisch beurteilt. Insgesamt behinderte die protektionistische Außenhandels- und Wirtschaftspolitik der Regierung die Entstehung einer konkurrenzorientierten Wirtschaft, die unternehmerische Initiative und die optimale Ressourcenzuteilung, nachdem der Staat sich sowohl als Steuereintreiber als auch in seiner Rolle als Überwacher der wirtschaftlichen Spielregeln als ineffizient erwies. Im Industrialisierungsprozeß spielte daher der Staat eine untergeordnete Rolle. Seine geringe Steuereintreibungskapazität und seine Politik öffentlicher Arbeiten ließen keine Kapitalmittel zur Finanzierung der industriellen Entwicklung übrig. Einige Autoren behaupten sogar, daß der Staat, der von einer konservativen Oligarchie hegemonisiert wurde, zu einem der retardierenden Faktoren in der spanischen Industrialisierung wurde (Gonzälez Portilla 1985, 28). Die geographisch bedingte Zweiteilung der spanischen Wirtschaft in eine sich industrialisierende Peripherie und eine nach wie vor agrarisch strukturierte Hochebene ist als "duale Wirtschaft" (Sänchez-Albornoz) bezeichnet worden. Die späte und dann nur zögerliche Industrialisierung wurde, soviel läßt sich zusammenfassend sagen, primär mit Staatsanleihen im Ausland und ausländischen Direktinvestitionen in Spanien eingeleitet. Dies gilt vor allem für den Aufbau der Bergbau- und Schwerindustrie sowie für den Eisenbahnbau. Spaniens Stellung als auslandsabhängiges "halbkoloniales" Land wird noch deutlicher durch den Hinweis, daß der Export von Rohstoffen (Landwirtschaftsprodukte, Erze und Metalle) die Außenhandelsbilanz des Landes bestimmte. Der Eigenkapitalmangel hing mit dem per-
248
XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
manenten Budgetdefizit des Staates zusammen, das den Rückgriff auf Kredite erforderlich machte. Um diese Kredite zu erhalten, war der Schuldzinssatz des Staates hoch, was einerseits eine Kapitalanlage in Staatsschuldverschreibungen attraktiver als in einem produktiven Wirtschaftszweig erscheinen ließ, andererseits die Kredite aller Art zum Schaden der Gesamtwirtschaft verteuerte. Die Staatsschuld wurde somit als Hebel für die Kapitalakkumulation betrachtet; Spekulation mit Staatspapieren (und Eisenbahnaktien) war die lukrativste Investition. Für den spanischen Industrialisierungsprozeß im 19. Jahrhundert haben Historiker einige Grundcharakteristika herausgearbeitet, die den spanischen vom mitteleuropäischen "Normalfall" unterscheiden. Zuerst ist die starke Regionalisierung zu betonen, da die Industriestruktur durch ihre nahezu ausschließliche Konzentration auf die Peripherie des Landes gekennzeichnet blieb. Sodann ist — von der Ausnahme der katalanischen Textilindustrie abgesehen — auf die Abhängigkeit der industriellen Expansion von ausländischen Initiativen und Investitionen zu verweisen, was wiederum mit dem Mangel an spanischem Eigenkapital zusammenhing. Zwischen 1848 und 1881 wurden in Spanien 3 Milliarden Peseten an Auslandskapital investiert, von denen 1,5 bis 2 Milliarden in den Eisenbahnbau flossen. Die Abhängigkeit vom Ausland bestand auch in bezug auf Rohstoffe (Nahrungsmittel und Kohle), Produktionsmittel und technische Neuerungen. Vor dem Ersten Weltkrieg beruhte der spanische Außenhandel immer noch auf dem Verkauf von Rohstoffen und Bodenschätzen und dem Ankauf von Fertigwaren. Die Spulen der Baumwollindustrie etwa waren zu 98% ausländischer Herkunft. Das Volkseinkommen von 10,7 Milliarden Peseten im Jahr 1914 wurde zu 38,4% aus Landwirtschaft und Viehzucht und nur zu 25,9% aus Bergbau, Industrie und Handwerk erwirtschaftet. Schließlich wurde die ausländische Konkurrenz durch das Prinzip des "reservierten Marktes" und hohe Schutzzölle eliminiert. Damit ordnete sich die spanische Industrie allerdings den Fluktuationen der landwirtschaftlichen Produktion und den sehr beschränkten Konsummöglichkeiten des Binnenmarktes unter. Spanien blieb im wesentlichen ein Agrarland. Der Erste Weltkrieg zog auch in der spanischen Wirtschaftsentwicklung eine deutliche Zäsur. Zunehmende Kapazitäten in der Rohstoffgewinnung bei Drosselung der Importe von Bodenschätzen und ein intensives Anwachsen der verarbeitenden Industrie mit einem hohen Exportausstoß waren Kennzeichen einer forcierten Industrialisierung. Die wirtschaftliche Hochkonjunktur kam jedoch fast ausschließlich Kaufleuten und Spekulanten zugute. Der Boom der Weltkriegsjahre führte nicht zu einer nachhaltigen Belebung der spanischen Wirtschaft, da die Handelsgewinne kaum als Kapitalinvestition für den Ausbau der Unternehmen verwendet wurden. Preissteigerungen und sinkende Kaufkraft bewirkten nach dem Krieg einen deutlichen Produktionsrückgang. Aus der Weltkriegserfahrung, daß die Gründung von Industrien nicht rein konjunkturbedingt sein dürfe, sondern einer soliden Existenzbasis bedürfe, förderte Miguel Primo de Rivera (1923-1930) die Industrialisierung, gründete aber zugleich einen zentralen Ausschuß zur Überwachung und Koordinierung der industriellen Unternehmungen. Der 1924 geschaffene Consejo de la Economia Nacional erarbeitete einen nationalen Wirtschaftsplan, um entgegengesetzte Wirtschaftsinteressen auszugleichen. Staatlicher Dirigismus sollte die wirtschaftliche Entwicklung leiten. Die Erdölversorgung wurde zum Staatsmonopol erklärt und 1928 der Compariia Arrendataria del Monopolio de Petröleo S.A. (CAMPSA) übertragen.
Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung
249
Die Wirtschaftsentwicklung zur Zeit der Republik (1931-1936) litt unter den heftigen Wechselfällen der Politik und den verspäteten Folgen der Weltwirtschaftskrise, die sich allerdings wegen der relativ geringen Verflechtung der spanischen mit der Weltwirtschaft nicht durchschlagend auswirkte. Die Abwertung der Pesete verhinderte den Preisabfall, die guten Ernteerträge von 1932 und 1934 hielten die Kaufkraft ziemlich konstant. Die Förderung von Mineralien erfuhr einen starken Rückgang, auch die Produktion der Eisen- und Stahlindustrie sank. Die 1931/32 im Bergbau und der Metallindustrie einsetzende Wirtschaftskrise erreichte 1933 auf gesamtwirtschaftlichem Sektor, im Finanzbereich und in der Entwicklung des Volkseinkommens ihren Höhepunkt, wurde allerdings durch die Entwicklung der agrarischen Expansion und der Verarbeitungsindustrie für Landwirtschaftsgüter bis zu einem gewissen Grad neutralisiert. Die strukturellen Hauptschwierigkeiten der spanischen Wirtschaft — die negative Handelsbilanz, das Agrarproblem, die Arbeitslosigkeit und die Textilkrise — wurden im Bürgerkrieg z.T. potenziert. z.T. auf andere Sektoren verlagert. Die Wirtschaft in der republikanischen Bürgerkriegszone erfuhr durch revolutionäre Erschütterungen tiefgreifende Änderungen ihrer Struktur, die durch neue Produktions- und Organisationsformen gekennzeichnet waren. Die neuen Schwierigkeiten lagen auf dem Gebiet der Rohstoffbeschaffung und des Produktionsabsatzes; sie betrafen die Arbeitslosigkeit sowie Verpflegung und Unterbringung von Flüchtlingen; Inflation und Preissteigerungen gehörten ebenso dazu wie der drastische Rückgang der Handelstätigkeit. Der Handel zwischen den beiden Kriegszonen war unterbrochen. Da die Nationalisten von Anfang an den größten Teil der Agrarzonen kontrollierten, war für die bevölkerte republikanische Zone die Versorgung mit Lebensmitteln eines der Hauptprobleme. Durch den Bürgerkrieg wurde der größte Teil der Produktionsanlagen zerstört; 1940 war das Volkseinkommen auf den Stand von 1914 zurückgefallen. Zwischen 1939 und 1959 betrieb Spanien eine Autarkiepolitik im Sinne einer radikalen Importsubstitution und der systematischen Reduktion der Weltmarktverflechtung in allen Bereichen. Die importsubstituierende Industrialisierung sollte das Land von Einfuhren unabhängig machen und die Grundlagen für eine verhältnismäßig arbeitsteilige und gegliederte, am inneren Markt ausgerichtete Produktionsstruktur schaffen. Die Bereiche, in denen die industrielle Konzentration sehr ausgeprägt war (Stromerzeugung, Eisen-, Zement-, Kunstfaser-, Kunstdünger-, Automobilindustrie), unterlagen nach 1939 staatlicher Lenkung mit Höchstpreisen. Obwohl Spanien nicht am Zweiten Weltkrieg teilnahm, erlebte das Land als Folge des Bürgerkrieges, der politischen Isolierung durch das Ausland und des Ausschlusses von der Marshall-PlanHilfe nahezu zwei Jahrzehnte wirtschaftlicher Stagnation. Um die Politik der Autarkie durchzusetzen, griffen die Behörden in den Wirtschaftsprozeß ein. Das Ergebnis dieser Politik der Wirtschaftslenkung (bis 1958) war ein Sinken des allgemeinen Lebensstandards, eine laufende Erhöhung der Arbeitslosigkeit, Fehlinvestitionen großen Stils, Mängel in der Qualität der Industrieerzeugnisse, Stagnation von Forschung und Entwicklung, ein ungenügendes Niveau der Produktion und Produktivität sowie (durch Schwarzmärkte, Privilegierungen und Spekulationen) Untergrabung der Wirtschaftsmoral. Bis Ende der 1950er Jahre blieb Spanien ein Agrarland mit einer auf dem internationalen Markt konkurrenzunfähigen Industrie. Als 1956/57 das Scheitern der autarkistischen Wirtschaftspolitik offenkundig wurde, tiihrten die neu in die Regierung aufgenommenen Technokraten des katholischen Laien-
250
XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
ordens Opus Dei eine Änderung der Wirtschaftspolitik herbei. In der Ideologie des Opus Dei werden Kapitalismus und Katholizismus durch eine Morallehre so verknüpft, daß die aktive Arbeit in der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ethisch überhöht wird; man hat dieser Ideologie für die Entwicklung einer bürokratisch-unternehmerischen Ethik im katholischen Spanien dieselbe Impulsfunktion zugeschrieben wie der calvinistischen Ethik für die Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftsgeistes. Ziel der neuen Wirtschaftspolitik war eine Rationalisierung, d. h eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, der spanischen Wirtschaft im Rahmen der franquistischen Gesellschaftsordnung. Der Stabilisierungsplan von 1959 verursachte zunächst (bis 1962) eine starke Rezession, an die sich als Phase des wirtschaftlichen take-off eine Periode des Aufschwungs ("spanisches Wirtschaftswunder") mit starker unternehmerischer Konzentration und Zentralisation des Kapitals anschloß. Die Maßnahmen im außenwirtschaftlichen Bereich beseitigten die Autarkie und führten zur Eingliederung Spaniens ins internationale kapitalistische System. Die Reglementierung des Außenhandels wurde mit der OEEC abgestimmt. Die Produktion orientierte sich stärker am Export, der bei der gleichzeitigen Abschirmung des Binnenmarktes durch hohe Schutzzölle vom Staat intensiv gefördert wurde. Emigrationsabkommen mit europäischen Ländern förderten die Auswanderung der Reservearmee an Arbeitslosen; die Devisen aus den Emigrantenüberweisungen wiederum besserten die Zahlungsbilanz auf. Die gespaltenen Wechselkurse wurden abgeschafft, Beschränkungen für ausländische Investitionen weitgehend fallengelassen. Die drastische Abwertung der Pesete erleichterte die Exporte, zog Investitionen an und leitete den Touristenboom ein. Im Mittelpunkt des ersten der vier "Vier-Jahres-Wirtschafts- und Sozialentwicklungspläne" stand die Produktivitätsverbesserung; der zweite und vor allem der dritte Entwicklungsplan sahen unter Berücksichtigung regionaler Strukturunterschiede nicht nur Wirtschaftswachstum, sondern darüber hinaus eine bessere und "sozial gerechtere" Verteilung der Entwicklungszuwächse vor. Insgesamt hat die spanische Regionalentwicklungspolitik ihre Ziele nicht erreicht; die Wachstumsziele der Pläne 1964/67 und 1968/71 wurden zwar erfüllt, die von 1972/75 und 1976/79 jedoch erwiesen sich (infolge der Ölpreisexplosion) als zu hoch gesteckt. Hauptziele wie die Unterbrechung der Migrationsströme in den industrialisierten Norden durch Ansiedlung sogenannter "Pol-Industrien" in Entwicklungspolen und Erreichung eines größeren Gleichgewichts zwischen armen und reichen Gegenden bei den regional erzeugten Bruttosozialproduktzuwächsen erfüllten sich nicht. Seit 1974 befand sich die spanische Wirtschaft in einer schweren Krise, die durch eine Abschwächung der Produktion, mangelnde Investitionstätigkeit, hohe Arbeitslosigkeit und eine starke Inflationsrate gekennzeichnet war. Die Ursachen lagen in der zu späten Reaktion auf die Ölkrise von 1973, den Folgen der weltweiten Rezession und der abwartenden Haltung von Regierung und Unternehmern angesichts des politischen Klärungsprozesses. Der Pakt von Moncloa (Oktober 1977), ein Abkommen der Regierung mit den politischen Parteien, sollte zur Sanierung der Wirtschaft beitragen, zeitigte aber nur begrenzte Erfolge auf dem Gebiet der Außenwirtschaft und hinsichtlich der Inflation. Die Realeinkommen sanken leicht, private Investitionen nahmen nicht zu. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 12%; die Einkünfte aus dem Tourismus waren rückläufig; die Wirtschaft registrierte Nullwachstum; die Zahlungsbilanz war negativ; das Defizit im Staatshaushalt erreichte Rekordhöhen. 1982
Die Landwirtschaft
251
übernahm die sozialistische Regierung unter Felipe Gonzälez eine krisengeschüttelte Wirtschaft.
2.
Die Landwirtschaft
Im 18. und 19. Jahrhundert konnten die aus der Reconquista überkommenen Agrarstrukturen die Ernährung der zunehmenden Bevölkerung nicht mehr gewährleisten; sie behinderten zugleich die weitere Ausbreitung der Warenproduktion. 1837 wurden die Gesetze und Erlasse über die Abschaffung von Gutsherrschaft und Erbuntertänigkeit in Kraft gesetzt, so daß formal von diesem Jahr an die Arbeitskraft von feudalen Bindungen befreit war. An der desamortizaciön, der öffentlichen Versteigerung enteigneter kommunaler, staatlicher und vor allem kirchlicher Ländereien, beteiligten sich insbesondere ehemalige Großpächter, neureiche Industrielle, Angehörige der Handels- und Industriebourgeoisie sowie die alten und reichen Adelsfamilien. Es waren also die politisch und wirtschaftlich bereits einflußreiche Oberschicht und die durch die beginnende Industrialisierung reich gewordene obere Mittelschicht, die den größten Teil des zu veräußernden Landes aufkauften, so daß das Ergebnis der Desamortisation lediglich eine Erweiterung der grundbesitzenden Schicht, nicht jedoch eine Änderung der alten Sozialstruktur auf dem Lande war. Der nach Anzahl kleinste, aber ökonomisch bedeutendste Teil der neuen Agraroligarchie war der großgrundbesitzende Adel. Die wichtigsten Anbauprodukte waren Getreide, Wein, Öl und gegen Ende des 19. Jahrhunderts Gartenbauprodukte im Bewässerungsland. Während des gesamten Jahrhunderts nahm die größte Fläche der Anbau von Getreide und Hülsenfrüchten, besonders Weizen, ein. Die Weizenproduktion reichte jedoch nur in Ausnahmefällen für die Versorgung des Binnenmarktes aus. Zwischen 1860 und 1905 mußten im Jahresdurchschnitt 100.000 bis 200.000 t zusätzlich eingeführt werden. Mit der auf die Desamortisation folgenden Erweiterung der Weizenanbaufläche von 2,9 Millionen ha im Jahr 1800 auf 5,1 Millionen ha im lahr 1860 nahmen die Erträge von 6,31 dz/ha im Jahr 1800 auf 5,8 dz/ha im Jahr 1860 ab; nach 1860 verringerte sich die Anbaufläche wieder; die Ertragsleistung jedoch stieg. Tab. 7: Landwirtschaftliche Anbaufläche und Ertragsleistung 1800-1900 Anbaufläche (in 1.000 ha) 1800
1860
1900
Weizen
2.900
5.100
3.700
Getreide
6.100
9.000
7.000
400
1.200
1.450
859
1.360
Wein 01
Produktion (in 1.000)
dz:
hl:
Jahresertrag pro ha
1800
1860
1900
1800
1860
1900
18,3
29,6
25,7
6,31
5,80
6,92
39,5
55,7
51,5
6,47
6,20
7,06
3,8
10,3
21,6
9,62
9,00
14,88
0,7
1,4
2,1
-
1,60
1,80
1)er Weinbau dehnte sich aus. Von 1860 bis 1900 nahmen die Weinbaugebiete von 1,2 Millionen ha auf 1,45 Millionen ha zu. Die Ertragsleistung stieg im gleichen Zeitraum von 0 hl/ha um über 60 % auf 14,88 hl/ha, die Gesamtproduktion von 10,3 Millionen ha um
252
XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
100% auf 21,6 Millionen ha. Die Anlage neuer Weinbaukulturen hing damit zusammen, daß die französischen Weinberge verheerende Schäden durch die Reblausplage (seit 1865) davongetragen hatten. Die fast monopolartige Stellung des spanischen Weinhandels auf dem Weltmarkt brach jedoch zusammen, als die Reblaus nach 1878 auch über die Pyrenäen wanderte und sich in den folgenden 15 Jahren allmählich nahezu über die ganze Halbinsel verbreitete. Erst nach dem Tiefstand von 1892/93 erholte sich der Weinanbau allmählich. Die Hauptanbaugebiete für Wein waren in der ersten Jahrhunderthälfte Galicien, der Mittelmeerraum (von Barcelona bis Murcia) und der Süden (von Badajoz über Cädiz bis Mälaga); nach 1860 kamen die Gegenden des Landesinneren (Lehn, Rioja, La Mancha) hinzu. Die Olivenbaumpflanzungen erfuhren seit der Jahrhundertmitte, vor allem jedoch nach 1880, sowohl in Andalusien (Jah, Cördoba) wie in Aragonien und Katalonien eine weitere Ausdehnung der Anbauflächen. Die Fortschritte in Produktion und Export waren durch die Entwicklung des amerikanischen Marktes und hier besonders der spanischen Auswanderer nach Amerika bedingt. Da jedoch die Techniken der industriellen Verwertung und der Kommerzialisierung sehr rückständig waren, wurde das spanische Olivenöl oft in Italien raffiniert und abgefüllt. Auch Apfelsinen (in der Levante) und Zuckerrüben (in Cördoba und Granada, Aranjuez und Aragonien) wurden verstärkt angebaut. Insgesamt drängte der Obstbau Ende des 19. Jahrhunderts den Getreideanbau zurück. Seit 1871 nahm der Export von Mandeln und Konserven, seit 1887 der verschiedener Obst- und Gemüsesorten, seit 1890 der von Orangen und seit 1899 der von Zuckerrüben erheblich zu. Die Struktur der spanischen Agrarverhältnisse blieb im 20. Jahrhundert (mit Ausnahme der Zeit der Republik) im wesentlichen die gleiche wie im 19. Jahrhundert. Bodenbeschaffenheit, klimatische Verhältnisse, Fehlorientierung der Produktion, mangelnde Mechanisierung sowie Betriebs- und Besitzverhältnisse bewirkten lediglich magere Ergebnisse bei der Agrarproduktion. Bis weit über den Bürgerkrieg hinaus erwiesen das Übermaß an landwirtschaftlichen Arbeitskräften, der Landhunger der Bauern, die meist rückständig gebliebene Landbautechnik, eher wachsende als sinkende Massenarmut und geringe Arbeitsproduktivität die Erforderlichkeit einer ebenso ökonomisch wie gesellschaftlich akzentuierten Agrarreform. Mit Ausnahme der republikanischen Ansätze ist dieses Grundproblem der spanischen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung bis heute nicht angegangen worden. Die Ausrufung der Zweiten Republik leitete den einzigen ernsthaften Versuch einer spanischen Agrarreform ein. Die bedeutendste Maßnahme auf dem Agrarsektor war das Reformgesetz von 1932, das die Fragen der Grundbesitzenteignungen, der Entschädigungen sowie der Landverteilungen an die Agrarbevölkerung regelte. Den Auftrag zur Durchführung der Gesetzesbestimmungen erhielt das Institut für Agrarreform. Die politische Entwicklung der Jahre 1933-1936 verhinderte die konsequente Anwendung des Gesetzes; erst die Volksfrontregierung beschleunigte 1936 wieder die Enteignungen von Latifundien und die Landzuweisungen an besitzlose Arbeiter. Hatten diese in den ersten fünf Republikjahren insgesamt 164.265 ha Land erhalten, so bekamen sie allein 1936 nach unterschiedlichen Angaben des Instituts für Agrarreform zwischen 572.055 und 712.070 ha Land zugewiesen. Während des Bürgerkrieges machte Franco die Agrarreform in seinem Herrschaftsbereich sofort rückgängig. In der republikanischen Zone kam es zu einer tiefgreifenden sozia-
Die Industrie
253
len Revolution, die vor allem vom anarchistisch und sozialistisch organisierten Agrarproletariat gegen den Willen der Volksfrontregierung durchgeführt wurde. Die Revolution richtete sich gegen die kapitalistische Ordnung, den Großgrundbesitz und das Privateigentum an Produktionsmitteln. Ihr Charakteristikum auf dem Land war die Überführung der Latifundien in Kollektiveigentum. An der Kollektivierungsbewegung beteiligten sich ca. drei Millionen Menschen; vor allem in den ersten zwei Kriegsjahren wurden mehrere Tausend Agrarkollektive angelegt, die zum Teil beachtliche landwirtschaftliche Erfolge aufwiesen. Bis August 1938 enteignete die Volksfrontregierung fast 5,5 Millionen ha Land. Obwohl der Agrarsektor nach 1939 zugunsten der Industrialisierungspolitik weitgehend vernachlässigt wurde, profitierten die Großgrundbesitzer durch die staatlich garantierten Preise außerordentlich von der Autarkiepolitik. Die Landarbeiterlöhne waren so niedrig, daß eine Mechanisierung der Landwirtschaft unrentabel erschien. Als Folge der Knappheit an Düngemitteln und Arbeitsvieh wurde nach dem Krieg die Anbaufläche um ca. 15 % verringert. Die land- und viehwirtschaftliche Produktion brach weitgehend zusammen. Lebensmittelknappheit und -rationierung führten zur Ausbreitung blühender Schwarzmärkte. Die Auswirkungen der Wirtschaftssituation waren so verheerend, daß die aktive Landbevölkerung nach 1939 wieder zunahm. Damit verbunden war der Rückfall weiter Landgebiete in Subsistenzwirtschaft, Tauschhandel und soziale Inaktivität. Nach dem Bürgerkrieg setzte die Wiederaufforstung weiter Ödflächen ein (repoblackin forestal). Die 1940 reorganisierte staatliche Forstbehörde konnte bis 1967 an 2,3 Millionen ha Ödland und Kahlflächen aufforsten; danach verlangsamte sich das Tempo der Wiederaufforstung. Der Versuch, die Abhängigkeit von der Holzeinfuhr (vor allem für die Papierndustrie) abzubauen, scheiterte allerdings an der schnellen Entwicklung des Holzverbrauchs. Zur Förderung der Landwirtschaft sollten auch die künstlichen Bewässerungsanlagen beitragen. Der Plan Badajoz ermöglichte durch sechs Stauanlagen am Guadiana die I lmwandlung von 115.000 ha Trockenland in bewässerte Gärten und Felder. Das Ebrohecken wurde durch 179 Stauseen reguliert; durch sein Bewässerungssystem konnten 930.000 ha Land bewässert werden. Auch in den Flußgebieten des Duero und Tajo wurden Bewässerungssysteme angelegt. Insgesamt wurden zwischen 1950 und 1968 ungefähr 840.000 ha Land bewässert. Die gesamte bewässerte Fläche umfaßte mit 2,289 Millionen ha 11,5% der Anbaufläche. In den 1960er Jahren verloren die bewässerten Kleinbetriebe zugunsten von kapitalstärkeren Großbetrieben immer mehr an Bedeutung. Seit 1962 stieg der Mechanisierungsgrad der Landwirtschaft infolge der Landflucht und der Aufhebung von Einfuhrbeschränkungen auf Agrargeräte stark an. Die ebenfalls seit 1962 beschleunigt durchgeführte Flurbereinigung (Jahresdurchschnitt 187.000 ha) blieb hinter dem Tempo anderer europäischer Länder zurück. Bis zum EG-Beitritt Spaniens (1986) litt der Agrarsektor unter einer geringen Arbeitsproduktivität, die wiederum zu einem sinkenden Selbstversorgungsgrad Spaniens im Agrarbereich führte.
3.
Die Industrie
/ u Beginn des 20. Jahrhunderts betrug der Anteil der in der Industrie beschäftigten PersoMT 16% der erwerbstätigen Bevölkerung. Zu den Hauptgründen der späten und sodann
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nur zögernden Industrialisierung zählte vor allem der Mangel an Eigenkapital. Die Industrialisierung wurde mit Staatsanleihen im Ausland und ausländischen Direktinvestitionen in Spanien eingeleitet. Dies gilt — mit Ausnahme von Katalonien, wo sich auf der Grundlage einheimischen Kapitals eine solide Textilindustrie etablierte — vor allem für den Aufbau der Schwerindustrie und für den Eisenbahnbau. Spaniens Stellung als auslandsabhängiges "halbkoloniales" Land wird noch deutlicher durch den Hinweis, daß der Export von Rohstoffen die Außenhandelsbilanz des Landes bestimmte. So gründete die weitere Industrialisierung in der Restaurationsära vor allem auf dem Export baskischen Eisenerzes nach England, dem Export katalanischer Textilwaren in die verbliebenen Kolonien und den Geldsendungen emigrierter Spanier. Die Industriestruktur war durch ihre nahezu ausschließliche Konzentration auf die Peripherie des Landes gekennzeichnet; die regionale Verteilung der Lagerstätten der Mineralien hat sie zum größten Teil in die Küstengebiete Randspaniens verwiesen. Die wichtigsten industriellen Konzentrationsgebiete waren Barcelona und Vizcaya, Valencia, Guipüzcoa und Asturien, in zweiter Linie Santander, Vigo, Alicante und Mälaga. Rund 80 % der Gesamtindustrie waren in Rand-, nur 20% in Innerspanien lokalisiert; allein Barcelona besaß über 40% der spanischen Industrie. In Randspanien waren 78% der Wollindustrie (Katalonien: 63%) und 97,7% der Baumwollindustrie (Katalonien: 90,2%) konzentriert. 75% der Roheisenerzeugung und über 50% der Rohstahlproduktion entfielen auf Vizcaya. Fast die Hälfte der Holzindustrie hatte ihren Standort im Mittelmeerküstengebiet. Der große Mineralreichtum hätte schon früh zu einer starken Entfaltung der Industrie führen müssen. Kohle wurde in Asturien, Galicien, zum Teil auch in Katalonien gefördert, Eisenerz in Vizcaya, Zink- und Bleierze in Santander, Quecksilber in Almaden (Provinz Ciudad Real). Die Schwerindustrie war überwiegend in den nördlichen Provinzen, die Fertigindustrie (alle Zweige der Textilindustrie, die Holzverarbeitung, Olivenölproduktion, Parfümerie) im katalanischen Raum lokalisiert. Dem industriellen Aufschwung stand jedoch die ungünstige geologische Beschaffenheit der Ablagerungen entgegen, die z. B. im asturischen Bergbau, der 70% der gesamten Kohlegewinnung Spaniens erzeugte, eine im internationalen Vergleichsmaßstab weit unterdurchschnittliche Ertragsleistung ergab. Hemmend wirkten sich auch die infolge geographischer Verhältnisse und eines im europäischen Maßstab rudimentären Eisenbahn- und Landstraßennetzes großen Transportschwierigkeiten, das Fehlen eines kaufkräftigen Binnenmarktes sowie vor allem die mangelnde Infrastruktur der Schwerindustrie aus. Katalonien stand an der Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung. Abgesehen von einigen konjunkturellen Einbrüchen entwickelte sich die katalanische Industrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr günstig. Durch Nutzung der Wasserkraft verschiedener Flüsse legte man dort den Grundstein für die Textilindustrie, insbesondere für die Baumwollverarbeitung. Die Industrialisierung Barcelonas wurde anfangs durch das Aufkommen der Dampfmaschine und den mechanischen Webstuhl, später durch die Elektrizität, durch hohe Investitionen und einen Überfluß an zugewanderten Arbeitskräften möglich. Der Mangel an Eisenerzen und Kohle behinderte in Katalonien zwar die Entwicklung einer Schwerindustrie; allerdings siedelten sich metallverarbeitende Betriebe (Maschinenbauindustrie) an (1885: La Maquinista Terrestre y Maritima). Auch die Leichtindustrie faßte auf den Spuren der Baumwolltextilindustrie festen Fuß. Es handelte sich anfangs um eine heimarbeitorientierte, weit gestreute und wenig rationalisierte Industrie. 1873 entstand in
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Barcelona das erste Elektrizitätswerk; in den anderen Teilen Spaniens wurden noch vor dem Irrsten Weltkrieg die Gesellschaften gegründet (u. a. Iberduero, HidroeMctrica Espafiola, Barcelona Traction, Uniön EMctrica Madrilefia), die bis heute auf diesem Sektor führend sind. Im Jahr 1900 gab es in Spanien bereits 861 Elektrizitätswerke. Später entwickelte sich auch die chemische Industrie, deren Standorte keineswegs auf Katalonien beschränkt blieben. Zu wichtigen Unternehmen wurden für die Sprengstoffindustrie die Sociedad Espafiola de la Dinamita (1872) und die Sociedad Espatiola de Explosivos (1896; beide in Bilbao), für verschiedene andere Zweige die Sociedad Electroquimica del Flix (1897), die Sociedad Espatiola de Carburos Metälicos (1897), die Industrial Ouimica de Zaragoza (1899) und die Compaiiia Solvay (1908), für die Düngemittelindustrie Cros S.A. (in Badalona). Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgte auch der erste zaghafte Versuch, mit der Automobilproduktion in Spanien zu beginnen (Hispano Suiza, 1904). Dieser Zweig konnte sich allerdings jahrzehntelang nicht entwickeln. Die wichtigsten Zentren der Schwerindustrie lagen, vor allem nach 1870, längs der kantabrischen Küste, in Asturien und Vizcaya, wo die Kohle- und Erzvorkommen den Betrieb von Hochöfen im Tal des Nerviön (Baracaldo, Sestao) und von Schmelzhütten rentabel machten. Dank der Gewinne, die nach der Erfindung des Bessemer-Verfahrens 1856 der Eisenerzverkauf nach Großbritannien zwischen 1860 und 1880 abwarf, erklommen die Basken innerhalb von 20 Jahren den ersten Platz in der Schwerindustrie, in der Handelsschiffahrt und der Finanzwirtschaft Spaniens. Ihren höchsten Stand erreichte die Eisenerzausfuhr zwischen 1895 und 1903 (1899: 9,5 Millionen t). Die Eisenerzgewinnung der baskischen Provinzen wurde durch die Beteiligung ausländischer Gesellschaften (z. B. 1874 der Orconera Iron Ore Company Ltd. und 1876 der Societ , Franco-Belge des Mines de Somorrostro) und die Investierung englischer, französischer und deutscher Kapitalien (u. a. der deutschen Firmen Geuschin und Krupp, der englischen Consett, der belgischen Cockerill, der französischen Denain) begünstigt. Die Produktion nahm vor allem nach 1877, der Beendigung der Karlistenkriege, zu. Zur Verarbeitung des geförderten Eisens wurde die bask ische Hüttenindustrie entwickelt (1882: Altos Hornos y Fäbricas de Hierro y Acero de Bilbao, Metalürgica y Construcciones La Vizcaya, Hochöfen der Firma Chävarri; 1900: Iberia; 1902: Fusionierung zur Firma Altos Hornos de Vizcaya). Zur Verhüttung verwendete man zuerst asturische Kohle; Asturien verlor allerdings als Kohlelieferant ab 1876 an Bedeutung, man begann, baskisches Eisen als Gegenleistung für die englischen Kokslieferungen nach England auszuführen. Bilbao wurde als Folge der Eisenerzeugung und der Hüttenindustrie zum Mittelpunkt des Schiffsbaus und -verkehrs (Gründung von Schiffahrtsgesellschaften). Am Nerviön und bei Sestao (1888: Astilleros del Nerviön) wurden Werften angelegt (1900: S ociedad Euskalduna de Construcciön y Reparaciön de Buques). Santander exportierte den kastilischen Weizen und verarbeitete ihn zu Mehl(-produkten). Auch die Industrie- und Bergbauzentren im Süden des Landes hatten große Bedeutung. Durch das Gesetz von 1868 (Ley de Bases) wurde die Ausbeutung der Bergwerke kapitalkräftigen ausländischen Firmen ermöglicht. Die seit 1873 in englischer Hand (Firma Methensson & Co., London) befindlichen Kupferminen von Rio Tinto (bei Huelva) machum Spanien zum größten Kupferproduzenten Europas (1900: 2.706.000 t). In der Sierra de Cartagena stieg die Bleigewinnung stark an; obwohl sich seit Ende des 19. Jahrhunderts die Bleiausfuhr wieder verringerte, konnten zwischen 1901 und 1910 im Jahresdurch-
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schnitt 137.000 t Blei exportiert werden. Die Quecksilbergewinnung aus den Minen bei Almad&I (Jahresförderung: ca. 25.000 t) betrieb seit 1870 (bis 1916) das Haus Rothschild. 1877 war Spanien das bedeutendste Land Europas in der Gewinnung von Blei, Kupfer und Eisen. Obwohl Spanien dank seiner politisch neutralen Stellung während des Ersten Weltkriegs in eine günstige internationale Wettbewerbssituation kam, die eine ungeahnte Nachfragesteigerung nach spanischen Produkten und damit einen erheblichen Goldzufluß zur Folge hatte, blieb der Index der industriellen Produktion während der Kriegs- und der unmittelbar folgenden Nachkriegsjahre nahezu konstant. Die Chance zur Ausweitung der industriellen Produktion verstrich ungenutzt; die vom Ausland bewirkte Erhöhung der kaufkräftigen Nachfrage verpuffte ausschließlich in Form einer Geldentwertung. Besonders die Textilindustrie machte im Krieg hohe Gewinne, die jedoch mit wenigen Ausnahmen nicht zur Modernisierung und Umstrukturierung der Branche eingesetzt wurden. Erst die hochprotektionistische Periode der Diktatur Primo de Riveras mit ihrer interventionistischen Politik der Produktionsförderung (Industrieschutzgesetz von 1926) bewirkte ab 1923 wieder eine Produktionssteigerung der spanischen Industrie, die den Index der industriellen Produktion von 102,5 (im Jahr 1923) bis auf 146,1 (im Jahr 1931) fast ohne Unterbrechung stetig steigen ließ. Das bedeutendste Industrierevier war wieder Katalonien. Dort trat neben die Textilindustrie die Maschinen- und die eisenverarbeitende Industrie, die vor allem auf baskisches Roheisen angewiesen war. Lokomotiven-, Brückenund Schiffsbau, Landwirtschafts- und Industriemaschinen waren ihre bedeutendsten Zweige. In den Jahren der Republik war die Wirtschaftspolitik hauptsächlich mit kurzfristigen Maßnahmen befaßt. Die Wirtschaftsordnung ruhte auf wirtschaftlicher Freizügigkeit im Innern, aber ausgeprägtem Zollprotektionismus und immer stärkerer Devisenbewirtschaftung. Wegen des verminderten Außenhandels sank die Industrieproduktion in den 1930er Jahren. Der Produktionsindex (1930 = 100) lag 1931 bei 101,5, 1932 bei 92,2, 1933 bei 84,4, 1934 bei 93,3 und 1935 bei 98,9. Nach Kriegsbeginn mußte die gesamte Produktion auf Kriegswirtschaft umgestellt werden. Interventionstische Maßnahmen waren auf beiden Seiten die Folge. In der republikanischen Zone, vor allem in Katalonien, ging im Zuge der sozialen Revolution ein Großteil der Industriebetriebe in die Hände der Arbeiter über. Im weiteren Kriegsverlauf bildete sich ein von den Gewerkschaften koordiniertes, vom Staat mit Zielvorgaben versehenes Wirtschaftssystem heraus, das bis 1939 einer dynamischen Entwicklung unterworfen blieb und bis zuletzt eine dualistische Struktur beibehielt, in der kapitalistisch-privatwirtschaftliche und kollektivistisch-sozialisierte Produktionseinheiten nebeneinander bestanden. Die wirtschaftlichen Folgen des Bürgerkrieges belasteten die Entwicklung nach 1939 schwer: Die erwerbstätige Bevölkerung war um weit über eine halbe Million gesunken, der republikanische Staat hatte zur Kriegsfinanzierung 510 t Gold in einem Wert von 575 Millionen Dollar ausgegeben; die Kriegskosten beider Seiten beliefen sich auf 300 Milliarden Peseten von 1963; rund 8% aller Wohnungen waren beschädigt oder zerstört, über 40% aller Lokomotiven und Waggons unbrauchbar geworden; die Handelsmarine büßte 225.000 BRT, d.h. über 30% ihres Gesamtbestandes, ein. Die Industrieproduktion sank von 1935 bis 1939 um 31%, die Agrarproduktion um 21,2%, das Volksvermögen um 25,7%, das durch-
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schnittliche Pro-Kopf-Einkommen um 28,3%. Das Pro-Kopf-Einkommen erreichte erst 1952 wieder den Stand der Vorkriegszeit. Auch das industrielle Wachstum verlief bis 1950 ausgesprochen langsam, was u. a. auf den Mangel an Energie und Rohstoffen zurückzuführen war; erst nach 1951 beschleunigte sich das Wachstum (infolge der US-Hilfe 1951 und besonders 1953) etwas. Von der nach 1939 praktizierten Politik der Autarkie profitierte eine große Anzahl kleiner Kapitalisten, die mit Hilfe günstiger Kredite die notwendigsten Güter für den inneren Markt produzierten. Die rigide Importsubstituierungspolitik ließ zahlreiche neue Industriezweige entstehen, die durch den staatlichen Protektionismus vor der ausländischen Konkurrenz geschützt waren. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich an der Peripherie von Madrid ein neues Industriegebiet, das inzwischen zum zweitgrößten industriellen Ballungsraum des Landes geworden ist. Ende der 1950er Jahre entstand in Asturien der große Schwerindustriekomplex von Avils, in dem Eisenerze aus den Montes de Lehn verhüttet wurden. An der Mittelmeerküste verarbeitete man in verschiedenen Hochöfen am Hafen von Sagunto die Eisenerze aus dem Iberischen Randgebirge. Nach Beginn des Stabilisierungsplans (1959) konnte die verarbeitende Industrie (Textilund Bekleidungsindustrie, Druckerei und Vervielfältigung, Kunststoffverarbeitung, Kraftfahrzeugbau, Herstellung von Gemüsekonserven) ihre Beschäftigtenzahlen beträchtlich erweitern, während die Beschäftigten im Bergbau zurückgingen und die der Energiewirtschaft nur unbedeutend stiegen. Die negative Entwicklung im extraktiven Bereich ist auf den Rückgang in der Kohleförderung zurückzuführen. Zwischen 1960 und 1974 wies der Industriesektor (zu konstanten Preisen) eine jährliche Wachstumsrate von rund 9 % auf; in diesem Zeitraum nahm die Arbeitsproduktivität in der Industrie um jährlich 6,9% zu. Durch Einkauf ausländischer Investitionsgüter wurden die Produktionsanlagen erheblich modernisiert. Die Bruttoindustrieproduktion setzte sich 1960 zu 75,7% aus der verarbeitenden Industrie (1974: 70,6%), zu 12,3% aus der Kauindustrie (1974: 21,9%), zu 6% aus den Versorgungsbetrieben (1974: 4,8 %) und zu ()% aus dem Bergbau (1974: 2,7%) zusammen. Zwischen 1960 und 1974 verloren tradionelle Industriezweige (Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Textil- und Holzwirtschaft) dn Bedeutung, während Grundstoff- oder Basisindustrien und dauerhafte Konsumgüter u nahmen. Die quantitativen Erfolge der Wirtschaftsentwicklung in den 1960er Jahren sind nicht zu bersehen: Die durchschnittliche jährliche Expansionsrate des BSP betrug 7,13% und lag damit nach Japan an zweiter Stelle unter den OECD-Ländern. Auch die Bruttoanlagenvestitionen nahmen rapide zu. Allerdings wies die Entwicklung auch Mängel auf: So lagen ie Forschungsausgaben mit 0,2-0,4% des Bruttoinlandprodukts deutlich unter denen der yroßen Industrieländer. In den letzten Jahrzehnten hat demgegenüber eine wahllose und irrkontrollierte Einfuhr ausländischer Technologien stattgefunden. Die Erzeugnisse der cheiii ischen Industrie und der Metallverarbeitung (Maschinen- und Fahrzeugbau, ElektrotechEisen-, Blech- und Metallwarenherstellung) werden zum größten Teil mit ausländischen Patenten hergestellt. In bestimmten Wirtschaftszweigen (Fahrzeugbau, Chemie) ind Großunternehmen hat sich Auslandskapital besonders stark konzentriert.
