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Harald Künemund · Klaus R. Schroeter (Hrsg.) Soziale Ungleichheiten und kulturelle Unterschiede in Lebenslauf und Alter
Alter(n) und Gesellschaft Band 15 Herausgegeben von Gertrud M. Backes Wolfgang Clemens
Harald Künemund Klaus R. Schroeter (Hrsg.)
Soziale Ungleichheiten und kulturelle Unterschiede in Lebenslauf und Alter Fakten, Prognosen und Visionen
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15753-5
Inhaltsverzeichnis
Klaus R. Schroeter und Harald Künemund Einleitung ........................................................................................................... 7
Theoretische und konzeptionelle Zugänge Wolfgang Clemens Zur „ungleichheitsempirischen Selbstvergessenheit“ der deutschsprachigen Alter(n)ssoziologie .......................................................................................... 17 Andrea Kottmann Alter als Kategorie sozialer Ungleichheit? ...................................................... 31 Gertrud M. Backes und Ludwig Amrhein Potenziale und Ressourcen des Alter(n)s im Kontext von sozialer Ungleichheit und Langlebigkeit ....................................................................... 71
Exemplarische Analysen zur Ungleichheit im Alter Ursula Dallinger Altert Gerechtigkeit? – Einstellungen zu Gerechtigkeit und Ungleichheit im Wandel der Kohorten ....................................................................................... 85 Traute Meyer und Birgit Pfau-Effinger Die Geschlechter-Dimension in der Restrukturierung von Rentensystemen – Deutschland und Großbritannien im Vergleich ............................................. 105 Cordula Kropp Ernährungsarrangements im Alter – Spielräume und Grenzen der Gestaltung von Ernährungsmustern im dritten Lebensabschnitt..................... 127 Andreas Motel-Klingebiel und Heribert Engstler Einkommensdynamiken beim Übergang in den Ruhestand .......................... 141
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Inhaltsverzeichnis
Hildegard Theobald Soziale Ausgrenzung, soziale Integration und Versorgung: Konzepte und Empirie im europäischen Vergleich ............................................................... 161 Wolfgang Voges und Lars Borchert Soziale Ungleichheit und Heimkarriere bei Älteren ...................................... 195 Harald Künemund und Claudia Vogel Erbschaften und ihre Konsequenzen für die soziale Ungleichheit ................. 221 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ...................................................... 233
Einleitung Klaus R. Schroeter und Harald Künemund
Seit mehreren Jahren liefern die Medien fassettenhafte (Schreckens-)Visionen einer künftigen „alternden Gesellschaft“, die Konsequenzen werden in immer schrilleren Farben ausgemalt. Die „Rentnerschwemme“ – um ein Unwort des Jahres aufzugreifen – wird nicht nur mit Problemen bei der Finanzierung der Renten und des Gesundheitswesens in Verbindung gebracht. Es drohe gar eine „Diktatur der Senioren und Senilen“ (Tremmel 1996, S. 60) oder ein „Aufstand der Alten“ (ZDF 2007), während zugleich hilflose Greise am Straßenrand ausgesetzt oder nach Afrika deportiert werden (vgl. hierzu Künemund 2007). Es geht also keinesfalls nur um ökonomische, sondern auch um politische, kulturelle und ethische Probleme, denen sich die Gesellschaft zuwenden muss. Aber wie realistisch sind solche Szenarien? Wie verlässlich prognostizieren die Experten den demographischen Wandel und seine Folgen? Und wie lauten die soziologischen Antworten auf die gesellschaftliche Herausforderung der älter werdenden Gesellschaft? Und da der überwiegende Teil der Szenarien soziale Ungleichheiten ignoriert – wie ungleich und unterschiedlich gestalten sich die derzeitigen und künftigen Lebenslagen im Alter? Die vorliegenden Antworten auf diese Frage sind noch nicht in allen Punkten zufrieden stellend. Sicher ist, dass die anstehenden Entwicklungen heute häufig – sei dies beabsichtigt oder nicht – dramatisiert werden. Dies gilt in erster Linie (aber nicht nur) für mediale Schreckensbilder und „Sachbücher“. Vor 20 Jahren wurde parallel zu den Warnungen vor den Konsequenzen des demographischen Wandels oft noch kritisch angemerkt, dass die Prognosen auf möglicherweise problematischen Annahmen beruhen und vor übermäßiger Dramatisierung abgeraten (z.B. Kohli 1989; Mayer 1989). Diese Skepsis war nicht ganz unberechtigt, vergleicht man etwa die damaligen Prognosen zur zukünftigen Entwicklung der „Alterslast“ mit den heutigen: diese wurde zumeist nach unten korrigiert. Aber es ist nicht nur die Fortschreibung mit Risiken behaftet, auch die Interpretation der Kennziffern selbst ist nicht so unproblematisch, wie dies auf den ersten Blick scheint. Hinsichtlich der Renten z.B. entspricht die heutige „Alterslast“ nicht der zukünftigen: Es wären beispielsweise geringere Rentenanwartschaften aufgrund der Zunahme unstetiger Erwerbsbiographien und steigender Anteile von Selbständigen sowie das zusätzlich abgesenkte Rentenniveau zu berücksichtigen. Die durch den Alterslastkoeffizienten angezeigte „Last“ verändert sich über die Zeit. Hinsichtlich der Gesundheitsversorgung hängt einiges davon ab, ob die gewonnen Jahre eher in Gesundheit oder Krankheit verbracht werden, aber natürlich auch von der Kostenentwicklung im Gesundheitswesen –
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steigende Kosten wären hier wohl auch im Falle einer völlig entgegen gesetzten demographischen Entwicklung wahrscheinlich. Und schließlich bleibt darauf hinzuweisen, dass natürlich ohnehin nicht alle Älteren eine „Last“ für die Gesellschaft sind (vgl. z.B. Künemund 1999; Kohli 1999). Abgesehen von den Dramatisierungen besteht an der Grundtendenz des Alterns der Gesellschaft jedoch kein Zweifel. Insofern besteht in mehrfacher Hinsicht ein ganz erheblicher Klärungsbedarf. Dies betrifft gegenwärtige Lebenslagen älterer Menschen ebenso wie die zukünftige Entwicklung. Die Lebenslagen im Alter scheinen inzwischen vergleichsweise gut dokumentiert. Von den ersten frühen empirischen Untersuchungen (z.B. Groth 1954; von Friedeburg, Weltz 1958; Lenhartz 1958; Tartler 1961; Blume 1962) über die später einsetzende Altenberichterstattung des Bundes (BMFuS 1993; BMFSFuJ 1998, 2001, 2002, 2005; BMJFuG 1986) samt der dazugehörigen Expertisen (DZA 1991, 1998, 2001, 2002, 2006), den Berichten der Enquete-Komission „Demographischer Wandel“ (Deutscher Bundestag 1994, 1998, 2002) bis hin zum Alters-Survey (Kohli, Künemund 2005; Tesch-Römer et al. 2006) und den verschiedenen multidisziplinären oder international vergleichend angelegten Forschungsprojekten (wie z.B. BASE oder SHARE1) hat sich eine Forschungstradition entwickelt, in der die Lebenslagen älterer Menschen materialreich skizziert werden. So verschiedenartig die einzelnen Studien auch sind, so weisen sie dennoch darauf hin, dass viele der im gegenwärtigen Populardiskurs formulierten Szenarien eher in den Bereich der moderner Mythen oder der „Alterslügen“ (Amann 2004) zu verweisen sind. Dennoch sind längst nicht alle Fragen hinreichend geklärt. Dies gilt insbesondere für den Bereich sozialer Ungleichheiten im Alter. Diese Fragen werden in der Alternsforschung im Kontext verschiedener Modelle diskutiert (Kontinuitäts- oder Differenzierungsthese, Kumulationsthese, These der altersbedingten Veränderungen, Destrukturierungsthese), die jeweils eine gewisse Plausibilität aufweisen, sich aber dennoch nicht ungebrochen halten lassen (vgl. Mayer, Wagner 1996; Kohli et al. 2000). Hier zeigen sich die vielen Fassetten des Alterns: Lebenslagen sind dynamische Gebilde, die gleichsam als strukturierte Produkte der gesellschaftlichen Entwicklung wie auch als strukturierende Bedingungen und Ausgangssituationen für die Entwicklung von Menschen wirken und damit als Produkt des (individuellen und kollektiven) Handelns erscheinen (Amann 1983, 1993, 1994). Lebenslagen sind dynamische Wechselbeziehungen, die sich aus der dialektischen Beziehung zwischen „Verhalten“ und Verhältnissen“ ergeben (Amann 2000). Damit wird der Blick zugleich auf die gesellschaftlich vorgegebenen Opportunitätsstrukturen und die individuell wahrgenommenen Dispositionsspielräume gelenkt (vgl. Nahnsen 1975; Naegele 1998). 1
Zur Berliner Altersstudie (BASE) vgl. Mayer, Baltes (1996), zum „Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe“ (SHARE) vgl. Börsch-Supan, Jürges (2005).
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Wie sich diese Möglichkeitsräume im Einzelnen gestalten und welche Muster bzw. Typen von Lebensführungen und Kulturstilen sich im Alter zeigen, wird in der Alternsforschung zwar gelegentlich untersucht (z.B. Brockmann 1998; Kolland 1996), doch verlässliche repräsentative Forschungsergebnisse liegen hierzu bislang noch kaum vor. Wollte man die Lebenslagen und Lebensführungen älterer Menschen – und damit auch die sozialen Ungleichheiten und kulturellen Unterschiede in Lebenslauf und Alter – annähernd realitätsgetreu erfassen, so bedürfte es idealiter eines theoretisch geleiteten und empirisch überprüften Mehrebenenmodells, mit dem die Verfügbarkeit und der strategische Umgang mit den verschiedenen Kapitalien älterer Menschen in den von ihnen gestalteten Dispositionsspielräumen erklärt und abgebildet werden könnte. Bislang stützt sich die empirische Alternsforschung vor allem auf die Erhebung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitalien bzw. Ressourcen und Potenziale älterer Menschen (vgl. u.a. Künemund 2001; BMFSFuJ 2005; Kohli, Künemund 2005). Die Frage nach den symbolischen Kapitalien (etwa in Gestalt von Ansehen, Status und Prestige) ist zwar den meisten soziologischen Alternstheorien inhärent (vgl. Schroeter 2006), empirisch jedoch bislang nur unzureichend erforscht. Die Frage nach den korporalen Kapitalien älterer Menschen (Schroeter 2007a, b) ist bislang empirisch nur unter dem Aspekt der Vulnerabilität und Pflegebedürftigkeit erfasst (vgl. BMFSFuJ 2002; DZA 2002). Und die Frage nach dem emotionalen Kapital (Setzwein 2004) ist in der Alternsforschung noch kaum gestellt worden. Hier stellt sich daher noch eine Reihe von Anschlussfragen, die freilich zunächst einmal operationalisiert und in die Logik empirischer Forschung übersetzt werden müssen. Dass die Lebensphase Alter eine höchst differenzierte soziale Figur ist, zeigt sich schon allein darin, dass sie heute bereits für viele Menschen mehrere Jahrzehnte umfasst und daher auch schon in verschiedene Lebensabschnitte – etwa als drittes, viertes und fünftes Alter (Laslett 1995, Rosenmayr 1996) – unterteilt wurde (wobei freilich für ein viertes oder fünftes Alter keine sozial institutionalisierten Altersgrenzen existieren). Wenn wir es hier aber mit einer Lebensphase mit höchst sozialer Heterogenität bei zugleich erheblicher individueller Varianz zu tun haben, ist es nur nahe liegend, das sich im „Fadenkreuz von Individualisierung und Vergesellschaftung“ (Prahl, Schroeter 2000) bewegende Alter(n) auch verstärkt unter dem Aspekt von Diversity zu betrachten (vgl. Daatland, Biggs 2004; Pasero et al. 2007). In diesem Zusammenhang lässt sich Vielfalt des Alterns nicht nur unter der sozialstrukturellen Perspektive der sozialen Ungleichheiten, sondern auch im Hinblick auf die soziokulturellen Unterschiede einfangen. Die hier vorgelegte Anthologie zum Thema Soziale Ungleichheiten und kulturelle Unterschiede in Lebenslauf und Alter vereinigt Beiträge, die sich mit verschiedenen Aspekten dieses Themas empirisch oder konzeptionell auseinandersetzen. Der Beitrag von Wolfgang Clemens nimmt den Aufsatz von Martin
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Kohli (1990) zum „Alter als Herausforderung für die Theorie sozialer Ungleichheit“ zum Anlass, noch einmal aktuell nach dem Beitrag der Alternssoziologie zu einer allgemeinen Theorie sozialer Ungleichheit in Richtung einer konzeptuellen Erweiterung zu fragen. Hierzu skizziert er bisherige Ansätze und ihre Blindstellen hinsichtlich des Alternsprozesses und seiner sozialen Organisation im gesellschaftlichen Wandel, um anschließend Konsequenzen für Forschung und Theorieentwicklung ziehen zu können. Er konstatiert eine „Verflechtung der Merkmale Klasse, Alter, Geschlecht und Ethnizität“ (S. 22), welche sich mit weiteren Merkmalen wie Gesundheit oder Wohnbedingungen zu „spezifischen Ungleichheitsclustern“ (ebd.) formen. Damit verlässt Wolfgang Clemens die herkömmliche Dichotomie von vertikalen und horizontalen Ungleichheiten, grenzt sich zugleich aber von Milieu- und Lebensstilansätzen in Richtung des Lebenslagenansatzes ab: Lebenslagen seien als „Ursachen oder Bedingungen sozialer Ungleichheit“ (S. 27) zu betrachten. Andrea Kottmann geht in ihrem Beitrag von einer zunehmenden Bedeutung des Alters als „Strukturprinzip der sozialen Organisation“ (S. 32) aus und hinterfragt die zumeist statischen Konzeptionen sowohl der traditionellen Ungleichheitsmodelle als auch der moderneren Milieu- und Lebensstilansätze. Um deren Genese und Wandel nachzuvollziehen, sei nicht nur die zeitliche Dimension analog zum Kohorten- bzw. Altersschichtungsansatz einzubeziehen, sondern zusätzlich auch eine qualitative Zeitdimension einzuführen, die Veränderungen z.B. der Altersphasen und Altersgrenzen im Hinblick auf den individuellen Lebenslauf und die jeweiligen biographischen Perspektiven zu erfassen erlaubt. Mit dem Begriff der „historischen Altersgruppe“ wird in diesem Sinne versucht, Kohorten- und Generationenperspektive – und damit implizit auch die Perspektiven von Lebensverlauf- und Biographieforschung – zu verbinden: „Historische Altersgruppen können so als Aggregate von Menschen verstanden werden, die sich gegenseitig als gemeinsam in einem sehr spezifischen Zeitkorridor lebend definieren bzw. in einer sehr spezifischen Weise und unter ähnlichen Voraussetzungen altern“ (S. 41). Die Tragfähigkeit dieser Perspektive wird – insbesondere unter Bezugnahme auf Bourdieu – im Hinblick auf den Diskurs über Generationengerechtigkeit exemplifiziert. Gertrud M. Backes und Ludwig Amrhein werfen in ihrem Beitrag einen Blick auf die Potenziale und Ressourcen des Alter(n)s. Sie fassen die hierzu vorgelegten Erkenntnisse noch einmal kursorisch zusammen und deuten an, dass sich in den letzten Jahren – vor allem für Frauen – die „Hinweise auf ein sich verfestigendes, wenn nicht gar sich ausweitendes, ‚negatives Alter‘“ (S. 73) verstärken. Weil das Leben nicht einfach nur länger geworden sei, sondern sich im gesamten Verlauf verändert habe, müsse sich das gesamte Gefüge der gesellschaftlichen Aufgabenzuweisung und Arbeitsteilung im Lebenslauf ändern. Dementsprechend müsse das Konzept des „homo vitae longae“ praktische Ver-
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änderungsansätze in der Struktur des Lebenslaufs, der Arbeitsteilung und der Solidarität zwischen Generationen und Geschlechtern beinhalten. Die Frage der Gerechtigkeit sozialer Ungleichheit nimmt der Beitrag von Ursula Dallinger in den Blick. Auf der Basis eines Querschnittvergleiches mit Daten der ALLBUS analysiert sie Konstanz und Veränderung von Einstellungen zur Gerechtigkeit in einer Kohortenperspektive. Ohne Berücksichtigung der von Kottmann diskutierten qualitativen Zeitebene müsste sich in einem Kohortenvergleich erweisen, ob Veränderungen in den Gerechtigkeitseinstellungen auf Periodeneffekte – wenn alle Kohorten unabhängig von ihrem Alter in ähnlicher Weise einen Einstellungswandel aufweisen –, Alterseffekte – wenn in allen Kohorten ein je ähnlicher Wandel mit bestimmten Altersmarken verbunden ist – oder aber Kohorteneffekte zurückzuführen ist. Die Ergebnisse verweisen auf die Existenz „latenter Generationen“ (S. 86), d.h. starker Kohortendifferenzen, deren Ursache z.B. in Kompositionseffekten liegen könnte, wenn „unterschiedliche Gerechtigkeitseinstellungen sozialer Schichten“ (S. 102) dominieren. In jedem Fall aber erweist sich Alter damit als „kollektiv wirksam“ (S. 91) im Sinne der Theorie der Alterschichtung, und dies auch hinsichtlich der Einstellungen zur Gerechtigkeit sozialer Unterschiede. Im Rentenversicherungssystem sind geschlechtsspezifisch ungleichheitrelevante Regelungen institutionalisiert (Allmendinger 1994). Veränderte Geschlechterarrangements und Familienmodelle stellen hier neue Herausforderungen. Traute Meyer und Birgit Pfau-Effinger vergleichen die historische Entwicklung der letzten Jahrzehnte und analysieren die aktuellen Reformen und Veränderungen in Großbritannien und Deutschland im Hinblick auf die geschlechtsspezifischen Verteilungswirkungen. Herausgearbeitet wird eine Tendenz zur Annäherung der Rentensysteme, wobei „die Entwicklung in die Richtung eines Gleichstellungsmodells auf der Basis existenzsichernder Renten“ (S. 120) gehe. Dass sich auch in Ernährungsgewohnheiten und –präferenzen soziale Ungleichheiten im Sinne feiner Unterschiede (Bourdieu 1982) ausdrücken, ist unmittelbar evident – allerdings bislang im Hinblick auf das Alter noch kaum untersucht. Cordula Kropp zeigt anhand qualitativer Leitfadeninterviews zu Ernährungsorientierungen und Ernährungspraktiken, dass sich „Ungleichheitskonstellationen im Alter nicht nur anhand sozioökonomischer oder kultureller Kategorien beschreiben lassen, sondern dass darüber hinaus ein stark biographisch zu betrachtendes Konzept, das vielleicht ‚Lebensführungs- oder Gestaltungskompetenz’ genannt werden könnte, eine zentrale Rolle spielt“ (S. 128). Im Anschluss wird eine knappe Skizze von drei typischen Fällen herausgearbeitet, in welcher Weise Entscheidungsmöglichkeiten und -zwänge auch hinsichtlich der Ernährung zugenommen haben, und zwar trotz eingeschliffener Gewohnheiten. Dabei entwirft Cordula Kropp ein „Konzept der Lebensführungskompetenz als Produkt aus sozioökonomischer Ressourcenausstattung, kultureller Inszenierungsleistung
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und insbesondere biographischer Erfahrungen mit der eigenen Selbstwirksamkeit“ (S. 137). Soziale Ungleichheit wird zu einem erheblichen Teil über Positionen am Arbeitsmarkt generiert oder gefestigt. Das bundesrepublikanische System der Alterssicherung überträgt gemäß dem Prinzip der Lebensstandardsicherung soziale Ungleichheiten zu einem gewissen Teil aus dem Erwerbsleben in den Ruhestand. Allerdings ist das Ausmaß dieser Kontinuität sozialer Ungleichheit historisch variabel und letztlich je empirisch zu bestimmen. Andreas Motel-Klingebiel und Heribert Engstler fragen vor diesem Hintergrund nach den Einkommensveränderungen beim Übergang in den Ruhestand und unterscheiden dabei mehrere Übergangspfade. Auf der Basis des Altersurvey können sie zeigen, dass direkte Übergänge im Durchschnitt mit Einkommenverlusten verbunden sind und dass Zwischenphasen der Arbeitslosigkeit oder des Vorruhestands diese Einbußen verschärfen. „Die zunehmend verbreiteten Übergangsphasen tragen so zu einer biographisch riskanten Vorverlagerung eines finanziell prekär ausgestatteten Ruhestands bei.“ (S. 158). Der Beitrag von Hildegard Theobald bezieht das Konzept der sozialen Ausgrenzung auf Pflegearrangements und betrachtet dabei vergleichend fünf europäische Länder. Im Anschluss an eine Erörterung verschiedener Dimensionen der sozialen Ausgrenzung im Alter werden Ergebnisse des Forschungsprojekts CARMA präsentiert, wobei Muster sozialer Integration, Versorgungsarrangements und –niveaus sowie Belastungen der pflegenden Angehörigen und die psychische Situation der Älteren im Mittelpunkt stehen. Wolfgang Voges und Lars Borchert fragen nach dem Einfluss sozialer Ungleichheit auf Beginn und Verlauf von Heimkarrieren bei Älteren und Hochbetagten. Auf der Basis von Krankenkassendaten können sie diese Frage – wohl erstmals in Deutschland – auf verlässlicher Datengrundlage untersuchen. Sie können z.B. zeigen, dass frühere Arbeiter ein größeres Heimeintrittsrisiko aufweisen. Die Unterschiede in der Heimverweildauer zwischen früheren Arbeitern und früheren Angestellten sind dagegen eher gering, was auf die was auf die Nivellierungsthese verweist: „Mit der zeitlichen Distanz zur belastenden Erwerbstätigkeit wird ein Erholungseffekt vermutet, der in Verbindung mit sozialstaatlichen Versorgungsleistungen eine Nivellierung der Unterschiede mit steigendem Alter bewirkt“ (S. 214). Dass Erbschaften die sozialen Ungleichheiten verschärfen, ist eine häufig zu vernehmende Einschätzung. Insbesondere wurden lange Zeit Söhne – und hier oftmals die Erstgeborenen – bevorteilt, so dass auch innerhalb der Familien die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern befördert wurde. Der Beitrag von Harald Künemund und Claudia Vogel gibt zum ersten Punkt eine eher kritische Einschätzung: Es sei eine Frage der Perspektive und der Messinstrumente, ob eine Zunahme sozialer Ungleichheit diagnostiziert werden kann. Aber selbst wenn allein die Erbengeneration betrachtet und zugleich die Ungleichheit allein
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mit absoluten Ungleichheitsmaßen festgestellt wird – insbesondere dann lässt sich die Diagnose der Verschärfung sozialer Ungleichheit durch Erbschaften empirisch belegen –, ist gegenwärtig keine Bevorzugung hinsichtlich der Geburtenfolge oder des Geschlechts erkennbar.
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Zur „ungleichheitsempirischen Selbstvergessenheit“ der deutschsprachigen Alter(n)ssoziologie Wolfgang Clemens
1 Einleitung „Selbstvergessenheit“ markiert einen Zustand, in dem eine Person – oder hier ein Zweig der Wissenschaft – sich mental an einen Gedanken oder ein intensives Gefühl „verliert“ und für Außenstehende nicht mehr erreichbar scheint. Diesen Eindruck mag Martin Kohli Ende der 1980er-Jahre gewonnen haben, als er sich mit dem ungleichheitstheoretischen Gehalt der damaligen Alter(n)ssoziologie beschäftigte. Er attestierte ihr eine eher randständige Position zur allgemeinen Soziologie und vermisste dabei einen Beitrag zur Erklärung struktureller Grundlagen des Alterns in der Gesellschaft (Kohli 1992, S. 232). Die „Selbstvergessenheit“ bezog Kohli vor allem auf die thematische und theoretische Festlegung der Alter(n)ssoziologie bis zu dieser Zeit, da sie ihren Gegenstand vor allem aus der Perspektive sozialer Probleme betrachtete. Als angewandte Soziologie hat sie sich dabei – laut Kohli – „ihre Tagesordnung von den drängenden praktischen Problemen ihres Gegenstandsfeldes diktieren“ und die dort „entstandenen Problemdefinitionen aufdrängen“ lassen. Zwar wurden aus der Problemperspektive zahlreiche Formen sozialer Ungleichheit im Alter empirisch erfasst und z.T. auch mit entsprechenden Ansätzen der allgemeinen Soziologie theoretisch reflektiert. Ein eigener Beitrag zu einer Theorie sozialer Ungleichheit stand jedoch bis zu diesem Zeitpunkt noch aus. 1990 gab Martin Kohli mit seinem Aufsatz „Das Alter als Herausforderung für die Theorie sozialer Ungleichheit“ einen wichtigen Impuls, der allerdings wenig Resonanz in der allgemeinen Diskussion über soziale Ungleichheit fand (so findet sich im Register von Stefan Hradils bekanntem Buch „Soziale Ungleichheit“ erst seit der 8. Auflage der Begriff „Alter“ bzw. „Ältere“ – und bezieht sich auf geringere Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer, vgl. Hradil 2001). Zumindest in der alternssoziologischen Forschung hat sich in den letzten Jahren einiges getan: In den großen Alternsstudien – wie der Berliner Altersstudie und dem Alters-Survey – wurden ungleichheitsbezogene Ergebnisse diskutiert und auf entsprechende Erklärungsmuster bezogen. Seither hat eine breitere Diskussion über die Bedeutung der sozialen Kategorie „Alter“ in Hinsicht auf soziale Ungleichheit eingesetzt – nicht zuletzt auch wegen der Auswirkungen des demographischen und alternsstrukturellen Wandels. Trotzdem bleiben die Anstrengungen zu einer konzeptuellen Erweiterung der Theorie sozialer
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Ungleichheit hinsichtlich Alter im deutschsprachigen Bereich bisher vergleichbar bescheiden wie die Berücksichtigung von sozialer Ungleichheit in den Alternstheorien im anglo-amerikanischen Bereich (vgl. McMullin 2000). Kohlis Anregungen sollen im folgenden Beitrag aufgenommen und weitergeführt werden. Alternsprozesse bestimmen zunehmend weite Bereiche der institutionellen und der Gesellschaftsentwicklung. Dies muss sich in der soziologischen Theoriebildung niederschlagen. Ziel des Beitrags ist es, auf der Grundlage von Überlegungen zum Zusammenhang von Altern und gesellschaftlicher Entwicklung sowie zu den heutigen und zukünftigen Ausprägungen der Lebensphase Alter weitere Anstöße zur theoretischen Konzeptualisierung sozialer Ungleichheit zu geben. In den folgenden Ausführungen wird zunächst an allgemeine Überlegungen zu sozialer Ungleichheit angeschlossen und diese werden hinsichtlich Alter problematisiert (Abschnitt 2). Sodann werden bisherige ungleichheitstheoretische Erklärungsansätze vorgestellt, die Entwicklungen bis zur und in der Altersphase behandeln (Abschnitt 3). Anschließend wird auf bedeutsame Entwicklungen zur Differenzierung sozialer Ungleichheit im Alter eingegangen (Abschnitt 4) und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Theoriebildung und empirische Forschung diskutiert (Abschnitt 5), bevor ein abschließendes Fazit gezogen wird (Abschnitt 6).
2 Zur Problematisierung sozialer Ungleichheit im Alter Der Begriff der sozialen Ungleichheit betont nicht nur die in mancher Hinsicht Verschiedenartigkeit von Menschen, sondern verortet sie auch in einer sozialen Hierarchie von besseren oder schlechteren Lebenschancen, die auf unterschiedlichen Zugang zu Ressourcen, oder wertvollen Gütern, basieren (Hradil 2001; Burzan 2004). Dabei wird nach ökonomischen Ressorcen von Einkommen und Besitz, symbolischen Ressourcen von Status und Prestige sowie politischen Ressorcen von Macht und Herrschaft unterschieden (Kohli 1992, S. 245). Außerdem verweist soziale Ungleichheit auf „die sozialen Beziehungen, die aus dieser Verortung entstehen, die Formierung von Interessen und damit Konflikten, welche die Gesellschaftsstruktur prägen und ihr ihre Dynamik geben.“ (Kohli et al. 2000, S. 320) Entsprechende sozio-ökonomische Voraussetzungen sozialer Ungleichheit wirken auf Menschen in der Ruhestandsphase als Ergebnis lebenszeitlicher Entwicklungen und in spezifischer Weise – somit anders als für jüngere Menschen, die sich noch in der Erwerbsphase befinden. Alter an sich kann bereits als Merkmal sozialer Ungleichheit im Sinne von Ungleichwertigkeit betrachtet werden (Mayer, Wagner 1996, S. 251). Diese in
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früheren Jahrhunderten z.T. sehr markanten Ausprägungen haben sich in den letzten Jahrzehnten relativiert: Der heute im Durchschnitt frühzeitige Austritt aus dem Erwerbsleben wird – im Gegensatz zu früheren Zeiten – in relativ guter Gesundheit erlebt, und ausreichende Renten und Pensionen haben für die meisten Betroffenen das Alter zu einer potenziellen Phase von Autonomie mit weitgehender sozialer Teilhabe gemacht (Guillemard, Rein 1993, S. 471). Allerdings werden z.B. mit dem Eintritt in den Ruhestand neue Bedingungen der Lebenslage gesetzt, die strukturprägend sein können (Kohli et al. 2000, S. 319). Neuere gesellschaftliche Konfliktlinien, wie z.B. im Zuge des demographischen Alterns der Gesellschaft zwischen Altersgruppen/Kohorten/Generationen, wirken auf bereits bestehende Muster sozialer Ungleichheit in der Lebensphase Alter. Generell stellt sich auch für das Alter die Frage der angemessenen theoretischen Konzeptualisierung sozialer Ungleichheit und entsprechenden Operationalisierungen: Sind eher vertikale oder horizontale Dimensionen maßgeblich oder bedarf es integrierter Konzepte, die die Besonderheiten dieser Bevölkerungsgruppe jenseits der Erwerbsarbeit bei der Verortung in der Ungleichheitsstruktur angemessen berücksichtigen? Die maßgeblichen Bezugsgrößen der Schicht- und Klassenansätze – Qualifikation, Berufstätigkeit, Sozialprestige – liegen z.T. lebensgeschichtlich weiter zurück und sind mit entsprechenden Merkmalen der heute beruflich noch aktiven Kohorten nicht zu vergleichen. Bildungsmerkmale und schichtenspezifische Bildungsunterschiede wirken bis in die Altersphase und verstärken sich noch. Einkommen und Vermögen bleiben weiterhin harte Kriterien sozialer Unterscheidung, da sie über die Verteilungswirkung bestehender, auf den Berufsverlauf rekurrierender Alterssicherungssysteme bis in die letzte Lebensphase sozial differenzieren. Speziell im fortgeschrittenen Alter, vor allem bei Hochaltrigen, gewinnen andere – eher horizontale – Dimensionen zunehmend an Bedeutung: Umfang und Qualität sozialer Beziehungen und kleiner sozialer Netzwerke, auch die wachsende Ohnmacht, defizitäre Lebenslagen aus eigener Kraft verändern zu können, und die damit verbundene Abhängigkeit von Formen sozialstaatlicher Versorgung und generationaler Unterstützung. Andere Dimensionen der Lebenslage, wie Gesundheit und Lebenserwartung, werden als Auswirkungen bzw. Verstärkungen eher vertikaler Schicht- bzw. Klassenunterschiede in der Lebensphase Alter bedeutsamer und verstärken bzw. verlängern eine lebenslaufbezogene soziale Differenzierung. Damit prägt sich die inhaltliche Bedeutung des Ressourcenbegriffs im Alter in spezifischer Weise aus und bedarf in erheblichem Maße einer – vor allem handlungsbezogenen – Erweiterung. Die letzten Überlegungen deuten bereits auf die notwendige Perspektive eines lebenszeitlichen Bezugsrahmens zur Analyse sozialer Ungleichheit im Alter. Die Ressourcen Gesundheit, materielle Bedingungen und soziale Beziehungen verweisen auf lebenslange Entwicklungsprozesse, die eine Lebenslage im Alter prägen und vorteilhafte oder benachteiligende Lebensverhältnisse chronifizieren. Dies gilt auch für weitere strukturell bedingte Ungleichheitsmerkmale, die sich
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zusammen mit Alter und Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeit in spezifischen Formen sozialer Ungleichheit ausprägen: Geschlecht und Ethnie (vgl. McMullin 2000). Letztlich stellt sich die Frage, ob ein eigenes, auf den Ruhestand und die Lebensphase Alter bezogenes Ungleichheitskonzept sinnvoll und möglich ist, und welche Dimensionen der Ungleichheit dabei bestimmend werden. Zentral ist sicherlich die altersspezifische Definition wichtiger Ressourcen und damit verbundener Handlungsoptionen, die Ungleichheiten der Lebensbedingungen – der Lebenslagen (vgl. Clemens 1994) bestimmbar machen. Wichtig werden generationenbezogene institutionelle Entwicklungen des Sozialstaats, aber auch privater Generationenbeziehungen. Die folgenden Überlegungen sollen an den bestehenden Erklärungsansätzen für soziale Ungleichheit im Alter anknüpfen.
3 Erklärungsansätze für soziale Ungleichheit im Alter In den „klassischen“ Ungleichhheitstheorien wird davon ausgegangen, dass die Stellung des Menschen in der Arbeitswelt – die berufliche Qualifikation, der berufliche Status – wesentlich die Verortung in der vertikalen Struktur sozialer Ungleichheit bestimmt. Vielfältige Klassenlagen bündeln sich in diesen Ansätzen zu sozialen Schichten relativ homogener Lagen und werden überlagert und verstärkt durch soziale Einschluss- und Abgrenzungsprozesse (Mayer, Wagner 1996, S. 253). Kritiker dieser Denkmuster verweisen auf die Dominanz „horizontaler“ Ungleichheitsdimensionen, die relativ unabhängig voneinander sein können (vgl. z.B. Hradil 1987). Gerade für die Lebensphase Alter stellt sich – unter veränderten Einkommens-, sozialen und Gesundheitsmustern – die Frage, welche Dimensionen sozialer Ungleichheit bedeutsam bleiben bzw. werden und wie Wirkungszusammenhänge zwischen Ursachen und Ausprägungen sozialer Ungleichheit zu denken sind. In den größeren Altersstudien der letzten Jahre – Berliner Altersstudie und Alters-Survey – wird auf der „Bedingungsseite“ vom Konstrukt der „sozialen Schicht“ ausgegangen (Mayer, Wagner 1996, S. 253; Kohli et al. 2000, S. 321), das nach dem letzten Beruf bzw. der beruflichen Stellung konzipiert ist. Auf der Seite der potenziellen Wirkungen bezieht sich die BASE auf vier Aspekte der Lebenslage: die materielle Lebenslage, die gesellschaftliche Beteiligung, soziale Lebensformen und soziale Versorgung sowie die körperliche und seelischgeistige Gesundheit (Mayer, Wagner 1996, S. 253). Schon hier sei gefragt, ob nicht auch Dimensionen horizontaler Ungleichheit – wie funktionaler Altersstatus, Geschlecht, Ethnie, Regionalität – bereits auf der Bedingungsseite erscheinen sollten oder ob z.B. hier Ursache-Wirkungs-Linien überhaupt sinnvoll separiert werden können.
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Zentrale Überlegungen der Ungleichheitsproblematik im Alter betreffen die Frage der Veränderung von Struktur und Wirksamkeit sozialer Ungleichheiten im Lauf des Alternsprozesses. Dazu liegen folgende Thesen vor (vgl. Mayer, Wagner 1996, S. 254f.; Kohli et al. 2000, S. 319): 1. 2. 3.
die Kontinuitätsthese bzw. These sozioökonomischer Differenzierung die Kumulations- und die Destrukturierungsthese die These der Altersbedingtheit
Zu 1) Die Kontinuitätsthese geht davon aus, dass die im Erwerbsleben über Arbeitsmarktprozesse erlangte Position im System sozialer Ungleichheit im Ruhestand und bis in das höhere Alter weiter bestehen bleibt. Die soziale Lage im Alter wird so als Ergebnis des Lebenslaufs verstanden, indem die Schichtzugehörigkeit auch im Ruhestand differenzierend weiter wirkt. Ungleichheitspositionen der sozialen Lebenslage älterer und alter Menschen sind danach nicht in erster Linie Folge von Alternsprozessen, sondern werden in materieller Hinsicht, gesellschaftlicher Beteiligung und sozialen Beziehungen von den weiter differenziell wirksamen Voraussetzungen der Schichtzugehörigkeit geprägt. Zu 2) Die Kumulations- und die Destrukturierungsthese gehen von einer erhöhten bzw. rückläufigen Wirkung der Schichtzugehörigkeit im Alter aus. Nach der Kumulationsthese verschärft sich die Wirksamkeit vertikaler sozialer Ungleichheit im Alter, da z.B. gesundheitliche Einschränkungen mit Hilfe ökonomischer Ressourcen oder früher erworbenem kulturellen und sozialen Kapitel abgefedert oder sogar kompensiert werden könnten. Die These der Destrukturierung geht umgekehrt davon aus, dass zunehmende gesundheitliche Einschränkungen im Alter die mit der Schichtzugehörigkeit verbundenen sozialen Differenzen immer mehr einebnen. Zu 3) Die These der Altersbedingtheit schließlich sieht das Alter als primäre Ursache der sozialen Lage in dieser Lebensphase. Alter wirke sich dabei nicht nur über materielle Einbußen, sondern auch über universale Prozesse nachlassender physischer und psychischer Kräfte, über soziale Zuschreibungen (Altersbilder) und einschlägige institutionelle Regelungen aus (z.B. Rentensenkungen wegen des „demographischen Faktors“ oder die weitgehende Bindung der Rentenhöhe an lebenszeitliche Erwerbseinkommen). Die wenigen zuverlässigen empirischen Ergebnisse zeigen, dass sich eine einfache Übernahme bzw. Fortschreibung ungleichheitstheoretischer Annahmen über die Erwerbsphase hinaus verbietet. Im Alters-Survey „werden alle drei Thesen bestätigt und gleichzeitig widerlegt“ (Kohli et al. 2000, S. 333). Bei genauerer Betrachtung werden die Thesen kaum der Dynamik von Lebenslagen in einer z.T. sehr langen Altersphase sowie den Auswirkungen weiterer horizontaler Dimensionen der Ungleichheit gerecht. So lässt sich z.B. keine dieser Thesen
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vollständig und ohne erhebliche Einschränkungen bezüglich der Hochaltrigen vertreten (Amann 2004), auch für jüngere Alte sind allgemeine Zusammenhänge zu differenzieren. Der Alternsprozess geht oftmals mit Einschränkungen in der gesellschaftlichen Beteiligung und in der sozialen Autonomie einher – so verringern sich soziale Kontakte, Kirchenbesuch, bürgerschaftliches Engagement. Dagegen finden sich in der materiellen Lebenslage verschiedener Alterskohorten (hinsichtlich Haushaltsnettoeinkommen, Sozialhilfe, Wohneigentum etc.) durchschnittlich nur geringe Unterschiede. Hier erklären weiterhin wirksame Schichtdifferenzen Unterschiede in der materiellen Lage und bestätigen die These der sozioökonomischen Differenzierung, wobei auch Kohorteneffekte weiter wirken. Eine bei den meisten Menschen im Verlauf des Alterns abnehmende kulturelle und soziale Beteiligung – die relativ unabhängig von der Sozialschicht zu beobachten ist – stützt die These der Altersbedingtheit. Dies hängt wahrscheinlich mit gesundheitlichen Einbußen im Alternsprozess zusammen. Zur Kumulationsthese finden sich für einzelne Altersgenerationen unterschiedliche, z.T. widersprüchliche, die These stützende oder auch widerlegende Befunde. Amann (2004) sieht eine Evidenz dieser These für Gruppen der jüngeren Alten. Für Hochbetagte dagegen konstatiert er eine Abschwächung sozioökonomischer Einflüsse, die auf eine wachsende Bedeutung des funktionalen Alterns verweisen. Allerdings zeigen sich auch hier sozial differenzierende Beispiele, wie z.B. das geringere Risiko einer Heimunterbringung in höheren Sozialschichten bei gleichzeitig höherer Inanspruchnahme professioneller Hilfen. Deutlich wird bereits, dass neben der materiellen Disposition, die häufig in der früheren Berufsposition und entsprechender Klassenzugehörigkeit begründet ist, eine Anzahl weiterer Ungleichheitsdimensionen die Positionierung im System sozialer Ungleichheit bewirken. Aus meiner Sicht muss von einer generellen Verflechtung der Merkmale Klasse, Alter, Geschlecht und Ethnizität (McMullin 2000, S. 517) ausgegangen werden, die sich in ihrer jeweiligen Konstellation hinsichtlich von Macht und Einfluss, aber auch nach Ressourcen und Handlungsspielräumen unterscheiden. Diese Merkmale verbinden sich mit weiteren „horizontalen“ Dimensionen sozialer Ungleichheit – wie Gesundheit, Wohn- und Lebensraum oder Regionalität – zu spezifischen Ungleichheitsclustern, die sich auch vertikal in eher günstige oder ungünstige Lebenslagen klassifizieren lassen. Damit sind wesentlich differenziertere Unterscheidungen von Entwicklung und Formen sozialer Ungleichheit als in den genannten Thesen möglich. Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – wie durch den Altersstruktur- und demographischen Wandel – markieren die gesellschaftlichen und individuellen Voraussetzungen heutiger sozialer Ungleichheit in der Lebensphase Alter. Darauf soll im Folgenden weiter eingegangen werden.
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4 Bedeutsame Entwicklungen zur Differenzierung sozialer Ungleichheit im Alter Soziale Ungleichheit kann in der Generationenperspektive oder innerhalb der Gruppe älterer und alter Menschen analysiert werden. Die Generationenperspektive wird zunehmend unter dem Diktat der demographischen Entwicklung diskutiert, z.B. in Hinsicht auf die Entwicklung der sozialstaatlichen Sicherungssysteme und der Rechte künftiger Generationen. Die Veränderung institutioneller Regelungen – wie in der Rentenversicherung – wird zu einem erneuten Ansteigen der Altersarmut und zur stärkeren Spreizung der Ungleichheit im Alter führen. Ursachen sind ein zunehmendes Einkommensgefälle im Erwerbsleben, mehr Patchwork-Erwerbsbiographien sowie der Ausbau der Eigenvorsorge für das Alter bei unterschiedlicher Fähigkeit und Bereitschaft dazu. Selbst das Erbgeschehen – in diesem Jahrzehnt werden ca. zwei Billionen Euro vererbt (Braun et al. 2002) – wird die Ungleichheit zum Alter hin und im Alter weiter verstärken. Wie sind genderspezifische Entwicklungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf soziale Ungleichheit einzuschätzen? Bekanntlich haben Frauen in der BRD eine durchschnittlich sechs Jahre höhere Lebenserwartung als Männer. Ist diese längere Lebenszeit ein für Frauen per se positives Merkmal im System sozialer Ungleichheit? Studien über Hochaltrigkeit lassen daran zweifeln (vgl. Backes, Clemens 2003b). Untersuchungen zu Prävalenzraten von Behinderungen und Hilfebedürftigkeit weisen einen negativen Alterseffekt nach. Mit dem höchsten Alter gibt es einen sprunghaften Anstieg der Hilfebedürftigkeit, bei der Frauen – nicht nur quantitativ, sondern auch relativ – überrepräsentiert sind (Amann 2004). So steht z.B. die steigende Prävalenz von demenziellen Erkrankungen im Zusammenhang mit zunehmender – vor allem weiblicher – Langlebigkeit. Allerdings ist für den Fokus „soziale Ungleichheit“ nicht die Lebenserwartung an sich, sondern die durchschnittliche Erwartbarkeit einer behinderungsfreien, d.h. gesunden oder „aktiven“ Lebenserwartung bedeutsam. Zwar gibt es inzwischen auch für Deutschland empirische Hinweise darauf, dass von einer sog. „Kompression der Morbidität“ (Fries) ausgegangen werden kann, d.h. dass die Lebenserwartung in Gesundheit schneller ansteigt als die Gesamtlebenserwartung (Klein, Unger 2002, S. 529). Allerdings zeigen internationale Studien, dass die Kompressionsthese eher für Angehörige höherer Sozialschichten zutrifft, während für Unterschichtangehörige eher die sog. Medikalisierungsthese gilt, nach der die letzten Lebensjahre vermehrt von Multimorbidität, funktionalen Einschränkungen sowie einer erhöhten und verlängerten Pflegebedürftigkeit gekennzeichnet sind (Clemens, Naegele 2004). Die unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen wirkt sich auch in verschiedenen Haushalts- und Lebensformen sowie Sozialbeziehungen aus. Männer über 70 Jahre leben überwiegend in Zweipersonenhaushalten und
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sind verheiratet, Frauen dieses Alters sind überwiegend verwitwet und leben in Einpersonenhaushalten. Pflegebedürftige ältere Männer werden überwiegend von ihren Partnerinnen gepflegt, pflegebedürftige Frauen machen dagegen den Großteil der Bewohner von Institutionen der Altenhilfe aus (vgl. Backes, Clemens 2003a). Natürlich unterscheiden sich die Ungleichheitsbedingungen von älteren Frauen nach der Schichtzugehörigkeit, trotzdem finden sich generelle geschlechtsspezifische Muster. Diese zeigen sich auch im Zusammenhang von Geschlecht, Lebensform und Mortalität: Allein lebende Männer weisen eine höhere Mortalität auf als verheiratete, bei Frauen ist dies umgekehrt (Hoffmann 2004). Eine deutlich unterschiedliche Lebenserwartung lässt sich auch nach Schicht- und Klassenlage, vor allem nach dem früheren Beruf, nachweisen (Ritz 1991). Unter dem Motto „Wenn du arm bist, musst du früher sterben“ wird die Ungleichheitsstruktur doppelt reproduziert: Geringere Bildungschancen und geringer qualifizierte, i.d.R. auch stärker belastende Berufstätigkeit während der Erwerbsphase haben – in unserem System der Alterssicherung – einerseits zu entsprechenden Disparitäten der materielle Lebenslage geführt. Andererseits finanzieren die Älteren mit den früher schlechteren Berufsrisiken – bei bis zu acht Jahren geringerer Lebenserwartung – die Alterseinkommen der langlebigen besser Gestellten mit. Hinsichtlich der Morbidität und der selbst eingeschätzten Gesundheit zeigen sich deutliche Unterschiede nach Schichtzugehörigkeit zum Nachteil unterer Sozialschichten, auch wenn sich diese Unterschiede jenseits des 70. Lebensjahres verringern (Lampert et al. 2005). Allgemein ist daher die Frage nach dem Einfluss des sozialen Status auf Morbidität und Mortalität im hohen Alter zu stellen (vgl. Hoffmann 2004). Sozioökonomisch bezogene Mortalitätsunterschiede erweisen sich jenseits des 59. Lebensjahres als relativ konstant, eine Nivellierung dieser Unterschiede mit steigendem Alter ist nicht zu erkennen. Ungleichheiten in herkömmlichen Schichtdimensionen werden besonders im höheren Alter zu Gesundheitsunterschieden. Diese Aspekte verweisen nachdrücklich auf die Notwendigkeit einer biographischen Analyse sozialer Ungleichheit bis zum Ruhestand und in der Altersphase (Kohli 1992). Als weiteres strukturelles Merkmal tragen ethnische Unterschiede zur sozialen Ungleichheit bei. Ältere Ausländer in Deutschland (vgl. DietzelPapakyriakou 1993) weisen eine geringere Lebenserwartung, eine schlechtere materielle Lage und andere Morbiditätsmuster auf. Formen der institutionellen Altenhilfe mit spezifischen Angeboten für ältere Migrantinnen und Migranten sind kaum entwickelt. Kulturelle Unterschiede des Alterns führen – vor allem bei türkischen Migranten – in Fällen von Hilfebedürftigkeit häufig zu prekären Lebenslagen dieser Bevölkerungsgruppe, zu eingeschränkten subjektiven Handlungsoptionen und im Vergleich zu deutschen Altersgruppen zu verringerten Handlungsspielräumen.
