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Peter Koch / Reimar Oltmanns SOS Freiheit in Deutschland Herausgeber: Henri Nannen Redaktion: Hans-Joachim Maass Dokumentation: Leo Pesch Einband: Erwin Ehret Gestaltung: Wolf-Rüdiger Dammann und Otto Reinecke Produktion: Druckzentrale G + J Druck: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Copyright: Stern-Magazin im Verlag Grüner + Jahr AG & Co, Hamburg 1. Auflage 1978 ISBN 3-570-01909-8
INHALT Vorwort von Henri Nannen 9 Am Wendepunkt 11 Der Überwachungsstaat 63 Die Bürgerkriegsarmee 109 Im Namen des Gesetzes 123 Die Feinde der Verfassung 145 Die bösen Geister 179 Spiel mit dem Feuer 211 Dokumente und Gerichtsurteile 251
Anti-Terror-Gesetze in Deutschland Relevant sind da die §§ 88a II, 129a, 130a StGB, §§ 112 Abs: 3, 148 Abs. 2, 129a, 138a Abs. 1, 139a, 231a, 321b, 103 Abs. 1 Satz 2, 111, 163b, 163d, Art. 31-36 EGGVG (Kontaktsperregesetz) das alles natürlich Stand 1978. Die Tabelle habe ich weggelassen das diese im Vergleich zu anderen EU -Ländern gesetzt wurde. Bei denen haben sich aber die Gesetze inzwischen auch geändert. Ergo ist kein Vergleich mehr möglich. Läßt sich eh alles im Web nachschauen.
Liberty dies by inches Die Freiheit stirbt zentimeterweise englisches Sprichwort
It is liberty alone which fits man for liberty Allein die Freiheit befähigt den Menschen zur Freiheit Der britische Premierminister William Ewart Gladstone (1808-1898) Damit wir uns nicht mißverstehen Als Deutschlands gefährlichste Terroristen Christian Klar, Willi Peter Stoll und Adelheid Schulz im Hubschrauber über die Bundesrepublik kurvten und ihre polizeilichen Beschatter nach der Landung einfach abschüttelten, da lieferten Springers Zeitungen zum Skandal die Entschuldigung gleich mit. Kein Wunder, hieß es, der STERN habe mit seiner Serie »Freiheit '78« Polizei und Politiker derart verunsichert, daß die Fahnder aus purer Angst vor einem Fehlgriff den Zugriff verpaßt hätten. Gezielter kann das Anliegen der Serie, die hier in erweiterter Form als Buch vorgelegt wird, nicht mißverstanden werden. Denn den Autoren Peter Koch und Reimar Oltmanns geht es um gar nichts anderes als um den Schutz unserer Freiheit vor jeglicher Gewalt. Sie wissen aber, und sie beweisen es: wenn polizeiliche und nachrichtendienstliche Schutzmaßnahmen zum Selbstzweck werden, dann ist es um die zu schützende Freiheit schlecht bestellt. Wer Gesinnungsschnüffelei betreibt, wer in jedem konflikt bewußten Bürger den zu verfolgenden Feind sieht der kämpft gegen den Wind und verliert die Witterung für den eigentlichen Brandherd, die terroristische Gewalt. Der kommunistische Lokomotivführer, der Lehrer, der in Gorleben gegen den Atom-Müll demonstriert - glaubt ernsthaft einer, dies sei das Holz, aus dem die Mörder Erich Pontos, Siegfried Bubacks und Hanns Martin Schleyers geschnitzt sind? Glaubt einer, daß man die Baaders, Raspes, Klars und Stolls mit Hilfe des Radikalenerlasses hätte fangen können? Solche Naivität gehört nicht zu den Vorrechten von Politikern und Kriminalisten. Niemand wird der Polizei die Mittel versagen wollen, mit denen terroristische und andere Kriminalität wirksam bekämpft werden kann. Auch Fehlgriffe - wenn sie zumindest in die richtige Richtung zielen - wird man einkalkulieren müssen. Wer aber das Recht zu kritischem Denken mißachtet, wem der Auftrag, die freiheitliche Verfassung zu hüten, zur Jagdleidenschaft gegen Andersdenkende entartet, vor dem sei gewarnt. Der Terror ist ein Kind unserer Gesellschaft. Man wird ihm nur beikommen, wenn man diese Gesellschaft noch freier, noch transparenter, noch demokratischer macht. Freilich, es gäbe auch den umgekehrten Weg: Unter Hitler und Stalin war der Terror verstaatlicht. Auch Honecker, Husak und Kadar haben mit Terroristen keine Probleme. Aber wer wollte da tauschen? So großartig ist das System unserer Bundesrepublik nicht, als daß es an ihm nichts mehr zu verändern gäbe. Aber es ist auch nicht so hilflos und unsouverän, daß wir immer neuer Gesetze und Schutzmechanismen
bedürften, um die oft zitierte freiheitliche demokratische Grundordnung als erstarrte Formel zu bewahren. Die Autoren dieses Buches setzen sich für eine wehrhafte Demokratie ein, aber sie legen die Betonung auf Demokratie. Wer sein Heil im Polizeistaat sucht und sich nach Kasernenhofordnung und Friedhofsruhe sehnt, den sollte dieses Buch allerdings gründlich verunsichern. Hamburg, im August 1978 Henri Nannen
Am Wendepunkt Die Auflassung gab Bundeskanzler Helmut Schmidt: »Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, der muß auch bereit sein, bis an die Grenze dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist.« Es ist die einzige Grenze der Bundesrepublik, die nicht gesichert ist. Was Helmut Schmidt nach dem Terroranschlag auf die deutsche Botschaft in Stockholm im Parlament ausrief und beim Staatsakt zu Ehren des ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback wiederholte, um den Zorn einer empörten Bevölkerung aufzufangen, wurde vom Norden bis zum Süden, vom Westen bis zum Osten der Nachkriegsrepublik als neue Richtlinie der Politik verstanden. Die Abgeordneten im Bonner Parlament ebenso wie der Chef des Bundeskriminalamts in Wiesbaden, Staatsanwälte in der süddeutschen Provinz und der Bonner Bildungsminister Schmude, die Verkehrspolizei in Berlin ebenso wie die Bahnpolizei im Bummelzug nach Rosenheim, die Ministerialbeamten in der Kieler Kultusbehörde und ihre Kollegen am Münchener Salvatorplatz, der Richter Ludwig Schultz am Oberlandesgericht in Stuttgart ebenso wie der Verwaltungsrichter Siegfried Sporer im fränkischen Ansbach, der Leiter des Oberschulamts in Freiburg sowie die elf Landesinnenminister und ihr Bonner Kollege - sie alle sind seither dabei, die Grenzen des Rechtsstaats auszukundschaften und sie dort, wo ihnen die Pflöcke zu eng gesteckt scheinen, neu festzusetzen. In Gesetzestexten und Urteilssprüchen, in Politikerreden und Dienstanweisungen, in Polizeiaktionen und Computerprogrammen, bei öffentlichen Etatberatungen wie internen Lagebesprechungen werden die neuen Dimensionen sichtbar: 11 • von 22,4 Millionen Mark 1969 stieg der Etat des Bundeskriminalamts auf 200 Millionen Mark in diesem Jahr, sein Personal wurde im gleichen Zeitraum von 1000 auf 3000 verdreifacht; • im Bonner Großen Krisenstab stellte Franz Josef Strauß kurz nach der Entführung Hanns-Martin Schleyers den Vorschlag zur Diskussion, die im Stammheimer Gefängnis einsitzenden Terroristen um Andreas Baader und Gudrun Ensslin ebenfalls als Geiseln zu betrachten und gegebenenfalls zu erschießen; zur selben Zeit sprach der SPD-Politiker Heinz Kühn sogar öffentlich bei der Trauerfeier für Schleyers ermordeten Fahrer Heinz-Peter Marcisz die Drohung aus: »Und die Terroristen müssen wissen, daß die Tötung von Hanns-Martin Schleyer auf das Schicksal der inhaftierten Gewalttäter, die sie mit ihrer schändlichen Tat befreien wollen, schwer zurückwirken müßte«; • der Historiker Golo Mann verstieg sich dazu, in der Bundesrepublik den »Bürgerkrieg« zu konstatieren und den unter Terrorismusverdacht einsitzenden Angeklagten jeglichen Vertrauensanwalt abzuerkennen; • die meisten Anwälte der unter Terrorismusverdacht stehenden Häftlinge können mit ihren Mandanten nur noch per Telefon, getrennt durch eine gläserne Scheibe, sprechen - und dies im Bewußtsein, daß inzwischen zugegeben wurde, man habe die in Stammheim einsitzenden RAF-Häftlinge bei Beratungen mit ihren Verteidigern illegal belauscht; • das Landgericht Stuttgart wies eine Verleumdungsklage von fünf nicht-kommunistischen Mitgliedern des Münchener »Pressedienstes Demokratische Initiative« gegen die CSU ab, mit der der Strauß-Partei die Behauptung verboten werden sollte, diese Journalisten und Schriftsteller, die zusammen mit DKP-Mitgliedern im PDI arbeiten, bildeten eine »kommunistische Tarnorganisation«. Das Gericht: Diese Bezeichnung sei nur dazu da gewesen, eine bestimmte Richtung zu kategorisieren, sie sei aber nicht verleumderisch. Ebenfalls sei der Ausdruck »Untergrundkommunist« gegenüber dem parteilosen PDI-Mitglied Günter Wallraff »gerechtfertigt«; • der oberste Rechtsherr der Bundesregierung, Bundesjustizminister Jochen Vogel, spielte vor dem Prozeß gegen den 12 Hamburger Rechtsanwalt Kurt Groenewold, der wegen »Unterstützung einer kriminellen Vereinigung« in erster Instanz zu zwei Jahren Haft mit Bewährung verurteilt worden ist, einigen Journalisten die Anklageschrift zu und verstieß damit eindeutig gegen geltendes Strafprozeßrecht. Der von der Verteidigung als Zeuge geladene frühere amerikanische Justizminister William Ramsey Clark sagte vor Gericht aus, in Amerika wäre angesichts der damit erfolgten Vorverurteilung eines Angeklagten solch ein Verfahren nicht eröffnet worden. Der zuständige 3.
Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts hielt zumindest »nicht alles, was auf diesem Gebiet geschehen ist, für förderlich im Sinne einer geordneten und vertrauenerweckenden Rechtspflege«; • die Listen für Bundesgrenzschützer über verfassungsfeindliche Organisationen und extremistische Zeitungen sind vergleichsweise harmlose Leseanweisungen gegenüber den »schwarzen Bänden« an den Grenzstationen mit Personenangaben und Fotos von 789 »leitenden Funktionären linksextre mistischer Kern- und Nebenorganisationen«; • sogar der Zoll ist in die Fahndung des Bundeskriminalamts einbezogen, das seinerseits dafür Zollaufgaben übernimmt -BKA-Chef Herold: »Ein wirklicher Arbeitsverbund.« Längst auch schon führt die Bahnpolizei ohne gesetzliche Grundlage Personenkontrollen in Zügen durch. Als der Abgeordnete Axel Wernitz (SPD) den früheren Innenminister Maihofer darauf ansprach, daß dies im südbayerischen Bereich »Richtung Rosenheim« geschehen sei (»Die Rechtsgrundlage hierfür scheint mir außerordentlich schwach zu sein«), entgegnete ihm der FDP-Mann: »Hier ist in der Tat noch ein rechtsfreier Raum, den wir schließen müssen«; • mit der sogenannten »BeFa 7«, der beobachtenden Fahndung nach politisch motivierten Gewalttätern, hat das Bundeskriminalamt eindeutig rechtliche Grundlagen verlassen: Die an das Legalitätsprinzip gebundene Polizei darf nach der Strafprozeßordnung erst tätig werden, wenn schon ein Ermittlungsvorgang läuft. In die »BeFa 7« aber sind auch »Kontaktpersonen« einbezogen, zum Beispiel Leute, die mit einem unter Terrorismusverdacht Stehenden im selben Zugabteil oder Auto angetroffen wurden. Zeitweise genügte es sogar, 13 daß Männer und Frauen im Alter von 20 bis 35 Jahren häufiger die Grenze nach Frankreich passierten, um sie zu BeFa-Fällen zu machen; • in einem Vortrag in Hannover sagte der Bonner Bildungsminister Schmude öffentlich: »Wenn wir sehen, daß die Polize i etwas tut, wofür es keine Rechtsgrundlage gibt, dann müssen wir die Rechtsgrundlage schaffen.« Schmude fügte dann noch hinzu: ».. .oder diese Praxis unterbinden«; • in einem Einführungsvortrag für Referendare sagte der Staatsanwalt Harald Weiss-Bollandt beim Landgericht Hanau: Bei Demonstrationen würden Polizeibeamte immer wieder verschiedenster Übergriffe beschuldigt, nachweisbar aber seien solche Übergriffe so gut wie nie, weil von Polizisten belastende Aussagen »infolge der in diesem Beruf bestehenden Kollegialität oftmals nur schwer zu erlangen« seien. Diese »besondere Kollegialität unter den Polizeibeamten« sei »geeignet, einen wichtigen Beitrag zum Bestehen wichtiger Ein sätze zu leisten«. Er fügte hinzu: »Dabei bin ich überzeugt, daß ein Großteil dieser Beschuldigungen zutrifft.« Längst ist es nicht mehr nur die Meinung einiger als chronische Querulanten abgetaner Systemkritiker wie Ossip K. Flechtheim oder der Berliner Politologe Wolf-Dieter Narr, daß mit solch weitgesteckten Grenzpfählen der Bere ich des Rechtsstaats schon verlassen worden ist. Auch »gemäßigtere« Wissenschaftler schließen sich dieser Auffassung an. Der Hannoveraner Staatsrechts -Professor Hans-Peter Schneider, der von Bundeskanzler Helmut Schmidt bisweilen als rechtspolitischer Berater konsultiert wird: »Die Rechtsstaat-Idee wird pervertiert in eine Machtstaat-Idee.« Der Karlsruher Bundesrichter Helmut Simon: »Ich sehe eine staatspolitisch gefährliche Entwicklung.« Die breite Öffentlichkeit indes erreichen auch diese Mahner nicht. In dem Glauben, daß immer mehr und immer schärfere Gesetze, immer mehr und immer enger verbundener Datentausch, immer mehr und immer extensivere Fahndung letzt lich dafür da seien, terroristische Gewalttäter zu fangen und den Bürgerfrieden wiederherzustellen, lassen die Deutschen der Regierung, dem Parlament und den Gerichten ihren Lauf. Nach wie vor ist die Mehrheit der Bürger der festen Überzeugung, 18 daß die Bundesrepublik der freieste Staat der Welt sei. Wo außer in der Bundesrepublik kann man ohne Tempolimit auf der Autobahn rasen? Kann nicht jeder, sofern er zahlen kann, das kaufen, was er gerade will? Ist nicht die Bundesrepublik das Land, in dem man schlafen kann, mit wem und wie man will? Das Institut für Demoskopie Allensbach hat für den STERN ermittelt, daß 84 Prozent der Bevölkerung ihre Freiheit durch keinerlei staatliche Eingriffe beeinträchtigt sehen, und 64 Prozent befürworten die Berufsverbote. Die Deutschen, seit je autoritätsgläubige Untertanen - wo sonst kennt eine Sprache den Begriff »Vater Staat«, wo sonst gestattet sich eine Sprache eine Selbstentblößung wie mit der Wendung »Wir werden einmal deutsch miteinander reden müssen« ? -, haben auch jetzt wieder verräterisches sprichwörtliches Verständnis: »Not kennt kein Gebot« oder »Wo gehobelt wird, fallen Späne« und insbesondere: »Der Zweck heiligt die Mittel«. Die Bereitschaft, den Ausbau der Staatsgewalt hinzunehmen, wurde durch wirtschaftliche Angst gefördert. Der 01-schock des Winters 1973/74, die wirtschaftlichen Probleme wie Arbeitslosigkeit und Konjunkturflaute förderten die Neigung der Bürger, sich nur noch mit den eigenen Sorgen zu befassen, und die Sehnsucht nach dem starken Staat, der alle politische Verantwortung übernehmen sollte. Am deutlichsten tritt diese Neigung zur d isziplinierten Unterordnung in der breiten Klasse der Facharbeiter zutage, die durch Automation und Rationalisierungsmaßnahmen um ihre bisherige herausgehobene Stellung fürchten müssen. Sie spüren instinktiv, daß sie etwas sind, was Soziologen als »untergehende Klasse« definieren.