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4. Das Bank- und Kreditwesen Seit dem Bankengesetz von 1856 (Ley de regulaciön de las sociedades financieras) nahm die Entwicklung des privaten Bankensystems mit der Umwandlung des Nuevo Banco Espafiol de San Fernando in Banco de Espafia großen Aufschwung. Der Banco de Bilbao spielte seit 1857 eine entscheidende Rolle für die baskische Schwerindustrie; im gleichen Jahr wurde der der Montanindustrie angeschlossene Banco de Santandergegründet; es folgten mehrere katalanische Banken (Banco de Barcelona, Banca Anis). Die zweite Phase der Bankenentwicklung setzte 1874 mit der Ley Echegaray ein, die dem Banco de Espafia für 30 Jahre das Monopol für die Emission von Banknoten übertrug (1891 um weitere 30 Jahre verlängert). Zuvor waren 15 Banken zur Emission von Noten berechtigt gewesen. Fortan spielte der Banco de Espafia die Hauptrolle im Finanz- und Kreditwesen. Er war Hauptkreditgeber ebenso für den Staat, dessen Geldbedarf durch die Kolonialkriege ständig zunahm, wie für Privatleute. Die dritte Phase der Bankenentwicklung setzte 1899/1901 mit den Finanzreformen des Ministers Fernändez Villaverde ein, der die ständige Erhöhung des Banknotenumlaufs stoppte, die Haushaltsdefizite verringerte und die Kontrolle des Staates über den Banco de Esparia verstärkte. Die angestrebte finanzielle Stabilisierung konnte bis zum Ersten Weltkrieg erreicht werden. Aus der politischen und wirtschaftlichen Krise von 1898 gingen die katalanischen Banken geschwächt und die gemischten Depositen- und Industriebanken Madrids und des Baskenlandes gestärkt hervor. 1902 kontrollierten der 1900 aus dem Kolonialkapital gegründete Banco Hispano-Americano, der 1901 von baskischen Schwerindustriellen geschaffene Banco de Vizcaya, der 1902 gegründete und dem französischen Crddit Mobilierangeschlossene Banco Espafiol de Cffidito zusammen mit dem Banco de Bilbao bereits ein Drittel des gesamten Finanzkapitals und leiteten den Monopolisierungsprozeß finanzieller Macht ein, der sich bis heute auf die spanische Wirtschaft auswirkt. Im Ersten Weltkrieg konnten die Privatbanken ihre Gewinne steigern und den Konzentrationsprozeß fortsetzen. Die Anzahl der Banken nahm zwischen 1915 und 1920 von 52 auf 91 zu; ihre Gewinne stiegen im gleichen Zeitraum von 25 Millionen auf 119 Millionen Peseten. Auch der Banco de Esparia partizipierte an der Gewinnentwicklung. Zentrale Positionen im Bankgewerbe errangen Hispano-Americano, Espafiol de CrMito, Bilbao und Vizcaya. Nach der Gründung des Banco Urquijo (1918) und des Banco Central (1919) schloß sich der kleine Kreis der bis heute führenden Geldinstitute über Jahrzehnte hinweg ab. Die katalanischen Banken verloren gegenüber Madrid und Bilbao an Bedeutung. Die auf Cambö zurückgehende Ley de ordenaciön bancaria erkannte 1921 den Banco de Esparia als Zentralbank an und zog eine deutliche Trennungslinie zwischen Privat- und anderen Banken. Die Großbanken konnten in den 1920er Jahren ihre Position konsolidieren; zwischen 1922 und 1929 erhöhten die vier führenden Banken ihre Zweigstellen von 156 auf 791. Der Versuch der Republik, zur Finanzierung der Agrarreform eine Agrarbank zu gründen, scheiterte am geschlossenen Widerstand der Finanzoligarchie, deren Interessenidentität mit den Großgrundbesitzern dadurch offensichtlich wurde. Nach 1939 wurde die traditionell zentrale Stellung des Finanzkapitals wiederhergestellt. Der 1936 beschlossene Status quo bancario, der 1940 Gesetzescharakter erhielt (gültig bis 1962), verbot die Zulassung neuer Banken, deren Anzahl von 200 (1939) auf 112 (1964)
Der Außenhandel
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ank. Durch das 1946 verabschiedete Gesetz zur Bankenordnung wurde der Oberste Bank enrat gegründet, durch den die Vertreter der führenden Banken über einen direkten institutionalisierten Einfluß auf die staatliche Wirtschaftspolitik verfügten. Durch die staatlich geförderte Monopolstellung der Großbanken hatte die Finanzaristokratie zugleich die Kontrolle über die Industrie, da sie die Bedingungen der Kreditvergabe bestimmte. Die hauptbegünstigte Fraktion der Autarkiephase war somit das zentrale Finanzkapital, das mit den Staatsanleihen eine rentable Anlage bei gleichzeitig höchster Liquidität erzielte. Zugleich konnte die enge Verknüpfung der Bodenbesitzer-Oligarchie mit der Finanz-Oligarchie grundlegende Strukturreformen im Agrarsektor verhindern. Die eigentliche Macht übten sieben Großbanken aus (Espafiol de Cffidito Central, Hispano-Americano, Bilbao, Vizcaya, Santanderund Popular), die 30-40% der Industrie und 51 % des Bankengeschäftsvolumens kontrollierten; sie waren mit hohem Anteil am Aktienkapital wichtiger Unternehmen beteiligt und beherrschten häufig die Verwaltungsräte; sie verfügten über fast 70% aller Fremdeinlagen der Privatbanken und kontrollierten den Rest über ihre Aufsichtsratsmitglieder. Auch wenn es neben den "sieben Großen" noch weitere 98 Banken und 81 Sparkassen gab und die Regierung im Jahr 1979 ausländischen Banken die Eröffnung von Niederlassungen in Spanien erlaubte, konnte an der dominierenden Stellung der Großbanken nicht gerüttelt werden.
5. Der Außenhandel Der spanische Außenhandel blieb im 19. Jahrhundert in fast unveränderter Form überwiegend auf die Ausfuhr von Rohstoffen (Mineralien) und Agrarerzeugnissen (Wein, Zitrusfrüchte) beschränkt. In der Zahlungsbilanz wurde die stets passive Handelsbilanz durch ausländische Investitionen und Geldsendungen der Auswanderer (1902: 1,2 Milliarden Peseten) ausgeglichen. Nach der Jahrhundertmitte wirkte sich der Krimkrieg günstig auf die Konjunktur und den spanischen Außenhandel aus. In den 1860er Jahren war die Handelsbilanz extrem passiv, da in diesen Jahren die Importnachfrage für die einsetzende Inustrialisierung und vor allem für den Eisenbahnbau besonders hoch war. Durch das Gesetz des Ministers Figuerola von 1869 kam das Land aus dem Engpaß heraus, in den es der Protektionismus des voraufgegangenen Jahrzehnts geführt hatte. Jetzt wurden die Mineralien Spaniens ausländischem Kapital zugänglich, und spanisches Kupfer, Blei und Eisen wurden nach Frankreich, England und Belgien exportiert. Nach 1870 nahm der Außenhandel erheblich zu. In den 80er Jahren bestand die Ausfuhr zu über 50% aus Wein; die zweite Stelle in den Ausfuhren (ca. 20%) nahmen die Eisen-, Kupfer- und Bleierze ein. Es folgten mit 12 % weitere Produkte aus Ackerbau und Viehzucht. Auch Kork war, vor allem gegen E nde des Jahrhunderts, ein wichtiger Exportartikel. Im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts nahm der Export von Mineralien mit ca. 36% des ;esamtexports die erste Stelle im spanischen Außenhandel ein. Allmählich steigerte sich .eich der Export von Apfelsinen und Olivenöl. Die Einfuhren setzten sich überwiegend (1883: zu 31,3 %) aus Nahrungsmitteln (Weien, gesalzener Fisch, Zucker, Kaffee), an zweiter Stelle (1883: zu 24,3%) aus Maschinen, Werkzeugen und Baumaterialien, sodann (1883: zu 18,7%) aus Textilfasern (besonders
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XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Transport und Verkehr
Baumwolle) sowie Webstoffen (7,9%), Kohle und anderen Brennstoffen (5,6%), chemischen Erzeugnissen (2,3%) und anderen Waren zusammen. Während des Ersten Weltkrieges wurde Spanien zu einem begehrten Umschlagplatz im internationalen Warenaustausch und zum Lieferanten der immer knapper werdenden Lebensmittel. Auf den Exportboom der Kriegsjahre folgte die Depression der Nachkriegszeit. Die weltweite Krise wirkte sich zwar negativ auf den spanischen Außenhandel aus, der jedoch trotzdem 1920-1929 ein Rekordvolumen erreichte, das sich 1929 auf 5,8 Milliarden Goldpeseten belief. Die Handelsbilanz war allerdings ständig negativ. Nach 1923 wurden Zoll- und Verwaltungsschranken (Kontroll- und Hygienebestimmungen, Einfuhrkontingentierungen) errichtet, die den Binnenmarkt von ausländischer Konkurrenz abschirmen sollten. Insgesamt war die Verflechtung der spanischen mit der Weltwirtschaft sehr gering. Spaniens Anteil am Welthandel betrug 1935 in der Einfuhr nur 1,4%, in der Ausfuhr nur 1 %. Die vier Industriestaaten Großbritannien, USA, Frankreich und Deutschland waren 1932 am Gesamtaußenhandel Spaniens mit über 51 % beteiligt, während der Anteil Spaniens am Außenhandel dieser Länder nur 6,3% betrug. Nur 30-40% der Eisenerzförderung Spaniens wurden in eigenen Hochöfen verhüttet. Die Erzausfuhr betrug 1935 an Eisenerz 1,9 Millionen t, an Pyriten 1,8 Millionen t, d.h. daß die Hälfte der geförderten Eisenerze und über 80% der Pyrite (vor allem nach England) ausgeführt wurden. Auch der Export von Rohblei und Kupfer spielte eine große Rolle. Durch die Weltwirtschaftskrise erlitt der Außenhandel Spaniens erhebliche Einbußen (Tab. 8). Tab. 8:
Der Außenhandel Spaniens 1929-1935 (in
Mio.
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leistungen waren auch zunehmend am BSP beteiligt; ihr Beitrag belief sich jedoch 1968 erst auf 13% (Ausfuhr) und 15,6% (Einfuhr). 1970 stieg der Anteil auf 15,3% bzw. 17,1 %. Die Handelsbilanz blieb chronisch negativ; der Saldo der Warenbilanz war seit 1961 passiv. Von 1962 bis 1967 wurde jedes Jahr weniger als die Hälfte der Wareneinfuhr durch die gleichzeitigen Lieferungen an das Ausland kompensiert. Erst 1968 setzte eine Besserung ein; 1970 betrug der Export rund 57% des Imports, und 1971 erreichte die Deckungsquote schon 59,1 %. Zu dieser Besserung trugen die neuen Exportförderungsmaßnahmen, die Anstrengungen der Unternehmen um eine stärkere Exportorientierung ihrer Erzeugnisse und die Auswirkungen der Pesete-Abwertung von 1967 bei. Eine der Antriebskräfte der neuen Entwicklung war auch die Ausfuhr von gewerblichen Fertigwarenerzeugnissen bei abnehmender Beteiligung der Nahrungsmittel an der Gesamtausfuhr (1970: 35,8% gegenüber mehr als 50% bis 1964). Dafür wiesen inzwischen die Importziffern stark wachsende Nahrungsmitteleinfuhren auf. Auch die Einfuhr von Brennstoffen und Rohmaterialien stieg deutlich an. Zu den wichtigsten Importgütern zählten nichtelektrische Maschinen, Erdöl und Derivate, Eisen und Stahl, Chemieprodukte, Getreide, elektrische Maschinen. Die Gewichtung der Ausfuhrgüter wies zwei Hauptmerkmale auf: Einerseits verlor der Export von Früchten (vor allem Zitrusfrüchten) relativ an, andererseits wurden immer mehr Halbfabrikate und Fertigwaren (Maschinen, Schuhe, Schiffe, Erdölnebenprodukte) exportiert. Die wichtigsten Handelspartner wurden die EG-Länder.
Goldpeseten) 6. Transport und Verkehr
1929
1930
1931
1932
1933
1934
1935
Einfuhr
2736
2447
1176
975
835
855
875
Ausfuhr
2108
2300
961
738
669
611
583
Saldo
-628
-147
-215
-237
-166
-244
-292
Nach 1939 wurde der Außenhandel durch ein kompliziertes staatliches Kontrollsystem stark reduziert, da das erklärte Ziel der Autarkiepolitik die ökonomische Selbstversorgung war. Hauptinstrument dieser Kontrolle war ein System von individuellen Lizenzen auf Import- und Exportgüter, verbunden mit bilateralen Handelsabkommen, in denen spezielle Austauschquoten festgelegt waren. Während dieser Nachkriegsjahre wurden hauptsächlich Agrargüter importiert; der Export stagnierte weitgehend. Mit dem Stabilisierungsplan setzte zwar ein verstärkter Export von Industrieprodukten ein, die Ausfuhr konnte jedoch zu keinem Zeitpunkt die Handelsbilanz ausgleichen, deren Defizit sich laufend auf ca. 6% des BSP belief. Der Ausgleich der Zahlungsbilanz erfolgte vielmehr durch die Emigrantenüberweisungen, ausländische Investitionen und vor allem durch die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr. Obwohl der Außenhandel im Verlauf der 1960er Jahre deutlich anstieg, hatte er im europäischen Vergleich ein relativ geringes Gewicht. 1961 machte er 11 %, 1967: 19,8% und 1969: 24% des Nationaleinkommens aus. Ausfuhr und Einfuhr von Gütern und Dienst-
Der Mangel an Kapital, der bereits die Entstehung der einheimischen Industrie erschwert hatte, belastete auch die Entwicklung des spanischen Eisenbahnnetzes. Seit 1840 gab der Bau der Eisenbahn Anlaß zu wilden Spekulationen, an denen sich Banken, Politiker und ausländisches Kapital beteiligten. Im Jahr 1855 wurde das erste, 1877 das zweite Gesetz über den Bau von Eisenbahnen verabschiedet; neben einer Verbesserung des Verkehrswesens sollte die Eisenbahn vor allem die Binnenmarktstrukturen stärken. Die ersten Bahnstrecken wurden von lokalen Gesellschaften in der Erwartung hohen Gewinns in Betrieb genommen (Strecke Barcelona-Matarö 1848, Madrid-Aranjuez 1851, Valencia-El Grao 1853, Valencia-Jätiva 1855). 1853 beliefen sich die Eisenbahnteilstrecken auf 219 km. Die Ausländer zeigten an der Finanzierung des Eisenbahnbaus auch deshalb Interesse, weil eine Mindestrendite für das in Eisenbahngesellschaften investierte Kapital garantiert und Linienkonzessionen großzügig vergeben wurden. Der größere Teil des Eisenbahnnetzes wurde mit ausländischem (Frankreich, Belgien, England; Finanzgruppen der Prost, Pereyre, Rothschild) und katalanischem Kapital finanziert. Nach einem zehnjährigen Boom brach das Eisenbahnfieber unter dem Druck der weltweiten Rezession zusammen. Das gesamte Material zum Eisenbahnbau war aus dem Ausland importiert worden; der spanische Staat hatte sich enorm verschuldet. Außerdem wies das Netz unterschiedliche Spurweiten auf, und fast alle Linien führten nach Madrid. Als später der Eisenbahnbau der spanischen Industrie Aufträge brachte, wurde er nur noch mit halber Kraft weitergeführt. Zwischen 1860 und 1880 wurden noch 5.500 km Eisenbahn-
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Staat und Wirtschaft
XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Karte 19: Spanisches Eisenbahnnetz Ende 1870 Burdeos Santander Sinns) ta Vege ä n Sebareen Sornade Langreell' Poto de Gortlen•, Orboa ♦ Pomplona BroSuelas•-‘ Caporreso Astorgoe'i; Logrollo Castejön •Hacoca • Patencis"' Burgos Tartliente Vente 'lree Beim Caseto e--„ "(Valladolid Zaragoza Zamora Reu Jadragee Sancled hen • empos la Porto ../Guadalejaro Ulldecona Avito Gij6n
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Puerto Real
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---- bis 1855 bis 1860 - bis 1865 bis 1870
Karte 19 zeigt das spanische Eisenbahnnetz von seinen Anfängen (1829) bis 1870. Die ersten Eisenbahnkonzessionen konnten in den 1830er Jahren sowohl wegen Kapitalmangels als auch wegen des ersten Karlistenkrieges (1833-1839) nicht umgesetzt werden. Nach 1843 begann der Bau der ersten Linie, die 1848 eingeweiht wurde (Barcelona-Matar6, 29 km). Es folgten die Strecken Madrid-Aranjuez (1851) und Sama de Langreo-Gijön (1855) in Asturien. Seit dem Gesetz von 1844 war es zu massiver Spekulation über Eisenbahnkonzessionen gekommen, an denen sich vor allem Politiker und die Königsfamilie selbst beteiligten. Josö Salamanca gewährte als Minister der Strecke Madrid-Aranjuez enorme Subventionen, die er selber als Unternehmer und Leiter der Eisenbahngesellschaft in Empfang nahm. Das Eisenbahngesetz von 1855 führte sodann zu einer Konzentration der Investitionen im Eisenbahnbau. Bis 1863 betrugen die Subventionen für die Eisenbahngesellschaften 788 Millionen reales bei einer Gesamtinvestitionssumme von weniger als sechs Milliarden reales. Eisenbahnkonzessionsgesellschaften erhielten alle Abgaben, die auf die Einfuhr von Kapitalgütern, von rollendem Material und von Brennstoffen bezahlt worden waren, zurückvergütet. Das bedeutete, daß das gesamte zum Bau von Eisenbahnen erforderliche Material zollfrei importiert werden durfte. In der Boomphase 1861-1865 war die Einfuhr von Eisenwaren stets größer als die Gesamtproduktion der spanischen Eisen- und Stahlindustrie. Das Eisenbahngesetz von 1855 ist in engem Zusammenhang mit dem Bankgesetz von 1856 zu sehen, durch das Auslandskapital angelockt werden sollte. Das neue Kreditsystem konzentrierte sich auf spekulative Investitionen im Eisenbahnbau. Bis 1864 flossen 6,2 Milliarden reales in die Eisenbahnen und nur 393 Millionen in die Gründung echter Industriegesellschaften. Das Eisenbahnfieber führte zu einem raschen Ausbau des Verkehrsnetzes. Bis 1865 entstanden 4.800 Streckenkilometer; die Jahresleistung am Streckenausbau übertraf damals Preußen und Österreich. Die Compariia de los Ferrocarriles del Norte de Esparia baute die Strecke Irün-Madrid. Die Compania de los Ferrocarriles de Madrid a Zaragoza y Alicante (M.Z.A.) übernahm den Ausbau der Oststrecken. In Spanien floß vor allem katalanisches Kapital in die Eisenbahnspekulation. Zu den Eigenarten des Systems gehörte die Streckenführung, die kein Netz bildete, sondern strahlenförmig von Madrid in die Seehäfen ging. Von Anfang an wurde die Eisenbahn somit in den Dienst der (Bergbau-)Ausfuhr und nicht in den des Binnenverkehrs gestellt. Die schlechten wirtschaftlichen Ergebnisse der Eisenbahngesellschaften und ihre kargen Ausschüttungen spiegelten sich in der Talfahrt der Aktienkurse an der Börse von Barcelona wider.
263
strecke fertiggestellt; zwischen 1876 und 1900 waren es im Jahresdurchschnitt ca. 300 km. Im Jahr 1870 war die Eisenbahn zum wichtigsten Verkehrsmittel für Güter- und Personenbeförderung geworden. Zwischen 1872 und 1901 nahm das Eisenbahnnetz von 5.478 auf 13.168 km auf mehr als das Doppelte zu. Seit 1855 wurde auch der Ausbau von Straßen vorangetrieben. Zwischen 1856 und 1868 wurden 7.822 km gebaut; bis 1880 hatte der Staat knapp 20.000 Straßenkilometer errichtet; bis 1900 stieg die Länge des Straßennetzes auf 35.400 km, bis 1911 auf 45.000 km. Zusammen mit den Provinzstraßen und Gemeindewegen erhöhte sich das Netz bis 1919 auf 77.745 km. Zugleich nahm der Fahrzeugbestand zu, wenn auch ausgesprochen langsam. Um 1910 wurden jährlich an die 1.000 Kraftfahrzeuge (Pkw, Lkw, Bus) zugelassen. Die spanische Handelsflotte gehörte gegen Ende des Jahrhunderts zu den bedeutendsten der Welt. Sie erwirtschaftete im letzten Drittel des Jahrhunderts sowohl im Gütertransport mit den Kolonien wie im Personentransport (Auswanderer) große Gewinne. Im Jahr 1881 verfügte sie über 560.000 BRT (233.000 BRT Dampfschiffe); 1886 zählte sie über 1.800 Schiffe (430 Dampf-, 1.370 Segelschiffe). Die wichtigsten Häfen waren Bilbao und Barcelona. Seit dem Ersten Weltkrieg bestand im Verkehrssystem eine Konkurrenzsituation zwischen dem Straßen- und dem Schienenverkehr. In den 1920er Jahren wurden die defizitären Eisenbahngesellschaften bereits staatlich subventioniert, in den 1930er Jahren fuhr die Eisenbahn endgültig in die roten Zahlen. Während der Regierungszeit Primo de Riveras wurden auch 2.800 km moderne Autostraßen fertiggestellt; noch bedeutender war der Ausbau der Landstraßen. 1931 stand Spanien hinsichtlich seines Wagenparks mit 255.000 Kfz an fünfter Stelle in Europa. Die Zerstörungen im Bürgerkrieg und die fortschreitende Überalterung der Eisenbahnen verschärften seit 1945 die Verkehrsschwierigkeiten und wirkten hemmend auf die Durchführung des Industrialisierungsprogramms. 1941 wurden die normalspurigen Eisenbahnlinien des Landes verstaatlicht und zu einem Unternehmen, der RENFE (Red Nacional de Ferrocarriles) vereinigt: die Aktionäre der alten Gesellschaften wurden entschädigt. Seit Anfang der 1950er Jahre hat sich der Fremdenverkehr zu einem der Hauptwirtschaftszweige des Landes entwickelt. Zwischen 1961 und 1976 erhöhten sich die Einnahmen an Devisen aus dem Ausländerreiseverkehr von 384,6 Millionen US-Dollar auf über drei Milliarden US-Dollar im Jahr. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl der Touristen von 7,45 Millionen (1961) über 25 Millionen (1970) auf knapp 40 Millionen (1979) an.
7. Staat und Wirtschaft
Hauptproblem der spanischen Finanzpolitik im 19. Jahrhundert war der Ausgleich des stets defizitären Staatshaushalts. Die Reform von Mon schaffte 1845 das komplizierte Steuersys tem ab, das seinen Ursprung im Mittelalter hatte. Nach 1850 gab es weder bei den direkten noch bei den indirekten Steuern größere Veränderungen, bis Ende des 19. Jahrhunderts I inanzminister Fernändez Villaverde eine neue Steuerreform durchführte. In der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlossen die jährlichen Staatshaushalte (mit Ausnah-
264
XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
me des Jahres 1876) mit einem Defizit ab. Daher war der Staat stets bemüht, seinen Haushalt durch außerordentliche Einnahmen (wie etwa durch die Desamortisation oder den Verkauf der Bergwerksrechte an ausländische Firmen) und die ständige Emission von Staatsschuldverschreibungen auszugleichen. Diese Bemühungen führten dazu, daß im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg ausländisches Kapital zum großen Teil die spanische Wirtschaft durch seine Direktinvestitionen beherrschte. In einer ersten Phase bis zu den 70er Jahren waren der Eisenbahnbau und der Bergbau die bevorzugten Sektoren des Auslandskapitals; später flossen die Investitionen den Wasser-, Gas- und Elektrizitätsgesellschaften sowie den Versicherungen zu. Nach seinem Eintritt in die Lateinische Währungsunion (1868) hatte Spanien eine schwankende Währung. Die Parität betrug 1 Pesete = 0,29032 g Feingold. Im Jahre 1882 begann eine Entwertung der Pesete, und 1883 stellte der Banco de Espafia den Umtausch von Papiergeld in Gold ein. Der Kurs der Pesete sank am tiefsten in der Zeit des spanischamerikanischen Krieges. Angesichts der u. a. durch die Kolonialkriege weiter vergrößerten Ausgaben des Staates waren die ergriffenen finanzpolitischen Maßnahmen unzureichend. Die komplizierte Struktur der Staatsschulden sollte durch Schuldumwandlungen vereinfacht werden; 1851, 1876, 1881/82 und 1900 wurden solche Versuche unternommen. Die wirtschaftliche Entwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hing in entscheidendem Maße von den Auseinandersetzungen ab, die während des gesamten Zeitraums zwischen Anhängern des Freihandels und Befürwortern des Protektionismus stattfanden. Da sich die katalanischen Industriellen im internationalen Rahmen nicht konkurrenzfähig fühlten und ihre Stellung über die Abschirmung des spanischen Binnenmarktes sichern wollten, traten sie für eine weitgehende Schutzzollpolitik ein. Die in Madrid herrschende soziale Schicht, die Handels- und Agrarinteressen verpflichtet war, sah ihr Interesse im Export von Agrarprodukten und Rohstoffen und dem preiswerten Einkauf von Verbrauchsgütern, vor allem Textilien. Sie vertrat darum ein Freihandelskonzept und bemühte sich um entsprechende Handelsverträge. Die liberalen Regierungen des 19. Jahrhunderts vertraten nach innen zumeist ökonomische Laissez-faire-Prinzipien und schwankten nach außen zwischen Protektionismus und Freihandel. Bis zum Jahr 1840 war die Wirtschaftspolitik entschieden protektionistisch. Seit dem Zolltarif von 1841, der die Zölle vereinheitlichte, nahmen jedoch die freihändlerischen Tendenzen deutlich zu; die Bestimmungen von 1849 stellten zwar einen Sieg der Freihändler dar, doch konnte die katalanische und die sich entwickelnde baskische Industrie durchsetzen, daß ausländische Waren, die mit der eigenen Textil- und Eisenindustrie konkurrierten, mit hohen Zöllen belegt wurden. 1865 wurden die Zollsätze einiger Waren wieder verringert, und nach dem Sieg der September-Revolution stellte das Zolltarifgesetz des Ministers Figuerola 1869 den Höhepunkt der Freihandelspolitik dar. Die Befürworter des Protektionismus versuchten, die Durchführung der freihändlerischen Bestimmungen zu verhindern. Der Zolltarif von 1869 wurde 1877 und erneut 1882 geändert, wobei die katalanischen Industriellen durch die Interessenvertreter der asturischen Kohle und der baskischen Eisenindustrie unterstützt wurden. Nach 1875 ging der spanische Staat allmählich zur Schutzzollpolitik über. Die entscheidende Wende zum Protektionismus erfolgte durch die Zolltarifgesetze von 1890 und 1891, die die alten Zollfreiheiten aufhoben und alle Zollsätze heraufsetzten. Das alte Spannungs-
Staat und Wirtschaft
265
verhältnis zwischen Agrar- und Industriebourgeoisie, zwischen kastilischem Zentralismus und katalanischem Regionalismus, hatte sich unter dem Druck ausländischer Weizen- und Textilkonkurrenz immer mehr gelockert und war schließlich in protektionistischer Interessenidentität aufgegangen. Das Schutzzollsystem sollte zugleich den asturischen Bergbau (gegen englische Kohleimporte), die katalanische Textilindustrie (gegen englische Textilien), die kastilische Landwirtschaft (gegen amerikanische Getreideimporte) und die baskische Eisenwarenindustrie (gegen englische und französische Konkurrenz) schützen. Spätestens seit Anfang der 1890er Jahre waren die grundlegenden Strukturkonstanten der spanischen Wirtschaftspolitik der Zollprotektionismus zur Abschirmung des inneren Marktes, der Wirtschaftsnationalismus als Antwort auf die äußere (Kapital- und Handels-)Abhängigkeit und der Staatsinterventionismus zur Ersetzung unzulänglicher privatwirtschaftlicher Möglichkeiten. Vor allem nach dem Verlust der letzten Überseebesitzungen im Jahr 1898 kam es zur Propagierung eines spanischen Wirtschaftsnationalismus, der der Wirtschaftspolitik die Aufgabe zuwies, die nationale Unabhängigkeit sicherzustellen. Demgemäß wurde die neue Wirtschaftspolitik mehr von nationalpolitischen als von ökonomischen Motiven geprägt. Seit 1907 ("Gesetz zum Schutz der einheimischen Industrie") verfolgte der Staat eine Politik der Autarkie. Um eine Steigerung der nationalen Produktivkräfte zu erreichen, wurde seit der Jahrhundertwende mehr oder minder ausgeprägt der Weg einer umfassenden Wirtschaftslenkung beschritten. Die interventionistische Politik war im Industriesektor stets besonders ausgeprägt. Nach dem Bürgerkrieg wurde 1941 als wirtschaftspolitisches Instrument der Autarkie und des Dirigismus das "Nationale Industrieinstitut"' (Institut° Nacional de Industria, INI) gegründet und mit einem Startkapital von 50 Millionen Peseten ausgestattet. Die Hauptaufgabe dieser staatlichen Industrieholding bestand in der Unterstützung der Verteidigungsbemühungen des Landes, der Förderung der wirtschaftlichen Autarkie und der Brechung von Monopolen. Das INI sollte als treibende Kraft wirken, wenn unterentwickelte Regionen gefördert werden mußten; eines seiner Ziele bestand darin, den großen Gegensatz zwischen relativ wenigen modernen (vom Staat, Auslandskapital oder spanischen Finanzgruppen kontrollierten) Unternehmen und den vielen mittleren und kleinen Firmen (ohne ausreichendes Kapital und technologisches Wissen) zu verringern. Das INI hat keinen Bereich ganz verstaatlicht, es war allerdings mit relativ hohen Anteilen an einzelnen Sektoren beteiligt. So betrug 1968 der Anteil der INI-kontrollierten Unternehmen am jeweiligen Sektor bei Eisen und Stahl 25%, bei Elektrizität 20 %, bei Steinkohle 36%, bei Automobilen 50%, bei Aluminium 58%, bei stickstoffhaltigem Dünger 40%, beim Schiffbau 46%, bei raffiniertem Öl 48%. In sieben der 20 wichtigsten spanischen Unternehmen hatte das INI Beteiligungen (Stahlkonzern Esidesa, Fluggesellschaft lberia, Automobilkonzern Seat, Ölraffinerie Enpetrol, Schiffswerft Hunosa usw.). Dieser Staatskapitalismus als Versuch der öffentlichen Hand, über staatseigene Unternehmen die Industrialisierung zu forcieren, zeigte allerdings nicht den gewünschten Erfolg. Von seinen Hauptzielen konnte das INI keines verwirklichen: So wurde die Monopolisierungstendenz im Grundstoffsektor durch die INI-Interventionen eher noch verstärkt, die Autarkie wurde nicht erreicht, im Bereich der Rüstungsindustrie wurde lediglich der Kriegsschiffbau aktiviert. Positive Auswirkungen hatte die INI-Intervention in den Bereichen Elektrizität, eisenschaffende Industrie und Ölraffinerien.