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Allgemein ergeben sich mit der Hochaltrigkeit – neben den bereits genannten – weitere Entwicklungen, die in Kombination mit anderen Dimensionen der Ungleichheit wirksam werden. Gemeint sind die zunehmende Ausprägung körperlicher und psychischer Erkrankungen und die wachsende Bedeutung funktioneller Gesundheit als Basis von sozialer Teilhabe und Handlungsfähigkeit. In der letzten Phase des Lebens gibt es Veränderungen, die weder aus einer Kontinuität der Lebenslaufentwicklung oder aus der Häufung von Einflussfaktoren, noch schließlich aus einer allgemeinen Altersabhängigkeit zufrieden stellend erklärt werden können. Hier wirkt die Unterscheidung von stochastischen und deterministischen biologischen Alternsprozessen (vgl. Backes, Clemens 2003, S. 94). Genetisch gesteuerte Alterungsprozesse folgen keiner sozialen oder psychischen Verursachung, bestimmen aber die Lebenslage und den Verlauf primärer und „mit-alternder“ Krankheiten. Allgemeine Hinweise auf diese Prozesse finden sich: im psychischen Bereich der Selbstwahrnehmung emotionaler Veränderungen und der internen und externen Handlungskontrolle, im physischen Bereich der sensorischen Veränderungen, der körperlichen Erkrankungen und der Multimorbidität wie auch der Entwicklung krankheitsunabhängiger Gebrechlichkeit, im sozialen Bereich der gesellschaftlichen Teilhabe, der sozialen Integration und der Mobilität (vgl. Mayer, Baltes 1996; Amann 2004). Ein vorläufiges Fazit zeigt die Bedeutung, der alter(n)sspezifische Entwicklungen für die Ausformung sozialer Ungleichheit im Alter zukommen. Zwar wirken lebenszeitlich erworbene und entwickelte Schichtdifferenzen – vor allem nach materiellem, aber auch Bildungsstatus – weiter, werden aber im Alter durch spezifische Entwicklungen gebrochen und erzeugen neue Muster sozialer Ungleichheit hinsichtlich Ressourcen, von Macht und Handlungsoptionen.
5 Auswirkungen auf Theoriebildung und empirische Forschung Die Entwicklung von Theorien sozialer Ungleichheit hat sich in den letzten Jahrzehnten maßgeblich an der Kontroverse zwischen traditionellen Schicht- und Klassenkonzepten – also Perspektiven vertikaler Ungleichheitsdimensionen – und kulturalistischen Ansätzen auf der Grundlage von Individualisierung, Pluralisierung der Lebensformen, Herausbildung von Milieus und Lebensstilen mit horizontalen Dimensionen sozialer Ungleichheit orientiert (Hradil 1987). Dass sich Lebensformen inzwischen auch unter älteren Menschen pluralisiert haben und diese verschiedenartige Milieus und Lebensstile ausprägen (vgl. z.B. Tokarski 1989, 1998), dürfte unbestritten sein. Unterschiedliche Lebensstile sind
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nicht nur gleichzeitig, sondern auch biographisch gesehen nacheinander zu beobachten (Tokarski 1998, S. 118). Empirische Ergebnisse der Berliner Altersstudie und des Alters-Survey, die in der operationalen Konzeption sozialer Ungleichheit im Alter von Schicht- und Klassenansätzen ausgehen, betonen die Bedeutung der Einflüsse sozialer Schicht und anderer sozioökonomischer Faktoren, also vertikaler Dimensionen. Dass den Verfassern beider Studien nicht ganz wohl dabei ist, zeigt sich daran, dass in der BASE „weitere Indikatoren sozialer Ungleichheit“ (Mayer, Wagner 1996, S. 253) einbezogen werden und Kohli et al. (2000, S. 321) die Frage ausklammern, „wie ein eigens auf den Ruhestand bezogenes Ungleichheitskonzept aussehen könnte“. Dieser Pragmatismus verweist allerdings auf die Einsicht, dass ein solches sinnvoll ist bzw. sein könnte. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen: Unter Berücksichtigung der besonderen, z.T. veränderten Lebenslage im Ruhestand sowie lebenszeitlicher Entwicklung hin zum hohen Alter muss eine eindimensionale Konzeptualisierung auf der Basis vertikaler oder horizontaler Dimensionen sozialer Ungleichheit unangemessen erscheinen. Nicht nur der (überwiegende) Wegfall beruflicher Bezüge und die neue Verortung im Machtgefüge zwischen Generationen (u.a. auch über institutionelle Regelungen und Altersbilder), sondern auch die wachsende Bedeutung des funktionalen Alters (über Handlungsspielräume) und struktureller Merkmale – wie Geschlecht und Ethnie – erzwingen ein pragmatisches Konzept sozialer Ungleichheit im Alter, das vertikale und horizontale Dimensionen in einem dynamischen Ansatz mit lebenszeitlichem Verweisungszusammenhang (Kohli) integriert. Damit muss erneut auf den Beitrag von Kohli (1990, S. 399ff.) zur Theoriebildung verwiesen werden. Seine eingeforderte biographische Konzeption sozialer Ungleichheit fragt nicht nur danach, „ob Kontinuität oder Diskontinuität der Klassenlage vom Erwerbsleben zum Ruhestand vorherrsche“, sondern nach Strukturbedingungen und Prozessen, „unter denen Kontinuität aufrechterhalten bleibt oder Diskontinuität entsteht, und der Dimensionen der Lebenslage, die dafür relevant sind.“ Mit dieser Forderung „nach Verzeitlichung des theoretischen Apparats“ verweist er auf den biographischen Bezug von Lebenslagen und Ungleichheitsphasen. Allerdings endete seine Perspektive bei den jüngeren Alten, sie müsste auf Hochaltrigkeit hin weitergedacht werden. Kohli thematisiert aber aus der Perspektive der „Verzeitlichung“ eine Reihe wichtiger Fragen, die z.T. im Alters-Survey aufgenommen wurden, aber einer intensiveren empirischen und theoretischen Analyse harren: So fragt er z.B., in „wie weit für Ältere die Klassenlage ihrer Kinder anstelle der mit ihrer früheren Arbeit verbundenen zum zentralen Bezugspunkt werden kann“ (Kohli 1992, S. 400), wenn er hinsichtlich der Klassenlage im Alter von einer „Entindividualisierung“ im Sinne einer stärken Einbindung in die familiale Beziehungsstruktur spricht. Hinsichtlich geschlechtsspezifischer Ungleichheit sieht er einerseits eine Vertiefung
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durch Altersarmut – vorwiegend von Frauen als Folge des auf Erwerbstätigkeit zentrierten Rentensystems –, andererseits eine strukturelle „Feminisierung“ von älteren Männern, die im Ruhestand die Erwerbsposition aufgeben mussten und „sich stärker auf die Ehe und Haushaltsführung als alltägliches Ordnungsschema verwiesen (sehen)“ (Kohli 1992, S. 401). Als Quintessenz seiner Ausführung lassen sich hinsichtlich einer theoretischen Konzeptualisierung sozialer Ungleichheit im Alter mindestens zwei Forderungen begründen: Erstens muss die Lebensverlaufperspektive – auch als strukturelle Ordnungsschemata unterschiedlicher Kohorten (vgl. Mayer 1990) – sowie die biographische Perspektive subjektiver Bewertung lebenszeitlicher Entwicklung zur Erklärung von Ungleichheitsphasen und deren Voraussetzungen berücksichtigt werden. Zweitens sollten gerade für die Lebensphase Alter erklärende Konzepte zur Begründung sozialer Ungleichheit entwickelt werden, die die Vielzahl der Ungleichheitsdimensionen angemessen erfassen und die Verbindung zwischen der Struktur- und der Handlungsebene herstellen können. Zu denken wäre dabei z.B. an das soziologische Konzept der „Lebenslage“, in dem strukturelle Dimensionen als Voraussetzungen für Handlungsspielräume thematisiert werden (vgl. Clemens 1994, 2004; Clemens, Naegele 2004). Der Kern des soziologischen Lebenslagenkonzeptes ist die dialektische Beziehung zwischen „Verhältnissen“ und „Verhalten“. Lebenslagen sind Ausdruck gesellschaftlich produzierter Ungleichheitssysteme, in ihnen wird die jeweils vollzogene und sich vollziehende Vermittlung zwischen Struktur und der ihre Realität produktiv verarbeitenden Subjekte manifest.“ (Amann 2000, S. 58) Nach diesem Verständnis sind Lebenslagen – anders als in der Berliner Altersstudie – Ursachen oder Bedingungen sozialer Ungleichheit, die in Form von Ressourcen und Handlungsspielräumen unterschiedliche Lebenschancen auf der Seite potenzieller Wirkungen generieren.
6 Fazit Ausgangspunkt dieses Beitrags war die von Kohli (1990) getroffene Einschätzung der „ungleichheitsempirischen Selbstvergessenheit“ als Ausdruck einer weitgehend anwendungsbezogenen, auf Verwertungszusammenhänge der Praxis fixierten und disziplinär randständigen Alter(n)ssoziologie bis Ende der 1980erJahre. Inzwischen ist diese einseitige Perspektive von Seiten der empirischen Alter(n)ssoziologie ansatzweise überwunden, da die großen – auch soziologisch/sozialpolitisch orientierten – Alternsstudien sich in den 1990er-Jahren explizit der Frage sozialer Ungleichheit gewidmet haben. Gerade auch wegen der – selbst eingestandenen – suboptimalen Operationalisierung konnten sie Fragen
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an die Theoriebildung im Zusammenhang mit Alternsprozessen formulieren. Diese Studien haben wiederum weitere empirische wie konzeptionelle Diskussionen in Gang gesetzt (vgl. z.B. Motel 2001; v.d.Knesebeck, Hüfken 2001). Zusammenfassend lassen sich folgende zentrale Prämissen einer möglichen Ungleichheitstheorie des Alterns formulieren: –
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In Ergänzung bestehender Konzepte „vertikaler“ und „horizontaler“ Ungleichheitsformen ist eine lebenszeitliche Perspektive, eine biographische Konzeption sozialer Ungleichheit zu entwickeln (Kohli 1990, 1992). Eine dynamische Perspektive sollte auch für die – z.T. sehr lange – Lebensphase im Alter beibehalten werden und vor allem auch Veränderungen im höheren und hohen Lebensalter erfassen. Zur Unterscheidung von Ungleichheitsprozessen einzelner Gruppen älterer und alter Menschen sind Kohorteneffekte sowie die Beschleunigung demographischer und biographischer Prozesse im Zeitverlauf zu beachten. Bei einer Betrachtung der Entwicklung sozialer Ungleichheit zwischen verschiedenen Alterskohorten bzw. Generationen fällt allerdings auf, dass intragenerationale Unterschiede größer sind als intergenerationale. Strukturelle Merkmale – wie Klasse/Schicht, Alter, Geschlecht und Ethnie – sind in ihrem jeweils spezifischen Zusammenwirken zu analysieren, um so auch – in „Anwendungsperspektive“ sozialpolitisch relevante – Risikogruppen identifizieren zu können. Ressourcen und Handlungsfähigkeit als Merkmale sozialer Ungleichheit im Alter entwickeln sich differenziell aufgrund multifaktorieller biologischer, psychischer und sozialer Alternsprozesse. Zur Analyse sozialer Ungleichheit im Alter bedarf es einer Erweiterung des Ressourcenbegriffs – über ökonomische hin zu lebensnahen Ressourcen, wie Gesundheit und soziale Netzwerke, in Form von Handlungskompetenz und Handlungsfähigkeit. Auf der Metaebene sind Ressourcen und Lebenschancen auf dem Hintergrund von lebenslaufbezogener „sozialer Identität“ (Hockey, James 2003) zu analysieren. Ein auf den Ruhestand bezogenes Ungleichheitskonzept kann nicht einfach auf Merkmale früherer Berufstätigkeit abheben, sondern muss die Besonderheiten der Altersphase – und damit auch Dimensionen horizontaler Ungleichheit und spezifischer Alternseffekte – einbeziehen. Trotzdem sollte – z.B. unter Bezug auf das soziologische Konzept der Lebenslage (Amann, Hradil) – auch ein hierarchisches (vertikales) Konzept vorteilhafter und benachteiligter sozialer Lagen und entsprechender Handlungsspielräume entstehen, das für sozialpolitische Regelungen anschlussfähig wird.
„Ungleichheitsempirische Selbstvergessenheit“ der Alter(n)ssoziologie –
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Letztlich sind damit auch die Rolle des Staats, institutioneller Regelungen sowie Formen generationenbezogener Machtverteilung – und deren Veränderung im gesellschaftlichen Wandel – als Voraussetzungen von Ressourcen und Lebenschancen älterer und alter Menschen zu reflektieren.
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Alter als Kategorie sozialer Ungleichheit? Andrea Kottmann
1 Welches Alter fordert die Theorie der sozialen Ungleichheit heraus? Das Alter, so formulierte Kohli bereits 1990, stellt die Theorie sozialer Ungleichheiten vor neue Herausforderungen. Die zumeist an das Erwerbssystem gekoppelten traditionellen Begrifflichkeiten der Sozialstrukturanalyse würden es schwierig bis unmöglich machen, die Lebenssituation der Alten adäquat erfassen zu können. Diese, im Zusammenhang mit dem demographischen Wandel größer werdende und auch an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnende Gruppe Älterer verlange nach einer Neubestimmung des Begriffsapparates und der stärkeren Integration einer biographischen Perspektive in die Betrachtung der sozialen Ungleichheit. Die Situation der Alten soll damit erfassbar und zu jener von Personen, die sich noch in der Lebensphase der Erwerbsarbeit befinden, vergleichbar werden. Kohlis Kritik an dem Bias der Theorie der sozialen Ungleichheit, ihre Begrifflichkeiten vorrangig auf das die mittlere Lebensphase prägende Erwerbssystem auszurichten, ist immer noch aktuell. In den verschiedenen theoretischen Weiterentwicklungen der vergangenen Jahre, insbesondere im Zusammenhang mit der Diskussion der neuen sozialen Ungleichheiten, wurden verschiedene Anstrengungen unternommen, Ansätze und Theorien zu schaffen, mit denen soziale Disparitäten jenseits des Erwerbssystems erfasst werden können. Gleichzeitig lässt sich aber auch ein breiter Strom von Arbeiten zu den ‚neuen’ sozialen Ungleichheiten ausmachen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie die traditionell in der Soziologie als askriptiv behandelten Merkmale von Personen als Ausgangspunkt nehmen und von dort aus versuchen, zugehörige ‚neue’ Vergesellschaftungsmechanismen zu bestimmen, die zur Entstehung ‚anderer’ gesellschaftlicher Disparitäten beitragen. Die Kategorien Geschlecht, Rasse und Ethnie stellen in diesem Zusammenhang die bedeutendsten Klassifikationen dar. (vgl. Weiß et al. 2001). Alter in der Form als chronologisches Alter oder als Bezeichnung der Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe spielte hier als weiteres, askriptives Merkmal nur eine untergeordnete Rolle (vgl. dazu auch Linton 1942).
Ich danke Jürgen Enders, Stephan Lessenich und ganz besonders Hartmut Rosa für die fruchtbaren Diskussionen grundlegender Ideen.
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Dabei ist die Auseinandersetzung mit der Kategorie Alter als Prinzip der sozialen Organisation und auch als Determinante der Verteilung von Lebenschancen heute mehr als aktuell. Und dies nicht allein in seiner Bedeutung zur Bezeichnung der Lebensphase Alter, sondern in seiner Bedeutung als chronologisches Alter (vgl. Backes, Clemens 2003). Das chronologische Alter von Personen, so die hier vertretene zentrale Überlegung, gewinnt im weiteren gesellschaftlichen Veränderungsprozess eine neue Stellung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und für die Beschreibung der Gesellschaft. Sie verändert sich in diesem Prozess von einem mehr im Hintergrund wirkenden zu einem sichtbaren, gesellschaftlich verhandelten Strukturprinzip der sozialen Organisation. Dabei werden die Lebensalter in diesem gesellschaftlichen Wandlungsprozess historisiert, d.h. in erster Linie, dass sie zu sozialen Klassifikationsmustern werden, mit denen die Zugehörigkeit zu einem Geburtsjahrgang oder zu einer Spanne von Geburtsjahrgängen zu einer gesellschaftlich akzeptierten Kategorie wird. Die Form bzw. die Thematisierung sozialer Ungleichheit wird davon ebenso beeinflusst: Soziale Differenzen werden als durch den Geburtszeitpunkt bedingt angesehen und mit Hilfe des (chronologischen) „Alters“ repräsentiert. Die Analyse dieser ‚altersbedingten’ Ungleichheiten ist insbesondere aufgrund von zwei zentralen gesellschaftlichen Entwicklungen lohnenswert. Dies ist zum einen der demographische Wandel, der eine tief greifende Umschichtung der Alterszusammensetzung bewirken wird. Damit werden im gesellschaftlichen Diskurs die Altersdarstellungen in spezifische Bahnen gelenkt: Zum einen werden die Neudefinitionen von Altersrollen und Lebensphasen in besonderer Weise an die ökonomischen Erfordernisse rückgebunden. Analog zur Institutionalisierung des Lebenslaufes, in der auch die Durchsetzung ökonomischer Erfordernisse für die Zurichtung der Arbeitskraft ihren Ausdruck fand, lässt sich in diesem Prozess ein Diskurs ausmachen, mit dem die Strategien der Nutzung menschlicher Arbeitskraft im Alterungsprozess neu bestimmt werden (vgl. Bullinger 2002). Zum anderen nimmt der fortgesetzte Wandel der gesellschaftlichen Zeitsemantik, der über den Prozess der „Verzeitlichung der Zeit“ die Historisierung der Lebensverhältnisse (vgl. Rosa 2005) zur Folge hat, hier Einfluss. Die Lebensalter und die Altersordnung einer Gesellschaft erfahren damit einen grundlegenden Wandel ihrer Qualität: Fungieren sie derzeit noch als universal gültige normative Muster, die einen zumeist von den historischen Umständen unabhängigen Charakter aufweisen, die im alltäglichen Zusammenleben mehr als Hintergrundwissen von Bedeutung sind, verändern sie sich in konkrete, auf die historische Zeit Bezug nehmende Regelungsmuster, die über eine begrenzte Gültigkeitsdauer verfügen. In diesem Prozess wird der Begriff des Alters nicht als Bezeichnung der späten Lebensphase, sondern in seiner Bedeutung des historischen (chronologischen) Alters wichtig. Dieser Verzeitlichungsprozess führt auch zu einer Veränderung der Sozialstruktur. Individuen bzw. Angehörige von Geburtsjahr-
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gängen nehmen nun an einem jeweils einzigartigen Ausschnitt der gesellschaftlichen Geschichte teil und entwickeln in diesem Zusammenhang ihren eigenen zeitlichen Bezugshorizont. Der gemeinsame zeitliche Horizont der Moderne zerbricht hier in einen Pluralismus verschiedener Zeitbezüge. Die Einzigartigkeit von Lebensverläufen, die hiermit entsteht, führt zu einer zeitlichen Differenzierung der Sozialstruktur (vgl. Abschnitt 2). Ein alternativer theoretischer Entwurf, mit dem versucht wurde, die Ungleichheit zwischen den verschiedenen Altersgruppen nachzuzeichnen, wurde bislang nicht vorgelegt. Die Theorie der sozialen Ungleichheit ist somit nicht nur in der Weise gefordert, Begrifflichkeiten zu finden und gesellschaftliche Mechanismen zu beschreiben, die sozialen Differenzen erfassen können, die jenseits des Erwerbssystems liegen und somit die Lebensphase des Alters berücksichtigen können. Die besondere Herausforderung des Alters für die Theorie sozialer Ungleichheit liegt vielmehr darin, den Aspekt der Historisierung der Lebensalter auszubauen. Eine solche Theorie würde das Alter in seiner chronologischen Bedeutung aufgreifen und versuchen, auf die Vergesellschaftungsmechanismen Bezug zu nehmen, die das Zusammenleben der verschiedenen Altersgruppen regeln und in diesem Zusammenhang soziale Ungleichheiten zwischen ihnen entstehen lassen. Der folgende Text versucht, einen Schritt in diese Richtung zu unternehmen. In ihm soll ein erster theoretischer Entwurf, der es möglich macht, altersbedingte soziale Ungleichheiten zu erfassen, in seinen Grundzügen vorgestellt werden. Erforderlich ist dafür in weiten Bereichen eine Umstellung und Revision der traditionellen Begrifflichkeiten der Ungleichheitstheorie. Um dieses zu erreichen, wird in einem ersten Schritt die Besonderheit der Kategorie Alter als historische Kategorie sowie die zeitliche Differenzierung der Sozialstruktur erörtert. Das Ziel ist dabei, das Alter als Kategorie sozialer Ungleichheit zu definieren (vgl. Abschnitt 2). Auf dieser Basis bauen die weiteren Schritte auf: die Beschreibung der Bedingungen und Chancen, die als soziale Strukturen das Leben dieser zuvor definierten historischen Altersgruppen prägen (vgl. Abschnitt 3). Die Beziehungen zwischen den Altersgruppen und der Beitrag, den diese zur Herstellung einer gesellschaftlichen Altershierarchie leisten, stellen den letzten Schritt in diesem Aufriss dar (vgl. Abschnitt 4).
2 Sozialstruktur als zeitliche Differenzierung Die Akzeptanz der Idee, dass soziale Ungleichheiten auch in zeitlicher Hinsicht stratifiziert sind, macht es notwendig, Annahmen, Klassifikationen und Begrifflichkeiten an diese veränderte Sichtweise anzupassen. Der Bezug der verschie-
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denen Elemente auf die Zeit bzw. die Zeitlichkeit des Lebens sollte dabei umfassend sein und sich nicht nur auf ein Element der Darstellung beziehen. Dieser Abschnitt geht hierauf genauer ein, beschreibt dafür das grundlegende Erscheinungsbild dieser zeitlichen Differenzierung und die Klassifikation der historischen Altersgruppe, mit der die Statuspositionen in diesem Gefüge erfasst werden sollen.
2.1 Das Bild der Sozialstruktur Traditionelle Repräsentationen der sozialen Ungleichheit stellen die Sozialstruktur einer Gesellschaft zumeist als ein räumliches Gebilde dar, das die Verteilung von Personen mit unterschiedlichen Statuspositionen oder Lebenslagen zu einem bestimmten Zeitpunkt zeigt (vgl. Barlösius 2004). Die Darstellungen versuchen dabei, Personen mit ähnlicher materieller Lebenssituation und subjektiver Ausgestaltung dieser Lebenslage zusammenzufassen und daraus ein – in einigen Fällen auch hierarchisches – Sozialgefüge abzuleiten. Bekannte Darstellungen sind z.B. die Zwiebel von Bolte, das Dahrendorf’sche Haus oder auch die Darstellung der sozialen Lagen und Milieus der Sinus-Studie. Die Darstellungen bauen dabei auf den Konstruktionsprinzipien der Klassifikation auf, stellen den relationalen Anteil einer Statusposition an der Bevölkerung dar und positionieren die Gruppen zueinander. Diese Darstellungen sind zumeist auf einen bestimmten Zeitpunkt begrenzt, die Entwicklungsgeschichten von Milieus, Schichten oder Klassen, die zu ihrem jeweiligen Platz in der Gesellschaft geführt haben, lassen sich in ihnen nicht erkennen. Für die Repräsentation der zeitlichen Differenzierung ist es dagegen sinnvoll, nicht materielle Lebensbedingungen und Mentalitäten miteinander zu verbinden, sondern verschiedene Zeiten miteinander zu kombinieren: Dies sind zunächst einmal der Ablauf der Lebenszeit sowie der Ablauf der chronologischhistorischen Zeit. Das Kohortendiagramm bietet sich für die Darstellung dieser Verbindung als Heuristik an (vgl. Riley et al. 1988, S. 244ff.). Durch die Kombination von zwei Zeitbezügen, das Lebensalter der Personen auf der Abzisse und den Ablauf der historischen in der Form von Jahreszahlen auf der Ordinate, ist es möglich, die Lebenszeit verschiedener Kohorten im Verhältnis zum Ablauf der Gesellschaftszeit zu betrachten. Der Ablauf individueller Lebenszeiten kann damit in den historischen Kontext eingebettet werden: Die spezifischen Bedingungen, unter denen von den einzelnen Kohorten etwa Übergänge in neue Lebensphasen bewältigt werden müssen oder das Lebensalters, in denen Kohorten jeweils von einem historischen Ereignis getroffen werden, werden damit fassbar. In diesem Sinne bietet das Kohortenmodell erst einmal die Möglichkeit, den Ablauf der Zeit aufzunehmen, der es möglich macht, Rückschlüsse auf die Entwicklung der einzelnen Kohorten zu machen (vgl. Abbildung 1).
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Alter als Kategorie sozialer Ungleichheit? Abbildung 1: Kohortendiagramm
Kohorte b
Kohorte c
Kohorte d
Lebenszeit
Kohorte a
Historische Zeit
Mit dieser Darstellung ist es allerdings noch nicht möglich, die Historisierung der Lebensalter und die Herausbildung von Realitätskorridoren zu beschreiben. Dafür ist die Integration einer dritten, qualitativen Zeitdimension notwendig. In der ursprünglichen Version verweisen die Linien, mit denen der Weg der Kohorten durch die Zeit als Verhältnis von Lebensalter und historischer Zeit dargestellt wird, auf einen quantitativen Zeitbegriff. Diese Interpretation baut vor allen Dingen auf der Vorstellung auf, dass das Modell des Lebenslaufes, die Bestimmung von Altersphasen und Altersgrenzen sich im Ablauf der historischen Zeit nicht verändert, ihnen somit ahistorische Gültigkeit zugeschrieben wird. Diese Attribution ist vor dem Hintergrund des Wandels der Zeitsemantiken, der Auflösung der Gültigkeit der Institution des Lebenslaufes nur schwer haltbar. Zieht man die Entwicklung der Verzeitlichung bzw. Historisierung der Lebensalter heran, können die Linien als Ausdruck qualitativer Zeit verstanden werden. In diesem Sinne stellen sie dann die Zeitkorridore oder Wirklichkeitsräume dar, die durch das Handeln der verschiedenen Geburtsjahrgänge geschaffen werden. Für diese Entwicklung ist die Herausbildung einer situativen Logik verantwortlich, die auf der Ebene von Individuen und Kollektiven einen Zwang zur autonomen Kontinuisierung und damit zur Konstruktion spezifischer Systemgeschichten ausübt. Darin nehmen diese sowohl auf die ‚internen’ als auch auf die Ereignisse in der Umwelt Bezug, die durch das System selbst als relevant wahrgenommen und zu einer Geschichte verbunden werden. Durch die Konstruktion dieser Geschichte gewinnt dann z.B. die Darstellung des Lebensverlaufes eines Individuums seinen historischen Charakter.
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Dieser Historisierungsprozess wiederum kann als Ausdruck der Umstellung der gesellschaftlichen Zeitsemantik verstanden werden. Das lineare Zeitverständnis der Moderne wird dabei durch ein reflexives Zeitbewusstsein ersetzt. Dieser Wandel steht im Zusammenhang mit der weiteren funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, und der damit verbundenen Spezialisierung, die eine zunehmende Verselbstständigung der Funktionssysteme und damit eine Pluralisierung von Zielsetzungen bewirkt. In der Folge wird die Synchronisation von Handlungsabläufen komplexer, eine Vielzahl konkurrierender Ansprüche und Zielsetzungen müssen in die Planung der Zukunft reflexiv berücksichtigt werden. Die Zukunft erscheint mit dieser Veränderung von daher nicht mehr als geschlossen, da die Wahrscheinlichkeit der Realisierung von Handlungszielen sich unter diesen Bedingungen nicht mehr rational kalkulieren lässt. Der Ausgang bzw. die Auswirkung von Planungen und damit auch die Zukunft werden hier als offen wahrgenommen. Der dazugehörige Prozess der Verzeitlichung der Zeit verändert hier die Qualität der Zeit nochmals. Rosa (2005, S. 365) beschreibt den wesentlichen Inhalt dieser Verzeitlichung der Zeit als: „…Rücknahme der Verzeitlichung des Lebens im Sinne eines zeitlich erstreckten Projekts.“ Für die Alltagspraxis heißt dies in der Konsequenz, dass sich Zeitspannen, für die Handlungen geplant werden, sukzessive verkürzen. Die Vorstellung, die Zukunft planen zu können, verliert an Gültigkeit: Die Abfolge bestimmter Sequenzen ist nur noch bedingt erwartbar; aufgrund ständig wechselnder Rahmenbedingungen müssen Planungen und Zielstellungen ständig revidiert werden. Der Zeithorizont, auf den das Handeln im Rahmen dieses Prozesses verstärkt ausgerichtet wird, verschiebt sich in die Gegenwart, deren wahrgenommene Dauer sich extrem verkürzt: Die Gegenwart beschränkt sich nun auf den Zeitpunkt der Situation, des Handlungsvollzugs oder der Entscheidung. Handeln vollzieht sich nun mehr aus der Situation heraus und gewinnt zunehmend den Charakter einer Entscheidung, mit der jeweils nach der vermeintlich anschlussfähigsten Option gesucht wird (Luhmann 1980; Hörnig et al. 1997). Dies hat sowohl Auswirkungen auf die Handlungsebene als auch auf die Vergesellschaftungsformen. Handlungsketten erscheinen jetzt nicht mehr als logische Abfolge planvoll aufeinander abgestimmter zielgerichteter Maßnahmen. Sie erscheinen vielmehr als oszillierende lose Koppelung verschiedener Handlungsereignisse, zwischen denen Verbindungen erst im Nachhinein konstruiert werden. Die Ablaufprogramme der Systeme weisen eine stärker situative Logik auf: Planungshorizonte verkürzen sich, ständige Revision in Zielstellungen und getroffenen Maßnahmen verhindern das Durchsetzen von Routinen. Für die Individuen bedeutet dieser Wandel insbesondere, dass zuvor zeitstabile Identifikationsmuster an Gültigkeit verlieren. Rollen, die bspw. in Familie oder auch im Beruf übernommen werden können, stellen keine langfristigen Bindungen mehr dar; sie können nicht allein frei gewählt werden, der beschleunigte soziale Wan-
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del verkürzt die Halbwertzeit von Wissen, Berufen, Qualifikationen oder auch intimen Beziehungen im steigenden Maße (vgl. Rosa 2005). Diese „Verzeitlichung der Zeit“ führt auch dazu, dass die Lebensalter eine neue Qualität gewinnen: Sie werden zu historischen Lebensaltern. Mit der Durchsetzung der Logik der Situation werden sie zunehmend zu einem Projekt der Darstellung altersspezifischer Eigenschaften durch ihre jeweiligen Träger. Dieser Wandel konfrontiert die Individuen zum einen mit der Anforderung, ihre Altersgruppe und ihr Alter in der Situation zu ‚performen’. Zum anderen sind sie – nimmt man die Längsschnittperspektive zur Grundlage – auch gefordert. Kontinuität für ihren Lebenslauf selbst herzustellen. Übergangsphasen oder Rollenwechsel, die zuvor auf dem Lebenslaufgerüst einer Gesellschaft aufbauten, verlieren an Verbindlichkeit, sie müssen nun inhaltlich ständig neu ausgefüllt werden. Auf individuellem wie auch kollektivem Niveau führt dieses dazu, dass für die Darstellung des Lebensverlaufes in einem zunehmenden Ausmaß die Kategorie der Biographie anstelle des Lebenslaufes genutzt wird. Deren Darstellung steht allerdings aufgrund der noch andauernden Verbindlichkeit des dreigliedrigen institutionalisierten Lebenslaufes unter einem starken Rechtfertigungsdruck: Abweichungen vom vorgegebenen Ablaufmuster wie auch von den phasenspezifischen Alterserwartungen stellen zwar keine Ausnahmen von der Regeln mehr da. Sie sind allerdings auch nicht in den Wissensbestand der Gesellschaft übergegangen – stellen somit – im Sinne von Berger, Luckmann (1966) keine sedimentierten Institutionen dar. Die ‚Ausnahmen von der Regel’ müssen vielmehr noch als kollektiv verbindliche Ablaufmuster durchgesetzt werden. Der Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit befindet sich hier somit noch in der Phase der Typisierung. Auch die Rollenkonzepte, die ursprünglich mit den verschiedenen Lebensphasen verbunden wurden, unterliegen diesem umfassenden Definitionsprozess. In der Folge erhält die zuvor angesprochene dritte Zeitdimension besondere Relevanz. Mit dem Zwang, das eigene Alter wie auch die eigene Lebensgeschichte darzustellen, bilden sich die Realitätskorridore für die einzelnen Geburtsjahrgänge heraus, wobei der Lebensverlauf in der Retrospektive immer wieder neu hergestellt wird. Mit der Integration dieser qualitativen Zeit ergibt sich eine erste Modifikation des Kohortendiagramms (vgl. Abbildung 2). Der Ablauf der Lebenszeit kann nicht mehr allein als gradliniger Ablauf quantitativer Zeit verstanden werden, sondern als Herausbildung eines historischen Verlaufs, dessen Kontinuität durch die Konstruktionsleistungen der Geburtskohorten hergestellt wird. Diese Veränderungen haben weit reichende Konsequenzen, die sich in einer veränderten Wahrnehmung und Repräsentation der Struktur sozialer Ungleichheiten niederschlagen. Die Entwicklung des Alters von einer mehr salienten zu einer ausagierten (enacted) Klassifikations-, Identifikations- und Deutungskate-
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gorie führt dazu, dass sich die gesellschaftlichen Diskurs- und Konfliktlinien, auf deren Grundlage soziale Ungleichheiten dann betrachtet werden, verändern: Soziale Differenzen werden dann auch im Hinblick auf das Alter festgestellt. Abbildung 2: Modifiziertes Kohortendiagramm
Kohorte b
Kohorte c
Kohorte d
Lebenszeit
Kohorte a
Historische Zeit
2.2 Generation, Kohorte oder Altersgruppe – historische Altersgruppen als Kategorie sozialer Ungleichheit Die Subjekte, für die diese Entwicklung betrachtet werden soll, sind die verschiedenen Geburtskohorten, die sich im Wesentlichen durch die Lagerung ihrer Lebensspanne in der Gesellschaftszeit und die daraus folgenden Voraussetzungen und Sachzwänge, mit denen sie leben müssen, unterscheiden. In diesem Sinne können die Geburtszeitpunkte als Determinanten sozialer Ungleichheit verstanden werden, da sie den Individuen einen spezifischen Startpunkt in der historischen Zeit geben. Die Sozialstruktur einer Gesellschaft als zeitliche Differenzierung lässt sich dann als Schichtung der Verlaufsbahnen von Geburtsjahrgängen in der historischen Zeit fassen. Für die Bildung von Klassifikationen bzw. Kategorien von Menschen bedeutet dieses, dass Spannen von Geburtsjahrgängen ermittelt werden müssen, deren typisches Verlaufsmuster sich dann signifikant von anderen unterscheidet. Allerdings ist die zeitliche Differenzierung nur schwer in klar abgrenzbare soziale Kategorien oder Klassifikationen zu übertragen. Wie auch bei anderen Kategorien bzw. Klassifikationsmuster in der
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Theorie sozialer Ungleichheit ist es hier schwierig, abgrenzbare Kategorien von Menschen zu bilden, die sich hinsichtlich ihrer materiellen Lebensbedingungen wie auch ihrer subjektiven Wahrnehmung ihrer Situation ähneln. Dies ist insbesondere dadurch bedingt, dass die Angehörigen von Geburtsjahrgängen in ihrer Gesamtheit – betrachtet man sie mit Hilfe traditioneller sozialstruktureller Kategorien – zumeist alle Formen materieller Lebensbedingungen und Mentalitäten einer Gesellschaft widerspiegeln. Für die Bestimmung von Geburtsjahrgängen bzw. von Spannen von Geburtsjahrgängen, deren historischer Lebensverlauf signifikant von anderen unterscheidet, für die auch deutlich gemacht werden kann, dass sich mit ihnen eine unterschiedliche Chancenstruktur und soziale Position verbindet, erscheint es daher sinnvoll, einen sozialstrukturellen Begriff zu definieren, der dieses erfassen kann. Die Begriffe Generation, Kohorte und Altersgruppe stellen die soziologischen Konzepte dar, mit denen Individuen nach ihrem Auftauchen in der historischen Zeit unterschieden werden, und sollen im Folgenden für die Konstruktion dieser Kategorie analysiert werden. Altersgruppen dienen dabei dazu, Menschen nach ihrem Lebensalter oder nach Zugehörigkeit zu einer Lebensphase zu differenzieren. Unterschieden werden hier z.B. Alte, Junge, Kinder und Erwachsene. Der Begriff wird meistens dazu verwandt, eine Querschnittsbetrachtung des Altersaufbaus der Gesellschaft möglich zu machen. Diese Unterscheidungsmöglichkeit wird insbesondere von dem strukturfunktionalistischen Ansatz genutzt, um die Altersstratifizierung und damit die Ausprägung der Altersrollenstruktur zu beschreiben. Die Verteilung der Altersrollen in der Altersstruktur erscheint hier vielmehr als ahistorisches Gebilde, dessen Vorgaben sich unabhängig von historischen Umständen ergeben (vgl. Rosenmayr 1976). Somit repräsentiert der Begriff eher die Rollenstruktur einer Gesellschaft, er bezeichnet weniger Kategorien oder Klassen von Menschen. Soziale Ungleichheiten werden als Ausdruck der unterschiedlichen Rollenerwartungen, die mit den Lebensphasen assoziiert werden, interpretiert. Ein zentrales Problem dieser Erklärung besteht darin, dass sie zwar für den Moment bzw. für die Querschnittanalyse erklären kann, warum sich die Verteilung von Ressourcen zwischen den Altersgruppen in der vorgefundenen Weise gestaltet, aber nicht, wodurch sich die Ungleichheiten im Rahmen des individuellen Lebensverlaufs ergeben haben. Der Kohortenbegriff wird dagegen verwendet, um Aggregate in der Bevölkerung dahingehend zu unterscheiden, dass sie in einem bestimmten Zeitraum von einem gleichen Ereignis betroffen sind (vgl. Ryder 1965). In erster Linie wird dazu der Geburtszeitpunkt herangezogen, d.h., das Ereignis Geburt in einem bestimmten Jahr wird als Klassifikationsmerkmal genutzt. In der wissenschaftlichen Praxis werden Kohorten zumeist durch die Auswahl verschiedener Geburtsjahrgänge durch den wissenschaftlichen Beobachter gebildet. Diese Geburtskohorten machen es ihm als analytische Instrumente möglich, Gesellschaften im Querschnitt wie auch im Längsschnitt durch die Betrachtung der
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Lebensverläufe von Geburtsjahrgängen zu analysieren. Im Gegensatz zu den Altersgruppen werden Kohorten dabei als durch die historische Zeit geformt angesehen: Historische Ereignisse und Umstände sind wichtige Einflussgrößen auf den Lebensverlauf, mit denen Unterschiedlichkeiten und sozialer Wandel erklärt werden. Aufgrund seiner Konstruktionsprinzipien bezeichnet der Kohortenbegriff keine soziale Kollektive, sondern Menschen, die über ein gemeinsames Merkmal verfügen. Interne Kommunikationsstrukturen oder kollektive Identitäten sind hier nicht von Bedeutung. Unterschiede in den Lebensverläufen, bei der Bewältigung von Übergangen, aber auch eine unterschiedliche Sozialstruktur der Kohorte, werden in diesem Zusammenhang als soziale Ungleichheiten interpretiert. Die Beschreibung der Ungleichheiten orientiert sich dabei an den traditionellen Begrifflichkeiten, wie Bildung, Einkommen oder Erwerbsbeteiligung oder Arbeitslosigkeit. Begrifflichkeiten mit denen etwa Differenzen beschrieben werden können, die sich auf die Kohortenzugehörigkeit beziehen, lassen sich dabei nicht finden. Der Generationenbegriff ist dagegen darauf ausgerichtet, soziale Kollektive, die über das Merkmal eines gemeinsamen Bewusstseins hinsichtlich einer ähnlichen Lagerung in der Zeit verfügen, darzustellen. Die Grundlage für diesen soziologischen Generationenbegriff ist Mannheims Text „Das Problem der Generationen“ (1964 [1928]). In einer sehr verkürzten Darstellung kann die Aussage dieses Textes in drei Punkten zusammengefasst werden.1 Erstens macht er mit dem Begriff der Generationenlagerung deutlich, dass Menschen mit unterschiedlichen Geburtszeitpunkten an einem jeweils unterschiedlichen Ausschnitt der Geschichte bzw. der historischen Zeit teilnehmen. Der Ablauf der Lebenszeit wird damit gegenüber der historischen Zeit eingeordnet. Damit kann dann zweitens deutlich gemacht werden, dass die historischen Umstände von den Geburtsjahrgängen auf unterschiedliche Weise erlebt werden können, da sie sich in einem jeweils anderen Entwicklungsstadium ihres Lebens befinden: Jüngere Menschen können durch wichtige Ereignisse eher geprägt oder auch in Mitleidenschaft gezogen werden als alte Menschen am Ende ihres Lebens. Diese Unterschiedlichkeit des Erlebens fasst Mannheim dann mit Hilfe des Begriffs der „Ungleichzeitigkeit in der Gleichzeitigkeit“, womit er darauf verweist, dass ein historisches Ereignis auf unterschiedliche Weise von den verschiedenen Geburtsjahrgängen wahrgenommen und in den jeweiligen Erlebnisschichtung eingebunden wird. Drittens macht der Text darauf aufmerksam, dass sich dieses gemeinsame und gleiche Erleben der Zeit die Möglichkeit bietet, Gleichartigkeit festzustellen und auf dieser Grundlage kollektive Identitäten zu entwickeln. Die Begriffe nehmen damit in unterschiedlicher Weise darauf Bezug, Individuen nach ihrem Auftauchen in der historischen Zeit zu klassifizieren. Allerdings 1
Analysen, ausführliche Darstellungen und Interpretationen des Mannheimschen Textes sind zahlreich. Die folgende Liste stellt nur eine Auswahl dar: Matthes (1985); Bohnsack, Schäffer (2002); Sparschuh 2000; Fietze 1997; Pilcher 1994; Kertzer 1983.