Auf sie trifft zu, was Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest über die Bauern und die Kleinbürger gesagt haben: Sie sind nicht progressiv, sondern neigen zu einer reaktionären Haltung. Mit der Absage an die Politik ging ein achselzuckendes Hinwegblicken von den Sorgen des anderen einher. Was geht den Arbeiter bei den Ford-Werken in Köln der Radikalenerlaß an, mit dem ein paar aufmüpfige Bürgersöhne daran gehindert werden, den Lehrerberuf zu ergreifen? Für ihn ist 19 die Freiheit bedroht, wenn die Werksleitung, so wie es im Frühjahr 1978 beim Metallarbeiterstreik geschah, die Bänder abstellt, ohne den Betriebsrat zu fragen. Bei den anderen handelt es sich ohnehin um Privilegierte. Sie konnten sich ein Studium leisten, sie jammern um den Verlust von Rechten, die er, der Arbeiter, nie hatte. Die so denken, erkennen nicht die Wechselwirkung, die zwischen dem Abbau von Freiheit im politischen Bereich und der Entmündigung im wirtschaftlichen Bereich besteht. Sie sehen nicht, daß dort, wo das Klima umschlägt, keine verein zelten Schönwetterzonen erhalten bleiben. Der Ordnungsstaat, der den Menschen in die Gehorsamshaltung zwingt, wird in Betrieben und Konzernen kopiert. Da konnte in Rastatt bei Baden-Baden der Vorstand eines SEL-Zweigwerks die Schließung verkünden, mit der 900 Arbeiter auf die Straße gesetzt werden und als der CDU-Bürgermeister Franz Rothenbiller klagte, daß man die Tochter des amerika nischen ITTKonzerns doch mit Millionen an Standortsubventionen hergeholt habe, und der Betriebsratsvorsitzende Josef Riederer fragte, wie die Werksleitung diese Entscheidung habe treffen können, ohne sich mit der Belegschaft, mit der Stadt oder mit dem Landeswirtschaftsministerium vorher in Verbindung zu setzen, antwortete Vorstandsmitglied Burkhard Wiesmann kühl: »Tut mir leid, wir müssen hier aus Rationalisierungsgründen weg, da ist gar nichts zu machen.« Da wurde in Sonthofen beim Oberallgäuer Milchwerk der Betriebsratsvorsitzende Manfred Werske im krassen Widerspruch zum Betriebsverfassungsgesetz gefeuert, weil er grö ßere Mitbestimmungsrechte forderte (als die zuständige Ge werkschaft Nahrung, Genußmittel und Gaststätten prozessierte, wurde die Entlassung mit einer hohen Abfindungssumme gepolstert, aber nicht rückgängig gemacht). Doch nicht nur wirtschaftliche Ängste der Bürger haben eine nahezu uneingeschränkte Handlungsvollmacht für Parteien, Regierung und Bürokratie gefördert. Politische Veränderungen in den Nachbarstaaten der Bundesrepublik sind hinzugekommen. In Italien, in Frankreich und zuvor in Portugal waren die Kommunisten auf dem Vormarsch, zeitweise schienen sie unaufhaltsam auf dem Weg zur Regierungsübernahme 20 zu sein. Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger fürchtete 1976, daß Italien kommunistisch werden könnte und daß andere westeuropäische Länder wie Frankreich, Spanien, Portugal und Griechenland bald folgen würden. »Kommunismus« aber weckt in der Bundesrepublik noch immer sofort Assoziationen mit marodierenden Russen beim Einmarsch 1945, mit Ulbrichts Mauerbau, mit Honekkers Inhaftierung von Systemkritikern. Von da ist es nur noch ein kurzer Weg, bis man Kommunismus und RAF-Bande auf einen Nenner bringt und in den reglementierenden Eingriffen des Staates und der Bürokratie, die ja als Kampf gegen den Terrorismus etikettiert worden sind, eine im wohlverstandenen eigenen Interesse liegende Systemsicherung sieht. Die CDU/CSU-Opposition verstärkte die Einschüchterung mit maßlosen Attacken gegen die sozialliberale Regierung. Franz Josef Strauß: »SPD und FDP überlassen diesen Staat Kriminellen und politischen Gangstern.« Alfred Dregger: »Die Politgangster gedeihen unter einer Käseglocke regie rungsamtlicher Verniedlichung.« Dabei blieb die Bundesrepublik selbst in den Hochzeiten der RAF ein Hort relativer Sicherheit, gemessen an Ländern wie Italien (1977: 31 politische Morde), gemessen auch an der deutschen Geschichte: In den ersten fünf Jahren der Weimarer Republik, zwischen 1918 und 1922, gab es 376 politische Morde (unter den Toten der deuts che Außenminister Rathenau). In den sieben Jahren des RAF-Terrorismus ist es bisher zu 27 Toten gekommen. Der SPD-Abgeordnete Dieter Lattmann: »Wir wollen nicht einen einzigen dieser Toten bagatellisieren, aber eines muß doch auch gesagt werden: Wir haben gar nicht so viel Gewalt, wie den Menschen eingeredet wird, sondern eine ungeheure Angst vor einem Ausmaß an Gewalt, das gar nicht besteht.« Jeder Buchhändler kann diese Einschätzung der Gemütslage der Deutschen bestätigen: immer neue Bücher über die Angst werden aufgelegt, Titel wie »Die neue Gewalt und wie man ihr begegnet«, »Leben zwischen Angst und Freiheit«, »Angst bei Schülern und Studenten«, »Gewalt regiert die Welt« erreichen in ihren Auflagen Bestseller-Gipfel. Doch auch die sozialliberale Regierung fördert diesen 21 Angstschub, der geradezu massenpsychotisches Format angenommen hat. Die Bonner Ministerien igelten sich hinter Stacheldrahtverhauen ein, durch Regierungsviertel kreuzten bald so viele Panzerspähwagen wie Mercedes-Limousinen, die Zahl der Leibwächter, die ein Minister, Staatssekretär oder Oppositionsführer
kometenschweifartig hinter sich herzog, wurde zum neuen Statussymbol. Der paramilitärische Bundesgrenzschutz, ursprünglich dazu aufgestellt, bei Konflikten an der Ostgrenze als Puffer zwischen den regulären Streitkräften zu wirken, zog nun feldmarschmäßig ausgerüstet vor Bonner Ministerwohnungen und Regierungssitzen auf. Die Engländer dagegen, die tatsächlich einen blutigen Bürgerkrieg erleben, der allein im vergangenen Jahr 112 Tote forderte, verzichteten auf eine angsteinflößende und Gewalt provozie rende Zurschaustellung staatlicher Macht: Vor Downing Street 10, dem Sitz des britischen Premiers, übernimmt noch immer nur ein mit Gummiknüppel bewaffneter Bobby die Sicherungsaufgaben. Reste eines schlechten Gewissens schläferten die Deutschen mit einem Blick nach Paris, Rom oder Athen ein. In Italien, nach dem Mord an Aldo Moro, beteiligte sich sogar die Armee an der Suche nach den Attentätern. In Griechenland wurde für Terroristen die Todesstrafe wieder eingeführt. Wie die Bundesrepublik verwehrte auch Frankreich dem kommu nistischen belgischen Politologie-Professor Ernest Mandel die Einreise. Außerdem läßt Frankreich auch den ehemaligen Studentenführer Cohn-Bendit, der heute in Frankfurt einen linken Bücherladen betreibt, wegen Anstiftung zum Aufruhr seit nunmehr schon zehn Jahren nicht mehr ins Land. Vergessen wird dabei allerdings, daß einst sogar ein Charles de Gaulle ausdrücklich gesagt hat: »Auch Sartre ist Frankreich.« Das is t, als würde Strauß sagen: »Auch Böll ist Deutschland.« Statt dessen hat das »Deutschlandmagazin« des ultrarechten Publizisten Kurt Ziesel unter ein Titelblatt mit Böll, Grass, Rudolf Augstein sowie den Professoren Mitscherlich, Gollwitzer, Brückner und Seifert schreiben können »Die geistigen Bombenwerfer« - und kein Staatsanwalt ist eingeschritten. Dabei ist es erst knapp zehn Jahre her, daß die Bundesrepublik ihren demokratischen Frühling erlebte. Geschoben von 22 der studentischen Außerparlamentarischen Opposition (Apo) (»Macht kaputt, was euch kaputt macht«), gezogen vom ersten sozialdemokratischen Nachkriegskanzler Willy Brandt (»Wir wollen mehr Demokratie wagen«), wurde der deutsche Bürger aus seiner Wohlstandslethargie abrupt wachgerüttelt. Die Aufbruchsstimmung reichte bis ins höchste Staatsamt. Der in die Villa Hammerschmidt eingezogene neue Bundespräsident Gustav Heinemann ermunterte dazu, das unter dem Eindruck der Nazi-Willkür formulierte Grundgesetz mit seinen Anlehnungen an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und an die französische Erklärung der Menschenrechte als das »große Angebot der Freiheit« zu begreifen. Der gesellschaftliche Erneuerungswille schien von unbändiger Kraft. Die Sozialdemokraten stellten umfassende Listen von inneren Reformen auf. Sie reichten von der Schaffung eines »gerechten, einfachen und überschaubaren Steuersystems«, einem »Gesamtbildungsplan« und der »Hilfe für berufstätige Mütter« bis zur Verbesserung des »Verbraucherschutzes« ; nicht einmal der Tierschutz wurde in Willy Brandts Regierungserklärung 1969 vergessen. Alle Parteien, auch die CDU/CSU, sahen sich gezwungen, die zunächst von der Apo erhobenen politischen Forderungen aufzugreifen und in ihre Programme neue Vorschläge zur Bildungspolitik, zum Bodenrecht, zur Mitbestimmung und zur Vermögensbildung einzubringen. Freiwillig entledigte sich der Staat einiger Repressions-mittel: • das Demonstrationsrecht wurde entschärft; • der Landfriedensbruch-Paragraph wurde auf diejenigen beschränkt, die sich an Gewa lttätigkeiten beteiligen, während bis dahin auch bloße Mitläufer strafbar gewesen waren. Damit bewahrte der Staat Tausende vor dem Kadi. Es war der bewußte Verzicht auf Rache gegenüber jenen jungen Menschen, die Mitte der sechziger Jahre an den Studentendemonstrationen gegen das verknöcherte Establishment in Politik und Wirtschaft und gegen alteingefahrene Traditionen an den Hochschulen (»Unter den Talaren Muff von tausend Jahren«) teilgenommen hatten; • das Haftrecht wurde entschärft. Bisher genügte der bloße 23 Verdacht auf Verdunkelung oder Flucht, um Menschen hinter Gitter zu bringen und dort eine Untersuchungshaft absitzen zu lassen, deren Dauer oft in keinem Verhältnis stand zu der später verhängten Strafe. Fortan mußte der Flucht- oder Verdunkelungsverdacht durch konkrete Tatsachen erhärtet werden; • das Sexualleben der Bürger wurde erstmals als Privatsache anerkannt. Der Porno-Paragraph wurde gestrichen, der berüchtigte Paragraph 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, auf den Schutz von Minderjährigen eingeengt; • Polizei und Bürger sollten ein neues Verhältnis zueinander finden. Die Polizisten sollten nicht mehr als drohende Ordnungsmacht auftreten, sie wurden jetzt außer im Schießen auch in Psychologie geschult, um bei Demonstrationen besser mit den jungen Leuten fertig zu werden. Die Uniformierten verbargen ihre bislang im Halfter offen getragenen 7,65-Millimeter-Pistolen unterm Dienstjackett; • Angeklagte brauchten vor dem Richter nicht mehr strammzustehen; sie bekamen während der Verhandlung einen eigenen Arbeitstisch.
Einen Moment lang schien es, als würde die Grundidee dieser Reformansätze, die Emanzipation des Menschen, zum Zündfunken einer Massenbewegung. Eine neue linke Koalition von Sozialdemokraten und Hochschulprofessoren, Liberalen und Schriftstellern, Kirchenleuten, Gewerkschaftern und sogar einigen problembewußten Christdemokraten bildete sich heran und wurde so etwas wie eine Erwachsenenorganisation der Apo. Auch die Arbeiterschaft stand nicht abseits. Es war mehr als nur ein traditioneller Lohnkampf, als 1969 die Hoesch-Arbeiter mit spontanen Streiks begannen und eine einheitliche Zulage von 30 Pfennig für alle forderten. Doch so heftig wie der Aufbruch war der Rückschlag. Den meisten Unionspolitikern war die Reformbewegung von Anfang an suspekt gewesen, sie empfanden sie als Störung des zwanzig Jahre währenden Dreiklangs von Konservativen, Kapital und Kirche. Der christdemokratische Kanzlerkandidat jener Jahre, Rainer Barzel, erklärte nach der Rückkehr von einer Reise ins damals noch vom Diktator Salazar beherrschte Portugal: »Unser Land ist nicht in Ordnung!« 24 Franz Josef Strauß verhöhnte die Strafprozeßreform als »Verbrecherschutzgesetz«. Er verdächtigte den SPDKanzler Brandt, das Demonstrationsrecht nur deshalb reformiert zu haben, um seinen bei einer Kundgebung vorübergehend festgenommenen Sohn Peter vorm Gefängnis zu bewahren. Der CSU-Rechtsexperte Carl-Dieter Spranger (MdB): »Die Überbetonung staatlicher Toleranz und falsch verstandene Liberalisierung fördern Gewalt, Kriminalität, Brutalität und Terrorismus.« Die in Bonn in der Opposition stehenden Christdemokraten mobilisierten alle verfügbaren Machtpositionen in Länderparlamenten, Bundestag, im Karlsruher Verfassungsgericht und bei Wirtschaftsverbänden, um das Neuerungsexperiment abzublocken. Bald säumten Reformruinen den Weg der sozialliberalen Koalition: das Berufsbildungsgesetz, das durch Unternehmerabgaben eine qualifizierte Ausbildung der Lehrlinge sichern sollte; das Vermögensbildungsgesetz, das Arbeitnehmern eine Beteiligung an den Unternehmergewinnen ermöglichen sollte; das Bodenrecht, mit dem Spekulationsgewinne vereitelt werden sollten. Gegen die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung ohnehin schon ein mit dem industriefreundlichen Koalitionspartner FDP und der CDU/CSU-Opposition ausgehandelter Kompromiß ohne wirkliche paritätische Gleichgewichtigkeit der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat von Großbetrieben - klagten die Arbeitgeberverbände vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Sozialdemokraten mußten während der weltweiten Rezession den grundsätzlichen Fehler ihrer Reformpolitik erkennen, nämlich daß sie von einem ungebremsten Wachstum der Wirtschaft ausgegangen waren (der erste Entwurf des Orientierungsrahmens 85 veranschlagte jährliche Steigerungsraten des Bruttosozialprodukts von 5 Prozent). Jetzt verfielen sie in Resignation. Helmut Schmidt gab als Nachfolger Brandts im Amt des Bundeskanzlers in seiner ersten Regie rungserklärung das neue Leitmotiv aus: »Dies ist die Zeit der Kontinuität und Konzentration.« Besorgt registrierte Bundespräsident Gustav Heinemann noch kurz vor seinem Tod den »allgemeinen Widerwillen, der 25 einen liberalen Rechtsstaat zu begleiten pflegt«. Selbst Willy Brandt, längst nicht mehr Kanzler, aber immer noch Symbolfigur des einstigen Aufbruchs, warf schließlich das Handtuch und gestand in einem Interview im April 1978 das Scheitern der Reformpolitik ein: »Rückschauend muß ich selbstkritisch einräumen, daß mit dem Reformbegriff etwas leichtfertig umgegangen worden ist.« Zum Scheitern beigetragen hat aber auch die Linke außerhalb des Parlaments. An den »roten« Universitäten breitete sich ein Klima militanter Intoleranz aus. Konservative Professoren wurden in ihren Vorlesungen niedergeschrieen, CDU-Politiker wie beispielsweise Helmut Kohl bei einem Auftritt an der Technischen Universität Berlin mit Farbbeuteln und Eiern beworfen. Der Politologe Gilbert Ziebura, der sich Ende der sechziger Jahre in Berlin an die Spitze der studentischen Aufbruchsbewegung gestellt und durch ein Mitbestimmungsmodell am Otto-Suhr-Institut die Demokratisierung der Universität betrieben hatte, räumt ein: »Es herrschte an den Hochschulen in der Tat zeitweise das Chaos.« Die gesellschaftspolitisch relevanten Auswirkungen analysiert der fortschrittlich eingestellte Bundesverfassungsrichter Helmut Simon, Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages und erst kürzlich von der Universität Oldenburg mit der Carl von Ossietzky-Medaille ausgezeichnet: »Aus diesem Festlaufen der Reformpolitik ergeben sich ja noch keine Freiheitsbeschränkungen, wohl aber Lähmungen im Willen, freiheitlich zu leben.« Die vom Demokratie-Experiment ermatteten Bundesbürger sanken zurück in den alten Konsens der Bundesrepublik, wie er sich in den Jahren des Kalten Krieges herangebildet hatte: Intoleranz nach links, eine hoch angesetzte Toleranzschwelle nach rechts. Teil dieses Konsenses ist ein Hans Filbinger, der als NaziMarine-Richter »zur Aufrechterhaltung der Manneszucht« noch im April 1945 junge Soldaten der Wehrmacht wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilte und auch aus derselben Geisteshaltung heraus heute die »permissive
Gesellschaft« beklagt. Kein Teil dieses Konsenses ist Heinrich Böll, der die Bürger Bundesrepublik davor warnt, daß »Freiheit und Demokratie langsam im Namen von 26 Freiheit und Demokratie erstickt werden«; Seine Sätze dürfen von dem rechten Springer-Kommentator Matthias Walden so verbogen und durcheinandergerührt werden, daß sie wie eine Freisprechung der Terroristen aussehen. Walden über Böll: »Moralische und intellektuelle Mitschuld.« Als Böll gegen diese Verleumdung klagte, verweigerte ihm das höchste deutsche Gericht, der Bundesgerichtshof, sein Recht. Teil dieses Konsenses war der Lehrer, der sich in den fünfziger Jahren Springers Berlin-Plakette »Macht das Tor auf« ans Revers heftete. Der Pädagoge jedoch, der sich heute mit Plaketten als Kernkraftgegner zu erkennen gibt, ist kein Teil des Konsenses. Ihm wird selbst in Hamburg auf Anweisung des Landesschulrats das Tragen der Plakette verboten. Teil des Konsenses sind junge Neo-Nazis, die in schwarzen Uniformen bei Nürnberg vor Reporter-Kameras Waffenübungen machen. Teil des Konsenses ist die SS-Traditionsgemeinschaft Hiag, die 31 Jahre nach Hitler bei einem SS-Treffen in einem Sonthofener Soldatenheim noch ein Ritterkreuz verleiht. Nicht Teil dieses Konsenses ist der Doktorand, der vor sechs Jahren beim Besuch des südvietnamesischen MarionettenPräsidenten Thieu gegen die Zerbombung Vietnams durch die Amerikaner demonstrierte - ihm wird in Deutschland noch jetzt, nachdem die Amerikaner Vietnam längst geräumt haben und Thieu inzwischen in seinem l00 000-Dollar-Haus im Londoner Vorort New Maiden unter dem Pseudonym »Mr. Martin« Grundstücke mäkelt, vor dem Bonner Landgericht zusammen mit 15 weiteren Angeklagten der Prozeß gemacht. Das Banner der in diesem Konsens lebenden Gesellschaft ist der Begriff »Freiheitlich-Demokratische Grundordnung -FDGO«. In der Sicht des Sorbonne-Professors Alfred Grosser, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, tragen die Deutschen die »FDGO« als »heiliges Tabernakel« vor sich her, quasi als Ersatz für den durch die Teilung verlorengegangenen ethischen Grundwert der Nation. Mit dem Aufkommen der RAF-Terroristen entstand den FDGO-Bannerträgern wieder ein klares Feindbild. Jetzt konnte deutlich ausgesprochen und in Gesetze umgegossen werden, was sich vorher als Unbehagen an der Studentenbewegung und den Neuerungskräften nur verhalten artikuliert 27 hatte. Die Alibifunktion des Terrorismus für die Wiederherstellung des autoritären Staates wird exemplarisch nachweis bar am Radikalenerlaß. Den Beschluß, mit dem Verfassungsfeinden der Zugang zum Öffentlichen Dienst versperrt werden soll, formulierten Bundesregierung und Länderministerpräsidenten im Januar 1972, noch vor dem Aufkommen der Terrorwelle. Nach den ersten Morden der Terroristen wurde der Radikalenerlaß umfunktioniert in ein Instrument totaler Gesinnungsschnüffelei und Einschüchterung politisch Andersdenkender. Schon längst sind die »Klassiker« des Radikalenerlasses - der Lokomotivführer Rudi Röder, der wegen seiner DKP-Mitgliedschaft aufs berufliche Abstellgleis geschoben werden sollte; die Juristin Charlotte Niess, die in Bayern nicht Richterin werden durfte, weil sie der auch mit DKP-Mitglie dern besetzten »Vereinigung Demokratischer Juristen« angehörte; die aus einer vor den Nazis geflüchteten Judenfamilie stammende Lehrerin Silvia Gingold, deren Übernahme in das Beamtenverhältnis im Land Hessen an ihrer DKP-Mitgliedschaft scheiterte - tausendfach kopiert und -zigfach übertroffen worden. Da muß der schon längst zum Beamten auf Lebenszeit ernannte Studienrat Fritz Güde, Sohn des früheren Generalbundesanwalts Max Güde, wegen Mitgliedschaft im KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands) seinen Platz in der Schule räumen. Da scheitert der Lehramtsanwärter Heinrich Häberlein, der weder DKP-Mitglied ist noch in marxistischen Studentenorganisationen mitgemischt oder in irgendeiner Vereinigung - wie etwa Charlotte Niess -mit Kommunisten zusammengearbeitet hat, am Verwaltungsgericht Ansbach. Dessen Richter vermißte bei dem Kriegsdienstgegner und Volksschullehrerbewerber Häberlein eine ausreichende Bereitschaft, die freiheitlich-demokratische Grundordnung »aktiv zu verteidigen«. Zum erstenmal wurde damit eine stramme antikommunistische Haltung zur Voraussetzung für die Übernahme in das Beamtenverhältnis gemacht. Als Kriegsdienstverweigerer, so argumentierte das Gericht, gerate Häberlein »immer wieder unter den Zwang einer geistigen Auseinandersetzung mit kommunistischen Zielsetzungen«. Es sei deshalb »nicht auszuschließen, 28 daß der Kläger diese Zielsetzungen gar nicht erkennt und daher auch nicht in der Lage ist, dann aktiv für die freiheitlichdemokratische Grundordnung einzutreten, wenn sie in Gefahr ist.« Damit war eine Schwelle überschritten, die bis dahin das Aussieben der Beamtenanwärter von den berüchtigten Praktiken der McCarthy-Zeit Anfang der fünfziger Jahre in den USA unterschied, mit denen der öffentliche Dienst von »Kommunistenfreunden« gereinigt werden sollte. Dabei kam es gar nicht darauf an, ob man selber ein Verfassungsfeind war. Um als »risk« - Risiko - zu erscheinen, genügte es, einen kommunistischen Onkel zu haben. Auf das »risk«, auf eine mögliche Anfälligkeit im Umgang mit Kommunisten in der Zukunft, wurde nun auch im Fall Häberlein abgestellt.