266
XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Für die spanische Währung hatte der Erste Weltkrieg äußerst positive Auswirkungen. Zwischen 1913 und 1920 stiegen die Goldreserven von 664 Millionen auf 2,54 Milliarden Peseten; gleichzeitig erhöhte sich die Menge der zirkulierenden Banknoten um mehr als das Doppelte auf drei Milliarden Peseten; außerdem wurde die Ausgabe von Schuldscheinen in Höhe von einer Milliarde genehmigt. Spanien konnte eine große Anzahl Auslandsschuldanleihen nationalisieren und den hohen Anteil ausländischer Kapitalien an der Eisenbahn zurückkaufen. Die Wechselkursverhältnisse änderten sich im Kriegsverlauf zugunsten der Pesete. In den 1920er Jahren versuchte Primo de Rivera, den hohen internationalen Kurs der Pesete aufrechtzuerhalten. Seit Mitte der 1920er Jahre strömten viele hundert Millionen Peseten aus dem Ausland nach Spanien zurück, da man in internationalen Börsenkreisen mit einer Aufwertung der Pesete spekulierte. Als diese jedoch nicht eintrat, sank die Notierung erneut (seit Anfang 1928). Außerdem wurden die Auslandsgelder (mindestens 800 Millionen Peseten) wieder abgezogen. Die Regierung konnte trotz staatlicher Intervention die Preisinflation und Abwertung der Pesete nicht mehr in den Griff bekommen. Während der Republik waren die Träger der äußeren Währungspolitik für die allgemeinen Richtlinien die im neuen Notenbankgesetz von 1931 errichtete Kommission zur Überwachung der Wechselkurse (Junta interventora del cambio exterior) und für die tägliche Geschäftsführung das im Sommer 1930 eingesetzte Devisenbewirtschaftungsamt Centro Oficial de Contrataciön de Moneda, die beide den Weisungen des Finanzministeriums unterstanden. Variable Devisenkurse ermöglichten 1921-1935 eine relativ große Stabilität der inneren Preise. Erst 1928 hatte der Staat in der Regelung des Pesetenwertes die Initiative ergriffen; da die Notenbankleitung aber die Weisungen des Finanzministeriums nur mit Widerstand ausführte, übertrug das neue Notenbankgesetz dem Staat die Leitung der äußeren Währungspolitik. Die innere Währungspolitik, besonders hinsichtlich der Kreditgewährung, trug und entschied der Banco de Espafia. Dieser war verpflichtet, der Staatskasse zinslose Vorschüsse zu gewähren, deren Gesamtbetrag bis auf 12 % der Ausgabenseite des Haushaltvoranschlags steigen konnte. Infolge der dauernd ungünstigen Kassenlage der Zweiten Republik war die Regierung auf die zinslose Kreditgewährung angewiesen. Die Kreditgewährung an Private wurde nach 1931 planmäßig eingeschränkt, nachdem sich im ersten Republikjahr die Gesamtkredite an Private auf über 4,6 Milliarden Peseten erhöht hatten. Während des Bürgerkrieges wurden die beiden Zonen auch finanz- und währungspolitisch getrennt. Bereits am 12. November 1936 führte Franco für die in seinem Herrschaftsbereich zirkulierenden Noten den Abstempelungszwang ein; im März 1937 ließ er neue "nationale" Banknoten emittieren. Die republikanische Pesete war einer dauernden Kursverschlechterung unterworfen, die verschiedene Ursachen hatte: Die republikanische Regierung setzte die Außenhandels- und Devisenkontrolle nicht ausreichend zur Kursstützung ein; sie betrieb die Kriegsfinanzierung — weit mehr als Franco — mit dem Mittel der Notenausgabe, ersetzte im Oktober 1936 die umlaufenden Silbermünzen durch "Silberzertifikate" in unbegrenzter Emissionshöhe und wirkte dem Mangel an Scheidegeld durch Abgabe neuer Münzen entgegen; hinzu traten die Notgeldemissionen lokaler Stellen. Der Banknotenumlauf nahm im republikanischen Gebiet von 3,4 auf 16,6 Milliarden Peseten zu, während gleichzeitig der Goldvorrat von 2,2 Milliarden auf Null sank. Demgegenüber verstanden es die nationalen Machthaber, durch Devisenbewirtschaftung, Außenhandelsüberwachung, Verbot der Ein- und Ausfuhr von Banknoten und des Hortens von Silbermünzen
Staat und Wirtschaft
267
sowie durch Beschlagnahme von Devisen und ausländischen Wertpapieren, durch weitgehendes Festhalten an Vorkriegspreisen und strikte Kontrollen der Notenausgaben eine Stabilisierung der "nationalen" Pesete herbeizuführen. In der Nachkriegsphase war die Regierung gezwungen, zur Finanzierung ihrer Industrialisierungspolitik ständig auf den Kapitalmarkt zurückzugreifen und schließlich den Banco de Esparia zu autorisieren, die Geldmenge zu vermehren, was zu einer enormen Inflationsrate führte. Die folgende Tabelle macht den Zusammenhang von Geldumlauf und Preisentwicklung deutlich (Tab. 9). Tab. 9: Staatsschuldenemission, Geldumlauf und Preisentwicklung 1950-1958 Jahr
Emittierte Staatsschuld
1950
8,17
32,00
100
100
1951
5,95
36,60
112
128
1952
10,42
38,89
121
129
1953
9,82
39,19
122
138
1954
10,12
43,45
136
139
1955
16,72
47,61
148
145
1956
19,99
56,45
176
158
1957
11,46
67,33
210
184
1958
8,09
73,33
228
202
Geldmengenumlauf (Milliarden Peseten)
Index des Index der Geldmengenumlaufs Großhandelspreise
1957 wurde zur Bremsung der Inflation eine Erhöhung des Zinssatzes von 4,25 auf 5 %, die Begrenzung spekulativer Geschäfte und eine Abwertung der Währung auf 42 Peseten pro Dollar verfügt. Bis 1959 bestanden verschiedene offizielle Wechselkurse. In jenem Jahr wurde die Parität der Pesete im Einklang mit dem Internationalen Währungsfonds geändert (0,0148112 g Feingold, d. h. 1 Dollar = 60 Peseten). Danach war der Devisenkurs stabil. 1974 führte Spanien das Floaten des Wechselkurses ein und hob damit die Bindung an den Dollar auf. Das bis zur Zweiten Republik gültige Steuersystem ging auf die Bestimmungen von 1900 des Ministers Fernändez Villaverde zurück, der seinen Verordnungen wiederum die Steuerreform Mon-Santilläns von 1845 zugrunde legte. Das Hauptproblem war der hohe Anteil indirekter und der niedrige Prozentsatz direkter Steuern. Obwohl die Republik die progressive Einkommensteuer einführte, war der Steuersatz so gering (1 %-7,7 %), daß die Reform 1932) keine erwähnenswerten Auswirkungen hatte. Vor allem in der Franco-Ära vertiefte das Steuersystem die Ungleichheiten im Verteilungssystem weiter. Der Anteil des gesamten Steueraufkommens am BSP schwankte stets bei etwa 12 %. Gemessen am Entwicklungsgrad der spanischen Wirtschaft war dies eine der niedrigsten Steuerlastquoten der Welt. Der Handlungsspielraum des Staates bei der Befriedigung von Kollektivbedürfnissen war
268
XI Die Wirtschaft in der Neuzeit (bis 1975)
dadurch stets stark eingeengt. Auch in der Franco-Ära machten die direkten Steuern nur etwa 30% des gesamten Steueraufkommens aus. Die veranlagte Einkommensteuer, die die Einkünfte der Selbständigen (und somit die Verdienste der größten Einkommensbezieher) belastete, erbrachte nicht einmal 2% des gesamten Aufkommens. Der überdurchschnittlich hohe Anteil indirekter Steuern am Gesamtsteueraufkommen hat besondere Kritik erfahren, da die Verbrauchssteuer für die Masse der Bevölkerung eine schwere Belastung darstellte. Das Gewicht dieser Steuern wird am Staatshaushalt deutlich: Der Anteil der indirekten Steuern an den gesamten Budgeteinnahmen lag bei 60%. Direkte Steuern stellten dagegen nur rund 25% der Einnahmen. Eine der ersten Aktionen des Opus Dei nach dem Regierungsantritt 1957 war eine Steuerreform gewesen, deren einziger Zweck jedoch in der Erhöhung der Staatseinnahmen lag. Eine weitere Reform folgte 1964. Keine der beiden änderte etwas an der starken Steuerregression. Die Meistverdienenden zahlten nach wie vor überproportional wenig Steuern. Für Unternehmer war das franquistische Spanien besonders attraktiv: In bestimmten Regionen gewährte die Regierung erhebliche Steuererleichterungen für die Gründung und Erstausstattung eines Betriebes, die bis zu 95 % reichen konnten. Für Ausrüstungsgüter, die nicht im Lande hergestellt wurden, brauchten weder Zölle noch Einfuhrsteuern gezahlt zu werden. Für die ersten fünf Jahre galt völlige Abschreibungsfreiheit. Kredite, die aus dem Ausland stammten, waren von der Kapitalsteuer befreit. Unter Ministerpräsident A. Suärez wurde 1977 eine umfassende Steuerreform in Angriff genommen. Mit der Reform sollten das veraltete und ungerechte Steuersystem verbessert, die Steuerpflicht eingedämmt, hohe Einkommen und große Vermögen stärker belastet sowie dem Staat größere Einnahmen verschafft werden. 1979 wurde die Steuerverwaltung reorganisiert. Die direkten Steuern bestanden danach im wesentlichen aus der allgemeinen Steuer auf das Einkommen natürlicher Personen und der Körperschaftssteuer; die früheren Proportionalsteuern wurden abgeschafft. Die neue Einkommensteuer hatte einen progressiven Satz von 15 % bis 65,51 %. Bezüglich der indirekten Steuern wurde das Mehrwertsteuersystem eingeführt.
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270
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
1.
271
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
In den auf Francos Tod folgenden Jahren standen die politische Reform, die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft sowie die Regionalisierung des Landes eindeutig im Vordergrund aller Regierungsbemühungen; demgegenüber wurde die Sanierung und Modernisierung der Wirtschaft sträflich vernachlässigt. Der gesamte ökonomische Sektor, der in den Schlußjahren des Franquismus ohnehin in einer tiefen Krise steckte, bedurfte dringend einer Radikalkur: Die Inflationsrate hatte ständig zugenommen (1976: rund 20%; 1977: rund 30%), die Industrieproduktion stagnierte, wilde Streiks lähmten den ohnehin ins Stocken geratenen Produktionsprozeß und bescherten dem Land pro Jahr weit über 100 Millionen verlorener Arbeitsstunden, das reale Wirtschaftswachstum sank, die Auslandsverschuldung kletterte - infolge der verteuerten Erdölimporte und der stagnierenden Exporte - immer höher, das Handelsbilanzdefizit nahm zu, die Arbeitslosigkeit überschritt 1977 die Millionengrenze, die industriellen Investitionen schrumpften. Der Übergang in die Demokratie fiel in Spanien mit der durch den Ölpreisschock ausgelösten Weltwirtschaftskrise der 70er Jahre zusammen; die spanische Wirtschaft, vor allem die Industrie, war wenig anpassungsfähig und auf die einsetzende Strukturkrise nicht vorbereitet. Plötzlich sahen sich Spaniens Wirtschaft und Gesellschaft dem Problem der Arbeitslosigkeit, einer hohen Inflation und einem überdimensionierten Defizit im Staatshaushalt ausgesetzt. Die sozialen Auseinandersetzungen nahmen schlagartig zu und erhöhten die Regierbarkeitsprobleme während der Transition. Der industrielle Umstrukturierungsplan der sozialistischen Regierung sah nach 1982 die Schließung vieler Fabriken, zahlreiche vorzeitige Ruhestandsversetzungen und Arbeitsplatzabbau vor. Hinzu kam, daß die Lösung politischer Probleme in jenen Jahren absolute Priorität vor der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Staatsverschuldung und den industriellen Strukturveränderungen besaß. Weitgehende wirtschaftspolitische Abstinenz und die politische Schwäche der Regierungen in der transiciön trugen zur Verschärfung der Wirtschaftskrise bei: Bis 1984 kann man von einer tiefen Depression sprechen. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandprodukts waren niedrig bis negativ, die Investitionen und die Beschäftigungen gingen im internationalen Vergleich überdurchschnittlich zurück, die Preissteigerungsraten waren hoch, das Haushaltsdefizit stieg weiter an. Die Wirtschaftslage verbesserte sich erst ab 1985 deutlich: Die Investitionen und die Beschäftigung nahmen wieder zu, die Inflationsrate und das Haushaltsdefizit gingen deutlich zurück, die Wachstumsraten des realen Bruttoinlandprodukts schnellten erneut in die Höhe. Die seit 1973 drastisch angestiegene Arbeitslosenrate konnte allerdings nicht wesentlich reduziert werden. Daß in den Jahren der transiciön die Inflation derart zunahm, hing - neben anderen Ursachen - mit den Streiks und Arbeitskonflikten zusammen, die die realen Lohnstückkosten im internationalen Vergleich in die Höhe schnellen ließen. Das Haushaltsdefizit wie-
Tab. 10: Inflationsrate Spaniens 1975-2005 1975
14,1
1983
12,2
1991
5,5
1999
2,2
1976
19,8
1984
9,0
1992
5,3
2000
3,5
1977
26,4
1985
8,2
1993
4,9
2001
2,8
1978
16,5
1986
8,3
1994
4,3
2002
3,6
1979
15,6
1987
4,6
1995
4,3
2003
3,1
1980
15,2
1988
5,8
1996
3,2
2004
3,1
1981
14,4
1989
6,9
1997
1,9
2005
3,4
1982
14,0
1990
6,5
1998
1,8
Graphik 4: Entwicklung der Inflation 1962-2005 30 Tod F an. ° S 25 -
Wahlsieg UCO Moncloa-Pakte
Erste Ölkrise
_. e' 20 -
Maastricht.Vertrag
Islamistische Attentate
Rücktritt von Suirez
C
c 15 o
Zweiter Wahl» sieg UCO
.47.0
CU 1 0 .1..
Beitritt zur EG
Wahlsieg P SOE Wahlsieg PP
.--------._ Generalstreik
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62
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derum ist auf die außerordentliche Ausweitung der Staatsausgaben zwischen 1978 und 1983 zurückzuführen; in jenen Jahren erfuhren die Staatsausgaben eine durchschnittliche Jahressteigerung von 24,9 %, wobei es sich vor allem um konsumlive Ausgaben und um öffentliche Subventionen für Unternehmen handelte. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise nach 1975 sowie das deutliche Interesse der politischen und gewerkschaftlichen Kräfte, die entstehende Demokratie zu festigen und einen möglichen autoritären Rückschlag zu verhindern, führten bald zu einer Politik der Pakte und Übereinkommen, die eine deutliche "Bremswirkung" auf die Streikfreudigkeit der Arbeiter ausübten: Nach den Parlamentswahlen vom Juni 1977 nahm die Anzahl der Streikenden deutlich ab, stieg allerdings nach der Verabschiedung der Verfassung, als die Verteilungskämpfe härter wurden und politisch die Demokratie abgesichert zu sein schien, erneut deutlich an. Diese Streikaktivitäten standen aber überwiegend in wirtschaftlichen Bezügen und hielten sich zumeist im Rahmen üblicher Arbeitskampfmaßnahmen. Seit 1980 läßt sich
272
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
feststellen, daß die soziale Konzertation (Abschluß tariflicher Mantelverträge und Beschäftigungsabkommen) zu einer deutlichen Reduktion an verlorenen Arbeitsstunden (im Vergleich zur zweiten Hälfte der 70er Jahre) geführt hat. Auch die stets prekärer werdende Arbeitsmarktsituation dürfte zu einer Eindämmung der Streikfreudigkeit beigetragen haben. Den politisch verantwortlichen Kräften war klar, daß langfristig eine Umstrukturierung der Industrie erforderlich sein würde, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen wiederherzustellen. Während jedoch die UCD-Regierungen es bei isolierten Maßnahmen beließen, die vor allem zum Abbau von Arbeitsplätzen führten, betrieben die Sozialisten seit ihrem Regierungsantritt (1982) eine kohärente und längerfristig angelegte Industriepolitik. Die industrielle Umstrukturierungspolitik der PSOE-Regierungen setzte sich das Ziel, Ressourcen an Kapital und Arbeit von Krisensektoren in zukunftsträchtige Industrien zu transferieren. De-Industrialisierung und Re-Industrialisierung liefen somit parallel, die Volkswirtschaft sollte "modernisiert" und wettbewerbsfähig gemacht werden. Dabei wurde das Ziel der Vollbeschäftigung der Revitalisierung der privaten Investitionen untergeordnet. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Verstärkung sozialer und regionaler Unterschiede sowie der schließlich (1988) zustandegekommene Bruch zwischen Regierung und sozialistischer Gewerkschaft UGT trüben im sozialen Bereich ganz erheblich die makroökonomische Erfolgsbilanz der Regierung. Bei der Gegenüberstellung von Erfolgen und Defiziten der PSOE-Politik der 80er Jahre wird deutlich, daß Spaniens Sozialisten die Restriktionen des Weltmarkts und den Modernisierungsdruck durch den EG-Beitritt (1986) als handlungsbestimmend betrachtet haben. Dementsprechend konzentrierte sich die Politik auch in einer ersten Phase auf die Modernisierung der nationalen Wirtschaft, und erst für eine zweite Etappe war der Aufbau eines Wohlfahrtsstaates vorgesehen. Die Konzentration der (neo-)liberalen PSOE-Wirtschaftspolitik auf den Markt verwies Umverteilungsvorstellungen deutlich an die zweite Stelle der regierungspolitischen Ziele, während die gesamtwirtschaftliche Strategie sich primär an der Inflationsbekämpfung, der Stabilisierung der Leistungsbilanz und der Eindämmung des Defizits im öffentlichen Sektor (etwa durch Rationalisierung und Teilprivatisierung) orientierte. Die gesamte Epoche der PSOE-Regierungstätigkeit (1982-1996) läßt sich unter zwei Rubriken zusammenfassen: Sozial- und wirtschaftspolitisch ging es um eine längst überfällige Modernisierung, d.h. um die erforderliche strukturelle Anpassung an die Weltwirtschaft; außen- und sicherheitspolitisch standen zuerst der Eintritt in die Europäische Gemeinschaft und der Verbleib in der NATO, später dann die Integration in die supranationalen Organisationen der westlichen Hemisphäre zur Debatte. In beiden Bereichen sollte es zu erheblichen Friktionen und Widersprüchen kommen. Der ökonomische Modernisierungsschub in der Ära Gonzälez war gewaltig: Das Bruttoinlandprodukt Spaniens stieg seit Mitte der 80er Jahre im Jahresdurchschnitt um 2,9% (EUDurchschnitt: 2,4%), die Inflationsrate konnte halbiert werden, die Devisenreserven vervierfachten, der Außenhandel verfünffachte, die jährlichen Auslandsinvestitionen verachtfachten sich. Das Wohlstandsniveau der Bevölkerung wurde spürbar erhöht. Die neoliberale Grundorientierung der Wirtschaftspolitik zog in der zweiten Hälfte der 80er Jahre einen regelrechten (nationalen wie internationalen) Investitionsboom nach sich. Das Land wurde zu einem der begehrtesten Märkte in Europa, die Wirtschaft wuchs überdurchschnittlich schnell. Was Gonzälez, vor allem unter den älteren Spaniern, seine Stamm-
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
273
Karte 20: Wirtschaftskrise und industrielle Umstrukturierung (1975-1985) Camargc Corrales de Buelna it2C12ao M Pontes de Garcia Rodriguez s anLos m, de Ni,„ 3asauri Narb Figueras n11. 1.1.. morebleta FRA KREICH I N via iibn Azkoitia Ferrol -1 Azpeitta . »He Do stla-San Sebastian Ares Eisela Tre e, AST 3 ,Ö9AS ertnint GALICIA ryatl ' "'t6 c,',,,,,e(ig. 16,36% 2z14 % KADI Ei weamplonailrub 3 , 10vrense Vigo AVARRA 19,53 % CA • (AA 31,07% Sabade dell. '-^5 .1 7iit ' dela Martorelles CASTILLA Y LE—N Ca p vanon ,;! rdedeu 1120 , % anollers C Ibisballira adalona Atlantischer R,,, ......—e—Barcelona A.. i.de,ans ARAGDN Ozean ,2.ACIR D 20,26 % T. ona Esplugues de Llobregat San Sebastian de los R4so ifr:er Vilafranca del Renees A -, de "Ire id 131 liya d'Ulxö .,,, ela-Vil erde -b. PORTUGAL I gunto/Sagunt 0 ucol Valencia EXTRE M ADURA Silla I CAS IL -LA MAN. A 213% ,7 1 2%
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wählerschaft einbrachte, war der unter seiner Regierung deutlich gestiegene Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung. Vor allem auf das flache Land brachte er (einige) Segnungen des Wohlfahrtsstaates: Renten, Arbeitslosengelder, staatlicher Gesundheits-
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
274
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
dienst sind Errungenschaften, die mit der Regierung des PSOE in Zusammenhang gebracht werden.
Graphik 6: BIP Spaniens 1986-2004 zu Marktpreisen (Jahr 2000 = 100)
Graphik 5: Entwicklung des BIP pro Kopf in Spanien 1825-2005 (in internationalen Dollars von 1990)
Februar 1992
Mai 1998
Dezember 2005
Unterzeichung des Maastricht-Vertrags
Erfüllung der Konvergenz- kriterien für den Euro
Verlust Spaniens an europäischen Zuwendungen als Folge der realen Konvergenz und der EU-Beitritte der osteuropäischen Länder
September 1992
15.000
Krise des Europäischen Währungssystems. Abwertung der Pesete.
Juni 1989
Beitritt Spaniens zum Europäischen
Juni 1998
Gründung der Europäischen Zentralbank
Dezember 1992
Währungssystem
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Januar 1986
Beitritt Spaniens zur E
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1975
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Graphik 5 läßt klar drei Phasen der BIP-Entwicklung pro Kopf erkennen: Die erste reicht von 1820 bis 1870, die zweite von 1870 bis 1950, die dritte von 1950 bis heute. Es wird deutlich, daß der entscheidende Modernisierungssprung der spanischen Wirtschaft in den 1950er Jahren einsetzte (1959 Stabilisierungsplan) und – mit Schwankungen und einer vorübergehenden Rezession nach 1975 – bis heute andauert. Die Ära Gonzälez weist allerdings auch eine andere Seite auf: Bei Regierungsantritt der Sozialisten (1982) betrug die Staatsverschuldung 31,4% des Bruttoinlandproduktes, am Ende ihrer Regierungszeit (1996) lag sie bei 65% – trotz langjährigen Wachstums, milliardenfacher Unterstützung aus der Brüsseler EU-Kasse und eines stark gestiegenen Steuerdrucks. Hatte die Vorbereitung auf das "Feierjahr" 1992 im Lande selbst wie im Ausland eine regelrechte Spanien-Euphorie bewirkt, so war schon vor Ablauf des Jubeljahres der Einbruch erfolgt, von dem sich das Land nur allmählich erholte. Im Hinblick auf die Maastrichter Konvergenzkriterien blieb die spanische Wirtschaft deutlich hinter den Mindestanforderungen zurück, eine Teilnahme an der vorgesehenen Währungsunion erschien lange Zeit unwahrscheinlich. Vor allem konnte das Hauptproblem im Sozialbereich nicht gelöst werden: die hohe Arbeitslosigkeit, die (je nach Berechnungsgrundlage) zwischen 16 und 22 % lag. Arbeitslosigkeit und Sozialabbau für die Verlierer des ökonomischen Modernisierungsprozesses waren auch die Hauptgründe, weswegen sich zuerst die Gewerkschaften und allmählich immer breitere Schichten der Gesellschaft von der Regierungspolitik abwandten. Die Regierung mußte zumindest partiell Konzessionen machen. Das Ende der Sparpolitik führte auch zum Zusammenbruch der spekulativen "Kasino-Wirtschaft", ausländische Anleger zogen erschreckt ihre Gelder ab, die Pesete verlor an Wert, eine Welle von Pleiten und
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Entlassungen erfaßte das Land. An diesen Schwierigkeiten zerbrach schließlich das Reformbündnis zwischen Arbeitern und urbaner Mittelschicht, das über zehn Jahre lang die Grundlage "felipistischer" Politik gewesen war, nachdem die besserverdienenden Angestellten nicht länger bereit waren, mit höheren Steuern, steigenden Zinsen und stagnierenden Renten das soziale Netz für die Verlierer der sozialistischen Modernisierung zu finanzieren. 1996 gelang es schließlich den Konservativen, die Regierung zu übernehmen. Allerdings fiel der Wahlsieg des PP nur äußerst knapp aus; um regieren zu können, bedurfte der neue Regierungschef Jos6 Marfa Aznar der parlamentarischen Unterstützung durch die bürgerlichen Nationalisten Kataloniens (CiU), des Baskenlandes (PNV) und der Kanarischen Inseln (CC). Die erforderliche Rücksichtnahme auf die nationalistischen Parteien der Autonomen Gemeinschaften führte dazu, daß die neue konservative Regierung keine spanisch-nationalistische Politik treiben konnte, wie das große Teile der Partei und auch die Spitzenkandidaten im Wahlkampf angekündigt hatten. Auch die versprochenen Steuersenkungen für die Wohlhabenden, die eine wirksame Defizitbekämpfung erschwert hätten, konnten nicht durchgesetzt werden, da die Katalanisten dafür nicht zu haben waren. Stattdessen erhöhte die Regierung mehrere indirekte Steuern für Verbrauchsgüter (Tabak, Alkohol). Die eindeutig europäische Einstellung der katalanischen Partei und die außenpolitischen Erfahrungen des katalanischen Regierungschefs Pujol verhinderten eine allzu rechtsgerichtete Wirtschafts- und Sozialpolitik. Spaniens Wirtschaftsverbände und Großbanken zeigten sich mit der politischen Wende in Madrid zufrieden; insbesondere lobten sie die wirtschaftsliberalen Reformen – etwa die Einleitung eines umfangreichen Privatisierungsprogramms – und die "ausgleichende Dialogbereitschaft" mit den Sozialverbänden.
276
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Das Regierungsprogramm Aznars enthielt vier Schwerpunkte: Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze; Vertiefung der regionalen Autonomie; Stärkung der demokratischen Institutionen; Fortführung des europapolitischen Engagements. In der Europapolitik sollte der Erfüllung der Maastrichter Konvergenzkriterien zur Teilnahme an der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion oberste Priorität eingeräumt werden. Bei seinem Regierungsantritt fand Aznar positive volkswirtschaftliche Zahlen vor: Die Aktienkurse waren auf einem historischen Höchststand, die Zinsen fielen auf das niedrigste Niveau seit mehreren Jahren, die Pesete stieg auf ein neues Jahreshoch. Mit rund 2,2 Millionen arbeitslos gemeldeten Personen erreichte die Arbeitslosigkeit Mitte 1996 den niedrigsten Stand seit 1982. Zurückgeführt wurde die Senkung der Arbeitslosenzahlen auch auf die Arbeitsmarktreformen der Regierung (drastische Liberalisierung des Arbeitsrechts, Legalisierung von "Lehrlingsverträgen" mit Taschengeldbezahlungen). Trotz der beeindruckenden Wirtschaftzahlen blieb die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit das ungelöste Problem des spanischen Wirtschaftslebens. Um die Jahrhundertwende beschäftigte die spanische Wirtschaft mit rund 12,5 Millionen Personen eine halbe Million weniger als 1974. Die spanische Bevölkerung war in diesem Zeitraum aber von 35,4 auf 39,2 Millionen Personen, also um knapp vier Millionen gewachsen; der Arbeitsmarkt hatte um 2,8 Millionen Personen zugenommen, die Beschäftigung jedoch war rückläufig. Das gewaltige Anwachsen der poblaciön activa, der Arbeit ausübenden und Arbeit suchenden Bevölkerung, ist vor allem auf die massive Eingliederung der Frauen in den Arbeitsmarkt zurückzuführen. Ende der 70er Jahre bestand die Arbeitsbevölkerung aus 9,2 Millionen Männern und 3,1 Millionen Frauen, zusammen somit 12,3 Millionen Personen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren es über 16 Millionen, wobei die Anzahl der Männer mit 9,8 Millionen fast gleichgeblieben war, während die der Frauen sich verdoppelt hatte; von diesen inzwischen sechs Millionen Frauen waren fast zwei Millionen arbeitslos. Mit 14% lag die Frauenarbeitslosigkeit mehr als doppelt so hoch wie die der Männer (6,5%). Ein Großteil der neugeschaffenen Arbeitsplätze war zeitlich begrenzt. Rund 38% aller Verträge hatten kurze Laufzeiten; in der Land- und der Bauwirtschaft betrugen die Zeitarbeitsverträge sogar 63% bzw. 62 %. Die Arbeitsmarktreformen der konservativen Regierung haben das Arbeitsrecht so weit liberalisiert, daß außertarifliche Arbeitsverträge, Zeitund Praktikantenanstellungen unterhalb des Mindestlohns ermöglicht wurden. Von den Gewerkschaften wurden die neuen Arbeitsverträge auf Zeit als contratos basura ("Müllverträge") vehement bekämpft; andererseits ermöglichten sie vielen den Neu- oder Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt. Die neu zugelassenen Arbeitsvermittler spielten dabei eine wichtige Rolle (vgl. hierzu ausführlicher Kap. XV, 2: Gesellschaftliche Entwicklungen). Mitte 1999 waren 9,5% der Erwerbsbevölkerung (1,55 Millionen Spanier) arbeitslos gemeldet — die niedrigste Zahl seit 1979. Nach wie vor bestanden jedoch erhebliche strukturelle Probleme im Bereich der regionalen und der Jugendarbeitslosigkeit. Wie ernst die Situation der Jugendarbeitslosigkeit war, ließ das Verhalten von Regierungschef Aznar auf dem Luxemburger EU-Beschäftigungsgipfel von 1997 erkennen: Er war nicht bereit, den Gipfelbeschluß zu unterzeichnen, demzufolge sich jedes Land verpflichtete, Jugendlichen unter 25 Jahren und Langzeitarbeitslosen einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz zu garantieren. Sein Argument lautete, Spanien könne eine derartige Maßnahme nicht finanzieren. Damit erwies sich dieses soziale Problem als das gravierendste in Spanien; Madrid hatte
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
277
andere, ökonomische EU-Bedingungen wie Defizitbegrenzung, Inflation oder Zinssätze akzeptiert, um die Euro-Prüfung zu bestehen. Im Sozialbereich fiel demgegenüber die außerordentliche Zurückhaltung der konservativen Regierung auf. Durch Ausgabenkürzungen, etwa durch niedrigere staatliche Investitionen, durch geringere Gehälter im Öffentlichen Dienst, durch Verkauf von Staatsfirmen und durch Gebührenerhöhungen (für Geldspielautomaten, Flughafensicherheit, Gesundheitskontrollen, Lizenzgebühren, Fernmeldebetreiber, Spezialsteuern auf Versicherungsprodukte und ähnliches mehr) wurde das Defizit auf die von Maastricht erlaubten drei% des Inlandproduktes gedrückt. Neben Streichungen bei öffentlichen Investitionen wurden die Subventionen für defizitäre Staatsbetriebe stark gekürzt; zahlreiche Privatisierungen staatlicher Betriebe wurden vorgenommen. Die Sparanstrengungen konzentrierten sich auf die drei Ausgabenposten Verwaltung, Unternehmenssubventionen, öffentliche Investitionen. Die Zustimmung der baskischen Nationalisten zum Staatshaushalt erhielt die Minderheitsregierung Aznar, nachdem sie der Regierung des Baskenlandes das Recht zugestand, "spezielle Steuern" (auf Tabak, Alkohol, Mineralöl) in ihrer Region selbst zu erheben. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Franco-Diktatur hatte das Land den Anschluß an Europa auch in den Kategorien realer Konvergenz geschafft. Graphik 7 läßt deutlich werden, wie nahe inzwischen das Durchschnittseinkommen der Spanier dem EU-Mittel ist. Der Transformationsprozeß von einer ebenso abgeschotteten wie zurückgebliebenen Staatsverwaltungswirtschaft zur wettbewerbsfähigen, offenen Marktwirtschaft war allerdings lange und mühsam; und ohne die massive Hilfe und Rückendeckung der Europäischen Union wären Wohlstandssprung und Wirtschaftswandel kaum möglich gewesen. Auch in der Regierungszeit Aznars blieb Spanien der größte Nettoempfänger von EU-Mitteln (vor allem aus dem Kohäsions- und Strukturhilfefonds). Die Süderweiterung der Gemeinschaft hat sich im Rückblick für alle Beteiligten gelohnt (zum Verhältnis Spanien-EG/EU vgl. ausführlicher Kap. IX, 2: Spanien und die EG/EU). Hatte die erste Reform nach Übernah100 me der Regierung durch die Konservativen sich vor allem auf steuerliche Aspekte EU 25 (=Basis 100) bezogen — es wurden fiskalische Anreize zur Förderung der Investitionstätigkeit geschaffen — und eine Senkung der Kapi90 talgewinnsteuer zur Folge gehabt, so wurde im Februar 1997 ein zweites wirtschaftliches Liberalisierungspaket verabschiedet. Diesmal ging es im wesentlichen um die Einführung von mehr Wettbewerb 80 in zahlreichen zuvor geschützten Wirtschaftssektoren wie dem Boden-, dem i !! Fernmelde-, dem Energie- oder dem TransEU 15 (=Basis 100) ...