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ist keiner von ihnen für sich allein in der Lage, Alter als Kategorie sozialer Ungleichheit darstellen zu können. Diese Anforderungen bestehen im Wesentlichen darin, die Herausbildung verschiedener Wirklichkeitshorizonte in der Zeit sowie – als sozialstrukturelle Klassifikation – die materiellen Lebensbedingungen und, zumindest grundlegend, Aspekte der kollektiven Identität widerspiegeln zu können. Erst durch die Kombination verschiedener Aspekte der einzelnen Begriffe kann dieses erreicht werden. Dabei erscheint auf den ersten Blick der Generationenbegriff in besonderer Weise als anschlussfähig. Die Konzeptualisierung des Zeiteinflusses und die Beschreibung der Ungleichzeitigkeit in der Gleichzeitigkeit macht es möglich, die Realitätskorridore von Geburtsjahrgängen zu erfassen. Der Begriff ist dabei allerdings stark auf die subjektive Wahrnehmung der Individuen ausgerichtet und vernachlässigt die strukturellen, materiellen Bedingungen ihres Lebens. Hier wiederum setzen die Begriffe Altersgruppe und Kohorte an. Sie verweisen beide auf diese materiellen Bedingungen des Lebens, durch die etwa in Form von Rollenerwartungen das Handlungsspektrum in den verschiedenen Lebensphasen bestimmt wird sowie die Einflüsse der institutionellen Struktur in die Analyse integriert werden können. Im Folgenden soll mit dem Begriff der historischen Altersgruppe versucht werden, eine Verbindung zwischen diesen subjektiven Elementen der Wahrnehmung und des Bewusstseins sowie den materiellen Elementen der Handlungsdetermination herzustellen. Der Begriff der Altersgruppe wurde ausgewählt, um bei der Beschreibung des Kollektiv, das hier repräsentiert werden soll, nicht zu stark an die Auflagen des Generationenbegriffes und seiner starken Ausrichtung, soziale Gruppen zu erfassen, gebunden zu sein. Der Begriff verweist mehr auf die kognitive Ebene der Selbst- und Fremdkategorisierung, nicht auf die Anstrengungen der sozialen Kohäsion. Mit ihm kann deutlich gemacht werden, dass es sich bei den getroffenen Unterscheidungen um Aggregate von Individuen handelt, die sich in ähnlicher Weise selbst kategorisieren und wahrnehmen. Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit oder die Bildung einer kohärenten sozialen Gruppe ist hier kein Definitionskriterium. Gegenüber dem Kohortenbegriff besitzt der Altersgruppenbegriff den Vorteil, dass er die Bestimmung der beobachteten Gruppen zum einen nicht dem wissenschaftlichen Beobachter überlässt, sondern deren Gestaltung im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Alterskultur sowie -stratifikation sieht. Zudem werden mit den Altersgruppen Gesellschaften zumeist in ihrer Gesamtheit betrachtet, während mit den Kohorten nur eine selektive Auswahl getroffen wird. Das Attribut historisch verweist auf die Zeitdimension und versucht damit, diese Aspekte des Generationenbegriffes aufzugreifen. Neben der Einbindung in die historische Zeit sind dabei die Effekte der „Verzeitlichung der Zeit“ von Bedeutung. Historische Altersgruppen können so als Aggregate von Menschen verstanden werden, die sich gegenseitig als gemeinsam in einem sehr spezifischen Zeitkorridor lebend definieren bzw. in einer sehr spezifischen Weise und unter ähnlichen Voraussetzungen altern. Die
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Herstellung von Kontinuität für den Lebensverlauf stellt hier eine weitere wichtige Größe dar und erfasst den aktiven Part der Selbstabgrenzung. Historische Altersgruppen sollen somit damit definiert werden, dass mit ihnen die Angehörigen von Spannen Geburtsjahrgängen unterschieden werden, die sich hinsichtlich der Bedingungen ihres Lebensverlaufs, ihrer Selbst- und Fremdklassifikation von anderen Spannen von Geburtsjahrgängen signifikant unterscheiden. Diese Definition enthält auch methodische Implikationen: Die Konstruktion der verschiedenen Kategorien muss auf Zeitspannen ausgerichtet sein und dabei den Einfluss der historischen Zeit auf die Bildung spezifischer Altersgruppen berücksichtigen. Die historische Zeit muss daher vom wissenschaftlichen Beobachter in verschiedene Phasen eingeteilt werden, die unterschiedliche institutionelle Strukturen als differenzierte Möglichkeitsstrukturen für die verschiedenen Geburtsjahrgänge aufgreifen. Für diese Phase müssen wiederum die Geburtsjahrgänge ausfindig gemacht werden, die in besonderer Weise durch diese Phasen determiniert wurden bzw. im Mannheim’schen Sinne diesen gegenüber in besonderer Weise gelagert sind. Die Konstruktion dieser Klassifikation besteht somit im Wesentlichen aus einer Kombination der drei beschriebenen Zeitdimensionen: der Lagerung der Lebenszeit der Individuen in der historischen Zeit der Gesellschaft sowie die Ausbildung einer qualitativen Eigenzeit der verschiedenen Geburtsjahrgänge. Diese Beschreibung macht in erster Linie deutlich, wie sich Gruppen von Menschen unterscheiden, sie gibt noch keine Hinweise darauf, wie sich ihr Zusammenleben als historische Altersgruppen gestaltet und wodurch Verteilungen zwischen ihnen determiniert sind. Ein umfassender Ansatz sollte sich, wie zuvor angeregt, auch mit diesen Aspekten auseinandersetzen. Der folgende Abschnitt geht daher auf diese Bestandteile genauer ein.
3 Der soziale Raum der historischen Altersgruppen Der Begriff des sozialen Raums wird in diesem Zusammenhang dazu verwendet, die Gesamtheit der Lebensbedingungen und -formen, also die Struktur und die Praxis, die das Zusammenleben der historischen Altersgruppen ausmachen, zu erfassen. Bourdieus Konzeptionen stehen für die Ausarbeitung dieses Ansatzes Pate, im Folgenden werden, neben dem sozialen Raum, die Termini „soziales Feld“ und die verschiedenen Formen des „Kapitals“ für die Ausarbeitung des hier verfolgten Ansatzes genutzt. Im Bourdieu’schen Ansatz stellt der soziale Raum die Verbindung zwischen den materiellen Lebenssituationen der verschiedenen Klassenpositionen sowie der Welt der Lebensstile dar (vgl. Bourdieu 1992, S. 210ff.). ‚Objektive’ Le-
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bensbedingungen werden dabei mit ‚subjektiven’ Praxisformen kombiniert. Der soziale Raum der historischen Altersgruppen verbindet dagegen die dargestellte zeitliche Differenzierung der Sozialstruktur mit der funktionalen Differenzierung. Damit soll er die Gesamtheit der strukturellen Lebensbedingungen und auch die Lebenspraxis der historischen Altersgruppen repräsentieren. Im Hintergrund dazu steht die Überlegung, dass die Wirklichkeitskorridore der historischen Altersgruppen nicht allein deren „Geschichte“ als Praxis repräsentieren, sondern vielmehr auch einen spezifischen historischen Ausschnitt aus der institutionellen Struktur, die die materiellen Lebensbedingungen der Altersgruppen ausmacht. Die Handlungen der Altersgruppen werden durch diese Bedingungen erst konstituiert, im Wechselspiel zwischen Handeln und Struktur entsteht der spezifische Wirklichkeitsausschnitt. Mit dem Handeln wird dieser Ausschnitt dann über die Zeit transportiert und transformiert. Die subjektive Komponente, die für Bourdieu in Habitus und Lebensstil gebunden ist, zeigt sich hier in der Selbstwahrnehmung und -darstellung als Angehöriger einer spezifischen Altersgruppe bzw. von Geburtsjahrgängen. Die materiellen Lebensbedingungen finden sich in den sozialen Feldern wieder, von denen die funktionale Differenzierung repräsentiert wird. Im Rahmen der Bourdieu’schen Terminologie bestehen die sozialen Felder aus Regeln, mit denen die Akteure spielerisch sollten umgehen können. In diesem Sinne können Akteure die Bedingungen der Felder auch strategisch nutzen, um ihre Interessen und Zielstellungen durchzusetzen. Aus diesem Grund können die sozialen Felder auch als eine positionale Struktur verstanden werden, in der Akteure, aufgrund des Umfang ihres Kapitals (vgl. dazu unten), unterschiedliche (Macht-) Positionen einnehmen können und von da aus die Spielbedingungen des sozialen Feldes gestalten bzw. bestimmen können (vgl. Barlösius 2004; Joas, Knöbl 2004, S. 545ff.; Schwingel 2000). Die sozialen Felder werden dabei als Arenen verstanden, in denen ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital akkumuliert werden kann. Aus der jeweiligen Kapitalausstattung können die Positionen im sozialen Raum abgeleitet werden. Diese Aspekte sind auch bei der Betrachtung der historischen Altersgruppen von Bedeutung. Die Chancen, Kapital zu akkumulieren, werden für die historischen Altersgruppen durch die historische Ausgestaltung der sozialen Felder, die ihnen gegenübersteht, beeinflusst. Diese Ausgestaltung wird dabei von den Verteilungsordnungen gebildet, die sich wiederum auf das Zusammenleben der Altersgruppen beziehen, d.h. ihre Chancenstruktur auf Grundlage dieser Zugehörigkeit beeinflussen (vgl. dazu 3.1). Für Bourdieu (1983, S. 183) ist Kapital in erster Linie akkumulierte Arbeit, es verweist damit auf individueller Ebene auf den Lebensverlauf, der sich aus der jeweiligen Kapitalausstattung ableiten lässt. Mit anderen Worten: Die Kapitalausstattungen geben einen Hinweis auf die möglichen Laufbahnen, die Menschen durch den sozialen Raum nehmen können. Bourdieu fasst dieses als Lauf-
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bahneffekt, der sich für individuelle Biographien zeigt, aber auch für Kollektive, d.h. den Auf- und Abstieg von Klassen deutlich gemacht werden kann (vgl. Bourdieu 1992, S. 187ff.). Die Kapitalausstattung macht somit auch für den Moment deutlich, mit welchen Handlungschancen eine soziale Position im Vergleich zu anderen sozialen Positionen ausgestattet ist, mit ihr können also soziale Ungleichheiten deutlich gemacht werden. Ihr Ablauf wird in einem gemeinsamen Zeithorizont angesiedelt, der es möglich macht, die Abläufe in ihrer realen Gestaltung miteinander zu vergleichen. Mit der Annahme der zeitlichen Differenzierung in verschiedene Realitätskorridore ist es allerdings nicht mehr möglich, von einem gemeinsamen Referenzhorizont auszugehen. Die Herausbildung dieser „Wirklichkeiten“ führt vielmehr dazu, dass Altersgruppen in jeweils historisch-singulären Konstellationen leben. In der Konsequenz heißt das, dass sie im Hinblick auf die Ergebnisse, die sie in ihrer Lebenszeit erzielen, nicht verglichen werden können. Die Bedingungen unter denen historische Altersgruppen somit verschiedene traditionell betrachtete Ressourcen der Ungleichheit, wie Einkommen, Bildung oder Vermögen erwerben können, sind damit jeweils unterschiedlich, historisch singulär. Es muss daher eine Folie gefunden werden, die einen gemeinsamen Maßstab für die verschiedenen Altersgruppen darstellt, die somit einen gemeinsamen Referenzhorizont darstellt, der von ihnen herangezogen wird, um grundlegende Unterschiedlichkeiten zwischen ihnen zu beschreiben. Dabei wird hier davon ausgegangen, dass dieser Referenzhorizont in dem Idealbild des Lebenslaufes zu sehen ist.2 Dieser institutionalisierte Lebenslauf stellt nicht nur einen kognitiven Bezugsrahmen, der den Ablauf der Lebenszeit für die Individuen regelt, sondern auch eine normativ besetzte Orientierung dar. Damit definiert er eine bestimmte 2
Eine der wesentlichen Wirkungen der Durchsetzung des Lebenslaufes als Institution beschreibt Kohli damit, dass er sich als Lebensform durchgesetzt hat. Lebensverläufe werden damit aus individueller Perspektive planbar, d.h. verschiedene Handlungen können und müssen im Hinblick auf den Lebenslauf ausgewählt werden, der hier, je nach chronologischem Lebensalter die entsprechenden Möglichkeiten zur Verfügung stellt. Man kann aber auch erkennen, dass sich der Lebenslauf als Lebensform gegenüber diesen Anforderungen verselbständigt hat und im Alltagsbewusstsein der Menschen eine der wesentlichen unhinterfragten Normalitäten darstellt. Dabei steht er in enger Verbindung mit den gesellschaftlichen Vorstellungen über Alter und den Alterungsprozesse, kann somit als modernes Derivat der rîtes des passages traditionell geprägter Gesellschaften verstanden werden. Der Lebenslauf legt in dieser Weise für den Ablauf des Lebens fest, welche Zeitfenster für bestimmte Aktivitäten, z.B. für Bildung, Heirat, Familiengründung oder Ruhestand, bestimmt sind und legt mit Hilfe von Altersstereotypen auch dem Alter angemessene Verhaltensweisen fest. Auch die inhaltliche Ausfüllung des individuellen Lebenslaufs kann im Rahmen dieser Vorstellungen bewertet werden. Die Art und Weise, wie den Auflagen des Lebenslaufs nachgekommen wird, kann darüber entscheiden, in welchem Ausmaß Personen soziale Anerkennung erlangen können. Der Lebenslauf ist somit auch ein Wertmaßstab, mit dem auf Grundlage einer idealtypischen Verlaufsvorstellung individuelle Laufbahnen beurteilt werden.
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Form der Lebensführung und gibt eine Idealform des Lebensverlaufs vor. Im gesellschaftlichen Diskurs zeigen sich diese Ideen z.B. als die Annahme, dass der Lebensverlauf einen parabelförmigen Verlauf des Ausmaß an Aktivität und der Partizipation an der Gesellschaft aufweist, womit die Vorstellung eines gelungenen Leben repräsentiert wird (vgl. Turner 1989). Der Grad, in dem historische Altersgruppen dieses Lebensverlaufsmuster für sich realisieren können, stellt dabei den Kern der Ungleichheiten zwischen den Generationen dar. D.h., die Ungleichheiten zwischen ihnen beziehen sich auf die Chancen, diesen idealtypischen Lebensverlauf für sich realisieren zu können. Entsprechend können sie nur danach verglichen werden, wie sich ihre Chancenstruktur im Lebensverlauf gestaltet. In diesem Sinne soll der hier verwendete Kapitalbegriff darauf verweisen, in welchem Ausmaß eine historische Altersgruppe mit ihrem Lebensverlauf Chancen hat, diesen Normallebenslauf für sich zu realisieren. Die Felder Ökonomie, Netzwerke und Kultur sind auch hier von Bedeutung. Durch die historische Ausprägung der zugrunde liegenden Strukturen vermitteln sie dabei unterschiedliche Chancen, diesen Lebensverlauf realisieren zu können. Im Folgenden sollen in einem ersten Schritt die Verteilungsordnungen, die hier von Interesse sind, genauer vorgestellt werden.3
3.1 Die Verteilungsordnungen der historischen Altersgruppen Die Historische Zeit bzw. die Zeitsemantiken, die Altersordnungen und die demographischen Verhältnisse stellen diese Verteilungsordnungen dar, mit denen der Möglichkeitsraum der historischen Altersgruppen, Kapital zu akkumulieren, begrenzt oder erweitert wird. Zeit selbst bestimmt dabei die Handlungsbedingungen in zwei grundsätzlichen Formen: zum einen als historische Zeit, zum anderen als Zeitsemantik. Die historische Zeit wird dabei mit Rückgriff auf die Ausführungen Luhmanns (1980), Kosselecks (1995) und auch Halbwachs (1991 [1925]) als Geschichte, Erinnerung bzw. Kollektives Gedächtnis der Altergruppen interpretiert. Sie stellt keine Einflussgröße dar, die den Lebensverlauf durch historische Ereignisse in bestimmte Bahnen lenkt. Sie ist vielmehr ein Referenzhorizont, der von den historischen Altersgruppen bei der Beschreibung und Begründung ihres Lebensverlaufes selbst konstruiert wird. Sie repräsentiert für diese einen qua selbstreferentieller Selektion formulierten Zusammenhang von Ereignissen, die auch als kausaler Zusammenhang dargestellt werden. Über die Bedeutung historischer Ereignisse für den Lebensverlauf einer historischen Altersgruppe entscheidet somit deren Selektions- und Interpretationsverhalten. 3
Dieser Teil ist somit darauf ausgerichtet, die Strukturen als Handlungsdeterminanten zu beschreiben. Die Dynamik der Beziehungen ist Gegenstand des vierten Abschnittes.
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Durch die Zeitsemantiken bzw. die Art und Weise, in der Zeit als Handlungsgrundlage verwendet werden kann, determiniert die Zeit in dieser zweiten Form die Handlungsoptionen der historischen Altersgruppen. Die Kombinationsweise von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sowie die Rhythmen, das Tempo wie auch die dominierende gesellschaftliche Zeitorientierung erscheinen dabei in den verschiedenen Feldern auf unterschiedliche Weise. Altersordnungen regulieren den Ablauf des Lebens durch die Konstruktion und Sequenzierung verschiedener Phasen, gleichzeitig eröffnen sie durch die Bestimmung von Altersgrenzen und Altersstereotypen in den verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche Handlungschancen (vgl. Bernardi 1985; Kohli 1985; Linton 1942; Riley et al. 1988; Zerubavel 1982).4 Ausschlaggebend für das Ausmaß der offen stehenden Handlungsoptionen ist dabei, in wie weit diese Vorgaben Abweichungen zulassen. Diese Altersordnungen können dabei mit den Geschlechterordnungen verglichen werden, sie sind eines der zentralen Regulative, mit denen Rollen und gesellschaftliche Zuständigkeiten bzw. Aufgabenbereiche zwischen Menschen aufgeteilt werden. Unter Altersordnungen sollen hier die Normen, mit denen Altersgruppen beschrieben und ihre gesellschaftlichen Rollen bestimmt werden, verstanden werden. Sie regeln dabei auch die Übergangszeitpunkte und -formen zwischen den verschiedenen Altersphasen und stellen damit auch Sukzessionsregeln auf, die festlegen, in welcher Weise gesellschaftliche Positionen an verschiedene Jahrgänge oder Nachfolger weitergegeben werden dürfen. Diese Altersordnungen verfügen auch über eine relationale Komponente: Sie bringen die Altersgruppen miteinander als gegenseitige Empfänger und Nutznießer von Leistung miteinander in Verbindung. Sie schaffen als Moralökonomien des Alterns ein Reziprozitätsgeflecht zwischen den Altersgruppen, indem mit ihnen festgelegt wird, wann jeweils für andere Leistungen erbracht und wann wiederum welche Ansprüche an andere Altersgruppen gerichtet werden können. Der Generationenvertrag des Wohlfahrtsstaates stellt hier die wichtigste Form dieser Moralökonomien dar. (vgl. Ganßmann 2002; Kohli 1987; Mau 2002, 4
Bislang sind die Effekte von Altersordnungen für moderne Gesellschaften noch nicht intensiv bearbeitet worden. Sie spielten eher bei der ethnologischen Erkundung einfacher bzw. traditionaler Gesellschaften eine wichtige Rolle (vgl. dazu Bernardi 1985; Foner, Kertzer 1978). Auch die Lebenslaufsoziologie hat auf diese strukturellen Bedingungen und ihre Effekte im Lebenslauf nur selten Bezug genommen. Zwar wird hier die Auflösung rigider Altersordnungen z.B. durch das Aufweichen von Altersgrenzen beschrieben, weitere Aspekte wie Altersstereotype und die Auswirkungen auf die Lebenschancen werden aber kaum beschrieben. Die strukturfunktionalistisch geprägten Ansätze der Forschergruppe um M.W. Riley stellen hier eine Ausnahme dar. Hier wurde versucht, die Anordnung von Altersgruppen zueinander, ihre Beziehungen und die mit den Alterspositionen verbundenen Rollen konzeptuell zugänglich zu machen (vgl. Riley et al. 1988). Dieses Konzept wurde aufgrund seiner strukturfunktionalistischen Ausrichtung, zum einen als heuristischer Hinweis gelobt, zum anderen aber als zu stark a-historisch formuliert und damit zu wenig auf die materiellen Bedingungen der Gesellschaft bezogen kritisiert (vgl. Kohli 1990, 1992; Rosenmayr 1976).
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2004). Er stellt eine Reziprozitätsbeziehung dar, mit der Rechte und Pflichten bzw. Ansprüche und zu erbringende Leistungen auf die Phasen im Lebenslauf verteilt werden. Der dritte große Bestandteil der Bedingungen auf den sozialen Feldern der historischen Altersgruppen sind die „quantitativen Gegebenheiten“ ihres zahlenmäßigen Verhältnisses: Dadurch, dass die Altersgruppen durch die Altersordnungen jeweils mit anderen spezifischen Altersgruppen in eine Reziprozitätsbeziehung gebracht werden, kann auch das zahlenmäßige Verhältnis dieser Altersgruppen einen entscheidenden Einfluss auf deren Handlungschancen haben. Prominent ausgearbeitet wurden die Effekte, die die damit möglicherweise verbundenen Unwuchten auf das die Lebensverhältnisse von Kohorten haben können von Easterlin (1987); Macunovich (1999); Pampel, Peters (1995). Die Sichtweise ist hier auf die individuelle Kohorte ausgerichtet, deren jeweiliger Umfang die Lebenschancen erhöhen bzw. vermindern kann. Geburtenstarke Jahrgänge, wie z.B. Angehörige der ‚baby boomer’-Jahrgänge, sind daher gegenüber geburtenschwachen Jahrgängen benachteiligt, da sie bspw. beim Übergang in das Erwerbssystem einer größeren Konkurrenz ausgesetzt sind und sich damit ihre Arbeitsmarktposition verschlechtert. Für die Betrachtung der historischen Altersgruppen ist allerdings das Verhältnis zu den anderen Gruppen von entscheidender Bedeutung, wobei hier je nach sozialem Feld, das betrachtet wird, unterschiedliche Bezugsgruppen in Frage kommen können. Die dargestellten Ordnungen bzw. Strukturbedingungen zeigen sich in den Bereichen Ökonomie, Netzwerke und Kultur jeweils in unterschiedlicher Qualität und determinieren von dort aus den Möglichkeitsraum der historischen Altersgruppen. Deren Realitätskorridor kann dann, sehr vereinfacht, in der folgenden Weise vorgestellt werden: Abbildung 3: Soziale Felder historischer Altersgruppen Soziale Felder historischer Altersgruppen Ökonomie
historische Zeit + Zeitsemanti k Altersordnu ngen + Moralökono mie demografisc he Verhältnisse
Soziale Netzwerke
historische Zeit + Zeitsemanti k Altersordnu ngen + Moralökono mie demografisc he Verhältnisse
Kultur
historische Zeit + Zeitsemanti k Altersordnu ngen + Moralökono mie demografisc he Verhältnisse
Akkumulationschancen für die verschiedenen Kapitalsorten
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3.2 Die sozialen Felder der historischen Altersgruppen Wie gestalten sich nun die sozialen Felder der historischen Altersgruppen und in welcher Weise werden ihre Möglichkeiten, Kapital in der angegebenen Form zu akkumulieren, durch die zuvor dargestellten Verteilungsordnungen beeinflusst? Dazu soll im Folgenden die Wirkungsweise der verschiedenen Verteilungsordnungen für die drei sozialen Felder sowie der Inhalt des Kapitals, das in ihnen erworben werden kann, kurz umrissen werden. Dabei steht die Frage, in welcher Weise sie den Optionenraum der historischen Altersgruppen beeinflussen können, im Mittelpunkt. Das Feld der Ökonomie Für Bourdieu ist der Begriff des ökonomischen Kapitals selbsterklärend: Es umfasst für ihn vor allen Dingen Geld, das als Eigentum bzw. Vermögen akkumuliert werden kann (vgl. Bourdieu 1983). Entsprechend kann das ökonomische Kapital hier als die Chance, im Lebensverlauf Eigenkapital aufbauen zu können, definiert werden. Der Begriff Eigenkapital kann dabei irreführend sein und in gleicher Weise wie bei Bourdieu mit den rein monetären Aspekten gleichgesetzt werden. Unter Eigenkapital sollen daher hier die Gelegenheiten, eigene Sicherheiten5 und Versorgungsansprüche aufbauen zu können, verstanden werden. Im Vergleich zu den beiden anderen sozialen Feldern ist das Feld der Ökonomie gleichzeitig das komplexeste für den Erwerb von Lebenschancen wie auch das grundlegendste. Als Funktionssystem, um das der Normallebenslauf herum organisiert wurde, stellen die hier erworbenen Chancen die Basis für die Erarbeitung von Chancen in den anderen Bereichen dar. Die Chancen, die im ökonomischen Feld erarbeitet werden, sind dabei in Chancen der Felder Netzwerke und Kultur konvertierbar. Das Feld der Ökonomie differenziert sich in drei Subfelder: in den Markt, in das Erwerbssystem und in die mit dem Wohlfahrtsstaat begründeten Umverteilungszusammenhänge zwischen den Altersgruppen. Der Markt stellt dabei die grundlegende Institution der Verteilung dar; die Entwicklung der Qualität seiner Verteilungsleistung nimmt dabei Einfluss auf die Gestaltung der Lebenschancen der Altersgruppen. Entscheidend ist dabei der Grad an Offenheit bzw. Selektivität, die der Markt hinsichtlich der Verteilung von Reichtum, Armut, Rohstoffen, produzierter Waren und Arbeit etc. realisiert. Innerhalb ihres Realitätskorridors können die Altersgruppen dabei an einer spezi5
Mit dem Begriff Sicherheit werden hier Handlungsressourcen bezeichnet, die es möglich machen, für die verschiedenen Leistungen, die im Lebensverlauf erarbeitet werden, Kontinuität herzustellen bzw. deren Halbwertzeit zu verlängern. Dies kann sich z.B. auf Bildung beziehen, bei der das erworbene Wissen über einen längeren Zeitraum als (dominante) Ressource eingesetzt werden kann.
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fischen Wirklichkeit des Marktes teilnehmen, die sich hierin pfadabhängig weiterentwickelt. Die historische Zeit repräsentiert sich als Konjunkturzyklus, der den Optionenraum historischer Altersgruppen beeinflusst. Historische Umstände können dabei in Aufschwungsphasen „Wachstumsräume“ öffnen, d.h. für die einzelnen Altersgruppen unterschiedliche Möglichkeitsräume entstehen lassen, die sie nutzen können, um Wohlstand dauerhaft zu sichern. Auch Phasen von ‚Normalität’ oder eine gleich bleibende Wirtschaftssituation, die sich über lange Zeiträume ergeben kann, können von den Altersgruppen im Rahmen der Darstellung ihres Lebensverlaufes als positive oder negative Gelegenheitsstruktur angeführt werden. Die Zeitsemantik konstituiert sich hier in den Produktionsrhythmen. Deren zunehmendes Tempo kann als Ausdruck des sich wandelnden gesellschaftlichen Zeitbewusstseins für diesen Bereich verstanden werden. Die Effekte dieser Veränderung sind eine Pluralisierung des Angebotes, damit die Verschärfung der Konkurrenz und die Zersetzung der Grundlagen, die zukunftsgerichtetes ökonomisches Handeln möglich machten. Der Konkurrenzmechanismus des Marktes wird damit empfindlich gestört. Konkurrenz führt hier nicht mehr zu einer effizienten Verwendung von Rohstoffen und Herstellung von Gütern und Dienstleistungen, sondern kann Fehlsteuerungen und Ressourcenverschwendung zur Folge haben. Entsprechend verändern sich die Gestaltungsspielräume historischer Altersgruppen. Im Bereich der Altersordnungen können die Teilhabechancen am Markt insbesondere durch Altersgrenzen beschränkt werden. Für die historischen Altersgruppen können bspw. unterschiedliche Rechtspositionen geschaffen werden, die ihnen über die Bestimmung dieser Altersgrenzen Zutritts-, Partizipations- und Gestaltungsrechte zuweisen. Sie vermitteln somit den Altersgruppen Chancen, die Qualität des Verteilungsmechanismus zu beeinflussen. Die demographischen Verhältnisse zeigen sich hier als eine besondere Form der Konkurrenz, die sich auf die Verwendung knapper Ressourcen in einem längeren Zeitraum bezieht. Die Belastung zwischen den Altersgruppen zeigt sich hier darin, in welchem Ausmaß sie von den Entscheidungen anderer Altersgruppen über die Verwendung knapper Ressourcen betroffen sind. Dies kann sich sowohl auf Rohstoffe als auch auf die Verwendung kollektiver Güter beziehen. Das Erwerbssystem als Subfeld der Ökonomie nimmt für die Verteilung von Lebenschancen die wichtigste Stellung ein. Diese begründet sich nicht nur darin, dass es Arbeit und damit Einkommen und monetäre Sicherheiten verteilt. Darüber hinaus verteilt es über das Berufssystem Prestige und damit verbunden Gestaltungsmöglichkeiten für die Gesellschaft. Für die Altersgruppen kann sich dieser Verteilungsmechanismus in unterschiedlicher Weise repräsentieren. Er trägt dazu bei, dass Erwerbsverläufe Kontinuität nicht allein in einer lückenlosen Beschäftigung zeigen, sondern auch als Beschäftigungsstabilität in Hinblick auf
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Qualifikation und Beschäftigungssektor; damit also ein unterschiedliches Ausmaß an Flexibilität verlangt wird. Unter der historischen Zeit des Erwerbssystems könnte natürlich auch der Konjunkturzyklus der Öknomie verstanden werden. Allerdings zeichnet sich der Arbeitsmarkt der Moderne dadurch aus, dass mit Hilfe verschiedener Regelungen bzw. Institutionen versucht wurde, den Warencharakter der Arbeit aufzulösen und damit den Durchgriff des Marktes auf das Erwerbssystem abzumildern. In der Entwicklung und Veränderung dieser Labour-Standards sind die wesentlichen Determinanten zu sehen, die auf Chancenstruktur der Altersgruppen Einfluss nehmen. Je nach Ausmaß der Dekommodifizierung oder Rekommodifizierung der Arbeit, das diese für sich realisieren können, ergeben sich auch die Möglichkeiten, kontinuierliche Erwerbsverläufe zeitigen zu können. Dagegen haben die zuvor dargestellten Veränderungen der Produktionsrhythmen einen starken Einfluss auf die Zeitorganisation des Erwerbssystems. Die Unsicherheit der Zukunft im Absatzbereich wird hier mittels der Restrukturierung der Zeitordnungen von Beschäftigung abgefangen. Die Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen, Veränderungen von Arbeitszeitformen und Befristungsregeln verlagern einen Teil des Marktrisikos auf die Beschäftigten. Dieses hat Auswirkungen auf die zeitliche Gestaltung, wie z.B. auf die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen. Die Chance, einen flexiblen Beschäftigungsverlauf zu realisieren, nimmt damit zu. Die Altersordnung des Erwerbssystems wird in erster Linie durch die Vorgaben des Normallebenslaufs repräsentiert. Die Dreiteilung des Lebenslaufs und die Setzung von Altersgrenzen, an denen Übergänge zu bewältigen sind, stellen die wichtigsten Bestandteile dar. Sie normieren, welche Aufgaben und Tätigkeiten von den verschiedenen Altersgruppen übernommen werden dürfen oder in welchen Lebensphasen Karrieresprünge bewältigt werden müssen. Diese Normen können somit auch alterssegregierte Erwerbsbereiche schaffen, mit denen Altersgruppen das Anrecht auf diese Beschäftigung monopolisieren können. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Bereich die Regelungen, mit denen die Konkurrenzverhältnisse zwischen ein- und austretenden Generationen im Erwerbssystem geregelt werden (vgl. Sackmann 1998). Diese können verschiedene Altersgruppen präferieren oder anderen den Zugang zum Arbeitsmarkt versperren, so dass der Generationenaustausch hier blockiert werden kann (vgl. Ketzmerick, Terpe 2001). Die demographischen Verhältnisse des Erwerbssystems zeigen sich im Austauschverhältnis spezifischer Kohorten, die als miteinander verbundene Ein- und Austrittskohorten in das Erwerbssystem angesehen werden können. Belastungen bzw. günstige Verhältnisse zwischen ihnen entstehen dadurch, in welchem Maße hier ein kontinuierlicher Generationenaustausch realisiert werden kann. Ungleichgewichte zwischen den Kohorten oder auch die Blockade des Austritts
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einer Generation können die Chancen einer in das Erwerbssystem eintretenden Generation insgesamt mindern. Der Wohlfahrtsstaat kann als ein Subsystem der Ökonomie verstanden werden, da er zum einen versucht, die verschiedenen Härten, die im Zusammenhang von Markt und Erwerbssystem entstehen, auszugleichen. Zum anderen begründet er auch ein Verteilungssystem wohlfahrtsstaatlicher Leistungen, in dem die individuellen Ansprüche von der entsprechenden Performanz im Erwerbssystem abhängig gemacht werden. Im Hinblick auf das Alter schafft der Wohlfahrtsstaat in erster Linie ein System von Reziprozitätsbeziehungen zwischen den Altersgruppen, mit dem diese für sich einen kontinuierlichen, abgesicherten und durch die Gemeinschaft getragenen Lebensverlauf herstellen können. Die Verteilung der Chancen, diese Kontinuität und Absicherung für den Lebensverlauf realisieren zu können, ist dabei abhängig von der Ausprägung der Strukturen, die sich für die historischen Altersgruppen in ihrem Realitätskorridor jeweils zeigen. Die historische Zeit dieses Bereiches ist in der Öffnung bzw. Schließung der wohlfahrtsstaatlichen Solidarität gegenüber den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu sehen (vgl. Baldwin 1990). Diese Veränderungen haben Einfluss auf die Chancen der historischen Altersgruppen in das Reziprozitätsgeflecht einbezogen zu werden. Die Zeitsemantik dieses Systems bestimmt sich durch die Zeithorizonte der Sozialpolitik. Diese muss im Zusammenhang mit den Veränderungen der Zeitstruktur von Markt und Erwerbssystem in der Lage sein, sowohl flexible Problemlösungen als auch langfristige Absicherung zu schaffen. Der Politikstil verändert sich so immer weiter von der Gestaltung zur Nachbesserung bzw. kurzfristigen Adjustierung, wodurch in einigen Fällen die historischen Altersgruppen selektiv getroffen werden, da etwa Gesetzgebungen etc. auf bestimmte Geburtsjahrgänge beschränkt werden. Der Generationenvertrag sichert hier als Moralökonomie bzw. Altersordnung das Reziprozitätsgefüge zwischen den Altersgruppen ab. Entscheidend für die Ausprägung des Möglichkeitsraums der historischen Altersgruppen ist dabei, welcher Grad von Verpflichtung mit diesem Kontrakt einhergeht und wie genau die Leistungen umrissen werden, die als Leistung und Gegenleistung miteinander verrechnet werden. Die demographischen Verhältnisse sind für den wohlfahrtsstaatlichen Bereich in der Vergangenheit schon ausführlich diskutiert worden (vgl. Kaufmann 1997; Leisering 1992). Mit Hilfe des Alten- bzw. Gesamtlastenquotienten wird hier deutlich gemacht, in welcher Weise Altersgruppen durch andere belastet werden. Je nach Ausmaß der Be- oder auch Entlastung, die sich im Lebensverlauf ergibt, verändert sich damit der Optionenraum der historischen Altersgruppen. Ein ‚ungünstiges’ demographisches Verhältnis kann dann dazu führen, dass die Aufwendungen für andere Gruppen in der Erwerbsphase relativ hoch ausfallen, da entsprechend große Gruppen versorgt werden müssen, während die Un-
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terstützungsleistungen, die zur Verfügung gestellt werden, gering sind, da keine große Gruppe für diese aufkommt. Das Feld der sozialen Netzwerke Bourdieu wendet den Begriff des sozialen Kapitals an, um konkrete Beziehungen in interpersonalen Netzwerken zu beschreiben, die es qua Zugehörigkeit zu bestimmbaren Gruppen möglich machen, Zutritt zu verschiedenen gesellschaftlichen Positionen zu erlangen. Das Soziale soll hier mit der Integration in Netzwerke, genauer interpersonale oder familiär geprägte Versorgungsnetzwerke, definiert werden. Es repräsentiert somit, wie eingangs beschrieben, die Chancen einer Generation, in diese Versorgungszusammenhänge einbezogen zu werden bzw. diese zu begründen. Das Sozialkapital kann dabei als Pendant zum ökonomischen Kapital verstanden werden: Es repräsentiert den familiären bzw. privaten Lebenslauf und zeigt damit die Chancen auf, in die sozialen Netzwerke eingebunden zu werden.6 Die Beschränkungen, die sich auf dem Feld der sozialen Netzwerke ergeben können, beziehen sich vor allen Dingen auf die Normen der Partnerwahl bzw. des Heiratsmarktes, das Ausmaß der Gestaltungsfreiheit von Lebensformen sowie die Regelungen zum Fertilitätsverhalten. Die historische Zeit der Partnerwahl bzw. des Heiratsmarktes repräsentiert sich als Ereignisse oder Phasen, die Veränderungen, die die Möglichkeit der Partnerwahl beeinflussen. Dies können Beschränkungen sein, die auf historische Ereignisse zurückführbar sind, etwa indem Krieg oder auch wirtschaftliche Krisen die Möglichkeiten der Partnerwahl beschränkt haben. Von größerer Bedeutung sind allerdings die Entwicklungen, mit denen Schranken der Partnerwahl gelockert oder auch verstärkt wurden. Diese umfassen die standes- oder schichtspezifischen Beschränkungen aber auch die Bestimmungen über die Voraussetzungen für den erlaubten Zugang zum Heiratsmarkt. Zudem lassen sich auch Phasen unterscheiden, in denen unterschiedliche Motivstrukturen die Heiratsbzw. die Partnerwahl determinieren. Die Durchsetzung der Liebesheirat gegenüber der Zweckverehelichung spielt für die Gestaltung der Chancenstruktur einer 6
Verschiedene Untersuchungen zu familiären Generationenbeziehungen haben gezeigt, dass ein immenser Betrag an monetären Transfers und Hilfeleistungen, ebenso von vererbter Vermögen, zwischen Eltern, Kindern und Enkeln geleistet werden (vgl. Szydlik 2000; Lettke 2004). Gleichzeitig machen andere familiensoziologische Studien deutlich, dass sich Form und Dauer familiärer Gesellungsformen im Zeitverlauf verändert haben (Kaufmann 1995; Nave-Herz 2003). Personen wechseln schneller zwischen verschiedenen Verwandtschaftsnetzwerken, insgesamt wird es schwieriger, familiär geprägte Beziehungsformen dauerhaft aufrechtzuerhalten. Auch der Anteil an einzelnen Kohorten, die kinderlos oder gar beziehungslos bleiben, nimmt immer weiter zu (Huinink 2002). Generationenbeziehungen sind bislang vor allem hinsichtlich ihrer Qualität, d.h. der damit ausgedrückten Solidarität zwischen Eltern und Kindern untersucht worden (vgl. Lüscher, Liegele 2003, Beiträge in Mansel et al. 1997 und Kohli, Szydlik 2000).
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Generation ebenso wie die Etablierung neuer Partnerschaftsformen eine Rolle. Partnerwahlen können so vereinfacht oder erschwert werden, wobei sich die Freiheit der Wahl paradoxerweise auch als ein Hindernis bei der Begründung von Netzwerken darstellen kann. Die Einflussgrößen, die für die historische Zeit der Gestaltung von Lebensformen und des Fertilitätsverhaltens von Bedeutung sind, lassen sich ähnlich beschreiben. Auch hier sind die Wandlungen in den Rechtsnormen, die neue Formen des Zusammenlebens und der Kinderaufzucht auch rechtlich absichern, und die Veränderungen in den sozialen Normierungen, mit denen diese Lebensformen gesellschaftliche Anerkennung gewinnen können, wichtig. Die Zeitsemantiken, die hier für das soziale Kapital eine Rolle spielen, können mit Hilfe des Konzeptes vom Familienzyklus widergespiegelt werden. In diesem wird die Zeit der Familie als Verlauf angesehen, der als Entwicklungsprozess verstanden wird. Die Zeit von Familien wird darin in verschiedene Phasen eingeteilt, die von der Eheschließung bis zur Altenphase reichen. Für jede dieser Phasen steht somit ein Model für den Ablauf der Lebenszeit, das Phasen und Sequenzen in eine bestimmte Reihenfolge bringt. Jedes Familienmitglied kann somit auf einen so determinierten Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zurückgreifen, die mit einem zumindest grob umrissenen Inhalt versehen sind. Das Konzept des Familienzyklus macht es dabei möglich, die Zeithorizonte der Familienmitglieder miteinander zu verknüpfen, d.h., ihre Entscheidungen und Lebensphasen miteinander zu synchronisieren. So können dann auch für die „gesamte Zeit der Familie“ Reziprozitätsstrukturen aufgebaut werden, die zeitlich versetzt entsprechende Hilfe- und Versorgungsbeziehungen zwischen den Familienmitgliedern begründen können. Die Auflösung familiärer Rollenmuster – insbesondere die Auflösung von Geschlechterstereotypen und die stärkere Integration von Frauen in das Erwerbssystem – und die Durchsetzung alternativer Familienformen führt – neben der Veränderung der Stabilität der Institution Ehe – zu einer Veränderung der Zeitstrukturen, die der Institution Familie zugrunde liegen. Zyklen werden nicht mehr vollständig gemeinsam erlebt, verschiedene Phasen müssen nicht mehr zwangsläufig aufeinander folgen, und vor allem auch die Sicherheit, noch als Kollektiv in die Altenphase eintreten zu können, nimmt ab. Die Entscheidungen bzw. Lebenswege der verschiedenen Familienmitglieder lassen sich aufgrund verschiedenster Alternativrollen mitunter nur noch schwer synchronisieren. Gleichzeitig wirken die wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungsstrukturen auf die Familie ein, indem sie auf der einen Seite bspw. Unterstützungsleistungen von Eltern an Kindern möglich machen, die traditionellerweise nicht möglich gewesen wären (vgl. Attias-Donfut 2000; Szydlik 2000), auf der anderen Seite aber auch zu erwarten ist, dass diese wohlfahrtsstaatliche Einbindung die Zahlungsfähigkeit anderer Generationen in Zukunft einschränken wird (vgl. Borchers 2000). Die in den Familienzyklus eingebundenen idealtypischen Reziprozitätsmuster verlieren damit an Geltung
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und Verlässlichkeit. Entsprechend lassen sich für die einzelnen historischen Altersgruppen auch unterschiedliche Sicherheiten, die mit der Familie in Verbindung stehen, ableiten, insbesondere die Chance, dauerhaft in familiär geprägte Versorgungszusammenhänge eingebunden zu sein, minimiert sich. Der Zugang zum Heiratsmarkt, zur Kinderzeugung und zu verschiedenen Lebensformen wird weiterhin durch verschiedene Altersordnungen geregelt. Sie wirken hier vor allen Dingen durch die Festlegung von Altersgrenzen, die dazu befähigen, an den verschiedenen Lebensformen teilnehmen zu dürfen. Diese Altersgrenzen repräsentieren nicht die biologische Fähigkeit, Familienzusammenhänge zu begründen, sondern vielmehr die gesellschaftlichen Auffassungen über die Angemessenheit entsprechender Handlungen zu verschiedenen Lebenszeitpunkten. Wichtig sind hier die Regelungen zur normativen Beschränkung und Sanktionierung adäquaten oder nicht adäquaten Altersrollenverhaltens. Im Rahmen dieser Altersordnungen sind dann auch die Regelungen, mit denen das Verhältnis zwischen den Mitgliedern der Familie oder des Netzwerkes in Bezug auf die Ausfüllung von Altersrollen und gegenseitigen Verantwortungen bestimmt werden. Das Ausmaß der Chancenstruktur ist hier nicht allein davon abhängig, ob ein Einzelner Zugang zu solchen interpersonalen Netzwerken erhält, sondern auch, welche Qualität diese Netzwerke in Hinblick auf die Transfers und Solidarleistungen zwischen den Generationen bieten. Ähnlich wie bei den Altersordnungen des Generationenvertrages werden mit diesen allgemeine Reziprozitätsnormen formuliert, die Phasen von Leistungen und Ansprüchen in der Lebenszeit der Generationen miteinander verknüpfen. Das demographische Verhältnis, das die Chancen der Partnerwahl beeinflusst, resultiert grundlegend aus dem zahlenmäßigen Verhältnis der Geschlechter einer Altersgruppe. Für dieses Verhältnis ist weiterhin von Bedeutung, wie viele Personen einer Altersgruppe, aufgrund der verschiedenen Altersordnungen und Begrenzungen des Heiratsmarktes, die notwendigen Voraussetzungen und auch die Motivation mitbringen, ein familiär geprägtes Netzwerk begründen zu können. Die demographischen Verhältnisse spiegeln hier also das Ausmaß wider, in dem heiratsfähige und -willige Personen auf ein entsprechend erreichbares und gewünschtes Gegenüber Zugriff haben. Im Bereich der Gestaltung von Lebensformen und dem des Fertilitätsverhaltens ergeben sich die demographischen Verhältnisse analog zum Generationenvertrag aus der Relation verschiedener Altersgruppen zueinander. Je nach Ausmaß des Verhältnisses kann dieses Verhältnis eine Belastung oder einen Vorteil darstellen, die aus der Versorgung verschiedener anderer Generationen im Familienverband oder Netzwerken resultieren. Ähnlich wie bei den Generationenverhältnissen kann hier durch die Größe der Generationen, für die Aufwendungen betrieben werden müssen, die Chancenstruktur beeinflussen.