Der gedankliche Ansatz, der zum Radikalenerlaß geführt hat, ist dabei im Grunde durchaus akzeptabel. Es gibt gute Gründe dafür, daß ein Staat seine Ministerien, Gerichte, Kasernen, Rathäuser nicht gerade denen öffnet, deren erklärtes Ziel es ist, diesen Staat zu beseitigen. Das praktizieren, wenn auch ohne Erlaß, westliche Demokratien wie Großbritannien oder Frankreich genauso wie Ostblockstaaten. Die jetzige dogmatische KPFührung der Tschechoslowakei läßt den früheren Parteiführer Dubcek, der einen freiheitlichen So zialismus wollte, gerade noch Verwaltungsangestellter werden. Das Entstehen der Neuen Linken, die der Studentenführer Rudi Dutschke zum »Marsch durch die Institutionen« aufgerufen hatte, und die Neuorganisation der orthodoxen Kommunisten in der DKP 1968 waren der Auslöser für die Errichtung der Radikalen-Sperre. SPD-Kanzler Willy Brandt damals: »Der Breschnew würde sich totlachen, wenn wir hier kommunistische Lehrer einstellen.« Und FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher, dessen Partei gerade dabei war, sich mit ihren Freiburger Thesen als Gralshüter des Liberalismus auszugeben, plädierte gar für eine Grundgesetzänderung. Er wollte einen eigenen Artikel in die Verfassung hineinschreiben, daß Beamte die Gewähr dafür bieten müßten, jederzeit für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat einzutreten. Der Mann, der von Amts wegen den besten Überblick über die »linke Gefahr« hatte, der zu jener Zeit amtierende 29 Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Günter Nollau, erinnert sich heute: »Ein wirklicher Grund für diese Aktivitäten, eine Entwicklung, die ein Eindringen von Verfas sungsfeinden in den öffentlichen Dienst etwa hätte bedeuten können, lag überhaupt nicht vor.« Plötzlich reichte die bisherige Regelung nicht mehr, die 1950 unter dem CDU-Kanzler Konrad Adenauer begründet worden war: den Beamtenanwärtern wurde eine Liste von 13 extremistischen Organisationen vorgelegt. Sie reichte von der »Sozialdemokratischen Aktion« über die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« bis zur KPD und zur rechtsradikalen »Sozialistischen Reichspartei«. Der Kandidat mußte unterschreiben, daß er in keiner dieser Organisationen Mitglied sei. Jetzt, unter Willy Brandt, mußte eine neue »Rechtsstaatlichkeit« her. Unter seiner Obhut wurde im Januar 1972 der Radikalenerlaß verabschiedet. Auf dem Sozialdemokratischen Parteitag in Hannover 1973 wollten die SPD-Linken das Aussieben der Beamtenanwärter entschematisieren. Einem künftigen Lehrer, Richter oder Sachbearbeiter sollte nach ihrem Wunsch nicht nur deshalb der Eintritt in den öffentlichen Dienst versagt werden, weil er einer Partei angehörte, die in ihr Programm etwa den »Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse« oder die »Diktatur des Proletariats« hineingeschrieben hatte. Die Parteilinken in Hannover setzten einen Antrag durch, der die Untersuchung jedes einzelnen Falles und der persönlichen Umstände eines Bewerbers zur Auflage machte. Mag sein, daß sich einige der jungen Sozialdemo kra ten daran erinnerten, daß auch ihr Parteivater August Bebel einmal Sätze formuliert hatte wie: »Um den Volksstaat zu bekommen, dazu muß die Herrschaft der privilegierten Klassen und Personen gebrochen werden... Der Verlauf dieser Entwicklung hängt von dem Widerstand ab, den die Bewe gung an ihren Gegnern findet. Das eine steht fest: je heftiger der Widerstand, um so gewalttätiger die Herbeiführung des neuen Zustandes. Mit Sprengen von Rosenwasser wird die Frage auf keinen Fall gelöst.« Der radikaldemokratische Politologe Professor Jürgen Seifert, heute einer der heftigsten Kämpfer gegen den Abbau der 30 Freiheitsrechte in der Bundesrepublik, entschloß sich nach dem Parteitag in Hannover, selbst einer Anhörungskommis sion beizutreten, die das Land Niedersachsen für die Überprüfung der Beamtenanwärter berufen hatte. Seifert damals zu Alfred Grosser: »Ich glaube, da geht es fair zu, und wir können dann versuchen, das Ganze etwas runterzukriegen.« Eines ist gewiß, die linken Sozialdemokraten hatten in Hannover in gutem Glauben gehandelt. Indes, mit ihren Ausführungsbestimmungen zum Radikalenerlaß haben sie nicht nur die Praxis der Gewissenserforschung sanktioniert; die von ihnen initiierte Einzelfallprüfung hat sich inzwischen zu einer der miesesten Begle iterscheinungen des Gesinnungs-TÜV entwickelt. Keiner von ihnen vermochte damals zu erkennen, daß ein solches Ausforschungsvorhaben schon auf Grund von Erfahrungssätzen, die erst knapp eine Generation zurücklagen, den öffentlichen Dienst nicht von Verfassungsgegnern freihalten konnte. Diese Vergangenheit hätte genaue empirische Zahlen darüber geliefert, daß die Mehrheit der Beamten zu keiner Zeit bereit gewesen war, für die Demokratie einzutreten. Als die Weimarer Demokratie durch das totalitäre Hitler-System abgelöst wurde/liefen über 80 Prozent der Beamten zu den Nazis über. Als die NSDAP kurz nach der Machtergreifung den Torschluß für Parteieintritte auf den i. Mai 1933 festsetzte, bildeten sich riesige Schlangen von beamteten Bewerbern (die sogenannten »Mai-Gefallenen«). Diese Demokratie-Verräter, die im Zweifelsfall durch kein noch so ausgeklügeltes System hätten ausgesiebt werden können, mußten indes auch wegen ihrer erwiesenen Mängel nicht um die Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst der nachfolgenden Bundesrepublik bangen; Mit dem Artikel 131 des Grundgesetzes wurde
die Wiedereinstellung dieser NS-Beamten ausdrücklich geregelt. Einer der vehementesten Vorkämpfer dafür, daß man ihnen eine Bewährungschance geben solle, war der erste sozialdemokratische Nachkriegs-Parteiführer und Ex-Insasse der KZ's Heuberg, Dachau und Neuengamme, Kurt Schumacher. Der in Hannover ausgestellte Freibrief für die individuelle Ausschnüffelung hat bislang eine stolze Strecke erbracht: zwei 31 Millionen Beamtenanwärter sind überprüft worden; fast die Hafte, nämlich 800 000 hat man in Einzelbefragungen »angehört«. 4000 von ihnen wurden anschließend nicht angestellt. Sie mögen mit 0,5 Prozent rein numerisch eine geringe Größe sein, politisch-moralisch wurde dieser Wert zum Fäulnisherd dieser Republik. Der Radikalenerlaß hat eine Vergiftung des geistigen Klimas bewirkt. Ausgerechnet die Generation, die in der NS-Diktatur groß und vielfach auch schuldig geworden war, spionierte die erste unbelastete Nachkriegsgeneration aus. Dabei wurden nicht nur DKP-Mitgliedschaften registriert, sondern alle Aktivitäten in politischen Studentengruppen, etwa im Sozialistischen Hochschulbund, im MSB Spartakus und sonstigen Gruppen der Linken, von denen viele an den Hochschulen die offizielle Studentenvertretung stellten und in den sechziger Jahren als Motor von Veränderungen an den Hochschulen auch von den etablierten Politikern gefeiert wurden. Zu belastenden Fakten gerieten auch die bloße Teilnahme an Veranstaltungen dieser Gruppen, die Teilnahme an Demonstrationen, die Unterzeichnung von Flugblättern, in denen von »Imperialismus« die Rede war, oder die Teilnahme an Gruppenreisen in die DDR. Leidtragende wurden jedoch nicht nur die Abgelehnten, sondern auch diejenigen, denen nach einer Überprüfung bescheinigt wurde: »keine Bedenken«. Denn die Tatsache, daß eine Überprüfung stattgefunden hatte, lief fortan in den Personalakten mit. Dazu der Staatsrechts -Professor Hans-Peter Schneider: »Bei jeder Beförderung wird dann doch gesagt: >Da war doch mal was. Lieber den nicht, das ist uns zu riskantFrau G. K. zeichnete im Jahre 1972 mehrfach für die von der RevolutionärKommunistischen Jugend< (RKJ) und der Unabhängigen Sozialistischen Arbeitsgemein schaft (USAG) in Aisdorf herausgegebene Publikation >Der Bergmann< verantwortlich im Sinne des Presserechts ..... Ferner verkaufte und verteilte Frau K. am 8. und 15. Juni 1976 in Konstanz Publikationen der >Gruppe Internationaler Marxisten (GIM). Das Oberschulamt Freiburg wurde vom Kultusministerium Baden-Württemberg aufgefordert, mit Ihnen ein Gespräch zu führen, in dem Sie die Möglichkeit erhalten, zu den Erkenntnissen des Innenministeriums Stellung zu nehmen, und bei dem Sie im Hinblick auf die vorliegenden Erkenntnisse allgemein Ihre Haltung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung näher erläutern sollen. Als Termin ist vorgesehen (Datum und Uhrzeit folgen) im Oberschulamt Freiburg, Eisenbahnstr. 68, 7800 Freiburg i.Br., 9. Stockwerk, Zi. 901. Sofern die Besprechung aus Gründen, die in Ihren Verantwortungsbereich fallen, nicht stattfinden sollte, geht das Oberschulamt Freiburg davon aus, daß Sie an der Bearbeitung Ihrer Bewerbung um Zulassung zum Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Gymnasien nicht mehr interessiert sind. Hochachtungsvoll.« Nach der Anhörung konnte die Studentin ihren Professor, den Politologen Gilbert Ziebura, davon unterrichten, daß sie nach Themen der Seminare ausgefragt wurde und daß bei der Erwähnung des Namens Ziebura einer der Prüfer sagte: »Dieser Name ist hier schon bekannt, er ist uns schon öfters begegnet.« Mit dieser Entwicklung ging eine Verunsicherung des Rechtsgefüges einher. Nach einem Musterprozeß hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 22. Mai 1975 die Rechtmäßigkeit von Radikalenerlaß, Prüfungspraxis und Zurückweisung von Bewerbern bestätigt. Dabei haben die Karlsruher Richter von ihnen selbst formulierte eherne Grundsätze des politischen Zusammenlebens über den Haufen geworfen. In einer für die Rechtsgeschichte zentralen 33 Entscheidung vom 21. März 1961 hatte das Bundesverfassungsgericht die Verfolgung und Bestrafung von KPDFunktionären für ihre Tätigkeit vor dem KPD-Verbotsurteil vom August 1956 annulliert und dabei ausdrücklich postuliert: Das im Grundgesetz in Artikel 21 festgeschriebene »Parteienprivileg« schütze die Tätigkeit für eine
Partei so lange vor Verfolgung, bis die Partei vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden sei. Um jetzt im Radikalenurteil zu rechtfertigen, daß auch das Mitwirken in nicht verbotenen Linksparteien wie DKP oder KBW (»Kommunistischer Bund Westdeutschland«) zur Ablehnung eines Bewerbers für den öffentlichen Dienst ausreiche, bemühte das gleiche Gericht juristische Spitzfindigkeiten: es unterschied zwischen dem Beamten, von dem das Grundgesetz »das Eintreten für die verfassungsmäßige Ordnung« verlange, und dem Bürger, der die Freiheit habe, »diese verfassungsmäßige Ordnung abzulehnen und sie politisch zu bekämpfen, solange er es innerhalb einer Partei, die nicht verboten ist, mit allgemein erlaubten Mitteln tut«. Außerdem prägte es den neuen Begriff der »Verfassungsfeindlichkeit« anstelle der im Grundgesetz genannten »Verfassungswidrigkeit«. Fortan wurde die »Verfassungsfeindlichkeit« nicht mehr nur von den Gerichten, sondern von der Verwaltungsbürokratie festgestellt. Generalbundesanwalt Max Güde nennt deshalb dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts »illegal«. Für weitere Rechtsunsicherheit sorgten die Verwaltungsgerichte, bei denen die abgelehnten Beamtenanwärter in die Berufung gingen. Die mit meist jüngeren Richtern besetzten unteren Verwaltungsgerichte ließen solche Einsprüche generell eher durch als die noch mit älteren Richtern besetzten Oberverwaltungsgerichte in der Berufungsverhandlung. Folge: alle Landesbehörden, egal ob christdemokratisch oder sozialdemokratisch, machten es sich zur Regel, vor die Oberverwaltungsgerichte zu ziehen, wenn sie in den Verwaltungsgerichten unterlegen waren. In der zweiten Instanz blieben sie meist siegreich. Doch auch die höheren Gerichte fanden zu keiner einheitlichen Rechtsprechung. Diese war nicht nur von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, manchmal fielen sogar am selben Gericht die Urteile diametral entgegengesetzt aus. So akzeptierte der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof Mannheim in einem Fall die bloße DKPMitgliedschaft einer Beamtenanwärterin als Ablehnungsgrund, in einem anderen Fall bestand er auf Weiterbeschäftigung eines DKP-Assessors - wenn auch nur wegen fehlerhafter Entlassungsbegründung der Behörde. Die Bürokratie wurde immer selbstherrlicher. Da der Radikalenerlaß als Verwaltungsvorschrift nicht allgemein gültiges Recht ist, sondern eine behördeninterne Interpretation des bestehenden Beamtenrechts, kann die Bürokratie, von niemandem kontrollierbar, allein darüber bestimmen, wer ein »Verfassungsfeind« ist. Zudem hat sie vom Bundesverfassungsgericht den Freibrief erhalten, auch solche Parteien, die nicht verboten sind und gegen die nicht einmal ein Verbotsantrag vorliegt, als verfassungsfeindlich einzustufen. Ihre Ablehnung von Bewerbern brauchen die Bürokraten nicht zu begründen. Nur dann, wenn ein abgelehnter Bewerber vor dem Verwaltungsgericht Einspruch einlegt, werden die Prüfungsverfahren öffentlich und nachprüfbar. Es stellt sich heraus, daß die Ministerialbürokratie in doppelter Hinsicht gegen das rechtlich ohnehin schon sehr fragwürdige Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1975 verstößt: Entgegen der Auflage der Karlsruher Richter genügt den Prüfungskommissaren in vielen Fällen schon die einfache Mitgliedschaft in kommunistischen Organisationen, um einen Bewerber abzulehnen. Auf eine Untersuchung des persönlichen Engagements des einzelnen kommt es ihnen nicht an. Und entgegen einer ausdrücklichen Auflage aus Karlsruhe, keine Verfassungsschutz-Dossiers zur Grundlage der Entscheidung zumindest für die Einstellung im vorbereitenden Dienst zu machen, stützen sie sich oft allein auf solche Ermittlungsberichte der besoldeten Schnüffler. Der Düsseldorfer Regierungspräsident hat dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einmal geschrieben, das Bundesverfassungsgericht habe an einer Stelle des Urteils ausdrücklich formuliert, daß sich ein Urteilsspruch der Ein stellungsbehörde »auf eine von Fall zu Fall wechselnde Vielzahl von Elementen und deren Bewertung« zu gründen 35 habe. Dann wörtlich weiter: »Dies schließt ein, daß die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei und deren Bewertung bei Fehlen oder mangelnder Relevanz weiterer Umstände zur alleinigen Beurteilungsgrundlage gemacht werden können.« Mit einem Trick umgehen dabei die Befragungsbehörden auch die Auflage, daß nur »gerichtsverwertbare Tatsachen«, nicht aber anonyme Beschuldigungen zum Gegenstand eines Verfahrens gemacht werden dürfen. Den Befragten werden anonyme Beschuldigungen vorgehalten, und wenn jemand - in Unkenntnis ihrer Herkunft und der Ausforschungsabsicht -antwortet: »Ja, das trifft zu«, werden sie automatisch gerichtsverwertbar. So munitionierte im Jahr 1975 der damalige Berliner SPD-Innensenator Kurt Neugebauer seinen einstigen niedersächsischen FDP-Landeskollegen Rötger Gross für das Verfahren gegen den renommierten PolitikWissenschaftler Wolf-Dieter Narr mit einem Schreiben voller Denunziationen, hinter denen der Vermerk stand: »nicht direkt verwert bar«. Zwar konnte Narr die Vorwürfe widerlegen, berufen wurde er aber dennoch nicht. Politische Ungerechtigkeiten verschärfen den Skandal. Die Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts Karlsruhe hat durch Urteil bestätigt, daß der Studienrat Fritz Güde, Sohn des Ex-Generalbundesanwalts Max Güde, wegen seiner 15-monatigen Zugehörigkeit zum KBW aus dem Schuldienst zu entfernen sei. Vier Monate zuvor hatte dieselbe Disziplinarkammer den Oberstudienrat Günther Deckert, Mitglied der Nationaldemokratischen Partei Deutschland (NPD) freigesprochen und ihm damit den weiteren Schuldienst
ermöglicht. Verhandelt wurde in beiden Fällen unter dem Vorsitz des Richters Helmut Fuchs, eines ehemaligen SS-Mannes. Grundlage der Disziplinarverfahren war eine Passage im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Radikalenerlaß, in der die Karlsruher Richter auch die Entfernung eines bereits angestellten Beamten aus dem Dienst für zulässig erklärten, und zwar wegen Verletzung der »Treuepflicht«. Im Urteil gegen Güde zitierte das Gericht seitenlang aus den Programmen des KBW und schloß daraus, daß »die politischen Zielsetzungen des KBW mit der freiheitlich36 demokratischen Grundordnung schlechthin unvereinbar« i seien. Im Fall Deckert zitierte die Kammer keine einzige Zeile aus dem NPD-Programm, sondern äußerte Zweifel, »ob die NPD überhaupt eine verfassungsfeindliche Ziele verfolgende Partei ist«. Aus Statut oder Programm der NPD ergäben sich derartige verfassungsfeindliche Zielsetzungen »nicht ohne weiteres«. Das Gericht verwarf dabei auch eine Materialsendung des Bundesinnenministeriums, in der Zitate von NPD-Mitgliedern mit eindeutig verfassungsfeindlicher Zielsetzung aneinandergereiht wurden: »Allein aus Äußerungen einzelner Mitglieder und Funktionäre darf nicht der Schluß gezogen werden, eine Partei verfolge verfassungsfeindliche Ziele.« Zweierlei Maß legte das Gericht auch bei der Frage an, ob die beiden Lehrpersonen nicht hätten wissen müssen, daß die Zugehörigkeit zu einer Partei, die zwar nicht verboten sei, dennoch rechtlich relevant werden könnte. Im Güde-Urteil heißt es: »Daß Rechtsfolgen, deren Eintritt er (Güde) aus rechtlichen Gründen für ausgeschlossen hielt, infolge einer Klarstellung einer im übrigen schon seit Jahren umstrittenen Rechtslage durch den Extremistenbeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975 ihn nun doch treffen, hat mit Verschulden nichts zu tun, sondern mit einer stets risikobehafteten Beurteilung der Rechtslage«! Im Fall Deckert dagegen entschied das Gericht: »Unterstellt man die Verfassungswidrigkeit der NPD, so durfte der Beschuldigte trotzdem in nicht vorwerfbarer Weise davon ausgehen, daß die NPD keine verfassungsfeindlichen Ziele hat und er daher auch durch Mitgliedschaft und Tätigkeit für die Partei nicht gegen seine Beamtenpflicht verstößt.« Die Ablehnungspraxis grenzt manchmal ans Lächerliche. Da nach dem Karlsruher Radikalenurteil das Beamtenrecht »unteilbar« ist, wird die Schablone der Verfassungsfeindlichkeit auf jeglichen Bewerber für den öffentlichen Dienst angelegt. In Frankfurt durfte der Briefträger Wolfgang Repp wegen eines Auftritts bei einer DKP-Veranstaltung nicht mehr Postkarten und Einschreibsendungen ausliefern. Der inzwis chen im Ausland schon zu einer Berühmtheit gewordene DKP-Lokomotivführer Rudi Röder erhielt im Hauptbahnhof Koblenz einen Leidensgenossen: dort wird gegen den 37 Fahrkartenverkäufer und Bundesbahnobersekretär Hermann Schladt ein Disziplinarverfahren mit dem Ziel der Entfernung aus dem öffentlichen Dienst angestrengt, weil Schladt ebenfalls DKP-Mitglied ist. Eine Demonstration gegen die US-Aggression in Vietnam und die Junta in Chile sowie ihre Mitgliedschaft in der DKP verhinderte für die Postangestellte Romi Leiss in Ludwigshafen die Übernahme in das Beamtenverhältnis. Für das sozialdemokratisch regierte Hamburg hat Bürgermeister Klose zwar verkündet, der Radikalenerlaß werde nicht mehr praktiziert. Sein früherer Senatssprecher Paul O. Vogel aber machte jahrelang rechte Gesinnung zur Auflage, »egal, ob jemand Polizeibeamter oder nur Gärtner beim Friedhof samt werden will«. Einzig in Bremen hat Bürgermeister Koschnick eine differenzierte Anwendung des Radikalenerlasses durchgesetzt: Dort werden nur noch Bewerber für »sicherheitsrelevante Bereiche« überprüft. In den letzten Jahren trugen zwei grundverschiedene Ele mente dazu bei, die bundesweite Radikalenhatz zu verschärfen. Auf der einen Seite wurde das Los linksgewirkter Berufssuchender infolge der wachsenden Arbeitslosigkeit immer schwerer (jeder achte Arbeitsplatz wird bereits von der öffentlichen Hand vergeben). Auf der anderen Seite wurde mit der Einsetzung von Computern bei den Geheimdiensten und durch einen Verbund der Computersysteme von Bundesverfassungsschutz, Landesverfassungsschutzämtern und Polizei eine fast lückenlose Registrierung jeder politisch herausragenden Aktivität systematisiert. Auf dem Weg der »Amtshilfe« versorgten zudem noch der Militärische Abschirmdienst (MAD), der jedem Wehrpflichtigen im Spind nachschnüffelt, und der Bundesnachrichtendienst (BND), der junge Deutsche bei ihren Reisen ins östliche Ausland überwacht, die elektro nischen Registraturen mit zusätzlichen Daten. Im Sinn des zur Zeit des FürstenAbsolutismus gedichteten Liedes »Die Ge danken sind frei, wer kann sie erraten« befindet deshalb Professor Schneider: »Das Haben einer Meinung wird ja niemandem verwehrt, nur ihre Äußerung.« Und Schneider tut als Wortklauberei ab, daß der Radikalenerlaß kein Berufsverbot bedeute: »Entweder nennt man es Berufsverbot oder man nennt es Gesinnungszwang, eines von beiden ist richtig.« 38