Graphik 7: Einkommen pro Kopf 70 88
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(in % des europäischen Durchschnitts; EU = 100)
278
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
portwesen; mittelfristig sollten die Preise in diesen Dienstleistungsbereichen gesenkt und Arbeitsplätze geschaffen werden. Aus wahltaktischen Gründen blieben allerdings wichtige Bereiche wie der Arbeitsmarkt und das Gesundheitswesen von der Offensive ausgeklammert. Der bis dahin staatliche Telekommunikationskonzern Telefönica de Espafia befindet sich seit 1997 in privaten Händen. Für die Regierung waren die Privatisierungen nicht nur ordnungspolitisch überfällig, sondern auch ein Instrument zur Haushaltssanierung. Kurz danach kündigte Ministerpräsident Aznar den "völligen Ausverkauf aller Staatsbeteiligungen" an. "Spanien wird in das 21. Jahrhundert ohne Staatsunternehmen eintreten." Sein Land brauche einen weiteren "Liberalisierungsschub"; nur ein starker Privatsektor garantiere dauerhaft Wohlstand und Wachstum. Die Privatisierungsbilanz der konservativen Regierung ist beeindruckend. Das Industrieministerium meldete für die Jahre 1996 und 1997 staatliche Beteiligungsverkäufe im Volumen von umgerechnet mehr als 15 Milliarden €. Mit Repsol (Öl), Telefönica (Telekommunikation), Aceralia (Stahl) und Argentaria (Großbank) wurden vier Schlüsselkonzerne Spaniens binnen weniger Monate voll privatisiert. Im April 1998 begann auch die Privatisierung des 350 Jahre alten staatlichen Tabakunternehmens Tabacalera. Selbst das von Franco so hoch geschätzte Aluminiumkonglomerat des Staates wurde an die amerikanische Alcoa-Gruppe abgestoßen. Neben der Privatisierungsoffensive stand auch eine umfassende Deregulierung im Zentrum der Wirtschaftspolitik. Schlüsselmärkte wie Telekommunikation, Finanzen, Energieversorgung und Immobilien wurden von Regularien befreit und für den Wettbewerb geöffnet. Uralte Monopole im Tabak-, Transport-, Gas- und Telefongeschäft fielen. Selbst die Staatsholding Agencia Industrial del Estado wurde aufgelöst. Diese Holding sollte ursprünglich alle maroden Staatsbetriebe aus Krisenbranchen (Kohle, Stahl, Rüstung, Werften) am Subventionstropf durchfüttern. Fortan werde es für die Staatsbetriebe (mit Ausnahme des Steinkohlebergbaus) gar keine direkten Subventionen mehr geben, hieß es aus dem Industrieministerium. Spanien konnte ohne große Probleme die Maastrichter Konvergenzkriterien erfüllen. In den Jahren nach dem Machtantritt der Konservativen war die Wirtschaftsentwicklung Spaniens außerordentlich günstig. Die Währung hatte sich an den Märkten als stabil erwiesen, die Staatsverschuldung lag im Verhältnis zum Sozialprodukt unter dem EU-Durchschnitt, die Devisenreserven (56 Milliarden Dollar) hatten erheblich zugenommen. Die Stabilitätsfortschritte waren unverkennbar. Die Wirtschaft wuchs von 2,3% im Jahr 1996 auf 4 % im Jahr 1998. Auslandsgelder (vor allem aus der EU und den USA) strömten wieder massiv ins Land. Die Finanzwelt blickte mit großen Erwartungen der geplanten Währungsunion entgegen. Euroforia wurde zum Schlüsselwort an Spaniens Börsen, die Aktienkurse kletterten von einem historischen Rekord zum anderen, der Markt für Peseten-Auslandsanleihen boomte. Andererseits investierten die Spanier massiv im Ausland. Vor allem Lateinamerika wurde für spanische Unternehmen zum gelobten Kontinent. Mit einer spektakulären Serie von Übernahmen engagierten sich fast alle großen Konzerne Spaniens in den "lukrativen Wachstumsmärkten spanischer Zunge". Allein die fünf Gesellschaften Repsol (Öl), Telefönica (Telekommunikation), Mapfre (Versicherung), Banco Bilbao Vizcaya und Banco Santander (Banken) besetzten innerhalb kurzer Zeit Schlüsselpositionen der südamerikanischen Wirtschaft. Erklärtes Ziel war der Aufbau transatlantischer Verbundkonzerne für die hispanische
Staat und Wirtschaft: Umstrukturierung und Modernisierung
279
Welt. Im Sommer 1998 trafen allerdings die Asien- und die Rußlandkrise die investierenden Firmen, die Börse büßte den größten Teil ihrer Gewinne wieder ein. Trotzdem setzte die Madrider Börse 1999 auf den "Latino-Markt" und nahm den Handel mit iberoamerikanischen Titeln auf; die engen Wirtschafts- und Handelsbande zwischen Spanien und Lateinamerika sollten auf die Finanzmärkte übertragen werden. Zu den rapiden Veränderungen in der Wirtschaft der 90er Jahre gehörten auch die Bankfusionen. 1988 machten der Banco de Bilbao und der Banco de Vizcaya — alte Konkurrenten — den Anfang und fusionierten zum Banco Bilbao Vizcaya, der nach turbulenter Anfangszeit schließlich unter der geschickten Leitung von Emilio Ybarra eine beherrschende Position einnehmen sollte. Kurz danach folgten der staatliche Banco Exterior und die Corporaciön Bancaria de Esparia, die sich zu Argentaria zusammenschlossen. Die nächste große Fusion erfolgte zwischen dem Banco Central und dem Banco Hispano zum Banco Central Hispano, der allerdings große Überlebensprobleme hatte und sich schließlich mit dem Banco Santander, der zuvor Banesto geschluckt hatte, Anfang 1999 zum Banco Santander Central Hispano (BSCH) zusammenschloß. Im Oktober 1999 folgte schließlich noch der Zusammenschluß von Banco Bilbao Vizcaya mit Argentaria zum zweitgrößten Geldinstitut des Landes, dem Banco Bilbao Vizcaya Argentaria (BBVA). Aznar beendete seine Regierungszeit mit einem ausgeglichenen Staatshaushalt; hierzu hatten nicht nur Einnahmen aus Privatisierungen und die Sparmaßnahmen, sondern auch die EU-Hilfen beigetragen, die immerhin 1 % des BIP ausmachten (rund 8 Milliarden € pro Jahr). Zwischen 1987 und 2003 erhielt Spanien 85 Milliarden € aus den Fördertöpfen der Europäischen Union. Die Privatisierungen schwemmten in den Regierungsjahren des PP 33,5 Milliarden € in die Staatskasse. Auch die Arbeitsmarktsituation verbesserte sich in jenen Jahren erheblich: Betrug 1995 die Arbeitslosenquote noch 22,9%, so war sie 2004 auf knapp über 11 % gefallen; in dieser Zeit waren 4,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden. Die Gewerkschaften trugen durch Lohnzurückhaltung und Streikeindämmung erheblich zu den wirtschaftlichen Stabilitätserfolgen bei. (Erst in der zweiten Legislaturperiode des PP gingen die Gewerkschaften auf Konfrontationskurs, als sie auf eine 2002 dekretierte Arbeitsmarktreform mit einem Generalstreik reagierten.) Allerdings ließ die "Qualität" der geschaffenen Arbeitsplätze sehr zu wünschen übrig: Über 32 % waren Zeitarbeitsverträge von wenigen Monaten, die Berufsunfallquote war im europäischen Durchschnitt weit überdurchschnittlich hoch. Arbeitsplätze und Wohnungsnot sind seit langem die größten strukturellen Probleme der spanischen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei war die Bauwirtschaft der eigentliche Motor der ökonomischen Entwicklung. Der (auch durch niedrige Hypothekarzinsen bewirkte) Bauboom führte allerdings zu einer Kostenexplosion bei Wohnungen: Zwischen 1996 und 2003 stiegen die Preise pro Quadratmeter um 115%; im Landesdurchschnitt muß eine Familie 42 % ihres Monatseinkommens zur Abzahlung der Wohnungsdarlehen aufbringen. Die Wohnungspreise stiegen dreimal so schnell wie Löhne und Gehälter. Die spanische Gesellschaft trägt momentan eine Hypothekarschuldenlast von rund 526 Milliarden € vor sich her — mehr als das verfügbare Bruttoeinkommen Spaniens in einem ganzen Jahr. Die gesamte private Schuldenlast belief sich 2004 auf knapp 600 Milliarden €, fast 90 Milliarden mehr als das akkumulierte Privateinkommen aller spanischen Haushalte und ca. 75 % des spanischen BIP.
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
280
Die Wirtschaftsbereiche
Tab. 11: Wirtschaftsdaten Spaniens Bevölkerung (in tausend) 2005
44.109
Erwerbslose (in tausend) 2005
1.841,3
Produktionsstruktur (2004) in % des BIP — Landwirtschaft
3,1
— Energie
2,2
— Industrie
14,5
— Bauwirtschaft
9,7
— Dienstleistungen
60,4
— Nettosteuern
10,0
BIP zu Marktpreisen (in Mio. €) 2004
837.316
Bilanz Leistungsbilanz (in tausend €) 2005 — Handelsbilanz
—
8.197.408
—
6.466.366
— Dienstleistungsbilanz — Übertragungsbilanz
793.350 —
782.032
Außenhandel 215.291
— Exporte (in Mio. €) — Importe (in Mio. €)
—
245.532
— Saldo
—
30.241
Inflationsrate 2005 in %
3,4
Arbeitslosenquote 2005 in %
8,7
2.
Die Wirtschaftsbereiche
a) Der Primärsektor: Land-, Vieh-, Forst- und Fischereiwirtschaft Auch wenn die Bedeutung der spanischen Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen ist, erwirtschaftet sie (2004) immer noch 3,1 % des BIP und beschäftigt 5,9% der Bevölkerung, wobei die Schwankungen von Region zu Region sehr groß sind. Dabei läßt sich die Agrarlandschaft folgendermaßen gliedern: Den atlantisch beeinflußten, gebirgigen Nordsaum prägen grünlandbetonte Landschaften. In diesem "immerfeuchten" Spanien wird die Agrarstruktur durch Kleinbetriebe und Flurzersplitterung bestimmt, Rinderhaltung ist weit verbreitet. Im größten Teil des Landes herrscht
281
Trockenfeldbau vor (cultivo de secano); vor allem in den Zentralräumen muß sich der Anbau dem Wechsel von sommerlicher Hitze und winterlicher Kühle anpassen (Trockenbrachen). Hier wird die Agrarstruktur von Großbetrieben dominiert. Klassische mediterrane Leitkulturen des Trockenfeldbaus sind Getreide und Dauerkulturen wie Oliven- und Weinanbau, seit einigen Jahrzehnten auch Sonnenblumenanbau. Bei Oliven, Olivenöl und Wein zählt Spanien zu den weltweit größten Exporteuren. Der Trockenfeldbau ist traditionellerweise mit extensiver Schafhaltung (z.T. immer noch in Form von Transhumanz) und der Zucht von Kampfstieren verbunden. Der Bewässerungsfeldbau (cultivo de regadio) nimmt ca. 15 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche ein; er ist im wesentlichen auf den sommertrockenen Teil des Landes beschränkt. Dabei wird das Defizit an Niederschlägen durch Wasserzuleitung aus Grundwasservorräten oder aus Flüssen und den seit den 1950er Jahren zahlreich angelegten Stauseen (embalses) ausgeglichen. Im Landesinneren wurden zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 1982 mehr als 1,7 Millionen Hektar Bewässerungsfläche neu geschaffen. In diesen Gegenden werden Gemüse, Obst (Zitrusfrüchte), Futterpflanzen und Reis angebaut. Vor allem in den mediterranen Küstenebenen (Valencia) spielt der Bewässerungsfeldbau eine große Rolle. Im extrem semiariden Südosten des Landes gibt es seit einiger Zeit moderne Sonderformen des Bewässerungsfeldbaus; in der Provinz Almerla etwa nutzt man die lange winterliche Sonnenscheindauer und produziert in Gewächshäusern (invernaderos) mit Folienabdeckung hochwertiges Freilandgemüse, Obst und Schnittblumen, allerdings unter ökologisch höchst bedenklichen Bedingungen. Durch agrartechnologische Innovationen, vor allem durch wärmespeichernde und verdunstungshemmende Abdeckung der Anbauflächen, wurden die durchschnittlichen Anbaubedingungen erheblich verbessert. Die meisten Plastikgewächshäuser sind heute beheizbar, um kühle Temperaturen im Winter zu kompensieren. Zum Einsatz kommen vor allem billige nordafrikanische Arbeitskräfte. Die Erntetermine können im Durchschnitt um vier Wochen vorgezogen werden. Der Knappheit und dem hohen Preis des Wassers begegnet man mit kapitalintensiver Tropfbewässerung. Viele Gewächshäuser sind inzwischen computergesteuert, sodaß sich der Anbau immer mehr von der traditionellen Bodenpflanzung löst (Wagner 2001, 260). Ein wichtiges Element der Agrarpolitik bildet der "Nationale Plan für die Bewässerungslandwirtschaft" von 2002, der im Zusammenwirken mit dem "Nationalen Wasserplan" (Plan Hidrolögico Nacional) eine Ausweitung des Bewässerungsfeldbaus vorsieht. Das Hauptproblem besteht in der äußerst ungleichgewichtigen räumlichen Verteilung des Wassers, nachdem nur ein geringer Teil der Landesfläche auf niederschlagsreiche Gebiete (vor allem im Norden) entfällt, den weitaus größeren Teil hingegen trockene Gebiete ausmachen (besonders die östliche Mittelmeerküste und der Süden), wo die Nachfrage nach Wasser am größten ist (intensiver Bewässerungsfeldbau). Wasser ist daher seit längerem ein bedeutendes Handlungsfeld der Infrastruktur- und der Umweltpolitik. Verteilungskonflikte zwischen den Regionen sind an der Tagesordnung, die Interessenkonflikte zwischen wasserreichen und -armen Regionen haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Eine Korrektur der naturgegebenen hydrologischen Grundbedingungen ist durch die künstliche Überleitung von Wasser über die Grenzen der Einzugsgebiete hinweg möglich. Das größte und bekannteste Wasserbauprojekt dieser Art ist die Überleitung (trasvase) vom
282
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Die Wirtschaftsbereiche
Karte 21: Regionale Wasserbilanz der spanischen Flußeinzugsgebiete
Frankreich
5.323
:Barcelona
Überschuß Defizit hm' jährlich 0
100 200 300 km
283
dar. Durch großräumige Aufforstungen versucht man seit einigen Jahrzehnten, die Bodenerosion (und die extremen Überschwemmungen) zu verringern. Allerdings ist bis heute die Bodenerosion, die zur Desertifikation weiter Landstriche (vor allem im Süden und Zentrum des Landes) geführt hat, eines der alarmierendsten Umweltprobleme Spaniens geblieben. Das Land verliert pro Jahr mehr als eine Milliarde Tonnen Boden. Ursachen der Verwüstung sind übermäßige Abholzungen, Waldbrände, Überweidung, ackerbauliche Nutzung in ungeeigneten Hanglagen und chemische Überdüngung (Nohlen/Hildenbrand 2005, 352). Die Mechanisierung der Landwirtschaft, die in den 1960er Jahren einsetzte, führte dazu, daß leicht mechanisierbare Kulturen wie Weizen, Mais und Sonnenblumen auf Kosten traditioneller, handarbeitsintensiver Kulturen zunahmen. Im Rahmen der Mechanisierung erlebte die Landwirtschaft gewaltige Produktionssteigerungen, wobei sich auch ein verändertes Konsumverhalten der Verbraucher bemerkbar machte. Mit zunehmender Urbanisierung sank etwa die Nachfrage nach traditionellen Leguminosen (Bohnen, Kichererbsen), nach Schaf- und Ziegenfleisch. Dafür erlebten Produkte wie Milch, Rind- und Schweinefleisch, Früchte und Gemüse, pflanzliche Öle und Fette enorme Steigerungsraten. Zwischen 1960 und 1985 stieg zum Beispiel die Zahl der für die Schlachtung vorgesehenen Rinder und Schweine um das Fünfzigfache. Der landwirtschaftliche Transformationsprozeß führte auch zu einem betriebsstrukturellen Wandel. Bis 1984 kam es bei 20 % der ausgewiesenen Flächen zur Flurbereinigung und, damit verbunden, zur Zusammenlegung von Eigentumsparzellen. Damit entstanden in vielen Fällen rentable Betriebsgrößen. Der agrarwirtschaftliche Strukturwandel hatte zwar gewaltige soziale Folgen (etwa massenhafte Abwanderung vom Land), legte aber die Grundlage dafür, daß Spaniens Landwirtschaft den EG-Beitritt relativ gut bewältigen konnte. Tab. 12: Betriebsgröße, Betriebe und Nutzflächen 1995
r
Betriebsgröße in ha 50
absolut 1,3 Mio. 24,7 Mio. ha
Tabelle 12 läßt deutlich werden, daß der Kleinbetrieb zwar das dominante Element in der Agrarlandschaft ist, aber nur einen kleinen Teil der Nutzfläche ausmacht. Demgegenüber nimmt die Größenklasse über 50 Hektar nur wenige Prozentpunkte ein, allerdings mit dem bei weitem größten Anteil an der landwirtschaftlich genutzten Fläche. Als Spanien 1986 der EG beitrat, war absehbar, daß es zu einer Änderung der gemeinschaftlichen Agrarpolitik kommen würde. Immer weitere Ausgleichszahlungen und Subventionen waren nicht länger finanzierbar. In den Folgejahren kam es in der Gemeinschaft zu einer schrittweisen Rücknahme der Agrarsubventionen, wodurch die spanische Landwirtschaft einem besonders hohen Anpassungsdruck ausgesetzt wurde. In nur wenigen Jahren änderte sich die Agrarstruktur gravierend: Die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft sank rapide, die landwirtschaftlich genutzte Fläche ging von 20,4 Millionen Hektar (1985) auf 19,5 Millionen Hektar (1994) zurück, die ländliche Bevölkerung schrumpfte, die wirt-
284
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Die Wirtschaftsbereiche
schaftliche Wertschöpfung der Landwirtschaft nahm allerdings zu. Damit verbunden war eine grundlegende Umverteilung der Produktionsschwerpunkte. Seit dem EG-Beitritt des Landes ist der Trockenfeldbau rückläufig, wobei wegen der sommerlichen Trockenheit ohnehin nur 42 % der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche ackerbaulich genutzt werden. In den großen Ebenen überlebt der Trockenfeldbau auf großen, extensiv bewirtschafteten Flächen, bei Wechselfeldkulturen alterniert häufig Getreide mit Sonnenblumen, bei Dauerkulturen dominieren weiterhin (vor allem im Süden) Oliven- und Weinanbau. Rund 30 % der spanischen Landesfläche sind bewaldet, allerdings spielt die Forstwirtschaft keine große Rolle. Im mediterran-trockenen Landesteil haben die dehesas (mit Korkund Steineichen durchsetzte Heidelandschaften) wegen der dort praktizierten Schweinezucht eine gehörige wirtschaftliche Bedeutung; die schwarzen Schweine liefern den weltweit begehrten luftgetrockneten Schinken (jamön iberico). Weitaus bedeutender als die Forst- ist die Fischereiwirtschaft. Spanien verfügt über die größte Fischereiflotte der EU (knapp 15.000 Schiffe). Im Rahmen der Anpassung an EURichtlinien kam es allerdings nach 1986 zu einer deutlichen Reduzierung der Schiffszahl und der Bruttoregistertonnen. Mit Unterstützung durch EU-Subventionen wurde ein Plan zur Modernisierung und Anpassung der Fischereiflotte durchgeführt. Die wichtigen VereinKarte 22: Spaniens Wirtschaft Santande Cortribe-r• Lego
IPP
oPamplona
m" • )ANDORRA ,
barungen mit dem Nachbarland Marokko betreffen seit dem EG-Beitritt Spaniens die gesamte Gemeinschaft. 2001 scheiterten die Verhandlungen über ein neues Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko, wodurch die spanische Fischereiflotte hart getroffen wurde, da sie den Zugang zu den marokkanischen Fanggründen verlor (Nohlen/Hildenbrand 2005, 49). Zentrum der Fischkonservenindustrie ist Galicien.
b) Der Sekundärsektor: Industrie und Bauwirtschaft Seit dem EG-Beitritt Spaniens erlebt die Industrie des Landes eine zunehmende wirtschaftliche Einbindung in die globale Produktionskette. Vor allem im Bereich der Automobilbranche machten sich ausländische Direktinvestitionen schon früh bemerkbar; zwischen 1985 und 1990 verzehnfachten sich sodann die Auslandsinvestitionen in Spanien. Mit der Modernisierung der Industrie einher gingen Rationalisierung und Personalabbau im verarbeitenden Gewerbe; im Unterschied zu den 60er Jahren lernte Spanien in den 70er und 80er Jahren daher industrielle Arbeitslosigkeit kennen. Seit längerem schon gehört Spanien zu den zehn bedeutendsten Industriestaaten. Der Sekundärsektor erzeugt eine Bruttowertschöpfung von noch rund 30 % des BIP, wobei dieser Anteil in den vergangenen Jahrzehnten rückläufig war (in den 60er und 70er Jahren lag er noch zwischen 35 und 40 %); die Branche gibt 29,5 % der Beschäftigen Erwerbsmöglichkeiten. Im Jahr 2004 waren folgende zwölf Unternehmen die wichtigsten in Spanien: Tab. 13: Die wichtigsten Unternehmen Spaniens 2004
N
Unternehmen
Real
Sektor
Einnahmen (in Mio. €) Personal
reelone
-er arragana Utrillaara
285
NettoGewinn
1
Repsol YPF
Erdöl und Derivate
40.585,00
32.376
2.180,00
2
Telefönica
Telekommunikation
30.321,89
156.819
3.258,30
3
Endesa
Elektrizität
17.642,00
26.985
1.833,00
4
El Corte Ingles
Warenhaus
15.049,01
87.610
611,46
5
Compahia Espahola de Petröleo
Energie
14.687,55
10.640
657,26
6
Telefönica Möviles Esparia
Telekommunikation
11.827,59
14.012
1.612,19
7
ACS Act. de Construcciön y Servicios
Bausektor und Immobilien
10.960,65
106.994
477,49
8
Mondragön Compahia Cooperativa
Finanzgesellschaft
10.459,00
70.884
502,00
9
Iberdrola
Elektrizität
ar ,OTeruel
9 ,;
Palme Malleu 5:1 Quecksilber Ril Magnesium Blei Lgi Zinn 01 Titan GO Uran Wolfram 25 Zink
purntollano
•
e
kante
unsrem
Sims
Materea
Caatellän la Plane
5 Kernkrahwerk • Erdiffraffinerie • Aluminiumerzeugung Ge 11..etalthüro Cu
-
Erdölleitung
Maga
Cädi
Wald
Gibraltar (brat( 0
SO
100
Im Inn
ora'lar
MAROKSK0,-/Vremit. (9.P.1
9 d
Weizen Reis Zuckerrüben Zuckerrohr
9
Ir
Zitanfrüchte Weinboa Oliv. Bewässerungskullaren
Steinkohlenbergbau 941 Braunkohlenbergbau Erdölförderung A SI Silber 22 Gold ce2 Kupfer KI Eisen
® O e e
Eisen-, Stahlwerk
22:279' Elektroindustrie Krafdahrzeugbou Schiffbau 5 chemische Induroie Temilindromie OSOT Nahrungemigelindrotrie Wein-, Sektkellereien © wichtiger Handelshoten • Fischereihafen -011- Industrieshand. mir Staudamm
y
10.270,74
13.019
1.223,05
10 Altadis
Verschiedene
9.707,08
25.699
469,55
11 Centros Comerciales Carrefour
Warenhaus
9.671,60
49.275
341,00
12 Renault Espaha
Automobilbranche
8.533,00
14.181
141,60
286
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Im Unterschied zu anderen Industriestaaten ist die relative Bedeutung der Großunternehmen in Spanien allerdings geringer, was die Wettbewerbsfähigkeit des Landes beeinträchtigt. In Spanien stellten (im Jahr 2000) die Großunternehmen (mit jeweils mehr als 250 Beschäftigten) nur 20,3% der Beschäftigten, während die Kleinstbetriebe (mit jeweils weniger als 10 Beschäftigten) 40,6% sowie Klein- und Kleinstbetriebe zusammengenommen (1-49 Beschäftigte) 65% der Beschäftigten stellten. Die Dominanz von Kleinbetrieben erschwert auch den Zugang zu hochwertiger Technologie; gerade ihre Schwäche im Technologie- und Innovationsbereich ist eines der Hauptprobleme der spanischen Industrieunternehmen. Viele Industriebereiche hängen übermäßig von ausländischer Technologie ab, häufig produzieren sie mit ausländischen Patenten oder unter Lizenz ausländischer Firmen (Noblen / Hildenbrand 2005, 51). Manche Sektoren, etwa der Chemiebereich, werden von multinationalen Unternehmen beherrscht. Der dem Umsatz nach wichtigste Industriezweig ist traditionellerweise die Nahrungsmittelbranche, die bei 14% Beschäftigten 16,7% des industriellen Gesamtumsatzes erwirtschaftet, gefolgt von der Produktion von Transportmaterial (12,8%) sowie der Eisen- und Stahlerzeugung (11,5%). Bei den Beschäftigten folgt sodann die Textil-, Bekleidungs-, Lederwaren- und Schuhindustrie. Die Gesellschaftssitze der 100 führenden Industrieunternehmen konzentrieren sich auf die drei Provinzen Madrid (1997: 61 Sitze), Barcelona (1997: 18 Sitze) und Bilbao (1997: 6 Sitze). Von besonderer Bedeutung ist der Automobilbau (Peugeot Citroän Automöviles, Renault Esparia, Seat, Opel Esparia de Automöviles). Auf ihn entfällt rund ein Viertel aller Exporte, indirekt hängen 500.000 Arbeitsplätze an der Branche, der Staat bestreitet circa 22% seiner Steuereinnahmen aus diesem Bereich. Im Jahr 2003 produzierte Spanien drei Millionen Fahrzeuge (davon 2,4 Millionen Pkw), von denen rund 80% exportiert wurden. Von den gut 2,7 Millionen spanischen Unternehmen (2002) entfallen allerdings nur 9,1 % auf den Industriesektor, immerhin noch 12,4% auf die Bauwirtschaft und weit überwiegende 78,5% auf den Dienstleistungssektor. Mit großem Abstand überwiegen rein numerisch die Klein- und Mittelbetriebe (Pequerias y Medianas Empresas, PYMES). An die 90% aller Unternehmen verfügen über weniger als fünf Beschäftigte. Im Industriebereich gehören 90% aller Unternehmen zu den PYMES, und diese geben 64% der in dieser Branche Beschäftigten Arbeit. Klein- und Mittelbetriebe haben in den letzten beiden Jahrzehnten auch die meisten neuen Arbeitsplätze geschaffen. Im Jahr 2004 befanden sich unter den nach Einnahmen 100 bedeutendsten Unternehmen Europas drei spanische: Repsol YPF (Mineralölsektor), Telefönica (Telekommunikation) und Banco Santander Central Hispano (Finanzdienstleistungen), unter den ersten 500 weitere vier (Endesa / Elekrizität; BBVA / Finanzdienstleistung; Cepsa / Mineralölsektor; ACS / Bauwirtschaft). Der Bausektor gehört seit langem zu den dynamischsten Bereichen der spanischen Wirtschaft. Die Baubranche boomt wie nirgends sonst in Europa, angetrieben von niedrigen Bauzinsen und einer schier grenzenlosen Nachfrage nach Wohnraum (auch seitens vieler Dauertouristen).
Die Wirtschaftsbereiche
287
Tab. 14: Branchenstruktur der Industrie 1993/2002 Industriezweig
Beschäftigte 2002 (absolut)
Bergbau/Erdöl
2002 (in%)
Netto Umsatz (Zum Vergleich 1993 in %)
2002 (in %)
50.870
1,9
2,7
6,0
Nahrungsmittel/Getränke/Tabak
371.738
14,0
16,2
16,7
Textil/Kleidung/Leder/Schuhe
286.534
10,8
12,2
5,0
Holz/Kork
103.734
3,9
3,7
2,1
PapierNerlagswesen/Druck
194.309
7,3
7,0
6,0
Chemie
134.566
5,0
5,9
8,5
Gummi/Plastik
122.478
4,6
3,7
3,8
Verschiedene
190.286
7,1
6,6
6,0
Nichtmetallische Mineralprodukte Eisen-/Stahlerzeugung/Metallprodukte
414.080
15,6
12,6
11,5
Maschinenbau/Mechanische Geräte Elektrische, elektronische und optische
190.450
7,1
5,9
5,3
Materialien und Geräte
157.497
5,9
5,9
5,5
Transportmaterial
217.693
8,2
8,2
12,8
Verschiedene Fertigungsindustrien
167.922
6,3
6,1
3,0
59.985
2,3
3,1
7,9
2.662.093
100,0
100,0
100,0
Wasser/Energie Insgesamt:
c) Der Tertiärsektor: Dienstleistungen Spanien ist längst ein Dienstleistungsland. Seit den 1960er Jahren hat die Tertiärisierung der Wirtschaft immer weiter um sich gegriffen. Das bedeutet, daß seit Jahrzehnten sowohl der Anteil des Dienstleistungssektors am Bruttoinlandprodukt als auch die Beschäftigung im Tertiärsektor deutlich dominieren. Lag im Jahr 1960, zu Beginn der rasanten Wirtschaftsentwicklung Spaniens, der Anteil des Tertiärsektors am BIP noch bei 40,6% (Erwerbstätigkeit: 30,6%), so stieg er bis 1975 auf 51,1 % (Beschäftigung: 41,4%), bis 1998 auf 65,2% und bis 2002 auf 68,3% (Beschäftigung: 64,7 %). Die Anteile des Tertiärsektors an der regionalen Bruttowertschöpfung variieren von einer Autonomen Gemeinschaft zur anderen; sie liegen in den touristischen Hochburgen Balearen und Kanarische Inseln mit rund 80% an der Spitze, gefolgt vom Verwaltungs- und Finanzzentrum Madrid mit rund 75%.
288
XII
Die Wirtschaft in der Demokratie
Die Wirtschaftsbereiche
Zweifellos spielt der Tourismus als zentraler Dienstleistungsbereich in vielerei Hinsicht für Spanien eine entscheidende Rolle. 2005 reisten über 92 Millionen ausländische Besucher nach Spanien, von denen über 55 Millionen (statistisch gesehen) als Touristen betrachtet werden (weil sie mindestens einmal übernachteten), der Rest als "Besucher" oder "Exkursionisten". Spanien liegt damit weltweit (hinter Frankreich) auf dem zweiten Platz sämtlicher Tourismusdestinationen mit einem Marktanteil von 7%. Die Bruttoeinkünfte im Tourismus beliefen sich 2004 auf 36,3 Milliarden €, die Netto-Einkünfte (nach Abzug der Zahlungen an ausländische Firmen) immer noch auf 26,6 Milliarden €. Die Einnahmen aus dem Tourismus tragen erheblich zur Verringerung des großen Außenhandelsdefizits bei. Tab. 15: Touristen und Deviseneinnahmen 1996-2005 Jahr
Ausländische Besucher (in Tsd.)
Einnahmen (in Mio. €)
Zahlungen (in Mio. €)
Saldo (in Mio. €)
1996
61.785,4
20.975
3.749
17.227
1997
64.962,9
23.668
3.973
19.695
1998
70.857,7
26.806
4.491
22.315
1999
76.391,9
30.416
5.166
25.250
2000
74.413,0
33.750
5.967
27.783
2001
75.712,0
36.602
6.661
29.941
2002
78.952,7
35.543
7.020
28.523
2003
81.944,1
36.871
7.315
29.556
2004
85.872,2
36.376
9.772
26.604
2005
92.118,3
Die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus spiegelt sich nicht nur in den Einnahmen, sondern nicht minder in den Beschäftigungszahlen wider. Ein Viertel aller spanischen Unternehmen im Dienstleistungsbereich ist dem Tourismussektor zuzurechnen, mehr als die Hälfte davon sind Hotelbetriebe und Reisebüros. 2001 waren über 1,6 Millionen Arbeitnehmer im Tourismussektor beschäftigt; die höchste Beschäftigungsrate in diesem Bereich weisen die Balearen auf, gefolgt von den Kanarischen Inseln und — mit deutlichem Abstand — von Kantabrien, Asturien, Katalonien, Madrid und Valencia. "Das Wachstum, an das sich die spanische Wirtschaft in den Tourismusregionen beinahe wie selbstverständlich gewöhnt hat, schlägt sich zuallererst in einer hohen und jährlich steigenden Besucherzahl nieder. Der Dienstleistungssektor sowie die private und öffentliche Bautätigkeit entwickelten sich so in einigen Gegenden Spaniens zu den fast ausschließlichen Grundpfeilern der Wirtschaft. Aber sie stehen in einer so prekären Abhängigkeit vom labilen Tourismusgeschäft, daß das Ausbleiben der Besucher nicht selten Bauvorhaben gänzlich stoppt und schwere Beschäftigungsprobleme in der betroffenen Region nach sich zieht.
289
Auch andere Auswirkungen des Tourismus lassen das 'gute Geschäft' durchaus in einem problematischen Licht erscheinen. So wurde in nicht wenigen Fällen die Landschaft auf irreversible Weise verändert, landwirtschaftliche Aktivitäten verschwanden aus einigen Gegenden gänzlich, das Verhältnis zwischen den drei Wirtschaftssektoren geriet aus dem Lot" (Domfnguez Rodriguez 2004, 578). Begonnen hatte der Tourismusboom in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. 1950 reisten 750.000 Personen nach Spanien, 1955 waren es schon 2,5 Millionen, 1960 über sechs Millionen, 1965 über 14 Millionen, 1970 über 24 Millionen, 1975 über 30 Millionen, 1980 über 38 Millionen, 1990 über 52 Millionen, 2000 über 74 Millionen. Die schwindelerregenden Zuwächse wurden nur in den 70er Jahren durch konjunkturelle Fluktuationen unterbrochen. Der weitaus größte Teil der Touristen (rund 75 %) kommt aus Europa, vor allem aus Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Bemerkenswert ist die Treue, mit der Spanien Jahr für Jahr als Urlaubsdestination gewählt wird. Die hohen Touristenzahlen sind vor allem auf diese Treue zurückzuführen, da mindestens 60 % der Besucher schon früher einmal Spanien besucht haben, 70% schon mindestens viermal. Der seit den 50er Jahren gewaltig expandierende Tourismus machte eine Infrastruktur erforderlich, über die das Land anfangs nicht verfügte. Innerhalb kürzester Zeit mußten Hotels und Appartements, Straßen und Flughäfen gebaut werden. Die Bautätigkeit boomte und sorgte für erhebliches Wirtschaftswachstum in den touristischen Regionen. Trotzdem fehlte es oft an Raumordnungsplanung und elementarsten Erschließungsmaßnahmen, die Bebauung war mitunter chaotisch. Der saisonabhängige Massentourismus mit seinen sprunghaften Bevölkerungssteigerungen zog einen beträchtlichen Raumbedarf für die Errichtung von Wohn- und Freizeitstrukturen nach sich; in vielen Fällen führte er zur Anfälligkeit der betroffenen Regionen für ökologische Destabilisierungen. Inzwischen sind mit den Preisen auch die Bedürfnisse gestiegen, und Spanien ist bemüht, das Image von ausschließlich "Sonne und Meer" zugunsten eines qualitativ differenzierteren Angebots (Kultur-, Sport- oder Ökologietourismus) loszuwerden. Zum Ausbau touristischer Unterkünfte kam der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Schon 1967 wurde ein Staatsplan zur Verbesserung des Straßennetzes verabschiedet; 1980 folgte der Plan zur Errichtung von Autobahnen, der den Bau von 6.500 Kilometern vierspuriger Schnellstraßen vorsah. Das Jahr 1992 brachte mit seinen Großveranstaltungen in Barcelona (Olympische Spiele), Madrid (Kulturhauptstadt) und Sevilla (EXPO) einen weiteren Anstoß zum Neubau wichtiger Verkehrswege, u. a. eines Schienennetzes für den Hochgeschwindigkeitszug AVE auf der Strecke Madrid-Sevilla. Geplant sind zwei weitere Trassen: von Madrid über Zaragoza und Barcelona nach Montpellier und von Madrid über Vitoria nach Dax, wodurch eine Verbindung mit dem französischen Hochgeschwindigkeitsnetz hergestellt werden soll. Das vorerst letzte Projekt bezieht sich auf die Hochgeschwindigkeitsstrecke Madrid-Lissabon. Seit Beginn der 90er Jahre machen sich Tourismusunternehmer und Politiker in Spanien zunehmend Gedanken, wie die Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit der Einnahmequelle Tourismus sichergestellt werden können. In ihren Tourismusplänen geht es der staatlichen Politik darum, die starke Saisongebundenheit des Fremdenverkehrs zu reduzieren, die geographische Konzentration (auf den Inseln und an den Küsten) zu vermindern, das Angebot zu diversifizieren, neue Produkte zu schaffen und die Qualität der Dienstleistungen zu ver-
290
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
bessern. Inzwischen liegt ein Großteil der Zuständigkeiten für den Tourismus bei den Autonomen Gemeinschaften. Der Sektor steht vor der Entscheidung, ob er sich für Qualität an Stelle von Quantität entscheiden soll. "Die Ausweitung des touristischen Angebots auf das Binnenland und die Entwicklung neuer Tourismusformen, die im Grunde auf eine stärkere Nutzung historischer, aber auch landschaftlicher Qualitäten fern der Küste hinauslaufen, birgt die Gefahr in sich, daß auch im Binnenland die Umwelt aus dem Gleichgewicht gerät, wenn man diesen neuen Tourismus mit den gleichen Rezepten der Erschließung für die Massen verfolgt" (Domfnguez Rodrfguez 2005, 603). Augenmaß und überlegtes Vorgehen sind somit gefragt. Neben dem Tourismus spielen im Tertiärsektor der Handel und die Finanzdienstleister (Banken und Sparkassen) eine herausragende Rolle. Innerhalb des Tertiärsektors ist der Binnenhandel sogar der bedeutendste Bereich, auf den ca. 46 % der Unternehmen, 64% des Umsatzes und 42 % der Beschäftigten in diesem Sektor entfallen. Der private Bankensektor spielt im Finanz- und Kreditwesen eine bedeutendere Rolle als die Sparkassen, wenngleich diese etwa 40% des Sparvolumens auf sich vereinigen. Seit 1978 sind ausländische Banken wieder zugelassen. Ähnlich wie in Deutschland, kennt das private Kreditgewerbe in Spanien traditionell mehr die gemischte Universalbank als die Spezialbank. Zusammengeschlossen sind die Banken in der einflußreichen Asociaciön Espafiola de Banca Privada (AEB), die wiederholt offen in die (Partei-)Politik eingegriffen hat. Die Bankenaufsicht obliegt der Zentral- bzw. Notenbank, dem 1962 verstaatlichten Banco de Esparia. Der gewaltige Einfluß der Banken wird durch deren starke Verflechtung untereinander weiter gesteigert. Hinzu kommen die großen Industriebeteiligungen bei Kredit- und Geschäftsbanken sowie die traditionell niedrige Selbstfinanzierungsquote der spanischen Unternehmen, die diese stärker von Bankkrediten abhängig macht. Banken und Sparkassen bilden daher die entscheidende Wirtschaftsmacht in Spanien, die wichtige Firmen in allen Branchen kontrollieren. Seit Ende der 80er Jahre haben die Banken auf den steigenden Globalisierungsdruck durch zahlreiche Fusionen und die Schaffung wettbewerbsfähigerer Unternehmenseinheiten reagiert. Insgesamt gibt es ca. 370 Kreditinstitute mit ungefähr 39.000 Filialen (an die 14.700 Banken, 20.000 Sparkassen und 4.000 Kreditgenossenschaften) (s. Tab. 16). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wies der spanische Bankensektor eine der höchsten Konzentrationen Europas auf: Die zwei größten spanischen Banken, der BSCH und der BBVA, besaßen um die Jahrhundertwende zusammen einen Marktanteil von 37%, die fünf größten Banken kamen zusammengenommen auf 53%. Neben der hohen Bankenkonzentration gilt als weitere Besonderheit des spanischen Bankensektors die markt- und rentabilitätsorientierte Arbeitsweise sowohl der Privatbanken als auch der Sparkassen; die deutliche Kostenreduzierungspolitik der Kreditinstitute führte zur Schließung zahlreicher Filialen.