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Das Feld der Kultur In der Bourdieu’schen Fassung ist das kulturelle Kapital die komplexeste Form der Kapitalsorten. Es offenbart sich als inkorporiertes, als objektiviertes und institutionalisiertes Kapital und stellt dabei, sehr grob gefasst, das Ausmaß der individuellen Bildung, des Besitzes von Kulturgegenständen und von Titeln, d.h. anerkannten Objektivierungen der eigenen Bildungsleistung (vg. Bourdieu 1983, S. 185ff.). Es dient ihm dazu, die Interpretations- und Gestaltungsfähigkeiten, die sich mit den verschiedenen Klassenpositionen verbinden, aufzuzeigen. Der Begriff des kulturellen Kapitals soll hier dazu genutzt werden, die Chance einer Kohorte, eigene Interpretations- und Deutungsmuster als dominante durchzusetzen, verstanden werden. Damit bezieht sich das kulturelle Kapital auf den Bereich der Politik bzw. den gesellschaftlichen Bereich, in dem das Zusammenleben der Generationen gestaltet wird. Mit dem kulturellen Kapital verbinden sich nicht allein Lebensstile, sondern auch verschiedene Wertmuster oder Welthaltungen, mit denen insbesondere die Altersordnungen in den aufgezeigten Bereichen beeinflusst werden können. Die Chance einer historischen Altersgruppe, ihre spezifische Interpretation oder Welthaltung auf Dauer durchsetzen zu können, kann damit insgesamt die Gestaltung ihrer Chancenstruktur beeinflussen, da sie auf diese Weise dauerhaft die verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Praxis prägen. Das kulturelle Kapital bietet dabei den historischen Altersgruppen die Möglichkeit, strategisch zu agieren. Sie können damit bspw. die Zeit, in der sie aktiv an der Gesellschaft partizipieren und diese prägen, verlängern, aber auch in ihrer Gültigkeit verbreitern, d.h. diese Bedingungen auf andere Altersgruppen übertragen, diese auch für sich instrumentalisieren. Damit können sie gegenüber anderen Altersgruppen Vorteile realisieren, da sie damit für diese qua Pfadabhängigkeit mögliche Handlungsspielräume über die Verfestigung von Routinen, die Möglichkeit zum Wandel insbesondere von für sie unvorteilhaften Altersordnungen einschränken können. Insbesondere mit Hilfe materieller Ausdrücke von Kultur sowie verschiedener Formen institutionalisierten Kulturkapitals und den entsprechenden Distinktionsleistungen können sie dabei ihre Welthaltung als dominante durchsetzen. Die historische Zeit erscheint hier in der Form von Möglichkeitsfenstern, die es den Generationen möglich machen, bestimmte Welthaltungen zu entwickeln. Dies können bspw. Phasen sein, in denen neue Energiekonzepte, wie z.B. der Einsatz von Atomkraft, diskutiert werden, die einzelne Generationen bestimmte Themen – in diesem Fall die Frage nach dem Umgang mit den natürlichen Ressourcen und nach dem Umweltschutz – in den Vordergrund rücken lassen. Es können aber auch günstige Umstände sein, die es bspw. wie im Falle der 68erGeneration möglich machten, gesellschaftliche Zustände kritisch zu reflektieren und dazu alternative Welthaltungen zu entwickeln.
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Die Zeitsemantik erscheint dabei, ähnlich wie bei den Ausführungen zur Sozialpolitik, als das Paradox, langfristige Sicherheiten trotz ständig wechselnder Bedingungen zu schaffen. Zugleich weist die politische Sphäre für die dort agierenden Personen einen besonderen Befristungsmodus auf. Die Möglichkeit zur Gestaltung besteht für sie aufgrund der Legislaturperioden nur auf Zeit. Zudem müssen sie auf die Spielregeln der Demokratie Rücksicht nehmen: Innerhalb eines zeitlich limitierten Rahmens müssen Entscheidungen getroffen werden, die sowohl langfristig die Lebenschancen aller Altersgruppen als auch gleichzeitig die Zustimmung relevanter Wählergruppen sichern. Die Chance, die eigene Welthaltung auch durchsetzen zu können, ist dann auch davon abhängig, in welchem Maß zur Sicherung der eigenen Gestaltungszeit die Ansprüche anderer Generationen berücksichtigt werden müssen. Die Chance, die eigene Weltsicht auch durchsetzen zu können, ist abhängig von den Altersordnungen der Politik. Diese regeln, wann und in welcher Weise nachrückende Altersgruppen in den politischen Prozess einbezogen werden können. Sie regeln dieses über die Bestimmung von Zugangsregeln zu politischen Ämtern oder Positionen mit Gestaltungsmacht. Alter ist hier häufig der Indikator für die notwendige Reife und damit zugeschriebene Fähigkeit, eine solche Position einzunehmen. Dabei ist die Chance einer Generation, sich in das politische System einzubringen, auch davon abhängig, in welchem Ausmaß sie in der Lage ist, diese Erwartungen an Reife und Verantwortungsfähigkeit widerzuspiegeln. In diesem Sinne verlangen sie von den Innehabenden bestimmte Qualitäten ab, die analog zu den drei zuvor genannten Formen des kulturellen Kapitals verstanden werden können, d.h., sie müssen aufgrund seiner Bildung in der Lage sein, sich sicher auf dem Parkett der Politik und der dort gegebenen Handlungsspielräume bewegen zu können. In diesem Sinne ist ihre Chance, sich durchsetzen und dabei die eigene Weltsicht verallgemeinern zu können, im wahrsten Sinne des Wortes von ihren Fähigkeiten, mit den vorgegebenen Umständen auch spielen zu können, d.h. sich einfügen und galant abweichen zu können, abhängig. Die demographischen Verhältnisse, die in diesem Zusammenhang relevant sind, beziehen sich auch auf die Fragen, in welchem quantitativen Verhältnis sich Alte und Junge im politischen System gegenüberstehen. Hier ist es aber nicht die Frage, ob der Generationenaustausch blockiert oder die Anteile der Altersgruppen im politischen System nicht die Verteilung der Grundgesamtheit wiedergibt. Vielmehr ist von Bedeutung, in welcher Weise hier durch verschiedene Altersgruppen Kohortendominanz ausgeübt und so Veränderungen/Reformen blockiert oder nach vorn gebracht werden können.
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3.3 Das Verhältnis der Felder und der Vergleich der historischen Altersgruppen Für das Verhältnis der Kapitalsorten bzw. der in ihnen gebundenen Strukturen und Ordnungsmustern wird hier im Gegensatz zu den Bourdieu’schen Ausführungen angenommen, dass nicht das ökonomische Kapital die Verteilungsmuster dominiert, sondern dass die wesentliche Ungleichheitsdimension der historischen Altersgruppen vielmehr in den kulturellen Ressourcen zu sehen sind. Für Bourdieu ist die materielle Ausstattung der Individuen die Basis dafür, dass auch weitere Kapitalressourcen akkumuliert werden können, ökonomisches Kapital ist für ihn in diese beiden weiteren Sorten konvertierbar. Aufgrund der Fokussierung auf die Chancenstruktur von Kollektiven soll hier dagegen das kulturelle Kapital als die dominierende Kapitalform angesehen werden. Die mit ihm verbundene Möglichkeit, die eigene Weltsicht durchzusetzen und so das Zusammenleben der Altersgruppen zu gestalten, schafft erst die besondere Qualität der Bedingungen, unter denen sich die Chancen, Eigenkapital zu erwerben oder ein Versorgungsnetzwerk zu begründen, ergeben. Hierzu könnte kritisch angeführt werden, dass die materielle Ausstattung der historischen Altersgruppen diese Chancen im hohen Maße determinieren könnte und ihr von daher größere Einflusskraft zugeordnet werden sollte. Das ökonomische Kapital stellt aber gegenüber den Chancen, gesellschaftliche Verhältnisse gestalten zu können, eine abgeleitete Kategorie dar. Das kulturelle Kapital schafft vielmehr erst den Rahmen, in dem ökonomische Chancen entstehen und genutzt werden können. Dieses Dominanzverhältnis ist aber nicht damit gleichzusetzen, dass ein höheres kulturelles Kapital zwangsläufig auch die Chancen in den anderen Bereichen erhöht. Es stellt sich vielmehr die Frage, in welcher Weise diese Gestaltungsmöglichkeit eingesetzt wird. So können historische Altersgruppen bspw. auch ein stärker konservatives Weltbild durchsetzen und im Bereich des sozialen Kapitals zur Verminderung von Optionen der Familien- und Netzwerkbildung beitragen. Oder es können damit im Regelungsfeld des ökonomischen Kapitals Handlungsweisen durchgesetzt werden, die in der Langfristperspektive zur Verringerung von Ressourcen beitragen oder an die andere Handlungsstile nur schwer angeschlossen werden können. Das kulturelle Kapital determiniert somit die Ausprägung der anderen Kapitalsorten durch die Performanz, die in seinem Regelungsfeld aufgezeigt wird.7 Für die Bestimmung der Verlaufskurven von Chancenstrukturen wird der Beitrag der einzelnen Kapitalfelder für die Möglichkeit, den idealtypischen Lebenslauf auch leben zu können, für verschiedene Zeitpunkte, die im Ablauf der 7
Die Qualität dieser Performanz unterscheidet sich dadurch, ob die durchgesetzte Weltsicht, eher ein offenes oder geschlossenes Klassifikationsschema (vgl. Douglas 1988) bevorzugt wird und von daher eher innovative oder konservative ‚Denkstile’ zulässt (vgl. Mannheim 2003).
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abstrakten Zeit der verschiedenen Jahre liegen, festgestellt und zusammengefasst. Daraus können dann verschiedene Kurven gezeichnet werden, mit denen die Chancenstrukturen der einzelnen Altersgruppen verdeutlicht werden können (vgl. Abbildung 4). Abbildung 4: Ungleichheiten zwischen Altersgruppen im Zeitverlauf
Kohorte 3
Kapitalvolumen/ Ausprägung der Chancenstruktur
Kohorte 1
Kohorte 2
historische Zeit
Die Vorstellung, dass Zeit den konstituierenden Faktor für die Ungleichheiten der Altersgruppen darstellt, wirkt sich somit auch auf die Beschreibung der Ungleichheiten aus. Von Interesse sind jetzt nicht mehr nur die aktuellen, auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogenen Ungleichheiten, sondern die Verläufe der Chancenstrukturen über die Lebenszeit der Generationen stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Diese Verläufe können auf dreifache Weise betrachtet werden: erstens der einzelne Verlauf, hinsichtlich seiner Ähnlichkeit zum idealtypischen Verlauf des institutionalisierten Lebenslaufes. Zweitens ist für den Vergleich der Generationen eine synchrone wie auch eine diachrone Perspektive von Interesse. Die dritte Perspektive besteht in dem Vergleich der einzelnen generationalen Kurven bzw. des Ausmaßes, in dem sie von dem idealtypischen Kurvenverlauf abweichen. Die Analysen zur Gerechtigkeit zwischen den Generationen stellen hierfür einen formalen Rahmen zur Verfügung. Sie schlagen drei verschiedene Ver-
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gleichsperspektiven vor, mit denen Differenzen (oder in diesem Fall Ungerechtigkeiten) zwischen Generationen beschrieben werden können: die horizontale, die vertikale und die diagonale Generationengerechtigkeit (vgl. Bomsdorf 2004). Die horizontale Generationengerechtigkeit betrachtet dabei den Lebensverlauf einer singulären Generation und ermittelt, in welchem Ausmaß ungefähr gleich bleibende Lebensverhältnisse möglich sind. D.h. zum Beispiel, zu welchem Grad sich Aufwendungen aus den Aktivitätsphasen in späteren Ruhephasen rentieren bzw. wieder auszahlen. Hier wird also in der Längsschnittperspektive betrachtet, in welchem Ausmaß Status, Einkommen usw. gleichmäßig über den typischen Lebensverlauf einer Kohorte getragen werden können. Die vertikale Generationengerechtigkeit setzt dagegen an einer Querschnittsperspektive zwischen verschiedenen Generationen an, zieht also einen synchronen Vergleich. Hier werden ihre Chancenstrukturen zu einem bestimmten Zeitpunkt miteinander verglichen. Die diagonale Generationengerechtigkeit verfolgt dagegen eine diachrone Perspektive, hier werden die Chancenstrukturen von Generationen zu einem bestimmten Zeitpunkt im Lebensverlauf, z.B. eine bestimmte Übergangspassage oder Lebensphase, miteinander in Beziehung gesetzt. So könnten die Chancenstrukturen der aktuellen Rentnergeneration mit den zu erwartenden Lebensumständen der zukünftigen Rentnergeneration parallelisiert werden. Soziale Differenzen zwischen Personen verschiedenen Alters können somit auf unterschiedliche Weise festgestellt werden. Diese Vergleichsmöglichkeiten können als die Konfliktlinien interpretiert werden, an denen die Unterschiede der historischen Altersgruppen deutlich gemacht werden können. Bislang wurde in der Darstellung implizit von einer Hierarchie der Altersgruppen ausgegangen, ohne dass genauer auf die sozialen Prozesse, die zu ihrer Bildung beitragen, eingegangen wurde. Der folgende Abschnitt wird sich mit den Prozessen auseinandersetzen, mit denen das Verhältnis der Altersgruppen und die Dynamik ihrer Beziehungen zueinander erfasst werden können.
4 Differenz oder Hierarchie? Altersgruppen als Gestalter von Ungleichheit Die zuvor beschriebene Möglichkeit der historischen Altersgruppen, mit Hilfe des kulturellen Kapitals, Dominanz zu erlangen und damit bspw. die eigene Weltsicht durchzusetzen oder auch den eigenen Einfluss zu verlängern und zu verbreitern ergibt sich nicht allein schon aus einem größeren Volumen dieser Kapitalsorte. Für die Herstellung eines Dominanzverhältnisses zwischen den Altersgruppen ist vielmehr entscheidend, in welcher Weise dieses Kapital eingesetzt wird. Zwei Prozesse sind dabei von Bedeutung: die Fähigkeit von Alters-
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gruppen, ihren Lebensstil, ihre Weltsicht und andere Deutungsmuster genau und klar zu definieren sowie dabei gleichzeitig als deren Produzent erkannt zu werden. Eine zweite notwendige Fähigkeit besteht darin, dass Altersgruppen in der Lage sind, Monopolisierung zu betreiben, d.h. ihre Weltsicht dazu nutzen zu können, Verfügungsgewalt über gesellschaftliche Ressourcen zu erlangen.
4.1 Die „Herstellung“ historischer Altersgruppen Für diesen Punkt können wiederum wichtige Hinweise in der Generationensoziologie gefunden werden, bei der eine zentrale Forschungsfrage sich darauf ausrichtet, die Entstehung gesellschaftlicher Generationen klären (vgl. Fietze 2003). Der Großteil der Arbeiten in diesem Bereich nimmt dabei Mannheim als Grundlage und baut darauf eine weiterführende Argumentation auf. Diese Erklärungsmuster können sehr grob danach unterschieden werden, welche Lesart der Mannheim’schen Basis vorgenommen wird. Zum einen lassen sich sozialisationstheoretische Ansätze finden, bei denen das gemeinsame Erlebnis eines prägenden traumatischen Ereignisses zur Herstellung der Generation führt. Die Herstellung einer Generation wird hier also stärker als interner Vorgang interpretiert, der die kollektive Identität durch die Beziehungen der Angehörigen einer Altersgruppe entstehen lässt. Eine zweite Richtung stellt dagegen eine wissenssoziologisch geprägte Lesart der Mannheim’schen Grundlage dar (vgl. Sparschuh, Matthes). Matthes interpretiert dabei die Kernaussage des Textes damit: „das Generationenproblem nämlich von Grund auf als eines der kulturellen Regelung von Zeitlichkeit zu begreifen.“ (Matthes 1985, S. 367). Diese „Regelung von Zeitlichkeit“ bezieht sich darauf, dass Gesellschaften schon aufgrund der Tatsache, dass ihre Mitglieder sterblich sind, Regeln und Maßnahmen entwickeln müssen, die ihnen eine Fortführung der gefundenen Regeln möglich machen. Sie müssen mit anderen Worten Vorkehrungen dafür treffen, die Kontinuität sozialer Regelungsmuster und gesellschaftlichen Wissens sicherzustellen, auch wenn die Personen, von denen diese geschaffen wurden, bereits verstorben sind. Der zweite Aspekt der Zeitlichkeit bezieht sich auf den Fakt, dass die Gesellschaftsmitglieder zu unterschiedlichen Zeitpunkten geboren sind, Gesellschaften somit Lösungen dafür bieten müssen, mit dem Problem der Ungleichzeitigkeit im Gleichzeitigem umzugehen. Daher sollte untersucht werden, durch welche Maßnahmen die unterschiedlichen, an die Generationen gebundenen „Weltwahrnehmungen“ miteinander in Verbindung gebracht werden, um so eine integrierende Gleichzeitigkeit zwischen den Generationen herzustellen. Er verweist dazu auf die generationellen Verhältnisse, in denen Differenzen in einem Prozess der Selbst- und Fremdthematisierung von verschiedenen Altersgruppen identifizierbar werden. Den Startpunkt der Analyse generationsbezogener Phänomene sieht er daher nicht in
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der Unterscheidung verschiedener Generationenlagerungen, sondern in den spezifischen Generationeneinheiten, von denen besondere Formen der Weltwahrnehmung in Umlauf gebracht werden. Das Verhältnis dieser Generationeneinheiten zueinander und die Regelungsmuster, mit denen sie Integration bzw. Durchsetzung ihrer je spezifischen Weltwahrnehmungen durchsetzen, sind ebenso von Interesse. Auch Bohnsack und Schäffer heben die wissenssoziologische Einbindung Mannheims hervor (vgl. Bohnsack, Schäffer 2002; Schäffer 2003). Für sie ist „Erlebnisschichtung“ der Schlüsselbegriff der Mannheim’schen Analyse der Generationen. Der Grad der Kongruenz zwischen den verschiedenen Erlebnisschichtungen ist dabei entscheidend für die Qualität der Generationenbeziehungen. Generationen differenzieren sich hier wesentlich durch den unterschiedlichen Inhalt der Erlebnisschichtungen; Gemeinsamkeiten bzw. Differenzen zwischen ihnen machen dann unterschiedliche Formen der Kommunikation möglich. Gemeinsamkeiten lassen eine unmittelbare Form der Kommunikation zu, Gleichaltrige verfügen hier aufgrund ihrer gemeinsamen Erlebnisse, auch aufgrund ihres Sprachstils über einen konjunktiven Erlebnishorizont. Differenzen in der Erlebnisschichtung erfordern eine mittelbare Kommunikation, die auf gegenseitiges Interpretieren und wechselseitiges Abstimmen angewiesen ist. Diese damit verbundenen Distinktionsleistungen führen zur Bildung von Generationen, die damit dann auch hier als die kommunikative Bearbeitung von Fremdheitsrelationen zwischen verschiedenen Altersgruppen zur Kennzeichnung differierender Kulturen verstanden wird: „Eine Verständigung über die Grenzen von Generationenzusammenhängen bzw. zwischen diesen kann somit in Analogie zu einem kulturellen Fremdverstehen gesehen werden; und Generationendifferenzen sind analog zu Kulturdifferenzen zu konzeptionieren“ (Bohnsack, Schäffer 2002, S. 255). Die grundsätzlichen Modi, in denen hier die Entstehung von Generationen verortet wird, sind die Interaktionen bzw. die sozialen Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener Altersgruppen, mit denen Differenzen zwischen ihnen deutlich gemacht werden können. Selbst- und Fremdzuschreibungen tragen dazu bei, die „Grenzen“ zwischen diesen Kollektiven aufzuzeigen und damit Gleichartigkeiten bzw. Unterschiedlichkeiten deutlich zu machen. Diese Definitionsprozesse können dabei in den zuvor beschriebenen sozialen Feldern auftreten. Dabei ist die Randbedingung von Bedeutung, dass das Alter von Personen und ihre Lagerung in der historischen Zeit aufgrund des Verlustes eindeutiger Altersrollenvorgaben und Altersordnungen zum Gegenstand der Situationsdefinition gemacht werden. Die Formen, in der diese Situationsdefinitionen durchgeführt und die Kanäle, die dafür genutzt werden, lassen sich an dieser Stelle nicht en detail darstellen. Für die Qualität dieser Darstellungen ist aber von Bedeutung, dass die klare Abgrenzung und Darstellung der Eigenschaften einer histori-
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schen Altersgruppe entscheidend dazu beiträgt, ob sie in diesem Sozialgefüge eine dominante Position einnehmen können.
4.2 Soziale Schließung und Monopolisierung Die Erlangung einer dominanten Position ist auch davon abhängig, ob es den historischen Altersgruppen gelingt, die Verteilung der verschiedenen Kapitalsorten maßgeblich zu determinieren. Auch hier bietet die Generationensoziologie wieder einen Anknüpfungspunkt, mit dem dieses Gestaltungspotenzial der historischen Altersgruppen deutlich gemacht werden kann. Die Ausführungen von Edmunds und Turner (2002, 2004) geben hier wichtige Hinweise. Sie setzen sich mit dem Einfluss der Generationen auf den sozialen und kulturellen Wandel Großbritanniens in der Nachkriegszeit auseinander. Generationen werden von ihnen dabei als wichtige Agenten dieses Wandels interpretiert, wobei z.B. der Nachkriegsgeneration für die Durchsetzung der Massen- und Konsumgesellschaft und dem globalen Einfluss der 68erGeneration eine wichtige Rolle zugeschrieben wird. Für die Beschreibung dieses Einflusses steht auch hier Mannheim Pate: Adaptiert wird hier allerdings für die Entstehung der Generationen die Prägungsidee. Von größerem Interesse für diese Argumentation ist aber die zentrale Erklärungslücke Mannheims, die von den Autoren ausfindig gemacht wird. Diese beschreiben sie, dass er nicht deutlich macht, in welcher Weise Generationen in Erscheinung treten, aktiv werden und mit welchen Mitteln sie ihre Weltsicht, Interessen in der Auseinandersetzung mit anderen Generationen etc. durchsetzen. Zur Beschreibung dieser Prozesse verbinden sie daher die Gedanken Mannheims mit einigen theoretischen Elementen Bourdieus. Der Schlüssel für den sozialen Wandel liegt dabei in dem Generationenverhältnis, das hier als Kampf um knappe Ressourcen und die Durchsetzung von Stil- und Geschmacksfragen, also auch als Kampf um Distinktion angelegt ist (vgl. Edmunds, Turner 2002, S. 13ff., 2004, S. 179). Der Habitus wird dabei als Reaktion auf ein dramatisches bzw. prägendes Ereignis in der Jugendphase verstanden und damit als das Element, das als kollektive Identifikationsmöglichkeit eine (Ver-) Bindung zwischen den Individuen herstellen kann. Ein stark ausgeprägter generationsspezifischer Habitus sowie ein starkes Bewusstsein der Generationszugehörigkeit führt dazu, dass Generationen – analog zum marxistischen Definition der sozialen Klasse – in der Politik eine aktiv gestaltende Rolle einnehmen können (vgl. auch Fietze 2003, S. 443). Je nach dem, wie stark diese Eigenschaften ausgeprägt sind, können Generationen im Fluss der Geschichte eine aktive bzw. passive Rolle in ihrer Gestaltung spielen. Aktiven Generationen wird dabei die Fähigkeit zugeschrieben, ihren Habitus als prägend (dominant) durchzusetzen und damit pfadabhängig auch die Zukunft nachfolgender Generationen zu determinieren. Passive Generationen besitzen
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demgegenüber keine besondere Gestaltungskraft gegenüber der Geschichte. Vor diesem Hintergrund sehen Edmunds und Turner in Generationen auch Einheiten der sozialen Stratifizierung, die als Monopolisten über die Verfügungsgewalt von Ressourcen auftreten können. Daher interpretieren sie das Mannheim’sche „Problem der Generationen“ nicht als Frage, wie gesellschaftlich die Frage der Fremdheit bzw. Kontinuität zwischen Generationen hergestellt wird, sondern als eine Auseinandersetzung um knappe Ressourcen, deren Nutzung in der Zeit organisiert werden muss: „The Mannheimian ‚problem of generations’ is essentially a problem of social scarcity in the context of the transmission and allocation of economic, social and cultural resources over time. More briefly, generation as a principle of social stratification involves the structuring of resources by social cohorts through time“ (Edmunds, Turner 2002, S. 19).
Für die Beschreibung der Monopolisierung wird das Konzept der sozialen Schließung herangezogen. Der Generationenbegriff könnte dabei gegenüber der typischen Vorstellung einer räumlichen Schließung sozialer Verhältnisse, deren temporalen Abschluss deutlich machen (Edmunds, Turner 2002, S. 18, 2004, S. 178). Generationen können dabei verschiedene Ressourcen und Verhaltensweisen für eine bestimmte Zeit monopolisieren und die Möglichkeit gesellschaftlicher Einflussnahme durch Zugehörigkeit zur Generation, die auch durch das Vorhandensein eines spezifischen Habitus reguliert werden kann, bestimmen. Denkbar ist dieses bspw. als generationelle Limitierung des Zugangs zu Positionen mit relevanten Entscheidungsbefugnissen, der etwa durch eine spezifische Generation okkupiert werden kann. Das Generationenverhältnis bearbeitet hier also nicht nur kulturelle Auseinandersetzung um Weltdeutungen und Lebensstil, sondern bezieht sich auch auf die Konflikte um soziale Ressourcen. „Generationeller Konflikt rührt deshalb vom Wettkampf um knappe Ressourcen her, während sich generationelle Identitäten und Kulturen auf sozialen Feldern bilden, auf denen dieser Wettkampf stattfindet. Intergenerationelle Beziehungen lassen sich daher als ein Prozess begreifen, in dem strategische Generationen, die ihre Vorgänger erfolgreich ursurpiert haben, gegenüber der nachfolgenden Generation exkludierende Praktiken anwenden, durch die diese von bestimmten Chancen ausgeschlossen werden“ (Edmunds, Turner 2004, S. 179).
Diese Schließungsstrategien beziehen sich dabei auf die Inbesitznahme sozialer, ökonomischer und kultureller Kapitalressourcen und können dabei sowohl intentionalen wie nicht intentional vollzogen werden. Zur Erfassung des Positionsgefüges zwischen den historischen Altersgruppen sollte dieses Konzept übernommen und mit dem der interaktionellen Konstitution verbunden werden. Selbst- und Fremdthematisierung von Differenzen, Distinktionsprozesse sowie die Monopolisierung von Ressourcen können dann als die Strategien verstanden werden, mit denen sich die historischen Altersgruppen in den sozialen Feldern differenzieren, hierarchische Unterschiede zwischen
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sich deutlich machen und weiterhin Macht ausüben können. Im Zusammenhang mit den verschiedenen Verteilungsordnungen ist zu erwarten, dass sich dabei eine große Bandbreite verschiedener Praxisformen zeigt.
5 Schluss Der hier ausgearbeitete Ansatz versteht sich als Initial für eine neue Perspektive auf die Ungleichheit von Altersgruppen; er ist insbesondere darauf ausgerichtet, die Perspektive auf soziale Ungleichheiten um die der Zeit zu erweitern. In diesem Sinne verstehen sich einige Aussagen auch als Thesen, die der weiteren Diskussion und Präzisierung bedürfen. Auch die empirische Entwicklung macht deutlich, dass diese Betrachtungsweise in Zukunft Relevanz erlangen wird. Die Veränderungen in der Alterssicherung stellen dabei nur eine, wenn auch die bekannteste Entwicklung in diesem Zusammenhang dar. Szydliks Frage (2002) nach der Ungleichheit der Generationen wies bereits in diese Richtung. Er setzte an der unterschiedlichen Belastung der Generationen durch die wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungssysteme an und verwies damit implizit auf die demographische Entwicklung. Diese ist eine der zentralen Entwicklungen, die es notwendig machen, sich der Frage zuzuwenden, in welcher Weise sich unterschiedliche Lebensbedingungen für die Generationen ergeben werden. Die fortschreitende Alterung der Gesellschaft, die gleichzeitige Schrumpfung der Bevölkerung und die Umkehrung der Größenverhältnisse zwischen den verschiedenen Altersgruppen stellen in den nächsten Jahren nicht nur verschiedenste Institutionen vor große Herausforderungen, sondern sind auch in ihren Wirkungen generationsselektiv. Verschiedene Jahrgänge werden von ihnen profitieren, andere werden im Vergleich dazu stärker belastet werden. Aktuell und auch beispielhaft lassen sich diese Entwicklungen am Arbeitsmarkt Ostdeutschlands erkennen (vgl Ketzmereck, Terpe 2001). Besondere institutionelle Regelungen der unmittelbaren Nachwendezeit, die den Vorruhestand betreffen, die Entwicklung der Geburtenrate vor und nach der Wende sowie die spezifische Situation des Arbeitsmarktes entfalten ihre Wirkungen generationsselektiv. Dass hier bspw. ältere Arbeitnehmer, die von den Vorruhestandsregelungen profitieren oder aufgrund ihres Alters im Beschäftigungssystem verbleiben konnten, zeigt deutlich, dass verschiedene Jahrgänge durch diese Regelungen benachteiligt wurden und größere Teile von ihnen auf Dauer vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen blieben. Diese ostdeutsche Entwicklung stellt zwar für sich einen historischen Sonderfall dar, der sich in dieser Weise nicht verallgemeinern lässt. Er gibt aber Hinweise darauf, in welcher Weise sich demographische Veränderungen in den nächsten
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Jahren auswirken können und damit die Kategorie Generation relevant werden lassen kann. Eine weitere gesellschaftliche Entwicklung, die dafür spricht, sich mit der Ungleichheit historischer Altersgruppen zu befassen, ist in der Veränderung der gesellschaftlichen Zeitorganisation zu sehen. Diese ist durch einen beschleunigten sozialen Wandel geprägt (vgl. Rosa 2005, auch Mannheim 1964 [1928]). Die zeitliche Spanne, in der sich Lebensumstände verändern, verkürzt sich dabei immer weiter. Dies hat nicht nur die zuvor beschriebenen Auswirkungen auf die Zeitsemantiken, d.h., es steigt nicht nur der Synchronisationsaufwand an und die Zukunft repräsentiert sich als zunehmend unsicher. Vielmehr vermehren sich auch die Gelegenheiten, an denen sich Lebensumstände für die verschiedenen Geburtsjahrgänge komplett verändern können, d.h. durch die Generationen unterschieden werden können. Die Beziehungen zwischen den Generationen verändern sich damit in umfassender Weise. Aufgrund des schnelleren und umfassenderen Wandels entfernen sie sich in einem stärkeren Ausmaß voneinander als dies in frühren Zeiten der Fall war. Damit verringern sich auch Gemeinsamkeiten und Verständigungshorizonte zwischen ihnen, ihre besonderen Lebensumstände erhalten eine besondere Wichtigkeit. Die Feststellung von Unterschieden und Gleichartigkeiten von Generationen stellt damit eine zentrale Aufgabe dar, um so eine zentrale Realitätsdimension der Gesellschaft darstellen und zur weiteren soziologischen Aufklärung beitragen zu können.
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Potenziale und Ressourcen des Alter(n)s im Kontext von sozialer Ungleichheit und Langlebigkeit 1 Gertrud M. Backes und Ludwig Amrhein
Bei der viel diskutierten Frage der Entwicklung von Alter(n) im Kontext sozialen Wandels geht es neben Beschreibung und Erklärung auch um eine Interpretation „der Welt“. Dies impliziert den Blick auf sich verändernde Zusammenhänge von Alter, Altern, Lebenslauf und Gesellschaft. Und es erfordert die Entwicklung von Leitbildern zu Alter und Altern im Umbruch wirtschaftlicher, politischer und kultureller Verhältnisse. Dabei wird häufig auf Potenziale des Alter(n)s rekurriert. Aus der Kenntnis des Zusammenhangs zwischen Lebenslagen und deren Entwicklung im Lebensverlauf und Potenzialen bei jetzt älteren und alten Menschen lässt sich – auf der Basis sich abzeichnender Lebenslageentwicklungen jetzt jüngerer Menschen – begründet auf künftig zu erwartende Potenziale des Alters schließen. Auf diesem Wege sind strukturelle, institutionelle wie individuelle Ansatzpunkte zur Prävention im Sinne einer am langen Leben orientierten Gestaltung der Lebensverläufe und Biographien zu benennen. Damit ist der Anschluss an ein Konzept des „homo vitae longae“ gegeben, des am langen Leben in einer Gesellschaft des langen Lebens orientierten Menschen. Der Beitrag gliedert sich in drei Teile: Zunächst werden in Abschnitt 1 die Potenziale des Alter(n)s in den Kontext sozial differenzierter und ungleicher Lebenslagen – und den damit verbundenen sozialen Konflikten und Machtverhältnissen – gestellt. In Abschnitt 2 geht es dann darum, die anstehenden Veränderungen als gesellschaftliche Entwicklungsaufgabe der Gestaltung des Lebenslaufs und des Verhältnisses der Generationen und der Geschlechter zu skizzieren. Weiter geht es in Abschnitt 3 um die bilanzierende Darstellung von aktuell propagierten Leitbildern im Konzept des am langen Leben orientierten Menschen, des „homo vitae longae“. Die Ergebnisse der Diskussion werden schließlich in Abschnitt 4 diskutiert.
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Dieser Text ist eine stark gekürzte Version des Beitrages von Gertrud M. Backes in Amann und Kolland (2007).
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1 Alter(n)spotenziale im Kontext sozial differenzierter und ungleicher Lebenslagen In den letzten zehn Jahren hat auch in Deutschland die Forschung zur objektiven und subjektiven Lebenssituation älterer und alter Menschen deutlich zugenommen: So liegen inzwischen mit der Berliner Altersstudie (Mayer, Baltes 1996), der ersten und der zweiten Welle des Alters-Surveys (Kohli, Künemund 2000; Tesch-Römer et al 2006), der Interdisziplinären Langzeitstudie des Erwachsenenalters (ILSE) (Martin et al. 2000), der SHARE-Studie zu „Health, Ageing and Retirement in Europe“ (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe; Börsch-Supan, Jürges 2005), verschiedenen Studien zur Pflege- und Einkommenssituation im Alter sowie mit den bisherigen fünf Berichten zur Lage der älteren Generation (BMFSFJ 1993, 1998, 2001, 2002, 2006) fundierte und vielseitige empirische Informationen vor, die eine differenzierte Analyse der Lebenslagen, insbesondere auch sozial gefährdender Lebenslagen älterer und alter Menschen in Deutschland ermöglichen. Indem die Diskussion um Potenziale des Alters in den Kontext des Wissens um Lebenslagen im Alter gestellt wird (vgl. Tews 1993; Backes 1997b; Clemens 1994; Voges 2002; Clemens, Naegele 2004), können neben den Möglichkeiten auch die vor allem sozialstrukturell bedingten Grenzen der Potenzialentwicklung nachvollziehbar gemacht werden. Daraus sind auch Ansatzpunkte für eine an sozialer Ungleichheit ansetzende Förderung von Alterspotenzialen abzuleiten. Aus den vorliegenden Studien zu Lebenslagen und sozialen Ungleichheiten im Alter lassen sich folgende Erkenntnisse ableiten: Auch im Alter besteht – als Ergebnis lebenslaufabhängiger Differenzierungen – ein erhebliches Ausmaß sozialer Ungleichheit. Beeinträchtigte und gefährdete Lebenslagen im Alter sind in hohem Maße mit sozialstrukturellen Merkmalen verknüpft. Sie bestehen vor allem bei hochaltrigen Menschen, insbesondere hochaltrigen Frauen, und bei älteren Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Herkunftsmilieu. Hier ist für die Zukunft eher eine Verstärkung, ein weiteres Auseinanderklaffen von Bevorzugten und Benachteiligten, zu erwarten. Zentrale Charakteristika heutiger Lebenslagen älterer und alter Menschen werden durch die Polarisierung in ein positives und ein negatives Alter bestimmt. Das „positive Alter“ ist gekennzeichnet durch gute bis sehr gute Einkommens- und Vermögensverhältnisse bei wachsenden Gruppen älterer Menschen, zumindest in den alten Bundesländern, die auch durch herrschende Vererbungsmechanismen immer weiter verbessert werden. Im Zusammenhang mit materiellen Niveauerhöhungen zeigen sich Zunahmen an Aktivität, Freizeitorientierung, Unabhängigkeit, Selbständigkeit und sozialer Integration sowie an Selbsthilfepotenzialen und Selbstorganisationsfähigkeit. Das „negative“ Alter findet sich besonders häufig bei Angehörigen der unteren Sozialschichten, bei sehr alten Menschen und vor allem bei hochaltrigen
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Frauen. Traditionelle soziale Ungleichheiten werden im Alter durch geschlechtsspezifische und kohortentypische Ungleichheiten überlagert, wobei sich Kumulationseffekte bei problematischen Lebenslagen ergeben. In den letzten Jahren verstärken sich Hinweise auf ein sich verfestigendes, wenn nicht gar sich ausweitendes „negatives Alter“. Betroffen sind insbesondere Frauen heute mittlerer Altersgruppen mit wachsenden Einkommens- und Verarmungsrisiken. Diese Risiken ergeben sich aus Lücken der sozialen Alterssicherungssysteme, die in ihren Strukturprinzipien an Normalbiographien und Normalarbeitsverhältnissen ausgerichtet sind (Versicherungs- und Äquivalenzprinzip, Orientierung am früheren Erwerbsstatus). Der derzeitige „Umbau“ des Systems der Alterssicherung mit einer Senkung des Rentenniveaus wird zukünftig vor allem die einkommensschwächeren Gruppen dann älterer und alter Menschen treffen. Materielle Unterversorgung hat dabei auch Auswirkungen auf die Aktivitäten, Kompetenzen und Verhaltenspotenziale des Alter(n)s. Hier sind wiederum überwiegend Frauen betroffen (Backes et al. 2006).
2 Auf dem Weg zu neuen Verhältnissen der Generationen und Geschlechter im Lebens(ver)lauf Grundlegend andere zahlenmäßige Proportionen der Generationen, die Verlängerung des Lebens und die Abnahme der Bevölkerung bringen grundlegend andere Formen der Verteilung von Existenzsicherung, Arbeit, Lernen und (Für)Sorgen, kurz: andere Formen der Vergesellschaftung über den Lebensverlauf hinweg, mit sich. Nur scheinbar kann dieser Prozess als „naturwüchsiger“ sozialer Wandel quasi sich selbst überlassen werden. Tatsächlich geschieht er nie außerhalb gesellschaftlicher Interessen, Machtverhältnisse und Konflikte. Diese finden sich in den diversen – z. T. verdeckten, z. T. offen verhandelten – Ideen und Ideologien zu Alter(n) und Szenarien zur „alternden Gesellschaft“ und spiegeln sich hierin wider. Insofern ist es aus der Sicht der Lebensqualität in allen Lebensaltern und der Chancengleichheit zwischen Generationen, Geschlechtern und sozialen Klassen wie anderen sozialen Gruppen nur folgerichtig, diesen Prozess einer – von den Intentionen her gezielten – gesellschaftlichen Gestaltung zugänglich zu machen. Sollen soziale Folgeprobleme so weit wie möglich verhindert oder gemildert werden, stellt sich die Alternative der Nicht-Beeinflussung dieses Prozesses nicht: Aktive und gezielte Gestaltung wird dann zum Erfordernis. Der Veränderungsprozess der Struktur- und Handlungsmuster des Alters hält an und greift immer mehr in andere ebenfalls bereits laufende Prozesse der Veränderung des Lebenslaufs hinein (s. Individualisierung und Pluralisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse). Mit Verjüngung und Entberuflichung des
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Alters, mit Hochaltrigkeit, Singularisierung und Feminisierung (Tews 1993) stehen nun auch zunehmend im Alter Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensverhältnisse an. Auch im Alter müssen individuelle Entscheidung, Weichenstellung und Steuerung immer mehr die zurückgenommene gesellschaftliche Einbettung, Orientierung und Sicherheit ersetzen. Die Entwicklung entsprechender Handlungskompetenz im Alter ist für die Sicherung von Lebensqualität oder gar von Existenz bis ins hohe Alter erforderlich. Der gesellschaftliche Schutz- und Schonraum einer sozial gesicherten „rollenlosen Rolle“ (Burgess 1960) des Alters geht weiter verloren und wird offensiv in Frage gestellt. Insofern spiegeln die gerontologischen Forderungen nach „erfolgreichem Altern“, nach „Training“, „Prävention“, nach Entwicklung der „Potenziale“ des Alters die Erfordernisse, die an das Alter gestellt werden, und schlussfolgern daraus auf Altersideale, Handlungsziele und Kompetenzmodelle des Alters. Mit der Frage nach den Potenzialen des Alters steht die Frage nach der Gestaltung des Lebenslaufs und der Verteilung gesellschaftlich und individuell relevanter Aufgaben, Rechte und Pflichten in dessen Verlauf an. Es geht um die veränderte Gestaltung der Arbeits- und Aufgabenteilung zwischen den Generationen und Geschlechtern. Wenn möglichst viele Potenziale zur gesellschaftlichen Entwicklung sowie zum Erhalt von Lebenschancen genutzt werden sollen, können die etablierten Formen der Arbeitsteilung und Aufgabenzuweisung innerhalb des Lebenslaufs – zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern – nicht unhinterfragt bleiben. Auch Fragen nach unterschiedlichen/sozial verschiedenen, nach ungenutzten, verdeckten oder unentdeckten Potenzialen in verschiedenen sozialen Lagen und sozialen Gruppierungen sind dabei konsequenterweise zu beantworten. Und nicht zuletzt stellt sich hierbei die Frage von Lebenslagen jenseits der gängigen Potenzialentwicklung und -nutzung, ganz besonders im Zusammenhang mit körperlichem und geistigem, gegebenenfalls auch psychischem Abbau und Sterben, das heißt mit der Dauer bzw. Endlichkeit des Lebens und der Begrenzung seiner Manipulation durch den Menschen. Veränderung der Arbeitsteilung, der Verteilung von Chancen und Risiken und wechselseitigen Verpflichtungen und Freiheitsgraden zwischen den Generationen schließt eine entsprechende Veränderung der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern ein. Generationenlagen und Geschlechterlagen sind während des gesamten Lebenslaufs eng verknüpft (Backes, Clemens 2000; Backes et al. 2001). Weibliche Jugend ist anders als männliche, weibliches Alter anders als männliches, mittleres Lebensalter bei Frauen unterscheidet sich i. d. R. noch stärker von dem bei Männern, als dies für Jugend oder für Alter normalerweise gilt. Diese Unterschiede gehen auf verschiedene Aufgabenzuschreibungen und auf damit z. T. zusammenhängende geschlechts- und lebensaltersbezogene Ideale wie Schönheits- und Leistungsideale oder Weiblichkeits- und Männlichkeitsideale zurück. Letztere unterscheiden sich jeweils auch bezogen auf die Position im Lebenslauf (Männlichkeitsideal im Alter: Aktivsein in gesellschaftlich-
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öffentlichen Bezügen, Weiblichkeitsideal im Alter: eher Aktivsein in der familialen-privaten Sphäre). Der Zusammenhang von Generationen- und Geschlechterlagen wird z.B. daran deutlich, dass Pflege von Menschen im frühen und späten Leben (Kinder- und Altenpflege) bis dato primär von Frauen geleistete Arbeit ist, die mit sozialen Nachteilen in ihrer Lebenslaufbilanz einhergeht, z.B. hinsichtlich ihrer Integration in den Erwerbsarbeitsmarkt, ihrer sozialen Sicherung im Alter und ihrer Einbindung in außerfamiliale Netzwerke (Backes et al. 2006; Backes, Clemens 2000). Die angesprochenen strukturellen Veränderungen setzen auch Veränderungen der kulturellen Normen und Werte hinsichtlich der Lebensalter, des heutigen Alters und der Generationen- und der Geschlechter voraus. Zunächst sind dabei die Hürden negativer und falscher Vorstellungen von Alter und Altern zu überwinden: einer an Jugend, an ihrer (körperlichen) Leistungsfähigkeit und ihrer relativen Unversehrtheit orientierten Kultur, aber auch die jeweils einseitigen Vorstellungen von Jugend und von Alter(n). Und dies ist im Zusammenhang zu sehen mit der Notwendigkeit der Veränderung einseitiger und begrenzenden Geschlechternormen für Frauen und für Männer (im Lebensablauf). Das heißt, es gilt gängige Generationen-, Lebensphasen- und Geschlechternormen und -rollen zu dekonstruieren, um sie für eine Neukonstruktion zu öffnen. Und in diesem Prozess sind auch die an den jeweiligen Konstruktionen und Dekonstruktionen beteiligten Interessen / Gruppierungen zu entdecken und anzusprechen (vgl. Backes et al. 2001). Nicht nur für das Alter müssen veränderte Orientierungen und Lebensmodelle, neue „Rollen“ entwickelt werden, die „Rollenvorstellungen“ hinsichtlich aller Lebensphasen müssen verändert werden. Das gesamte Gefüge der gesellschaftlichen Aufgabenzuweisung und Arbeitsteilung, das heißt auch der Rechte und Pflichten während des Lebenslaufs, muss in einer neu aufeinander abgestimmten und den veränderten Anforderungen entsprechenden Weise umgestaltet werden. Es wäre verkürzt, würde man unter einer Anpassung an die Erfordernisse einer „alternden Gesellschaft“ nur die Veränderung des letzten Lebensabschnitts verstehen. Das Leben ist nicht „einfach nur“ länger geworden; es hat sich von Anfang an und im gesamten Verlauf verändert: Kindheit und Jugend haben sich verlängert; das sog. mittlere Erwachsenenalter ist mittlerweile nur schwer von dem abgrenzbar, was wir bereits und noch Alter nennen; und das so genannte Alter hat sich zu einem vielschichtigen und aus mehreren Phasen (s. „Junges Alter“ im Unterschied zum „Hohen Alter“) bestehenden Lebensabschnitt entwickelt, der bis zu einem Drittel des Lebens umfassen kann und dies bei immer mehr Menschen auch tut. Neben den einzelnen Lebensphasen zugeschriebenen Aufgaben haben sich bereits auch Altersgrenzen, Übergänge und die Dauer der einzelnen Lebensabschnitte verändert, außerdem ihre Durchlässigkeit, ihre wechselseitige Verschränkung und ihr Aufeinander-Bezogensein. Diese Veränderungen finden
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allerdings noch keine gesellschaftlich allgemein akzeptierte – gar institutionalisierte – Form und Akzeptanz. Um dies zu erreichen, muss ein Bewusstsein für die bereits eingetretenen Veränderungen entstehen, und diese müssen auch in angemessener Weise institutionalisiert werden. Dies setzt die Entwicklung entsprechender Werte und normativer Orientierungen, z.B. in Form von Leitbildern, voraus. Hierauf wird im Folgenden etwas ausführlicher eingegangen.