Selbst dem Bundesverfassungsrichter Walter Seuffert, unter dessen Vorsitz der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe das Radikalenurteil gefällt hat, ist heute bange vor den Geistern, die er rief. Seuffert engagiert sich inzwischen als Rechtsanwalt für vom Berufsverbot Betroffene. Er hat unter anderem die Verteidigung von Charlotte Niess übernommen. Der einstige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts verurteilt jetzt insbesondere die Zuarbeit des Staatsschutzes: »Oftmals sind die Akten des Verfassungsschutzes das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind.« Der Radikalenerlaß als politisches Disziplinierungsinstrument entwickelte bald seine Eigendynamik und drang auch in andere gesellschaftliche Bereiche vor. Ausgerechnet die beiden Kirchen, deren Glauben Parallelen zum Ansatz der studentischen Neuerungsbewegung Ende der sechziger Jahre aufweist, daß nämlich dem einzelnen Menschen größere Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und eine größere Gerechtigkeit zu erkämpfen seien, kopierten jetzt das staatliche Unterdrückungsmodell. Als das rheinland-pfälzische Kultusministerium sich an das »Katholische Büro« in Mainz wandte und um Zustimmung zur Überprüfung der Lehrkräfte an den katholischen Privatschulen des Landes ersuchte, gaben die Generalvikare der Diözesen von Köln, Fulda, Limburg, Mainz, Speyer und Trier umgehend ihre Zustimmung. Zugleich wurden auch die katholischen Religionslehrer an staatlichen Schulen in den Polit-Exorzismus einbezogen. In Münster setzte Bischof Tenhumberg, den einst Kirchen-Linke und Sozialdemokraten als fortschrittlichen Theologen gefeiert hatten, gar ein eigenes Radikalenrecht. Er versagte dem 28jährigen Religionslehrer Gerhard Damerau die Lehrerlaubnis. Grund: Damerau war während seiner Münsteraner Hochschulzeit einmal beim Marxistischen Studentenbund (MSB) Spartakus aktiv gewesen. Eine Kommission der Landesregierung hatte in der linken Vergangenheit kein Hindernis für eine Einstellung Dameraus gesehen. Einer der Gutachter: »Dameraus von christlicher Gesinnung geprägte Auffassung macht ihn für radikale Strömungen eher blind.« Bischof Tenhumberg focht dies nicht an. Er verweigerte dem Religionslehrer dennoch seinen Segen zum Berufsstart. 39 Die evangelische Kirche steht den katholischen Glaubensbrüdern nicht nach. Ihr Bannstrahl erreichte Pfarrer wie den 38jährigen Wolf gang Hofmann an der Dachauer Friedenskirche, der sich vom selbstherrlichen Kirchenvorstand seiner Stadt nicht auch noch die Amtskleidung vorschreiben lassen wollte. Der Bann erreichte junge Geistliche wie Dr. Wolf Ollrog in Misburg bei Hannover, der in seinen Predigten die Problematik der Kernkraftwerke und die Notwendigkeit einer Hilfe für die Dritte Welt in den Vordergrund gestellt hatte. Der Fluch der Kirche ging sogar auf den 71jährigen Pfarrer i. R. Friedrich Hochgrebe aus Marburg-Michelbach hernieder, weil er in einer Wahlanzeige die CDU als Partei des »großen Geldes« gekennzeichnet hatte. Als der Pfarrer Helmut Ensslin, Vater der im Stammheimer Gefängnis gestorbenen RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, den Selbstmord seiner Tochter anzweifelte, wurde er umgehend zum Stuttgarter Oberkirchenrat zitiert und mit einem Disziplinarverfahren bedroht, bei dem der 68jährige Rentner die Streichung der Kirchen-Pension fürchten mußte. Was den Kirchen recht war, mochten auch die Gewerkschaften nicht missen. Die Arbeitnehmerorganisationen, die sich in der Vergangenheit als Vorkämpfer für Menschenrechte auch außerhalb der Fabrikhallen profiliert hatten, ließen die Kirchen und Behörden bei ihrer Treibjagd auf politische Minderheiten ungestört gewähren. Mehr noch: auch die Gewerkschaften übernahmen das Disziplinierungs-Instrument und entwickelten es sogar noch fort. Am 3. Oktober 1973 haben die im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften einen politischen Unvereinbarkeitsbeschluß verkündet. Mitglieder der DKP, die durch systematische Sorge um besseres Kantinenessen, saubere Toiletten und niedrigere Bandgeschwindigkeiten in vielen Großbetrieben bei Betriebsratswahlen Mehrheiten errungen haben, waren davon nicht betroffen. Wohl aber wurde die Mitgliedschaft in »Extre men«, in K-Gruppen und sogenannten Sponti-Vereinigungen für mit der Gewerkschaftszugehörigkeit unvereinbar erklärt. Denn diese politischen Unorthodoxen gingen den gewerkschaftlichen Erbfürsten, jenen praktisch auf Lebenszeit abgestellten Betriebsratsvorsitzenden, die oft längst ein heimliches 40 Arrangement mit der Unternehmensleitung eingegangen sind, durch lästige Fragen und öffentliche Enthüllungen fortwährend auf die Nerven. Die Gewerkschaften begnügten sich allerdings nicht damit, die politisch Unliebsamen einfach aus ihrer Organisation auszuschließen. Die Gewerkschaftszeitung »Metall« veröffentlichte in Berlin die Namen und Adressen aller auf Grund der Unvereinbarkeitsbeschlüsse aus der IG Metall ausgestoßenen Arbeiter. Es war eine komplette Denunziantenliste an die Personalabteilungen der Betriebe. Die Folge: fast allen diesen Arbeitern wurde gekündigt, zum Teil wurden sie sogar fristlos entlassen. Der Entlassungsgrund: »Gefährdung des Arbeitsfriedens«. Der Betriebsrat, fest in der Hand der Gewerkschaften, verzichtete auf Einspruch oder stimmte diesen Entlassungen sogar zu. Die Betroffenen waren machtlos. Denn mit dem Ausschluß aus der Gewerkschaft hatten sie auch den Rechtsschutz der Arbeitnehmerorganisationen verloren. Sie selbst hatten keine eigenen Mittel, um sich einen langen Rechtsstreit zu leisten. Ausgerechnet die DKP, Hauptbetroffener des staatlichen
Radikalenerlasses und nimmermü der Ankläger dieser Praxis an den Schulen, bei der Bahn oder der Post, verdingte sich bei den Gewerkschaften als Hauptdenunziant der konkurrierenden Linksaußen. Mit fe inem Gespür hören DKPler bei Diskussionen einen Maoisten heraus und zeigen ihn umgehend bei der Gewerkschaftsführung an. Wenn es sich um Studenten handelt, geben sie sogar dem Verfassungsschutz Tips. Bestärkt durch die Nachahmer in Bischofssitzen und Ge werkschaftshochhäusern, berauscht an den eigenen Erfahrungen der Macht, ging die Bürokratie in den Landesregierungen daran, den Radikalenerlaß weiterzuentwickeln. Jetzt sollten jene Institutionen wieder an die Kandare genommen werden, die sich in den letzten zehn Jahren allzu sehr verselbständigt hatten. Schulen und Universitäten wurden mit ministeriellen Auflagen eingedeckt. Das Land Baden-Württemberg zum Beispiel, das die »geistige Erneuerung in der Schule« im Jahr 1977 zum Schwerpunkt der Landespolitik gemacht hatte (so Ministerialdirigent Dr. Kielian aus Filbingers Staatsministerium in einem Fernschreiben), wies die Lehrer an, daß sie nur 41 vorab genehmigte Unterrichtsmaterialien - zum Beispiel Zeitungsartikel - benutzen dürften. Würden fotokopierte Einzeltexte verwendet, müßten diese vorher der Schulleitung zur Kontrolle vorgelegt werden. Die Schulbehörden sollten Eltern und Elternvertreter dazu anhalten, »Mißbräuche« der Lehrer anzuzeigen. Im Klartext: Die Eltern wurden aufgefordert, das Unterrichtsmaterial ihrer Kinder auf vermeintlich linkes »Schriftgut« durchzufilzen, um dann die Lehrer zu denunzieren. Der bayerische Kultusminister Hans Maier setzte Schulbücher auf die Index-Liste, die Texte von Fried und Wallraff enthielten. Nur durch öffentliche Protestaktionen konnte in Baden-Württemberg verhindert werden, daß in der Sekundarstufe der Gymnasien plötzlich rein fachlicher Unterricht in Mathematik, Physik oder Biologie auf Kosten von Fächern mit möglicherweise kritischen Inhalten wie Deutsch, Geschichte und Erdkunde verdoppelt werden sollte. Es ist fraglich, ob dieser Schulfachumbau aufgehoben oder nur aufgeschoben ist. Der Sozialkundeunterricht ist in Baden-Württembergs Schulen bereits zugunsten einer traditionellen Vermittlung von Daten historis cher Schlachten zurückgedrängt worden. Zur Disziplinierung der Universitäten bekamen die Landesregierungen mit dem neuen Hochschulrahmengesetz den geeigneten Knüppel. Studenten, die durch Demonstrationen oder Sit-ins den Lehrablauf auf dem Campus oder im Hörsaal stören, können nun von den Rektoren bestraft werden - mit Hausverbot oder Rausschmiß aus der Uni. Die Regelstudienzeit, die den Studenten nur noch durchschnittlich acht Seme ster einräumt, hat den Effekt einer scharfen Leistungssteigerung. Da bleibt keine Zeit mehr für politische Aktionen, für ein Engagement als Studentenvertreter oder auch nur für eine Reise ins Ausland. Schon zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht einer demokratischen Kooperation von Lehrenden und Lernenden an den Universitäten, wie sie in einigen Reform-Hochschulen seit 1968 geprobt worden war, ein Ende gesetzt. Die Verfassungshüter stellten die neue Norm auf, daß die Professoren in den Selbstverwaltungsgremien der Universität nicht überstimmt werden dürften. Aber auch die Schreibtischarbeit der Hochschullehrer 42 wurde reglementiert. Den Professoren der Universität Konstanz hat die Kultusbehörde zur Auflage gemacht, bei Auslandsgesprächen über DM 8,- eine schriftliche Begründung einzureichen. Den bislang harschesten Versuch einer Disziplinierung unbequemer Hochschullehrer hat sich das Kultusministerium von Niedersachsen geleistet. Mit Suspendierung, Disziplinarverfahren und Hausverbot hat Kultusminister Eduard Pestel an der Person des Psychologie-Professors Peter Brückner das Exempel statuiert, daß wissenschaftliche Arbeiten nur zu den vom Staat gewünschten Schlüssen kommen dürfen. In einer 70seitigen Broschüre »Die Mescalero-Affäre, ein Lehrstück für die Aufklärung und politische Kultur« hatte der eigenwillige Professor, gegen den schon einmal ermittelt worden war, weil er angeblich Ulrike Meinhof Unterschlupf gewährt habe, eine soziale und psychologische Analyse der Verfasser des Buback-Nachrufs (»klammheimliche Freude«) verfaßt. Er hatte sich dabei gegen die pauschale und undifferenzierte Verurteilung des Textes gewandt, aber mit keiner Zeile Partei genommen für Terror oder politischen Mord. Derselbe Minister Pestel verlangte auch von 13 niedersächsischen Hochschullehrern, unter ihnen wieder Brückner, eine schriftliche Unterwerfungserklärung, nachdem sie eine Doku mentation über den MescaleroArtikel herausgegeben hatten. Sie sollten in der Ich-Form ihre »besondere Treuepflicht gegenüber dem Staat« bestätigen - damit war zum ersten Mal von Beamten nicht nur die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Treuepflicht gegenüber der Verfassung, sondern sozusagen gegenüber der CDU-Regierung von Niedersachsen postuliert worden. Elf der niedersächsischen Professoren, darunter nicht Brückner, unterzeichneten dieses Dokument. Die Mescalero-Dokumentationen hatten im übrigen auch Professoren aus Bremen und Berlin mit herausgegeben. Diese hatten in ihren Ländern keine disziplinarrechtlichen Auseinandersetzungen. Radikalenerlaß sowie die anderen Drohgebärden der Bürokratie taten die gewünschte Wirkung. Der Gießener Politologe Professor Heinz Josef Varain berichtet, daß in seinen Seminaren auf ausdrücklichen Wunsch der Studenten vervielfältigte Referate ohne Namen der Verfasser
43 verteilt worden seien - ausgerechnet bei dem Thema »Die bürgerlichen Freiheitsbewegungen gegen die Restauration Mitte des 19. Jahrhunderts«. Die gleiche Erfahrung hat der Politologe Gilbert Ziebura in Konstanz machen müssen. Einer seiner Studenten, der Lehrer werden wollte, hatte sich als Thema seiner Arbeit für die Staatsexamenszulassung die »Spanische Kommunistische Partei« ausgesucht. Während er sich in den Stoff vertiefte, kamen ihm Bedenken, da die Arbeit zum staatlichen Prüfungsamt geht. Er bat Professor Ziebura um ein neues, unverfänglicheres Thema. Das gleiche Bild in Berlin. Der Politologe Wolf-Dieter Narr wird von seinen Studenten dort immer wieder gefragt, ob es opportun sei, kritische analytische Aussagen etwa über den Kapitalismus oder das Thema Polizei und Sicherheit zu machen. Um den Studenten die Angst zu nehmen, hat sein Kollege Ziebura inzwischen ein Filtrierverfahren entwickelt: Vor der Staatsexamens-Prüfung versammelt er seine Studenten und sortiert mit ihnen gemeinsam jene angelernten Wissenselemente über Faschismus oder historischen Materialismus aus, von denen er annimmt, daß sie den staatlichen Prüfern als »Ideologie« mißfallen könnten. Da erfahrungsgemäß eines der beliebtesten Prüfungsthemen die Entstehung zweier deutscher Staaten nach Kriegsende ist, schärft er seinen Schülern ein, nichts mehr darüber zu sagen, daß die Amerikaner in den ersten Nachkriegsjahren westdeutsche Sozialisierungstendenzen unterdrückten und eine Rekonstruktion des Kapitalismus nach US-Muster durchsetzten. Nichts kennzeichnet den Verfall des geistigen Klimas in der Bundesrepublik besser als die in Mode gekommenen Schlagwörter. »Wehrhafte Demokratie« ist der ideologische Knüppel gegen Kritiker einer allzu großen Aufrüstung des Staates, »Solidarität der Demokraten« wird als Mauer gegenüber allen Gruppierungen hochgezogen, die links von FDP oder SPD stehen könnten. Schritt für Schritt erstarrt die Nachkriegsrepublik zu einem nur noch formalen Rechtsstaat, zu einer Demokratie ohne Demokraten. Die Meilensteine auf diesem Weg sind die Gesetze, die der Bundestag in den letzten Jahren zur Bekämpfung des Terrorismus verabschiedet hat. Schwerpunkte: 44 • Beschneidung der Rechte von Angeklagten und Verteidigern. Dazu gehören das Kontaktsperre-Gesetz; das Gesetz über den Ausschluß von Verteidigern; die Überwachung des schriftlichen Verkehrs zwischen Verteidigern und Mandanten, ilic Trennscheibe zwischen Verteidigern und Angeklagten; die Möglichkeit des Gerichts, auch in Abwesenheit der Angeklagten zu verhandeln; die Einschränkung von Beweisanträgen; die Inhaftierung von Personen, die unter dem Verdacht stehen, einer terroristischen Vereinigung anzugehören oder sie zu unterstützen, auch wenn keine Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr besteht. • Ideologische Abwehr. Die wichtigste Rolle spielt der neue Zensur-Paragraph 88a des Strafgesetzbuchs, der die »verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten« mit Gefängnis bedroht. Dazu gehört weiter die von der CDU gewünschte Verschärfung des Demonstrationsrechts, das erst 1970 entschärft worden war. Unter dem Stichwort »Landfriedensbruch« wollen die Christdemokraten auch Mitläufer einer Demonstration, bei der es plötzlich zu Ausschreitungen kommt, strafrechtlich belangen. Gemeinsam wollen Bund und Länder die Polizeigewalt ausweiten. Das Razziengesetz berechtigt die Polizei künftig dazu, bei Großfahndungen Straßenkontrollstellen einzurichten (bisher waren nur Verkehrskontrollen möglich). Ferner erhält die Polizei die Ermächtigung zur Durchsuchung von ganzen Gebäudekomplexen; sie ist bei Identitätskontrollen befugt, Personen ohne Ausweis 12 Stunden in Gewahrsam zu nehmen, sie zu durchsuchen und erkennungsdienstlich zu behandeln (Lichtbildaufnahmen, Fingerabdrücke). Die Innenminister der Länder einigten sich auf den Musterentwurf eines Polizeigesetzes, das den gezielten tödlichen Schuß auf Befehl zuläßt. Bisher durfte nur in Notwehr ein gezielter Todesschuß abgegeben werden, was viele Polizeibeamte abschreckte, weil sie eine Strafverfolgung fürchten mußten. Ferner soll die Polizei verstärkt mit Maschinengewehren und Handgranaten ausgerüstet werden. Außerdem schufen die Landesinnenminister für die ihnen unterstellten Verfassungsschützer ein weitreichendes Recht. Auf 130 Gesetze, Gesetzesänderungen, Verordnungen und 45 Erlasse summieren sich die bislang beschlossenen Maßnahmen zum Ausbau der inneren Sicherheit. In der ständig steigenden Paragraphenflut sieht der Braunschweiger Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann, einst engster Berater des liberalen Justizministers Gustav Heinemann (SPD), »mehr oder weniger überflüssige Beschwichtigungsgesetze«. Eine Bestätigung seiner Einschätzung haben die Landesinnenminister in ihrer Vorbemerkung zum »Programm für die innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland« vom Februar 1974 geliefert. Darin heißt es: »Das Anwachsen der Kriminalität und die Brutalisierung politischer Ausdrucksformen extremer Gruppierungen haben mancherorts Zweifel an der Fähigkeit des demokratischen Staates
entstehen lassen, mit den Gefahren fertig zu werden. Die Feststellung, daß die Befürchtungen - nüchtern betrachtet - vielfach übertrieben sind, ändert nichts daran. Der Bürger erwartet von den Verantwortlichen klare Aussagen, wie dem Problem begegnet werden soll. Er erwartet auch, daß die erforderlichen Maßnahmen durchgeführt werden.« Doch selbst dieses gewaltige Gesetzes-Arsenal war den staatlichen Terrorismus-Bekämpfern noch nicht genug. Von keinem Gesetz gestützt, brach der BND in das Privathaus des Atomwissenschaftlers Klaus Traube ein und montierte ein Abhörmikrofon - gedeckt von Ex-Bundesinnenminister Werner Maihofer. Traube stand im Verdacht, Verbindung zu dem RAF-Terroristen Hans-Joachim Klein zu haben, dem mutmaßlichen Anführer des OPEC-Überfalls in Wien. Genauso ließ auch der damalige Stuttgarter Innenminister Schieß Gespräche zwischen Verteidigern und RAFAngeklagten im Stammheimer Gefängnis belauschen. Beide Minister beriefen sich auf den Paragraphen 34 des Strafgesetzbuchs, der den »übergesetzlichen Notstand« regelt. Beide verkehrten den Paragraphen damit in sein genaues Gegenteil. Der Paragraph 34 hat eine Schutzfunktion gegenüber einzelnen Personen, die, etwa um ein Menschenleben zu retten, Verkehrsregeln durchbrechen und bei Rot über die Kreuzung fahren, ohne dafür bestraft werden zu können. Mit übergesetzlichem Notstand war bestenfalls noch zu rechtfertigen, daß zur Rettung des entführten Berliner CDU-Bürgermeisters 46 Peter Lorenz fünf einsitzende RAF-Häftlinge freigelassen wurden. In keinem Fall aber darf der Staat sich auf den übergesetzlichen Notstand berufen, um die Freiheitsräume der Bürger einzuschränken. Denn es ist gerade das Wesen eines Rechtsstaats, daß die Staatsgewalt durch bestimmte Rechtsnormen begrenzt wird. In der Debatte um die Notstandsgesetze Ende der sechziger Jahre war die Notwendigkeit für das umfängliche Paragraphen-Werk ausdrücklich damit begründet worden, daß man den Ausnahmezustand durch genaue Vorschriften legalisieren müsse, damit niemand sich in einer Ausnahmesituation auf den übergesetzlichen Notstand berufen könne. »Vollkommen unmöglich«, sagt der Staatsrechtler Hans-Peter Schneider, »daß der Staat daraus jetzt eine Handlungsvollmacht ableitet.« Welche Weiterungen sich aus einer solchen Verbiegung des Rechtsdenkens ergeben könnten, deutete sich zur Zeit der Entführung Hanns-Martin Schleyers an. In Denkmodellen, die eine Kommission des Bundeskanzleramts und des Justizministeriums ausarbeitete, wurde unter anderem vorgeschlagen, die einsitzenden Terroristen mit Psychopharmaka zu he handeln, um Aussagen über den möglichen Verbleib der prominenten Geisel zu bekommen. Von da bis zur Folter, die man als übergesetzlichen Notstand rechtfertigt, ist es nur noch ein kurzer Schritt. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht hat ihn bereits vorgedacht. In der Erstauflage seines Buches »Der Staat - Idee und Wirklichkeit« hatte Albrecht dem Staat das Recht zugestanden, »gegen das Verbot grausamer, unmenschlicher Behandlung und insbesondere der Folter zu verstoßen«. Weiter: »Es kann sittlich geboten sein, eine Information durch Folter zu erzwingen, sofern dies wirklich die einzige Möglichkeit wäre, ein namenloses Verbrechen zu verhindern.« Den Weg zu dieser Perversion des Rechtsdenkens hat allerdings schon der 5. Deutsche Bundestag geebnet, der im Jahre 1968 dem Grundgesetz den Artikel 20 Absatz vier hinzufügte: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese (verfassungsmäßige) Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich 47 ist.« Der Rechtsausschuß hat im Protokoll seiner Beratungen dabei ausdrücklich festgelegt, daß auch staatliche Organe dieses Widerstandsrecht reklamieren könnten. In der Ausschuß-Interpretation, niedergeschrieben in der Bundestags-Drucksache V/2873, heißt es wörtlich: »Das Widerstandsrecht ist gegeben bei Bestrebungen, die darauf hinzielen, diese Verfassungsgrundsätze zu beseitigen. Es macht keinen Unterschied, ob die Bestrebungen unter Mißbrauch oder Anmaßung staatlicher Machtbefugnisse (Staatsstreich »von oben«) oder durch revolutionäre Kräfte aus dem nichtstaatlichen Bereich (Staatsstreich »von unten«) erfolgen.« Die Parlamentarier ließen sich in ihrer Fleißarbeit auch dann nicht beirren, als offenkundig wurde, daß nicht mehr Gesetze, sondern weniger Pannen größere Erfolge im Kampf gegen den Terror eingebracht hätten. Just an dem Tag, an dem sich herausstellte, daß ein wichtiger Fahndungshinweis auf das Verlies von Hanns-Martin Schleyer im Kompetenzwirrwarr zwischen örtlicher Polizei, Landespolizei, BKA, Düsseldorfer und Bonner Bürokratie verlorengegangen war, wurde in Bonn das Kontaktsperre-Gesetz verabschiedet. Und um beim weiteren Paragraphenschmieden ungestört zu bleiben, wurden andere Pannen der Öffentlichkeit sorgsam verschwiegen. So mußte auf einer Sitzung des Bundestagsinnenausschusses Ende April 1978 der Präsident des Bundeskriminalamts, Horst Herold, zugeben, daß allein in den sechs Monaten seit dem i. Dezember 1977 aus Landratsämtern, Bürgermeistereien und Einwohnermeldeämtern 453 Bundespersonalausweise, 266 Reisepässe und 2012 Führerscheine - alles Blanko-Formulare - gestohlen worden seien. Dies konnte passieren, obwohl auf einer Innenministerkonferenz genaue Erlasse beschlossen worden waren, daß derartige Blanko-Formulare nur in Safes und durch Alarmsysteme gesichert aufbewahrt werden dürften.