3. Spanien in der Weltwirtschaft Seit der ökonomischen Öffnung des Landes zu Beginn der 1960er Jahre fand eine immer engere Verflechtung der spanischen mit der Weltwirtschaft statt. Die Integration erfuhr durch den EG-Beitritt Spaniens 1986 und sodann abermals in den 90er Jahren im Zuge der
Spanien in der Weltwirtschaft
291
Tab. 16: Die führenden Banken und Sparkassen 2005 Banken
Vermögens- Anteil am Sparkassen bestand Vermögens(in Mio. €) bestand aller Banken (in %)
Vermögensbestand (in Mio. €)
Anteil am Vermögensbestand aller Sparkassen (in %)
Banco Bilbao Vizcaya Argentaria (BBVA)
272.388
28,36
La Caixa
150.616
19,52
Banco Santander Central Hispano
249.867
26,02
C.A. de Madrid
105.013
13,61
Banco Espahol de Crklito
81.082
8,44
Bancaja
46.001
5,96
Banco Popular Espanol
55.839
5,81
C.A. de Catalunya
43.537
5,64
Banco Sabadell
47.952
4,99
C.A. Mediterräneo
41.188
5,34
Bankinter
39.399
4,10
C.A. de Galicia
34.161
4,43
Banco Pastor
18.877
1,97
Ibercaja
26.595
3,45
Globalisierung eine deutliche Intensivierung. Von den drei wichtigsten Bereichen der Außenwirtschaft — dem Außenhandel, den Auslandsinvestitionen und dem Tourismus — wird kurz auf die ersten beiden eingegangen, da der Tourismus bereits dargestellt worden ist (vgl. Kap. XII, 2 c). Seit den 60er Jahren hat der Anteil des Außenhandels am spanischen BIP kontinuierlich zugenommen; seit Mitte der 90er Jahre liegt er bei ungefähr 50 %. Exportierte Spanien im Jahr seines EG-Beitritts Güter im Wert von 22,9 Milliarden €, so konnten die Ausfuhren bis 2002 auf 133 Milliarden € gesteigert werden. Die Importe beliefen sich in diesen beiden Jahren auf 29,7 Milliarden € bzw. 175,2 Milliarden €. Traditionell ist die spanische Handelsbilanz negativ, d. h. das Land importiert mehr als es exportiert. Seit der Einführung des Euro (2002) hat Spanien ca. 10 % an Konkurrenzfähigkeit wegen der hohen Inflation und dem Anstieg der Arbeitskosten eingebüßt. Das aber bedeutet, daß das Außenhandelsdefizit kontinuierlich ansteigt.
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
292
Spanien in der Weltwirtschaft
293
Tab. 17: Spanische Exporte und Importe 2004
Graphik 8: Import und Export von Industriegütern, 1975-1999 (in Mio. Peseten von 1975)
Importgüter 2 600 -
- -
Wert in Mio. €
Anteil am Wert aller Exporte (in %)
2 400 - - -
Automobile, Traktoren, Mopeds
35.209
22,21
2 200 -
Nuklearreaktoren, Heizkessel, mechanische Geräte
24.935
15,73
2 000
Brennstoffe, Mineralöle
23.086
14,57
Elektrische Maschinen und Apparate
18.021
11,37
Gußeisen und Stahl
8.185
5,16
Kunststoffe und Fertigwaren aus Plastik
6.739
4,25
Pharma-Produkte
6.424
4,05
Organische chemische Produkte
5.837
3,68
1 800
•
•
• 1 600
#
1 400 -
4*
•
•
1 200 1 000 •
600 .. . •
os
* s.o.
Exportgüter
• e#
Anteil am Wert aller Exporte (in %)
400 - *0-e-
Automobile, Traktoren, Mopeds
34.378
21,69
200 - - -
Nuklearreaktoren, Heizkessel, mechanische Geräte
11.864
7,49
Elektrische Maschinen und Apparate
9.910
6,25
Brennstoffe, Mineralöle
5.562
3,51
Kunststoffe und Fertigwaren aus Plastik
5.044
3,18
Obst
4.285
2,70
Gußeisen und Stahl
4.261
2,69
Pharma-Produkte
3.538
2,23
•
0 -I 1975
1978
T-
1981
1984
n sonn Exporte
1987
1990
1993
1996
1999
eam=xxxo Importe
Zwischen 1975 und 2000 haben die spanischen Industrie-Exporte um das 4,2 fache und die industriellen Importe um das 2,4 fache zugenommen. Wirtschaftspolitischer Hintergrund dieser Entwicklung war die Öffnung Spaniens für internationale Handlungsströme. Der Außenhandelssaldo war stets negativ – Spanien importierte mehr als es exportierte –, wobei die Differenz zwischen Importen und Exporten in den auf den EG-Beitritt unmittelbar folgenden Jahren 1987-1992 besonders groß war. Das Wachstum an Importen und Exporten betraf praktisch alle Sektoren; besonders ausgeprägt war das Exportwachstum bei Kraftfahrzeugen sowie bei elektrischem und elektronischem Material. Diese Posten führten auch die Liste der Importe an. Die Anwesenheit transnationaler Unternehmen korreliert direkt mit dem Grad an Außenöffnung der verschiedenen Industriesektoren; diese wiederum hängen von den Strategien der großen Unternehmen ab. Seit dem Beitritt Spaniens zur EG (1986) kommen 66% der spanischen Importe aus EG-Ländern, 70% der spanischen Exporte gehen in EG-Länder. Die zweitwichtigste Herkunftsregion spanischer Importe ist Asien (12,5%); die zweitwichtigste Exportdestination ist der amerikanische Kontinent (11,3%; USA und Lateinamerika zusammen), gefolgt von Osteuropa (6%).
Die mit Abstand wichtigsten Handelspartner Spaniens liegen in der EU. Schon vor dem EGBeitritt Spaniens exportierte das Land fast die Hälfte seiner Ausfuhren in Länder der Gemeinschaft. Inzwischen (2004) exportiert Spanien rund 73 % in die EU-25 (106 Milliarden €), es importiert aus der EU-25 rund 65 % (133 Milliarden €). Hauptabnehmer spanischer Produkte sind Frankreich, Deutschland, Portugal und Großbritannien, Hauptlieferanten für Spanien sind Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien. Lateinamerika blieb außerhalb der Vorteile, die die Gemeinschaftsabkommen mit sich brachten. Das erklärt auch, weshalb der spanische Handelsaustausch mit Lateinamerika in der zweiten Hälfte der 80er Jahre von 20% der Exporte in Nicht-EG-Märkte (1980) auf 11 % zu Ende des Jahrzehnts zurückging. Der EG-Beitritt Spaniens (1986) brachte außerdem eine Umlenkung des Handels in Richtung des gemeinschaftlichen Marktes mit sich. So stieg der Export in den EG-Raum von 8,08 Milliarden Ecu (1980) auf beeindruckende 67 Milliarden
294
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Spanien in der Weltwirtschaft
Tab. 18: Importe und Exporte Spaniens 1986-2004 (in Mio. €) Jahr
1986
1987
1988
1989
Importe
29.778,30
36.370,80
42.007,10
50.463,40
53.480,50
57.915,90
61.332,10
Exporte
22.933,40
25.313,40
28.004,20
30.859,00
33.840,60
36.449,60
40.013,00
Saldo
-6.844,30
-11.056,20
-14.003,00
-19.604,40
-19.639,90
Jahr
1993
1994
1995
1996
1997
Importe
60.893,30
79.972,50
84.783,00
94.179,20
Exporte
46.606,10
58.578,20
68.152,40
78.212,10
93.419,50
Saldo
-14.282,50
-15.384,10
-16.630,60
-15.967,10
-16.049,40
-23.006,20
Jahr
2000
2001
2002
2003
2004
2005
Importe 169.468,00
173.210,10
175.267,90
185.113,70 207.129,96 231.371,60
Exporte
124.177,50
129.771,00
133.267,70
138.119,00
146.460,36 153.559,00
Saldo
-45.290,50
-43.439,10
-42.000,20
-46.994,70
-60.669,60
1990
1991
1992
-21.468,80 -21.318,50 1998
1999
109.468,90 122.855,90 139.093,40 99.849,70 104.788,90 -34.304,50
295
Märkte geworden. Spanien wiederum hat sich in einen zentralen Akteur der europäischlateinamerikanischen Handelsbeziehungen verwandelt. Der wirtschaftliche Aufschwung Spaniens seit den 80er Jahren führte auch zu einer verstärkten ausländischen Investitionstätigkeit. Spanien entwickelte sich zu einem der beliebtesten Investitionsstandorte weltweit. Der größte Teil der ausländischen Direktinvestitionen stammte (2004) aus den Niederlanden (20,79 %), der Schweiz (11,11 %), den USA (11,01 %), Luxemburg (9,37%) und Großbritannien (7,39 %); die meisten spanischen Direktinvestitionen flossen (2003) nach Großbritannien (34,91 %), Mexiko (11,51 %), Frankreich (10,55%) und in die Niederlande (10,06 %). Ausländer investierten in Spanien in die chemische Industrie, in den Automobilbau, in den Immobilienbereich, in die Nahrungsmittelindustrie, in den Handel und in die Pharmabranche; das spanische Kapital - zumeist handelte es sich um Direktinvestitionen, nur in ca. 10 % der Fälle um Kapitalbeteiligungen - bevorzugte den Bankensektor und das Versicherungswesen, die Elektrizitätsbranche, Gas und Erdöl, Transport- und Kommunikationswesen. Tab. 20: Direktinvestitionen 1993-2004 (in Mio. €)
-77.812,60
Ecu im Jahr 1997. Entsprechend gering blieben die spanischen Exporte in alle nicht-europäischen Märkte (s. Tab. 19). In Lateinamerika entwickelte sich der Mercosur im Hinblick auf Handel und Investitionen zum bevorzugten Partner der EU und insbesondere Spaniens. Die Handelsbeziehungen zu den Mitgliedsländern des Mercosur (Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay) und dem assoziierten Partner Chile entsprachen 1997 schon 56,8% der spanischen Exporte nach Lateinamerika und 54,4% seiner Importe aus der Region. Damit ist der Mercosur zu einem strategischen Ziel im Rahmen der spanischen Bemühungen um die Erschließung neuer Tab. 19: Spanische Exporte nach Regionen (in %) 1997
1998
1999
2000
Eurozone
58,6
59,8
60,2
58,5
EU (ohne Eurozone)
10,7
11,1
10,1
11,1
Mittel- und Osteuropa
1,6
1,8
1,8
2,1
Nordamerika
4,8
4,6
4,8
5,3
Lateinamerika
6,4
6,6
6,1
6,1
Asien
7,5
5,7
5,7
5,9
Afrika
3,5
3,7
3,6
3,3
Andere
6,9
6,7
7,7
3,3
Jahr
Ausländische in Spanien
Spanische im Ausland
1993
5.427
1.837
1994
6.527
4.233
1995
5.392
5.890
1996
5.473
4.956
1997
6.820
10.426
1998
9.214
15.407
1999
18.432
51.344
2000
38.291
60.068
2001
34.741
46.897
2002
32.160
45.342
2003
17.812
30.588
2004
17.857
46.730
Die spanische Leistungsbilanz ist seit 1998 defizitär. Das Defizit wird u. a. darauf zurückgeführt, daß die Einnahmen aus dem Tourismus keine ausreichende Kompensation mehr darstellen, um das steigende Handelsbilanzdefizit zu kompensieren. In den letzten 20 Jahren ist Lateinamerika zu einem Hauptziel im Internationalisierungsprozeß der spanischen Unternehmen geworden. Diese profitierten dabei von den wirtschaftlichen Umbrüchen und der Privatisierung staatlicher Unternehmen, die seit Mitte der 80er Jahre in Lateinamerika stattfanden. Zwischen 1997 und 2002 kauften der BSCH in Lateinamerika 27 Banken für 12,3 Milliarden Dollar, der BBVA 34 Banken für 7,8 Milliar-
296
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Spanien in der Weltwirtschaft
Tab. 21: Spanische Zahlungsbilanz 1999-2003 (in Mio. €)
2003
1999 Einnahmen Ausgaben Laufende Konten
180.417
193.529
Handelsbilanz
105.735
134.320
Einnahmen Ausgaben
2000 Saldo -13.112 -28.585
Einnahmen Ausgaben
Saldo
246.332
267.159
-20.828
141.017
178.860
-37.843
213.213
234.205
-20.992
Handelsbilanz
126.070
163.848
-37.778
Dienstleistungen
67.903
40.638
27.265
- Tourismus und Reisen
50.362
28.838
21.524
58.407
34.163
24.243
- Tourismus und Reisen
30.416
5.166
25.250
33.750
5.967
27.783
- Andere Dienst- leistungen
19.946
28.196
-3.539
Einkommen
11.820
- aus Beschäftigung - aus Investitionen
322 11.498
Laufende Übertragungen 12.500 Kapitalbilanz Laufende Konten + Kapital
20.724 322 20.402 9.647
-3.726 -8.904 1 -8.905 2.853
24.657 16.321 387 15.934 12.415
25.307 450 24.857 10.887
-8.985 -63 -8.923
6.278
1.098
5.181
187.997
194.557
-6.561
219.491
235.303
-15.811
2002 Einnahmen Ausgaben
Saldo
Laufende Konten
232.951
251.297
-18.346
238.086
254.967
-16.881
Handelsbilanz
131.703
168.099
-36.396
135.640
170.242
-34.602
Dienstleistungen
65.111
37.981
27.131
66.072
39.490
26.582
- Tourismus und Reisen
36.602
6.661
29.942
35.543
7.020
28.524
- Andere Dienst- leistungen
28.509
31.320
-2.811
30.529
32.470
-1.942
Einkommen
22.156
33.034
-10.878
21.357
32.633
-11.276
435
460
446
440
5
21.721
32.574
-10.853
20.912
32.193
-11.281
Laufende Übertragungen 13.982
12.184
1.798
15.017
12.603
2.414
6.566
1.000
5.566
8.675
934
7.741
239.517
252.297
246.761
255.901
-9.141
- aus Beschäftigung - aus Investitionen
Kapitalbilanz Laufende Konten + Kapital
- 25
-12.780
29.556
33.323
-2.291
Einkommen
21.812
32.398
-10.586
455
399
56
21.357
31.999
-10.642
Laufende Übertragungen 15.599
15.263
336
9.699
937
8.762
256.031
268.096
- aus Beschäftigung - aus Investitionen
Laufende Konten + Kapital
6.552
Saldo
7.315
31.032
1.528
1.028
2001
36.871
- Andere Dienst- leistungen
Kapitalbilanz
7.580
Einnahmen Ausgaben
Saldo
Laufende Konten
Dienstleistungen
23.672
297
-12.065
den Dollar auf. Insgesamt hat Spanien heute über 90 Milliarden € in Lateinamerika investiert. BBVA und BSCH sind inzwischen die wichtigsten Finanzdienstleister in Lateinamerika; Telefönica ist die führende Telekommunikationsgesellschaft, Arcelor der wichtigste Stahlproduzent, Prosegur die bedeutendste Sicherheitsgesellschaft, Endesa und Iberdrola sind auf dem Elektrizitätssektor führend, Repsol YPF und Gas Natural nehmen im Erdölsektor herausragende Plätze ein; die Baugesellschaften Acciona, ACS-Dragados, FCC, Ferrovial, OHL gehören zur Weltspitzengruppe. Im Jahr 2004 brachte der lateinamerikanische Markt 49% der Gewinne der BBVA, 35 % von BSCH, 41% von Telefönica, 45 % von Repsol YPF, 23% von Endesa, 7 % von Arcelor, und die lateinamerikanischen Gewinne dieser sechs Unternehmen (41 Milliarden €) entsprachen 2004 schon 5,2 % des spanischen BIP. Allerdings scheint der Höhepunkt der spanischen Lateinamerika-Auslandsinvestitionen überschritten zu sein. Die Politik, die inzwischen in mehreren lateinamerikanischen Staaten gegenüber dem Auslandskapital praktiziert wird, hat zu einem deutlichen Rückgang der spanischen Investitionen geführt: von 27,6 Milliarden € (1999) auf 7,3 Milliarden € (2204), d.h. von 63% der gesamten spanischen Auslandsinvestitionen auf nurmehr 17%. Das besondere Verhältnis zu Lateinamerika hat auch die Verhandlungsposition Madrids innerhalb der EU gestärkt. (Mit einem Anteil von knapp 13 % ist Spanien auch der bedeutendste europäische Geber von Entwicklungshilfe für Lateinamerika.) So spielen etwa die Auslandsdirektinvestitionen in den Beziehungen Spaniens zu Lateinamerika eine wichtige Rolle. Dabei flossen (und fließen) spanische Direktinvestitionen in Lateinamerika nicht in erster Linie in die Ausbeutung von Rohstoffen, sondern sind primär von dem Wunsch geleitet, neue Märkte zu erschließen. Wichtigstes Motiv für die umfangreichen Direktinvestitionen in Lateinamerika ist jedoch, durch die Internationalisierung der Unternehmen deren
298
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Spanien in der Weltwirtschaft
Tab. 22: Investitionen spanischer Unternehmen in Lateinamerika 2006 (in Mio. €) Mexiko
Graphik 9: Direkte Brutto-Investitionen Spaniens in Lateinamerika 1993-2004 (in Mio. €)
Perü
BSCH
2.626
BBVA
377
35000
BBVA
4.508
Endesa
279
30000
4.151
25000
Iberdrola
584
Fenosa
286
Gas Natural
600
Telefönica
2.180
Dragados
80
BSC H
FCC
BBVA 40
BBVA Endesa
1.001
Fenosa
573
2.200
1.186
0
470
Telefönica
500
Dragados
134
OHL
66
BSCH
1.800
BBVA
414
Gas Natural
200
7.200
BBVA
542
Aguas de Barcelona
Endesa
799
Telefönica
Gas Natural
1.718 450
Telefönica Möviles Repsol YPF
85 9.800 810
2.780
OHL
40
Dragados
46
ACS
40
OHL
60
FCC
40
Telefönica Möviles
Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Das Interesse der Investoren galt insbesondere dem Finanz-, Transport- und Kommunikationssektor. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts standen die spanischen Unternehmen mit 53% der gesamten Auslandsinvestitionen in Lateinamerika noch vor den USA an erster Stelle der Investoren. Seit Mitte der 90er Jahre stieg die Investitionsattraktivität Lateinamerikas für Spanien und überstieg erstmals die EU-Mitgliedsländer. Seither ist Lateinamerika die bevorzugte Zielregion für Investitionen spanischer Unternehmen. Unter den größten transnationalen Unternehmen, die in Lateinamerika präsent sind, befinden sich einige spanische, die die ersten Ränge belegen. An der Spitze der Investoren stehen die Telekommunikationsgesellschaft Telefönica (Platz 3), der Öl- und Gaskonzern Repsol YPF (Platz 11), die Energieunternehmen Endesa (Platz 5) und Iberdrola sowie die Banken BBVA und BSCH. Zwischen 1990 und 1999 wurde bei den spanischen Direktinvestitionen in Lateinamerika eine jährTab. 23: Spanische Auslandsinvestitionen nach Regionen (in %)
EU
BBVA
Dominikanische Republik 407
Fenosa
2000
34,5
48,8
Europa ohne EU
1,8
2,9
4,0
USA
7,8
0,7
7,9
0,39
0,23
1,93
1,2
0,41
0,2
56,3
57,5
33,8
0,5
0,5
0,1
Mittel- und Osteuropa
Lateinamerika 543
1999
27,9
Afrika Venezuela
Zentralamerika und Karibik (ohne Steuerparadiese)
1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004
1998 79
12.800
iLateinamerika njg est
5.942,9
10.500
Dragados
Telefönica
.930 Telefönica investiert in Perü
5000
Aguas de Barcelona
BSCH
Iberdrola
10000
880
Argentinien
Brasilien
Wiederaufnahme der Investitionen spanischer Banken in Lateinamerika; Markteintritt von Repsol In Argentinien
15000
40
795
Reduzierung der Invesitionen der Großunternehmen, gefolgt von mittleren Unternehmen
Markteintritt spanischer Banken und Unternehmen in Brasilien
342
Endesa
Kolumbien
31.287 Repsol kauft YPF und erwirbt Beteiligungen anderer Unternehmen; Fortsetzung der Banken-Expansion in Lateinamerika
20000 Chile
Telefönica
ACS
299
Asien ohne Japan
300
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
liche Wachstumsrate von 71,62 % verzeichnet. Hauptempfängerländer sind Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien und Mexiko; diese Gruppe von Ländern erhielt fast 95 % aller spanischen Investitionen in die Region. Ein Großteil der Direktinvestitionen wurde über Holdings (Beteiligungsgesellschaften) realisiert und floß in eine beschränkte Anzahl Sektoren: Industrien zur Förderung und Raffinerie von Erdöl, Finanzdienstleistungen, Gas-, Wasser- und Elektroenergie, Transport und Kommunikation. 1999 übernahm der spanische Ölkonzern Repsol für 17 Milliarden Dollar das argentinische Ölunternehmen YPF. In den 90er Jahren forcierten auch die spanischen Banken, allen voran der Banco Santander und der BBV, ihren Expansionsprozeß in Richtung Lateinamerika, wo sie in wenigen Jahren zahlreiche lateinamerikanische Banken übernahmen und in einigen Ländern einen Marktanteil erzielten, der den auf dem spanischen Heimatmarkt überstieg. Viele lateinamerikanische Länder öffneten und deregulierten ihre Finanzsysteme gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem spanische Banken auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten im Ausland waren. Während in der ersten Hälfte der 90er Jahre zunächst in den Bereich Telekommunikation (durch Telefönica) und zunehmend auch in den Energiesektor (durch Endesa Espafia und Repsol) investiert wurde, folgten die spanische Banken in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts mit verstärkter Expansion. Banco Santander etwa akquirierte 1996/97 in sieben verschiedenen Ländern acht Banken (mit einer Gesamtausgabe von mehr als 3,5 Milliarden US-Dollar). Der BBV wiederum betrieb 1996-98 in zehn verschiedenen Ländern Lateinamerikas eine aktive Expansionspolitik. Als Ergebnis ihres Internationalisierungsprozesses haben es die beiden größten spanischen Kreditinstitute geschafft, sich an die Spitze der Rankings ausländischer Banken in Lateinamerika zu setzen und wichtige Märkte zu dominieren. Spanische Unternehmen investieren aber nicht nur in Lateinamerika. In den letzten Jahren sind mehrere europäische Märkte (Großbritannien, Italien, Frankreich) und die USA hinzugekommen. Hintergrund der expansiven Auslandstätigkeit spanischer Unternehmen ist deren Liquidität. Während die spanische Wirtschaft 2004/2005 im Jahresdurchschnitt um 3,3% wuchs, stieg der Wert der börsennotierten Unternehmen des Landes um jahresdurchschnittlich weit über 20 %. Tab. 24 zeigt die wichtigsten Übernahme-Aktionen 2004-2006 auf. Kritische Ökonomen weisen seit Jahren darauf hin, daß Spanien über seine Verhältnisse lebt. Das Handelsbilanzdefizit, das von Jahr zu Jahr zunimmt, hängt mit dem Verlust an Konkurrenzfähigkeit der spanischen Wirtschaft, mit dem nachlassenden Export spanischer Waren gerade in die dynamischen Weltregionen (USA und Asien) und mit der problematischen technologischen Zusammensetzung der spanischen Exporte zusammen, die vor allem Güter im unteren Technologiebereich (mit geringem Mehrwert) umfassen. Weitere Probleme kommen hinzu: Die millionenfache Einwanderung der letzten Jahre hat sich zwar auf das Wachstum der spanischen Wirtschaft, auf die faktische Liberalisierung des Arbeitsmarkts und somit auf die äußere Konkurrenzfähigkeit der spanischen Wirtschaft positiv ausgewirkt. Aber die Wirkung auf die Geldströme war negativ, da die Einwanderer millionenfache Beträge ins Ausland transferieren. Schließlich noch die Auslandsinvestitionen: Die spanischen Auslandsinvestitionen sind inzwischen fast doppelt so hoch wie die ausländischen Direktinvestitionen in Spanien. Verbunden mit der Perspektive, daß Spanien in wenigen Jahren schon Netto-Beitragszahler in der EU sein wird, ist abzusehen, daß die Verschuldung
Literatur
301
Tab. 24: Die wichtigsten Operationen spanischer Unternehmen 2004-2006 Spanisches Unternehmen Santander
Aufgekauftes/fusioniertes ausländisches Unternehmen
Datum
Betrag (Mio. €)
Abbey (Großbritannien)
Juli 2004
Sovereign Barcorp (USA)
Oktober 2005
Laredo National Bancshares (LNB) (USA)
September 2004
680
Valley Bank (USA)
Mai 2004
10,8
Ferrovial
BAA (Großbritannien), noch offen
April 2006
Cintra (Ferrovial)
Indiana Toll Road (USA)
Januar 2006
3.080
Chicago Skyway Toll Bridge (USA)
2004 / 2005
1.820
Metrovacesa
Gecina (Frankreich)
März 2005
5.500
Telefönica
0 2 (Großbritannien)
November 2005
Cesky Telecom (Tschechische Republik)
Juli 2004
TBI (Großbritannien)
November 2004
788
Sanef (Frankreich)
Dezember 2005
4.030
Autostrade (Italien)
Fusion. Börsenwert:
Sacyr
Eiffage (Frankreich)
April 2006
1.661
Agbar (Aguas de Barcelona)
Bristol Water (Großbritannien)
April 2006
246
Colonial
Societe Fonciere Lyonnaise (SFL) (Frankreich)
Juni 2004
BBVA
Abertis
13.467 1.944
12.405
26.000 2.754
25.000
1.638
des Landes außerordentlich zunehmen wird. Die Zukunftsperspektiven sind somit bei weitem nicht so rosig, wie die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre war.
Literatur Arias Veira, Pedro: Esparia va bien. Claves y dilemas de la prosperidad espariola. Madrid 2004 Arifio, Gaspar (Leitung): Privatizaciones y liberalizaciones en Esparia. Balance y resultado. Madrid 2004 Banco de Esparia, Servicio de Estudios: El analisis de la economfa espatiola. Madrid 2005 Carreras, Albert / Tafunell, Xavier: Estadfsticas histöricas de Esparia. Siglos XIX–XX. Bilbao 2. Aufl. 2005 Chislett, William: Spanish Direct Investment in Latin America: Challenges and Opportunities. Madrid (Real Institut° Elcano) 2002
302
XII Die Wirtschaft in der Demokratie
Domfnguez Rodriguez, Rafael: Der Tourismusboom und seine Folgen. In: Walther L. Bernecker / Klaus Dirscherl (Hg.): Spanien heute. Politik — Wirtschaft — Kultur. Frankfurt am Main 2004, 577-603 Garcia Delgado, Jose Luis (Leitung): Economfa espariola de la transiciön y de la democracia. Madrid 1990 Garcia Delgado, Jose Luis (Leitung): Esparia, Economfa: ante el siglo XXI. Madrid 1999 Gil Olcina, Antonio / Morales Gil, Alfred() (Hg.): Insuficiencias Hfdricas y Plan Hidrolögico Nacional. Alicante 2002 Martin Acefta, Pablo / Comfn, Francisco: INI, cincuenta arios de industrializaciön en Espana. Madrid 1991 Nohlen, Dieter / Hildenbrand, Andreas: Spanien. Wirtschaft — Gesellschaft — Politik. Ein Studienbuch. Wiesbaden 2005 Ruiz Maciä, Jose Pascual: La via espafiola hacia una economfa moderna. Madrid 2003 Tamames, Ramön / Rueda Guglieri, Antonio: Estructura econömica de Esparia. Madrid 2000 Wagner, Horst Günter: Mittelmeerraum. Darmstadt 2001
BEVÖLKERUNG UND GESELLSCHAFT
305
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
1. Das Bevölkerungswachstum Zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und 1920 wuchs die spanische Bevölkerung von 10.541.000 auf 21.303.000. Tab. 25: Bevölkerungswachstum 1797-1920 Jahr
Bevölkerung in 1000
Index (1797 = 100)
1797
10.541
100,0
1857
15.455
146,6
1860
15.645
148,4
1877
16.622
157,7
1887
17.534
166,3
1897
18.066
171,4
1900
18.594
176,4
1910
19.927
189,0
1920
21.303
202,1
Dabei war die Bevölkerungsvermehrung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im europäischen Vergleich relativ gering und lag deutlich unter dem Wachstum der ersten Jahrhunderthälfte. Während die Bevölkerung von 1800 bis 1850 nämlich um 49 % stieg, nahm sie zwischen 1850 und 1900 nurmehr um weitere 28% zu (1800 = Basis 100; 1850 = 149; 1900 = 177). Zu den wichtigsten Gründen, die dieses geringere Wachstum der Bevölkerung erklären, zählen die verhältnismäßig hohe Sterblichkeitsrate, Seuchen und Hungerepidemien, Kriege (bes. die Karlistenkriege) sowie vor allem die Auswanderung nach Übersee. Die hohe Geburtenrate von durchschnittlich 37,9 %o im Jahrzehnt 1861-1870, von 36,2 %o im Jahrzehnt 1881-1890, von 34,8 %. im Jahrzehnt 1891-1900 und von 34,5 %. im Jahrzehnt 1901-1910 wurde durch eine ebenfalls verhältnismäßig hohe Sterberate im gleichen Zeitraum ausgeglichen. Die durchschnittliche Sterblichkeitsrate lag höher als in den europäischen Nachbarstaaten; sie schwankte zwischen 26,7 %o (1861) und 37,9 %o (1885). Noch im Jahre 1900 starben 28,9 %o der Bevölkerung im Vergleich zu durchschnittlich 18 %o in Europa. Die natürliche Wachstumsrate lag insgesamt bei durchschnittlich 0,5-0,6 %. Bei der Frage nach den Gründen für die hohe Sterblichkeitsrate ist zuerst darauf hinzuweisen,
306
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
daß die für eine Senkung der Sterblichkeitsrate entscheidenden Neuerungen auf den Gebieten der Hygiene, des Lebensstandards, der (quantitativen und qualitativen) Ernährung sowie vor allem des öffentlichen Gesundheitswesens in Spanien im Vergleich zum restlichen Europa mit deutlicher Verzögerung eingeführt wurden. Das erste Estatuto Municipal, das verbindliche Hygienevorschriften für Stadtverwaltungen aufstellte, stammt aus dem Jahr 1924. Ansteckende Krankheiten blieben somit während des gesamten 19. Jahrhunderts eine der wesentlichen Ursachen für die hohe Sterblichkeitsrate. Wegen mangelnder öffentlicher Vorsorge wurden vor allem die niederen Schichten von den Infektionskrankheiten erfaßt, die somit eine schichtenspezifische Erscheinung darstellten. In Barcelona, der Stadt mit den meisten Arbeitern Spaniens, waren noch zwischen 1880 und 1889 in über 41 % aller Fälle Infektionskrankheiten, vor allem Tuberkulose, die Todesursache. In der Mitte des 19. Jahrhunderts betrug in Barcelona die durchschnittliche Lebenserwartung eines reichen Bürgers bei der Geburt 38,38 Jahre, eines Handwerkers 25,41 Jahre, eines Tagelöhners 19,68 Jahre. Angesichts der mangelnden öffentlichen Vorsorge mußten die auftretenden Epidemien verheerend wirken: Die Choleraepidemie von 1853/56 betraf etwa 5.000 (von insgesamt 9.000) Ortschaften und verursachte nach offiziellen Angaben 236.744, tatsächlich jedoch weit mehr Tote, vor allem im Norden (in den Provinzen Logrofio, Navarra, Vizcaya, Teruel) und im Zentrum (in der Provinz Guadalajara). 1859/60 brach die Epidemie erneut aus; diesmal suchte sie primär die Levante und Andalusien heim (1860: knapp 7.000 Opfer). 1885 brach zum letztenmal in Spanien eine Choleraepidemie aus; sie forderte 120.254 Tote. Bei sämtlichen Epidemien waren die am meisten betroffenen Personen Frauen (1853/56: 161 Frauen auf 100 Männer; 1885: 131 Frauen auf 100 Männer) und Kinder unter vier Jahren. Zu den Seuchen kamen die Ernährungskrisen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders in den Jahren 1856/57, 1868, 1882 und 1887, zu den Hauptgründen des geringen natürlichen Wachstums gehören. Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel (besonders für Getreide) und Geburtenrückgang korrelieren deutlich: Je stärker der Getreidepreis anstieg, desto deutlicher läßt sich Bevölkerungsrückgang feststellen. Die am meisten betroffenen Gegenden waren die zentralspanischen Provinzen Cäceres, Badajoz, Segovia, Burgos und Toledo. Der Erste Weltkrieg bedeutete für Spanien den Beginn eines "neuen demographischen Abschnitts seiner Geschichte" (J. Nadal). Vor allem seit den 1960er Jahren hat Spaniens Demographie die Muster entwickelter Industrienationen angenommen: Erhöhung der Lebenserwartung, nachlassende Geburtenhäufigkeit, Anwachsen der älteren Bevölkerung, Rationalisierung des generativen Verhaltens. Zwischen 1910 und 1976 wuchs die spanische Bevölkerung von 19.927.000 auf 36.350.000, d.h. um 82,41 % (Tab. 26). In diesem Zeitraum gingen sowohl die Geburten- als auch die Sterblichkeitsrate deutlich zurück und näherten sich dem Durchschnitt der europäischen Länder an. Die Sterblichkeitsrate sank von 23 °/.. (1910) auf 8,1 %. (1976) und stellt damit den hervorstechendsten Zug der demographischen Entwicklung Spaniens im 20. Jahrhundert dar. Vor allem die Kindersterblichkeit nahm deutlich ab: Starben 1901 noch 18,59% aller Kinder im ersten Lebensjahr, so waren es 1943 noch 9,92 % und 1970 nur noch 2,07%. Nach wie vor bestanden große interprovinzielle Unterschiede: So lag die Kindersterblichkeit in den innerspanischen Regionen Kastilien, Lehn und Extremadura deutlich über der der Randprovinzen Nordostspaniens. Insgesamt ist der deutliche Rückgang der Sterblichkeitsrate im
Das Bevölkerungswachstum
307
Karte 23: Bevölkerungswachstum 1877-1920
112.819 32.794
g
(1877) (1920)
NKREICH sJ-fg"-2 NAVARRA 8,45 %
-77103.35
STILLA VIEJA ,27 %
ATLANTISCHER OZEAN
97.816
P RTUGAL
,98% a lencla 520.195
EPAA132.1 42,54.%' MURCIA " 38,74 % ,
iisgss 1'5" KANARISCHE INSELN 63,41 %
J
Wachstum (in Prozent) 1-10% 1 10-20% 20-30%
(1877)
V NC1A
BALEAREN 17,25 % (1920)
MITTELMEER
(1877) (1920) 0
100
300 km
Bevölkerung der größten Städte
ag
1877 1920
710.335 Einwohneranzahl
30-40% 40-50% 50--70,13%
20. Jahrhundert vor allem auf soziale und sanitäre Faktoren (öffentliches Gesundheitswesen, Hygiene) zurückzuführen. Gleichzeitig sank die Geburtenrate von 32,6 % (1910) auf 18,5 %. (1976). Besonders kraß manifestierte sich der Geburtenrückgang als Folge des Bürgerkrieges von 1936-1939: Lag die Geburtenrate im Jahrfünft 1931/35 noch bei 27 %., so sank sie im darauf folgenden Jahrfünft 1936/40 schlagartig auf 21,6 X., d.h. um ein Fünftel; die gewaltsame `Anpassung' der Geburtenrate an den europäischen Durchschnitt konnte später nicht mehr
308
Auswanderung und Binnenwanderung
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
Tab. 26: Bevölkerungsstatistik Spaniens 1900-1976 Jahr
Gesamtbevölkerung in 1.000
Heiraten in%0
Geburten in 7,..
Sterblichkeit in %.