3 Leit- und Menschenbilder in einer Gesellschaft des langen Lebens Das Konzept des am langen Leben orientierten Menschen, des „homo vitae longae“ in einer Gesellschaft des langen Lebens geht über eine Leitbildfunktion im engeren Sinne hinaus. Es beinhaltet praktische Veränderungsansätze im o. g. Sinne der Veränderung der Struktur des Lebenslaufs, der Arbeitsteilung und Solidarität zwischen den Generationen und Geschlechtern sowie entsprechender Handlungsmuster. Diese orientieren sich an zur Zeit aktuellen Leitbildern wie mitverantwortliches Leben älterer Menschen und Solidarität, Alter als zukünftiger Innovationsmotor, Nachhaltigkeit und Generationensolidarität, lebenslanges Lernen und schließlich Prävention. Neben der Einbettung in die o. g. strukturellen Entwicklungen bedarf es zur Begründung des Konzeptes des „homo vitae longae“ der kritischen Auseinandersetzung mit anderen Leitbildern und Ideologien des Alters, der Verständigung zu Annahmen über menschliche Grundbedürfnisse und zu Annahmen über gesellschaftliche Leitideen. Innerhalb der gerontologischen Diskussion lassen sich derzeit vor allem vier grundlegende Perspektiven auf das Alter(n) („Ideologien des Alters“) unterscheiden (nach Moody 2001, S. 175-196): 1. „Erfolgreiches Altern“: Schlüsselmotiv ist das der Lebenszufriedenheit, und diese geht primär mit Gesundheit einher, so die Annahme. Insofern fällt diese Perspektive mit dem gesellschaftlichen Szenarium der Kompression von Morbidität zusammen. Das Konzept richtet sich an das Individuum, es besteht die Gefahr des Abgleitens in einen an individueller Gesundheitsförderung orientierten Privatismus, zumindest Individualismus. Sozialpolitisch hat es vor allem präventive und gesundheitsfördernde Ansätze im Gefolge. 2. „Produktives Altern“: Schlüsselbegriffe sind Produktivität und Generativität und insofern auch: Leistung. Als Hintergrundansatz lässt sich das Aktivitätskonzept identifizieren; häufig nimmt es Formen einer „Geschäftigkeitsethik“ (busy ethic) und damit einer Karikatur des modernen stets aktiven Menschen an. Verortet wird Alter demzufolge auch unter ökonomischen Effizienz-
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Kriterien. Politisch wird hieraus die Ausdehnung/Verlängerung der Lebensarbeitszeit gefolgert. 3. „Bewusstes Altern“: Hier geht es im Sinne einer lebenslangen Entwicklung um die Selbstverwirklichung des Individuums bis hin zur Transzendenz im hohen Lebensalter. Dabei wird der retrospektiven Bearbeitung/Verarbeitung des Lebenslaufs eine zum Altern gehörende Bedeutung zugeschrieben. Politische oder gesellschaftliche Implikationen sind implizit und richten sich auf die Notwendigkeit der Akzeptanz dieses individuellen Entwicklungsverlaufs und der gesellschaftlich positiven Normierung (gegen Stigmatisierung z.B. der Selbstbesinnung und des Rückzugs im Alter, insbesondere im hohen Alter). 4. „Solidarisches Altern“ als Konzept basiert auf einer „radikalen“ oder „kritischen Gerontologie“ und der Politischen Ökonomie als gesellschaftstheoretischem Hintergrund: Hier geht es um soziale Gerechtigkeit unter den Bürgerinnen und Bürgern, um die Beschreibung von „Diversity“, von sozialer Unterschiedlichkeit und sozialer Ungleichheit, die Anlass zu Protest via Gleichheitsförderung und politischer Korrektheit gibt. Gleichzeitig – und zum Teil mit den genannten Perspektiven auf Alter und Altersideologien verwoben – lassen sich vier Szenarien einer alternden Gesellschaft beschreiben (vgl. Moody 1995, S. 163-184): 1. Ausdehnung/Verlängerung der Morbidität: Angesichts dieser prognostizierten Entwicklung stellt sich die Frage nach Lebensqualität und ergibt sich u. U. die – letztlich stoizistisch begründete – Forderung nach einem Recht auf Sterben. Politische Implikationen wären z.B. Terminierung von Behandlung und Unterstützung von Sterbehilfe. Hieraus ergäbe sich eine Verschiebung der Ressourcen zugunsten derjenigen, die über günstige Lebensqualität verfügen, also eine Verschärfung sozialer Ungleichheit und Diskriminierung bis hin zur Frage des nicht mehr lebenswerten Lebens. 2. Kompression der Morbidität: Als zentral hierfür gilt das Gelingen „erfolgreichen Alterns“. Es geht um Vitalität, um Sein und Tun, um (sozial)utilitaristische Vorstellungen, die als Modernisierung des Alters beschrieben werden: Erfolgreiches Altern ist folgerichtiges Resultat eines pragmatischen, am individuellen Nutzen orientierten Handelns eines modernen Individuums. Morbidität wird dadurch – so das Szenarium – auf eine eng begrenzte Zeit konzentriert. Dies setzt voraus, dass Ressourcen verstärkt zugunsten von Gesundheitsförderung und produktivem Altern investiert werden (bei Knappheit heißt das: statt für Behandlung chronischer langwieriger Erkrankungen). 3. Verlängerung der Lebensspanne durch Gentechnologie („Genetic Engineering“): „Prolongevity“ wird im Kontext des Fortschritts (Wachstum der Lebenszeit) durch Technologie gesehen. Politische Konsequenzen bestehen dementsprechend in einer Verlagerung der Ressourcen von Krankheitstech-
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nologien hin zu biomedizinischer Forschung, die darauf abzielt, Alterungsprozesse (senescence) zu verhindern. 4. Wiederentdecken der Lebenswelt, die zu Sinnfindung und Altern als Szenario Anlass gibt: Hier geht es – vor dem Hintergrund einer „Natural Law Ecology“ – darum, Grenzen zu akzeptieren. Als politische Implikationen liegen nahe: Ende der Biomedikalisierung des Alterns, Begrenzen der medizinischtechnischen Gesundheitsversorgung, stattdessen Umlenken der Ressourcen stärker in den psychosozialen Bereich (s. Hospiz-Bewegung als Beispiel). Eine politökonomische und kritisch-gerontologische Perspektive auf diese Szenarien einer alternden Gesellschaft wie auch auf die Perspektiven auf Alter(n) („Alter(n)sideologien“) ist hier aufschlussreich: Sie befragt die gesellschaftlichen Konflikte, die Macht- und Ungleichheitsverhältnisse, die sich jeweils vor dem einen oder anderen Szenario unterschiedlich auswirken und durchsetzen und stellt sie in einen kritisch-reflexiven gesellschaftlichen Kontext. Sie verortet die Altersideen und die Gesellschaftsszenarien in tatsächlichen gesellschaftlichen Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen. Sie untersucht, welche Interessen sich am ehesten durch das Vorantreiben der Szenarien durchsetzen und realisieren lassen und welche Interessen, welche Lebenslagen welcher Gruppen dadurch wie beeinflusst und beeinträchtigt werden: Wer gewinnt, wer verliert vor der jeweiligen Entwicklungsperspektive bzw. bei Forcieren der einen oder anderen? Wer hat folglich welches Interesse am Vorantreiben welcher Entwicklungen und kann es wie durchsetzen? Diese Fragen finden sich bislang weder bei den Szenarien einer alternden Gesellschaft noch bei den Perspektiven auf Alter(n), mit Ausnahme der angesprochenen „radikalen“, „kritischen“ Gerontologie, die v. a. in einem polit-ökonomischen Kontext fußt. Dabei wären Konstruktionen des Alter(n)s und alternder Gesellschaften aufzuzeigen und in diesen Konstruktionsprozessen zu dechiffrieren, zu dekonstruieren. So ließe sich aufzeigen, wie gesellschaftliche Verhältnisse, Ungleichheitslagen, Macht und Herrschaft zu einer Konstruktion von Alter(n)s- und Gesellschaftsbildern und entsprechenden Konzepten beitragen. Dies würde den Bildern und durch sie mit geschaffenen sozialen Konstrukten, den entsprechenden sozialen Realitäten des Alter(n)s und der „alternden“ Gesellschaft die vermeintliche Naturwüchsigkeit oder Technik- und Fortschrittsgegebenheit nehmen. Ihre Gestaltbarkeit wäre damit wieder eher dem gesellschaftlichen Diskurs gegenüber aufgeschlossen, erschlösse sich breiteren sozialen Gruppierungen und gewänne an Gestaltbarkeit (Arendt 1981). Ohne dass sich damit die Konflikte und Auseinandersetzungen erledigt hätten; sie würden u. U. heftiger, aber sie würden transparenter und offener geführt (werden können und müssen) als bislang (Amann 2006). In der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskussion findet sich meist eine wenig reflektierte Mischung dieser verschiedenen Perspektiven auf das Alter und die verschiedenen Szenarien alternder Gesellschaften (Backes 1997a). Je nach Schwerpunkten in der Wahrnehmung und nach Interessenlage
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steht eher das eine oder andere Konzept (u. U. auch einfach aufgrund seiner vordergründigen Plausibilität, nicht aufgrund einer hinreichenden Durchdringung seiner gesellschaftlichen wie individuellen Implikationen) im Vordergrund, meist in Kombination mit Elementen aus einem oder auch mehreren anderen: Aktuell mit am stärksten rezipiert wird das Konzept des produktiven und das des erfolgreichen Alterns, verbunden mit der Kompression der Morbidität und der entsprechenden Erhöhung der Lebensqualität im Alter (add life to years!). Weniger akzeptiert ist die Vorstellung oder gar Zielvorgabe einer weiteren (gentechnologisch gesteuerten) Ausdehnung der Lebensspanne; allerdings gilt dies nur bezogen auf sozialwissenschaftlich eingebundene oder sozialpolitische Diskussion. (In anderen scientific communities, etwa von der Biologie geprägten, verhält sich dies durchaus anders. Dabei drängt sich die Frage auf, was wird, wenn diese Wissenschaft noch dominanter gegenüber Sozialwissenschaften sein wird, als es bisher bereits der Fall ist.) Weniger en vogue bislang in unserem gesellschaftlichen Kontext ist auch das „Accepting limits“-Konzept mit seiner stärkeren Hinwendung zu psychosozialer Versorgung im (hohen, beeinträchtigten) Alter und auf dem Weg aus dem Leben. Allerdings gewinnen diese Überlegungen an Unterstützung und Ausdruck (s. Hospizbewegung, s. Ansatz der Gerotranszendenz, der bislang v.a. in Skandinavien verbreitet ist). Wenig akzeptiert in unserer Gesellschaft sind ferner Überlegungen, bei einer Verlängerung der Morbiditätsphase im Leben diejenigen zu bevorzugen, die günstige Lebensqualität aufweisen. Faktisch geschieht dies allerdings, wenn sich soziale Ungleichheit ins Alter hinein und im Alter verstärken. Damit hängen grundlegendere Fragen und Überlegungen im Zusammenhang mit der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskussion um die „alternde Gesellschaft“ und „Potenziale des Alter(n)s“ zusammen, nämlich: Welches Gesellschaftsmodell – und damit zusammenhängend: welches Menschenbild – liegen der jeweiligen Diskussion zugrunde? Wie geht man mit der Gefahr eines strukturfunktionalistischen Gesellschaftsbildes um, das nicht nur klassischen gerontologischen Konzepten, sondern vor allem auch der Alltagsdiskussion um Alter(n) vielfach unreflektiert innewohnt? Wie verhalten sich Konzept und Verständnis von Potenzialen des Alter(n)s dazu? Für alle Lebensphasen ist – neben „physiologischen Grundbedürfnissen“ – von anderen menschlichen Grundbedürfnissen auszugehen: nach „sozialer Zugehörigkeit“ bzw. nach „gefühlsmäßigen zwischenmenschlichen Beziehungen“, nach „sozialer Anerkennung“ und nach „Sinngebung“ (Gasiet 1981). Genannt werden in diesem Zusammenhang der menschlichen Grundbedürfnisse häufig auch „Sicherheitsbedürfnisse“, „Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe“, „Bedürfnisse nach Achtung“ und nach „Selbstverwirklichung“ (Maslow 1973, 1994). Zumindest das Grundbedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und das nach sozialer Anerkennung oder auch das „endlich einmal etwas zu schaffen“ setzen die gesellschaftliche An- oder Einbindung während des gesamten Lebens voraus.
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Allein auf dieser Grundlage sind die Notwendigkeit einer Orientierung von Menschen der verschiedenen Lebensalter an einer Konzeption des langen Lebens und einer entsprechenden Prävention und wechselseitigen Solidarität über den Lebensverlauf hinweg bereits ableitbar. Auch von „physiologischen Grundbedürfnissen“ im Kontext der sich abzeichnenden körperlichen Veränderungen im Prozess des Alterns kann eine Leitbild- und Konzeptentwicklung bezogen auf Alter keinesfalls abstrahieren: Produktives Altern oder Potenziale des Alter(n)s entwickeln sich, kommen zur Entfaltung oder werden verhindert bzw. nicht genutzt jeweils in Bezug zu körperlichen Entwicklungen, psychischen und sozialen Bedingungen. In der im Rahmen des Runden Tischs Pflege erarbeiteten und unlängst veröffentlichten „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ (Sulmann, Tesch-Römer 2005) finden sich diese genannten menschlichen Grundbedürfnisse wieder; sie werden für Hilfe- und Pflegebedürftigkeit explizit formuliert.
4 Schlussfolgerungen und Ausblick Als Leitbilder werden zurzeit in der politischen Diskussion oft benannt: Mitverantwortliches Leben älterer Menschen und Solidarität, Alter als zukünftiger Innovationsmotor, Nachhaltigkeit und Generationensolidarität, lebenslanges Lernen sowie Prävention. Diese Leitbilder sind abgeleitet aus der kritischselbstreflexiven Auseinandersetzung mit möglichen Potenzialen des Alters, ferner aus einer entsprechenden Auseinandersetzung mit der Gefahr bzw. mit Risiken der Überschneidung und mangelnden Trennschärfe der Konzepte eines „aktiven“ und „produktiven“ Alters oder von „Potenzialen“ des Alters mit Elementen von Jugendlichkeits- oder Leistungsideologien. Es geht in diesen Leitbildern nicht darum, Alter möglichst lange „jugendlich“ und „fit“ im Sinne einer Funktionalisierbarkeit für außengeleitete einseitige Interessen, etwa der Ökonomie, zu halten. Und es geht nicht um die Verdrängung der zunehmenden Bedeutung des Körpers bzw. der körperlichen Konstitution für den Alltag im Alter, der wachsenden körperlichen und gesundheitlichen Einschränkungen und sozialen Verluste oder gar des Sterbens und des Todes. Auch die sozial unterschiedlichen und sozial ungleichen Potenzialentwicklungen und entsprechenden Möglichkeiten und Grenzen, diese zu realisieren, können dabei nicht ausgeblendet werden. Diese Überlegungen regen dazu an, Leitbilder in ein Konzept des am langen Leben orientierten Menschen in einer Gesellschaft des langen Lebens, kurz im Konzept des „homo vitae longae“ in einer Gesellschaft des langen Lebens, im Sinne einer relativ neutralen Begrifflichkeit zu fassen. Dieses Konzept birgt u. E. weniger Gefahr der Bedienung von Missverständnissen durch Identifikation mit
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anderen gesellschaftlich vorherrschenden Ideologien und Leitbildern. Das Konzept erlaubt eine Einbettung aller Lebensalter, führt weg von einer Alterskonzentration oder gar -fixierung und damit von einseitigen oder wertebelasteten Diskussionen um das Alter. Und es ermöglicht die Anbindung an die Fragen der Lebensqualität über den Lebensverlauf und der Chancengleichheit (von Generationen, Altersgruppen bis ins hohe Alter, Geschlechtern, Migrantinnen/Migranten bzw. Ethnien). Es hilft, verschiedene Kennzeichen des Alters wie auch anderer Lebensabschnitte zu identifizieren, und zwar in ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander. Damit läuft es weniger Gefahr, soziale oder körperliche Einschränkungen und Behinderung, Abbau, Verlust, Abnahme von Engagement in sozialen Bezügen bis hin zu Sterben und Tod auszublenden. Auch hinsichtlich praktischer Veränderungen gilt: Zur Entwicklung eines neuen Zusammenhalts zwischen den Generationen und Geschlechtern, zu einer den aktuellen Herausforderungen entsprechenden, angemessenen Form der Solidarität zwischen den Generationen und Geschlechtern kann die Orientierung an einem Leitbild bzw. am Ziel der Entwicklung eines „homo vitae longae“, eines am langen Leben orientierten Menschen in einer Gesellschaft des langen Lebens – und das bedeutet: an der Entwicklung hierfür relevanter Grundlagen in allen Lebensphasen zum einen und in gesellschaftlichen Feldern und Institutionen zum anderen – beitragen. Es verdeutlicht, dass es nicht um isolierte Rollenveränderung des Alters gehen kann, sondern um eine lebenslauforientierte Neugestaltung der Balance von Lebens- und Arbeitsverhältnissen, sozialer Sicherung und Freiheit und damit Menschenwürde in allen Lebensphasen. Geht es um die Entwicklung, Entfaltung oder Freisetzung von Potenzialen des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft, so steht eine veränderte Integration des Alters und des Alterns in die verschiedensten Bereiche und Institutionen der Gesellschaft an. Und dies schließt die Frage nach den Potenzialen aller Lebensphasen mit Blick auf ein langes Leben unmittelbar ein. Insofern kann auch in der Praxis nur eine auf den Lebenslauf in seiner Gänze bezogene Konzeption veränderter Aufgabenzuteilung und Solidarität zwischen den Generationen und Geschlechtern wirksam werden. Solidarität zwischen den Generationen schließt eine veränderte Solidarität und Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, aber auch innerhalb der „Generationen“ (Geburtsjahrgänge) ein. Gestaltbar ist die Lebensspanne zwischen Geburt und Tod, und zwar hinsichtlich der Qualität wie – zum Teil – der Dauer. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit den sozialen Möglichkeiten zum einen und den biologischen zum anderen. Wachsen, Zurückgehen und Verfall sind Entwicklungsbestandteile des Lebens. Sie sind nur begrenzt durch menschliches Handeln beeinflussbar. Hieraus ergibt sich die Rahmung der Potenziale in Lebenslauf und Alter zum Ersten durch die sozialen Lebenslagen, zum Zweiten durch die individuelle Lebensgeschichte (Biographie); und zum Dritten geschieht dies in gesellschaftlichen Verhältnissen, in Institutionen, Organisationen und gesellschaftlichen (Sub-)Struk-
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turen, die ständig miteinander interagieren, wobei Interessen, Macht- und Ungleichheitsverhältnisse wirksam werden. Eine der komplexen sozialen Wirklichkeit möglichst entsprechende Abbildung dieser Prozesse ist nicht einfach. Und Fragen hinsichtlich der Entwicklung und Förderung sehr unterschiedlicher und ungleicher Potenziale des Alter(n)s lassen sich nicht ohne Rückgriff auf die o. g. Zusammenhänge beantworten. Deshalb bleibt auch dies eine nicht ganz einfache Aufgabe.
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Altert Gerechtigkeit? – Einstellungen zu Gerechtigkeit und Ungleichheit im Wandel der Kohorten Ursula Dallinger
1 Einleitung Öffentliche Diskurse sind höchst sensibel für die kollektiven Wirkungen des Alterns auf die Gesellschaft. Man denke nur an die viel beschriebenen Folgen, die ein hoher und steigender Anteil Älterer für die sozialen Sicherungssysteme haben, oder die Rede von den künftigen Verteilungskämpfen zwischen ‚den‘ Alten und ‚den‘ Jungen, die eine ‚alternde Gesellschaft‘ prägten. Auch Argumentationsmuster wie das der nachlassenden Innovationsfähigkeit und Dynamik der Wirtschaft dokumentieren eine Sensibilität für die kollektiven Folgen individuellen Alterns – ob sie auch inhaltlich-analytisch gehaltvoll sind, braucht an dieser Stelle nicht genauer erörtert werden. Weiter thematisieren öffentliche Diskurse die Andersartigkeit einer kollektiv alternden Gesellschaft mit Hypothesen, die abgeleitet sind aus Annahmen über das andere (konservativere) Wahlverhalten oder die anderen Konsuminteressen Älterer. Ja, selbst Schirrmachers (2004) Charakterisierung ganzer Gesellschaften über das aggregierte Alter ihrer Bevölkerungen als Gesellschaften mit hohem politischen Unruhepotenzial, das sind dann die durchschnittlich ‚jungen‘ Gesellschaften des nahen Ostens, beschreibt die kollektiven, nicht-intendierten Folgen des Alter(n)s. Nun geht es mir nicht um die Inhalte solcher publizistischen, auf hohe mediale Aufmerksamkeit setzenden zugespitzten Gegenwartsdiagnosen. Ich erwähne sie jedoch als Beispiele für eine Sensibilität für die kollektiven Folgen von Altern oder Auswirkungen von Altersstrukturen, die man in seriösen Analysen oft vermisst. Ich möchte damit die Aufmerksamkeit auf eine Sicht auf das Alter lenken, die nicht am individuellen Altern ansetzt, sondern Altern in seinen gesellschaftlichen Folgen und seinen kollektiven Effekten betrachtet. Die in diesen Diagnosen anklingende Sensibilität für die gesellschaftlichen Folgen individuellen Alterns möchte ich verwenden, um meine eigene Frage nach der sozialen Realität von Altersstrukturen zu verdeutlichen. Martin Kohli stieß einst mit seiner Frage „Wie verändern sich Gesellschaften, wenn immer mehr ihrer Mitglieder immer länger leben?“ (Kohli 1990, S. 387) eine solch generelle Perspektive auf Alter als sozial (und nicht nur individuell) folgenreich an. Diese Frage wurde bisher überwiegend auf der Ebene der sozialstaatlichen Folgen beantwortet. Jedoch sollte man die Ebene sozialpolitischer Probleme einmal verlassen und sich allgemeiner der Frage stellen, welche soziale Relevanz denn Alter hat, wie
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sehr es gesellschaftliche Strukturen und soziale Realität prägt. Alter ist sozial relevant, so wie Geschlecht oder soziale Schicht. Es generiert Unterschiede1, denn Menschen sind unterschiedlich in der Zeit positioniert. Wie Alter zum Tragen kommt und qualitativ eine Gesellschaft bestimmt (jenseits von sozialpolitischen Problemen), ob es sozial wirksam wird in kollektiven Merkmalen, wird in diesem Beitrag an einem eher ungewöhnlichen Gegenstand analysiert, dem der Vorstellungen der Bürger über Gerechtigkeit. Die Wahl der Gerechtigkeitsurteile als Gegenstand für eine Analyse des Potenzials von Alter, soziale Unterschiede zu generieren, lässt sich genauer begründen. Gerechtigkeitsurteile bilden zum einen eine kulturelle Dimension alters- oder kohortenbedingter Unterschiede ab. Zweitens haben sie einen quasi ‚offiziellen‘ Charakter. Das unterscheidet dieses Merkmal von Analysen, die etwa den Einfluss des Alters auf Lebensstile zeigen. Lebensstile sind privat, Gerechtigkeitsurteile jedoch zielen in der Regel auf einen Maßstab, der kollektiv gültig zu sein beansprucht. Auch Ronald Ingleharts Items zum Materialismus bzw. Postmaterialismus beziehen sich auf einen öffentlichen Raum, da sie nach dem fragen, was in einem Staat wichtig ist (Ruhe und Ordnung, Gleichstellung, freie Meinungsäußerung; vgl. Inglehart 1971, 1989). Dass Gerechtigkeitsurteile von sozialen Faktoren wie Bildungsniveau, Einkommen oder Geschlecht beeinflusst werden, ist bekannt. Auch der Einfluss von Alter wurde häufig überprüft, allerdings eher als eine Kontrollvariable und nicht im Sinne eines Kohortenkonzeptes. Dagegen verwende ich in dieser Analyse ein Kohorten- und Generationenkonzept, das Alter qualitativ und nicht linear verwendet. Kohorten werden zudem so abgegrenzt, dass sie zeitgeschichtlich Sinn machen. Konzepte, die die soziale Relevanz von Alter und Altern als eine generelle soziale Kategorie begreifen können, behandeln es in Form von Generationen, der Altersschichtung oder des Lebenslaufs. Außerdem werden im Folgenden einzelne Befunde aus der Forschung, die die soziale Wirksamkeit von Alter(n) belegen, skizziert. Die Lebensstilforschung, die inzwischen auf die Altersabhängigkeit ihres Gegenstandes aufmerksam wurde, wird sowohl mit dem Wandel von Lebensstilen im Lebenslauf als auch mit deren Wandel durch Kohorten konfrontiert. Die soziale Relevanz des Alters kommt also durch den Lebenslauf und durch Kohorten bzw. Generationen zum Tragen. Dieser Beitrag konzentriert sich aber auf die Analyse von Kohorten bzw. Altersschichtung, da ich auf Querschnittsdaten zu verschiedenen Zeitpunkten zurückgreife. Die Fragestellung lautet so konkreter: Sind Kohorten bezüglich ihrer Gerechtigkeitseinstellungen unterschiedlich? Bleiben im Querschnitt sichtbare Unterschiede zwischen Kohorten auch im Laufe der Alterung erhalten, sind sie also auch latente Generationen, die sich in spezifischen Merkmalen über die Zeit 1
Diese Unterschiede bedeuten nicht immer auch gleichzeitig Ungleichheit oder Ungerechtigkeit. Das unterscheidet die von Alter in das Gefüge gesellschaftlicher Differenzen eingezeichneten Linien von denen, die durch Schicht und Klasse oder Geschlecht gezogen sind.
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durchhalten? Diese Fragen lassen sich an der zeitlichen Entwicklung der Gerechtigkeitseinstellungen klären. Die These ist, dass die Kohortenzugehörigkeiten qualitativ folgenreich Unterschiede erzeugen, und dass Altersstrukturierung Teil jeder Gesellschaft, nicht nur der alternden, ist. Dieser Aufsatz hat weitgehend heuristischen Charakter. Er ist ein Versuch zu prüfen, ob Kohorten bzw. Generationen sozial wirksam werden. Zunächst werfe ich einen Blick auf Konzepte und Forschungsergebnisse, die Alter und die Position von Menschen in der Zeit als relevante Merkmale reflektieren (2). Dann begründe ich, weshalb ich Gerechtigkeitseinstellungen als Dimension, an dem die Bedeutung von Altern empirisch analysiert wird, ausgewählt habe (3) und gehe auf die verwendeten Variablen und den Datensatz ein (4). Mit Daten des Allbus werden anschließend Altersunterschiede bei Gerechtigkeitseinstellungen und ihre Veränderung nachvollzogen (5). Das Fazit bündelt die Ergebnisse hinsichtlich der Ausgangsfragestellung (6).
2 Alter als Dimension der Sozialstruktur Alter ist eine zentrale Dimension gesellschaftlicher Differenzierung und Ungleichheit, wie Kohli (1992, S. 231) in seinem Grundlagenaufsatz zum Alter in soziologischer Perspektive feststellte. Wie aber kann man diese Dimension als eigenständig und quer zu anderen Faktoren sozialer Differenzierung wirkende Dimension genauer einordnen? V.a. Konzepte, die von Generationen, Altersschichten und Lebenslauf sprechen, lassen erwarten, dass sie eine Antwort darauf geben, wie Alter das Soziale strukturiert. Im Folgenden diskutiere ich kurz, welche spezifischen Perspektiven sich aus ihnen für die Fragestellung dieses Beitrags gewinnen lassen. Kohli (1990) empfahl den Begriff der Altersschichtung als Instrument der Analyse von Ungleichheit, der nicht wie die meisten Konzepte einer Soziologie der Ungleichheit und der sozialen Strukturierung blind für Altern sei. Altersschichtung ist zudem ein konsequent auf das gesellschaftliche Altern ausgerichteter Begriff. Die klassische Theorie der Altersschichtung geht v.a. auf Mathilda Riley zurück, die darin den Gedanken der nach Alter gegliederten Gesellschaft und eine Theorie des sozialen Wandels verbindet (1976, 1987, S.1). Die Dynamik sozialen Wandels werde von Kohorten getragen, die altern, und die jeweils neue Praktiken, kulturelle Vorstellungen und Lebensweisen real werden lassen. Kohorten, die jeweils unter neuen Bedingungen die verschiedenen Altersphasen durchleben, sorgen somit für sozialen Wandel. Eine Altersschichtung – eine Strukturierung des Sozialen durch nach Alter und Position im Lebensverlauf definierten Rollen – sind aber die basale Idee.
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„Age and aging (...) are often overlooked as fundamental aspects of social structure and social dynamics. Yet, in every society both the population and the roles are stratified by age, much as they are stratified by class or sex. (...) A person‘s activities, his attitudes toward life, his relationship to his family or to his work (...) are all conditioned by his position in the age structure of the particular society in which he lives. And as this structure changes, people age in different ways“ (Riley 1976, S. 189).
Drei Punkte gehen aus dem Zitat hervor: 1) Alter ist ein Merkmal nicht nur individuellen Alterns, sondern der Sozialstruktur; 2) Gesellschaften sind nach Alter geschichtet; 3) Aktivitäten, Einstellungen, Beziehungen zur Privat- und zur Erwerbssphäre werden geprägt durch die Altersposition, die ein Individuum in der Altersstruktur einnimmt. 4) Die Altersstrukturen von Gesellschaften unterscheiden sich. Rileys Modell ist geprägt von der funktionalistischen Soziologie Parsons. Es wird von ‚age strata‘ als einem Merkmal des sozialen Systems gesprochen. Ähnlich wie im Rollenkonzept, das sich Rollen als Positionsangebote der Gesellschaft an die Akteure vorstellt, sind ‚age strata‘ altersspezifische Rollen, und das Individuum bewegt sich durch diese Strata. Der Lebenslauf besteht demnach aus Sequenzen sozialer Rollen. Wegen der unterschiedlichen Rollen verändern sich Akteure und Kohorten mit den Altersrollen, die sie einnehmen (Riley 1976, S. 191). Hinzu kommt, dass sich Altersrollen selbst im sozialen Wandel verändern, so dass nach diesem Modell gesellschaftlicher Altersrollen jede Kohorte anders altert. In den 70er-Jahren konnte Riley die These von der auch nach dem Kriterium Alter gegliederten Gesellschaft noch ohne die heutigen Bedrohungs-Szenarien formulieren. Unterschiede zwischen den Kohorten seien als Teil sozialen Wandels normal, und Alter sei ein Prinzip der Strukturierung von Sozialbeziehungen wie andere auch. Riley sah durchaus, dass Konflikte bei großen Ungleichgewichten der Zahl der Kohortenmitglieder entstehen könnten. Diese Ungleichgewichte zwängen zu einseitigen Ressourcenverschiebungen. Konflikte entstünden auch, wenn einer Kohorte einseitig Zugang zu Ressourcen gewährt werde. Die folgende eigene Analyse schließt primär an der von Riley formulierten Idee einer generellen, fundamentalen Strukturierung der Gesellschaft nach Alter an, nicht an dem Modell der Rollen für bestimmte Altersphasen und auch nicht an der These der Änderung spezifischer Altersrollen. In unserem Kontext wäre zu prüfen, ob Altersschichten auch dann sichtbar werden, wenn man nicht nach Rollen fragt, sondern nach anderen Dimensionen, hier nach Gerechtigkeitseinstellungen, die maßgeblich die kollektive Ordnung prägen. Der Begriff der Altersstrukturierung scheint mir geeignet zu sein, die allein quantifizierende oder auf soziale Probleme bezogene Betrachtung der kollektiven Folgen von Alter(n) aufzubrechen und vorzudringen zu einer generellen sozialen Realität von Altersgliederung. Ein anderes Konzept, das die Altersdimension von Sozialstruktur erfasst, bietet Karl Mannheims Generationenbegriff (1928). Generationen sind demnach
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durch ihre Position in der Zeit inhaltlich bestimmte Kohorten. Nach Mannheim erzeugt die Tatsache, dass Kohorten eine gemeinsame Position in der Gesellschaft teilen, eine Generationenlagerung. In der ‚Generationseinheit‘ sind Individuen auf spezifische Weise miteinander verbunden. Sie bilden keine konkrete Gruppe, auch wenn es dazu kommen mag, wenn Generationen sich ihrer selbst als solche bewusst werden und als eine Einheit beschreiben. Die Verbindung von Menschen in einem Generationszusammenhang beruht für Mannheim „auf einer verwandten Lagerung der einer Generation zurechenbaren Individuen im sozialen Raume.“ (526f.) Eine Generationslage – die „Folge einer spezifischen Lagerung der durch sie betroffenen Individuen im gesellschaftlich-historischen Lebensraume“ (527) – schränkt den Spielraum möglichen Geschehens ein, denn sie legt eine spezifische Art des Erlebens und Denkens nahe (528). Das Partizipieren an den gleichen Ereignissen schaffe eine ähnliche Lagerung im sozialen Raum. Für Mannheim ist die Jugend und junges Erwachsenenalter die Phase der Prägung dieser ‚spezifischen Art des Denkens und Erlebens‘. Welche Phasen tatsächlich Menschen prägen, kann hier dahin gestellt sein. Entscheidend ist allein, dass diese Prägung konstant wirksam bleibt. So waren etwa die ‚Kinder der Großen Depression‘ (der Wirtschaftskrise der 20er-Jahre) über ihren gesamten weiteren Lebenslauf eine abgrenzbare Kohorte mit spezifischen Einstellungen und Haltungen zur Welt (vgl. Elder 1974). Nach Mannheims Generationenkonzept bleiben die Erfahrungen einer formativen Phase prägend. Nach den Ausführungen Mannheims lässt sich nun die bislang in diesem Beitrag ungeschiedene Verwendung des Kohorten- und Generationenbegriffes präzisieren. Der Begriff der Kohorte kann eine bloße Einteilung in Geburtsjahrgangsgruppen sein, der Begriff der Generation hingegen meint eine inhaltlich bestimmbare und dauerhaft sichtbare Kohorte. Es ist nicht nötig, dass sich Personen selbst als eine Gruppe definieren. An das Konzept des Lebenslaufs schließt sich eine weitere Forschungsrichtung an, mit der sich Altern in die Analyse sozialer Strukturen hereinholen lässt. Man kann den Lebenslauf als Voranrücken in der Zeit durch verschiedene Lebensphasen begreifen. Personen verändern dabei ihre Positionen und Anforderungen und altern im Lebenszyklus. Aus dieser Sicht ist für die Analyse von Gerechtigkeitseinstellungen erwartbar, dass diese sich aufgrund von individuellen Reifungsprozessen im Lebenszyklus verändern. Ein derartiger Wandel von Dispositionen im Lebenszyklus wird etwa auch mit der Hypothese des Alterskonservativismus untersucht (Künemund 2001, S. 86ff.). Danach nähmen Menschen in späteren Phasen des Lebenslaufs zunehmend eine politisch konservative Haltung ein. Wenn, wie in diesem Beitrag, das Alter als kollektive soziale Folgen und Strukturen hervorbringende Kategorie im Vordergrund steht, dann sind allerdings eher Lebenslaufkonzepte interessant, die die soziale Strukturierung des Lebenslaufs sehen. Nach Martin Kohli hat sich in der Moderne ein institutionalisierter Lebenslauf ausgebildet (1985), der sich zur sozialen Struktur entwi-
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ckelte, weil die einzelnen Phasen wie auch die Übergänge mit sozialen Erwartungen belegt sind. Die Phasen werden so standardisiert. Der Lebenslauf gibt soziale Positionen vor, die Individuen in unterschiedlicher Weise durchlaufen. Die Lebenslaufforschung blickt auf die Strukturierung der Lebenszeit durch unterschiedliche Positionen und auf den Einfluss von Ereignissen, die im Laufe des Lebens eintreten. Auch eine solche Perspektive wäre fruchtbar, da sie doch die Prägung der Gerechtigkeitserwartungen durch Ereignisse in bestimmten Lebensphasen annimmt. Da mir aber keine Paneldaten vorliegen, scheint mir das Konzept der Generationen angemessener, da es Alter in seinen aggregierten Folgen erfasst, dabei aber statischer von Lagerungen spricht, die man im Querschnitt betrachten kann. Auch die Forschung zu Lebensstilen hat das Alter als eine der wichtigen Dimensionen entdeckt, die Lebensstile bestimmen. Der Befund, dass Lebensstile oder Milieus stark mit dem Alter korrelieren, führte zur Einsicht, dass bestimmte Stile das Produkt von Lebensphasen oder aber von Kohorten- bzw. Generationeneffekten sein könnten (vgl. Spellerberg 1996; Hartmann 1999; MüllerSchneider 2000). Denn der Einfluss der Variable Alter auf Lebensstile kann auf beides zurückzuführen sein, auf ein bestimmtes Lebensalter bzw. Stellung im Lebenszyklus oder auf die Zugehörigkeit zu einer Generation. Stile sind dann veränderlich. Die Variabilität mit dem Alter kann auch bedeuten, dass Kohorten bestimmte Lebensstile praktizieren, die die kulturellen Haltungen und Praktiken bestimmter Generationen anzeigen.2 Für unseren thematischen Kontext ist das Wesentliche an diesen Befunden über die Bestimmtheit und Unterscheidbarkeit von Lebensstilen nach der Alters- oder Kohortenzugehörigkeit, dass Alter offensichtlich Relevanz für soziale Strukturen hat. Weiter unterstreichen die Befunde, dass der Strukturierungsfaktor Alter differenziert werden muss in die Effekte, die
2
Hartmann (1999, S. 175) kritisierte die Statik der Lebensstilforschung und verwies auf deren naiven Umgang mit der Variable Alter. Der Einfluss der Altersvariable lasse sich auf Alterung oder auf Kohorten zurückzuführen. Lebensstilforschung habe nur dann eine prädiktive Leistung, wenn sie klären könne, ob mit der Alterung Lebensstile wieder aufgegeben werden, oder ob Kohorten sie konstant tragen. Die Altersbestimmtheit der Milieus fand auch Müller-Schneider (2000) in seiner Studie zu Erlebnismilieus. Spannungs- und Trivialschema korrelieren mit dem Alter, was schon die Variablen nahelegen, aus denen sie konstruiert sind. Das erste bündelt jugendkulturelle Verhaltensweisen, Präferenzen für Pop- und Rockmusik, Actionfilme, Kino, Diskothek und Bungeespringen. Im Trivialschema finden sich Präferenzen für deutschen Schlager, Volksmusik, Fernsehshows, Heimatfilme u.Ä. Das Ergebnis, dass alltagsästhetische Schemata und Milieus mit Alter korrelieren, führen die Autoren auf lebenszyklische Effekte und Generationenlagerungen zurück. Entscheiden lässt sich kaum, ob Alter ein bestimmtes Stadium im Lebenszyklus markiert oder eine Generation. So werden die im Zeitvergleich sichtbar werdenden Verschiebungen in den Milieus auch einmal mit dem Lebenszyklus (wenn Personen ein Milieu verlassen) erklärt, das andere Mal mit der Generation. Wegen solcher Befunde wird die Dynamisierung der Lebensstilforschung gefordert. Mit Hilfe von Zeitvergleichen müsse man lebenszyklus- oder kohortenbedingtem Wandel in der Analyse beikommen.
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auf die jeweilige Lebensphase zurückgehen, und die, die von der Zugehörigkeit zu spezifischen Generationen bedingt sind. Aus dem Durchgang durch Konzepte, die Alter als Teil sozialer Strukturen begreifen – Altersschichtung, Generationen und Lebenslauf bzw. -zyklus ergibt sich zum einen eine Lebenszyklushypothese und zum anderen eine Generationenhypothese in Bezug auf die Gerechtigkeitseinstellungen. Nach dem Generationenkonzept müssten die einzelne Altersgruppen charakterisierenden Merkmale im Zeitablauf dauerhaft erkennbar sein. Die Kohorten müssten im Jahre 2000 etwa die gleichen Gerechtigkeitsvorstellungen haben wie im Jahre 1990. Nach dem Lebenszykluskonzept verändern sich die Einstellungen und Werte der Kohorten mit den Phasen bzw. Abschnitten, die sie erreichen. Was eine Kohorte 2000 denkt, hat sich 20 Jahre später gewandelt. Die Fragestellung des Beitrags, ob Alter kollektiv wirksam wird und aggregierte soziale Unterschiede erzeugt, wird also v.a. dann bestätigt, wenn man Generationenlagerungen findet. Solche aggregierten Altersunterschiede sprächen auch für die Tatsache der Altersschichtung einer Gesellschaft. Ich möchte allerdings den Begriff der Altersschichtung im Sinne einer allgemeinen Strukturierung nach Alter verwenden und nicht wie ursprünglich bei Riley als Schichtung durch soziale Rollen. Die Prägung durch eine spezifische historische Situation ist demnach der soziale Mechanismus, der Kohorten als durch Alter gebildete latente Gruppen mit spezifischen Merkmalen erkennbar macht und zu von anderen unterscheidbaren Generationen macht. Findet man nun empirisch eine soziale Wirksamkeit des Alters, die sich bis in die Gerechtigkeitsvorstellungen auswirkt?
3 Werte und Einstellungen als Gegenstand Um zu analysieren, wie Alter soziale Unterschiede erzeugt, und in Form von Generationen sozial relevant wird, verwende ich Einstellungen zu Gerechtigkeit und Ungleichheit als Indikator. Ich begründe kurz warum: Sozialstrukturanalysen beziehen sich in der Regel auf Indikatoren für die objektive soziale Lage von Menschen oder auf kulturelle Praktiken, Lebensführung und Geschmackspräferenzen, um die Strukturierung des sozialen Raumes zu beschreiben. Die Unterschiede der Altersgruppen hinsichtlich objektiver Merkmale wie Einkommen oder Bildungsniveau sind gut beschrieben und sollen in diesem Beitrag nicht zur Charakterisierung von Altersdifferenzen verwendet werden. Die andere Vorgehensweise, Lebensstile an Freizeitaktivitäten und Lebensführung abzulesen, bezieht sich auf Praktiken, die sehr von Lebensphasen und den dann dominie-
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Ursula Dallinger
renden Lebensumständen abhängen.3 In diesem Beitrag versuche ich dagegen, eine etwaige Altersstrukturierung an spezifischen Wertvorstellungen über Gerechtigkeit und Ungleichheit zu erfassen, da sie weniger von den jeweiligen Lebensumständen abhängig sind. Sie zeigen basale Wahrnehmungsschemata, die gleichwohl sozial geprägt sind. Meine Ausgangsannahme lautet, dass zu einer Verankerung im sozialen Raum auch die normative Orientierung gehört. Auch haben private Stile der Lebensführung eine geringere Konflikt- und Vergesellschaftungsrelevanz als die Maßstäbe und Bewertungen von Gerechtigkeit. Dagegen sind Werteinstellungen zu kollektiver Verteilung schon eher Divergenzen, die in den Kern der Gesellschaft zielen. Die oben diskutierten Konzepte zur Altersstrukturierung der Gesellschaft untermauern, dass auch die Werthaltungen und Einstellungen ein Feld sind, auf dem sich Alter manifestiert. In Rileys Zitat wurde klar benannt, dass sich Altersgliederung neben anderem an den ‚Einstellungen gegenüber dem Leben‘ festmachen lässt. „A person‘s activities, his attitudes toward life, his relationship to his family or to his work (...) are all conditioned by his position in the age structure of the particular society.” Mannheim, der zweite oben behandelte Klassiker einer Altersstrukturierung, spricht ebenfalls die ‚spezifische Art des Erlebens und Denkens‘ als das bestimmende eines Generationszusammenhangs an, wozu zweifellos die kulturellen Vorstellungen über Gerechtigkeit und Ungleichheit gehören.4 An Ronald Ingleharts Studie zum Wertewandel, die primär ein Beleg für den über die Abfolge von Kohorten getragenen sozialen Wandel normativer Einstellungen ist, lässt sich darüber hinaus ablesen, dass gerade auch Bewertungen über die ‚gute Gesellschaft‘ eine relevante Dimension der Gliederung des sozialen Raumes sind. Denn Ingleharts (Post-)Materialismus Indikatoren fragen nach dem, was Akteuren an einer Gesellschaft wichtig ist, etwa materielle Sicherheit oder freie Meinungsäußerung. Um solche Qualitäten öffentlicher Beziehungen geht es aber auch bei der Analyse, wie Ungleichheit und Gerechtigkeit wahrgenommen und beurteilt werden. Im folgenden empirischen Teil stütze ich mich auf Items, die die Bewertungen der Befragten zu Ungleichheit und Gerechtigkeit einholen. Dies greift die Anregungen bei Riley, Mannheim und Inglehart auf, die ‚attitudes towards life‘, eine ‚spezifische Art des Erlebens und Denkens‘ oder kollektive Urteile über gute Gesellschaft zum Gegenstand der Analyse sozialer Phänomene zu machen.