Herold räumte vor den Abgeordneten ein, daß »ungenügende Aufbewahrung« die Diebstähle ermöglicht habe. He rold: »Das geschieht trotz vorhandener Richtlinien und Absprachen.« Der damals noch amtierende Bundesinnenminister Werner Maihofer, sonst nicht pingelig bei gesetzwidrigen Aktionen gegen Bundesbürger, mochte gegen solche Behördenschlampereien 48 nicht aktiv werden: »Die Innenminister können die Einwohnermeldebehörden ja weithin gar nicht kommandieren. Die Länder können nicht mehr tun, als strikte Anweisung zu geben. Ich kann doch keine Grenzschutzbeamten vor die Einwohnermeldeämter stellen oder alle Maßnahmen im Länderbereich treffen. Zu mehr können wir doch von der Innenministerkonferenz nicht kommen; denn dafür sind wir in diesem Bereich nicht zuständig.« Nur intern wurde auch eine weitere Panne eingestanden, die den Terroristen für ihre nächste Aktion möglicherweise einen unschätzbaren Vorteil sichert: In Bonn-Bad Godesberg, dem Zweitsitz des Bundeskriminalamts und dem Standort der Sicherungsgruppe Bonn, wurde ein sogenanntes Ampel-Fahrzeug gestohlen. Seine Ladung bestand aus mobilen Ampeln, mit denen Straßen gesperrt werden können. Vor den Abgeordneten drückte BKA Präsident Herold seine Hoffnung aus, daß der Diebstahl dieses »Ampel-Fahrzeugs« nicht der »terroristischen Szene zuzurechnen ist, sondern einen Akt allgemeiner Kriminalität darstellt«. Daß die Restauration in der Bundesrepublik ausgerechnet unter sozialdemokratischen Kanzlern voll durchschlagen konnte, liegt an dem gebrochenen Rückgrat dieser Partei. Von ihrer geschichtlichen Erfahrung her - Sozialisten-Gesetz unter Bismarck (Paragraph eins: »Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Be strebungen den Umsturz der bestehenden Staats - und Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten«) und Verfolgung unter Hitler - wären die Sozialdemokraten eigentlich dazu prädestiniert, Vorkämpfer gegen eine Übermacht staatlicher Exekutivgewalt zu sein, erst recht in einer Koalition mit den auf ihr liberales Rechtsbewußtsein pochenden Freidemo kraten. Aber die Sozialdemokraten leiden seit jeher unter dem Trauma, an den Rand des Staates gedrängt zu werden - ob sie nun in der Kaiserzeit als »vaterlandslose Gesellen« diffamiert wurden, oder ob Konrad Adenauer sagte: »Die SPD ist der Untergang Deutschlands«, oder ob jetzt Franz Josef Strauß die Parole ausgab: »Die SPD betreibt mit ihrer Ostpolitik den Ausverkauf Deutschlands.« Das sozialdemo kratische Rechtfertigungsbedürfnis bestimmte die Handlungen 49 der Partei. Sie stimmte während des Ersten Weltkrieges den Kriegskrediten zu (Fraktionsführer David 1915: »In der Stunde der Not zeigt sich, daß Deutschlands ärmster Sohn auch sein treuester ist«); sie ließ unter Ebert in der Weimarer Republik die Reichswehr gegen revolutionäre Arbeiter im Ruhrgebiet und in Sachsen schießen; unter den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt wollte sie beweisen, daß sie trotz ihrer Ostpolitik keine »Aufweichung im Innern der Bundesrepublik« dulden würde. Bei dem Bestreben, die konservative NegativPropaganda zu widerlegen und sich vom Ruf des »unsicheren Kantonisten« zu befreien, überrundeten die Sozialdemokraten die Konservativen mühelos und scheuten selbst vor ans Lächerliche reichenden Aktionen nicht zurück. Als die sozialdemokratische Führungstroika Willy Brandt, Fritz Erler und Herbert Wehner zum ersten Mal vom damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke empfangen wurde, erschienen alle drei im Frack) Als Axel Springers »Bild« 1965 in einem kritischen Kommentar über den Vietnam-Krieg der Amerikaner schrieb, man könne dort nicht die Selbstbestimmung verleugnen und sie für die Deutschen in der DDR fordern, protestierte Fritz Erler beim Verleger Springer, man müsse »ein Stück Solidarität mit den Hauptsorgen der Verbündeten« bekunden: »Ich halte es für schrecklich, wenn dort in schärfster Tonart der letzte Rest von Vertrauen zu unserem Volk bei unseren Verbündeten zerstört wird.« Als der deutsch-französische Politologe Alfred Grosser bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in seiner Festrede die Deutschen ermahnte: »Es scheint mir, daß in der Bundesrepublik immer mehr von der Verteidigung der Grundordnung durch den Staat die Rede sei und immer weniger von der Verteidigung der Grundrechte gegen den Staat«, schickte der sozialdemokratische Altbürgermeister von Hamburg, Herbert Weichmann, einen Protestbrief an Grosser: »Meine Besorgnisse gelten Ihrer kritischen Bewertung, wenn nicht Abwertung des aktuellen Rufs nach Recht und Ordnung.« Die vier sozialdemokratischen Abgeordneten unter Wortführung des schriftstellernden Parlamentariers Dieter Lattmann, die den Widerstand gegen den Zensur-Paragraphen 50 88a und gegen die Verabschiedung des Kontaktsperre-Gesetzes wagten (Lattmann: »Wir haben keinen Mangel an Gesetzen, sondern einen Mangel an Demokraten«), wurden jetzt von der eigenen Parteiführung als so etwas wie s »vaterlandslose Gesellen« hingestellt. Herbert Wehner im Bundestag: »Die große Mehrheit der Fraktion weiß, was sie der Bundesrepublik Deutschland, unserem Gemeinwesen, schuldig ist.« Kanzler Helmut Schmidt auf einer öffentlichen Versammlung: »Die vier Abgeordneten gefährden die Regierung.«
Damit nicht genug: Fraktionskollegen versuchten die vier Abweichler in ihren Wahlkreisen madig zu machen. So wurde in Lattmanns Wahlkreis kolportiert, er habe sein demonstratives Nein nur aus Publicity-Gründen formuliert, weil er sowieso das Parlament verlasse und vom »Spiegel« unter Vertrag genommen sei. Der einstige SPD-Linke Karsten Voigt schwärzte den Dissidenten Manfred Coppik bei der »Frankfurter Rundschau« an: Coppik sei in Ausschüssen des Parlaments arbeitsscheu und gebe statt dessen lieber große Interviews. Der tatsächliche Hintergrund: Um nicht mit seiner eigenen ablehnenden Haltung in Konflikt zu kommen, hatte Coppik nicht an einer Sitzung des Rechtsausschusses über das Kontaktsperre-Gesetz teilgenommen, in der er als Vertreter der SPD-Fraktion, die das Gesetz bejahte, hätte auftreten müssen. Die vier Widerständler, die als einzige der 518 Abgeordneten des Parlaments ihren Sinn für rechtsstaatliche Integrität bewahrt hatten, gerieten letztlich zu tragikomischen Figuren. Denn um noch schärfere Gesetzentwürfe der CDU/CSU zu verhindern, waren sie gezwungen, im Endeffekt doch für das Gesetz zu stimmen, das sie erst bekämpft hatten. Ihre Hoffnung, daß sich einige CDU-Linke ihrem Widerstand anschließen und auf diese Weise das Thema aus dem parteitaktischen Machtgerangel herausziehen würden, erfüllte sich nicht. Potentielle Partner wie die Liberal-Konservativen Norbert Blü m oder Richard von Weizsäcker blieben opportunistisch in Deckung: Sie wollten erst abwarten, ob nicht doch über den Mißbrauch des Terroristen-Problems als Mittel der totalen Konfrontation ein Regierungswechsel zu bewerkstelligen wäre. 51 Nicht nur im Bonner Parlament, im gesamten Bundesgebiet ging die Sozialdemokratie auf Kollisionskurs mit der Freiheit des Bürgers. Diese Überidentifikation mit dem Staat rührte jedoch nicht nur aus einem über ein Jahrhundert angestauten Bekenntnisdruck her, sie war zum großen Teil auch ein Reflex der gewandelten Mitgliederstruktur der SPD. Viele ihrer Funktionäre sitzen inzwischen in den Amtssesseln von Rathäusern, Landratsämtern oder Bundesministerien - und wenn nicht, dann streben sie zumindest an, öffentliche Be dienstete zu werden. Sie sind sofort bereit, jede Kritik an diesem Staat als Kritik an ihrer Partei aufzufassen und abzuwehren. Hinzu kommt: Seit jeher hatten die Sozialdemokraten zum Recht ein eher instrumentelles und technisches Verhältnis. So wie sie 1919 geglaubt hatten, die Restbestände des Feudalis mus mit einem Gesetz über die Fürstenenteignung beseitigen zu können, so meinten sie nun, mit neuen Gesetzen und neuen Planstellen für Verfassungsschutz und Polizei des Terrorismus Herr zu werden. Der Prototyp des technokratischen Reformers, der Recht als Instrument, nicht als Kernstück individueller Freiheit begreift, ist BKA-Chef Horst Herold. Dieser Mann, der auf der einen Seite sicher bereit wäre, für die soziale Besserstellung der Arbeitnehmer zu kämpfen, träumt auf der anderen Seite vom perfekten Apparat, der das Verbrechen schon im Ansatz orten und ausmerzen kann. Wie die CDU-regierten Länder der Bundesrepublik das ideologische Fundament der Restauration gießen, so basteln die sozialdemokratisch regierten Staaten an den instrumentellen Voraussetzungen für den Abbau der persönlichen Freiheitsrechte. Ihre Polizeitruppen sind am besten organisiert, sie haben die teuerste Ausrüstung, sie sind auch zahlenmäßig die stärkste Truppe. Der Verfassungsschutz des flächenmäßig kleinen Stadtstaates Hamburg mit 1,7 Millionen Einwohnern ist genau so groß wie der Baden-Württembergs mit 9,2 Millionen Bewohnern. Die Unionsparteien erkannten das Rechtfertigungsbedürfnis der Sozialdemokraten und nutzten es nach Kräften für ihre Zwecke aus. Im Bonner Parlament entwickelte sich ein festes Ritual: CDU/CSU bringen über die Fraktion im Bundestag oder über ihre Landesregierungen im 52 Bundesrat unter dem Stichwort »Terrorismusbekämpfung« extrem weitreichende Forderungen für den Ausbau staatlicher Gewalt und staatlicher Bevormundung ein. Sie begleiten dies mit heftigen Vorwürfen gegen die Regierungskoalition, sie tue zu wenig für den Schutz der Bürger. Resultat: Die Regie rungsparteien ziehen mit etwas abgemilderten Vorschlägen nach, ohne sich jedoch vom Vorwurf der Laschheit befreien zu können. So erreichen die Unionsparteien mit ihrem Verlangen nach einer totalen Überwachung der Gespräche, zwischen Verteidigern und Angeklagten (also auch der mündlichen) zumindest die Zensur des schriftlichen Verkehrs zwischen Anwalt und Mandanten. Mit der Forderung nach Sicherungsverwahrung wurde das Kontaktsperregesetz durchgedrückt. Die nächste Runde zeichnet sich schon ab: Da gibt es - entstanden aus dem umstrittenen BubackNachruf - den Vorschlag der CDU/CSU, das Strafantragsrecht von Dienstvorgesetzten zu verbessern, wenn Verstorbene verunglimpft werden. Da präsentierte die CSU im »Bayern-Kurier« die Idee, daß alle Sendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens die freiheitliche Grundordnung und die Grundrechte verteidigen müßten. C, Wertvollster Helfer der Reaktion sind die Terroristen. Sie liefern die Rechtfertigung für immer neue Gesetze, immer neue Stellenbewilligungen der Polizei, des Verfassungsschutzes, der Nachrichtendienste und des Grenzschutzes. Sie liefern das Alibi für eine immer stärkere Disziplinierung linker Minderheiten. Waren es nicht als erste die RAF-Banditen, die mit der Maschinenpistole Berufsverbote einführten, die Todesstrafen vollstreckten und ihre Gefangenen in Isolationsfolter steckten? Seit nunmehr sechs Jahren, seit dem Massaker in
München 1972, drehen sich Terrorismus und Antiterrorismus im Teufelskreis. »Wir werden euch entlarven«, sagten die bei der Lorenz-Entführung freigepreßten Terroristen auf ihrem Flug nach Aden zu dem sie als Geisel begleitenden Pfarrer Heinrich Albertz, »wir werden euch als Polizeistaat entlarven.« Dazu ist ihnen jedes Mittel recht. Von Andreas Baader stammt der Spruch: »Wir müssen die faschistoide Fratze dieses Staates herausbomben.« Die Bomben haben ihre Wirkung getan. Da wird ein Prozeß 53 gegen den schwerverletzten, aber angeblich verhandlungsfähigen Terroristen Günter Sonnenberg geführt, der einen Kopfschuß bekommen hatte, von dem noch immer vier Splitter im Gehirn stecken -(Während im Düsseldorfer Prozeß gegen die Aufseher im KZ Majdanek, in dem 250 000 Menschen ermordet worden sind, die Angeklagten am Ende jedes Verhandlungstages nach Haus gehen dürfen. Da sprachen sich in einer EmnidUmfrage 67 Prozent der Bevölkerung für die Todesstrafe »bei Morden im Zusammenhang mit Terroranschlägen« aus, nur 32 Prozent waren dagegen. Da machte sich die auf scharfen Rechtskurs gegangene »Frankfurter Allgemeine Zeitung« zum Wortführer der Rufe nach dem Henker: »Es werden bald alle manches denken müssen, was sie bisher hartnäckig aus ihren Gedanken fernhielten«, und veröffentlichte einschlägige Leserbriefe unter der Überschrift: »Tote Mörder können den Staat nicht erpressen«. Da druckte die bislang stets freiheitlich gesinnte »Stuttgarter Zeitung« die Zuschrift einer Leserin aus Sindelfingen ab: »Lieber Faschismus als Terrorismus«. Da verhinderten zwei Stadträte im baden-württembergischen Gerlingen eine Dichterlesung der kritisch-christlichen Schriftstellerin Luise Rinser und erhielten darauf von der Landesregierung aus Stuttgart ein Dankesschreiben: »Über die von Ihnen bewiesene Zivilcourage hat sich der Herr Ministerpräsident gefreut.« Da wurde der jüdische Schriftsteller Edgar Hilsenrath in Kamen und in Bönen von NPD-Angehörigen mit Drohungen und Krawall daran gehindert, aus seinem Roman »Der Nazi und der Frisör«, einer bitteren Satire auf die NS-Judenverfolgung, zu lesen. (Da konnte ein Franz Josef Strauß sagen: »Ein Volk, das diese wirtschaftliche Leistung erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.« Da wurde schließlich der NS-Scherge Leo Patina, dem der Mord an 10 polnischen Häftlingen zur Last gelegt wurde, mit 15 Monaten Gefängnis bestraft (unter Anrechnung von u Monaten Untersuchungshaft) -während bei den ersten Verfahren um die Krawalle gegen das Atomkraftwerk Grohnde ein Demonstrant 22 Monate Ge fängnis ohne Bewährung erhielt. Vergebens versuchte Pfarrer Albertz nach der Rückkehr vom nahöstlichen Geiselflug ein Plädoyer für mehr Toleranz, 54 um die Eskalation von anarchistischer Gewalt und staatlicher Repression zu durchbrechen. Umsonst warnte er den Berliner Bürgermeister davor, daß der Staat mit seiner Politik den Terroristen die Sympathisanten geradezu in die Arme treibe. Andere Jugendliche gehen nicht den Weg der Gewalt, sie flüchten vor dem verhaßten System ins politische Nirwana: Ob auf Landkommunen, ob mit Drogen, ob als Mitglieder der neuen Tunix-Bewegung oder durch den Eintritt in eine der autoritären K-Gruppen (die den individuellen Terror ablehnen), ob durch Alkoholkonsum - es ist im Grunde die gleiche Verweigerungshaltung einer perspektivlosen, eingeschüchterten Jugend. Zu spät erkannten die Sozialdemokraten, daß die Lawine an Erlassen, Gesetzen und Verordnungen, die sie selbst losgetreten hatten, auch die Freiheit der eigenen Partei und ihrer Mitglieder bis hinauf zum Parteivorsitzenden zu verschütten drohte. Auf der vom Radikalenerlaß vorgezeichneten Linie versuchten CDU und CSU, mit ihrem Wahlslogan »Freiheit statt Sozialismus« die gesamte SPD in den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit zu rücken. Das bayerische Kultusministerium lehnte den Lehramtsbewerber Edgar Vögel, Mitglied der SPD und des Sozialistischen Hochschulbundes (SHB) unter anderem mit der Begründung ab: »Der SHB München propagiert uneingeschränkt ... den Orientierungsrahmen 85 (OR 85).« Dieser Orientierungsrahmen ist das offizielle Perspektivprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Und der »Bayern-Kurier« führte vor, wie rasch selbst Willy Brandt hinter den »Eisernen Vorhang« katapultiert werden kann. Brandt, so schrieb das CSU-Organ, habe die Darstellung als unwahr zurückgewiesen, er sei Kommunist gewesen. Original-Ton »Bayern-Kurier«: »Legt man den Begriff Kommunist in dem engen Sinne aus, daß damit nur ein Mitglied einer kommunistischen Partei bezeichnet werden darf, dann hat Brandt in der Tat recht. Andererseits dürfte es ihm aber schwerfallen nachzuweisen, daß er kein Helfer des Kommunismus war.« Die Kultusministerin von Rheinland-Pfalz, Hanna Laurien, verteilte einen Artikel des Mainzer Hochschullehrers und Politologen Hans Buchheim, in dem die These vertreten wird, daß Sozialismus und 55 Freiheit einander ausschließen, daß jeder, der für den Sozia lismus eintritt, im Grunde ein Verfassungsfeind sei. Zitat: »... sofern der Sozialismus sich als politische Richtung ernst nimmt, weist er ... Merkmale auf, die mit dem Konzept des modernen Verfassungsstaats nicht vereinbar sind.«
Die Formeln, die das Denken und Handeln der CDU/CSU inzwischen bestimmen, werden erkennbar. Auf der einen Seite ist für sie die Verfassung mit der herrschenden Wirtschaftsordnung identisch - so wird in der Begründung des Ablehnungsbescheids von Edgar Vögel ausdrücklich auf jene Passagen des SHB-GrundsatzProgramms hingewiesen, die das »gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln«, »die fortschreitende Demokratisierung aller gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse«, die »ständige Vervollkommnung der Planung der wirtschaftlichen, sozialen und kulture llen Entwicklung auf demokratischer Basis« zum Ziel haben. (Auszug aus den noch gültigen Grundgesetzartikeln 14 und 15: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen«; »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zweck der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, im Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.«) Auf der anderen Seite werden Sozialismus mit Anarchie und Verfassungsfeindlichkeit gleichgesetzt. Der Vorwurf des ersten Nachkriegsführers der SPD, Kurt Schumacher, die CDU/CSU strebe einen »autoritären Besitzverteidigungsstaat« an, hat nach 30 Jahren neue Aktualität erhalten. Kurt Schumachers Nachfahre Willy Brandt sieht sich inzwischen in der Rolle des Hexenmeisters, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird. Als der SPD-Vorsitzende jetzt den Extremisten-Beschluß als »hinfällig« bezeichnete und für Überprüfungen von Bewerbern nur noch in sicherheitsrele vanten Bereichen plädierte, als sein Bundesgeschäftsführer Egon Bahr sagte, der Radikalenerlaß gehöre »auf den Müllhaufen«, ging eine Welle der Empörung durchs konservative Lager. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht warf Brandt einen »Kotau vor der Linken« vor. Der »Bayern -Kurier« sprach gleich von einem »Verstoß gegen das