Natürliches Wachstum in%o
1900
18.594
8,8
33,8
28,3
5,5
1910
19.927
7,0
32,6
23,0
9,6
1920
21.303
7,2
29,3
23,2
6,1
1930
23.564
7,6
28,5
17,8
10,7
1940
25.878
8,4
24,3
16,5
7,8
1950
27.977
7,5
20,0
10,8
10,2
1960
30.431
7,8
21,6
8,6
12,7
1970
33.824
7,3
20,5
8,5
12,0
1976
36.350
7,2
18,5
8,1
10,4
erhöht werden. Im interregionalen Vergleich waren am Ende der Franco-Ära die Kanarischen Inseln, Südspanien (Andalusien, Murcia, Extremadura) und Guipüzcoa die kinderreichsten Gegenden, Nordspanien mit Galicien, Asturien, Aragonien und Katalonien die nachwuchsärmsten Regionen des Landes. Da die Sterblichkeitsrate in den letzten Jahrzehnten noch schneller als die Geburtenrate sank, war das natürliche Wachstum der Bevölkerung relativ hoch. Es schwankte zwischen 6,1 %. (1920) und 12,7 %. (1960). Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg drastisch von 41,15 Jahren (1920) auf 72,32 Jahre (1970). 1970 kamen auf 100 Männer 104,8 Frauen. Die Altersstruktur der spanischen Bevölkerung hat sich im 20. Jahrhundert deutlich verschoben. 1910 waren 35,9 % der Bevölkerung jünger als 15 Jahre, 1950 nur noch 28,3%; im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der über 61jährigen von 7,7% auf 9,9 % und der der arbeitsfähigen Altersgruppe (zwischen 16 und 60 Jahren) von 56,4% auf 61,8%; die relative, heute verstärkt anhaltende Alterung der Gesellschaft hat nach 1930 begonnen. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte lag am Anfang des Jahrhunderts deutlich unter dem europäischen Mittel. Sie betrug 1910: 39,4 E/km 2, 1920: 46,7 E/km2 , 1970 war sie auf 67 E/km2 angestiegen, wobei die regionalen Differenzen allerdings deutlich zugenommen hatten: Die größte Dichte wies Madrid mit 474,1 E/km2 auf, gefolgt von Katalonien mit 214,2 E/km 2 , den Kanarischen Inseln mit 160,3 E/km 2 und der kantabrischen Küste mit 158,6 E/km2 . Das Ende der Skala nahmen die östliche Tajo-Guadiana-Gegend mit 16,5 E/km2 und die östliche Duero-Region mit 21,2 E/km 2 ein.
der spanische Staat eine Reihe von Verfügungen, die zuerst für die bis dahin untersagte Auswanderung nach Übersee Ausnahmen zuließen und schließlich (1873) die restriktiven Emigrationsbestimmungen aufhoben. Die Hauptzielländer der spanischen Auswanderer waren Kuba, Argentinien und Brasilien. Zwischen 1857 und 1915 ließen sich 1,5 Millionen Spanier (vor allem 18-21 jährige Landarbeiter und Handwerker, von denen nicht wenige dem Militärdienst entgehen wollten) in Argentinien nieder. 1914 waren 10,5 % der argentinischen Bevölkerung Spanier. Die Auswanderung nach Brasilien, vor allem nach Sao Paulo, war bedeutend geringer; sie umfaßte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ca. 300.000 Emigranten. Insgesamt wanderte zwischen 1882 und 1914 mindestens eine Million Spanier aus, d. h. ungefähr ein Drittel des natürlichen Bevölkerungszuwachses dieser Zeit. Der Höhepunkt der Auswanderungswelle lag in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts blieb Lateinamerika das bevorzugte Auswanderungsziel für arbeitsuchende Spanier. In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wanderten insgesamt rund zwei Millionen Spanier nach Argentinien, Uruguay, Chile, Brasilien und Kuba aus, wo sie zumeist wegen ihres Fleißes und ihres Initiativreichtums sehr willkommen waren. Argentinien, das Haupteinwanderungsland, nahm zwischen 1870 und 1930 ca. vier Millionen Einwanderer auf, von denen ein Drittel Spanier waren. Die spanische Auswanderung nach Kuba war auf besonders enge (und emotionale) Bindungen zwischen Spanien und der Karibikinsel zurückführen. In Brasilien führte vor allem die Abschaffung der Sklaverei (1888) zu einem erhöhten Arbeitskräftebedarf. Die meisten Auswanderer kamen aus den Provinzen mit der größten Bevölkerungsdichte (Kanarische Inseln, Pontevedra, Corutla, Oviedo, Santander), in denen der Lebensunterhalt für eine überdurchschnittlich schnell anwachsende Bevölkerung immer schwieriger wurde. In Galicien und Asturien kamen als weitere Emigrationsgründe die besonderen Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel (50 % teurer als in Kastilien) und die durch den Arbeitskräfteüberschuß bedingte auffallend schlechte Entlohnung ungelernter Arbeiter hinzu. Im Vergleich zur Auswanderung hatte die Einwanderung einiger Zehntausend Portugiesen, Italiener, Franzosen, Engländer und Deutscher keine weiterreichende demographische Bedeutung. Die Binnenwanderung war im 19. Jahrhundert noch relativ unbedeutend. Selbst für das wichtigste Einwanderungsgebiet - Katalonien mit seinem Industriegürtel um die Hauptstadt Barcelona - lassen sich die für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts vorliegenden Zahlen nicht entfernt mit der Bedeutung der Auswanderung vergleichen. Auf gesamtspanischer Ebene war allerdings eine deutliche intraprovinzielle Mobilität feststellbar: Die Landbevölkerung zog verstärkt in die jeweilige Provinzhauptstadt. ZwiTab. 27: Einwanderung nach Katalonien 1877-1920 Jahre
2. Auswanderung und Binnenwanderung Ein Hauptgrund für das relativ langsame Bevölkerungswachstum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Auswanderung nach Übersee. Zwischen 1853 und 1903 erließ
309
Einwanderer
1877-1900
83.004
1901-1910
133.559
1911-1920
124.294
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
310
Auswanderung und Binnenwanderung
Karte 24: Auswanderung nach Lateinamerika 1885 - 1930
CANTABRIA 3%
FRANKREICH
PO
NCIA 63. BALEAREN
OALyiA
MITTELMEER
ATLANTISCHER -TAN
KANARISCHE INSELN 6% 100
200 km
4 Regionaler Prozentsatz am Gesamt der Übersee-Auswanderung (1885-1930) 2-5% 5-10% 36% Alle übrigen Regionen zusammen stellten 28% der Auswanderer.
schen 1834 und 1877 nahm der Anteil der Bevölkerung in den Provinzhauptstädten von 10,87% auf 13,53 % der gesamtspanischen Bevölkerung zu; 17 Hauptstädte (vor allem die galicischen und kantabrischen) konnten in dieser Zeit ihre Bevölkerung zumindest verdoppeln, in einigen Fällen verdreifachen. Für die zweite Jahrhunderthälfte läßt sich somit bereits eine deutliche Urbanisierungstendenz feststellen.
311
Trotz der auf gesamtspanischer Ebene feststellbaren Bevölkerungszunahme litten einige Provinzen unter einer negativen demographischen Entwicklung. Die interprovinziellen Bevölkerungsverschiebungen sind auf verschiedene Ursachen zurückzuführen: So verloren etwa zwischen 1857 und 1877 sieben nordspanische Provinzen (Alava, Burgos, Palencia, Lugo, Huesca, Urida und Gerona) 60.700 Einwohner oder 3,1 % ihrer Bevölkerung, was sowohl auf die Todesfälle in den Karlistenkriegen als auch auf die Attraktivität Barcelonas als Einwanderungsstadt zurückzuführen ist. Die Bevölkerungsverluste, die einzelne Provinzen zwischen 1877 und 1887 erlitten, hingen mit Hungerepidemien und Auswanderung nach Nordafrika (Almerfa), der Cholera (Teruel, Soria) und der verstärkten Emigration nach Übersee (Pontevedra) zusammen. Zwischen 1887 und 1900 wiederum erlitten durch Auswanderung als Folge der Reblausplage Gerona und Mälaga, durch die verstärkte Industrialisierung Barcelonas Huesca und Urida, infolge der anhaltenden Übersee-Auswanderung Orense und durch den Krieg gegen Kuba eine Reihe weiterer Provinzen Bevölkerungsverluste. Dadurch änderte sich die relative demographische Bedeutung der einzelnen Regionen. Extremadura, Andalusien, Murcia und Valencia stellten im Jahr 1787 erst 32,5 % der Bevölkerung, 1910 bereits 37,2 %. Galicien, Lehn, Alt-Kastilien und Aragonien stellten 1787 noch 36,9%, 1910 nurmehr 29,4% der Bevölkerung. Während somit die demographische Bedeutung Nord- bzw. Nordwestspaniens zum Teil wegen der Auswanderung, zum Teil wohl auch wegen überdurchschnittlicher Sterblichkeitsraten relativ abnahm, stieg die Bevölkerung Süd- und Ostspaniens im 19. Jahrhundert wegen der viel geringeren Auswanderungsrate sowie vereinzelter Industrialisierungsanfänge (etwa Murcia) deutlich an. Die Altersstruktur der spanischen Bevölkerung änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur geringfügig. Die Angaben für 1857 können fast ohne Veränderungen auch für 1910 übernommen werden: Kinder (bis 15 Jahre) machten im Jahr 1857 35,7% (1910: 35,9%) der Bevölkerung aus, Erwachsene (15-60 Jahre) 58,9% (1910: 56,4 %); der Anteil der über 61jährigen betrug im Jahr 1857 5,4 % (1910: 7,7%). Auch die prozentuale Aufteilung der Geschlechter blieb nahezu unverändert: 49,82 % Männer und 50,18 % Frauen. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 1900: 34,76 Jahre, 1910: 41,73 Jahre. Unabhängig davon, welche Kriterien angewendet werden, blieb die Urbanisierung gering. Der größte Teil der Spanier zählte zur Landbevölkerung. Allerdings wohnten im Jahr 1856 bereits 24,6% der Bevölkerung in (ländlichen) Provinzhauptstädten, die zwar über 5.000 Einwohner zählten, ihren agrarischen Charakter jedoch beibehalten hatten. Noch 1900 lebten 50,8% der Bevölkerung in Ortschaften mit weniger als 5.000 Einwohnern; 78,4% der Gesamtbevölkerung lebten in Orten mit weniger als 20.000 Einwohnern. Städte mit über 100.000 Einwohnern erfaßten im Jahr 1900 lediglich 8,9% der Gesamtbevölkerung. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte lag 1857 bei 30,5 E/km2 ; die geringste Dichte wies die Provinz Ciudad Real (12 E/km2), die höchste Pontevedra (95 E/km2) auf. Einen relativ hohen Konzentrationsgrad hatten die Küste, das Guadalquivir-Tal und Madrid. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte stieg von 32,92 (1877) auf 34,76 (1887), 35,87 (1897), 36,88 (1900) und 39,40 E/km2 (1910) an. Hinsichtlich der Migrationstendenzen unterscheidet sich das 20. vom 19. Jahrhundert durch die Verlagerung des Auswanderungsstromes von Übersee nach Europa und die starke Land-Stadt-Bewegung: Seit 1914 ließ die Auswanderung nach Übersee deutlich nach. Zu
312
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
den Hauptgründen für den Rückgang zählten die riskante Überfahrt und der zunehmende Bedarf an Arbeitskräften in den kriegführenden Staaten Europas. Der demographische Überschuß orientierte sich z.T. nach Frankreich, z.T. auf die sich entwickelnden Industriezentren im eigenen Land. Daß auch nach dem Ersten Weltkrieg die Auswanderungsquoten der Vorkriegszeit nicht wieder erreicht wurden, hing sowohl mit den restriktiven (Wirtschafts- und Einwanderungs-)Bedingungen der Nachkriegszeit als auch mit einer Verbesserung der spanischen Sozialgesetzgebung und dem Geburtenrückgang im eigenen Lande zusammen. In den 1930er Jahren überwog sogar die Rückwanderung. Erst die Hungerjahre nach dem Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg ließen die Auswanderungsquoten mit 1,34 %o wieder auf eine ähnliche Höhe wie vor dem Ersten Weltkrieg ansteigen. Die Hauptauswanderungsgebiete waren Galicien und die ebenfalls übervölkerte kantabrische Küste (Oviedo, Vizcaya), die Haupteinwanderungsländer Argentinien und Venezuela. Die Auswanderung nach Frankreich nahm während des Ersten Weltkriegs deutlich zu; sie wurde vor allem von Landarbeitern der Ostküste getragen (Levante und Katalonien), die sich schwerpunktmäßig in der Provence niederließen. 1919 waren über 50% der Einwohner von Nimes Spanier. Zwischen 1919 und 1931 schwankte die Anzahl der Spanier in Frankreich zwischen 250.000 und 352.000; sie nahm erst nach dem Bürgerkrieg wieder deutlich zu. Der Bürgerkrieg hatte eine verstärkte Emigration der unterlegenen Republikaner (mindestens 300.000), ca. 800.000 Tote durch Kampfhandlungen, Hunger und Erschießungen sowie eine unerwartete Senkung der Geburtenrate zur Folge. In den ersten Jahren nach dem Bürgerkrieg verhinderten die spanischen Behörden aus ideologischen Gründen Auswanderungen größeren Umfangs. Nachdem jedoch 1946 erneut die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen waren, setzte wieder ein breiter Migrationsstrom nach Übersee ein. Bis 1970 wanderten ca. 900.000 Spanier nach (Latein-)Amerika aus; im gleichen Zeitraum kehrten ungefähr 400.000 zurück. Die restriktive und selektive Einwanderungspolitik lateinamerikanischer Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg sowie deren erhöhte Qualifikationsanforderungen für einwandernde Arbeiter ließen seit Beginn der 1960er Jahre den Migrationsstrom nach Übersee allmählich verebben. An seine Stelle trat die Auswanderung nach Europa. Die Bundesrepublik, die Schweiz und Frankreich wurden nach 1960 zu den wichtigsten Zielländern für spanische Auswanderer. Die Kontinuität von der Übersee- zur Europa-Auswanderung blieb auch hinsichtlich der Abwanderungsgebiete gewahrt: Noch 1971 zählten die galicischen Provinzen Orense (25 %o), La Corufia (10,2 %o) und Pontevedra (8,6 %o) - wie schon früher - zu den Gebieten mit den meisten Emigranten; auch Andalusien, Valencia und Murcia lieferten einen Großteil der Auswanderer. Zwischen 1960 und 1969 erreichte die spanische Auswanderungsquote mit fast 1,5 Millionen einen nie dagewesenen Höhepunkt (Tab. 28). Tab. 28: Die spanische Auswanderung nach Europa 1960-1969 Deutschland Belgien Frankreich Holland
444.119 41.688 426.529 48.000
313
Auswanderung und Binnenwanderung
Großbritannien Schweiz Andere Länder
96.364 361.634 7.579
Der im Ersten Weltkrieg gestiegene Bedarf an Industriekräften sowie die gleichzeitige Wirtschaftskrise in den agrarischen Gebieten verstärkten die Migrationstendenz vom Land in die Stadt. Von den 2.040.000 Personen, auf die sich das natürliche Wachstum der Landbevölkerung zwischen 1920 und 1930 belief, wanderten über 750.000 in die jeweiligen Provinzhauptstädte ab; das Land gab somit jährlich ca. 40 % seiner Zuwachsrate an die Städte ab. Aus Tab. 29 wird deutlich, daß der Bevölkerungsverlust kleinerer Ortschaften (bis 5000 E.) zuerst (ungefähr bis zum Bürgerkrieg) sowohl mittleren als auch großen Städten zugute kam; danach konzentrierte sich der Migrationsstrom immer deutlicher auf einige wenige Großstädte. Tab. 29: Die Verteilung der Bevölkerung auf Städte verschiedener Größenordnung 1900-1970 (in %) Einwohnerzahl
1900
1920
1930
1940
1950
1970
Bis zu 5.000
50,92
44,50
40,34
36,29
33,67
22,30
5.000-100.000
40,06
43,44
44,73
44,47
42,24
41,00
9,01
12,05
14,91
19,20
24,09
36,70
über 100.000
Hauptzuwanderungsstädte bzw. -provinzen wurden (mit großem Abstand vor allen anderen) Madrid und Barcelona sowie (deutlich abgesetzt) Bilbao (Vizcaya) und San Sebastiän (Guipüzcoa). Der Anteil an Personen, die nicht in ihrer Heimatprovinz, sondern in den Provinzen Madrid, Barcelona und Vizcaya von den Volkszählungen erfaßt wurden, lag weit über dem nationalen Durchschnitt (Tab. 30). Tab. 30: Personen, die in anderen als ihren Herkunftsprovinzen von den Volkszählungen erfaßt wurden, 1877-1950 (in %) 1877
1887
1900
1910
1920
1930
1950
Provinz Madrid
45,4
43,4
41,7
38,7
39,9
46,9
44,3
Prov. Barcelona
19,5
20,5
22,2
26,2
29,3
36,0
37,8
Prov. Vizcaya
13,7
19,5
26,4
26,0
26,1
24,9
26,0
8,5
8,0
8,5
9,0
10,2
12,2
15,3
Landesdurchschnitt
Zwischen 1940 und 1970 waren 21 der insgesamt 50 Provinzen ständige Abwanderungsgebiete; in diesem Zeitraum gehörten Le6n und Murcia ununterbrochen sowie seit 1946 die Regionen Galicien, Alt-Kastilien (außer Valladolid), Neu-Kastilien (außer Madrid) und Extremadura zu den wichtigsten Abwanderungsgebieten. Seit 1956 zählte auch Andalusien zu diesen Regionen. Insgesamt übertrafen die Abwanderungsregionen bei weitem die Zuwanderungsgebiete: Zwischen 1951 und 1960 gab es bereits 80% Abwanderungsprovinzen (40 von 50); in weiten Agrargebieten wurden richtige Entvölkerungstendenzen wahrnehmbar. Zwischen 1950 und 1960 wanderte über eine Million Landarbeiter von den agrarischen Gebieten Kastiliens, Extremaduras und Andalusiens in die industriellen Ballungszentren ab.
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
314
Auswanderung und Binnenwanderung
In diesen zehn Jahren sank in 18 sowieso schon äußerst bevölkerungsarmen Provinzen, die zusammen 44,2 % der Gesamtfläche des Landes ausmachten, die Bevölkerungszahl noch weiter. Noch deutlicher läßt sich die Entvölkerung agrarischer Gebiete für das Jahrzehnt 1961-1970 nachweisen. In diesem Zeitraum sank die Bevölkerung von 23 Provinzen, d.h. von drei Fünfteln der Gesamtfläche des Landes. Der Bevölkerungsrückgang zwischen 1961 und 1970 erreichte in einigen Gegenden extreme Ausmaße; er betrug z. B. in den vor allem landwirtschaftlich geprägten Provinzen Soria und Cuenca je 21 %, Teruel 20%, Guadalajara 19%, Badajoz und Lugo je 17%, Segovia und Zamora je 16%. Madrid und Barcelona wirkten in der gleichen Zeit wie Magnete: Madrid wuchs zwischen 1951 und 1960 um 35,3 % und zwischen 1961 und 1970 um 45,5 %; heute ist Madrid eine weitgehend dysfunktionale Oase in der kastilischen Wüste. Katalonien registrierte nach dem Bürgerkrieg 20 Jahre lang einen Jahresdurchschnitt von 50.000 Zuwanderern, von denen sich 90 % in der Provinz Barcelona niederließen. Zwischen 1950 und 1960 stieg die Zahl der Zuwanderer auf fast 440.000, zwischen 1961 und 1965 auf ca. 800.000, von denen sich wiederum 50 % in Barcelona (Stadt und nächste Umgebung) niederließen. Bereits 1960 waren 51,7% der Bevölkerung Barcelonas Zuwanderer. 1974 lebte schon ein knappes Drittel der spanischen Bevölkerung in Madrid, Barcelona, dem Baskenland und auf den Kanarischen Inseln.
31 5
Karte 26: Binnenemigrationen der 1950er/1960er Jahre Monbde-0 Nimes talbi Marsan FRAN C A 0,- Maisekts Montpellier Toulouse 0 01Marbona Tarbes Forro ANDORRA °perplanan
La< Santiap Compri Ponte,
Viana du Castelo
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Formentera
4,0 Beja
Karte 25: Auswanderung 1964-1977
ordrbri
Prozentsatz der in der jeweiligen Provinz Geborenen (1991)
AN
ALiÄRVE
I
70 - 80%
unter 50%
111 80 - 85%
50 ” 70% r.4,• Migrationsströme
CM.
FRANKREICH
GALICUL
N
ASTURIAS
1
ANDOR 0 2,2 %
CATAL UI A
6,5 %
111111911
CASTILLA LA NUEVA
0,1 ,1 i % BALEAREN , PAIS VALE IANO
URCIA 30,4 %
KANARISCHE BFM INSELN 0,9%
190 290 km
Auswanderer in europäische Länder
II
Prozentsatz der Gesamtauswandererzahl (931.282)
0
Maßstab 1: 9.000.000 50 100 120 200
(Esp.) Tänzer
Larachei 250 lon/ M A R R U E C O S °Alcazarquivir
(Esp.) ARCEL/A
I
Kanarische Inseln Lanzarael La Palma s t, mruz de Tenertfe Fuerteventura' Gomera llas Palmas Gran anai• e Gran Canaria 45 1-11erro
Karte 26 zeigt die innerspanischen Wanderungsbewegungen der 1950er und 1960er Jahre, die für Spanien wichtiger wurden als die Auswanderung. Der über Jahre ansteigende Bedarf an Industriekräften sowie die gleichzeitige Wirtschaftskrise in den agrarischen Gebieten setzten eine breite Wanderungswelle vom Land in die Stadt in Bewegung. Während des Franquismus (1939-1975) verloren die argarischen Gebiete Bevölkerung in Millionenhöhe: Andalusien verlor 1,8 Millionen Personen, Kastilien-Lehn 1,1 Millionen, Kastilien-La Mancha 1 Million, Galicien 573.000, Muarcia 235.000, Aragonien 136.000. Dafür gewann Katalonien 1,64 Millionen Personen, Madrid 1,63 Millionen, das Baskenland 498.000, Valencia 470.000. Auch die Balearischen und die Kanarischen Inseln gewannen 120.000 bzw. 109.000 Einwohner hinzu. Vor allem die beiden Städte Madrid und Barcelona wirkten seit den 1950er Jahren wie Magnete: Madrid wuchs zwischen 1951 und 1960 um 35,3% und zwischen 1961 und 1970 um 45,5%. Katalonien registrierte nach dem Bürgerkrieg 20 Jahre lang einen Jahresdurchschnitt von 50.000 Zuwanderern, von denen sich 90% in der Provinz Barcelona niederließen. Zwischen 1950 und 1960 belief sich die Zahl der Zuwanderer auf fast 440.000, zwischen 1961 und 1965 auf circa 800.000, von denen sich wiederum 50% in Barcelona niederließen. Es handelt sich um die größte Wanderungsbewegung der spanischen Geschichte, die teilweise auf den innerspanischen Raum beschränkt blieb, sich teilweise aber auch über die Landesgrenzen hinweg erstreckte. Zwischen 1960 und 1970 verließen durchschnittlich jeden Tag nicht weniger als 1.000 Menschen ihren Herkunftsort, d.h. insgesamt ungefähr 3,7 Millionen. Die Konzentration der Bevölkerung in einigen wenigen Gebieten beschleunigte den Verstädterungsprozeß. Der Prozentsatz von Personen, die in Großstädten mit über 100.000 Einwohnern lebten, stieg von 19% (1930) auf fast das Doppelte (1970).
316
317
XIII Die Bevölkerung in der Neuzeit (bis 1975)
Beim Übergang von der Periode 1900-1930 zur Periode 1930-1960 änderten sich die traditionellen, vor allem nordspanischen, Abwanderungsregionen nicht, sie wurden jedoch durch südliche Gegenden ergänzt. So wuchs im östlichen Andalusien die Zahl der Abwanderer von 317.500 (1901-1930) auf 640.000 (1931-1960); in der östlichen Tajo-GuadianaRegion erhöhte sich die Zahl von 91.000 auf 271.000 Abwanderer; Westandalusien, das 1901-1930 ein Zuwanderungsgebiet war, wurde 1931-1960 zu einer Abwanderungszone. Die Migrationen erfolgten auf dem Hintergrund gewaltiger interprovinzieller und interregionaler Entwicklungsgefälle. Während (1969) in den fünf entwickeltsten Provinzen Guipüzcoa, Vizcaya, Alava, Madrid und Barcelona das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen um 44,8% über dem nationalen Mittel lag, lag es in den fünf rückständigsten Provinzen Granada, Cäceres, Jah, Almerfa und Orense um 46,01 % unter dem Landesdurchschnitt. In letzterer Provinzgruppe waren durchschnittlich 55,4% der jeweiligen erwerbstätigen Bevölkerung im Agrarsektor tätig, während es bei den entwickelten Provinzen nur mehr 9,0% waren. Die Migrationsströme führten im Spanien der 1960er und 1970er Jahre immer deutlicher auf eine "dualistische Gesellschaft" hin: auf einige relativ hochentwickelte und dicht bevölkerte Inseln innerhalb eines unterentwickelten und entvölkerten Umlandes. Im gesamten 20. Jahrhundert wuchs die spanische Bevölkerung um weit mehr als das Doppelte, von 18,8 auf 40,8 Millionen Einwohner. Zugleich erfolgte aber ein demographisch-territoriales Ungleichgewicht: Die Spanier verließen das Landesinnere – mit Ausnahme von Madrid, das überdurchschnittlich anwuchs – und siedelten sich an den Küstenregionen an. Heute wohnen 40,4% der Bevölkerung auf lediglich 1% des spanischen Territoriums; 95,9% der Bevölkerung leben in der einen Hälfte des Staatsgebiets, und 4,1 % leben in der anderen Hälfte. Die Rede ist von einem "leeren" und einem "überbevölkerten" Spanien. Die Provinzen Madrid und Barcelona nehmen allein ein Viertel der Bevölkerung auf; die Provinzen Madrid, Barcelona, Valencia und Sevilla knapp 35 %.
Literatur Garcia Barbancho, Alfonso: Las migraciones interiores espariolas, estudio cuantitativo desde 1900. Madrid 1967 Garcfa Barbancho, Alfonso: Las migraciones interiores espariolas en 1961-1970. Madrid 1975 Garcia Fernändez, Jesils: La emigraciön exterior de Esparia. Barcelona 1965 Nadal, Jordi: La poblaciön espariola (siglos XVI y XX). Barcelona 1976 Palazön, Salvador: Los esparioles en Amörica Latina (1850-1990). Madrid 1995 Pörez Moreda, Vicente / Reher, David-Sven: Demograffa histörica en Esparia. Madrid 1988 Sänchez Alonso, Blanca: Las causas de la emigraciön espariola 1880-1930. Madrid 1995 Vicens Vives, Jaime (Hg.): Historia social y econömica de Esparia y Amörica. Bd. 5. Barcelona 1972
XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
1.
Soziale Schichtung und Mobilität
Im gesamten 19. Jahrhundert blieb die Landwirtschaft der vorrangige Wirtschaftszweig, der auch im wesentlichen die soziale Struktur des Landes bestimmte. Die Beschäftigungslage entsprach der Bevölkerungssituation auf dem Land. Der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen an der Gesamtbeschäftigtenzahl veränderte sich bis Ende des 19. Jahrhunderts kaum. 1887/88 waren lediglich 42,52% der Gesamtbevölkerung berufstätig, 1901/02 noch weniger (40,71 %). Der Prozentsatz der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft betrug in den 80er Jahren über 72% (Deutschland 1870: 50%). Nach anderen Quellen (Martfnez Cuadrado, Tufiön de Lara) waren 1890 ca. 40% der Bevölkerung erwerbstätig, davon 66,5 % in der Landwirtschaft (1900 nahezu unverändert 66,35 %), 14,6% in der Industrie (1900: 16,33%) und 18,7% im Dienstleistungssektor (1900: 17,32 %). Über die Hälfte des Sektors "Industrie" bezog sich um die Jahrhundertwende auf Bauwirtschaft und Textilherstellung, über ein Viertel des "Dienstleistungssektors" auf häusliche Dienste. Um die soziale Schichtung der spanischen Gesellschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts darstellen zu können, müssen zuerst die Besitzverhältnisse auf dem Land angesprochen werden, die eine auffällige, zum Teil bis in das 18. Jahrhundert und noch weiter zurückverfolgbare Konstanz aufweisen. Während sich der von Tagelöhnern (jornaleros) und Pächtern (arrendatarios) bewirtschaftete Großgrundbesitz primär in Neu-Kastilien, Andalusien und Extremadura konzentrierte, dominierten in Teilen von Alt-Kastilien, Galicien und Lehn die landwirtschaftlichen Kleinstbetriebe, deren Bewirtschaftung kaum die Existenzsicherung einer Familie ermöglichte und für Besitzer (Pächter) zumeist einen Nebenerwerb erforderlich machte. Im kantabrischen Gebiet und besonders in Galicien hatte die Fragmentarisierung des Bodens ungewöhnliche Ausmaße erreicht. Die zwischen 10 und 100 ha umfassenden Mittelbetriebe waren schwerpunktmäßig in Katalonien, dem Baskenland und der Levante lokalisiert. Eine Globalcharakterisierung der agrarischen Eigentumsverhältnisse läßt eine deutliche Dichotomie erkennen: Im südlichen Drittel des Landes überwogen die Latifundien, die primär von Landwirtschaftsarbeitern bewirtschaftet wurden; im Zentrum und Norden des Landes war die überkommene Agrarverfassung im allgemeinen durch das Nebeneinanderbestehen von grundbesitzenden Kleinstbauern und Großgrundbesitzern gekennzeichnet, deren Land sowohl von lohnabhängigen Landarbeitern als auch von Kleinpächtern in der Kleinbetriebsform bewirtschaftet wurde. Trotz der revolutionären Umbrüche 1810/12, 1820/23 und 1836 und der in dieser Zeit erfolgten Besitzwechsel auf dem Land, trotz der Desamortisation, der Säkularisierung und des öffentlichen Verkaufs der kirchlichen Güter und Ländereien, die sich in "Toter Hand" befanden, kam es im 19. Jahrhundert zu keiner grundlegenden Änderung der Agrarstruktur, weder zu breiter gestreutem Besitz noch zu ertragreicheren Anbauformen. Mit der Einführung der liberal-kapitalistischen Rechts- und Sozialordnung im zweiten Drittel des 19.