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Es ist daher wenig erstaunlich, dass Analysen zu Lebensstilen ergaben, dass diese v.a. vom Alter der Akteure bestimmt sind (Wahl 1997; Schroth 1999). Bereits Mannheim sprach wie später Bourdieu vom sozialen Raum. Nur ist bei Mannheim die Lagerung im sozialen Raum auch durch Generationen mit ähnlichen Arten des Erlebens und Denkens bestimmt.
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4 Verwendete Daten Im Allbus, einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, stehen Items über Wertund Gerechtigkeitseinstellungen zur Verfügung, zudem noch für einen längeren Vergleichszeitraum, nämlich für die Jahre 1984, 1994 und 2000.5 Im Einzelnen handelt es sich um die Items: a) „Nur wenn die Unterschiede im Einkommen und persönlichen Ansehen groß genug sind, gibt es auch einen Anreiz für persönliche Leistungen“, b) „Die Rangunterschiede zwischen den Menschen sind akzeptabel, weil sie im wesentlichen ausdrücken, was man aus den Chancen, die man hat, gemacht hat“ und c) „Ich finde die sozialen Unterschiede ein unserem Land im großen und ganzen gerecht“. Tabelle 1: Kohorten und Alter zu den verschiedenen Erhebungszeitpunkten Kohorten
Alter 1984
Alter 1994
Alter 2000
Erfasste Lebensphasen
Alter 2020
1920–30
54–64
64–74
70–80
Vom späten Erwachsenenalter zum Alter
90+
1931–40
44–53
54–63
60–69
Mittleres Erwachsenenalter bis Alter
80–89
1941–54
30–43
40–53
46–59
Mittleres nenalter
66–79
1955–70
18–29
24–39
30–45
Vom jungen zum mittleren Erwachsenenalter
50–65
1971–87
Max. 11
7/18–23
13/18–29
Junge Erwachsene
33–49
Erwachse-
Um dem Kohorten- und Generationenkonzept gerecht zu werden, wird Alter nicht einfach als ein lineares Merkmal verwendet, sondern es wurde eine inhaltlich gehaltvolle Kohorteneinteilung entwickelt. Diese ist ein Kompromiss zwischen mehreren Zielen: Erstens sollten historisch sinnvolle Kohorten abgetrennt werden, was natürlich nur in etwa gelingt, da die Abfolge der Kohorten und Generationen in Wirklichkeit verschachtelt und überlappend ist (Attias-Donfut 1998). Zweitens sollten die Kohortengrenzen zu Lebensphasen passen und mit den vorgegebenen Erhebungszeitpunkten abbildbar sein. Drittens sollten die geburtenstarken Jahrgänge, die einst die ‚alternde Gesellschaft‘ verursachen, abgebildet werden. Ich positioniere sie zwischen Mitte der 50er-Jahre und Be5
Optimalerweise müssten Paneldaten für die Art der Fragestellung zur Verfügung stehen. Im SOEP stehen aber noch keine Gerechtigkeitsfragen über einen längeren Zeitraum zur Verfügung. Daher beziehe ich mich auf wiederholte Erhebungen mit identischen Instrumenten an repräsentativen Zufallsstichproben.
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ginn der 70er-Jahre, als Pillenknick und Geburtenrückgang einsetzten. Der Kompromiss ergab diese Einteilung der Kohorten. Neben den geburtenstarken Jahrgängen trenne ich eine jüngere Kohorte der 1971 bis 1980 Geborenen ab, zwei ältere Kohorten, die von 1920 bis 1930 geborene und eine andere von 1931 bis 1940 geborene und ein Kohorte mittleren Alters, geboren von 1941 bis 54.
5 Ergebnisse: Generationenlagerung von Gerechtigkeitseinstellungen Zunächst soll geprüft werden, ob der soziale Raum tatsächlich durch unterschiedliche Einstellungen zu sozialer Gerechtigkeit zwischen Kohorten strukturiert ist. Differieren die Kohorten in dem, was sie als akzeptable und gerechte Ungleichheit definieren? Dies kann erstens die Frage einer Altersstrukturierung überhaupt beantworten. Zweitens muss analysiert werden, wie stabil diese über die Zeit bleibt. Denn in diesem Fall wären die Kohorten auch Generationen, die längerfristig durch spezifische Wertvorstellungen abgrenzbar sind. Es werden hier zunächst nur Bürger der alten Bundesländer betrachtet, wegen der sehr unterschiedlichen Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen Ost- und Westdeutscher (Gangl 1998). Wir beginnen mit einer Betrachtung der Verteilung der Akzeptanz der drei Items zu Ungleichheit auf die Kohorten im Querschnitt im Jahre 2000, um zu sehen, ob es überhaupt Kohortenunterschiede gibt (siehe Abbildung 1). Man sieht zunächst, dass unter Westdeutschen generell unabhängig vom Alter am ehesten die motivierende Wirkung von Einkommensdifferenzen Zustimmung findet. Bei dem Statement, soziale Unterschiede seien gerecht, werden selbst Westdeutsche skeptisch und nur noch knapp die Hälfte stimmt zu. Blickt man nun auf die Unterschiede im Antwortverhalten der Kohorten, dann sieht man, dass sich diese deutlich abzeichnen: Ältere finden häufiger als Jüngere, dass Einkommensdifferenzen motivierend wirken, also gerechtfertigt sind. Je jünger die Kohorte ist, desto weniger halten sie Einkommensdifferenzen wegen ihres Motivationseffektes für günstig. Ein ähnliches Bild zeigt sich bezüglich der Rangunterschiede: Knapp vier Fünftel der alten Kohorte der 1920 bis 1936 Geborenen, aber nur die Hälfte der Baby-Boomer akzeptiert Rangunterschiede. „Soziale Unterschiede sind gerecht“, findet etwas mehr als die Hälfte der alten Kohorte, die im Jahr 2000 64 bis 80 Jahre alt ist und immerhin etwa 43 Prozent der Babyboomer, die zum Befragungszeitpunkt im mittleren Alter waren. Bei der jüngsten Kohorte, zum Befragungszeitpunkt junge Erwachsene zwischen 18 und 29 Jahren, zeichnet sich sogar ein Trend ab, die Babyboomer zu überrunden und
Altert Gerechtigkeit?
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Ungleichheit wieder akzeptabel zu finden. Allerdings ist der Trend zu klein, um darauf weitreichende Aussagen zu bauen. Abbildung 1: Einstellungen zu Ungleichheit und Gerechtigkeit nach Kohorten (alte Bundesländer) 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Einkommensungleichheit motiviert 1920-30
Rangunterschied akzeptabel 1931-40
1941-54
1955-70
Soziale Ungleichheit gerecht 1971-87
Quelle Allbus 2000. Dargestellt sind Prozentwerte für Zustimmung. Eigene Berechnung.
Die nach der prozentualen Verteilung augenscheinlichen Unterschiede werden durch eine Varianzanalyse bestätigt. Die Ungleichheitsorientierungen unterschieden sich danach signifikant zwischen den Kohorten. Wenn sich Altersgruppen signifikant unterscheiden in ihren Auffassungen über Gerechtigkeit und soziale Ungleichheit, über die produktive Rolle von Einkommensdifferenzen und akzeptablen Rangunterschieden, dann ist auch von einer Strukturierung des sozialen Raumes durch Kohorten zu sprechen. Alter(n) ist sozial bedeutsam, ihm entsprechen qualitative Merkmale. Ein Querschnitt sagt jedoch nicht, ob diese Strukturierung über die Zeit konstant ist. Das ist aber entscheidend, wenn man etwas über die Existenz und Unterscheidbarkeit von Generationen wissen will. Daher blicken wir auf die vergangene Entwicklung anhand der Querschnittsergebnisse zu früheren Erhebungszeitpunkten. Findet man hier ‚Generationenlagerungen‘ im Sinne von sich längerfristig durchhaltenden Einstellungsdifferenzen? Über die Veränderungen der Ungleichheitseinstellungen in den einzelnen Kohorten geben die Abbildungen 2 a) – c) Auskunft. Sie zeigen die prozentuale Verteilung der Zustimmung zu den drei Gerechtigkeitseinstellungen aufgeteilt nach Kohorten und im Vergleich der Jahre 1984, 1994 und 2000. Durch diese
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weit auseinander liegenden Vergleichspunkte lässt sich evtl. langfristiger Wandel, der durch Generationen oder aber den Lebenszyklus (‚Alterung‘) verursacht ist, sichtbar machen. Betrachtet man die Veränderungen in den Gerechtigkeitseinschätzungen der einzelnen Kohorten, dann sieht man neben den schon besprochenen Kohortenunterschieden ebenfalls die sich im Laufe der Zeit wandelnden Einstellungen zu Gerechtigkeit. Bei fast allen Kohorten steigt zwischen 1984 und 2000 die Zustimmung zu sozialer Ungleichheit, d.h. alle Bürger der alten Bundesländer tolerieren unabhängig vom Alter zu Beginn des 2. Jahrtausends Ungleichheit stärker als Mitte der 80er-Jahre. Gleichwohl bleiben die Unterschiede im Niveau der Zustimmung, durch das sich die Kohorten unterscheiden, weitgehend stabil. Alle Bürger akzeptieren in diesen 16 Jahren zunehmend, dass Einkommensunterschiede eine positive Wirkung haben und dass Rangunterschiede akzeptabel sind. Auch die für Verjüngung sorgende, 1971 bis 1987 geborene Kohorte, die ab dem Erhebungszeitpunkt 1994 mit einbezogen wird, zeigt diesen Trend und steigt zudem mit einer höheren Einstiegsakzeptanz von Ungleichheit ein. Lediglich beim Statement, dass soziale Ungleichheit gerecht sei, bringt sie ihren ‚jugendlichen Elan‘ kurzfristig zur Geltung, und stimmt dem nur zu einem Drittel zu. Dieser Effekt ist aber sechs Jahre später wieder weg, und die Jungen finden sich fast gleichauf mit der älteren Kohorte der Babyboomer. Bei den Ergebnissen zu dem letzten Ungleichheitseinstellungen messenden Item ist noch eine weitere Ausnahme von der sonst allgemeinen Tendenz hin zu mehr „Ungleichheitstoleranz“ zu finden. Denn in beiden Kohorten der zwischen 1931 und 1954 geborenen Jahrgänge nimmt die Zustimmung zur Gerechtigkeit sozialer Ungleichheit nicht zu, sondern leicht ab. Auch bei der ältesten Kohorte gab es lediglich eine kleine Veränderung. Diese älteren Kohortengruppen zeigen in der gleichen Periode wie die Jüngeren, und damit unter den gleichen Zeiteinflüssen, im Laufe ihres Vorrückens vom mittleren zum höheren Erwachsenenalter weitgehende Konstanz. Dies spricht für einen Lebenszykluseffekt: Basale Gerechtigkeitseinschätzung würden sich demnach ab dem mittleren Alter nicht mehr so drastisch ändern. Diese Hypothese kann mangels Paneldaten zu Gerechtigkeitseinstellungen nicht erhärtet werden, da man nicht wissen kann, ob hinter der Konstanz im Aggregat nicht doch individuelle Veränderungen stehen. Der Beitrag kann aber dennoch die kollektive, soziale Relevanz des Alters untersuchen, indem er auf der Ebene von Kohorten bleibt. Mit dem zweiten Schritt des Vergleichs der altersspezifischen Gerechtigkeitsvorstellungen ist genau solch ein Zugang zu Analyse von Kohorten möglich. Die Entwicklung über die Zeit weist in etwa stabile Unterschiede in den Gerechtigkeitsvorstellungen von Altersgruppen auf, so dass man von Generationen sprechen kann. Unschärfen bestehen hinsichtlich der Frage, ob der generelle Anstieg bei fast allen Gruppen auf einen zeitgeschichtlich verursachten Periodeneffekt zurückgeht oder ob man auf einen durch ‚Alterung‘ verursachten Lebenszykluseffekt schließen muss.
Altert Gerechtigkeit?
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Abbildung 2: Einstellung zu Ungleichheit im Vergleich 1984, 1994 und 2000 (alte Bundesländer) a) Einkommensdifferenzen erhöhen Motivation 60
55
Zustimmung in %
50 1920 - 30
45
1931–40 1941 - 54
40
1955–70 1971– 87
35
30
1984
1994
2000
b) Rangunterschiede sind akzeptabel 90
Zustimmung in %
80 70
1920 – 30 60
1931 - 40
50
1941 - 54 1955 – 70
40
1971 – 87 30 20 1984
1994
2000
c) Soziale Unterschiede sind gerecht 90 80
Zustimmung in %
70 1920 – 30
60
1931 – 40 1941 - 54
50
1955 – 70 1971 – 87
40 30 20 1984
1994 Erhebungsjahre
Quelle Allbus 1984, 1994 und 2000. Eigene Berechnung.
2000
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Insgesamt kann man aber Generationenlagerungen annehmen, die aber flexibel bleiben. Generationen mit verschwommenen Grenzen ‚altern‘ zum einen, d.h. sie rücken im Lebenszyklus nach vorne, zum anderen bewegen sie sich aufgrund von Periodeneinflüssen. In beiden Fällen kommt es dazu, dass zunehmend Ungleichheit toleriert wird, ablesbar an den Gerechtigkeitseinstellungen. Beide Erklärungen/ Prozesse (Perioden- und Lebenszyklus) benötigen aber eine Theorie für den Wandel auf individueller Ebene, denn sowohl Lebenszyklus- als auch Periodeneinflüsse werden letztlich aufgrund individueller Prozesse geltend. Die nun folgende Analyse der Gerechtigkeitsbewertungen der Bürger der neuen Bundesländer soll zusätzlich prüfen, wie stabil einmal gewonnene Einstellungsmuster sind und wie stabil damit auch latente Generationen sind. Zudem lassen sich der Perioden- und der Lebenszykluseffekt etwas besser klären.
Die neuen Bundesländer In den neuen Bundesländern ist, wie zu erwarten war, die Akzeptanz von Einkommensdifferenzen und sozialen Unterschieden geringer. Dies entspricht der in vielen Studien festgestellten stärkeren Orientierung der Ostdeutschen an egalitären Verteilungsprinzipien und der Erwartungen an einen Sozialstaat, der durch Umverteilung für sozialen Ausgleich sorgt (z.B. Gangl 1997; Roller 1997). Das Niveau der Zustimmung, etwa zu dem Statement, dass soziale Ungleichheit gerecht sei, bewegt sich im Durchschnitt bei lediglich 18 Prozent, während fast die Hälfte der Westdeutschen soziale Ungleichheit gerecht findet. Beide Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2000. Zusätzlich zu einem insgesamt niedrigeren Niveau der Zustimmung zu Ungleichheit findet man in den neuen Bundesländern schwächer ausgeprägte Altersunterschiede als in den alten. Das zeigen die Prozentwerte in Abbildung 3 und auch F-Tests auf der Basis von Mittelwerten (siehe Tabelle 2). Gerechtigkeitsideen sind einheitlich weniger vom Alter abhängig und Generationenlagerungen somit insgesamt weniger deutlich ausgeprägt. Hinzu kommt als wesentlicher Unterschied, dass die jüngste Kohorte nicht wie im Westen egalitärer als die anderen ist, sondern eine Nachwendegeneration, die die Ungleichheiten einer privatwirtschaftlichen Ökonomie etwas mehr zu akzeptieren scheint. Aber auch unter den jungen Ostdeutschen finden die drei Formen der Ungleichheit weniger Zustimmung als unter den jungen Westdeutschen. Dieser Befund aus dem Vergleich ostdeutscher Kohorten bedeutet, dass nicht die jüngeren Kohorten, quasi entwicklungspsychologisch bedingt, stets Ungleichheit am meisten ablehnen müssten. Die Daten für Ostdeutschland legen es nahe, dass es Reaktionen auf äußere Einflüsse sind, die Generationen prägen. Interessant ist auch, dass sich die älteste und die jüngste ostdeutsche Kohorte in ihrer Zustimmung zu Einkommensdifferenzen, Rangunterschieden und sozialer Ungleichheit gleichen.
Altert Gerechtigkeit?
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Eine genauere Interpretation könnte daran ansetzen, dass beide Kohorten jeweils vor und nach dem Sozialismus gelagert sind; das würde hier aber zu weit weg vom Thema führen. Abbildung 3: Einstellung zu Ungleichheit im Vergleich 1994 und 2000 in den neuen Bundesländern Soziale Unterschiede sind gerecht 25 1920 – 30
ZUstimmung in %
20
1931 – 40 1941 – 54
15 1955 – 70 1971 – 87
10
5
0
1994
2000 Erhebungsjahr
Quelle Allbus 1984, 1994 und 2000. Dargestellt sind Prozentwerte für Zustimmung. Eigene Berechnung.
Interessant ist ein Ost-West-Vergleich besonders auch hinsichtlich der Unterscheidbarkeit von Perioden- und Lebenszykluseffekten. Betrachtet man die Zustimmung zu Ungleichheit im Zeitverlauf, dann sieht man, wie bei den Bürgern der alten Länder fast immer, eine Zunahme der Akzeptanz von Ungleichheit. Man wird dies aber in Bezug auf die Bürger der neuen Bundesländer kaum als Alterung interpretieren wollen. Denn erstens sind lediglich sechs Jahre vergangen zwischen dem ersten und dem zweiten Erhebungszeitpunkt. Zweitens wird man eher die Periodeneinflüsse, sprich die Adaption an die neuen Lebensverhältnisse zwischen den beiden Erhebungszeitpunkten 1994 und 2000, dafür verantwortlich machen, dass nun ungleiches Einkommen und soziale Unterschiede stärker als zuvor akzeptabel sind. Die Alterstrukturierung der Einstellungen im Osten gleicht sonst der im Westen: Die Hierarchie der Altersgruppen ist die Gleiche, und auch der lineare Anstieg im Zeitverlauf ist strukturell gleich, mit einer auffälligen Ausnahme: Die Kohorte der 1930 bis 1940 Geborenen, also die 1994 54 bis 64 Jahre alten Vorruheständler, findet sich am wenigsten mit der Gerechtigkeit sozialer Ungleichheit ab und stimmt Ungleichheit affirmierenden Statements nur wenig zu (nur
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7,1 Prozent). Dieses Urteil entsteht sicher vor dem Hintergrund von Abstiegserfahrung und schlechter Arbeitsmarktchancen. Ein solches Ergebnis bewahrt davor, die Zunahme von Zustimmung zu Ungleichheit als Alterung der Gerechtigkeitsauffassungen zu interpretieren.
Konstanz und Wandel Insgesamt betrachtet, ist die Gesellschaft im Jahr 2000 in Bezug auf Gerechtigkeitsorientierungen genauso wie schon im Jahr 1984 altersstrukturiert. Ein Vergleich der Altersunterschiede über die Zeit macht das deutlich. Geht man von den F-Werten für die Unterschiede zwischen den Kohortengruppen aus (siehe Tabelle 2), dann ist die Distanz zwischen den Kohorten sogar eher schwächer geworden. Denn im Jahr 1984 sind die F-Werte noch höher, was für damals noch deutlichere Unterschiede zwischen den Generationen in ihren Einstellungen spricht. Tabelle 2: Prägung von Gerechtigkeitseinstellungen durch Kohorten: Varianzanalysen (F-Test) 1984
1994
2000
Alte Bundesländer: Einkommensunterschiede erhöhen Motivation
20,64***
5,33***
17,60***
Rangunterschiede akzeptabel
38,04***
22,10***
17,81***
Soziale Ungleichheit ist gerecht
27,00***
12,98***
4,28**
Einkommensunterschiede erhöhen Motivation
n.s.
2,77*
Rangunterschiede akzeptabel
n.s.
2,92*
Soziale Ungleichheit ist gerecht
3,63***
2,33*
Neue Bundesländer:
Quelle: Allbus 2000, 1994, 1984. Eigene Berechnung. Höchst signifikant = ***; hoch signifikant = **, signifikant = *.
Trotz gleichbleibender Altersstrukturierung, insgesamt bewegen sich die Kohorten. Kehrt man zur Ausgangsfragestellung zurück, dann muss die Frage lauten: Wohin bewegen sich die Kohorten und wie prägt die in Zukunft quantitativ umfangreiche alte Kohorte die künftige Gesellschaft. Wenn die Einstellungen im Lebenszyklus ‚alterten‘, dann wäre zu vermuten, dass die einst Jüngeren einmal eine ähnliche Akzeptanz sozialer Ungleichheit aufweisen wie bereits die Älteren zuvor. Wie sehen also die Urteile über soziale Ungleichheit aus, wenn unterschiedliche Kohorten die gleiche Altersstufe erreichen?
Altert Gerechtigkeit?
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Das möchte ich anhand einer Kohortentabelle, die einen etwas anderen Aufbau als die vorigen Tabellen hat, vergleichen und auch nur an einem der Items zu Gerechtigkeit und Ungleichheit diskutieren (siehe Tabelle 3). Wie bereits oben beschrieben, werden die Überzeugungen der einzelnen Kohorten zu Gleichheit ‚konservativer’ und akzeptieren eher die sozialen Unterschiede als offenbar gerechtfertigte. Aber die jüngeren Kohorten erreichen nicht die Position, die die Vorgängerkohorte im gleichen Alter hatte. Dies prognostiziert nun nicht, dass sich allmählich ein Bürger durchsetzte, der keine Unterschiede mehr duldet. Im Gegenteil, die jüngste Kohorte zeigt höhere Eingangswerten als die ‚philantrophischen‘ Babyboomer und die Zukunft ist offen. Tabelle 3: Überzeugungen im Wandel: Soziale Unterschiede sind gerecht. 1984
2000
18–29 Jahre
(1954–70)
32,5 %
44,8 %
(1971–87)
30–47 Jahre
(1937–53)
51,5 %
42,7 %
(1954–70)
48–64 Jahre
(1920–36)
51,1 %
47,7 %
(1937–53)
65–80 Jahre
(1919–35)
57,5 %
54,2 %
(1920–36)
Quelle Allbus 1984, 1994 und 2000. Dargestellt sind Prozentwerte für Zustimmung. Eigene Berechnung.
6 Diskussion der Ergebnisse und Fazit Dieser Beitrag untersuchte ausgehend von einer zunehmenden öffentlichen Sensibilität für eine von ihren Altersstrukturen bestimmten Gesellschaft die Frage, wie wirksam Alter eigentlich das Soziale strukturiert. Die kollektiven Folgen von Altern sollten einmal jenseits der bekannten Debatten um die Finanzierbarkeit von Renten- und Gesundheitswesen aufgesucht werden. Es ging um die globale Strukturiertheit sozialer Phänomene durch Alter. Diese Frage danach, welche Rolle die Kategorie Alter nicht individuell, sondern für soziale Aggregate haben kann, muss den pauschalen Begriff des Alters durch Konzepte ersetzen, die Alter als soziale Kategorie fassen. Dazu wurden Altersschichtung, Generationen und Lebenslauf diskutiert. Da sich der Lebenslaufansatz nur auf Wandel im Laufe von individuellen Lebensverläufen bezieht (auch wenn von sozial definierten Verläufen und Übergängen die Rede ist), bleibt im Wesentlichen die Frage, ob sich Generationen nachweisen lassen. Die Generationenlagerung ist demnach jenes theoretische Konstrukt, das kollektives Alter erfasst. Die Kategorie Alter wird auf einer kollektiven Ebene sozial wirksam durch Kohorten bzw. Generati-
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onen, die unterschiedliche Einstellungen zu Gerechtigkeit ausbilden, weil sie verschiedene Positionen in der Zeit einnehmen. Gleichwohl kann man Veränderungen im Lebenslauf nicht ausblenden, auch sie sorgen nach der empirischen Analyse für einen Teil der veränderten Gerechtigkeitsvorstellungen. Auf der Grundlage der Analyse von mehreren Wellen des Allbus konnten wir neben den Unterschieden im Querschnitt auch konstante Unterschiede zwischen den Kohorten in ihrer Akzeptanz von Ungleichheit finden. Dies berechtigt dazu, sie als latente Generationen zu bezeichnen. Wir haben es wegen des für diese explorative Analyse gewählten Zugangs über Einstellungsgemeinsamkeiten und -unterschiede nicht mit manifesten Generationen zu tun. Es ist auch nicht zu erwarten, dass solche anhand der Vorstellungen zu gerechtfertigter Ungleichheit entstehen. Denn dieser Unterschied ist lediglich einer von weiteren Faktoren, die soziale Unterschiede erzeugen, er wird durchkreuzt etwa durch unterschiedliche Gerechtigkeitseinstellungen sozialer Schichten. Die Kohortenzugehörigkeit ist sicher kein ‚Hauptwiderspruch‘ in Deutschland, schon gar nicht in den neuen Ländern. In den alten Ländern aber ergeben sich aus der Kohortenzugehörigkeit stärkere Unterschiede als aus der sozialen Zugehörigkeit (ergab eine hier nicht weiter erwähnte multivariate Überprüfung des Einflusses weiterer Kontrollfaktoren wie subjektive Schichtzugehörigkeit, Geschlecht und Bildung zusammen mit dem Alter). Die Entwicklung der Gerechtigkeitseinstellungen unterliegt einer weiteren Dynamik, wie der Beitrag empirisch zeigte: Die konstanten Abstände zwischen den Kohorten bewegten sich im Zeitraum, der durch Wellen des Allbus beobachtbar war, nach oben. Das heißt, dass das Niveau der Zustimmung zu Ungleichheit bei allen Kohorten ansteigt. Ob allerdings dieser Trend auf ein Voranrücken der Kohorten im Lebenszyklus zurückzuführen ist, oder auf einen in der Periode wirksamen Einfluss von für alle Alterskohorten gleichen zeitgeschichtlichen Impuls, konnte aufgrund der Querschnittsdaten nicht geklärt werden. Einen Hinweis bekommt man von den Ergebnissen für die Ostdeutschen, die getrennt analysiert wurden: Auch bei ihnen ist der Aufwärtstrend in der Akzeptanz von Ungleichheit zu beobachten. Da dieser sich in der Zeit zwischen 1994 und 2000 ergab, liegt es nahe, diesen mit Periodeneffekten zu erklären. Das Argumentieren mit Lebenszykluseffekten, also mit dem Altern von Personen und einem zunehmenden Konservativismus, der sie verstärkt auch Ungleichheit akzeptieren lässt, ist vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Adaption der ehemaligen DDRBevölkerung an die neuen Lebensbedingungen in einem marktwirtschaftlich verfassten Deutschland schlicht unplausibel. Ich schlage auf dieser Grundlage die These vor, dass auch die Veränderungen in der westdeutschen Bevölkerung einen Periodentrend darstellen. Dass es eine zunehmende Akzeptanz von Ungleichheit in der deutschen Bevölkerung gibt, ist jedoch bloß ein Nebenprodukt der Analyse. Ihre Ausgangsfragestellung zielte vielmehr auf die soziale Wirksamkeit von Alter in Form
Altert Gerechtigkeit?
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eines kollektiven Phänomens. Diese Strukturierung von sozialen Prozessen konnte aufgrund der Gerechtigkeitseinstellungen bestätigt werden. Generationen haben also eine empirische Existenz, und das Alter in Form der unterschiedlichen zeitlichen Lagerung von Personenkollektiven in einem sozialen Raum erzeugt Differenzen. Generationenlagerungen sind ein Teil sozialer Differenzen. Die Ausgangsfrage nach den kollektiven Effekten von Alter zielte jedoch auch auf die kollektiven Folgen von immer mehr Älteren. Allerdings ist diese Frage mit den hier diskutierten Konzepten nicht zu bewältigen.
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Die Geschlechter-Dimension in der Restrukturierung von Rentensystemen – Deutschland und Großbritannien im Vergleich Traute Meyer und Birgit Pfau-Effinger
1 Einleitung In Bezug auf ihre Rentensysteme standen die Regierungen in einer Reihe westeuropäischer Gesellschaften in den 1990er-Jahren vor der Aufgabe, auf den strukturellen und kulturellen Wandel in den Geschlechter-Arrangements zu reagieren, in denen das vormals vorherrschende Familienmodell der Hausfrauenehe zunehmend von moderneren Leitbildern der Familie abgelöst wurde, die Frauen und Männern gleichermaßen einen Platz in der Erwerbsarbeit zuweisen. Das bedeutete vor allem auch, dass eine Restrukturierung von den auf Heirat basierenden hin zu individualisierten Formen der Sicherung notwendig wurde, in denen auch Erziehungszeiten berücksichtigt werden. In diesem Beitrag soll im Vergleich von Deutschland und Großbritannien untersucht werden, wie die Wohlfahrtsstaaten auf diese Anforderungen reagiert haben. Dabei fragen wir insbesondere danach, welche stratifizierenden Wirkungen das Rentensystem jeweils vor und nach den Reformen in Bezug auf das Geschlechterverhältnis hatte. Wir gehen davon aus, dass die Rentenreformen einerseits dadurch geprägt waren, dass es sich um zwei verschiedene Wohlfahrtsregime handelt und andererseits dadurch, dass es Ähnlichkeiten in Bezug auf das vorherrschende kulturelle Leitbild der Familie gibt. Auf dieser Basis untersuchen wir, inwieweit die unterschiedliche Regimezugehörigkeit zu divergenten Reformverläufen geführt hat bzw. inwieweit sich wegen der Ähnlichkeiten in den kulturellen Grundlagen der Geschlechter-Arrangements und deren Wandel die Rentensysteme nach den Umstrukturierungen eher ähneln. Wir legen dabei eine historische Perspektive zugrunde, in der vergleichend erfasst wird, wie sich die Rentensysteme in Bezug auf ihre Geschlechter-Dimension seit den 1950er-Jahren jeweils bis zum Beginn der Reformen am Ende der 1990er-Jahre entwickelt haben, und welche Veränderungen sie im Zuge der seitdem erfolgten Restrukturierung im Hinblick auf die Geschlechterdimension erfahren haben. In einem ersten Schritt wird ein theoretischer Rahmen vorgestellt, in dem die Geschlechter-Dimension in den Rentenpolitiken auf der Basis des spezifischen Zusammenspiels von Wohlfahrtsregimen und ihren kulturellen Grundlagen einerseits, von Geschlechter-Arrangements und deren kulturellen Grundlagen
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Traute Meyer, Birgit Pfau-Effinger
andererseits erklärt werden. Anschließend wird analysiert, wie sich jeweils die Anforderungen an die Rentensysteme in Bezug auf ihre Geschlechterdimension durch den Wandel in den Geschlechter-Arrangements verändert haben. Anschließend wird jeweils für Westdeutschland und Großbritannien analysiert, wie sich die Rentensysteme charakterisieren lassen, die sich bis zum Ende der 1990er-Jahre entwickelt hatten. Es folgt eine Analyse der Reformen seit dem Ende der 1990er-Jahre im Hinblick darauf, wie sich die Rentensysteme im Hinblick auf die Geschlechterdimension verändert haben. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und Überlegungen dazu, ob die Entwicklung der Rentensysteme in Deutschland und Großbritannien seit den Reformen Ende der 1990er-Jahre eher durch Divergenz oder Konvergenz gekennzeichnet war.
2 Wohlfahrtsregime und die Modernisierung von Geschlechter-Arrangements Der deutsche Wohlfahrtsstaat wird in der Typologie von Esping-Andersen (1990, 1999) als konservatives Wohlfahrtsregime bezeichnet, während der britische Wohlfahrtsstaat dem liberalen Wohlfahrtsregime zugerechnet wird. Im konservativen Wohlfahrtsregime sind die sozialen Rechte der Typologie zufolge im Wesentlichen einkommens- und statusbezogen gestaltet. Dadurch werden die Stellung im Erwerbsleben und der darin erworbene Status zur Grundlage der sozialen Sicherung und der sozialen Stratifizierung. Im liberalen Wohlfahrtsregime drücken sich demgegenüber liberale Ideen der individuellen Verantwortung aus. Da die Politik die Wirkung der Marktkräfte in relativ geringem Maße modifiziert, bewirkt dieser Typ des Wohlfahrtsstaats tendenziell eine Polarisierung der Sozialstruktur. Beide Regimetypen unterscheiden sich Esping-Andersen zufolge in der Art und Weise, in der sie das Verhältnis von Arbeitsmarkt und Familie steuern. Konservative Wohlfahrtsstaaten fördern aktiv die unbezahlte Arbeit von Frauen in der Familie und hindern sie daran, sich an der Erwerbsarbeit zu beteiligen. Demgegenüber bewirken die liberalen Wohlfahrtsstaaten hohe Raten der Erwerbsbeteiligung von Frauen, indem sie die finanzielle Unterstützung der Familie gering halten und damit auch eine hohe Arbeitskraftnachfrage in den Mittelschichthaushalten auf dem Markt für geringverdienende Servicekräfte produzieren. Vor dem Hintergrund würde man in Deutschland ein deutlich stärker familienbezogenes Geschlechter-Arrangement erwarten als in Großbritannien, wo man eher von einem stark erwerbsarbeitsbezogenen Arrangement ausgehen würde.
Die Geschlechter-Dimension in Rentensystemen
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Esping-Andersens Typologie bildet nach wie vor eine wichtige theoretische Grundlage für die international vergleichende Analyse wohlfahrtsstaatlicher Politiken. Sie wurde allerdings unter anderem aus dem Grund kritisiert, dass sich die Annahme, dass die verschiedenen Typen von Politiken gegenüber der Familien und den Geschlechterbeziehungen systematisch mit den verschiedenen Typen von Sozialpolitik variieren, die in seiner Typologie beschrieben sind, nicht halten lässt (z.B. Lewis 1992; Lewis,Ostner 1994; Orloff 1993; Siim 1998; PfauEffinger 2005a). Deshalb wurden auf der Basis der Differenzen in der Geschlechterpolitik alternative Typologien vorgeschlagen. So unterscheiden Lewis (1992) und Lewis, Ostner (1994; vgl. auch Daly 2000) zwischen einer stark, moderat und schwach ausgeprägten Förderung des männlichen Familienernährermodells in der Sozialpolitik. Allerdings wurde in dem Ansatz unzureichend entwickelt, welches die Gründe für die internationalen Differenzen in der Geschlechterpolitik sind, in welchem Verhältnis diese zur Wohlfahrtsregime-Typologie steht, und wie sich auf der Grundlage Politikwandel konzeptionell erfassen lässt. Pfau-Effinger (2005a) hat argumentiert, dass die Geschlechterpolitiken von Wohlfahrtsstaaten einerseits durch die Zugehörigkeit eines Wohlfahrtsstaates zu einem bestimmten Regimetyp beeinflusst werden und andererseits durch die kulturellen und strukturellen Bedingungen der jeweiligen Geschlechter-Arrangements. Beide Faktoren variieren im internationalen Maßstab teilweise unabhängig voneinander. Dies ist auch die Perspektive, unter der wir in diesem Beitrag die Entwicklung der Rentensysteme in einer Geschlechter-Perspektive vergleichend untersuchen wollen. Sie wird einerseits im Kontext der Zugehörigkeit der beiden Wohlfahrtsstaaten zu verschiedenen Wohlfahrtsregimes analysiert, andererseits auf der Basis der Entwicklung ihrer Geschlechter-Arrangements.
3 Die Modernisierung der Geschlechterarrangements im Vergleich von Deutschland und Großbritannien Moderne Gesellschaften arrangieren das Leben von Frauen und Männern in jeweils spezifischer Art und Weise. Ein ‚Geschlechter-Arrangement’ einer Gesellschaft basiert auf kulturellen Werten und Leitbildern (‚Geschlechterkultur’), auf der Regulierung der Hauptbereiche der Arbeit von Frauen und Männern durch Institutionen (Pfau-Effinger 1999, 2004a). Es ist stark dadurch geprägt, in welchen Sphären Aufgaben der Kinder- und Altenbetreuung primär stattfinden und welche sozialen Gruppen diese Arbeiten für die Ausführung dieser Aufgaben als zuständig gelten. Darüber hinaus ist von Bedeutung, inwieweit das Verhältnis von Frauen und Männern in der Familie durch finanzielle Abhängigkeit,
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inwieweit durch individuelle Autonomie bestimmt ist. Das jeweils in einer Gesellschaft bestehende Arrangement hat sich historisch herausgebildet und ist das Ergebnis von Aushandlungsprozessen, Konflikten und Kompromissbildungen sozialer Akteure auf der Basis ihrer Machtbeziehungen. Da sich Ideen und Interessen zwischen sozialen Gruppen unterscheiden können, können sich Diskrepanzen und Widersprüche innerhalb des Geschlechter-Arrangements entwickeln, die den Ausgangspunkt für weiteren Wandel bilden (Pfau-Effinger 2004a, 2005a). Die kulturellen Werte, die der geschlechtlichen Arbeitsteilung zugrunde liegen und auf deren Basis Frauen und Männer ihre Biographien gestalten, wie auch die kulturellen Werte, die vorgeben, welches die zentralen Quellen für Einkommen und soziale Sicherung für Frauen und Männer sein sollen, bilden eine zentrale Grundlage der Geschlechterkultur. Moderne Wohlfahrtsstaaten beziehen sich auf die vorherrschenden Ideen der Geschlechterkultur. In bestimmten historischen Situationen kann es dazu kommen, dass sich ein Wandel der Geschlechterkultur in der Bevölkerung vollzieht, der von den Politiken mehr oder weniger umfassend aufgegriffen wird, oder dass auf der Basis eines Wandels in den Politiken die in der Bevölkerung vorherrschenden Werte der Geschlechterkultur modifiziert werden (Pfau-Effinger 2005b). Trotz der Zugehörigkeit zu differierenden Wohlfahrtsregimen weisen die Geschlechter-Arrangements Deutschlands und Großbritanniens ähnliche Grundzüge auf und haben sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in vergleichbarer Weise gewandelt. Das lässt sich vor allem mit Ähnlichkeiten in ihren kulturellen Grundlagen erklären. In beiden Ländern war das Hausfrauenmodell der männlichen Ernährerehe die vorherrschende kulturelle Basis des GeschlechterArrangements in den 1950er- und 1960er-Jahren, das für Männer die volle Erwerbsintegration und die Rolle des Familienernährers vorsah, für verheiratete Frauen dagegen die Rolle der Hausfrau.1 In den darauf folgenden Jahrzehnten wurde dieses Modell auf der Basis kulturellen Wandels zunehmend von einem moderneren kulturellen Modell der Familie als dem dominierenden Modell abgelöst, das sich als ‚Vereinbarkeitsmodell der männlichen Versorgerehe’ bezeichnen lässt (Pfau-Effinger 2004). Dieses beruht auf der Idee, dass Frauen und Männer im Prinzip gleichermaßen in Vollzeit in die Erwerbstätigkeit integriert sind. Allerdings ist darin vorgesehen, dass Mütter dann, wenn Kinder geboren werden, ihre Erwerbsarbeit unterbrechen und anschließend in Teilzeit arbeiten, um den Kindern eine ‚gute’ Kindheit zu sichern. Eine wesentliche Grundlage für diese kulturelle Transformation bestand darin, dass sich in den 1960er-Jahren ein grundsätzlicher Widerspruch im kulturellen Wertesystem beider Gesellschaften entwickelt bzw. verschärft hatte, der Widerspruch zwischen dem kulturellen 1
Das unterscheidet beide Gesellschaften etwa von Frankreich, Dänemark und Finnland, wo dieses Familienmodell nicht vorherrschend war und die Praxis der Familie auch weit weniger geprägt hat, vgl. Pfau-Effinger 2005a.
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Konstrukt der Autonomie und Gleichheit der Bürger moderner Demokratien einerseits, der Konstruktion von Abhängigkeit und Ungleichheit in der Hausfrauenehe andererseits. Auf dieser Basis entstand eine Frauenbewegung als soziale Bewegung, die neue Familienleitbilder aufgriff, die in den internationalen feministischen Diskursen bereitgestellt wurden (Pfau-Effinger 2004). Die daraus entstandenen gesellschaftlichen Diskurse und Konflikte waren von maßgeblicher Bedeutung für den folgenden Wandel. Das veränderte Familienmodell birgt allerdings neue Widersprüche und Konfliktstoff. Denn die Idee finanzieller Abhängigkeit von Frauen vom männlichen Familienernährer ist nach wie vor Bestandteil dieses Leitbildes, wenn diese auch nur für die Zeiten vorgesehen ist, in denen sie die informelle Kinderbetreuung im Familienhaushalt übernehmen. Dieses Problem wurde nur in denjenigen Wohlfahrtsstaaten weitgehend entschärft, in denen neue soziale Rechte geschaffen wurden, die auf der Basis generöser Elternurlaubsregeln oder Elternteilzeitregeln eine finanzielle Unabhängigkeit derjenigen garantieren, die diese Aufgaben zeitweise im Familienhaushalt übernehmen (Knijn, Kremer 1998; PfauEffinger 2005a). Das Erwerbsverhalten von Frauen hat sich weitgehend in Übereinstimmung mit diesem kulturellen Wandel verändert. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass die Erwerbsbeteiligung von Müttern stark gestiegen ist. Dabei kann man davon ausgehen, dass die Hausfrauenehe als dominantes Muster in Deutschland bis in die 1980er-Jahre hinein, in Großbritannien bis zum Beginn der 1970er-Jahre dominant war (Pfau-Effinger 2004; Meyer 1998). Ab da kann man von einer Dominanz eines Biographiemusters sprechen, das am Vereinbarkeitsmodell der männlichen Versorgerehe ausgerichtet ist. Dementsprechend beinhaltet das vorherrschende Biographiemuster von Frauen mit Kindern heute eine Erwerbsunterbrechung mit anschließender Teilzeitbeschäftigung als biographisches Muster in der Phase aktiver Mutterschaft in beiden Ländern. Dementsprechend gehören beide Länder heute zu den europäischen Ländern mit dem höchsten Anteil an teilzeitbeschäftigten Frauen an allen erwerbstätigen Frauen (beide 24 Prozent, OECD 2005). Gleichzeitig weisen (west-)deutsche und britische Haushalte die höchste Wahrscheinlichkeit auf, dass Kinder (und ältere Menschen) zu Hause durch Angehörige betreut (bzw. gepflegt) werden (European Commission 1998. S. 12). Dabei hat sich die Bedeutung der traditionellen Kleinfamilie als Lebensform mit Kindern abgeschwächt, während der Anteil an Ein-Eltern-Familien zugenommen hat (z.B. Busch et al. 1999; Lewis 1999). Jenseits dieser großen Ähnlichkeiten gibt es natürlich auch gewisse Differenzen. So wurde etwa die Entwicklung in Deutschland stärker durch den Einfluss der Kirchen geprägt (Lewis, Ostner 1996). Auch stiegen die Erwerbsquoten von Frauen im britischen Wohlfahrtsstaat in den 1960er- und 1970er-Jahren schneller an, da mehr Arbeitsplätze im Sektor der öffentlichen sozialen Dienstleistungen geschaffen wurden (Meyer 1997; OECD 1996, 2003). Diese Entwick-
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lung stand im Zusammenhang mit einer stärker ausgeprägten Entwicklung in Großbritannien in Richtung gesellschaftlicher Individualisierung, die sich etwa in vergleichsweise höheren Scheidungsraten, höheren Anteilen von Alleinerziehenden und einer etwas weniger ausgeprägten Orientierung auf die männliche Versorgerehe hin ausdrückt (Castles 2003; Hantrais 1999; Jensen, Rathlev 2003). Allerdings kann nur das westdeutsche Gender-Arrangement im Hinblick auf diese Faktoren als etwas ‚traditioneller’ eingeordnet werden. In Ostdeutschland besteht bis heute ein anderes Geschlechter-Arrangement, das auf einem ‚Doppelversorgermodell mit staatlicher Kinderbetreuung’ als dem vorherrschenden kulturellen Modell der Familie beruht und seine Wurzeln in der DDRGeschichte hat. Diese Modell prägt bis heute das Erwerbsverhalten ostdeutscher Frauen (Pfau-Effinger, Geissler 2002; Busch et al. 1999). Seit den 1950er-Jahren hat sich also in Deutschland wie in Großbritannien eine grundlegende Veränderung in den Biographien von Frauen vollzogen, denen ein fundamentaler Wandel in der Geschlechterkultur zugrunde liegt. Die neuen Anforderungen, mit denen die Wohlfahrtsstaaten beider Länder konfrontiert werden, lassen sich so umreißen: Einerseits geht es darum, Frauen und Männern gleichermaßen soziale Rechte auf der Basis der Erwerbsarbeit einzuräumen. Will man aber Benachteiligungen von Frauen und generell von Eltern dadurch vermeiden, dass sie in der Phase aktiver Mutterschaft/Elternschaft temporär Aufgaben der familialen Kinderbetreuung im eigenen privaten Haushalt übernehmen und dafür zeitliche Abstriche in der Erwerbsarbeit machen, so sind die sich daraus ergebenden Anforderungen weitreichender. Die generelle Idee der Gleichstellung steht im Widerspruch dazu, die Frauen in Bezug auf ihre soziale Sicherung auf die Einkommen ihrer Ehemänner als ‚Familienernährer’ zu verweisen. Für einen steigenden Anteil der Frauen stellt sich diese Alternative auch nicht oder nur sehr eingeschränkt, da sie alleinerziehend sind. Stattdessen geht es darum, auch die familiale Kindererziehung im Kontext des ‚Vereinbarkeitsmodells’ zur Anspruchsgrundlage für soziale Sicherung, auch im Rentensystem, zu machen. Eine Gleichstellung kann dann erreicht werden, wenn – wie auch Orloff (1993) herausgearbeitet hat –, Frauen bzw. Eltern die familiale Kinderbetreuung auf der Basis finanzieller Autonomie durchführen können, auch wenn sie Elterzeit nehmen oder teilzeitbeschäftigt sind.