Grundgesetz«. Der innen- und rechtspolitische Sprecher der Bonner Unionsfraktion, Heinz Eyrich, sagte: »Dieser Vorschlag Brandts ist politisch gefährlich und verstößt gegen die Verfassung.« Sogleich knüpfte die Unionsfraktion an die alte Praxis Konrad Adenauers an, die SPD als Handlanger des Kommu nismus hinzustellen. Zitat aus der »Augsburger Allgemeinen« vom 26. April 1978: »Unterdessen hat die CDU/CSU die Vermutung geäußert, zwischen den Äußerungen von Brandt und Bahr zu Fragen der Fernhaltung von Verfassungsfeinden vom öffentlichen Dienst und dem bevorstehenden Besuch des sowjetischen Staats - und Parteisekretärs Breschnew in Bonn bestehe ein Zusammenhang. Der innenpolitische Sprecher der UnionsFraktion, Eyrich, erklärte, dies wecke fatale Erinnerungen an frühere Avancen des gleichen Gespanns gegenüber Breschnew.« In ihrem Bemühen, die Umwandlung der Bundesrepublik vom freiheitlichen Verfassungsstaat zum autoritären Maßnahmestaat voranzutreiben, haben die Christdemokraten einen mächtigen Verbündeten gewonnen. Die Verfassungsrichter in Karlsruhe begreifen sich zunehmend als Machtfaktor, der anderen Instanzen vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben. Sie bringen damit das labile Gleichgewicht der Verfassungskräfte in der Bundesrepublik durcheinander. Dabei waren die Richter in der roten Robe in den frühen Jahren der Bundesrepublik durchaus Wahrer und Verteidiger der in der Verfassung garantierten Grundrechte. Im Jahre 1958 zum Beispiel sicherte das Karlsruher Gericht den Hamburger Senatsdirektor Erich Lüth, der zu einem Boykott der Filme des Nazi-Starregisseurs Veit Harlan aufgerufen hatte, gegen eine Klage der Filmgesellschaft ab, die ihre wirtschaftlichen Interessen geschädigt sah. Das Bundesverfassungsgericht in seiner Urteilsbegründung: »Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt ... Für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung ist das Grundrecht der freien Meinungsäußerung schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinung, der ihr Lebenselement ist.« Und: »Wenn es darum geht, daß 57 sich in einer für das Gemeinwohl wichtigen Frage eine öffentliche Meinung bildet, müssen private und namentlich wirtschaftliche Interessen einzelner zurücktreten.« An den Karlsruher Verfassungsrichtern scheiterte 1961 auch Adenauers Griff nach dem Fernsehen. Als Gesellschaft mit beschränkter Haftung wollte der christdemokratische Nachkriegskanzler eine von seiner Regierung kontrollierte Fernsehgesellschaft, die »Deutschland Fernsehen GmbH« gründen. Alleiniger Gesellschafter sollte die Bundesrepublik Deutschland sein, vertreten durch den Bundeskanzler. Die Bundesverfassungsrichter stoppten dieses Projekt, das in der Öffentlichkeit bereits »Adenauer-Fernsehen« hieß, als Verstoß gegen das Grundgesetz, insbesondere als Verstoß gegen Artikel 5 der Verfassung, der die Meinungsund Informa tionsfreiheit sichert und festlegt: »Eine Zensur findet nicht statt.« Die Richter damals in ihrer Urteilsbegründung: »Die ser Verfassungsgarantie widerspräche es, die Presse oder einen Teil von ihr unmittelbar oder mittelbar von Staats wegen zu reglementieren oder zu steuern.« Elf Jahre später - das Schlagwort von der »streitbaren Demokratie« war inzwischen in Mode gekommen demolierten die Verfassungsrichter selber den Schutzzaun, den sie um den Grundgesetzartikel 5 gezogen hatten. Als die Karlsruher Richter über einen Streit um die Aufführung des DDR-Films »Der lachende Mann« in der Bundesrepublik zu entscheiden hatten, kamen sie am 25. April 1972 zu dem Ergebnis: »Wägt man die
Erfordernisse wirksamen Staatsschutzes und das Gewicht des Grundrechts aus Artikel 5 gegeneinander ab, so muß ein Verbringungsverbot von Filmen, die diese Merkmale aufweisen (Propaganda gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung) als gerechtfertigt angesehen werden.« Und: »Auch diese Grundrechte (müssen) gegenüber einer Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung zurücktreten«. Vergeblich warnten damals die Verfassungsrichterin Wiltraud Rupp von Brünneck und Dr. Helmut Simon in einem Minderheitenvotum: »Ein freiheitlicher, demokratischer Staat, der in enger Nachbarschaft zu totalitär regierten, auf einer anderen Gesellschaftsauffassung bestehenden Staaten 58 lebt, kann seine eigenständige Ordnung nicht wirksam verteidigen, indem er Augen und Ohren seiner Bürger vor den von draußen kommenden Informationen und Einflüssen verschließt. Sein Weiterbestand beruht vielmehr primär darauf, daß die als mündig vorausgesetzten Bürger in der Lage und willens sind, in offener Auseinandersetzung mit solchen Informationen und Einflüssen ihren Staat in seiner freiheitlichen Struktur zu schützen.« Auf dem einmal eingeschlagenen Rückweg in den autoritären Staat blieb das Bundesverfassungsgericht auch in einem anderen Fall. Ein Unteroffizier der Bundeswehr hatte bei einer Diskussion in der Schreibstube gegenüber Kameraden erklärt, in Deutschland könne man nicht frei seine Meinung äußern. Als daraus ein Rechtsstreit zwischen Soldat und Staat entstand, entschied schließlich das Verfassungsgericht: »Ein auf das Prinzip der streitbaren Demokratie begründetes Gemeinwesen kann es nicht dulden, daß seine freiheitliche Ordnung bei politischen Diskussionen innerhalb der Truppe und während des Dienstes von militärischen Vorgesetzten in Frage gestellt wird.« Und weiter hieß es in dem Urteilsspruch: »Mit der provozierenden Behauptung, in der Bundesrepublik könne man seine Meinung nicht frei äußern, diffamiert der Beschwerdeführer die freiheitlichdemokratische Ordnung.« Die Richter störte es wenig, daß sie mit diesen Urteilssätzen dem Soldaten den Beweis für die Richtigkeit seiner Meinung lieferten. Vor den Karlsruher Urteilssprüchen waren nun auch nicht einmal mehr die unumstößlichen, die Freiheit der Bürger garantierenden Grundrechte der Verfassung sicher, die durch den Bundestag selbst mit ZweidrittelMehrheit nicht geändert werden dürfen. In seinem »Abhörurteil« vom 15. Dezember 1970 entschied das Bundesverfassungsgericht: »System-immanente Modifikationen der Grundprinzipien unserer Verfassung« durch Verfassungsänderung oder Einzelgesetze seien durchaus möglich. Dazu Staatsrechtsprofessor Hans-Peter Schneider: »Hier ermöglicht die Rechtsprechung den Abbau entscheidender Barrieren, die die Väter des Grundgesetzes zum Freiheitsschutz des einzelnen Bürgers bewußt in unserer Verfassung verankerten.« 59 In weiteren Urteilen verteidigte das Verfassungsgericht die Bewußtseinsstruktur der fünfziger Jahre, indem es gegen die Enttabuisierung überkommener ethischer und politischer Werte zu Felde zog. Die von der SPD-FDPRegierung bei der Reform des Paragraphen 218 vorgesehene völlige Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten 12 Wochen erklärte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vorsitz von Gerichtspräsident Ernst Benda für verfassungswidrig. Mit seinem Urteil zum Grundvertrag zwischen Bonn und Ostberlin spannte es die realistische Deutschlandpolitik der SPD-FDP-Koalition, die von der nicht mehr umkehrbaren Entwicklung zur Zweistaatlichkeit ausgeht, in die juristischen Korsettstangen eines starren Wiedervereinigungsgebots. [Die Richter in Karlsruhe, zum großen Teil von den Parteien entsandte juristisch ausgebildete Politiker zweiter Qualität,] ließen sich auch durch Mahnungen des Bundespräsidenten in ihrem Rechtskurs nicht beirren. So hatte Walter Scheel schon vor Jahren »mit Sorge« vermerkt, »daß der Radikalenerlaß zu rigoros gehandhabt« wird. Und erst jüngst wieder sagte der Bundespräsident in einem Interview, der Bundesrepublik tue ein zweiter Reformschub not. Indes: Im April 1978 gab das Verfassungsgericht erneut eine Kostprobe seines restaurativen Staatsverständnisses. Auf eine Beschwerde der CDU/ CSU hin erklärte das Verfassungsgericht jene Novelle zum Wehrpflichtgesetz für verfassungswidrig, die die alte, inquisitorische Gewissensprüfung bei Wehrdienstverweigerern beseitigt hatte. Der Bundesverfassungsrichter Helmut Simon, der schon in dem Minderheitenvotum gegen das sogenannte Verbringungsurteil ein Plädoyer für den mündigen Bürger gehalten hatte (»Je perfekter der Schutz wird, je stärker also Grundrechte eingeschränkt werden, desto mehr wächst die Gefahr, daß ungewollt das Schutzobjekt selbst erstickt wird«), sieht inzwischen die politische Entwicklung in der Bundesrepublik mit fast schon resignierender Sorge: »Unsere Politiker reden doch immer davon, daß wir eine überlegene Ordnung haben. Ich möchte denen am liebsten immer sagen: habt doch ein bißchen Selbstbewußtsein, praktiziert das doch.« Statt dessen marschieren immer neue Bataillone an Verfassungsschützern, 60 Grenzschützern und jetzt auch Zollbeamten gegen den inneren »Verfassungsfeind« auf. Und das kann, wie die dem Grenzschutz überlassene Liste verdächtiger Linksliteratur belegt, sogar schon ein »Konkret«-Leser sein.
Wie absurd die Situation geworden ist, belegt ein Beispiel aus Westberlin. Immer dann, wenn Pfarrer Albertz in den Wochen nach der Lorenz-Entführung seine Arbeitsgruppe zur »Wahrung demokratischer Rechte« mit Opfern des Radikalenerlasses zusammenrief, standen Staatsschutzbeamte in doppelter Funktion vor der Kirche: einmal um den Seelsorger, den die Entführer als Geisel mit nach Aden genommen hatten, vor Terroristen zu schützen - und dann, um ihn mitsamt seinen Schützlingen zu überwachen. 61 Der Überwachungsstaat Der Hemdenfabrikant Otto Kern, 600 Angestellte, 30 Millionen Mark Jahresumsatz, war gerade mit LufthansaFlug LH 151 aus Nizza in Frankfurt gelandet. Mit ihm Patricia, damals seine Freundin, heute seine Frau. Die 20jährige Französin mit vietnamesischen Vorfahren hatte er beim Urlaub in St.-Tropez kennengelernt. Ihm zuliebe hatte die verheiratete Frau ihren Mann verlassen und war nun mitgekommen, mit Tochter und Kindermädchen. »Jetzt nur noch die Paßkontrolle«, munterte Kern die junge Frau auf, »dann noch eine Stunde Fahrt, und wir sind bei mir in Kaiserslautern.« Der junge Grenzschutzbeamte am Schalter blätterte Kerns Reisepaß auf, prüfte mit einem raschen Blick, ob Foto und der blonde Mann mit dem markanten Gesicht identisch waren, und legte dann das Dokument routinemäßig auf die erleuchtete Glasplatte vor sich. Kein lästiges Blättern mehr in dicken Fahndungsbüchern: Das Datensichtgerät unter der Glasplatte las automatisch Paßnummer und Personendaten ab, übermit telte sie an den Fahndungscomputer in der Wiesbadener Zentrale des Bundeskriminalamts (BKA). In Sekundenschnelle würde die Antwort da sein: »Keine Erkenntnisse« oder aber auch »Achtung, Fahndungsersuchen ...« Otto Kern wandte sich an Patricia: »Du mußt das verstehen, all die Kontrollen hier«, und dabei zeigte er auf die mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizeibeamten neben dem Paßkontrollschalter, »wir haben schließlich Terroristen im 63 Land. Vor ein paar Tagen erst wollten die in Hamburg wieder einen Mann umbringen, den Justizsenator.« Plötzlich reißen die Polizeibeamten ihre MPis auf Anschlaghöhe, zwei hechten über ein Eisengitter auf Kern, einer drückt ihm seine Maschinenpistole in den Bauch: »Keine Bewe gung.« Und als Kern stammelt, es müsse sich da um eine Verwechslung handeln: »Wenn du dein Maul aufmachst, knallt's.« Kern wird abgeführt, in einem Nebenraum muß er sich ausziehen: Leibesvisitation. Eine halbe Stunde lang wühlen die Beamten in Kerns Anzugtaschen, durchsuchen seinen Aktenkoffer. Sie prüfen jeden Eintrag in Kerns ledergebundenem Terminkalender, gehen jeden Namen in dem Telefonbüchlein des Fabrikanten durch. Kern steht währenddessen in Unterhosen da; eingeschüchtert wagt er keinen Protest mehr. Nach einer halben Stunde endlich darf er sich wieder anziehen, nach einer weiteren Stunde sagt der Polizist, der ihn mit entsicherter MPi abgeführt hatte: »Es war eine Verwechslung, Sie können gehen. Mann, ich hatte mehr Angst als Sie.« Und ein junger Kollege murmelte noch ganz verwirrt in breitem Frankfurterisch: »Isch glaab, isch hätt Ihne gleich eine an de Latz geknallt.« Ein Freitagabend in Hamburg: Die Lehrerin Gulnar Duve, Ex-Ehefrau des Rowohlt-Lektors Freimut Duve, hat einen Elternsprechabend hinter sich. Sie ist erschöpft von den langen Diskussionen; müde geht sie über die Straße zu ihrem klapprigen VW -Bus. »Hoffentlich habe ich keinen Strafzettel bekommen«, denkt sie noch, denn in der Eile hatte sie den Wagen im Parkverbot abgestellt. Plötzlich springen ein paar Gestalten aus der Dunkelheit auf sie zu: »Halt, Polizei, Hände hoch.« Sie erkennt drei, vier Uniformierte, alle haben sie die Maschinenpistole im Anschlag. Zitternd vor Schreck und Aufregung erlebt Gulnar Duve, wie sie nach Waffen abgetastet wird, wie ihre Taschen und ihr Wagen gefilzt werden. Der Hemdenfabrikant aus Kaiserslautern, dessen französische Freundin vor Schreck gleich das nächste Flugzeug zurücknehmen wollte, und die Lehrerin aus Hamburg, die erst nach Mitternacht zu ihren beiden Töchtern nach Hause kam, wurden Opfer der Computerfahndung. Eines der zweifelhaf64 testen Instrumente in der bundesdeutschen Jagd nach den RAF-Terroristen ist die »Befa 7«. Im Kla rtext heißt es »Beobachtende Fahndung Gruppe 7«. Eine Untergruppe dazu ist auch bereits vorhanden: »Befa 7K« - das K steht für »Kontaktperson«. In internen Gesprächen geben selbst hohe BKA-Beamte zu, daß es »etwas am Rande der Legalität« ist und von einer »gewissen Gefährlichkeit«. Im Bereich der allgemeinen Kriminalität ist die »Beobachtende Fahndung« ein klassisches polizeiliches Mittel. Wer immer wegen bestimmter schwerer Delikte schon einmal gesessen hat oder bestraft worden ist, kommt in eine der »Befa«-Gruppen. Gruppe i: Rauschgifthandel, Gruppe 2: Illegaler Waffenbesitz, Gruppe 3: FalschgeldHerstellung, und so weiter: Vom Scheckbetrug über die Mitgliedschaft in organisierten Diebesbanden oder kriminellen Vereinigungen (den früheren Ringvereinen) bis hin zur Einschleusung illegaler Arbeitnehmer.
Ausgehend von der Erfahrung, daß die wegen solcher Delikte Verurteilten meist wieder in ihrer speziellen »Berufssparte« rückfällig werden, hat sich die Polizei für diese Gruppen mit der »Befa« einen ObservierungsRaster geschaffen, der zwar grobmaschig ist und dessen Wirkung von Zufälligkeiten abhängt, der daneben aber keinen großen Aufwand erfordert: Wer immer als Mitglied einer dieser »Befa«-Gruppen in eine Verkehrskontrolle gerät oder die Grenze überschreitet und dabei seine Papiere vorlegen muß, dessen Standort wird von der Polizei registriert. Als die Landesinnenminister 1973 dem Bundeskriminalamt die Terrorismusfahndung übertrugen, glaubte Deutschlands oberster Polizist Horst Herold, mit dem »Befa«-Instrumentarium den Einstieg in die »Szene« schaffen zu können. Das Einschmuggeln von V-Leuten in den terroristischen Untergrund war dem Verfassungsschutz nur für kurze Zeit gelungen. Der Kleinkriminelle Peter Urbach, über den 1970 der Berliner Innensenator Neugebauer die sich damals gerade formierende Terroristengruppe um den Rechtsanwalt Horst Mahler und Ulrike Meinhof mit ihren ersten Pistolen und Bomben versorgen ließ, war nach der ersten Verhaftungswelle enttarnt worden. Der vom Bundesamt für Verfassungsschutz verpflichtete Terrorist Ulrich Schmücker hatte sich gleichfalls 65 verraten und wurde von Mitgliedern der Organisation »2. Juni« ermordet. Jetzt wollte Herold es der Konkurrenz vom Verfassungsschutz zeigen: »Die ständige Beobachtung der Reisetätigkeit von RAF-Helfern ist ein Instrument, das uns zu den Terroristen im Untergrund führt, denn die Helfer versorgen die Terroristen mit Geld und Pässen.« Auf Herolds Betreiben wurde 1974 die »Befa«-Gruppe 7 geschaffen: »Terroristen, Anarchisten und andere politische Gewalttäter sowie die von ihnen benutzten Kraftfahrzeuge.« Der BKA-Chef hatte zu Recht den Goodwill fast der gesamten Öffentlichkeit auf seiner Seite. Eine Handvoll fanatischer junger Leute hatte dem Bonner Staat den Krieg erklärt und bekämpfte ihn mit einer bisher unbekannten Mischung von Intelligenz, Brutalität und selbstmörderischer Entschlossenheit. Ihr erklärtes Ziel: den Staat als faschistisch zu entlarven und damit die »Volksmassen« zur Revolution zu treiben. Das ist auch nach acht Jahren Terror nicht gelungen. Trotzdem hat der junge Bonner Staat auf dem Weg zum 30jährigen Geburtstag die Balance zwischen berechtigten Sicherheitsinteressen und demokratischer Gelassenheit verloren. Keine 500 Leute hatten 60 Millionen Deutsche angegriffen - die Antwort waren immer wieder neue Gesetze und Verordnungen, die immer mehr Bundesbürger in ihren Freiheitsrechten einschränken, sie benachteiligen oder gar existentiell bedrohen. Zu einer äußerst gefährlichen Angelegenheit ist es inzwischen schon geworden, seinen Personalausweis zu verlieren - wie es 5 000 Bundesbürgern im vergangenen Jahr passiert ist. Alle sind als RAFUnterstützer verdächtigt, manche für Monate in Untersuchungshaft gekommen - zumindest aber sind sie nun reif für die »Befa«. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung werden - vor allem von der Polizei - die Telefone ahnungsloser Bürger abgehört, wann immer es beliebt. Die »Kandidaten« für das neue Beobachtungsprogramm wurden vom Bundeskriminalamt und von den Landeskriminalämtern zusammengestellt; das Bundesamt für Verfassungsschutz 75 in Köln und die Landesämter für Verfassungsschutz wurden zur Mithilfe verpflichtet. »Mittels Vordruck KP 21«, wie es in einer Verfügung der Terrorismus-Abteilung des BKA hieß, wurden die Namen in den Polize icomputer eingefüttert. Da es jedoch nur bei wenigen Personen ein verläßliches Indiz dafür gab, daß sie »Helfer« waren - etwa als Quartiergeber -, geriet die Fütterung des BKA-Computers zum Lotteriespiel. Hinein kamen Altbestände, also Namen von Personen etwa, die Ende der sechziger Jahre engen Kontakt zu Ulrike Meinhof hatten oder in den Notizbüchern gefaßter Terroristen namentlich auftauchten; • Aktivisten der »K«-Gruppen, also etwa der KPD-ML, des KB W und ähnlicher roter Sekten; • sogenannte »Kontaktpersonen« von erkannten Terroristen-Helfern. Die Mitfahrt im Auto oder im Zugabteil genügte, um jemanden zur »Kontaktperson« zu machen; • Verlierer von Reisepässen und Personalausweisen. Eher untypisch für das Ausleseverfahren (weil vielleicht noch gerechtfertigt) ist ein Beispiel, das BKA-Chef Herold noch heute anführt: »Wenn der Dr. Huber, der Gründer des sozialistischen Patientenkollektivs, und einer der Leute, die am Anfang der terroristischen Bewegung stehen, nach seiner Strafverbüßung vor Journalisten die Faust gen Himmel reckt und verkündet >Der Kampf geht weiter, so ist dieser Aufruf strafrechtlich bedeutungslos. Aber die Polizei würde ihre Pflichten vernachlässigen, wenn sie kein wachsames Auge auf diesen Mann werfen würde.« Symptomatischer ist es da schon, daß auf Betreiben des BKA eine Zeitlang sogar Teilnehmer an Demonstrationen, bei denen es zu Ausschreitungen kam, in der »Beobachtenden Fahndung« landeten. So wurden, soweit gestoppt und registriert, Anreisende zur Demonstration gegen das Atomkraft werk Kalkar am 24.