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XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Jahrhunderts wurde zwar ein Versuch gemacht, zu einer neuen Landverteilung zu gelangen; die Vorrangstellung des Großgrundbesitzes jedoch blieb ungebrochen. Der religiös und sozial konservative Landadel behielt auch nach der Aufhebung der patrimonialen Gerichtsbarkeit faktisch die alte Stellung auf dem Lande, vor allem im Bereich der Latifundienherrschaft. Allerdings trat jetzt neben den alten Adel ein großgrundbesitzendes Bürgertum, das als Folge der Liberalisierung des Eigentumsrechtes entstanden war. Die mit der Desamortisation einhergehende Auflösung bzw. Umstrukturierung der Zünfte, Gilden, Bruderschaften und Hilfsorganisationen (wie Getreidemagazine und Hospitäler), der Feld-, Flur- und Waldgemeinschaften, der Allmenden sowie weiterer genossenschaftlich-gemeinschaftlicher Landeinrichtungen hatte eine weitere Verschlechterung der Situation der Landbevölkerung zur Folge. Die Arbeitslosigkeit der Tagelöhner stieg in einzelnen Provinzen des Südens infolge der dort häufig praktizierten Monokulturen (Getreide, Wein, Öl) bis auf 180 Tage im Jahr; zum Teil waren die Arbeitsmöglichkeiten noch schlechter (etwa in Jah). Das ständige Überangebot an Arbeitskräften und das Heer von Arbeitslosen, die bei Arbeitsanfall jederzeit abrufbar waren, drückten die ohnehin niedrigen Löhne noch weiter. Der Durchschnittslohn eines andalusischen Landarbeiters lag bei ungefähr einem Drittel des Landesdurchschnitts. Die billigen weiblichen Arbeitskräfte, die zur Erntezeit eingesetzt wurden, und die nur zur Erntezeit aus anderen Provinzen oder Portugal angereisten Arbeitsuchenden verhinderten, daß die Tagelöhner auf Dauer eine wirtschaftliche Verbesserung ihrer Situation durchsetzen konnten. Die Neuverteilung des Besitzes während der Regierungszeit Isabellas verdoppelte zwar die landwirtschaftliche Anbaufläche; dennoch trug dies nicht zur Verbesserung des äußerst niedrigen Lebensstandards und der sozialen Lage der großen Mehrheit der Landbevölkerung bei. Vielmehr schuf der rasche Bevölkerungszuwachs ein sich ständig vergrößerndes Landproletariat, vor allem in Andalusien (braceros) und Extremadura (yunteros). Versuche, diese Ungleichverteilung zu mildern, wie z. B. durch die Umwandlung von Trockenland in künstlich bewässertes Land, konnten infolge des Kapitalmangels nicht in größerem Maßstab durchgeführt werden. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Süd- und Nordwestspanien überwogen in Katalonien landwirtschaftliche Familienbetriebe kleinen Umfangs und mittelgroße Betriebe mit einigen darauf beschäftigten Landarbeitern; trotz dieser Agrarstruktur stellte die Schicht der Pächter – insbesondere die der Weinpächter (rabassers) – ein Problem dar. Seit 1879, dem Beginn der Reblausplage, sank die durchschnittliche Pachtdauer der Weinberge auf die Hälfte; die Pächter erhielten ungünstigere Verträge. Um ihre Interessen zu wahren, gründeten die rabassers Widerstandsgruppen und Verteidigungsbündnisse, deren politische Bedeutung allerdings erst im 20. Jahrhundert zum Tragen kam. Ende der 1860er Jahre – nach Abschluß der Umschichtungsprozesse – gab es bei einer Landbevölkerung von 13 Millionen ungefähr fünf Millionen in der Landwirtschaft Beschäftigte. 700.000 davon waren Bauern mit einem Stück Land, das zu ihrem Auskommen reichte; eine weitere halbe Million waren Siedler auf Staatsland und mittlere Pächter; der Rest lebte in ärmlichsten Verhältnissen: ca. 2,5 Millionen Minifundisten, die sich zum Überleben bei Mittel- und Großbauern verdingen mußten, und ungefähr 1,5 Millionen primär auf Latifundien dahinvegetierende Tagelöhner. Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte die spanische Gesellschaft als Folge der beginnenden Industrialisierung die erste bedeutende Veränderung seit Jahrhunderten. Seit 1830 ent-
Soziale Schichtung und Mobilität
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wickelte sich allmählich eine auf Dampfmaschine und Textilproduktion basierende katalanische und seit 1850 eine auf Eisen, Stahl und Mineralien beruhende baskisch-asturische Industriebourgeoisie. Der Eisenbahnbau förderte den industriellen Aufschwung und verband die Landesteile. Um die Mitte des Jahrhunderts gab es in Katalonien ungefähr 100.000 Textilarbeiter; die Zahl der Bergarbeiter belief sich (in ganz Spanien) auf ca. 25.000, die der Metallarbeiter auf 12.000. Insgesamt waren in der aufstrebenden Industrie an die 200.000 Arbeiter beschäftigt. Ende der 60er Jahre dürfte die Zahl der katalanischen Textilarbeiter auf 130.000, in Spanien insgesamt die der Berg- und Metallarbeiter auf 50.000 angewachsen sein. Noch weitgehend in ländlichem Milieu lebten die ca. 40.000 Arbeiter der Getreideund Ölmühlen. Das anfänglich schwache Bürgertum im Küstengebiet (Katalonien, Asturien, Baskenland) breitete sich im Zuge der Industrialisierung rasch aus. Über das Zensuswahlrecht (bis 1890) übte es entscheidenden Einfluß im Parlament, über die Presse auf die öffentliche Meinung aus. Der allmähliche wirtschaftliche Aufschwung führte in den fortschrittlichen Regionen zur Ausprägung eines breiteren Bürgertums und – unterhalb dieser Schicht – zur Ausbildung einer unteren Mittelschicht, der sogenannten clase media, zu der Anwälte und Ärzte, Handwerker und Kaufleute, Militärs und Kleingewerbetreibende zu rechnen sind. Nach Vicens Vives gehörten gegen Anfang des 19. Jahrhunderts bereits 5 % der Familien Barcelonas dieser unteren Bürgerschicht an. In der zweiten Jahrhunderthälfte entwickelten sich in Katalonien die mit Bank- und Handelsinteressen verflochtene und auf den gesamtspanischen Markt orientierte Großbourgeoisie und das eher lokal ausgerichtete Kleinbürgertum deutlich auseinander. Auf gesamtspanischer Ebene dominierte das Kleinbürgertum nach der Anzahl über die Großbourgeoisie: Von den 898.000 Beschäftigten, die 1877 im "Industrie"Sektor tätig waren, waren über 500.000 kleine Handwerker; ungefähr ebensoviele arbeiteten als Kleinhändler. Auch Intellektuelle und Staatsbeamte gehörten dieser "Zwischenschicht" an. Ein Großteil dieser Berufsgruppen, vor allem die Handwerker, unterlag im 19. Jahrhundert einem allmählichen Proletarisierungsprozeß, wenn sie auch nach außen eine bürgerliche Scheinwelt aufrechterhielten. Politisch waren diese Schichten ganz unterschiedlich orientiert: In den aufstrebenden Küstenstädten unterstützten sie eher demokratisch-republikanische Kräfte oder die Progressisten, auf der zentralen Hochebene und in Galicien konservative Interessen, im Baskenland die Karlisten. Die politische Elite des Landes entstammte um die Jahrhundertmitte den (altadeligen, geadelten oder geldaristokratischen) Großgrundbesitzern, den (häufig, vor allem unter Isabella II. geadelten) Militärs und traditionell dem Anwaltsberuf, dessen Spitzenrepräsentanten oft in die führenden Schichten einheirateten. In den Cortes von 1901 etwa waren 62 % der Abgeordneten Anwälte. Die "politischen Familien" waren zwar zumeist an Finanzgeschäften der verschiedensten Art beteiligt, gehörten jedoch nur selten zu den eigentlichen Unternehmerkreisen; sie entstammten fast immer dem großagrarischen Milieu. Die Finanzbourgeoisie gehörte den Regierungskreisen weit häufiger an als die erst entstehende Industriebourgeoisie, die allerdings aus wirtschaftlichen Gründen ebenfalls das "Ordnungssystem" der Monarchie unterstützte. Auch die gegen den Karlismus gerichtete baskische Großbourgeoisie stand hinter der Restaurationspolitik. Nur in den kurzlebigen Regierungen der I. Republik (1873/74) waren – neben den führenden Militärs – "bürgerliche" Berufe besonders zahlreich vertreten: Anwälte, Professoren, Ärzte, Philologen, Händler. In der
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XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Restaurationsära stand an der Spitze der sozialen Pyramide die Allianz der traditionellen Klasse, des Adels, mit den wirtschaftlich Führenden, dem Großbürgertum. Die bedeutendste Rolle spielten nach wie vor die Großgrundbesitzer; die Schicht ihrer wichtigsten Vertreter belief sich auf ungefähr 8.000. Auch wenn der Adel unter ihnen zahlenmäßig nicht mehr in der Mehrheit war, übte er weiterhin eine "ideologische Hegemonie" (M. Tufiön de Lara) aus. Diesem Machtblock fügte sich vor allem die Finanzbourgeoisie ein; die Integration durch Assimilation erfolgte auf dem Wege der Adelsverleihung, der Einheirat und über wirtschaftliche Verflechtungen. Der gemeinsame Nenner der in Wirtschaft, Politik und Militär führenden Männer war ihre Integration in den Adel. Während der Regierungszeit Isabellas II. wurden 401 Adelsverleihungen vorgenommen (vor allem an Militärs), in der Restaurationszeit noch einmal 288, in erster Linie an die neue Finanzund Industriebourgeoisie. Allerdings bildete sich während der Restauration, vor allem in Katalonien, unter der in den Machtblock integrierten Großbourgeoisie ein "anderes Bürgertum", das diesem Machtblock nicht angehörte und sich (vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts) als Alternative zu diesem verstand. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein unterschied sich die Sozialstruktur Spaniens nur geringfügig von der des 19. Jahrhunderts. Signifikante Merkmale der ökonomischen Sozialstruktur waren nach wie vor die Besitzverhältnisse im Agrarsektor mit ihrem weitgehend unveränderten Konzentrations- und Ungleichheitsindex. So nahmen im Jahre 1930 im Süden des Landes die Ländereien mit mehr als 100 ha immer noch eine doppelt so große Fläche ein wie die Parzellen mit weniger als 10 ha; die Großgrundbesitzer verfügten dort über 66,5% des Landes. Über 500 ha große Besitzungen stellten im Süden 53% der Landoberfläche dar. Demgegenüber betrug im Zentrum des Landes die von Latifundien eingenommene Fläche weniger als die Hälfte des Kleinbesitzes; im Norden bedeckte der Großgrundbesitz nicht einmal 25% des Bodens. 1930 nahmen die Latifundien, die lediglich 0,1 % aller Landwirtschaftsbetriebe darstellten, 33,28% der Gesamtoberfläche ein, während die Minifundien zwar 96% aller Betriebe stellten, aber nur über 29,57% des Bodens verfügten. Weite Gegenden Südspaniens wiesen klassische Merkmale ökonomischer und sozialer Rückständigkeit auf: Hunger, Arbeitslosigkeit, Analphabetismus, überdurchschnittliche Bevölkerungsvermehrung, Kapitalmangel, soziale Unruhen. Nach dem Ersten Weltkrieg verloren die Großgrundbesitzer infolge rapide zunehmender Industrialisierung einen Teil ihrer früheren Macht; während der Zweiten Republik (1931-1936) erhielt diese Schicht durch den Beginn der Agrarreform eine weitere Schwächung. Ein Teil des alten Adels verkaufte daraufhin seine Ländereien an Finanz- und Industriekapitalisten sowie begüterte Angehörige der oberen Mittelschicht, die damit zu Agrarunternehmern wurden. Nach der fehlgeschlagenen Agrarreform der Zweiten Republik und den agrarkollektivistischen Enteignungen der Bürgerkriegszeit wurden die Großgrundbesitzer durch das "neue" Spanien Francos vollauf entschädigt, die alten vor-republikanischen Grundverhältnisse wiederhergestellt. Der erste Nationale Agrarzensus von 1962 ließ deutlich werden, daß sich an der überkommenen Agrarstruktur nicht viel geändert hatte: 1,8% der Landwirtschaftsbetriebe bedeckten 52,8% der Fläche. Zieht man davon die Gemeindeliegenschaften ab, dann verfügten die 31.888 größten privaten Landwirtschaften (1,1% vom Ganzen) über 33,1% (14,5 Millionen ha) aller und über 41,2% aller privaten Grundflächen, während die verbleibenden 2,7 Millionen Kleinbetriebe sich auf 17,1 Mil-
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lionen ha oder 39,1 % der landwirtschaftlichen Fläche drängten. Die tatsächliche Bodenkonzentration war noch größer, da der Zensus von 1962 nach Gemeinden registrierte, so daß ein Großgrundbesitzer, dessen Ländereien über die Grenzen der Gemarkungen hinausreichten, als zwei oder mehr Betriebe gezählt wurde. Wie radikal die alten Besitzverhältnisse wiederhergestellt wurden, geht aus der Untersuchung von E. Malefakis hervor, der darauf hingewiesen hat, daß die Struktur des Grundbesitzes 1959 im Grunde die gleiche wie 1930 oder gar 1910 war. Nach 1939 wurde eine große Anzahl der landwirtschaftlichen Klein- und Kleinstbetriebe aufgelöst. Hunderttausende kleiner Landwirte gaben ihre unrentablen Minifundien auf und wanderten in die Industrie- und Verwaltungszentren ab. Gab es am Ende des Bürgerkrieges ca. 3,2 Millionen Landwirtschaftsbetriebe, so waren es 1962 noch 2,8 Millionen und 1972 nur noch 2,5 Millionen. Hiervon zählten ungefähr 300.000 als "mittlere Bauernstellen", während die restlichen 2,2 Millionen Kleinbauern eher zu den Agrarproletariern zu zählen waren, deren Durchschnittseinkommen in den meisten Fällen unter denen von Industriearbeitern blieben und die physisch und als soziale Schicht nur infolge der staatlichen Festsetzung der Preise für ihre Agrarprodukte überleben konnten. Mitte der 1950er Jahre setzte die wirtschaftlich bedingte Ab- und Auswanderung der Landarbeiter ein. Während der Zweiten Republik gab es noch an die zwei Millionen; bis 1975 war diese ärmste Schicht des spanischen Agrarproletariats auf unter 600.000 gesunken. Zuerst hatte der massive Exodus landwirtschaftlicher Arbeitskräfte eine Mechanisierung der Landwirtschaft zur Folge; allmählich trug dann diese Mechanisierung zur weiteren Abwanderung bzw. (bis heute) zu einem hohen Prozentsatz an Arbeitslosen in den Latifundiengebieten bei. Der Abwandererstrom brach erst infolge der Überalterung der landwirtschaftlichen Bevölkerung ab. Obwohl Spanien in der ersten Jahrhunderthälfte überwiegend agrarisch strukturiert war, durchliefen die "randspanischen" Gebiete einen rapiden Industrialisierungsprozeß. 1930 gab es ca. 1,5 Millionen Industriearbeiter an der Peripherie des Landes. Zu Beginn der Zweiten Republik wies die erwerbstätige Bevölkerung folgende Struktur auf: 28,12% waren selbständig und in der Landwirtschaft tätig (Kleinbauern, Pächter), 17,39% waren angestellte Landarbeiter (Tagelöhner), 9,12 % arbeiteten als selbständige Handwerker und Industrielle, 17,4% verdienten sich als Industrie- und Bauarbeiter ihren Unterhalt, 17,1% hatten ein eigenes Dienstleistungsunternehmen (Händler, Geschäftsleute) oder waren im Dienstleistungssektor angestellt (Beamte), 10,88% waren Arbeiter in Dienstleistungsbetrieben oder Hausangestellte. Im Landwirtschaftssektor zählten zur Führungsschicht (Großgrundbesitzer) 3,45%, zu den Mittelschichten (Kleineigentümer, Pächter) 50,89 %, zur Arbeiterschicht 45,66%. Im Industriesektor belief sich der Prozentsatz der Großindustriellen auf 3,54%, der mittleren Unternehmer auf 30,85%, der Arbeiterschaft auf 65,51 %. Im Tertiärsektor wurden in der Spitzenkategorie (Handelsgroßbourgeoisie, Freiberufler, Spitzenbeamte) 5,31 %, in der mittleren Schicht (Kleinhändler, Militärs mittleren Ranges, Angestellte und Beamte) 55,81 % und bei den Arbeitern, Hausangestellten usw. 38,87% gezählt. In den Jahren zwischen 1930 und dem Ende des Franquismus erfolgte eine sektorale Verschiebung der erwerbstätigen Bevölkerung, die einzigartig in der spanischen Geschichte war (Tab. 31).
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XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Soziale Schichtung und Mobilität
Tab. 31: Die Entwicklung der erwerbstätigen Bevölkerung nach Wirtschaftszweigen 1930-1976 Jahr
Erwerbstätige in % der Gesamtbevölkerung
Sektorale Verteilung der erwerbstätigen Bevölkerung in % Landwirtschaft
Industrie
Dienstleistungen
1930
35,51
45,51
26,51
27,98
1940
34,61
50,52
22,13
27,35
1950
37,09
47,57
26,55
25,88
1960
38,11
39,70
32,98
27,32
1965
38,50
34,30
35,20
31,20
1970
37,44
29,11
37,28
33,61
1976
36,78
23,10
37,20
39,70
Die stetige Zunahme des Anteils der in der Industrie beschäftigten Personen verlief parallel zur abnehmenden Entwicklung der erwerbstätigen Agrarbevölkerung; lediglich 1940 änderten sich die Vorzeichen beider Tendenzen, was auf die Folgen des Bürgerkrieges zurückzuführen war. Gleichzeitig trat ein kontinuierliches, aber langsameres Wachstum des Dienstleistungssektors ein. Im Lauf der 1960er Jahre setzte dann, bevor sich der Industrialisierungsprozeß voll auswirken konnte, eine schnellere Zunahme der im tertiären Sektor tätigen Bevölkerung ein; 1975 hatte sie bereits den größten Anteil an der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung. Die frühzeitige Beschleunigung der Verschiebung in der Beschäftigungsstruktur zugunsten des Dienstleistungssektors steht mit dem Übergewicht dieses Zweiges innerhalb des spanischen Sozialprodukts (1970: 51,1 %) im Einklang. Die kapitalstarke Finanz- und Industriebourgeoisie war eine äußerst schmale Schicht von ca. 1.000 Personen, die im Franquismus jedoch zu den wichtigsten Stützen des Regimes zählten. Die das Regime tragenden bzw. vom Regime profitierenden Kräfte (Streit- und Sicherheitskräfte, Kirche, Großgrundbesitzer, Industrie- und Finanzoligarchie) beliefen sich auf ungefähr 864.000 Personen, d.h. 2,5 % der Gesamtbevölkerung Spaniens in den 1960er Jahren. Die Mittelschichten (clases medias) betrugen zu dieser Zeit - sieht man von den 600.000 Angehörigen der Streit- und Sicherheitskräfte sowie den 60.000 Kirchenangehörigen ab - ungefähr 2,33 Millionen, die sich nach R. Tamames folgendermaßen zusammensetzten: 50.000 Ärzte, 60.000 Anwälte, 120.000 freie Berufe, 300.000 Staatsbeamte, 300.000 Angestellte anderer öffentlicher Institutionen, 500.000 kleine und mittlere Industrieunternehmer, 700.000 kleine und mittlere Dienstleistungsunternehmer, 300.000 mittlere Landwirtschaftsunternehmer. Zusammen mit ihren Familienangehörigen umfaßte diese soziale Schicht über neun Millionen Personen, d. h. ca. 28 % der Gesamtbevölkerung. Seit 1939 hatten diese Mittelschichten eine gewaltige Ausweitung erfahren; damals betrugen sie lediglich 17% der Bevölkerung. Zu dieser Ausweitung trugen die enorme Aufblähung des Staatsapparats und die Wirtschaftspolitik der ersten 20 Jahre mit ihrer relativen Sicherheit für Kleinunternehmer erheblich bei.
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1970 betrug die Arbeiterschaft (zusammen mit ihren Familienangehörigen) 69,5 % der Gesamtbevölkerung (2,2 Millionen kleine Landwirte, 700.000 Agrararbeiter, 3,85 Millionen Industriearbeiter, zwei Millionen Arbeiter im Dienstleistungssektor). Dabei hat sich die Industriearbeiterschaft zwischen 1940 und 1970 von zwei auf knapp vier Millionen nahezu verdoppelt. Die zwei Millionen Arbeiter im Dienstleistungssektor waren vor allem im Gaststättengewerbe (400.000), im Handel, in Verwaltung und häuslichen Diensten (je 300.000), im Verkehrsbereich, in den Banken und anderen Berufssparten angestellt. Dieser Sektor expandierte infolge der überdurchschnittlichen Lohnerhöhungen seit den 1950er Jahren besonders intensiv. Die Industrialisierung erhöhte auch die Notwendigkeit der Professionalisierung; die inter-generative Berufsmobilität nahm zu: Ein Viertel der Söhne war am Ende des Franquismus nicht mehr in den Berufen der Väter tätig. Insbesondere die Gruppe der Facharbeiter hatte im Generationenwechsel erheblich zugenommen (von 18,1 % auf 27,2 % aller Erwerbstätigen). Zugleich sank die Vererbungswahrscheinlichkeit des Landarbeiterberufs von 20,3 % auf 7,5 %. Die Fundaciön FOESSA hat Mitte der 70er Jahre eine Untersuchung durchgeführt, um den sozialen Status und die Schichtzugehörigkeit der spanischen Bevölkerung zu ermitteln. Als wichtige Variablen wurden das Familieneinkommen (ökonomisches Niveau), der Ausbildungsstand (kulturelles Niveau) und das Berufsprestige angesehen (Tab. 32). Tab. 32: Die soziale Schichtung in Spanien 1970 Schicht Oberschicht
Zahl der Haushalte
Anteil in %
98.800
1,1
Obere Mittelschicht
698.300
7,8
Untere Mittelschicht
1.674.700
18,8
Unterschicht
6.460.400
72,3
Summen
8.932.200
100,0
Demnach waren die Mittelschicht viel kleiner und die Basis der Sch'chtungspyramide viel breiter als in anderen westeuropäischen Industriegesellschaften. Der oligarchischen Oberschicht standen nach diesen Berechnungen eine nur ca. 26% der Gesamtbevölkerung umfassende Mittelschicht und vor allem eine breite Unterschicht gegenüber. Außerdem fand eine Verschlechterung der Einkommensverteilung zum Nachteil der niedrigeren Lohnkategorien statt, während die Einkommen aus Vermögen und unternehmerischer Tätigkeit eine überdurchschnittliche Entwicklung der Nettogewinne verbuchen konnten. Im Jahr 1970 erhielten auf der unteren Ebene 52,6% der Haushalte lediglich 21,6% des gesamten verfügbaren Einkommens, während am oberen Ende der Skala 22,4% des Gesamteinkommens auf 1,2% der Haushalte entfielen. Allein die höchste Einkommensgruppe (0,12% aller Hausbalte) bezog 11,2% der Gesamtsumme. Die Erwerbsquote war nach wie vor relativ niedrig. 1974 betrug sie 37% (54,7% bei den Männern, 21,4% bei den Frauen). Diese ungünstige Relation wurde durch eine hohe offene und verdeckte Arbeitslosigkeit verschärft.
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XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
2.
Vom Sozialprotest zum Klassenkampf
Der Siegeszug des Liberalismus im Spanien des 19. Jahrhunderts, die Entstehung einer vorerst noch peripher lokalisierten Industrie und die Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen mußten unweigerlich zu neuen Formen der Sozialbeziehungen und -auseinandersetzungen führen. Während des 18. Jahrhunderts hatte es zahlreiche ländliche und städtische Subsistenzrevolten gegeben, die jedoch als kollektiver Sozialprotest stets im Rahmen der bestehenden und grundsätzlich akzeptierten soziopolitischen Ordnung erfolgten. Die Aufstände waren lokal begrenzt, richteten sich gegen konkret definierbare Mißstände und forderten die Wiederherstellung der vorübergehend gestörten "gerechten" Ordnung. Auch die wenigen "industriellen" Auseinandersetzungen, die aus den Manufakturbetrieben überliefert sind, waren "vorpolitischer" Art und überschritten nicht den Rahmen des einzelnen Betriebs. Es war noch nicht das Bewußtsein vorhanden, einen gemeinsamen Kampf führen zu müssen, der sich gegen die Organisation der Gesellschaft selbst richtete und ein alternatives Modell propagierte. Die traditionelle (Textil-)Industrie des Anden Reime war weit über das spanische Territorium verbreitet; es gab keine regionale Industriekonzentration von einiger Bedeutung. Meist wurde für den lokalen Markt produziert, mitunter war das Textilwesen nach dem Verlagssystem organisiert und damit vom Handelskapital abhängig. Diese Form der Industrie stellte kein Element dar, das die sozialen Beziehungen im Ancien Reime in Frage stellte oder verändern wollte. Im Gegenteil: Sie war ein Stabilitätsfaktor, da viele Arbeiter, die in der Landwirtschaft beschäftigt oder Handwerker waren, diese "industriellen" Tätigkeiten als Nebenerwerb praktizierten, und da es diesen Nebenerwerb gab, konnten die landwirtschaftlichen Löhne niedrig und die Bauern in Abhängigkeit von den Landherren gehalten werden. Die aufklärerischen Politiker des 18. Jahrhunderts waren sich über diese Zusammenhänge durchaus im klaren. Sie förderten daher auch die traditionelle, überwiegend handwerklich geprägte Form der Industrie, lehnten jedoch die neuen, aus England bereits bekannten industriellen Organisationsformen mit ihren Massierungen von Arbeitern an einem Ort ab, da sie davon schädliche soziale Auswirkungen befürchteten. Als gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Katalonien als Folge des von den Kolonialmärkten ausgehenden Stimulus ein "moderner" Industriesektor entstand, traten (trotz des bescheidenen Ausmaßes, das es nicht erlaubt, schon von "Industrialisierung" zu sprechen) prompt die von den Aufklärern befürchteten Folgen ein. Zum einen erfolgte eine größere Konzentration von Arbeitskräften an einem bestimmten Ort — in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Katalonien schon 100.000 Textilarbeiter. Zum anderen waren diese Arbeiter nunmehr ausschließlich von ihrer Industriearbeit abhängig, da sie ihr teils handwerkliches, teils landwirtschaftliches Berufsleben aufgegeben hatten und wegen der höheren Löhne sich ganz ihrer Fabriktätigkeit widmeten. Das Schicksal dieser Arbeiter hing nunmehr von der Entwicklung ihrer jeweiligen Branche, das heißt von der industriellen Konjunktur ab; ihre Interessen waren aufs engste mit denen der Arbeitgeber verbunden. Die katalanischen Städte des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts erlebten allenthalben den Übergang von halbautonomen Arbeitskräften zu Industrieprole-
Vom Sozialprotest zum Klassenkampf
325
tariern; der Prozeß fand erst gegen Mitte des Jahrhunderts seinen Abschluß. Während des größten Teils dieses Übergangsprozesses befand sich die Arbeiterschaft nicht nur in materieller, sondern auch in ideologischer Abhängigkeit von den Unternehmern. Diese wiesen ihre Arbeiter immer wieder darauf hin, daß ihr Wohlergehen nicht vom Arbeitgeber, sondern ausschließlich von der Regierungspolitik abhing. Befand sich das Land im Krieg und stagnierte der Kolonialabsatz, wurde die sich einstellende Krise im katalanischen Textilsektor nicht den Unternehmern, sondern der Regierungsentscheidung über Krieg und Frieden angelastet. In Krisenzeiten galt das absolutistische Regime als gemeinsamer Gegner von Arbeitern und Unternehmern. Die Länge des Kampfes des aufsteigenden Bürgertums gegen das Ancien Reime bedingte auch die lange Dauer der "interklassistischen" Solidarität zwischen Unternehmern und Arbeitern. Erst allmählich erlangte die gemeinsam vorgetragene Forderung nach "Freiheit" für die beiden Sozialgruppen einen unterschiedlichen Bedeutungsinhalt. Die Bourgeoisie hatte Mitte der 30er Jahre mit dem Verfassungsstaat und der allgemeinen Liberalisierung des Wirtschaftssystems ihre Form von Freiheit erreicht; wie schon im Agrarbereich, wo sie nach der Desamortisation zur Agrarbourgeoisie wurde und eine konservative Allianz mit der Aristokratie einging, läßt sich auch im industriellen Sektor eine konservative Wende der Unternehmer feststellen. Unterstützten sie 1820 bis 1823 noch die exaltados im Verfassungskampf, gehörten sie seit Ende der 30er Jahre mehrheitlich zu den moderados. Die Arbeiter hatten aber nach wie vor nur die "Freiheit", ihre Arbeitskraft zu verkaufen; sie setzten den Kampf fort. Da der Staat nicht mehr mit dem Ancien Reime identifiziert werden konnte, sondern der liberale Staat des an die Macht gelangten Bürgertums war, sahen die Arbeiter in Bürgertum und Staat fortab ihre Gegner. Damit war die Klassentrennung vollzogen. Die ersten größeren Unruhen im Industriebereich erfolgten in Form von Maschinenzerstörungen. Die Protestforschung hat deutlich gemacht, daß der Luddismus eine Form des Arbeiterprotests ist, die in die vorindustrielle Zeit gehört und sich im Industrieproletariat kaum durchsetzen würde. Maschinenstürmerei war auch unter Handwerkern und Heimarbeitern anzutreffen, deren Existenz durch die rapide Mechanisierung der Fertigungsprozesse in den Fabriken bedroht wurde, weniger unter den ausschließlich von der Industrieproduktion abhängigen Arbeitern, die mit den Maschinen zugleich ihre eigene Erwerbsbasis zerstört hätten. Diese Beobachtung trifft auch auf Spanien zu, obwohl andererseits zu berücksichtigen ist, daß Luddismus eine erste Form des Widerstands gegen die "Entfremdung" war, gegen die Ausbeutung in Fabriken, die nicht nur die Moral, sondern die gesamte traditionelle Lebensweise der Landbevölkerung bedrohte. Die ersten spanischen Fälle von Maschinenstürmerei fanden im levantinischen Alcoy während des liberalen Trienniums (1820-1823) statt. Einige Jahre zuvor waren für die dortige Wollindustrie neue Textilmaschinen eingeführt worden, was mit einer Verlagerung der Kapitalinvestitionen von der traditionellen Papier- zur neuen Textilwirtschaft und mit einer Konzentration von Arbeitern in dieser Branche einherging. Im März 1821 kam es zum ersten Aufstand: Über tausend Personen, die aus der Umgebung in die Stadt kamen, griffen die Betriebe, besonders die Real Fäbrica de Parios, an und zerstörten 17 Spinnmaschinen in einem Wert von zwei Millionen reales. Die liberalen Cortes verurteilten den Zwischenfall sogleich auf das schärfste; sie betrachteten das Phänomen aber als einen Fall von Störung
326
XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
öffentlicher Ordnung, die bestraft werden mußte; die anvisierte Lösung entsprach den Vorstellungen des Aufgeklärten Absolutismus. Da der Ursprung der Unruhen angeblich in der Ignoranz der Arbeiter lag, die positiven Wirkungen der neuen Maschinen zu erkennen, müsse diese Ignoranz mit Hilfe philanthropischer Maßnahmen seitens der städtischen und kirchlichen Behörden überwunden werden. Die 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts erlebten eine dramatische Entwicklung der katalanischen Textilindustrie. Die technischen Neuerungen griffen schnell um sich. Die alten bergadanas (Textilmaschinen) wurden durch die MuleJennies ersetzt, von denen es 1850 schon über 475.000 gab; und die 1840 noch praktisch unbekannten selfactinas (mechanische Spinnmaschinen) beliefen sich zehn Jahre später auf nahezu 100.000. Zum gleichen Zeitpunkt wurde an noch ungefähr 180.000 Handwebstühlen gearbeitet. Angesichts dieses stürmischen Aufschwungs der Industrie gelangten die Arbeiter schnell zu der Überzeugung, daß sie ihre Interessen nur verteidigen konnten, wenn sie sich zusammenschlossen und Widerstandskassen gründeten. Vorerst wurden alle derartigen Anträge abgelehnt. Die Behörden übernahmen die Unternehmerargumentation, derzufolge die Freiheit der Arbeiter und Industriellen zum Abschluß von Beschäftigungsverträgen durch keine gesetzlichen Regelungen eingeschränkt werden durfte. Erst 1840 gelang es den Webern, eine "Gesellschaft für gegenseitige Hilfe" zu gründen (Sociedad de tejedores): Die erste spanische "Gewerkschaft" war geboren. 1842 zählte sie bereits 50.000 Mitglieder; schnell folgten andere Industriebranchen. Damit aber waren für die Arbeiter die ersten organisatorischen Voraussetzungen geschaffen, um in Zukunft kollektiv agieren zu können – und das nicht nur ohne Mitwirkung der Bourgeoisie, sondern gegen diese. Hätte Marx den Übergang von der Klasse "an sich" zur Klasse "für sich" nicht am englischen, sondern am spanischen Beispiel exemplifiziert, hätte er die Entwicklung des Klassenbewußtseins der spanischen Arbeiterschaft in der zweiten Hälfte der 30er Jahre beschreiben müssen.
3. Zur Entwicklung von Emanzipationsbewegungen Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts neu entstehende Industriearbeiterschaft wurde weder in das politische und gesellschaftliche System der isabellinischen Monarchie noch in das der Restauration integriert. Beim Aufbau der Industrie im Zeichen eines liberalen Kapitalismus wurden die Belange der Arbeiterschaft nur wenig berücksichtigt. Da überdies gewerkschaftliche Zusammenschlüsse (bis 1887) verboten waren, entlud sich soziale Unzufriedenheit häufig in spontanen Einzelaktionen. Seit Mitte des Jahrhunderts (1854 erfolgte der Zusammenschluß katalanischer Arbeitervereine zur Untön de Clases) entwickelte sich immer deutlicher ein Arbeiterbewußtsein: An der Spitze der Forderungen stand die Koalitionsfreiheit. Die zahlreichen Landarbeiter, die in die Industriezentren abwanderten, hatten keinerlei Aufstiegschancen. Sie bildeten sehr schnell die unterste Schicht, deren Erwartungen unerfüllt blieben. Schon 1854/55 kam es in Katalonien zu Fabrikzerstörungen, Maschinenstürmen und Generalstreiks. Parallel dazu organisierten die Arbeiter in den 60er Jahren ihre ersten Genossenschaften und Hilfskassen, eigene Kulturzentren und Presseorgane. Im folgenden Jahrzehnt griff die internationalistische Lehre vor allem unter den Industriearbeitern Kataloniens um sich; in den 80er Jahren entwickelte sich auch im Basken-
Zur Entwicklung von Emanzipationsbewegungen
327
land und Asturien ein proletarisches Bewußtsein. Während der wirtschaftlichen Depression der 90er Jahre häuften sich die gewalttätigen Streiks (1890, 1897, später 1901). Ein katalanischer Arbeiter mußte im Durchschnitt 75% seines Lohns ausschließlich für die Ernährung aufbringen. Ergebnis der Niedriglöhne waren Analphabetismus und Alkoholismus, Tuberkulose und Typhus, menschenunwürdige Wohnraumverhältnisse und Prostitution. Eine Sicherung oder gar Besserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft war von den Regierungen der Restaurationszeit nicht zu erwarten. Erst um die Jahrhundertwende wurde mit einer sozialpolitischen Gesetzgebung begonnen. Erste Gesetze betrafen den Schutz bei Arbeitsunfällen und die Regelung der Frauen- und Kinderarbeit. Nachdem zuvor Unruhen und Sozialproteste weitgehend unorganisiert und regional begrenzt gewesen waren, erfolgte die Bildung einer wirklichen spanischen Arbeiterbewegung mit proletarischem Klassenbewußtsein im Zuge der Industrialisierung erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (zur Entwicklung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung vgl. Kap. XVII: Der Arbeitsbereich). Zu den Emanzipationsbewegungen der Arbeiterschaft trat, zum Teil als Reaktion auf die Zentralisierungstendenzen in der staatlichen Verwaltung, im letzen Drittel des 19. Jahrhunderts eine Bewegung regionaler Minderheiten, die sich im Baskenland seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Autonomiebewegung und in Katalonien schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Kulturnationalismus, seit Ende des Jahrhunderts ebenfalls mehr als politische Autonomiebewegung bemerkbar machte. 1913 erfolgte die Gewährung der Selbstverwaltung in Form der vereinigten katalanischen Provinzialausschüsse, der Mancomunitat. Bereits um 1830/40 war eine eigene neukatalanische Literatur entstanden; der Aufstieg Kataloniens zum wichtigsten, ökonomisch am weitesten fortgeschrittenen spanischen Industriegebiet verstärkte noch das Bewußtsein regionaler Bedeutung und Eigenständigkeit. Den Basken ging es vorerst mehr um die Erhaltung bzw. Wiedergewinnung ihrer alten, nach den Karlistenkriegen abgeschafften fueros (vgl. ausführlich Kap. VIII: Das Baskenland). Währenddessen betonte die Theorie eines "nationalen Regionalismus" die historische Eigenständigkeit von Katalonien; der nationale Katalanismus der Jahrhundertwende war bereits auf einen politischen Separatismus hin orientiert. Das Minderheitenproblem des (katalanischen und baskischen) Regionalismus blieb auch im 20. Jahrhundert – neben der sozialen Frage – das wichtigste ungelöste Strukturproblem des Landes. Unter Miguel Primo de Rivera (1923-1930) wurde die regionalistische Bewegung wieder stärker unterdrückt; Katalonien konnte erst 1932, während der Zweiten Republik, durch Gewährung eines Autonomiestatuts vorübergehend beruhigt werden, unternahm allerdings bereits 1934 – parallel zu der sozialen Revolte der asturischen Minenarbeiter – einen erneuten Aufstand gegen die Madrider Zentralregierung. Während des Bürgerkriegs erhielt auch das Baskenland ein Autonomiestatut (Oktober 1936); beide Landesteile konnten zeitweise ihre Selbstverwaltungskompetenzen erheblich ausdehnen. Die Autonomiegewährungen der Republik wurden unter Franco zurückgenommen; sogar die Pflege nicht-kastilischer Sprache, Folklore usw. wurde lange Zeit verboten. Unter dem Franquismus konnte der politische Regionalismus Kataloniens und des Baskenlands nur im Untergrund fortbestehen. Dort entwickelte er sich allerdings zu einem bedeutenden Oppositionselement zum kastilisch-zentralistischen Staat. Erst im Übergang zur Demokratie nach 1975 wurde der ernsthafte Versuch unternommen, die Frage des
328
XIV Die Gesellschaft in der Neuzeit (bis 1975)
Regionalismus und peripheren Nationalismus zu lösen (vgl. Kap. VII: Der Staat der Autonomen Gemeinschaften).
329
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
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Mit einer Gesamtbevölkerung von 44,1 Millionen Einwohnern zählte Spanien 2005 mit Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien zu den fünf bevölkerungsstärksten Ländern der EU. Ungefähr jeder elfte Europäer besitzt einen spanischen Paß. Allerdings gehört Spanien aufgrund seiner Bevölkerungsdichte von nur knapp 87 E/km2 (EU-15: 122 E/km 2 ) zu den eher dünn besiedelten europäischen Staaten, wobei es große regionale Unterschiede innerhalb des Landes gibt. Seit dem Ende der Diktatur Francos und dem Übergang in die Demokratie vor rund 30 Jahren hat Spanien weitreichende demographische und gesellschaftliche Veränderungen erfahren. Hierzu zählen etwa die Entwicklung von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland sowie der damit verbundene überdurchschnittliche Anstieg der ausländischen Bevölkerung, die rückläufige Geburtenrate oder die zunehmende Scheidungsquote.