4 Die Modernisierung der Rentenpolitiken in Deutschland und Großbritannien in einer Geschlechterperspektive Im Folgenden sollen die Entwicklung der Rentensysteme bis zu den Reformen Ende der 1990er-Jahre und die Veränderungen im Hinblick auf den Wandel in
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den potenziellen stratifizierenden Wirkungen in einer Geschlechterperspektive analysiert werden.
4.1 Kriterien für die Analyse des Wandels von Rentenpolitiken in einer Geschlechterperspektive Um die potenziellen Wirkungen von Rentensystemen im Hinblick auf die Stratifikation in der Geschlechter-Dimension zu analysieren, klassifizieren wir die Rentenpolitiken auf der Grundlage des Grades, zu dem sie auf der Grundlage des Zusammenspiels von Restriktionen und Optionen jeweils ein spezifisches Familienmodell unterstützen. Im Einzelnen geht es um die folgenden Typen: Typ 1: Starke Förderung des Hausfrauenmodells der männlichen Versorgerehe Dabei sind Frauen im Wesentlichen auf der Grundlage ihrer Ehe abgesichert und haben wenig Alternativen dazu, im Alter von der Alterssicherung ihrer Ehepartner abhängig zu sein. Ein System, bei dem die Alterssicherung von Frauen einzig auf ihrem Familienstand beruht, setzt im Allgemeinen die dauerhafte Treue der Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann während der Ehe und über den Tod des Ehemanns hinaus voraus – die Witwenrente wird üblicherweise bei Wiederheirat gestrichen – und widerspricht damit dem Wert persönlicher Autonomie. Im Fall, dass die Ehe vorzeitig aufgelöst wurde oder dass die Treueanforderung nicht eingehalten wird, führt sie zu einer Verminderung der Ansprüche von Frauen und kann zu Altersarmut führen. Typ 2: Moderate Förderung des Hausfrauenmodells der männlichen Versorgerehe Eine gemäßigte Form der Förderung der Hausfrauenehe besteht dann, wenn die persönliche Abhängigkeit vom Ehepartner im Rentenalter für verheiratete Frauen neben der Optionen besteht, ein eigenes Einkommen auf der Basis einer Erwerbsarbeit zu erzielen. Typ 3: Förderung des ‚Vereinbarkeitsmodells der männlichen Versorgerehe’ Dieser Typ des Rentensystems besteht dann, wenn es individuelle Ansprüche sowohl auf der Basis von Erwerbstätigkeit als auch auf der Basis familialer Kinder- und Altenbetreuung vorsieht. Ein solches Modell wird der Tatsache gerecht, dass im modernisierten Familienmodell, das wir als ‚Vereinbarkeitsmodell der männlichen Versorgerehe’ bezeichnen, Frauen oft einen vom männlichen ‚Normalmodell’ abweichenden Lebenslauf wählen, der mit Elternzeit und Teilzeitarbeit verbunden ist. Allerdings entstehen auf der Grundlage eines Erwerbsverlaufs, der Zeiten informeller Kinder- und Altenbetreuung im Privathaushalt auf der Basis von Elternzeiten und Teilzeitarbeit beinhaltet, oft keine existenzsi-
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chernden Renten, sondern das System setzt in der Hinsicht die Umverteilung von Einkommen im Rahmen der Ehe voraus. Typ 4: Gleichstellungsmodell Ein Gleichstellungsmodell wird im Rentensystem dann unterstützt, wenn Rentenansprüche aus Erwerbsarbeit und familialer Kinder- und Altenbetreuung erworben werden können oder generell der Staatsbürgerstatus als Grundlage für Anrechte gilt und zwar so, dass auf der Basis eine autonome Existenzsicherung im Alter gewährleistet ist, die oberhalb der Armutsgrenze liegt. Typ 5: Residual-Modell In diesem Fall stellt das Rentensystem gleiche Bedingungen für Frauen und Männer dadurch her, dass aufgrund eines sehr niedrigen Rentenniveaus generell ein hohes Risiko von Altersarmut besteht. Insbesondere bei Geringverdienern hat ein Ernährermodell unter diesen Umständen keine ökonomische Basis. Diese Kriterien werden hier für alle Säulen des Rentensystems angewendet, also für öffentliche Renten, für betriebliche Renten wie auch für persönliche, marktbezogene Renten. Solch eine breite Perspektive ist vor allem für Großbritannien notwendig, wo aufgrund des sehr niedrigen Niveaus der öffentlichen Renten, also der ersten Säule des Rentensystems, die Bereiche der betrieblichen Renten (zweite Säule) und persönlichen, marktbezogenen Renten (dritte Säule) stark ausgebaut wurden. Die Frage des jeweiligen Mix von öffentlichen und privaten Renten hat eine wichtige Bedeutung in einer Geschlechterperspektive. In öffentlichen Renten können am ehesten auch Erziehungszeiten berücksichtigt werden, da sie demokratisch kontrolliert und politisch gesteuert werden und mit ihnen explizit das Ziel verbunden ist, integrativ zu wirken. Betriebsrenten sind demgegenüber im Allgemeinen stark am Normalarbeitsverhältnis des männlichen Arbeitnehmers ausgerichtet (Bonoli 2003, S. 408). Persönliche, marktbezogene Renten haben keinerlei redistributive Elemente, und die Risiken der Anlage werden ausschließlich vom Individuum getragen. Sie eignen sich deshalb vorrangig für gutverdienende Arbeitnehmer, zu denen aufgrund des bekannten ‚gender wage gap’ in Europa im Allgemeinen Männer eher als Frauen gehören. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit in Wohlfahrtsstaaten mit einer starken öffentlichen Säule im Rentensystem höher, dass sie eine Gleichstellung im Rentensystem fördern, als in solchen, in denen die anderen Säulen stärker sind (Bonoli 2003, S. 406ff.).
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4.2 Das Rentensystem in Deutschland vor 1999 Nach dem 2. Weltkrieg wurde unter dem Eindruck des Beginns des Kalten Krieges, der starken Einflussnahme des Alliierten Kontrollrates und der Vorherrschaft der Christlich Demokratischen Partei die Bismarck’sche Rentenversicherung zur Grundlage des Rentensystems der Bundesrepublik Deutschland gemacht. Im Jahr 1957 wurden die zunächst sehr niedrigen Rentenansprüche durch die Einführung eines Schemas zur Rentenberechnung verbessert, das in einer modifizierten Form bis heute verwendet wird. Darin bildeten das individuelle Einkommen, das allgemeine Einkommensniveau und die Dauer der Erwerbstätigkeit die Berechnungsgrundlage. Die Rentenberechnung war am Ziel des Statuserhalts ausgerichtet; ein durchschnittlicher Arbeitnehmer mit VollzeitErwerbsbiographie konnte im Rentenalter auf ca. 70 Prozent des früheren Einkommens kommen. Ebenso wie die Löhne als Familienernährer-Einkommen konstruiert waren (Pfau-Effinger 2004), war auch das Rentensystem darauf ausgelegt, dass Männer ihre Ehefrauen auf der Basis ihrer Rentenansprüche mit ernähren sollten. Nach ihrem Tod hatte die Witwe dann noch Anspruch auf 60 Prozent des Betrags (Hentschel 1983, S. 165f.; Schmidt 1998, S. 82f.). In Reaktion auf die Diskurse über die Notwendigkeit, das Rentensystem im Hinblick auf die Geschlechterdimension gerechter zu gestalten, wurden seit den 1970er Jahren einige Reformen durchgeführt. Seit 1976 können beide Partner nach einer Scheidung gleiche Anteile an der insgesamt während der Ehe erworbenen Rente in Anspruch nehmen (Veil 2003, S. 125). 1985 wurden erstmals auch Rentenansprüche auf Kindererziehungszeiten eingeführt und sukzessive erweitert. Mit der Pflegeversicherung wurden 1996 auch Rentenansprüche eingeführt, die aus der Pflege für ältere pflegebedürftige Menschen abgeleitet werden, die im Wesentlichen von deren weiblichen Angehörigen durchgeführt wird (Meyer 1998a). Gleichzeitig wurde aber in den 1990er-Jahren das Rentenniveau im Kontext von Diskursen über die Krise des Sozialstaates und die Bedrohung durch die alternde Gesellschaft etwas abgesenkt. Private Renten spielten bis dahin keine nennenswerte Rolle, und auch der Anteil betrieblicher Renten war eher marginal (Bonoli 2003, S. 400). Auch wenn bis in die 1970er-Jahre das Hausfrauenmodell der männlichen Versorgerehe auf der kulturellen Ebene dominierte und es bis in die 1980er-Jahre hinein die Biographien von Frauen prägte, hat das Rentensystem der Bundesrepublik Deutschland dieses Modell doch zu keiner Zeit einseitig unterstützt. Frauen hatten – anders als in Großbritannien, wie noch zu zeigen sein wird – immer auch die Alternative, eigene Rentenansprüche auf der Basis von Erwerbsarbeit zu erwerben. Dabei wurden die Rechte von Frauen, eine unabhängige Rente zu erwerben, zunehmend gestärkt, etwa durch den besseren Schutz von Teilzeitbeschäftigten in der Sozialversicherung und durch den Erwerb von Rentenansprüchen im Verlauf von Erziehungszeiten. Damit trug das Rentensystem verstärkt
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den veränderten Biographiemustern von Frauen Rechnung. Das System ließ Frauen die Wahl zwischen dem Erwerb eigener und dem Erwerb abgeleiteter Ansprüche und förderte daher nur begrenzt das Hausfrauenmodell der männlichen Versorgerehe. Bis zum Ende der 1990er-Jahre spielte allerdings in der Praxis die abgeleitete Sicherung auf der Basis der Witwenrente eine weit größere Rolle als die eigene Sicherung aufgrund von Erziehungs- und Betreuungszeiten. Insgesamt kann man feststellen, dass in der Nachkriegszeit zunächst ein Typ des Rentensystems vorherrschte, das auf einer moderaten Förderung der Hausfrauenehe beruhte (Typ 2) und sich mit den Reformen zunehmend ein Modell des Typs 3 herausbildete, das auf der Förderung des ‚Vereinbarkeitsmodells der männlichen Versorgerehe’ beruhte.
4.3 Die Rentenreform in Deutschland seit 1999 Die Rot-Grüne Bundesregierung begann nach ihrer Wahl 1998 mit einer großen Rentenreform. Das zentrale Ziel war die Kostensenkung. Die Reform konnte sich auf einen neuen Typ von Diskursen über den Sozialstaat beziehen, die in den 1990er-Jahre dominierten und die Bedeutung von Selbstverantwortung, die Rolle des Individuums als ‚Konsument’ auf Wohlfahrtsmärkten und die Notwendigkeit von Reziprozität im Verhältnis von Beiträgen und Erträgen hervorhoben. In diesem Zusammenhang wurde den gender-bezogenen Gerechtigkeitsvorstellungen keine hohe Priorität gegeben (Anderson, Meyer 2006). Im Zuge der Rentenreformen wurden wesentliche Grundprämissen des Rentensystems aufgegeben, weswegen in der Literatur von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird (Anderson, Meyer 2003, 2004; Hinrichs 2003, S. 2-22; Schmähl 2002; Veil 2003; Prognos 1999; für einen Überblick über die Reformen: Heller 2001; Infratest 2005b; Langen 2001). Betroffen waren davon vor allem auch das Prinzip des Statuserhalts und die starke Dominanz des öffentlichen Rentenversicherungssystems. So wurde mit den Reformen das Anspruchsniveau beträchtlich gesenkt – auf maximal 64 Prozent. Auch wurde die Höhe der davon abgeleiteten Witwenrente gekürzt, wobei diese Kürzung aber durch eine Erhöhung von Ansprüchen aus Erziehungszeiten in der Witwenrente kompensiert wurde (Standfest 2001). Zudem wurden zwei neue Formen der freiwilligen Rentenversicherung eingeführt, die vom Staat subventioniert werden und dazu dienen sollten, die Verluste im öffentlichen Rentensystem zu kompensieren. Zum einen müssen Arbeitgeber ihren Beschäftigten die Möglichkeit geben, einen Teil ihres Lohns in einen Rentenfonds zu zahlen. Daraus folgte eine Erweiterung der Betriebsrenten, von der Frauen mindestens so stark wie Männer profitiert haben (TNS Infratest 2005a, S. 16, 2005b, S. 52). Zum anderen gibt es persönliche Rentenpläne, die staatlich kontrolliert werden. Die neuen privaten Leistungen erreichen etwa zwei Drittel der Beschäftigten; Simulationen zeigen, dass sie
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dazu beitragen, dass sich die Unterschiede in der Rentenhöhe zwischen verschiedenen Einkommensgruppen vergrößern, das andererseits dadurch aber viele Frauen Renten beziehen könnten, die ein finanziell unabhängiges Alter sichern. Aus der Sicht der Geschlechter-Dimension war eine dritte Veränderung von besonders hoher Relevanz. Es wurde nämlich im Jahr 2002 ein universelles Recht auf eine bedarfsgeprüfte Grundrente in Höhe des Existenzminimums eingeführt, die allerdings außerhalb des Rentensystems angesiedelt und an die Sozialhilfe angelagert wurde. Anders als bei der Sozialhilfe sind die Kinder der Rentenberechtigten dabei nicht vorrangig in der Pflicht, Unterhalt zu zahlen (AvmG 2000, S. 72). Die Grundrente kann einen substantiellen Beitrag dazu leisten, Altersarmut von Frauen, die durch ihre niedrigen Erwerbseinkommen resultiert, und Altersarmut von alleinstehenden älteren Frauen zu verhindern (Opielka 2000). Zusammengenommen wurden durch die Reformen die von der Ehe abgeleiteten Ansprüche weiter reduziert und eine Modernisierung des Rentensystems im Hinblick auf seine Geschlechterdimension erreicht. Die Schwächung der ersten Säule wird für Viele, Männer wie Frauen, zumindest teilweise durch Betriebsrenten und Sparpläne kompensiert. Da Leistungen in diesem Teil des Systems jedoch noch stärker lohnbezogen geworden sind als zuvor und Frauen geringere Einkommen haben, wird damit weiterhin das Vereinbarkeitsmodell der männlichen Versorgerehe gefördert. Für diejenigen jedoch, die sich lediglich auf die erste Säule stützen, hat sich das System in Richtung des Typs 4 weiterentwickelt, also eines Gleichstellungsmodells, das existenzsichernde Renten garantiert. Begrenzend wirkt allerdings, dass die Grundrente auf Haushaltsbasis bedarfsgeprüft ist, dass also die Einkommensumverteilung im Rahmen der männlichen Versorgerehe Priorität hat, und dass sie an der Armutsgrenze liegt (TNS Infratest 2005b, S. 81f., 86).
4.4 Das Rentensystem in Großbritannien bis 1997 Als 1946 die öffentliche Basisrente eingeführt wurde, lag diese erheblich unter dem Existenzniveau (Hannah 1986, S. 54, 59). Bis Mitte der 1970er-Jahre wurden Frauen darin als Abhängige behandelt, die keine Beiträge einzahlen und keine eigenen Ansprüche erwerben konnten. Die Heirat war die einzige Grundlage, auf der Frauen Rentenansprüche erwerben konnten. Im Alter von 60 Jahren, und wenn ihr Eheman das Rentenalter erreichte, hatten sie einen Anspruch auf eine Rente, die 60 Prozent seiner Rente betrug (Groves 1983, S. 46; Land 1985, S. 54, 56). Mit dem ‚Social Security Act’ von 1975 wurde dies geändert (Ginn 2003, S. 14ff.; Randall 1987, S. 289). Das Hauptziel dieser Reform, mit der ein zweiter, einkommensbezogener Typ der öffentlichen Rente eingeführt wurde (SERPS) war es, das System der Renten für Arbeiter dem der Angestell-
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ten sowie die sozialen Rechte von Frauen denen der Männer anzugleichen (Baldwin 1990, S. 241ff.; Barr, Coulter 1990 S. 281f.). Von den erwerbstätigen Frauen wurde in diesem Rahmen erwartet, dass sie eigene Beiträge zahlten (Groves 1983, S. 52; Land 1985, S. 53ff.). Erstmals wurden‚ mit der ‚Home Responsiblity Protection’, auch Zeiten der informellen Kinderbetreuung im eigenen Haushalt berücksichtigt (Devetzi 1999; Land 1985, S. 57), und im Rahmen von SERPS wurde eine Witwenpension gewährt (Baldwin 1990, S. 241ff.; Ginn 2001, S. 11). Zum ersten Mal war durch diese Reform die Rentenhöhe so kalkuliert, dass sie nicht länger unter dem Existenzniveau lag. Allerdings wurde dieser zweite Typ staatlicher Renten schon 1986 durch eine konservative Regierung weitgehend wieder abgebaut, die die Verlagerung öffentlicher Renten in den privaten Sektor zum Ziel hatte (Ginn 2003, S. 15f.; Johnson 1990, S. 43f.; Pierson 1994, S. 53ff.). Die britische Wohlfahrtsstaat ging also in die Rentenreformen Ende der 1990er-Jahre mit einem nur schwach entwickelten öffentlichen Rentensystem, auf dessen Basis keine existenzsichernden Renten erzielt werden konnten.
4.5 Betriebliche Renten Neben dem öffentlichen Rentensystem war seit langem eine weitere, betriebliche Säule von noch größerer Bedeutung, was den Druck auf die Reformierung des öffentlichen Systems abmilderte. Die betrieblichen Renten waren gesetzlich reguliert, und durch Arbeitgeber- wie Arbeitnehmeranteile sowie staatliche Unterstützung finanziert; sie standen vor allem Beschäftigten aus größeren Betrieben und mit unbefristeten Verträgen offen (Ginn 2003, S. 13f.). Erst seit 1993 wurden vermehrt auch Teilzeitbeschäftigte einbezogen (Mazey 1998, S. 139ff.; Neilson 1998, S. 71, 73ff.). Mitte der 1990er-Jahre war im privaten Sektor weniger als die Hälfte der männlichen Arbeitnehmer und nur ca. ein Viertel der weiblichen Arbeitnehmer Mitglieder in solchen Rentenprogrammen. Dies war anders im öffentlichen Sektor, wo alle Männer und drei Viertel der beschäftigten Frauen über solche Programme versichert waren (GAD 2002). Seit 1975 konnten im Rahmen der Betriebsrenten auch auf freiwilliger Basis Witwenrenten vereinbart werden (Groves 1989, S. 207f.).
4.6 Die starke Unterstützung der Hausfrauenehe bis 1975 und Lockerung bis Ende der 1990er Jahre Anders als das deutsche Rentensystem unterstützte das britische in der Nachriegszeit bis 1975 in starkem Maß das Hausfrauenmodell der männlichen Versorgerehe (Typ 1 der Rentensysteme), indem es Frauen keine eigenen Rechte auf
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Erwerb einer Rente auf der Basis ihrer Erwerbsarbeit zugestand, sondern ihnen in beiden Säulen des Rentensystems nur die Möglichkeit einräumte, eine von der Rente des Ehemanns abgeleitete Rente zu beziehen. Dabei wurde generell ein hoher Anteil an Altersarmut gefördert, da die Renten in den meisten Fällen nicht existenzsichernd waren, selbst wenn die erste und zweite Säule kombiniert wurden. Mit den Reformen von 1975 wurde dann das Rentensystem so strukturiert, dass man nur noch von einer moderaten Förderung der Hausfrauenehe sprechen kann (Typ 2), da Frauen nun auch eigenständige Ansprüche auf der Grundlage ihrer Erwerbsarbeit erzielen konnten. Im Zuge weiterer Reformen wurde dann sukzessive die Möglichkeit ausgebaut, auf der Basis der familialen Kinderbetreuung Ansprüche zu erwerben. Man kann also von einem Entwicklungstrend in Richtung eines Rentensystems sprechen, in dem ein ‚Vereinbarkeitsmodell der männlichen Versorgerehe’ gefördert wurde. Die zweite Säule der betrieblichen Renten zog allerdings erst in den 1990er-Jahren nach. Insgesamt blieben jedoch erhebliche Armutsrisiken für diejenigen Frauen und Männer bestehen, die keinen Zugang zu den Betriebsrenten hatten, insbesondere nach der Abschaffung der nur vorübergehend voll gültigen SERPS-Regelung. Für diese Gruppe wurde so eher ein residuales Modell des Rentensystems gefördert (Typ 5), das auf privater Absicherung und einem hohen Risiko der Altersarmut für Frauen und Männer beruht.
4.7 Rentenreformen in Großbritannien seit 1997 Unter der Blair-Regierung wurden zum einen die redistributiven Elemente innerhalb des zweiten Zuges der staatlichen Säule der einkommensbezogenen Rente wieder gestärkt, was vor allem Geringerverdienenden und Menschen mit Pflegeverantwortung zugute kam. Auch wurden weitere Gruppen anspruchsberechtigt, wie Witwen und Geschiedene, die nicht wieder geheiratet haben (Ginn 2003, S. 14f.). Dennoch sind die Renten, die auf dieser Basis erzielt werden können, sehr niedrig; Projektionen haben ergeben, dass zu erwarten ist, dass die reformierte staatliche Rente für viele der ersten Empfängergeneration im Jahr 2040 gerade die Armutsgrenze erreichen und aufgrund geringer Steigerung sehr bald darunter liegen wird (Falkingham, Rake 1999). Angesichts dieses Problems führte die Regierung einen Anspruch auf eine bedarfsgeprüfte Ergänzung ein, die knapp über dem Sozialhilfeniveau liegt (Clark 2001). Damit besteht, wie in Deutschland, neuerdings eine Grundrente, die jedoch anders als in Deutschland etwas generöser als die Sozialhilfe ist. Diese Rente, die allein aufgrund des Staatsbürgerstatus erworben werden kann, wird einen zunehmenden Beitrag zur Vorbeugung von Armut im Alter leisten, soweit keine weiteren Reformen verab-
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schiedet werden2. Es ist zu erwarten, dass sie vor allem auch von Frauen aufgrund des ‚gender gap’ in den Einkommen und des hohen Anteils an Teilzeitbeschäftigten in Anspruch genommen werden.
4.8 Betriebsrenten Seit der Aufwertung der ersten, öffentlichen Säule des Rentensystems sank das Niveau der im Bereich der Betriebsrenten zu erwartenden Leistungen deutlich. Seit Mitte der 1990er-Jahre wurden sehr viele der relativ generösen, einkommensbezogenen Betriebsrenten im privaten Sektor für neue Mitglieder geschlossen (für einen Überblick: Bridgen, Meyer 2005). In Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten hatten zum Beispiel im Jahr 1996 60 Prozent der Belegschaft Zugang zu einkommensbezogenen Betriebsrenten, aber dieser Anteil sank bis 2003 auf 41 Prozent (DWP 2002, S. 50, 2004, S. 56, 61). In der Mehrzahl der Fälle wurden diese Leistungen durch Programme ersetzt, bei denen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein höheres Risiko tragen, da die Endleistung von der Entwicklung der Aktienmärkte abhängt, in anderen Fällen sind die Programme ersatzlos gestrichen worden. Demgegenüber sind einkommensbezogene Betriebsrenten im öffentlichen Sektor weiterhin die Norm für alle – überwiegend weiblichen – Beschäftigten, der Bereich gerät jedoch zunehmend unter Druck (Financial Times 21 May 2004; 11 December 2004). Die dritte Säule, die der persönlichen Sparpläne, blieb trotz Bemühungen der Regierung schwach (Pension Commission 2004, S. 92).
4.9 Von der Förderung des Vereinbarkeitsmodells der männlichen Versorgerehe zur Förderung eines Gleichstellungsmodells Das britische Rentensystem stellt heute eine Mischung aus den Typen 3 und 4 dar. Es fördert tendenziell eher ein Vereinbarkeitsmodell des Typs 3, da die Ansprüche auf staatliche Renten, die Frauen auf der Basis der Erwerbsarbeit und der familialen Kinderbetreuung erwerben können, in vielen Fällen zu Renten führen, die nicht existenzsichernd sind, was insbesondere auch auf die Senkung der Betriebsrenten im privaten Sektor zurückgeht. Dadurch sind Frauen tendenziell auf eine finanzielle Unterstützung im Rahmen der Ehe angewiesen. Auch die Grundrente unterstützt für Frauen, die mit Männern leben, weiterhin das Vereinbarkeitsmodell der männlichen Versorgerehe, da ihr Bezug auf der Basis 2
Größere Veränderungen sind allerdings zu erwarten, im Mai 2006 hat sich die Regierung zu einer langfristig deutlichen Erhöhung des Rentenniveaus in der ersten Säule verpflichtet, um die wachsende Bedeutung der bedarfsgeprüften Rente wieder zu reduzieren (Guardian, 13.05.2006).
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des Haushaltseinkommens bedarfsgeprüft wird und so eine persönliche Abhängigkeit von den Ehemännern bzw. Partnern konstruiert wird, die in der Regel über ein höheres Einkommen verfügen. Andererseits wird seit der Einführung der bedarfsgeprüften Grundrente die autonome Lebensführung für all diejenigen Frauen ermöglicht, die alleinlebend sind oder mit einem Partner mit niedrigem Einkommen zusammenleben und deren Rentenansprüche aufgrund einer typisch ‚weiblichen’ Biographie auf der Basis des ‚Familienmodells der männlichen Versorgerehe’ unterhalb der Armutsgrenze liegen (Typ 4). Obwohl das insgesamt niedrige Niveau dieser Rente nur eine sehr bescheidene Lebensführung im Alter erlaubt, gibt es so eine Alternative zur persönlichen Abhängigkeit vom Einkommen eines Partners.
5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Es wurde untersucht, inwieweit die Rentensysteme im konservativen deutschen und im liberalen britischen Wohlfahrtsstaat auf die in beiden Ländern ähnliche Modernisierung der Geschlechter-Arrangements reagiert haben, und wie sich dabei ihre potenziellen stratifikatorischen Wirkungen für Frauen gewandelt haben. Diese Wirkungen haben wir anhand eines Vergleiches der Familienmodelle, die jeweils durch das Rentensystem gefördert werden, analysiert. Diese Analyse hat ergeben, dass es nach den Rentenformen Ende der 1990er-Jahre Tendenzen der Annäherung in den Rentensystemen beider Länder gibt. Dies gilt zunächst einmal generell: In Großbritannien wurden der ehedem eher schwache öffentliche Pfeiler deutlich gestärkt, während die Betriebsrenten heute einen geringeren Beitrag zur Alterssicherung leisten. In Deutschland verlief die Restrukturierung des Rentensystems in die entgegengesetzte Richtung. Der ehedem starke öffentliche Pfeiler wurde durch eine Senkung des Rentenniveaus und die tendenzielle Abkehr vom Prinzip des Statuserhalts geschwächt, während Betriebsrenten wie persönliche Sparpläne gestärkt wurden. Deutliche Tendenzen in Richtung einer Annäherung bestehen auch im Hinblick auf die Geschlechter-Dimension. Beide Rentensysteme stellen heute einen Mix zwischen dem Typ 3 – Förderung des Vereinbarkeitsmodells der männlichen Versorgerehe – und dem Typ 4 – Förderung eines Gleichstellungsmodells – dar. Im Prinzip sind beide Systeme auf gleiche Rechte für Frauen und Männer hin ausgelegt. Die Einführung einer Mindestrente im Zuge der Rentenreformen seit dem Ende der 1990er-Jahre bildete einen wichtigen Schritt in Richtung der Förderung eines Gleichstellungsmodells, da damit die zum Teil erheblichen Risiken von Altersarmut, die bis dahin aus ‚frauenspezifischen’, stärker familienbezogenen Erwerbsbiographien resultierten, weitgehend aufgehoben wurden.
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Allerdings bedeutet die Bedarfsprüfung auf der Basis des Haushaltseinkommens, dass Frauen mit geringen Rentenansprüchen in erster Linie in die persönliche Abhängigkeit von ihrem Ehemann, also in die Strukturen des männlichen Versorgermodells verwiesen werden. Dieses Risiko ist in Großbritannien stärker ausgeprägt, da das Niveau der Renten, die erworben werden können, insgesamt niedriger ist. Die Ergebnisse widersprechen Annahmen, wonach die Entwicklung von Sozialpolitiken aufgrund der zunehmenden Globalisierung notwendigerweise zu einem ‚race to the bottom’, also einer Angleichung wohlfahrtsstaatlicher Politiken auf dem niedrigen Niveau führt, das für das ‚liberale’ Wohlfahrtsregime charakteristisch ist. In Bezug auf die Geschlechterdimension in der Rentenpolitik zeigt sich, dass neue soziale Rechte und eine Grundrente mit dem Ziel der Armutsvermeidung eingeführt wurden, und dass die Entwicklung in die Richtung eines Gleichstellungsmodells auf der Basis existenzsichernder Renten geht.
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Wie sieht es mit den Ernährungsarrangements Älterer aus, mit ihren Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltung dieser Ernährungsarrangements? Diese Frage motiviert sich zum einen aus einem generellen Interesse an den Lebensstilen von Älteren, und zwar vor dem Hintergrund von gesellschaftlich immer pluraler werdenden Sinnwelten, dank derer Tradition und Routine auch im dritten Lebensalter nicht (mehr) umstandslos vorausgesetzt werden dürfen. Sie motivierte sich im vorliegenden Fall zum anderen aus der Frage, inwieweit es überhaupt möglich ist, die in Routinen verstetigten und auch identifikatorisch habitualisierten Ernährungsstile gezielt zu verändern, insbesondere unter dem Leitbild „nachhaltiger Ernährungsmuster“1.
1 Ernährungsarrangements im Alter Obschon es als eine ausgemachte Sache gilt, dass mit steigendem Alter die Bereitschaft zu Experimenten oder auch nur zu Veränderungen in den immer eintöniger und starrer werdenden alimentären Gewohnheiten sinke (vgl. Prahl, Setzwein 1999, S. 81ff.), schenke ich den Spielräumen und Grenzen der Gestaltung des Ernährungsalltags besondere Aufmerksamkeit. Der Fokus auf die Möglichkeiten der Ernährungsgestaltung greift das Thema des Sammelbandes auf, inwieweit soziale und kulturelle Unterschiede – im Bereich unterschiedlicher Essstile – als soziale Ungleichheiten zu reinterpretieren sind. Dieser Fragestel1
Die folgende Diskussion basiert auf einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekt „Von der Agrarwende zur Konsumwende?“ (2002-2005; Förderkennzeichen VPS06) im sozial-ökologischen Forschungsprogramm, in dem unter Leitung von Karl-Werner Brand (neben weiteren Fragestellungen) interdisziplinär beforscht wurde, welche Anknüpfungspunkte sich für nachhaltige Ernährungsstile bei Verbrauchern und Verbraucherinnen finden lassen. Unter „nachhaltigen Ernährungsmustern“ wurden im Projekt gesunde und bedarfsgerechte Formen der Ernährung, der Lebensmittelbeschaffung, -verarbeitung und -entsorgung verstanden, die umweltverträglich, risikoarm, sozial gerecht und alltagstauglich umgesetzt werden können.
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lung kommt in Ernährungsfragen deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil hier zwar Differenzen gesellschaftlich akzeptabel erscheinen, nicht aber Disparitäten. Tatsächlich stellen „Geschmacksunterschiede“ und ihre Habitualisierung in Ernährungsgewohnheiten den klassischen Anwendungsfall einer soziologisch informierten Kritik der Logik „feiner Unterschiede“ dar (Bourdieu 1982). Allerdings erscheint die kulturelle Codierung sozialer Differenzen in der alimentären Alltagspraxis besonders dann problematisch, wenn – wie das für diese Altersgruppe der Fall ist – die Differenz unter dem Verdacht steht, weitgehend zugeschrieben über Lebensqualität zu entscheiden. In der medialen Debatte gelten die Ernährungsmuster älterer Verbraucher und Verbraucherinnen mal als aufklärungsbedürftiges Ernährungsfehlverhalten einer speziellen „Risikogruppe“, mal als besonderer Ernährungsstil einer größer und wählerischer werdenden, unter Umständen mit erheblicher Kaufkraft gesegneten SeniorInnengruppe. Vor allem in der ersten, oft aber auch in der zweiten Perspektive werden Ältere als weitgehend unbelehrbare und tendenziell traditionelle Ernährungsgewohnheiten verkörpernde, eher passive und vor allem über das Alter zu beschreibende Gruppe wahrgenommen. Auch aus ernährungsphysiologischer Perspektive wird kritisiert, dass ihr im Lebenslauf ausgebildeter Ernährungsstil immer weniger den tatsächlichen Bedarfen entspräche, sich auf eine relativ kleine Auswahl vertrauter, geschmacklich besonders geschätzter Nahrungsmittel begrenze und Veränderungen nicht mehr offen stehe. Dennoch scheint das Ernährungsbewusstsein mit zunehmendem Alter anzusteigen. Und entgegen dem Vorurteil der Fachliteratur zeigte sich in unseren Interviews mit älteren Befragten aus München und Leipzig ein besonders zähes Ringen um die Gestaltung der eigenen Ernährungsmuster, so dass die gängigen Einschätzungen in Frage gestellt werden müssen. Aus der soziologischen Betrachtung der generierten Erzählungen vom Essen und seiner Gestaltung wird jenseits des prima vista nicht nur deutlich, in welch großem Ausmaß auch das dritte Lebensalter von Endtraditionalisierungs- und Individualisierungsprozessen erfasst ist, sondern darüber hinaus scheint dadurch auch ein weiterer Faktor in der Konfiguration sozialer Ungleichheit bedeutsam zu werden. So legt die im Folgenden dargestellte Beobachtung nahe, dass sich Ungleichheitskonstellationen im Alter nicht nur anhand sozioökonomischer oder kultureller Kategorien beschreiben lassen, sondern dass darüber hinaus ein stark biographisch zu betrachtendes Konzept, das vielleicht „Lebensführungs- oder Gestaltungskompetenz“ genannt werden könnte, eine zentrale Rolle spielt. Doch vor der theoretischen Diskussion ein Blick in die Empirie!
Ernährungsarrangements im Alter
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1.1 Drei Falldarstellungen Ich greife für meine Ausführungen auf 26 leitfadengestützte, ein- bis dreistündige Interviews zurück, in denen Über-60-Jährige über ihre alltäglichen Ernährungsorientierungen und Ernährungspraktiken berichten, diskutiere diese aber vor dem Hintergrund der insgesamt 140 Interviews mit Verbrauchern und Verbraucherinnen aller Altersgruppen. Alle Interviews wurden 2003/2004 in München und Leipzig durchgeführt und vollständig transkribiert. Drei Fälle möchte ich in Auszügen vorstellen und daran die insgesamt vorgefundene Vielfalt der Ernährungsgewohnheiten im Rahmen typischer Ernährungsarrangements im Übergang in den dritten Lebensabschnitt charakterisieren. Als ich im Juli 2003 um halb neun Uhr morgens, Herrn Dr. T., einen 69jährigen Pensionär, in seinem Münchner Einfamilienhaus aufsuchte, begann dieser, gut gelaunt und topfit, sofort mit dem Interview. »Also bei mir ist es seit zwei Jahren äh etwas spezifisch, denn ich hab jetzt abgenommen – ganz bewusst. Also ich hab jetzt sozusagen einen Ernährungsfahrplan. (...) In der Früh eigentlich immer Kaffee und ein vernünftiges Brot, das schmeckt und auch gesund ist. Also Vollkornbrot, und zwar Dinkelbrot, weil Dinkel ist ein sehr äh gesundes Korn, ich glaub, das einzig basische überhaupt. Und dann um halb elf etwa mach ich täglich eine Zwischenmahlzeit mit Obst, zum Mittag nehm’ ich auch verschiedene Obstsorten, also im Winter besonders Ananas, wegen der Enzyme, (…) und immer zu diesem Obst (…) einen Eiweißdrink. [...etwas später...]. Das macht mich satt, da hungere ich nicht, das ist außerdem sehr vernünftig sozusagen. Also ich hab jetzt in den letzten zwei, drei Jahren ungefähr fünf, sechs Kilo abgenommen. (...) Außerdem die Blutwerte stimmen (...) worum’s mir eigentlich geht, das sind nicht ästhetische Gesichtspunkte, sondern das ist nur- nicht einmal das Gesundheitliche. Die Gesundheit ist sozusagen Mittel zum Zweck, der Zweck ist das Wohlbefinden, also die Lebensqualität.«
Herr Dr. T. hat nach seiner Pensionierung die Verantwortung für seine Mahlzeiten in die eigenen Hände genommen. Er hat den täglichen Ablauf und die Speisenauswahl im Rückgriff auf viel Ratgeberliteratur neu organisiert und auch teilweise von den Ernährungsgewohnheiten seiner Frau abgekoppelt. Heute ernährt sich das Ehepaar sehr gesundheitsbewusst, kauft seit kurzem biologisch erzeugte Lebensmittel, verfolgt besorgt die mediale Berichterstattung über Lebensmittelskandale und möchte bei den eigenen Kindern, im Bekanntenkreis und am liebsten auch im Lebensmittelhandel als (politisches) Vorbild wirksam werden. Der Pensionär erfüllt geradezu modellhaft die in den letzten Jahren politisch geäußerten Erwartungen an den mündigen Verbraucher, der als verantwortlicher Konsument und gut informierter Bürger einen Beitrag zu seiner Gesundheit wie zur Entwicklung nachhaltiger Konsummuster leistet. Auch Herr F., ein 77-jähriger Schwabinger Rentner, hat seine Ernährung im Alter noch einmal vollständig umgestellt. Äußerer Anlass bei ihm war vor allem der Tod seiner Frau. Auf die Eingangsfrage, was er heute bislang gegessen habe, antwortet auch er bereitwillig:
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»Nur ein Knäckebrot. Das liegt aber auch an der Temperatur. In der Frühe esse ich zwar nie sonderlich… Ich trinke ’n Tee, Kaffee habe ich mir abgewöhnt. Und die Gewohnheiten, die Zeiten mit dem Essen, verschieben sich ein bisschen. Ich esse für andere Leute ein bisschen zu früh. Mein Hauptkochen ist am Vormittag. (…) Abends vielleicht noch eine Breze. Da muss ich vorausschicken, ich bin alleinstehend, bin seit 21 Jahren (…) Witwer. Ich habe früher im Haushalt nichts gemacht, das war alte Schule. Meine Frau hat alles gemacht, und hinterher musste ich mir aneignen, was ich mir eben aneignen konnte oder wollte. Am Anfang hat mich das schon irgendwie, ich konnte sehr wenig, und mit der Zeit, na ja, man gewöhnt sich an dieses und jenes. (...) Ich kaufe viel Konserven, viel Bohnen, (….) mach’ auch mal Kartoffelsalat und Spiegelei. (...) Und dann ist auch der Magen irgendwie darauf eingestellt, das funktioniert wunderbar.«
Im weiteren Interview zeigt sich, dass Herr F. wie andere Gleichaltrige auch, in den letzten Jahren einiges probiert hat – Fertigprodukte, exotische Speisen, Biolebensmittel, Kochen auf Vorrat, Essen außer Haus etc.: Er stand den vorhandenen Alternativen weitgehend offen gegenüber. Heute lässt er sich bei der Speisenauswahl vor allem von seinen bisherigen Erfahrungen mit Bekömmlichkeit und Geschmack, von Markennamen und Preisen leiten, probiert aber regelmäßig auch Unbekanntes. In geringem Maße wirken auch die ernährungskulturellen Vorstellungen seiner verstorbenen Frau fort. Mit besonderer Freude berichtet er immer wieder, wie trickreich es ihm in den vergangenen Jahren gelungen ist, den Aufwand für Kochen und Essen, »praktisch und schnell« wie er sagt, zu reduzieren. Frau S., eine 78-jährige Rentnerin aus Leipzig, hat ihr Leben lang täglich gekocht. Dank dieser Erfahrung und großen Zeitressourcen bereitet sie jenseits ihrer alltäglichen Routinen gelegentlich auch sehr aufwändige Mahlzeiten zu. Trotz Altersdiabetes probiert sie immer mal wieder Unbekanntes aus, pocht jedoch insgesamt auf die tradierten Zusammenstellungen und Reihenfolgen und verlässt andernfalls sogar empört feierliche Familientreffen. Frau S. ist sehr erstaunt über das Interesse an ihren Ernährungsgewohnheiten und erzählt anfangs nur zögerlich. Interessanter Weise hat aber auch sie, abgesehen von der krankheitsbedingten Diät, ihre Ernährungsweise in den letzten Jahren noch einmal bewusst umgestellt. Während sie nach der Wende 1989 angesichts des schlagartig vergrößerten Warenangebots zunächst ihr Mahlzeiten-Repertoire erheblich ausgedehnt hatte, kommt sie heute vielfach auf die alten Gerichte zurück, die sie allerdings unter Zuhilfenahme vieler Konserven, Fertig- und Halbfertiggerichte zubereitet. Im Mittelpunkt ihrer Anstrengungen steht zum einen, von den 200 Euro, die ihr monatlich für den Zwei-Personen-Haushalt zur Verfügung stehen, möglichst viel für die beiden erwachsenen Enkelsöhne übrig zu behalten, ein Vorgehen, das sie als »Planwirtschaft« bezeichnet. Zum anderen wählt sie bevorzugt Ostmarken: »Marinierten Hering von Rostock oder Saßnitz, Gewürzgurken aus dem Spreewald, Magdeburger Kaffee, (...) da haben diejenigen, die im Spreewald und so, die haben da einen Arbeitsplatz. Denn mir haben doch nischt mehr. Warum soll ich dann nicht, was in der ehemaligen
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DDR war, (...). Ich hab auch vorher schon von diesem Thomy und dergleichen gekostet. Mir schmeckt es nicht mehr.«
Soweit Auszüge aus drei Gesprächen mit Über-60-Jährigen, die – gerade im Vergleich zum gesamten Sample – interessante Aufschlüsse zu den Ernährungsarrangements Älterer erlauben. Mit der Rede von Ernährungsarrangements möchte ich verdeutlichen, dass das alltägliche Ernährungshandeln eine komplexe Gestaltungsaufgabe darstellt. Wie die Ausschnitte zeigen, müssen zu seiner individuellen Bewältigung Ältere wie Jüngere weit mehr berücksichtigen, als die oben angesprochenen, ernährungsphysiologisch formulierten Ernährungsziele, mit denen Ernährungsverhalten einseitig anhand von aus medizinischer und naturwissenschaftlich-technischer Perspektive aufgestellten Kriterien betrachtet wird.