September 1977 in den BKA-Computer eingefüttert. Aber auch Verteiler von Flugblättern und Klebekolonnen mit Plakaten, auf denen zu politischen Demonstrationen aufgerufen wurde, gerieten zu »Befa«-Fällen. Wann immer fortan Polizei oder Grenzschutz bei Verkehrskontrollen, am Flughafen oder beim Überqueren der Landesgrenzen die Personalpapiere eines dieser »Befa 7«-Leute zur 76 elektronischen Prüfung nach Wiesbaden schickten, signalisierte der Bildschirm: »Achtung Befa 7«. Und ausdrücklich: »Auf Eigensicherung achten.« Manchem Polizisten und Grenzschützer ging dann die eigene Sicherung durch. Statt sich damit zu begnügen, den Standort des Mannes zu registrieren, inszenierten nervös gewordene Polizisten immer wieder überfallartige Durchsuchungen. Dem Hemdenfabrikanten Otto Kern wurde zum Verhängnis, daß man ihm im September 1971 aus seinem auf der Düsseldorfer Kö geparkten BMW die Aktentasche mit Reisepaß gestohlen hatte. Nachdem Kern, der im Durchschnitt zweimal pro Woche vom Frankfurter Flughafen ins Ausland startet, ein paarmal in »Sonderbehandlung« gekommen war, erhielt er schließlich von der Kripo Kaiserslautern eine Art Unbedenklichkeitsbescheinigung. Überschrift des Papiers, das Kerns Foto und Daumenabdruck trägt: »Bitte vor Inanspruchnahme von Fahndungshilfsmitteln durchlesen.« Im Text heißt es dann: »Herrn Otto Kern, geboren 8. 12. 1950 in Osterode, wohnhaft in Kaiserslautern, Parkstraße 11 wurde am 9.9.1971 sein Bundespersonalausweis Nr. C55383467 gestohlen. Da der Verdacht besteht, daß der gestohlene BPA von anarchistischen Gewaltverbrechern mißbräuchlich benutzt wird, ist Herr Kern in den Fahndungshilfsmitteln ausgeschrieben und wird laufend polizeilichen Identitätskontrollen unterzogen, die teilweise überfallartig und unter Bedrohung mit Schußwaffen erfolgt sind. Der echte Otto Kern (siehe Lichtbild mit Unterschrift und Abdruck des rechten Daumens) weist sich seit dem Diebstahl mit dem Reisepaß Nr. C7234I595, ausgestellt am 26. 10. 1971 vom Polizeipräsidium Kaiserslautern, oder mit dem BPA Nr. F9829893I, ausgestellt am 29. 9. 1971 vom Polizeipräsidium Kaiserslautern, aus. Im Auftrag: Rauber, Kriminaloberrat, Polizeipräsidium Kaiserslautern, Abteilung 3.« (Paßnummer und Adresse wurden auf Wunsch von Herrn Kern geändert.) Und der Lehrerin Gulnar Duve wurde zum Verhängnis, daß sie einmal zum Bekanntenkreis der Ulrike Meinhof gezählt hatte (wie viele hundert Hamburger) und mit dem jetzt unter dem Verdacht der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung angeklagten Hamburger Rechtsanwalt Kurt Groenewold 77 engen Kontakt hielt. Daß Gulnar Duve manchmal ihre Tochter Miriam zum Spielen bei der gleichaltrigen Julia Lochte ablieferte, der Tochter des Hamburger Verfassungsschutzamts-Vizes, änderte nichts. Weder ihr noch Kern gelang es, ihre Namen aus dem BKA-Computer streichen zu lassen. Vergeblich redete auch Verfassungsschützer Lochte auf seine Polizeikollegen ein: »Nehmt die Duve doch endlich raus.« CDU-Mitglied Lochte fragt sich seither, ob er nun wohl auch als Kontaktperson im BKA-Computer registriert ist. Der Wahnsinn ist indes Methode, nicht die Ausnahme: Im Computer landeten fünf Mitglieder der Jungen Union Hamburg, die 1976 im Zug von Berlin nach Hause mit einem Besucher des Begräbnisses von Ulrike Meinhof im selben Abteil saßen. Ein Vorgang, den BKA -Chef Herold bestreitet, für den sich aber ein hoher Mann des Verfassungsschutzes verbürgt. Der 23jährige Dortmunder Student Helmut Hetzel und seine 22jährige Freundin Claudia Dresch wurden zu »Befa«-Fällen, weil Claudia der Terroristin Monika Heibig ähnelt. Begonnen hatte das Ganze an einem Nachmittag im Cafe Krone in Dortmund. Die Polizei wurde von einem anonymen Anrufer, der den beiden bis zu ihrer Wohnung gefolgt war, auf die Spur des angeblichen Terror-Paars gehetzt. Es nützte Claudia wenig, daß sie nachweisen konnte, mit der gesuchten Monika Heibig nicht identisch zu sein. In Hetzels bayerischem Heimatort Ochsenfurt fragten zwei Landpolizisten die Dorfbewohner nach dem jungen Mann aus und klingelten schließlich auch bei seinen Eltern: »Ihr Sohn soll mit einer Terroristin gesehen worden sein.« Helmut Hetzel selbst fühlt sich immer mehr dadurch belästigt, daß ihn Männer im Trenchcoat verfolgen. »Was wollen Sie eigentlich von mir«, schrie er einmal einen Verfolger an. Dessen Antwort: »Haben Sie was zu verbergen?« An der Grenze wurde Hetzel bei jeder Fahrt herausgewinkt und gefilzt. Ein Unbekannter fragte eine Freundin nach dem Besuch in Hetzels Wohnung: »Was haben Sie denn da so kurz gemacht?« Bisher ist es den beiden Studenten nicht gelungen, ihre Tilgung aus dem Fahndungsraster zu erreichen. Bei diesem großzügigen Auswahlmodus vermehrten sich 78 die »Befa«-Personen »wie die Karnickel« (so ein hoher Verfassungsschützer). Zeitweise umfaßte diese Gruppe an die zehntausend Personen. Folge: Der Massenauflauf verstellte den Blick auf die wesentlichen Figuren. Die Kritik an Herold wuchs. Der Streit um das »Befa 7«-Programm ist inzwischen voll entbrannt. In der Sache setzt die Kritik in drei Punkten an.
Falscher Denkansatz. Terroristen und ihre Helfer sind nicht mit demselben Raster einzukreisen wie gewöhnliche Kriminelle. Anders etwa als ein Rauschgiftschmuggler, der nach der Haftentlassung ohne bürgerliche Existenz in derselben Sparte wieder kriminell wird, herrscht im Umfeld des Terrorismus ein ständiger Wandlungsprozeß. Personen, die einmal zu Sympathisanten gezählt werden konnten, änderten nach Vorfällen wie dem Mord an Schleyer oder der Entführung der »Landshut« ihre Haltung und sagten sich los; neue Helfer wuchsen nach, ohne daß sie vorher auszumachen gewesen wären. Falsche Auswahlkriterien. Typisches Beispiel für eine falsche Programmierung von »Befa 7« ist die Hereinnahme organisierter Aktivisten von K-Gruppen. Reines Polizeidenken versperrte den Blick für politische Differenzierungen. Zwar: Auch K-Gruppen propagieren die revolutionäre Ge walt. Aber: Im Gegensatz zu den RAF-Terroristen lehnen die K-Gruppen den individuellen Terror, also die Entführung oder Ermordung bestimmter einzelner Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ab. Für sie ist der bewaffnete Kampf erst dann zulässig, wenn es sich um einen Aufstand der Massen handelt. Falsche Interpretation. Da auf dem Land- und Luftweg nach Berlin jeder Reisende von den westdeutschen Grenzschutzbehörden überprüft wird, an den Grenzen nach Österreich, zur Schweiz, Frankreich, Belgien, Holland oder Dänemark hingegen nur Stichkontrollen durchgeführt werden, ergab sich naturgemäß eine übergroße Anzahl von Berlinreisen sogenannter »Befa 7«-Personen. BKA-Chef Herold baute darauf Anfang 1977 die Prophetie auf, daß Berlin der nächste Attentatsort sei. Auf einer Sitzung des Bundestagsinnenausschusses sagte er: »Wenn man die Erhöhung der Berliner 79 Zahlen an den bisherigen Erfahrungen mißt, wonach Erhöhungen immer Angriffe oder Aktionen signalisieren, muß Berlin als gefährdet bezeichnet werden.« Tatsächlich aber schlugen die Terroristen in Westdeutschland zu sie ermordeten Jürgen Ponto in Oberursel bei Frankfurt, brachten Rake tenwerfer gegen die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe in Stellung und inszenierten schließlich in Köln die blutige Schleyer-Entführung. So gravierend im einzelnen die sachlichen Einwände sind, schwerer wiegen auf Dauer die rechtlichen Bedenken. Die Polizei mit ihrer großen Exekutivmacht - sie hat das Recht, Personalien von Leuten festzustellen, sie kann Verdächtige durchsuchen, »erkennungsdienstlich« behandeln (also Fingerabdrücke abnehmen und Fotos machen), vorübergehend festnehmen und unter bestimmten Kriterien auch Beschlagnahmungen und Hausdurchsuchungen durchführen - ist nach der Strafprozeßordnung verpflichtet, erst dann tätig zu werden, wenn ein konkreter Verdacht vorliegt, der die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens rechtfertigt. Mit der automatischen, computermäßigen Observierung von Personen aber, gegen die allenfalls ein vager Verdacht besteht oder die nur aus Zufall in das »Befa 7«-Programm geraten sind, wird das oberste Polizeigebot von der »Verhältnismäßigkeit der Mit tel« verletzt. Und schließlich: Das »Befa«-Netz verleitet 007-Polizisten dazu, einen »dickeren Fisch«, der sich tatsächlich einmal in seinen Maschen verfängt, wieder in der Hoffnung ziehen zu lassen, damit dem wirklich harten Kern der Terroristen auf die Spur zu kommen. Damit wird aber gegen das »Legalitätsprinzip«, das die Polizei zwingt, einen erkannten Verbrecher sofort zu verhaften, verstoßen. Die Ermittlungen im weiten Vorfeld einer möglichen Straftat, das Zusammentragen von Erkenntnissen, die auf politisch motivierte Kriminalität hindeuten, sind in der Bundesrepublik dem Verfassungsschutz übertragen. Der Verfassungsschutz wiederum darf zwar niemanden verhaften, aber sogenannte nachrichtendienstliche Mittel einsetzen, in erster Linie V-Leute und Mikrofone. Und für ihn gilt das »Opportunitätsprinzip«: er darf im Interesse eines möglichen größeren Beobachtungserfolgs »kleinere« Straftaten übersehen. 80 Die strikte Trennung von Schnüffelpraxis und Staatsmacht hat ihren Grund in der jüngsten deutschen Geschichte. Die Neubildung einer Geheimen Staatspolizei (Gestapo), die in der Hand einer Regierung zu einem jederzeit einsetzbaren Instrument gegen politisch unliebsame Personen werden kann, sollte auf jeden Fall verhindert werden. So verfügten die Besatzungsbehörden 1946 mit ihrem Kontrollratsgesetz Nr. 31, daß »alle deuts chen Polizeibüros und -agenturen, die die Überwachung oder Kontrolle der politischen Betätigung von Personen zum Zweck haben«, aufgelöst werden müßten. Den Verantwortlichen des Bundeskriminalamts ist die rechtliche und politische Problematik ihres Handelns durchaus bewußt. Der leitende Regierungskriminaldirektor Günther Scheicher, Chef der Terrorfahndung des Bundeskriminalamts, sagte in einem internen Vortrag über das Thema »Die Polizei zwischen Verfassungsschutz und Strafprozeßordnung«: »In der Vorphase, die oft weit vor dem Punkt beginnt, an dem der Verdacht strafprozeßfähig wird, treffen sich zwangsläufig die Interessen von Verfassungsschutz und Polizei. Es entsteht die Doppelzuständigkeit.« Scheicher gestand ein: »Hier gibt es Kollisionsmöglichkeiten mit der Strafprozeßordnung.« Er folgerte daraus jedoch nicht, daß die Polizei sich schleunigst wieder auf ihr eigenes Terrain zurückzuziehen habe, sondern verlangte vielmehr, daß »die Arbeit selbst gesetzlich abzudecken« sei. BKA-Chef Herold leitet die Kompetenz seiner Behörde für derartige Observationsmaßnahmen aus einer Generalklausel ab: »Die Polizei soll nicht nur begangene Straftaten verfolgen, sondern auch drohende verhüten. Dazu gehört eine sorgfältige Beobachtungsarbeit.«
Schon sind sich wegen der »Befa 7« Verfassungsschützer und die obersten Kriminalisten in die Haare geraten. Bei einer gemeinsamen Konferenz in Köln über Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung machte der Hamburger Verfassungsschutz-Vize Lochte Front gegen das »Befa 7«-Programm: »Das Ganze ist ein Akt des Größenwahns.« Auf einer Sitzung im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz, an der alle Leiter der Landesämter teilnahmen, wurde Ende Mai 1978 beschlossen, den BKA-Präsidenten Herold zu stoppen. Aber »Befa 7« ist nur die Spitze des Eisbergs. Der 81 Alptraum vom Überwachungsstaat, dem keine Bewegung seiner Untertanen entgeht, der jede politische Meinungsäußerung und Lesegewohnheit registriert, die außerhalb der amtlichen Norm der »freiheitlich demokratischen Grundordnung (FDGO) liegt, der Alptraum des verstorbenen SPD-Kronjuristen Adolf Arndt von »der totalen Herrschaft der Dossiers« kennt keinen guten Morgen mehr. Doch an der Wirklichkeit, die Orwells Vision vom Großen Bruder (in dem Roman »1984«) bald eingeholt hat, trägt nicht nur das BKA des Computer-Fetischisten Horst Herold die Schuld. Am Überwachungsstaat zimmern auch die Abteilungen der Politischen Polizei in den Landeskriminalämtern, und der Verfassungsschutz zimmert fleißig mit. Im März letzten Jahres stürmte die Hannoveraner Kripo den Stadtteilladen »Lister Platz« (»Kleiderladen und Teestube, Rechtshilfe und Verbrauchergruppe, Sexual-Informationen, Bierabend«) we gen »Verdachts unerlaubter Rechtsberatung«. Die Beamten schleppten Adressenkartei und Korrespondenz "weg. Hannovers Polizeipräsident Heinrich Böge: »Es gibt da Querverbin dungen, die für uns in Staatsschutzsachen von Interesse sein müssen.« Die Querverbindung: ein 34jähriger Pädagoge, ehemals SDS-Mitglied, dessen Wohngemeinschaft gleichzeitig durchsucht wurde - ohne Resultat. Der Verfassungsschutz, der sich heute eher aus Konkurrenzdenken denn aus rechtsstaatlicher Feinfühligkeit über das »Befa«-Programm des BKA entrüstet, scheut selbst vor keinem Rechtsbruch zurück, wenn es darum geht, politischen Nonkonformisten auf die Spur zu kommen. So kassierte er in Speyer die 620 Unterschriften unter der Petitionsliste einer Bürgerinitiative. Er überprüfte die Unterschreiber, unter diesen auch Landtags- und Bundestagsabgeordnete der SPD, die sich beim Mainzer Kultusministerium für die Einstellung der Lehrerin Uta Boege, Mitglied der DKP, eingesetzt hatten. Das Landesamt für Verfassungsschutz bemächtigte sich der Unterschriften. Seine Überprüfungen führten dazu, daß etliche Bürger ins Mainzer Innenministerium zitiert und nach den Gründen für ihre Unterschrift befragt wurden. Über sieben Beamte, die unterzeichnet hatten, wurde eine zusätzliche Sachakte angelegt. 82 Wo die amtlichen Spitzel es allein nicht mehr schaffen, werden Hilfstruppen angeworben: Da wird der Bundesgrenzschutz in der »Sonderanweisung über die Erfassung bestimmter Erkenntnisse bei der grenzpolizeilichen Kontrolle« (SO-GK) vom 6. Mai 1976 zu enger Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz, den zuständigen Landesämtern für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst verpflichtet. Laut Punkt 4 der SO-GK sind sie angewie sen zur »unauffälligen Erfassung der Personendaten von Deutschen mit Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West), die aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR oder aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland fahren.« Dabei ist das Tun aller Reisenden rechtens, und die sozialliberale Bundesregierung führt den Reiseverkehr immer als Erfolg ihrer Ostpolitik an. Umgekehrt sollen auch alle DDR-Bürger, die in die Bundesrepublik einreisen, ausgehorcht werden: Nach Beobachtungen aus dem militärischen Bereich, nach Versorgungsengpässen oder über die politische Stimmungslage, auch im engen Bekanntenkreis. Ein Protokoll der Dienstbesprechung zu SO-GK empfiehlt, alle »Befragungen immer mit sehr viel Fingerspitzengefühl« vorzunehmen, damit nicht »politisches Porzellan zerschlagen wird«. Kein Gedanke wird daran verwendet, daß diese DDR-Bürger bei der Rückkehr in ihre Heimat wegen dieser Ausfragungen gefährdet sind. Auch der Zoll, dem nach Paragraph 62 des Bundesgrenzschutzgesetzes bestimmte Aufgaben der Grenzüberwachung übertragen werden können, sollte durch ein Schreiben der Grenzschutzdirektion Koblenz vom 12. Dezember 1977 verpflichtet werden, den Verfassungsschutz mit »verfassungsfeindlichem Propagandamaterial« zu beliefern, das den Zollbeamten bei der Grenzkontrolle auffällt. Weil aber Bundesfinanzminister Matthöfer als oberster Dienstherr der Zöllner Bedenken gegen diese Anweisung hatte gefundenes Schriftgut müsse entweder dem Reisenden sofort zurückgegeben oder aber der Staatsanwaltschaft übermittelt werden -, wurde im Protokoll zur SO-GK im Amtsdeutsch vermerkt: »Bei den im Verbund eingesetzten Zollbeamten ist bei der Mitarbeit nach der SO-GK sehr behutsam heranzugehen.« 83
Selbst die Bahnpolizei ist inzwischen in den Überwachungsapparat eingespannt worden. Sie führt für das BKA in den Zügen Personenkontrollen durch, obgleich sie vom Gesetz her nur »Anlagen und Betrieb der Eisenbahn gegen Störungen und Schäden« zu schützen hat. Schließlich wird der Verfassungsschutz auch noch vom Auswärtigen Amt beliefert. Die Bonner Diplomatenzentrale hat den Kölner Schnüfflern unter anderem ein Schreiben der Deutschen Botschaft in Stockholm vom 6. Mai 1975 übermit telt: »Betr.: Berichterstattung von Redakteur Frank Hirschfeldt über Recht und Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland im allgemeinen und Tätigkeit der Baader-Meinhof-Gruppe im besonderen«. Zitat aus dem Brieftext, der sich mit einem Interview Hirschfeldts mit dem Berliner Anwalt Ströbele im schwedischen Fernsehen befaßt: »Die Botschaft hat Herrn Hirschfeldt bisher immer zugute gehalten, daß er in Berlin geboren ist und mit seinen Eltern wegen der Judenverfolgungen im Dritten Reich Deutschland verlassen mußte ... Da nicht anzunehmen ist, daß Herr Hirschfeldt mit der Baader-Meinhof-Gruppe sympathisiert, schließt die Botschaft, daß bei der erwähnten Live-Sendung im schwedischen Fernsehen das berufliche Interesse an der journalistischen Sensation entscheidend war. Dabei dürfte Herr Hirschfeldt übersehen haben, wo die Grenzen eines seriösen Journalismus liegen.« Das Bundesamt für Verfassungsschutz schickte diese Analyse dann »durch Kurier« ans Bundeskriminalamt weiter: »In der Anlage übersende ich eine Ablichtung des Schreibens der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland vom 6.5.1975 zur Kenntnisnahme. Im Auftrag Busse.« Blitzlichtartig erleuchten diese Fundstücke aus bundesdeutschen Amtsstuben die Überwachungsmechanismen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben. Doch die Struktur des Überwachungsstaats wird auch so deutlich: • Das systematische präventive Sammeln von Nachrichten. Ob Unterschrift unter einer Petition oder Teilnahme an einer Demonstration - alles wird dem Elektronengehirn eingegeben. Schon der Besuch politischer Prozesse macht verdächtig. Die 24jährige Journalistin Gabi Weber aus Berlin wurde auf einer Autobahnfahrt nach Bonn von zwei Polizei-Porsches in 84 die Mitte genommen und an der nächsten Ausfahrt gestoppt. Dort warteten am Fahrbahnrand bereits Polizisten mit dem Finger am Abzug ihrer Maschinenpistolen. Eine Stunde lang wurde Gabi Weber kontrolliert. Auf ihre Frage, was denn los sei, antwortete ein Polizeibeamter: Sie müsse doch wohl wissen, daß sie in der »Befa 7« sei. Bis dahin wußte Gabi Weber nicht einmal, was das ist. Heute erklärt sie sich ihre Registrierung damit, daß sie als Journalistin über Verhandlungen gegen RAF-Terroristen in Berlin, Köln und Stammheim berichtet hat. Gabi Weber beschwerte sich mit Hilfe eines Rechtsanwalts. Der zuständige Regierungspräsident in Arnsberg verweigerte Auskünfte über die Fahndungsunterlagen: »Es liegen nur innerdienstliche Berichte vor, die ausschließlich meiner Information dienen sollten.« Immerhin räumte er eines ein: »Hinsichtlich des sicherlich ungeschickten Verhaltens der Polizeibeamten werde ich die notwendigen innerdienstlichen Konsequenzen ziehen.« Was Gabi Weber neben ihren Prozeßbesuchen möglicherweise noch verdächtig macht: 1976 war sie unter der Anschuldigung, sich an einem Raubüberfall auf eine Tankstelle beteiligt zu haben, vorübergehend festgenommen worden. Wegen erwiesener Unschuld wurde sie kurz darauf freigelassen, und das Verfahren wurde eingestellt. • Das Wechselspiel der Amtshilfe. Der gegenseitige Nachrichtentausch wird mit dem pauschalen Hinweis auf Artikel 35 des Grundgesetzes begründet: »Alle Behörden des Bundes und der Länder leisten sich gegenseitig Rechts- und Amtshilfe«. Doch Staatsrechts -Professor Hans-Peter Schneider hält dagegen daß nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz für jeden einzelnen Fall ein Amtshilfeverfahren zwingend vorgeschrieben ist. Dessenungeachtet vervielfältigt die Polizei schon automatisch nach jedem Einsatz ihre Erkenntnisse. Dies zeigt die Antwort der niedersächsischen Landesregierung vom 11. Februar 1976 auf eine kleine Anfrage der SPD nach einem Polizeieinsatz gegen einen Schweigemarsch von Amnesty International. Wörtlich heißt es in der Antwort: »Auf dem Formular >Kurzbericht über eine Aktion< befindet sich vorgedruckt der Verteiler für diese Berichte. Entsprechend wurde je ein Exemplar nebst dem angehefteten >Vermerk< I. an das Landeskriminalpolizeiamt Niedersachsen, 85 Abteilung 6 (Staatsschutz), 2. an den Regierungspräsidenten, Dezernat 203 (Kriminalpolizei) sowie 3. an den niedersächsischen Minister des Innern, Abteilung 4 (Verfassungsschutz) weitergeleitet.« • Der Datenverbund. 1972 nahm das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln das Elektronenhirn NADIS in Betrieb, die Abkürzung für »Nachrichtendienstliches Informationssystem«. Dieser Computer steht aber nicht nur den Verfassungsschützern zur Verfügung. Ihn können anzapfen: Das BKA mit seinem eigenen Computer, die Landesämter für Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst, der ebenfalls eine eigene elektronische Datei hat und der militärische Abschirmdienst (MAD), in dessen Computer in der Brühler Straße in Köln dank der Überprüfung der Wehrpflichtigen die Daten von mehr als drei Millionen Bundesbürgern eingespeist sind.