1. Demographische Grunddaten a) Bevölkerungsentwicklung
In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist die Einwohnerzahl Spaniens kontinuierlich gestiegen. Laut den Volkszählungen von 1991 und 2001 vergrößerte sich die Zahl der Spanier und Spanierinnen allein in diesem Zeitraum um fast zwei Millionen. Die Veränderung der Einwohnerzahl ist immer auf zwei Faktoren zurückzuführen: zum einen auf das natürliche Bevölkerungswachstum (vegetativer Bevölkerungssaldo, der sich aus der Differenz von Geburten- und Sterbefällen ergibt), zum anderen auf den Migrationssaldo. Tabelle 33 veranschaulicht, daß sich die Einwohnerzahl Spaniens gegen Ende des 20. Jahrhunderts nur noch zu einem geringen Teil aufgrund des natürlichen Bevölkerungswachstums vermehrt hat. Während 1970 der vegetative Bevölkerungssaldo noch bei 375.932 Personen lag, betrug er 31 Jahre später nur noch 46.249. Diese Entwicklung wurde vor allem durch Tab. 33: Bevölkerungsentwicklung auf Basis der Volkszählungen 1970-2001
1970 Bevölkerung
1981
1991
2001
34.040.657
37.683.363
38.872.268
40.847.371
Geburten
656.102
533.008
395.989
406.380
Sterbefälle
280.170
293.386
337.691
360.131
Natürliches BevölkerungsWachstum
375.932
239.622
58.298
46.249
330
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Demographische Grunddaten
die rückläufige Geburtenrate hervorgerufen, aber auch die gestiegene Anzahl von Sterbefällen trug ihren Anteil hierzu bei. Eine größere Bedeutung für die Zunahme der spanischen Einwohnerzahl gewannen seit der Jahrtausendwende verstärkt die Einwanderungsströme. Diese verzeichneten insbesondere 2000 und 2004 einen sprunghaften Anstieg im Vergleich zum jeweiligen Vorjahr (2000: + 233,81 %; 2004: + 50,36%). Das natürliche Bevölkerungswachstum, das gegen Ende der 1990er Jahre massiv gesunken war, legte zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder zu, was bereits auf die erfolgte Einwanderung zurückzuführen war. Doch trotz der leicht positiven Entwicklung des vegetativen Bevölkerungssaldos in den letzten Jahren ist der Bevölkerungszuwachs in erster Linie das Resultat der enorm gestiege-
Bevölkerungszahl Geburten Sterbefälle
Natürliches Einwanderung Bevölkerungswachstum
1995
40.460.055
363.469
346.227
17.242
19.539
1996
39.669.394
362.626
349.182
13.444
16.686
369.035
347.160
21.875
35.616
1997
nen Einwanderungsströme. Im Jahr 2005 überschritt die Zahl der in Spanien ansässigen Ausländer erstmals die Vier-Millionen-Marke und erreichte damit einen Anteil von über 9% an der Gesamtbevölkerung. Dieser Wert hatte 1998 noch bei lediglich 1,60% gelegen. Die Gründe für den rasant gestiegenen Anteil der ausländischen Bevölkerung sind in der zunehmenden Attraktivität Spaniens als Einwanderungsland sowie in der Immigrationspolitik der spanischen Regierungen zu sehen. So ist seit Beginn der 1990er Jahre die Anzahl der Ausländer mit gültiger Aufenthaltsgenehmigung kontinuierlich gestiegen. Besaßen 1992 lediglich 393.100 Personen nicht-spanischer Herkunft ein dauerhaftes Wohnrecht, so betrug diese Zahl im Jahr 2004 bereits 1.776.953. Graphik 11: Entwicklung der ausländischen Bevölkerung in Spanien 1998-2005 (absolut und in % an der Gesamtbevölkerung)
Tab. 34: Bevölkerungsentwicklung 1995-2004 Jahr
331
5.000.000 4.060.000' (9,20%)
4.500.000 4.000.000 3.500.000 2.664.168 (6,24%)
1998
39.852.651
365.193
357.950
7.243
57.195
3.000.000
1999
40.202.160
380.130
368.453
11.677
99.122
2.500.000
2000
40.499.791
397.632
357.788
39.844
330.881
2.000.000 -
2001
41.116.842
403.859
357.580
46.279
394.048
1.500.000 -
2002
41.837.894
416.518
366.538
49.980
443.085
637.085 1.000.000 (1,60%)
2003
42.717.064
439.863
383.729
56.134
429.524
2004
43.197.684
453.278
370.698
82.580
645.844
3.030.000 (7,01%)
1.977.944 (4,73%)
748.954 (1,86%)
923.879 (2,28%)
1.370.657 (3,33%)
500.000 0 1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
Graphik 10: Natürliches Bevölkerungswachstum und Zuwachs durch Einwanderung 700.000
Graphik 12: Ausländer mit gültiger Aufenthaltsgenehmigung
600.000 Regierung Gonzälez (PSOE)
2 500 000
500.000 400.000
Regierung Aznar (PP)
Regierung Zapatero (PSOE)
2 000 000 104/
ol I
1.776.953
300.000 1 32400
1 500 000
200.000
1 109 060 1 000.000
100.000 0 1995
EI 984 609 613
895.72 71 9 647 991 329
393 100 430 422 461 364 499 773 „
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
-4-Natürliches Bevölkerungswachstum -B-Einwanderung
2003
500 000
2004 1992
1993
1994
1995
19%
1997
19%
1999
2000
2001
2002
2003
2004
332
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
In den kommenden Jahren ist mit einem weiteren Anstieg des Ausländeranteils an der spanischen Gesamtbevölkerung zu rechnen. Durch das im April 2004 unter der Regierung Rodriguez Zapatero initiierte Projekt zur Legalisierung "illegaler" Einwanderer wurden im Laufe des Jahres 2005 an über 700.000 Immigranten, die eine Beschäftigung nachweisen konnten, die notwendigen Papiere ausgehändigt. Ziel dieses Vorhabens war es, die Schattenwirtschaft einzudämmen sowie der wirtschaftlichen Ausbeutung der sich illegal in Spanien aufhaltenden Ausländer entgegenzuwirken.
b) Bevölkerungsstruktur Die quantitative Bevölkerungsentwicklung wirkt sich auch auf das Gefüge der spanischen Bevölkerung aus. So bestimmt etwa die Entwicklung des Verhältnisses von Geburten und Sterbefällen maßgeblich die Ausprägung der Altersstruktur. Die folgenden Abbildungen basieren auf den Daten der Volkszählungen von 1900, 1960, 1991 und 2001. Besaß die graphische Darstellung der Altersstruktur der spanischen Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch die typische Form einer Pyramide, so nahm sie im Laufe der Jahre bis 1991 immer deutlicher die Gestalt einer Zwiebel an. Diese Entwicklung haben andere europäische Länder bereits früher durchlaufen; sie ist symptomatisch für den demographischen Übergang, der durch sinkende Geburtenzahlen sowie eine abnehmende Sterblichkeit gekennzeichnet ist. Betrug im Jahr 1900 der Anteil der unter Zehnjährigen mehr als 20% an der Gesamtbevölkerung, derjenige der unter Vierzigjährigen sogar knapp 75%, so machten diese Altersgruppen im Jahr 2001 nur noch rund 10% bzw. 55% aus. Demgegenüber stieg der Bevölkerungsanteil der Personen älter als 65 von ca. 8% (1900) über rund 13 % (1960) auf mehr als 20% (2001) an. Dabei fiel der Zuwachs der weiblichen Bevölkerung über 65 Jahre stärker aus als der ihrer männlichen Altersgenossen. Die Lebenserwartung einer Spanierin lag 2002 bei 83,5 Jahren, die eines Spaniers bei 75,8 Jahren. Zu dieser hohen Lebenserwartung hat auch der medizinische Fortschritt der letzten Jahrzehnte erheblich beigetragen: Die Kindersterblichkeit nahm zwischen 1978 und 2000 von 1,2 auf 0,5 ab; die Anzahl der Ärzte auf 1.000 Einwohner nahm von 2,04 auf 4,35 zu, die der Zahnärzte von 0,10 auf 0,42, die von Krankenpflegern (immer auf 1.000 Einwohner gerechnet) von 2,64 auf 4,97. Von der Gesundheitsversorgung werden inzwischen 99,8% der Bevölkerung erfaßt. Die Prognosen für die Bevölkerungsentwicklung im 21. Jahrhundert gehen von einer weiteren Verschlankung der Basis und einer Verbreiterung der mittleren sowie oberen Altersgruppen aus, so daß langfristig gesehen die Bevölkerungspyramide die Form eines Pilzes annehmen wird. Dies ist ein Indiz für die zunehmende Kinderlosigkeit und den fortschreitenden Alterungsprozeß, der von Politikern und Demographen als äußerst kritisch gesehen wird, da er die Finanzierung des Sozialsystems gefährdet. Insbesondere im Bereich der Altersvorsorge wird Spanien in den kommenden Jahren mit einer enormen Kostenbelastung zu rechnen haben. Betrachtet man die verschiedenen Altersgruppen der in Spanien lebenden Bevölkerung unter dem Kriterium der nationalen Herkunft, so wird deutlich, daß es insbesondere die mittleren Altersschichten (20-45 Jahre) sind, die den höchsten Zuwachs von außerhalb des
Demographische Grunddaten
Entwicklung der Altersstruktur (Vergleich der Jahre 1900, 1960, 1991 und 2001)
Graphik 13:
Zensus 1900
Zensus 1960
85 und älter 1 80 - 84 la 75 - 79 II ,.. : 70 - 74 13.7' 65 -69 IIIII' 7, .. 60 - 64 55 -59 111.1111 50 - 54 11.11.11111..1.1 46 - 49 1.1111111111111.11111. 40 - 44 35-39 IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII 32 - 34 2-34 20 - 24 15 - 19 10 - 14 iMini 5-9 0 - 4 1110
85 und älter 80 - 84 75 - 79 70 - 74 65 - EY 60 - 64 55 - 59 50 - 54 45 - 49 40 - 44 35 - 39 30 - 34 25 - 29 20 - 24 15 - 19 10 - 14 5-9 0-4
I"
4
6
2
%
2
46
_________
-
4
6
Zensus 2001
85 und älter 11U.,, 80 - 84 ar .... 75 - 79 t M ain 70 - 74 MIM 65 - 69 - -60 - 64 55 - 59 50 - 54 45 - 49 40 - 44 35 - 39 -----30 - 34 25 - 29 111.1.1111111111111 20 - 24 1.1.1.111.1111•.:-.-: 15 - 19 Z 10 - 14 50 - 4 ^:
85 und älter 80 134 75 - 7 9 70 - 74 65 - 69 60 - 64 55 - 59 50 - 54 46 - 49 40 - 44 35 - 39 30 - 34 25 - 29 20 - 24 15 - 19 10 - 14 5-9 0-4
4
2
%
2
4
6
6
9
1.111':", 1111111111..,':: £t"
Zensus 1991
6
333
2
%
2
6
4
EM Man
IM t
_...
4
2
2
4
6
Landes erfahren. Dies äußert sich auch im Durchschnittsalter der in Spanien lebenden Bevölkerung: Betrug im Jahr 2004 das durchschnittliche Alter eines Einwohners spanischer Herkunft 40,99 Jahre, so war der Durchschnittsimmigrant mit 32,82 Jahren wesentlich jünger. Es ist anzunehmen, daß sich diese Differenz in den nächsten Jahren weiter vergrößern wird, da die Geburtenrate bei Einwanderern höher ist als bei der spanisch geborenen Bevölkerung. In den letzten Jahren ist der Anteil von Neugeborenen mit ausländischer Mutter kontinuierlich gestiegen: Lag er 1999 noch bei 4,9 %, so stammten 2002 bereits 10,4% der Kinder, die in Spanien das Licht der Welt erblickten, von einer Mutter ausländischer Herkunft ab.
c) Regionale Verteilung der Bevölkerung Die Bevölkerungsdichte Spaniens, die im Mittel 86,96 E/km 2 beträgt, weist große regionale Unterschiede auf. Die autonome Region mit der größten Siedlungsdichte ist die Comunidad de Madrid (742,92 E/km 2 ), gefolgt vom Baskenland (293,73 E/km 2 ) und den Kanarischen Inseln (264,31 E/km 2 ). Auch Katalonien (217,82 E/km 2 ), die Comunidad de
334
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie [1975-2006)
Demographische Grunddaten
Valencia (201,78 E/km2) sowie die Inselgruppe der Balearen (196,94 E/km2 ) gehören zu den eher stark besiedelten Gebieten Spaniens. Dagegen besitzen Kastilien-Lehn (26,65 E/km2), Aragonien (26,59 E/km 2), Extremadura (26,03 E/km2) sowie Kastilien-La Mancha (23,84 E/km2) die geringste Bevölkerungsdichte. Obwohl diese vier Regionen mehr als die Hälfte des nationalen Territoriums umfassen, leben nur rund 15 % der Bevölkerung dort. Im Gegensatz hierzu konzentrieren sich knapp 39 % der in Spanien lebenden Personen auf die fünf Provinzen Madrid (5,80 Millionen), Barcelona (5,12 Millionen), Valencia (2,36 Millionen), Sevilla (1,79 Millionen) und Alicante (1,66 Millionen). Damit ergibt sich eine sehr unausgewogene Bevölkerungsverteilung, die einerseits durch dicht besiedelte Industriezentren in den Küstenregionen und um Madrid, andererseits durch eher agrarisch geprägte, nahezu menschenleere Landstriche gekennzeichnet ist. Auch die regionale Verteilung der ausländischen Bevölkerung entspricht weitgehend diesem Muster. Wie Karte 28 veranschaulicht, erreicht der Immigrantenanteil an der Gesamtbevölkerung in Küstennähe sowie in der Gegend um Madrid die höchsten Werte. Die Provinz mit der größten Ausländerdichte ist Alicante (15,1 %), gefolgt von den Balearen (13,4%), Girona (11,2 %) und Madrid (10,3 %). Aber auch Almerfa (9,9%), Mälaga (9,5 %) und Murcia (9,0 %), die allesamt an der Mittelmeerküste liegen, sowie die Kanarischen Inseln weisen eine hohe Ausländerquote auf. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts nahmen allein die Autonomen Gemeinschaften Madrid und Katalonien, die nur 29,1 % der
Bevölkerungsdichte nach Autonomen Regionen (Einwohner/km2)
Autonome Regionen
Madrid (Comunidad de) Baskenland Kanarische Inseln Katalonien Valencia (Comunidad de) Balearische Inseln Murcia Kantabrien Asturien Galicien Andalusien La Rioja Navarra Kastilien-L8on Aragonien Extremadura Kastilien-La Mancha Insgesamt
IM
IM
Mehr als 300 190 bis 300
85 bis 190 Weniger als 95
gesamten spanischen Bevölkerung ausmachen, 45 % der Zuwanderer auf. In Madrid, Katalonien, Andalusien, Valencia und den Kanarischen Inseln konzentrieren sich über 75 % der in Spanien ansässigen ausländischen Bevölkerung. Hinzu kommt, daß in den drei zuletzt genannten Regionen sich sowohl Einwanderer wie auch ausländische Pensionäre und Unternehmer (vor allem aus den Ländern der EU) angesiedelt haben.
d) Nationalitäten der ausländischen Bevölkerung in Spanien Mehr als die Hälfte der in Spanien lebenden Ausländer stammen aus Zentral- und Südamerika (38,6 %) sowie aus den Ländern der EU-15 (22 %). Afrikaner stellen fast ein Fünftel der ausländischen Bevölkerung dar. Die wichtigsten ausländischen Nationalitäten in Spanien sind die Ecuadorianer, Marokkaner und Kolumbianer. Fast 40 % aller Immigranten stammen aus diesen drei Ländern. Mit Ecuador, Kolumbien, der Dominikanischen Republik und Peru hat Spanien bilaterale Migrationsabkommen geschlossen; mit weiteren lateinamerikanischen Staaten werden vergleichbare Abkommen ausgehandelt. Im Mittelpunkt dieser Verträge stehen Maßnahmen zur Regulierung der Arbeitsmigration und zur Kontrolle der illegalen Einwanderung (Gratius 2005, 21), teilweise wurden auch illegale Zuwanderer amnestiert. Insgesamt gilt, daß (im Karte 28: Ausländeranteil (in %) an der Gesamtbevölkerung nach Provinzen (2004)
Karte 27: Bevölkerungsdichte nach Autonomen Regionen 2005
Bevölkerungsdichte (Einwohner/km')
742,92 293,73 264,31 217,82 201,78 196,94 118,08 105,68 101,53 93,40 89,95 59,68 57,11 26,65 26,59 26,03 23,84 86,96
335
Ausländeranteil in Prozent an der Gesamtbevölkerung
4,6
7,2 52
4
6,4
11410 7,9
7.8
53 4,3 4,0
4,6
5,3
Spanien 6,2%
0 bis 2% 2 bis 4%
e
9, 2
4 bis 6% 6 bis 8% 8 bis 10% mehr als 10%
IIIIIII
336
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Demographische Grunddaten
Graphik 14: In Spanien lebende Ausländer nach Herkunftsländern 2002/2003
Zentral- und Südamerika EU
es.
Afrika
2.
Gesellschaftliche Entwicklungen
348.585 211.249 128.952 196.942
Asien
41.398 32.351
Nordamerika
n 2003 ei 2002
Sonstige
Vergleich zu den USA) die Hürden für eine Einreise nach Spanien für Lateinamerikaner geringer sind; auch die Einbürgerung in Spanien ist für Lateinamerikaner ein relativ einfaches und schnelles Verfahren. Unter den europäischen Einwanderern machen die Engländer und die Deutschen den größten Anteil aus, unter den Asiaten die Chinesen. Zu den Bevölkerungsgruppen mit den höchsten Zuwachsraten innerhalb der letzten Jahre zählen insbesondere Rumänen, Argentinier und Bulgaren.
522.682
423 423.045
Restliches Europa
337
2.736 2.333
Die folgenden Abschnitte sprechen exemplarisch einige wichtige gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte an: Eheschließungen und Scheidungen, Geburtenrate, Struktur der Privathaushalte, Sozialsystem, Jugend und Jugendkultur. Viele andere Entwicklungen im gesellschaftlichen Bereich werden in anderen Kapiteln angesprochen (vgl. insbesondere Kap. XVI, 2: Bildung und Schulwesen in der Demokratie; XVII, 4: Gewerkschaften und Arbeiterschaft in der Demokratie; XVIII, 6: Zur Glaubenspraxis der Spanier; XIX, 3: Das Militär in der Demokratie).
a) Eheschließungen und Scheidungen
Tab. 35: Die wichtigsten ausländischen Nationalitäten 2004 Anzahl
%
Ecuador
475.698
15,7%
Marokko
420.556
13,9%
Kolumbien
248.894
8,2%
Rumänien
207.960
6,9%
Großbritannien
174.810
5,8%
Argentinien
130.851
4,3%
Deutschland
117.250
3,9%
Italien
77.130
2,5%
Bulgarien
69.854
2,3%
Peru
68.646
2,3%
Frankreich
66.858
2,2%
China
62.498
2,1%
Portugal
55.769
1,8%
Seit Beginn der 1980er Jahre ist die Zahl der Eheschließungen relativ konstant geblieben. Im gesamten Betrachtungszeitraum (1982 bis 2004) konnte sogar eine leichte Zunahme von 11,38% verzeichnet werden. Setzt man dies allerdings in Relation zur Bevölkerungsentwicklung der relevanten Altersgruppen, d.h. der Spanier, die sich im "heiratsfähigen" Alter befinden, so ergibt sich ein anderes Bild. Ausgehend von den Volkszählungen der Jahre 1981 und 2001 wuchs in diesem Intervall die Gruppe der 20- bis 39-Jährigen um durchschnittlich 1,56% pro Jahr (1981: 10.180.726; 2001: 13.356.496); die Zahl der geschlossenen Ehen stieg im gleichen Zeitraum aber nur um knapp 0,57%. Folglich heiraten heutzutage – gemessen an der Bevölkerungsentwicklung – deutlich weniger Paare in Spanien. Diese Entwicklung läßt sich unter anderem anhand der gesellschaftlichen Modernisierung erklären, die Spanien seit dem Ende der Franco-Diktatur durchlaufen hat. Gestiegene Frauenerwerbstätigkeit, verbunden mit größerer finanzieller Unabhängigkeit, höhere gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber unverheirateten Lebensgemeinschaften sowie ein Wertewandel, infolgedessen Religion und traditionelle Familie an Bedeutung und Einfluß im Leben des Einzelnen verlieren, waren Ergebnisse dieses sozialen Umbruchs. Diese Entwicklung führte ebenfalls dazu, daß der Entschluß, den Bund der Ehe einzugehen, heute in der Regel mehr auf einer freien Willensentscheidung als auf religiösen und traditionellen Gewohnheiten beruht. Besonders auffällig in den Jahren 1982 bis 2005 ist der enorme Anstieg aufgelöster Ehen, deren Zahl sich fast vervierfachte. Hintergrund dieser Entwicklung ist das spanische Eheund Familienrecht. Dieses wurde im Zuge des rechtlichen Auftrags der Verfassung von 1978 grundlegend reformiert. Von Bedeutung sind das Gesetz 11/1981 über die Neuordnung des Kindschaftsrechts, des Rechts der elterlichen Gewalt sowie des Ehegüterrechts, aber vor
338
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Graphik 15: Eheschließungen und Scheidungen 1982-2004/05
Gesellschaftliche Entwicklungen
339
Graphik 16: Europäischer Vergleich der Gesamtfruchtbarkeitsrate 1960-2003
250.000
3,50
225.000
Eheschließungen
2,86
3,00
200.000 175.000
2,79
2,50
150.000
u_
125.000
2 100.000
1,50
0)
75.000
2
50.000 25.000
Scheidungen 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005
1,36
1,19
1,00
1,24
1,29
0,50
0,00
1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
allem das Gesetz 30/1981. Letzteres reformierte die Eheschließung einschließlich Nichtigkeit sowie Trennung und führte das Scheidungsrecht (wieder) ein. Das Reformgesetz 30/1981 ist von allgemeiner Gültigkeit, d.h. unabhängig davon, in welcher Form die Ehe geschlossen wurde. Von da an stellte das spanische Eherecht auf das System der Zivilehe ab, auch wenn die Eheschließung zivil oder kirchlich erfolgen kann. Beendet wird der Ehebund durch Tod, Todeserklärung oder Scheidung. Die wichtigsten Neuerungen der Gesetzesnovelle 30/1981 sind folglich zum einen die Säkularisierung des Eheschließungsrechts und zum anderen die (Wieder-) Einführung der Ehescheidung. Parallel zum Übergang in eine moderne Zivilgesellschaft nahmen seit den 1980er Jahren – ermöglicht durch die Reformen im Ehe- und Familienrecht – mehr Paare das Recht in Anspruch, ihre Lebensgemeinschaft per Trennungs- oder Scheidungsverfahren zu beenden. Es ist davon auszugehen, daß sich dieser Trend in Zukunft fortsetzen wird. 2004 initiierte die sozialistische Regierung eine weitere Reform des Bürgerlichen Rechts, die im Juli 2005 in Kraft trat und die Notwendigkeit einer Trennung als ersten Schritt im Scheidungsprozeß abschaffte. Ziel der Regierung ist es, durch die Vereinfachung des Scheidungsverfahrens Kosten einzusparen und die psychologischen Belastungen während der Trennungszeit zu vermeiden. Infolge der Gesetzesreform stieg 2005 die Zahl der Scheidungen im Vergleich zum Vorjahr um 76,4 % auf 87.345 an, davon allein 59.908 in der zweiten Jahreshälfte. Im Gegensatz dazu sank die Zahl der Trennungen um 32,6% auf 52.074. Folglich fand eine Verschiebung zugunsten der Scheidungszahl statt. Sechs von zehn Scheidungen wurden im gegenseitigen Einvernehmen vollzogen, wodurch die einvernehmliche Scheidung 2005 die häufigste Modalität von aufgelösten Ehen war.
•
•
EU-15
Deutschland
-Frankreich
(1990) Kinder pro Frau. Ihren vorläufigen Tiefststand erreichte sie im Jahr 1997 mit einem Wert von 1,19. In den letzten Jahren verbesserte sich die Fertilitätsrate leicht, verharrt aber nach wie vor auf einem niedrigen Niveau. Im europäischen Vergleich besitzt Spanien damit eine der niedrigsten Geburtenraten. Die gesellschaftlichen Gründe für dieses Phänomen sind vor allem – ähnlich wie bei der Entwicklung der Eheschließungs- und Scheidungsraten – in der steigenden Frauenerwerbstätigkeit zu sehen. Ein unzureichendes Angebot an öffentlichen Betreuungsmöglichkeiten sowie das tradierte Leitbild der Hausfrauenfamilie erschweren die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Zudem leben die jungen Spanier wegen des akuten Wohnraummangels zu Graphik 17: Durchschnittsalter der spanischen Bevölkerung bei der ersten Eheschließung Alte 32
Atter (Jahre) 32
31
3
30
30
29
29
28
78 27
26
26
25
25
b) Entwicklung der Geburtenrate
24 23tf
Nach dem Übergang in die Demokratie nahm die Geburtenrate rapide ab; sie sank in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und während der 1980er Jahre von 2,79 (1975) auf 1,36
S panien
711 n FIIIr
r 9 `2 .444.. Männer
23
Graphik 18: Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes
340
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Gesellschaftliche Entwicklungen
341
erschwinglichen Preisen lange im Haushalt ihrer Eltern. Eine Heirat sowie die Gründung einer eigenen Familie erfolgen heutzutage relativ spät. Dies belegen die Statistiken über das Durchschnittsalter der Spanier bei ihrer ersten Eheschließung sowie das durchschnittliche Alter der Mütter bei Geburt ihres ersten Kindes, das im Jahr 2003 bei über 29 Jahren lag. Auffällig ist der parallele Verlauf der Graphen: Nach dem Ende der Franco-Diktatur sank zunächst das Durchschnittsalter sowohl der Ehepaare als auch das der Mütter bei ihren Erstlingsgeburten, seit Beginn der 1980er Jahre steigt es allerdings kontinuierlich an.
gen häufiger auf Sozialleistungen angewiesen sind. In der Vergangenheit wurden diese Aufgaben überwiegend von im gleichen Haushalt lebenden Familienangehörigen übernommen. 2,5 Millionen der insgesamt 6,8 Millionen über 65-Jährigen wohnen bei einem ihrer Kinder, womit dies nach wie vor der am häufigsten vorkommende Haushaltstyp bei Personen über 65 Jahren ist. Dennoch steigt der Anteil der Alleinlebenden innerhalb dieser Altersgruppen an. Das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Privathaushalts ist zwar seit Beginn der 1990er Jahre stetig gestiegen; allerdings reichte es (mit Ausnahme einiger Jahre) zumeist nicht aus, um die jährlichen Ausgaben zu bestreiten.
c) Struktur der Privathaushalte
Tab. 36: Jahreseinkommen (netto) und -ausgaben der Privathaushalte 1993-2003
Im Jahr 2003 betrug die Anzahl der Privathaushalte 14.407.000 und stieg damit im Vergleich zu 1991 (11.536.300) um knapp 25 % an. Einen überdurchschnittlich hohen Zuwachs konnten mit 70 % die Einperson-Haushalte (1991: 1.160.000; 2003: 1.973.900) sowie mit ca. 55 % die kinderlosen Paare (1991: 1.947.100; 2003: 3.005.300) verzeichnen. Auch die Anzahl der Alleinerziehenden hat zugenommen, wohingegen die Zahl der vierbzw. fünfköpfigen Familien rückläufig ist. Diese Verschiebung innerhalb der Haushaltstypen zugunsten von Kleinfamilien- und Single-Haushalten läßt sich auch anhand der Veränderung der durchschnittlichen Haushaltsgröße nachvollziehen: So reduzierte sich diese von einem Durchschnittswert von 3,36 Personen je Haushalt im Jahr 1991 auf durchschnittlich 2,90 Haushaltsangehörige im Jahr 2003. Die Gründe für diese kontinuierliche Verringerung der Haushaltsgröße sind vor allem in den Entwicklungen der spanischen Gesellschaft zu sehen, etwa in der Erhöhung der Löhne und Gehälter im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs, in der gestiegenen Frauenerwerbstätigkeit und im Sinken der Geburtenziffern, auch in der Vereinfachung des Scheidungsprozesses. So wirkte sich die Zunahme der Ehescheidungen entscheidend auf die Durchschnittsgröße eines Haushaltes und die Haushaltsstruktur aus: Gemäß den Volkszählungen von 1991 und 2001 stieg in diesem Zeitraum die Zahl der getrennt lebenden oder geschiedenen Ehepartner, die in einem Einperson-Haushalt wohnen, von 82.000 (1991) auf 272.000 (2001). Dabei fiel 2001 der Anteil der Männer an den Single-Haushalten mit 167.000 um einiges höher aus als derjenige der Frauen (105.000). Eine mögliche Erklärung für diesen zahlenmäßigen Unterschied liegt darin, daß, soweit Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind, der Nachwuchs in den meisten Fällen bei der Mutter lebt, womit diese in der Statistik unter den Haushaltstyp "Alleinerziehende/r mit Kind/ern" fallen würde. Die Anzahl der getrennt lebenden bzw. geschiedenen Mütter belief sich 2001 auf 352.757 und fiel damit sieben Mal höher aus als der entsprechende Anteil an allein erziehenden, geschiedenen Männern (49.926). Beide Werte haben sich im Vergleich zur Volkszählung von 1991 deutlich erhöht, als die Zahl der alleinerziehenden, geschiedenen Frauen bei 164.650 bzw. die der Männer in der gleichen Situation bei 20.572 lag. Des Weiteren ist die Zunahme der Einperson-Haushalte auch auf die Alterung der Gesellschaft zurückzuführen. Die Gruppe der allein lebenden Personen über 65 Jahren ist seit Beginn der 1990er Jahre stark angestiegen (1991: 712.800; 2003: 1.278.300). Auf diesen Trend wird sich insbesondere auch das Sozialsystem einstellen müssen, da die über 65-Jähri-
Mittleres Einkommen
Mittlere Ausgaben
(Pro Haushalt in €)
(Pro Haushalt in €)
1993
13.598
16.006
1994
14.503
16.557
1995
15.353
17.151
1996
16.035
17.418
1997
16.895
17.576
1998
18.290
17.731
1999
18.326
18.330
2000
21.454
19.863
2001
20.329
20.879
2002
21.360
21.320
59% aller Spanier haben Probleme, mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Geld das Monatsende zu erreichen, 41 % schaffen es nur mit Hilfe der Kreditkarte. In den letzten acht Jahren hat sich die Verschuldung der Familien verdreifacht, sie liegt inzwischen über dem europäischen Durchschnitt. 2005 belief sich der private Gesamtschuldenbetrag auf 636 Millarden €, das waren 21 % mehr als ein Jahr zuvor. Praktisch alle Konsumprodukte werden in Spanien mehr oder minder systematisch über Kredite finanziert: 61 % aller Elektro- und Haushaltsgeräte sowie der Immobilien, 28% der Autos und Motorräder, 19 % der Elektroanlagen, der Computer und der DVD, 5 % der Urlaubsreisen, 4 % der Kleidung (vgl. El Pais, 30.4.2006). Auch 2004 überstiegen die mittleren Ausgaben eines Privathaushalts (22.685 €) das jährliche Durchschnittseinkommen (21.551 €). Der Wohlstandsanstieg der letzten 30 Jahre macht sich vor allem im Konsum langlebiger Haushaltsgeräte bemerkbar. Verfügten 1975 erst 79 % aller Hauthalte über ein Fernsehgerät, so war dieser Prozentsatz bis 2003 auf 99,5% angestiegen. 1975 hatten 33,5% der Haushalte einen Pkw, 2003 rund 80 %. Sehr hohe Zuwächse waren in diesem Zeitraum auch bei anderen Geräten zu registrieren: bei
342
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Gesellschaftliche Entwicklungen
343
Kühlschränken (von 72% auf 99 %), bei Waschmaschinen (von 28 % auf 97%), bei Geschirrspülmaschinen (von 2,6 % auf 25,8%), bei Musikanlagen (von 35 % auf 61 %), bei Computern (von null auf 32%), bei telephonischen Festanschlüssen (von 32% auf 90%). Die Mobiltelefone haben in diesem Zeitraum um 510% zugenommen, die Ausgaben für Freizeit und Dienstleistungen sind um 100% (real) gestiegen. Über das höchste Einkommen verfügten 2004 die Privathaushalte in der Autonomen Region Madrid, gefolgt von Katalonien, Navarra und Kantabrien. Die ärmste Region (mit deutlichem Abstand hinter Andalusien) war die an der Grenze zu Portugal liegende und überwiegend landwirtschaftlich geprägte Extremadura. 2004 lebten 19,9% der Bevölkerung unterhalb der relativen Armutsgrenze (EinpersonHaushalt: 6.278,80 €; Zweipersonen-Haushalt: 9.418,10 €; Familie mit einem Kind unter 14 Jahren: 11.301,70 €; Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren: 13.185,30 €). Der
Definition von Eurostat zufolge liegt die relative Armutsgrenze bei weniger als 60 % des nationalen Durchschnittseinkommens. Für Frauen (20,8 %) war dieses Risiko höher als für Männer (19,0 %). Die Regionen mit der höchsten relativen Armut waren Andalusien und Extremadura sowie die Exklaven Ceuta und Melilla. In der Autonomen Gemeinschaft Madrid, im Baskenland und in der Region Kantabrien wies das relative Armutsrisiko die niedrigsten Werte auf. Das Konsumverhalten der spanischen Haushalte hat sich in den letzten Jahren kaum verändert. Durch die Umstellung im Jahr 1997 von neun auf zwölf Gruppen wurde eine differenzierte Darstellung bestimmter Konsumgüter ermöglicht. So werden heute beispielsweise die Ausgaben für Kommunikation sowie im Gastronomiebereich gesondert angegeben.
Tab. 37: Durchschnittliches Jahreseinkommen (netto) nach Autonomen Regionen 2004
d) Soziale Schichtung und Sozialsystem
Einkommen pro Einkommen Haushalt (€) pro Person (€)
Relatives Armutsrisko (%)
BIP pro Kopf (EU = 100))
Gesamtspanien
21.551
7.591
19,9
98,3
Madrid
25.493
9.111
9,5
129,0
Katalonien
24.763
9.064
12,5
117,8
Navarra
24.695
8.777
12,7
124,6
Kantabrien
24.120
8.085
11,9
96,5
Baskenland
23.777
8.728
11,2
122,9
Balearen
23.096
8.601
15,2
110,9
Asturien
22.414
8.229
12,6
85,3
Aragonien
22.198
8.383
12,5
105,1
Ceuta und Melilla
21.851
6.971
37,3
86,4
Murcia
20.554
6.566
24,5
82,4
Valencia
20.398
7.350
19,6
91,5
Galicien
20.102
6.925
21,2
78,5
Kanaren
19.834
6.748
24,1
90,7
La Rioja
19.724
7.520
18,5
106,8
Kastilien-La Mancha
18.909
6.484
29,4
76,7
Kastilien-Leön
18.727
6.902
25,1
92,1
Andalusien
18.336
6.027
31,1
75,7
Extremadura
16.470
5.653
37,0
65,2
Aufgrund der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchprozesse seit dem Ende der Diktatur hat sich die soziale Schichtung der Gesellschaft enorm gewandelt. Als Kriterien für eine Unterteilung in verschiedene Bevölkerungsschichten können etwa der Berufsstatus, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse, das Bildungsniveau oder die Konsum- und Lebensgewohnheiten herangezogen werden. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß die Gesellschaft Spaniens von einer breiten Mittelschicht dominiert wird und weitgehend dem Strukturbild einer (post-)modernen Industriegesellschaft entspricht. Der Wandlungsprozeß in Richtung einer postindustriellen Gesellschaft, deren Mitglieder überwiegend im tertiären Sektor beschäftigt sind, ist seit längerem in vollem Gange. Mit Ausnahme der Transferzahlungen an Arbeitslose, für die das Nationale Beschäftigungsinstitut (Institut° Nacional de Empleo, INEM) zuständig ist, umfaßt das allgemeine System der Sozialen Sicherheit sämtliche Leistungen zur Abdeckung der Risiken infolge von Krankheit, Invalidität, Alter, Witwen- und Waisenschaft. Die Sozialleistungsquote, d.h. der Anteil aller Sozialleistungen am BIP, lag 2003 bei 19,7% und damit deutlich unter dem Durchschnittswert der EU-15-Länder (28,3%). Das gleiche Bild ergibt sich bei Betrachtung der Gesamtausgaben für soziale Absicherung pro Kopf der Bevölkerung, gemessen an den Kaufkraftstandards: Diese betrugen 2003 in Spanien 4.186,0 €, in den Mitgliedsstaaten der EU-15 allerdings durchschnittlich 6.926,20 €. Die Finanzierung der Sozialleistungen erfolgt - wie in Deutschland - überwiegend durch Zahlungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Allerdings ist in Spanien die relative Beitragslast der Arbeitgeber mit 52,3 % (2003) höher als die der deutschen Arbeitgeber (2003: 36,3 %). Demgegenüber fallen die Arbeitnehmeranteile in Spanien geringer aus als in Deutschland (vgl. Graphik 19). Der absolute Wert der Beitragszahlungen von Seiten der Arbeitgeber und -nehmer ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen (1995: 42,1 Milliarden €; 2003: 71,7 Milliarden €). Dies ist zum einen auf die positive Entwicklung der Löhne, zum anderen aber auch und insbesondere auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze zurückzuführen, wodurch sich die Zahl der Beitragsleistenden kontinuierlich erhöht hat. Ende November 2005 lag sie bei rund 18,3 Millionen (vgl. Graphik 20), im April 2006 bereits bei 18,5 Millionen (von denen 8 %
344
XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
Gesellschaftliche Entwicklungen
Graphik 19: Sozialschutzeinnahmen nach Einnahmeart 2003 (in % der Gesamteinnahmen)
345
Graphik 20: Arbeitnehmer mit Mitgliedschaft in der Sozialversicherung 20.000.000
Prozent 60
18.000.000
Sozialbeiträge der Arbeitgeber
52,3 50
16.000.000 14.000.000
36,3
40
D Sozialbeiträge der geschützten Personen
34,6
10.000.000
28,4
30
D Staatliche Beiträge 20
12.000.000
8.000.000 6.000.000
16,4
4.000.000
q Sonstige Einnahmen
10
2.000.000
2,8
1,7 0
Spanien
§ sä' `j,‚,
Deutschland
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inzwischen Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten sind). Durch diese Zuwächse verbesserte sich auch die angespannte finanzielle Situation des Systems der Sozialen Sicherheit, dessen Bilanz seit 1999 positiv ist (vgl. Graphik 20). Die Sozialleistungen, d.h. die Geld- oder Sachübertragungen von sozialen Sicherungssystemen an private Haushalte oder Einzelpersonen, können verschiedenen Funktionen respektive Risiken zugeordnet werden (Krankheit/Gesundheitsvorsorge, Invalidität, Alter, Hinterbliebene, Arbeitslosigkeit). Den größten Anteil nahmen 2003 mit 40,9% die Zahlungen für Alters- und Ruhestandsgelder ein, gefolgt von den Ausgaben im Gesundheitswesen (30,7%) sowie den Transferzahlungen bei Arbeitslosigkeit (13,3 %) und Invalidität (7,4 %) (vgl. Graphik 21). Die Ausgaben für Rentenzahlungen (vgl. Tab. 38), d.h. der Teil der Sozialleistungen, der für die Abdeckung der Risiken infolge von Alter, Invalidität sowie Witwen- und Waisenschaft verwendet wird, sind in den letzten Jahren enorm gestiegen. Allein im Zeitraum 1998 bis 2006 wuchsen sie insgesamt um knapp 65% von 46,1 Milliarden € auf 75,7 Milliarden €. Dabei nehmen die Ruhestandsgelder mit mittlerweile fast 50 Milliarden € den größten Posten ein, gefolgt von den Witwenrenten (2006: 14,8 Milliarden €) und den Rentenzahlungen bei Invalidität (2006: 9,7 Milliarden €) (vgl. Tab. 38). Insgesamt gilt: Neben Portugal gibt Spanien am wenigsten an Sozialleistungen für seine Bürger aus. Während das BIP pro Kopf der Bevölkerung schon 90% des durchschnittlichen BIP der EU-15 beträgt, belaufen sich die öffentlichen Ausgaben auf lediglich 62 % des europäischen Durchschnitts. Kritische Beobachter führen dieses geringe Niveau an Sozialleistungen auf die niedrigen Steuersätze Spaniens zurück, die im Durchschnitt bei 34,8 % des nationalen BIP liegen (EU-15: Durchschnitt 41 %). Vor allem die Besserverdienenden zahlen weit unterdurchschnittlich wenig Steuern (vgl. Navarro 2006).
Graphik 21: Sozialleistungen nach Funktionen in % 2003
Arbeitslosigkeit 13,3% Farrilie/Kinder 3,0%
Wohnung 0,8%
Soziale Ausgrenzung 0,9% Krankheit/ Gesundheitsversorgung 30,7%
Hinterbliebene 2,9%
Invalidität 7,4%
40,9%
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XV Bevölkerung und Gesellschaft in der Demokratie (1975-2006)
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