Diese Computerisierung und ihr Verbund sind zweifellos die am schwersten wiegende Neuerung. Der Datentausch, der auf Gegenseitigkeit beruht und von Ex-Innenminister Maihofer 1975 bei der 25-Jahr-Feier des Verfassungsschutzes als ein »in der Welt beispielloses nachrichtendienstliches Informa tionssystem« gefeiert wurde, hat die Kölner Behörde endgültig in den Rang einer Nachrichtenpolizei gehoben. Die anderen Institutionen können den NADIS-Computer gegenwärtig allerdings nur beschränkt anzapfen. Er meldet von gespeicherten Personen lediglich eine Reihe Daten (Name, Vorname, Geburtsdatum und -ort, Staatsangehörigkeit, Anschrift, Telefonnummer, Kfz-Kennzeichen, Konto- und Schließfachnummer) und das Aktenzeichen. Wer mehr haben will, muß die Unterlagen vom jeweiligen Sachbearbeiter des Verfassungsschutzes schriftlich anfordern. Indes: Schon dringt das BKA darauf, daß auch im NADIS-Bereich die sogenannte »Anwendungsstufe drei« eingeführt wird und der Computer bei Anfragen gleich den gesamten Inhalt gelagerter Akten mitteilt. Der einzelne Bürger ist diesem Datensammeln und -austauschen wehrlos ausgeliefert. Das 1977 verabschiedete Datenschutzgesetz sieht für diesen Bereich keine Kontrolle vor. So sind die Bemühungen der Hannoveraner Mitarbeiterin von 86 Amnesty International, Ute Schadewitz, gescheitert, den beim Verfassungsschutz archivierten Polizei-Vermerk über den von ihr angemeldeten Schweigemarsch löschen zu lassen, wonach die 19jährige wegen ihrer Mitarbeit bei Amnesty International »in staatsabträglicher Hinsicht« aktiv sei. Das niedersächsische Innenministerium mußte einräumen, daß eine vom Ministerium herausgegebene Presseverlautbarung, der Vermerk sei vernichtet worden, nicht den Tatsachen entsprach: »Erst später ergab sich, daß die Verfügung zur Vernichtung noch nicht ausgeführt worden war.« Genauso vergeblich müht sich seit nunmehr drei Jahren der in Limburg lebende Pädagoge Hans Roth, vom hessischen Verfassungsschutz die Vernichtung von Aktenunterlagen über seine linke studentische Vergangenheit zu erreichen. Zwar hatte das Verwaltungsgericht Kassel die Akten zur Vernichtung freigegeben, doch auf eine Berufung des Landes Hessen hin verwarf der hessische Verwaltungsgerichtshof diesen Entscheid. Nun hat Hans Roth Verfassungsbeschwerde eingelegt. Der hessische Datenschutzbeauftragte Professor Spiros Simitis weiß aus seiner Praxis: »Wir haben noch keinen Fall gehabt, in dem bei den Sicherheitsbehörden ein Vermerk wieder vernichtet worden ist.« So wird auch niemand, der je in die »Befa 7« geraten ist, wieder gelöscht. Manche Angaben werden zwar aus dem Computer herausgenommen, dann aber werden sie archiviert und bleiben so jederzeit verfügbar. BKA-Chef Herolds Begründung: »Ich muß doch jederzeit zeigen können, daß alles rechtsstaatlich abgewickelt wurde.« Dort, wo bisher noch voneinander getrennte Speicherungen vorlagen, wird nun sogar mir fiskalischen Argumenten eine Zusammenfassung betrieben. So hat der Bundesrechnungshof angeordnet, daß Abhörmaßnahmen der Geheimdienste nach dem G l0-Gesetz »im Verbund« zu erfolgen haben, um Kosten zu sparen. BND, MAD, das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Landesämter erhalten so Einblick in die Abhörunterlagen, die auf Betreiben einer dieser Behörden zustande kommen. Allerdings, das Abhören nach dem G 10-Gesetz ist die Ausnahme, weil es zu kompliziert erscheint. Leichter ist es, von der Polizei die Telefone anzapfen zu lassen. Sie kann sich auf den Paragraphen 100 der 87 Strafprozeßordnung stützen, dann genügt schon ein Verdacht, und jeder kleine Amtsrichter oder gar Staatsanwalt gibt die erforderliche Abhörgenehmigung. Den »Verdacht« beschaffen sich alte Polizeihasen per Selbsthilfe, indem sie sich anonyme Briefe schicken mit Beschuldigungen gegen bestimmte Personen/" Ein Beispiel für das leichtere Funktionie ren des Abhörens nach der Strafprozeßordnung: Ex-Bundesinnenminister Werner Maihofer wies den Hamburger Verfassungsschutz an, das Telefon des Terroristen-Anwalts Groenewold zu überwachen. Die hanseatischen Verfassungsschützer wollten nicht, sie sahen keine Grundlage. Daraufhin übernahm die Hamburger Polizei auf Maihofers Wunsch das Lauschen. Später kursierten Aktenauszüge von Telefongesprächen Groenewolds mit Dutzenden völlig unbelasteter Mandanten und Freunden. Beim Abhören durch die Polizei gibt es keine Kontrollinstanz und damit keine Information des »Opfers«. Im Gegenteil, ein Abgehörter wird noch irregeführt. So passierte es dem Heilbronner Kaufmann Albrecht Richter (Name auf Wunsch des Betroffenen geändert). Als er von der baden-württembergischen parlamentarischen Kontroll-Kommission für Abhörfälle nach Artikel 10 des Grundgesetzes Auskunft begehrte, ob er belauscht worden sei, beschied ihn der Landtagsausschuß: »Die Kommission hat festgestellt, daß in das durch Artikel 10 GG gewährleistete Fernmeldegeheimnis des Herrn Richter weder unter seinem Anschluß bei der Firma Meßgeräte B und S (Name auf Wunsch des Betroffenen vom Verlag geändert) noch unter seinem Privatanschluß eingegriffen worden ist.« »Es ist höchste Zeit«, meint der kämpferische Konstanzer Politologe Professor Gilbert Ziebura angesichts dieser elektronischen Datenstapelei, »daß die Bürger zu einer Verweigerungsstrategie übergehen.« Weder von den Behörden noch vom Gesetzgeber ist für den ausspionierten Bürger Hilfe zu erwarten. Als im Bundestagsinnenausschuß der ungesetzliche Einsatz der Bahnpolizei bei Personenkontrollen zur Sprache kam,
erkannte zwar der Ausschußvorsitzende, der SPD-Abgeordnete Axel Wernitz: »Die Rechtsgrundlage hierfür scheint mir außerordentlich schwach zu sein.« Der damals noch amtierende Bundesinnenminister Maihofer 88 daraufhin: »Hier ist in der Tat noch ein rechtsfreier Raum, den wir schließen müssen.« Und ausgerechnet auf einem von kritischen SPD-Politikern veranstalteten »Kongreß zur Rettung der Republik« meinte Bundesbildungsminister Jürgen Schmude: »Wenn wir sehen, daß die Polizei etwas tut, wofür es keine Rechtsgrundlage gibt, dann müssen wir die Rechtsgrundlage schaffen.« Schmude ist stolz darauf, dann noch hinzugefügt zu haben: »... oder wir müßten unterbinden, was die Polizei tut.« Weiter ging es dann allerdings im Ministertext: »Das hätte dann aber gefordert werden müssen.« Werden die Sicherheitsbehörden bei einer allzu krassen Gesetzesüberschreitung ertappt, ist eine StandardAusrede parat. Als bekannt wurde, daß das Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz bei der Hamburger Firma »Micro Electronic« Telefonwanzen und Füllhaltermikrofone bestellt hatte, erklärten die Polizisten, diese Geräte seien lediglich »zu Schulungszwecken« geordert worden. »Lediglich zu Schulungszwecken«, so redete sich jüngst erst wieder der inzwischen zurückgetretene Innenminister Maihofer heraus, seien auch die Listen mit 287 Linkspublikationen und 206 Linksorganisationen den an den Grenzübergängen tätigen BGS-Leuten zugegangen. Und wer aus dem Behördenapparat verfassungswidrige Mißstände nach draußen trägt, wird verfolgt. So ging es dem Verfassungsschützer Werner Kurt Patsch, der illegale Abhörmaßnahmen des Kölner Amtes aufdeckte. Er wurde vom Bundesgerichtshof wegen »vorsätzlicher Verletzung der Amtsverschwiegenheit« zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. So ging es jetzt dem Ex-Verfassungsschützer und heutigen Journalisten Hans Georg Faust, der von seinem früheren Arbeitgeber verdächtigt wird, den Fall Traube aufgedeckt zu haben. Ihm wurde von der Bundesanwaltschaft ein Verfahren wegen verfassungsfeindlicher Sabotage angehängt. Angesichts der jetzt erreichten elektronischen Runduminformation aller Sicherungsapparate wirkt der Fall Traube aus dem Jahr 1975/76 wie ein anachronistisches Relikt aus der Zeit, in der die Computer laufen lernten. Da mußte noch eingebrochen werden, um an Informationen heranzukommen, da konnte beim Bekanntwerden des Einbruchs noch eine 89 Affäre entstehen. Der Alltag heute ist weniger kantig: eine feingesteuerte wieselschnelle ele ktronische Datenzirkulation, die sich jeder Aufdeckung von außen entzieht. In Horst Herold, dessen rundliche fränkische Gemütlichkeit nichts von der technischen Besessenheit eines »Mr. Computer« verrät, hat das System seinen Hexenmeister gefunden. Das Basteln mit immer neuen technischen Fahndungsapparaten ist für ihn zum Lebensinhalt geworden. Er verlegte seine Wohnung in die 36 Millionen Mark teure Zwingburg der BKA-Zentrale auf dem Wiesbadener Geisberg. An seinem Fahndungs-Fanatismus rund um die Uhr zerbrach seine Ehe. »Die Polizei der Zukunft«, sagte Herold, »wird eine gesellschaftssanitäre Aufgabe haben.« Wie der Waschgang aussieht, zeigen die letzten Jahre. Die Pannen im »Befa«-Programm waren für Herold nicht ein Warnzeichen, er könnte in die falsche Richtung marschiert sein, sondern Ansporn zu immer neuen Computer-Programmen, die eines gemeinsam haben:(Sie begreifen den Bürger zunächst einmal als Sicherheitsrisiko. Unter Herolds Leitung lief eine Unzahl verschiedener Aktionen ab: • Maklerprogramme. Im Entführungsfall Schleyer wurden die Maklerbüros abgeklappert und alle Mietverträge, speziell für Hochhäuser, durchleuchtet. • Hochhausprogramme. Eines der aufwendigsten und am ehesten zu Mißerfolg verdammten Unternehmen. In solchen Wohnanlagen herrscht ein ständiger Mieterwechsel, und die Meldedaten sind zum großen Teil aus harmlosen Ursachen widersprüchlich. Beispiel: Bei der Überprüfung eines Hochhauskomplexes in Hamburg, den eine unter Beobachtung stehende Terroristin betrat, ergaben sich bei rund einem Drittel der Mieter Diskrepanzen zwischen Mietvertrag, Anmeldung beim Einwohnermeldeamt, Anträgen für Post, Tele fon, Wasserwerke oder Gas. Die Namen im Mietvertrag stimmten zum Beispiel nicht mit dem des Bewohners überein •so etwa deshalb, weil eine geschiedene, dann wieder verheiratete Frau für ihren noch studierenden Sohn aus erster Ehe die Wohnung angemietet hatte. • Mietwagen- und Flugscheinprogramm. Auf Betreiben des 90 BKA kassierten eine Zeitlang Kriminalbeamte in allen größeren Städten bei Autoverleihfirmen Durchschläge der Leihverträge ab. Die Daten wurden mit dem Fahndungscomputer verglichen. Die Kunden erfuhren davon nichts. Weil den Autoverleih firmen inzwischen Bedenken gekommen sind, sucht BKA-Chef Herold eine gesetzliche Grundlage: »Ich strebe an, in die Selbstfahrerverordnung einen Paragraphen
2a einfügen zu lassen, der besagt: >Der fünfte Durchschlag gehört der Polizei.Knüppel aus dem Sack< verteilt«. Es half ihr nichts, daß sie dies widerlegen konnte. Als der Mainzer Verfassungsschützer Hugo Schröpfer den Irrtum endlich zugab, waren alle in Frage kommenden Posten besetzt. In Speyer durchleuchteten Verfassungsschützer das politische Innenleben von 700 Bürgern; darunter der SPDBundestagsabgeordnete Peter Büchner und sein Landtagskollege Jörg Heidelberger. Der Grund: Sie hatten es gewagt, ihre Meinungsfreiheit in eine Resolution umzusetzen und die Einstellung der DKP-Kunsterzieherin Uta Boege zu verlangen. Ministerpräsident Bernhard Vogel, der sich in der Affäre Filbinger mit dem früheren Marinestabsrichter solidarisierte, hat ein merkwürdiges Polit ik-Verständnis. Im Fall Filbinger warnte er davor, ihn zum Anlaß zu nehmen, nun in Dissertationen der Älteren nachzusuchen, ob diese in der Zeit vor 1945 verfängliche Aussagen gemacht haben. Im Fall des Verfassungsschutzes in Speyer rechtfertigte der CDURegierungschef die Schnüffel-Aktion: »Wer sich für einen Verfassungsfeind einsetzt, den muß man sich genau angucken.« Verschärft wurden Überprüfung und Ausspähung linksverdächtiger junger Leute durch eine deutsche Erfindung besonderer Art: die sogenannte Anhörung. Da laden Beamte, häufig noch in Treue fest zu reaktionären Staatsvorstellungen aus Kaisers und Hitlers Zeiten, junge Leute vor und verhören sie wie früher die Inquisitoren der katholischen Kirche. Sie fragen auch nach allem, was sie nach dem Grundgesetz nichts angeht, etwa nach der Privat- und Intimsphäre. Diese Erfindung ist so bürokratisch wie unnütz: Unerfahrene junge Leute lassen sich durch die Beamten-Fragen oft provozieren und werden für eine unbedachte Äußerung verfolgt; geschulte und getarnte Kommunisten, die es darauf anlegen, in den Staatsdienst zu kommen, spielen auf der Klaviatur der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO) und schlüpfen durchs Netz, wie etwa der Kanzleramts-Spion Guillaume bei der Sicherheitsüberprüfung, als er 158 zur Tarnung Sprüche des rechten SPD-Flügels klopfte. In den meisten Fällen kommt das unwürdige Frage-und-Antwort-Spiel nicht an die Öffentlichkeit. Denn über die Bewerber wird in der undurchsichtigen Grauzone der Bürokratie entschieden. Ist ein Kandidat erst einmal von einer Behörde als »Verfassungsfeind« gebrandmarkt, rufen viele erst gar nicht die Gerichte an, und wenn, wird
es dem Betroffenen schwerfallen, die Richter vom Gegenteil zu überzeugen - schließlich hat er die Beweislast. Dieses Verfahren, vom SPD-Bundesparteitag 1973 in Hannover gefordert, sollte eine individuelle, rechtsstaatliche Überprüfung sicherstellen. In der Praxis wurde aber damit die Entscheidungsbefugnis den Gerichten genommen und der Verwaltung zugeschoben. Ein Prüfungs-Profi ist der niedersächsische Ministerialrat Gottfried Jakob. Seit drei Jahren ist für den 43jährigen Spitzenbeamten jeder Dienstag ein FDGO-Tag. Jeweils vier Stunden lang verhört er einen Bewerber - Jakob nennt das »Interview«. Nachmittags diktiert er seine bis zu 15 Seiten langen Gutachten aufs Band. Die Aufregung über den Radikalenerlaß kann er überhaupt nicht verstehen. Der hochgewachsene Brillenträger mit der kahlen Stirn und den Skeptikerfalten um Nase und Mund kümmert sich seit 1965 um Personaleinstellungen. Seit dem Radikalenerlaß, meint er, sei alles rechtsstaatlicher geworden: »Früher bekamen die Be werber ihre Ablehnung nur schriftlich mitgeteilt, heute werden sie noch einmal angehört.« Jakob ist Chef der Zentralen Anhörkommission in Niedersachsen. Mit Hunderten von Radikalen hat er schon »die gesamte Palette verfassungsrechtlich relevanter Dinge« durchgenommen, »ganz persönlich und ganz individuell«. Wenn Jakob von »persönlich« oder »individuell« spricht, meint er seine siebenköpfige Kommission, die dem Betroffenen gegenübersitzt und in der er nach seinem Routine-Raster fragt: »Würden Sie bitte Ihr Verhältnis zur DKP erläutern?« -»Haben Sie einmal bei den Konventswahlen auf einer Liste Spartakus kandidiert?« - »Sind Sie Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft?« - »Waren Sie Mitglied der sozialistischen Falken?« - »Haben Sie 1969 an einer DKP159 Weihnachtsfeier teilgenommen? Und wenn ja, warum ...?« Die DKP ist eine rechtmäßige Partei, der Spartakus ihre Studentenorganis ation. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ist eine der 16 Einzelgewerkschaften im DGB mit 173.000 Mitgliedern. Die Falken sind eine SPD-nahe Jugendorganisation mit 150.000 Mitgliedern. Der Ministeriale Jakob und seine Kollegen stellen die gleichen Fragen wie ihre Vorgänger nach 1932 - sie fragen nach der grundgesetzlich genehmigten Mitgliedschaft in Parteien oder Verbänden, die links von der CDU stehen. Beim Regierungspräsidenten in Köln, Dezernat 44, Zimmer 426, beantwortete die 32jährige Lehrerin Irmgard Cipa bei der Anhörung Fragen von Regierungsdirektor Werner mit einem Passus aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: »Das bloße Haben einer Überzeugung und die bloße Mitteilung, daß man diese habe, ist niemals eine Verletzung der Treuepflicht.« Regierungsdirektor Werner konterte: Er habe hier die »Gesinnung zu überprüfen« und nach »seinem pflichtgemäßen Ermessen alle hierzu erforderlichen Fragen zu stellen«. Auf den provokativen Einwurf von Frau Cipas Anwalt, dann könne er ebensogut nach dem Zeitpunkt des ersten Geschlechtsverkehrs der Kandidatin fragen, antwortete der Regierungsdirektor: Auch das, wenn es zur Persönlichkeitserforschung und Gesinnungsüberprüfung erforderlich sei. Eine solche Frage liege allein in seinem Ermessen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Manfred Coppik, der als Rechtsanwalt Frau Cipa begleitet hatte, beschwerte sich über »diese beschämende Vernehmung« bei seinem Parteifreund, dem Düsseldorfer Kultusminister Jürgen Girgensohn. Der Minister in seiner Antwort: »Der anhörende Beamte vermag sich nicht daran zu erinnern, ob seinerzeit ... die Zulässigkeit ... einer solchen Anhörung ins Gespräch gebracht worden ist.« Dennoch: Frau Cipa habe die »Zweifel an ihrer Verfassungstreue« nicht ausräumen können. Sie ist arbeitslos. In Augsburg erklärte 1976 der Pädagoge Ilja Hausladen aus Fürth, der sich um eine Stelle als Volksschullehrer bemühte, seinen Vernehmern, warum er Antifaschist sei. Aus dem Gedächtnisprotokoll seines Anwalts: »Mein Großvater kämpfte gegen die Nazis. Er war elf Jahre im Konzentrationslager 160 Dachau interniert und starb kurz nach der Befreiung. Meine Großmutter gehörte ebenfalls zur Widerstandsbewegung und saß deshalb über sechs Jahre im KZ Ravensbrück. Mein Vater konnte noch emigrieren, wurde später von der Gestapo in Frankreich gefangengenommen und inhaftiert.« Oberregierungsrat Herzer als Vernehmer: »Das tut uns sehr leid, was Ihrer Familie zugestoßen ist. Eine andere Frage ist, ob man Sie deswegen gleich Beamter werden lassen soll.« Regierungsdirektor Krüger als zweiter Vernehmer: »Sie sagen, daß Sie ein Antifaschist sind - bekämpfen Sie aus dieser Überzeugung heraus die Ostblockstaaten?« Hausladen: »Ich kenne den Faschismus aus der deutschen Geschichte und aus Erzählungen meiner Familie. Einen Faschis mus wie im Dritten Reich kenne ich in den Ostblockländern nicht. Ich bin jedenfalls für gute Beziehungen zu allen Staaten. Dazu gehört auch die Nichteinmischung, zu der sich alle UN-Mitglieder verpflichtet haben.« Regierungsdirektor Krüger: »Wie finden Sie den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR?« Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schmitt-Lermann antwortet für Hausladen: »Das gehört überhaupt nicht zum Gesprächsgegenstand. Sonst müßten wir jetzt den Begriff der Intervention klären. Wir müßten die Interventionsrechte der Westmächte nach dem Deutschlandvertrag genauer anschauen. Wir müßten von Vietnam und den vielen anderen amerikanischen Interventionen reden. Wollen Sie das?«
Oberregierungsrat Herzer: »Wenden wir uns einem anderen Land zu. Wo sehen Sie die Kritikpunkte an der DDR?« Hausladen: »Es gibt in jedem Land und an jedem System Punkte, die zu kritisieren sind. Ich habe mich aber mit den Gesetzen der DDR nicht beschäftigt, und ich kann nur Dinge kritisieren, über die ich mich eindeutig informiert habe.« Regierungsdirektor Krüger: »Sie wissen ganz genau, worauf wir hinauswollen. Aber Sie wollen sich dumm stellen. Im ganzen Wahlkampf (Bundestagswahl 1976) war von der Bedrohung durch die kommunistische Gefahr die Rede. Aber da haben Sie offenbar immer weggehört.« Oberregierungsrat Herzer: »Was verstehen Sie unter Diktatur des Proletariats