1.2 Ernährung im Kontext: Ernährungsarrangements Das individuelle Ernährungshandeln findet nicht isoliert statt, sondern ist eng verzahnt mit anderen Lebensbereichen und muss auch bei Älteren üblicherweise mit den Ansprüchen und Bedürfnissen weiterer Personen ausgehandelt werden. Es geschieht im Kontext von alltagspraktischen Notwendigkeiten, von oft gruppenspezifischen Ernährungsorientierungen und Sinngebungen, von körperlichen und symbolischen Bezügen, aber auch von technisch und ökonomisch zu beschreibenden „Konsum-Infrastrukturen“, die insbesondere die vorhandenen Versorgungs- und Produktionssysteme bestimmen und im Rahmen internationaler Beschaffungsmärkte ihrem eigenen Trend von Globalisierung folgen (vgl. Southerton et al. 2004). In den Interviewausschnitten fällt zunächst die große Spannweite an unterschiedlichen Ernährungsmustern auf, die verschiedenen Bezüge und Referenzen der Ernährungsleitbilder und die vielen Umbrüche und Reflexionen, von denen die Befragten auch in dieser Altersgruppe berichteten. Sie strafen damit das in der Ernährungsforschung kolportierte Vorurteil Lügen, dass älteren Menschen nicht nur eine ab dem fünften Lebensjahrzehnt ständig kleiner und eintöniger werdende Speisenwahl nachsagt, sondern zudem davon ausgeht, dass sich bei ihnen traditionell geprägte Ernährungsmuster im ewig gleichen Mahlzeitenbild weitgehend unveränderlich niederschlagen (Köhler 1995). Die Interviews verdeutlichen vielmehr, dass und inwiefern Wahlmöglichkeiten und Entscheidungszwänge auch ernährungsbezogen zugenommen haben und gerade bei Älteren als mehrfach bedingte Kontingenzerfahrung ehemals eherner Mahlzeitenvorstellungen kumulieren. So finden sich in beiden Großstädten vielfältige Ernährungsarrangements, die nicht zuletzt in überraschend unterschiedlichen Mahlzeitenformen und einer Pluralität von sie orientierenden Werthaltungen, Vorstellungen und Bezügen sichtbar werden.
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Schon auf der »Angebotsseite« ergibt sich die Pluralisierung aus der starken Erweiterung der Produktpalette in den letzten 30 Jahren. Aber auch der rasche Wechsel kulinarischer Moden, immer neue Lebensmittelskandale und produktbezogene Risikodiskurse, eine starke Globalisierung des Angebots sowie ganz generell der Erosion und auch wissenschaftlichen Delegitimierung von tradierten Mahlzeitenvorstellungen tragen dazu bei. Auf der »Nachfrageseite« führen die bekannten Prozesse von Individualisierung und Pluralisierung auch des dritten Lebensalters (vgl. Prahl, Schroeter 2000) sowie insbesondere das alltägliche Ringen um eine Neudefinition der Altenrolle vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Geringschätzung dazu, dass viele Ältere nicht fraglos in die ihnen zugeschriebenen, traditionellen und regionstypischen Ernährungsmuster schlüpfen. Wenn im Rahmen der Statuspassage in das dritte Lebensalter, die vor allem durch den Austritt aus dem Berufsleben markiert wird, aber auch mit dem Verlust identitätsgebender Rollen bspw. als fürsorgliche Eltern oder Verkehrsteilnehmer einhergeht, generell neue Orientierungen gefunden und Rituale des Alltags neu begründet werden müssen, bieten sich offensichtlich insbesondere Ernährungspraktiken für eine bewusste Reorganisation und neue „Auslegung des Alltags“ (Soeffner 1989) an. Auch unsere Studie zeigt zwar, dass Ernährungsmuster (in allen Altersgruppen) eine erstaunliche und auch milieutypische Beharrlichkeit aufweisen. Der von einer vielfach zitierten Iglo-Studie (Iglo-Forum 1995) heraufbeschworene individualisierte Esser, der morgens Müsli, mittags Fast Food und abends im französischen Feinschmeckerlokal speist, ist also keinesfalls der Normalfall. Die Studie zeigt aber auch, dass die Ernährungsroutinen im biographischen Verlauf an bestimmten Stellen typischerweise in Frage gestellt, kurzfristig reflexiv verfügbar und dann wieder in neuen Arrangements für einige Zeit still gestellt werden. Ernährungspraktiken verflüssigen sich, wenn die eingelebten Routinen nicht fraglos fortgeführt werden können: etwa nach dem Auszug aus dem Elternhaus, wenn in einer Partnerschaft eine Tischgemeinschaft begonnen oder wieder aufgegeben wird, wenn Kinder geboren werden, im Fall von schwereren Krankheiten oder starken Verunsicherungen durch Lebensmittelskandale, oder eben beim Übertritt in den Ruhestand. In diesen Momenten, die wir als »typische Ernährungsumbrüche« beforscht haben (vgl. Kropp, Sehrer 2005), werden nicht nur die alltäglichen Praktiken und Arrangements neu überdacht und reorganisiert, sondern mit ihnen etablieren sich auch neue ernährungskulturelle Vorstellungen und Orientierungen. Obwohl es rückblickend oft so erzählt wird, als seien die veränderten Ernährungsmuster Resultat veränderter Einstellungen, finden sich viele Hinweise auf eine wechselseitige Beeinflussung von Praxis und Interpretation: Ganz im Sinne von Peter Berger und Thomas Luckmann (1980, S. 112ff.) ändern sich mit dem Tun die handlungsstützenden Konzeptionen und tragen ihrerseits dazu bei, die veränderten Alltagspraktiken zu legitimieren und zu
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stabilisieren. Indem individuelle Vorstellungen, Fähigkeiten und Optionen immer wieder neu mit den gesellschaftlichen Anforderungen, den vorgefundenen Restriktionen und Zwängen ausbalanciert werden, entsteht eine phasenweise Stabilität und Kontinuität des Ernährungshandelns, deren Kohärenz sich eher aus der langfristigen Perspektive ergibt, in Umbruchphasen aber mehr oder weniger bewusst neu gefunden und hergestellt wird.
2 Ernährungsarrangements als Gegenstand reflexiver Gestaltungskompetenz Nun zeigt sich allerdings, dass nicht in jedem Fall eine von uns ausgemachte »Sollbruchstelle« auch tatsächlich zur Reflexivierung und Rekonstruktion des Ernährungshandelns führt. Um zu verstehen, wann im Alter Ernährungsarrangements zum Gegenstand der bewussten Reorganisation und Gestaltung werden (können) und wann nicht, möchte ich einige der typischen Elemente aus der sich formierenden Lebenswelt von SeniorInnen mit ihrer Bedeutung für Ernährungsfragen verknüpfen (vgl. Bayer et al. 1999, S. 72ff.) und dann vor allem auf die Spielräume und Grenzen der Ernährungsgestaltung fokussieren. Laut einer Umfrage der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (2003) stellen 82 Prozent der 50-80-Jährigen ihre Ernährung im Alter um. Neben vielen »UmstellerInnen« finden wir in unseren Interviews aber auch Fälle ohne Veränderung und Fälle, in denen zwar Wunsch oder Notwendigkeit einer Veränderung formuliert, aber nicht umgesetzt werden. Die Infragestellung der Ernährungspraxis vermag diese dann nicht aus ihrer Erstarrung in verkrusteten Ernährungsroutinen zu lösen. Warum? Eine erste Erklärung setzt am individuellen Verlauf der Statuspassage und insbesondere an einem Zusammentreffen mehrerer, die Umstellung begünstigenden Faktoren an. Erstens wirkt die Statuspassage in das dritte Lebensalter besonders dann als deutliche Erosion der bisherigen Ernährungsgewohnheiten, wenn mehrere der oben angesprochenen Erschütterungsmomente zusammen kommen: Beispielsweise der Neubeginn einer alltäglichen und auch mittäglichen Tischgemeinschaft oder auch deren Ende im Ruhestand und altersbedingte Unverträglichkeiten, Krankheiten, eine vollständige Neueinteilung des Privatlebens, stark veränderte zeitliche, unter Umständen auch ökonomische Ressourcen. Zweitens bringen der Abschied aus dem aktiven Berufs- bzw. Gesellschaftsleben, damit auch das Ausscheiden aus diesen Bereichen und den die eigene Identität definierenden Rollenvorgaben sowie der zumindest partielle Rückzug aus weiteren sozialen Verbindlichkeiten, etwa als Eltern, ArbeitskollegInnen, etc., die Zumutung mit sich, eine Selbstzuordnung bzw. Selbstneuerfindung, nun als mehr oder
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weniger »alter Mensch«, vorzunehmen. Und zwar muss diese anspruchsvolle »Identitätsarbeit« (Keupp, Höfer 1997) gegenüber einer gesellschaftlich definierten SeniorInnenrolle geschehen, die nicht selten mit Deprivationen und Stigmatisierungen einhergeht. Vor diesem Hintergrund kann die Inszenierung des Alltags als „erfüllt und selbstbestimmt“ zu einem Bollwerk der Selbstwertschätzung und zum Identitätsanker werden. Den Routinen der Mahlzeitenzubereitung und ihrer Auslegung kommt hierbei die Funktion der Tagesstrukturierung, aber auch der symbolischen Sinn- und Identitätsstiftung zu. Tritt drittens die alterstypische Beobachtung einer abnehmenden körperlichen Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit hinzu, kann die Infragestellung des eigenen Selbst- und Körperbildes – wie im ersten vorgestellten Fall – zusätzlich zu einer Neubewertung von Ernährungsfragen führen. Schließlich ist das veränderte Zeitbewusstsein viertens mit einer Tendenz zur inneren Bilanzierung verbunden: Was ist getan und was kann noch geschehen? In einigen Interviews sensibilisieren solche Bilanzierungen und Rückschauen offensichtlich für die Wahrnehmung von gesellschaftlichen und auch landschaftlichen Veränderungen. Einmal aus dem raschen Lauf der Zeit heraus geworfen, erscheinen dann der hektische und gesichtslose Betrieb in Discountmärkten, aber auch die agrarindustriellen Zustände, von denen gerade in den letzten Jahren die Medien berichteten, als »kopfloser Weg in die falsche Richtung«, wie Frau K. sagt. Gerade Ältere suchen auch deshalb gerne Wochenmärkte und Läden mit persönlicher Beratung auf, freuen sich direkt vom Bauern zu erwerben, was »mit Liebe und Verstand« gezogen wurde, idealisieren das traditionelle Landleben und seine Produkte. Auf einmal verdichtet der heimische Apfel Erinnerungen an die Kindheit – nicht selten eine Kindheit im Nachkriegsdeutschland – oder steht für deutsche landwirtschaftliche Kunst, für Gesundheit und Natürlichkeit, symbolisiert sogar »den Garten Eden«, während noch im Erwerbsleben nur ein glattes Aussehen und vor allem der Preis zählten. Wenn im Ruhestand die Mahlzeitengestaltung (vor allem von Paaren) zum Mittelpunkt der täglichen Abläufe avanciert, nehmen einige Befragte auch eine Umkodierung einzelner Lebensmittel oder der gesamten kulinarischen Sinnwelt vor. So kann beispielsweise die vorhin erwähnte, an Ostmarken orientierte Lebensmittelbeschaffung von Frau S. als eine Form der Dekolonisierungsstrategie gelesen werden, ähnlich wie das Ehepaar T. nun in alltäglichen Ernährungsentscheidungen politische Gehalte entdeckt. Jede symbolische Sinnwelt ist potenziell problematisch, jedoch besonders solche, die im öffentlichen Diskurs stark problematisiert werden: In diesem Sinne greifen manche Erzählungen Älterer die medial erzeugte, ernährungsbezogene Verunsicherung auf, spielen zumindest gedankenexperimentell mit verschiedenen Bewältigungsmustern. Das erfordert meiner Beobachtung nach jedoch eine Art reflexive Gestaltungskompetenz, die ihrerseits vor allem im Dialog gelingt. Damit komme ich zu einem zweiten Erklärungsansatz für Gelingen und Scheitern der Ernährungsgestaltung im dritten Alter.
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Gegenüber den bislang dargestellten Beispielen scheinen der kulinarischen Sinnstiftung, der reflexiven Reorganisation von alltäglichen Ernährungsarrangements und ihrer alltagspraktischen Stabilisierung in sich selbst tragende Routinen nämlich in anderen Fällen enge Grenzen gesetzt. In den von mir untersuchten Münchner Fällen lag dies nicht am finanziellen Spielraum, an begrenzter Verfügbarkeit von Ernährungsalternativen durch unüberbrückbare Wege oder an mangelndem technischem, intellektuellem oder körperlichem Vermögen. Obwohl die Leipziger Befragten deutlich geringere Haushaltsbudgets angaben, schien auch hier die sozioökonomische Situation nicht wirklich ausschlaggebend für die fallweise vorgefundene »arme« Ernährungssituation. Ob aber die Erschütterung der bisherigen Ernährungsgewohnheiten, ein festgefahrenes Arrangement aus kulinarischen Orientierungen, sozioökonomischen Möglichkeiten und der vorgefundenen Infrastruktur (dazu gehören beispielsweise die Kantine am Arbeitsplatz, die örtliche Lebensmittelangebot und die private Gefriertruhe) selbstbestimmt gestaltet und in neue Ernährungsarrangements übersetzt wird oder nicht, scheint vielmehr, und das ist mein zentraler Punkt, wesentlich von der subjektiv empfundenen Handlungs- und Gestaltungsmächtigkeit (agency) abzuhängen. Wer sich ohnmächtig »am Ende des Lebens« oder aller »Möglichkeiten beraubt« sieht, rutscht leichter in eine Haltung der puren Lebensbewältigung als erprobte Gestaltungsvirtuosen. Begrenzte Spielräume werden dann nicht als Gestaltungsaufforderung erlebt, wie beispielsweise im Fall von Herrn F., dessen Mahlzeitengestaltung aus ernährungswissenschaftlicher Sicht ja defizitär sein mag, von ihm selbst jedoch als gelungene Strategie der pragmatischen Aufwandsreduktion bei gewonnener Lebensqualität wahrgenommen wird. Im Gegensatz dazu zeigt der 65-jährige Herr G., dessen Interview nur 48 Minuten währte, bei ähnlichem Ernährungsstil eine alarmierende Lethargie. Er kann sich, wenn seine berufstätige Frau außer Haus ist, meist nicht aufraffen, auf seine Leberkrankheit dem ärztlichen Diätplan entsprechend zu reagieren. Der ehemalige Schlossermeister ist schon seit einigen Jahren arbeitslos und hatte zuletzt auch die Hoffnung verloren, noch mal in oder um Leipzig Arbeit zu finden. Er sieht sich als Opfer der Wiedervereinigung und beklagt neben vielem anderen, dass seither die Lebensmittel weder schmecken, noch riechen oder aussehen wie zu DDR-Zeiten. Das Interview gibt weitere Hinweise, dass sich Herr G. seit 1989 nur schwer auf die zahlreichen Veränderungen einstellen konnte und resignierte. Dass bei seiner Mahlzeitenzubereitung heute neben dem Preis von Lebensmitteln gelegentlich auch Geschmack, Qualität oder Eignung zählen, ist nur dem Engagement seiner Frau zu verdanken. Als die Interviewerin ihn behutsam darauf anspricht, dass er trotz Leberkrankheit nachmittags Bier trinkt, sagt er: »Ja hoffen wir, dass das mit den Kürzungen, also dass dass dass, dass ist natürlich was zum – das – da regen wir uns beide auf. Ne. Da hieß es dann ›schon über 65‹, ich bin jetzt 65 ne, ›Sie
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wissen ja wie alt er ist‹, äh, ist nicht mehr wert, dass man gute Medizin kriegt. (...) Und alles kostet und ich kann’s nicht mehr, (...). Ja, und da soll man sich um Diät kümmern?«
Herr G. hat seine Lebensführung weitgehend in die Hände seiner Frau gelegt. Diese kocht häufig sein Essen vor und bemüht sich, auf seine Lebensweise zu achten. Wenn sich Herr G. an Diätrichtlinien hält, so betont er, »ich tu’s nur für sie«. Ich frage mich, was wäre ohne sie? Herr G. verdeutlicht, was auch andere Interviews nahe legen: Die subjektiv wahrgenommene Kompetenz zur eigenen Lebensgestaltung, kurz »Lebensführungskompetenz«, scheint vor allem das Ergebnis der eigenen Biographie zu sein. Wer sich vor dem Ruhestand als Gestalter bzw. Gestalterin der eigenen Lebensverhältnisse wahrgenommen hat, ist auch geneigt, nach der Statuspassage den Alltag in Auseinandersetzung mit den vorhandenen Spielräumen in die Hand zu nehmen. In Übereinstimmung mit dem psychologischen Konzept der „Selbstwirksamkeit“ (self-efficacy) bestimmt bei den untersuchten Befragten zunächst die aufgrund bisheriger Erfahrungen gewonnene Überzeugung, auf die eigenen Fähigkeiten und die verfügbaren Mittel vertrauen zu können, um eine gewünschte Veränderung der Ernährungsgewohnheiten erfolgreich umzusetzen, die Bereitschaft, ihre alimentären Routinen zu überdenken und eine Veränderung anzugehen (vgl. Bandura 1997; Polivy, Herman 2002)2. Ob die in Angriff genommene Reorganisation des Ernährungsarrangements im Weiteren aber aufrecht erhalten werden kann, ist nicht länger vor allem von der wahrgenommenen Selbstwirksamkeit und den mehr oder weniger optimistischen Ergebniserwartungen abhängig (vgl. Rothman et al. 2004), sondern nun kommen weitere Faktoren ins Spiel, wie etwa die Bewältigung hinzugetretener Schwierigkeiten (bspw. in der Zubereitung oder Beschaffung von bislang nicht verwendeten Lebensmitteln), der relative Erfolg mit den neuen Ernährungsmustern (etwa Anerkennung, Körpergewicht, Fitness) oder die Bewertung der nun veränderten Erfahrungen. Dabei scheinen die subjektiven Kompetenzüberzeugungen, die neue und gegebenenfalls schwierige Aufgabe einer Ernährungsumstellung erfolgreich meistern zu können, weniger mit dem sozioökonomischen Status oder den küchenmeisterlichen Fähigkeiten zu tun zu haben – immerhin handelt es sich in zwei der erfolgreichen Beispiele um in Küchendingen unerfahrene Männer – als mit ihren bisherigen, insbesondere beruflich gemachten Erfahrungen. Wer sich ein Leben lang als »Herr der Situation« wahrgenommen hat und gewünschte Veränderungen verwirklichen konnte, scheint auch im Alter die Gestaltung der eigenen Belange mit mehr Mut anzugehen, ist optimistischer, durch adaptive Handlungsmöglichkeiten neue Herausforderungen gezielt bewältigen zu können. Wie 2
Den Hinweis auf das Selbstwirksamkeitskonzept der sozial-kognitiven Theorie zum besseren Verständnis von Gestaltungskompetenzen verdanke ich einem Zuhörer meines Vortrags auf dem Kongress für Soziologie 2004 in München.
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in vielen Dingen, scheint darüber hinaus ein Partner hilfreich, selbst wenn er oder sie sich an dem Unterfangen nicht aktiv beteiligt. Die Mahlzeitengestaltung gerät dann zumindest kurzfristig in den Aufmerksamkeitshorizont und wird in Abhängigkeit der je vorhandenen Relevanzen neu organisiert. Hier können nicht nur gesundheitliche, sondern auch ökologische, tierschützerische oder heimatbezogene Überlegungen Eingang finden. Das ermöglicht manchen Befragten, selbst aus jahrelang eingefahrenen Routinen auszubrechen, ihre Ernährungspraktiken unter veränderten Bedingungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten neu zu arrangieren und auch neue sinnstiftende Elemente zu integrieren. Große Bedeutung haben dabei GesprächspartnerInnen, die sich an der Gestaltung des Alltags beteiligen oder zumindest Interesse für diesen aufbringen („signifikante Andere“). Wer sich aber von den Geschehnissen überrollt fühlt, sei es aufgrund kultureller Entfremdung, bisher fehlender Bewältigungserfolge oder aber eines weitgehend ersatzlosen Verlustes der bisherigen Sinnwelten (das „soziale Vakuum“ ist vor allem ein Problem mancher Männer), erlebt den Alltag nicht als gestaltbar. An die Stelle von „Mahlzeiten“ rückt „Essen als Notwendigkeit“.
3 Fazit Insgesamt zeigt sich bei vielen SeniorenInnen eine unerwartete Offenheit, Nachdenklichkeit und Experimentierfreude in einem Bereich, der über alle Altersgruppen hinweg üblicherweise von großen Beharrungstendenzen geprägt ist. Die vielfältigen Ernährungsarrangements können als Teil der subjektiven Aneignung einer eigenen Alters-Identität und der umgebenden sozialen Wirklichkeit betrachtet werden; sie bekommen vor dem Hintergrund von erodierenden Selbstverständlichkeiten und einem wenig attraktiven Alten-Stereotyp wachsende Bedeutung. Das lädt dazu ein, sich von allerlei Klischees über das Alter freizumachen. Für das Forschungsprojekt bedeutete es, dass sich Anschlussmöglichkeiten für nachhaltige Ernährungsstile bei einer Zielgruppe zeigten, die bislang eher ausgeblendet wurde und nun aber zeitgleich von den Marketingstrategen entdeckt wird. SozialforscherInnen könnte unser Befund ermutigen, mehr über den Alltag im dritten Lebensalter und seine spezifischen Konstruktionsleistungen in Erfahrung zu bringen. Das Konzept der Lebensführungskompetenz als Produkt aus sozioökonomischer Ressourcenausstattung, kultureller Inszenierungsleistung und insbesondere biographischer Erfahrungen mit der eigenen Selbstwirksamkeit scheint in besonderer Weise geeignet, die Bedeutung der aktiven Gestaltungsleistung der Lebensführung im Rahmen pluraler Chancen und Risiken in den Vordergrund zu
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rücken (vgl. auch Kudera und Voß in Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ 1995 sowie Voß, Weihrich 2001). Vielleicht sollte der Pflege und Erhaltung dieser Gestaltungskompetenz im Rahmen einer sonst vor allem finanziell gedachten Alterssicherung mehr Bedeutung zukommen. Schließlich wäre anhand einer breiteren Datenbasis kritisch zu hinterfragen, inwieweit die biographisch rekonstruierbare Gestaltungskompetenz mit klassischen Kategorien sozialer Ungleichheit (etwa Bildung) bzw. einer Mittelschichtzugehörigkeit korreliert, auch wenn diese Faktoren in unserer qualitativ angelegten Untersuchung nicht die ausschlaggebende Rolle zu spielen schienen. Schließlich scheint mir die Rolle signifikanter Anderer für die gewachsene Aufgabe der Selbstkonstruktion im Alter von großer Bedeutung. In Zeiten, in denen vorgegebene Zuordnungen an Wert verlieren und Selbstzuordnungen als eigene Synthese- und Darstellungsleistungen vorgenommen werden müssen, gewinnt die Inszenierung von Alltag und Subjektivität und damit das Zusammenspiel von Fremd- und Selbstbeobachtung an Bedeutung. In solchen Zeiten ist ein armer Hund, wer kein Publikum hat. Einsamkeit im Alter, insbesondere in Großstädten wie München und Leipzig, wird damit zu einem doppelt deprivierenden Faktor, der auch auf die Gestaltung von Mahlzeiten – nach Georg Simmel (1984) dem Geburtsort der Gemeinschaft – eine oftmals verheerende Wirkung hat: Diese können dann zu traurigen Anlässen des einsamen Sattwerdens verkommen.
Literatur Bandura, Albert (1997): Self-efficacy: The exercise of control. New York: Freeman. Bayer, Otto; Kutsch, Thomas; Ohly, H. Peter (1999): Ernährung und Gesellschaft – Forschungsstand und Problembereiche. Opladen: Leske + Budrich. Berger, Peter; Luckmann, Thomas (1982): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit – Eine Theorie der Wissensgesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) (2003): Umfrage zum Thema Ernährung. Bonn: Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen [http://www.bagso.de/ergernaehr.html, eingesehen am 21.7.2004]. Iglo-Forum (Hrsg.) (1995): Kochen in Deutschland. Hamburg: Iglo. Keupp, Heiner; Renate Höfer (1997): Identitätsarbeit heute. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Köhler, Barbara Maria (1995): Ernährung in der Armut – Folgen für die Gesundheit. In: Barlösius, Eva, Feichtinger, Elfriede, Köhler, Barbara Maria (Hg.): Ernährung in der Armut. Gesundheitliche, soziale und kulturelle Folgen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: (WZB) Sigma. S. 271-290.
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Einkommensdynamiken beim Übergang in den Ruhestand Andreas Motel-Klingebiel und Heribert Engstler
1 Einleitung Erleichtert durch die Einführung der flexiblen Altersgrenze 1973 und weiterer sozial- und arbeitsmarktpolitischer Anreize hielt im früheren Bundesgebiet bis Ende der 1990er-Jahre der Trend zur immer frühzeitigeren Ausgliederung älterer Arbeitskräfte aus dem Erwerbsleben und zum vorzeitigen Rentenbeginn an. Begleitet und getragen wurde dieser Trend lange Zeit von einem korporatistischen Konsens der Sozialpartner und des Staates, strukturell bedingte Anstiege der Arbeitslosigkeit durch das Mittel des abgesicherten Vorruhestands und der Frühverrentung zu mildern. Ihre Ausweitung und auch ihren Höhepunkt erfuhr diese Strategie in Ostdeutschland in den Jahren nach der Wiedervereinigung, als im Zuge des schockartigen Einbruchs der Wirtschaftsleistung und der völligen Neustrukturierung der Wirtschaft die dortige Arbeitsnachfrage erheblich schrumpfte. Binnen kurzer Zeit wurden damals die meisten Beschäftigten ab 57 Jahren, viele schon ab 55 Jahren, in den Vorruhestand und in den daran anschließenden vorzeitigen Altersrentenbezug entlassen. Dies geschah zu einer Zeit, als bereits die Diskussion über eine notwendige Verlängerung der Lebensarbeitszeit und die Abschaffung von Anreizen zur Frühausgliederung im System der sozialen Sicherung massiv eingesetzt hatte und mit dem Rentenreformgesetz 1992 bereits erste gesetzliche Maßnahmen zur Anhebung des Rentenzugangsalters getroffen worden waren. Mittlerweile sind weitere Reformen des Renten- und Arbeitsförderungsrechts erfolgt, die darauf abzielen, die Möglichkeiten zum Rentenübergang vor Erreichen der Regelaltersgrenze ebenso wie den häufig anzutreffenden Übergangspfad über Arbeitslosigkeit bzw. Vorruhestand in den frühen Rentenbezug einzuschränken und verbleibende Optionen finanziell unattraktiver zu machen. Bislang ist empirisch noch wenig geklärt, welche wirtschaftlichen Konsequenzen die verschiedenen angesprochenen Wege in den Ruhestand für die betroffenen Personen haben. Wie gravierend und nachhaltig sind insbesondere die Einkommenseinbußen, die entstehen, wenn ältere Arbeitskräfte zum Teil Jahre vor dem Rentenbeginn arbeitslos werden und in den faktischen Vorruhestand wechseln? Haben ältere Menschen, die vor ihrem Ruhestand längere Zeit arbeitslos waren, anschließend ein geringeres Alterseinkommen als andere? Wie verändert sich die Einkommenslage langjähriger Hausfrauen mit Beginn der
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Andreas Motel-Klingebiel, Heribert Engstler
Altersrente? Welches sind finanziell mehr, welches weniger attraktive Wege des Übergangs? Der nachfolgende Beitrag untersucht auf der Grundlage längsschnittlicher Daten des deutschen Alterssurveys, wie sich verschiedene Sequenzen des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand in den absoluten und relativen Einkommenslagen und ihren Dynamiken widerspiegeln. Er gliedert sich dabei in mehrere Abschnitte. Zunächst werden aktuelle Entwicklungen des Übergangs in den Ruhestand skizziert. Sie weisen auf eine wachsende Heterogenität dieser letzten institutionalisierten Statuspassage im Lebenslauf hin. Im empirischen Teil werden Ergebnisse zur Dynamik der Einkommenssituation von Personen im sechsten und siebten Lebensjahrzehnt in Abhängigkeit von der individuellen Erwerbsstatusentwicklung zwischen 1996 und 2002 vorgestellt. Die Befunde werden abschließend vor dem Hintergrund der geschilderten Fragestellungen diskutiert.
2 Heterogenität des Übergangs in den Ruhestand Der Eintritt in den Ruhestand hat sich in der Vergangenheit langfristig in ein jüngeres Lebensalter verlagert. Diese Entwicklung ist seit einigen Jahren zum Stillstand gekommen und kehrte sich in jüngster Zeit bereits ansatzweise um. Zugleich wurden die Übergangspfade in dieser Zeit vielfältiger. Beim Blick auf die Rentenzugänge der Gesetzlichen Rentenversicherung spiegelt sich dies im Renteneintrittsalter, in der Verteilung auf die verschiedenen Rentenarten und in den Versichertenkategorien unmittelbar vor Rentenbeginn. Ein Indiz für die Zunahme der Altersheterogenität beim Wechsel in den Ruhestand ist die langfristig gestiegene Variabilität des Rentenzugangsalters. So betrug beispielsweise im Jahr 1970 die Standardabweichung des mittleren Zugangsalters – bezogen auf die bewilligten Altersrenten für Männer – lediglich 0,41 Jahre (Tabelle 1). Im Jahr 1995 war sie mit 2,13 Jahren bereits mehr als fünfmal so hoch. Seitdem ist die Altersstreuung allerdings rückläufig und hat bereits wieder das Niveau der frühen 1980er-Jahre unterschritten. An der Umkehr des Trends haben die Anhebung der Altersgrenzen bei den vorgezogenen Altersrenten und die Einführung der Rentenabschläge maßgeblichen Anteil (vgl. Büttner 2005). Weitere Hinweise auf eine erfolgte Destandardisierung des Rentenübergangs zeigen sich in der geänderten Verteilung der Rentenarten. 1960 waren im früheren Bundesgebiet knapp 65 Prozent der Rentenzugänge Erwerbsminderungsrenten, 28 Prozent Regelaltersrenten sowie sieben Prozent vorgezogene Altersrenten. Im Jahr 1980, also einige Jahre nach Einführung der Altersrente für langjährige Versicherte und der Altersrente für Schwerbehinderte, entfielen nur noch
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Einkommensdynamik beim Übergang in den Ruhestand
knapp 50 Prozent der Rentenzugänge auf Erwerbsminderungsrenten, lediglich 15 Prozent auf Regelaltersrenten, jedoch etwa 36 Prozent auf vorgezogene Altersrenten – eine insgesamt sehr heterogene Gruppe, die sich aus Renten für langjährig Versicherte, für Schwerbehinderte und für weibliche Versicherte sowie aus Renten wegen Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeit zusammensetzt. In der Folgezeit stieg die Bedeutung vorgezogener Altersrenten weiter an: Ihr Anteil erreichte in Deutschland im Jahr 2004 knapp 48 Prozent (Deutsche Rentenversicherung 2005, S. 54). Der Anteil der Erwerbsminderungsrenten verringerte sich deutlich auf noch gut 17 Prozent, während die Regelaltersrenten wieder an zahlenmäßiger Bedeutung gewannen (35 Prozent). Diese Entwicklung wurde begünstigt durch eine erhebliche Verkürzung der Zahl der zum Rentenbezug mindestens notwendigen Versicherungsjahre zu Beginn der 1980er-Jahre und durch die Mitte der 1990er-Jahre einsetzenden Altersgrenzenanhebungen. Aktuell gibt es somit keine dominierende einzelne Rentenart. Hinter den Durchschnittszahlen verbergen sich zudem erhebliche Divergenzen zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Ost- und Westdeutschland. Tabelle 1: Alter von Männern beim Zugang in die gesetzliche Rente wegen Alters im früheren Bundesgebiet (in Jahren) Jahr
Mittleres Alter bei Rentenbeginn
Standardabweichung
1970 1975 1980 1986 1990 1995 2000 2005
65,2 64,1 62,6 62,8 62,8 62,6 62,5 63,3
0,41 1,19 1,86 1,92 1,84 2,13 1,97 1,72
Quelle: Rentenzugangsstatistik der Deutschen Rentenversicherung, eigene Berechnungen.
Die große Vielfalt der Zugangswege in den Ruhestand zeigen auch die verfügbaren Informationen der Rentenversicherung zum Versichertenstatus unmittelbar vor dem Rentenbeginn. Von den Personen, die 2005 erstmals eine Altersrente bezogen, wechselten lediglich gut 17 Prozent direkt aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in die Rente. Etwa jede zehnte Person befand sich zuvor in der Altersteilzeit. Fast ein Viertel war zuvor arbeitslos und im Leistungsbezug nach SGB III. Weitere gut drei Prozent waren Anrechnungszeitversicherte bzw. Arbeitslose ohne Leistungsbezug (Deutsche Rentenversicherung 2006). Den größten Anteil stellen mit 34 Prozent die passiv Versicherten, deren letzte Beitragszahlung schon länger zurückliegt. Diese Gruppe setzt sich überwiegend aus Hausfrauen, Beamten und Selbstständigen zusammen. Auch
Andreas Motel-Klingebiel, Heribert Engstler
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bei diesen Merkmalen gibt es große Abweichungen zwischen Ost- und Westdeutschland und zwischen den Geschlechtern. Beispielsweise waren über die Hälfte der ostdeutschen Männer vor dem eigentlichen Rentenbeginn arbeitslose Leistungsempfänger. Abbildung 1: Situation vor Beginn der Altersrente 100
6,5
7,9
18,4
13,7
9,2
10,9
8,5
12
10,9
4,4
19,0 23
60
aus sonstigem Status (lange Krankheit, EU/BU-Rente, Umschulung/Weiterb. etc.) nach Tätigkeit als Hausfrau/mann
% 40
Übergang in die Altersrente:
12
80 2,8
6,8
72,3
74,0
aus der Arbeitslosigkeit oder dem Vorruhestand
71,4 63,3 53
20
direkt aus der Erw erbstätigkeit**
0 1917/22
1923/27
1928/32
1933/37 1938/42*
Geburtsjahrgang
*) teilweise geschätzt **) einschl. aus Freistellungsphase der Altersteilzeit Quelle: Alterssurvey 2002, Replikationsstichprobe, n=1.211.
Ergänzend zu diesen auf das Kalenderjahr bezogenen Daten belegen kohortenspezifische Analysen des Alterssurveys eine abnehmende zeitliche Koinzidenz zwischen dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und dem Übergang in den Ruhestand (vgl. Abbildung 1). Waren von den 1917-22 geborenen Deutschen noch 72 Prozent und von den 1923-27 Geborenen sogar 74 Prozent direkt aus der Erwerbstätigkeit in den Altersrentenbezug gewechselt, traf dies nur noch auf 53 Prozent der in den Jahren 1938-42 Geborenen zu. Stark zugenommen hat im Vergleich der Kohorten die Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit und Vorruhe-
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145
stand vor dem Rentenbeginn, und zwar von drei bzw. vier auf rund 23 Prozent (Engstler 2006). Besonders stark verändert haben sich die Übergangspfade in Ostdeutschland. Das einst nahezu universelle Muster des nahtlosen Wechsels aus der Erwerbstätigkeit in die Altersrente verschwand innerhalb kurzer Zeit. Während noch 87 Prozent der 1923-27 Geborenen den direkten Übergang erlebten, hat sich diese Quote unter den zehn Jahre später Geborenen mehr als halbiert: Nur noch 42 Prozent der Geburtskohorte 1933-37 waren bis zum Altersrentenbeginn erwerbstätig. Hingegen wurden 45 Prozent zuvor arbeitslos oder erlebten eine Vorruhestandsphase. In Westdeutschland haben sich die Übergangsmuster weniger stark verändert. Zu beobachten ist hier vor allem eine steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen im rentennahen Alter, die zugunsten der anderen Pfade zu einem Bedeutungsverlust des Übergangs in die Altersrente aus der Hausfrauentätigkeit geführt hat (Engstler 2006).
3 Fragestellung Insgesamt lassen sich in historischer Perspektive deutliche Anzeichen einer Destandardisierung des Übergangs in den Ruhestand erkennen – und zwar sowohl im Hinblick auf das Alter als auch hinsichtlich der Zugangswege. Zwar hat die Einschränkung der Möglichkeiten bzw. der finanziellen Attraktivität eines frühzeitigen Rentenübergangs in den letzten Jahren bereits wieder zu einem leichten Anstieg und einer verstärkten Konzentration des Rentenzugangsalters geführt. Jedoch bleibt der Trend hin zu einer größeren Vielfalt der Übergänge ungebrochen. Der ursprünglich als Normalfall konzipierte nahtlose Übergang aus der Erwerbsarbeit in den Ruhestand hat merklich an Bedeutung eingebüßt. In zunehmendem Maße tritt zwischen die letzte Erwerbstätigkeit und den Altersrentenbezug eine mehr oder weniger lange, durchaus häufig auch mehrjährige1 Lebensphase. Sie kann allein schon aufgrund damit verbundener frühzeitiger und hinsichtlich des Zeitpunktes oftmals ungeplanter Einkommensverluste zu einer Herausforderung für die materielle Lage werden, wenn ein direkter Übergang vom Arbeitseinkommen zum Einkommen aus Alterssicherungssystemen nicht arrangiert werden kann. Die Herausforderung liegt vor allem auch darin begründet, dass sich die Altersarbeitslosigkeit zusehends zur Hauptursache für das Auseinanderfallen von Erwerbsende und Ruhestandsbeginn entwickelt. Da ältere Arbeitslose nur noch geringe Chancen auf die Rückkehr in eine existenzsi1
Unter Ausklammerung der Rentenzugänge aus vorheriger Hausfrauentätigkeit betrug die Dauer der zu überbrückenden Phase zwischen Erwerbsende und Altersrentenbeginn nach den Ergebnissen des Alterssurveys durchschnittlich 4,6 Jahre mit steigender Tendenz (Engstler 2006).
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chernde Beschäftigung haben, werden sie häufig zu Langzeitarbeitslosen, deren Erwerbslosigkeitsphase erst mit dem Übergang in die Rente endet (Engstler, Brussig 2006). Ihre Einkommenssituation hängt in dieser Zeit maßgeblich von der Ausgestaltung der sozialstaatlichen Absicherung der Arbeitslosigkeit und dem Vorhandensein anderer Einkommensquellen und -bezieher im Haushalt ab. Zugleich kann sich der vorzeitige Abschied aus dem Erwerbsleben insbesondere auf dem Weg über eine Arbeitslosigkeitsphase negativ auf das spätere Alterseinkommen auswirken: Zum einen durch die gegenüber fortgeführter Erwerbstätigkeit zunehmenden Einbußen im Aufbau von Anwartschaften auf gesetzliche, betriebliche und private Alterssicherungsleistungen; zum anderen durch mögliche Rentenabschläge bei einem vorzeitigen Rentenbeginn nach längerer Arbeitslosigkeit. Hinzukommen dürften nicht erreichte Aufstiege auf der Karriereleiter in späten Phasen des Erwerbslebens, die sich ebenfalls negativ auf die Rentenanwartschaften auswirken können. Ein weiteres Problem für die Lebenssituation im Alter dürfte die nur geringe Plan- und Steuerbarkeit von Arbeitslosigkeitsphasen und damit des Übergangs in den Ruhestand auf diesem Wege darstellen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist zu untersuchen, wie sich die Einkommenslagen im Übergang in den Ruhestand verändern und welche Bedeutung hierbei den verschiedenen Pfaden des Übergangs zukommen mag. Dabei ist insbesondere der Einfluss der Altersarbeitslosigkeit und des Vorruhestands empirisch zu diskutieren. Stehen daher nachfolgend die wirtschaftlichen Konsequenzen des Übergangs in den Ruhestand im Zentrum der empirischen Betrachtungen, so ist insbesondere die Bedeutung der jeweiligen Übergangspfade, also der Phase des Lebenslaufs zwischen Erwerbstätigkeit und Altersrentenbezug, und ihre differenzierende Wirkung zu ermitteln: Stellen Übergangssequenzen für die jeweils Betroffenen auch wirtschaftlich nur eine Zwischenphase dar oder handelt es sich einkommensbezogen um eine frühzeitige Vorwegnahme eines finanziell schlechter ausgestatteten Ruhestands im Sinne eines kaum antizipierund planbaren Quasi-Ruhestands?
4 Daten und methodisches Vorgehen Empirische Grundlage der Untersuchung ist der Alterssurvey, eine für Deutschland repräsentative Erhebung der Lebenssituationen und -entwürfe der Menschen in der zweiten Lebenshälfte mit bislang zwei Erhebungswellen, die in den Jahren 1996 und 2002 durchgeführt wurden. Eine dritte Projektphase ist derzeit in Planung. Sie sieht ggf. eine erneute Datenerhebung im Jahr 2008 vor. Im Jahr 1996 wurden basierend auf einer disproportional geschichtet nach Altersgruppe, Geschlecht und Landesteil (Ost/West) gezogenen bevölkerungsre-
Einkommensdynamik beim Übergang in den Ruhestand
147
präsentativen Einwohnermeldeamtsstichprobe insgesamt 4.838 in Privathaushalten lebende Deutsche im Alter von 40 bis 85 Jahren zur Situation und individuellen Entwicklung verschiedener Lebensbereiche befragt. Von diesen Befragten der ersten Welle konnten 1.524 Personen im Jahr 2002 erneut zu ihren objektiven und subjektiven Lebenssituation und zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen befragt werden. Zugleich wurde in 2002 zudem eine neue Stichprobe 40- bis 85-jähriger Deutscher sowie eine Stichprobe gleichaltriger Nichtdeutscher befragt. Dieses komplexe Design des Alterssurveys ermöglicht sowohl die Analyse individueller Entwicklungen als auch den Vergleich unterschiedlicher Geburtskohorten im jeweils selben Alter sowie den Kontrast zwischen Deutschen und Ausländern.2 Im Zentrum der Untersuchung der individuellen Einkommensveränderungen im Prozess des Übergangs in den Ruhestand stehen jene Befragten, die an den beiden Erhebungswellen teilgenommen haben und so wiederholt befragt werden konnten. Für sie lassen sich individuelle Einkommensveränderungen zwischen den beiden Messzeitpunkten in den Jahren 1996 und 2002 in Abhängigkeit von den in diesem Zeitraum möglicherweise erfolgten Übergangsereignissen darstellen und vergleichen. Die Untersuchung der Einkommensdynamik kurz vor, während und in den ersten Jahren nach dem Übergang in den Ruhestand konzentriert sich dabei auf die Gruppen der 52- bis 69Jährigen des Jahres 1996. Die individuelle Entwicklung der Erwerbsbeteiligung3 über die Zeit, insbesondere das Durchlaufen verschiedener Übergangssequenzen vom Erwerbsleben in den Ruhestand, wird erfasst durch die Kombination der folgenden Erwerbszustände zu den Zeitpunkten t1 (1996) und t2 (2002): (1) erwerbstätig (einschl. Personen in der Altersteilzeit; ohne erwerbstätige Bezieher einer Altersrente oder Pension im Alter ab 60 Jahren), (2) arbeitslos, im Vorruhestand oder Frührente/pension (unter 60 J.)4, (3) Bezieher einer Altersrente/Pension (ab 60 J.), (4) Sonstige Nicht-Erwerbstätige (Hausfrauen/-männer etc.). 2 3
4
Ausführliche Darstellungen zum methodischen und inhaltlichen Konzept sowie den Stichproben des Alterssurveys finden sich in Dittmann-Kohli et al. (1997) sowie Tesch-Römer et al. (2002). Die Feststellung der Erwerbstätigkeit erfolgte durch Selbstdeklaration der Befragten in Bezug auf ihre Haupttätigkeit bzw. ihren Hauptstatus. Mehrfachnennungen waren nicht möglich. Zu den Erwerbstätigen zählen in dieser Untersuchung die drei Antwortkategorien „hauptberuflich Teilzeit oder Vollzeit erwerbstätig (auch ABM)“, „unregelmäßig, geringfügig oder nebenerwerbstätig“ und „in der Freistellungsphase der Altersteilzeit“. Bezieher einer Altersrente oder Pension (ab 60) konnten angeben, ob sie daneben noch einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Um den Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand von einer Erwerbstätigkeit im Ruhestand zu unterscheiden, wurden diese Personen in der vorliegenden Untersuchung – ungeachtet einer eventuellen Nebenerwerbstätigkeit im Ruhestand – nicht den Erwerbstätigen zugeordnet. Die Zusammenfassung der Arbeitslosen und im Vorruhestand Befindlichen mit den Frührentenbeziehern unter 60 Jahren erfolgte aus Gründen der geringen Fallzahl und der Tatsache, dass Erwerbsminderungsrenten grundsätzlich zeitlich befristet sind, also formal noch nicht den endgültigen Übergang in den Ruhestand mit lebenslang garantierter Alterssicherungsleistung bedeuten. Freilich münden die meisten Erwerbsminderungsrenten bei Erreichen eines entspre-
Andreas Motel-Klingebiel, Heribert Engstler
148
Abbildung 2: Typisierte Übergangsmuster in den Ruhestand und Beobachtungssequenzen t1 t1
t2
t2 t1 t1
t2 t2
EWT
EWT
NEWT
t1
t2
Übergangsphase
Ruhestand
Ruhestand
Ruhestand
Es wird von drei grundsätzlichen und mit den gewählten Erhebungsdesign abzubildenden Biographiemustern mit entsprechenden Übergangswegen in den Ruhestand ausgegangen, die in Abbildung 2 schematisch dargestellt sind: Direkter Übertritt aus der Erwerbstätigkeit in den Altersrentenbezug, Übertritt über eine Übergangsphase sowie Altersrentenbezug nach einer längeren Phase der Nichterwerbstätigkeit. Da mit dem Alterssurvey nur zwei Zeitfenster mit Statusabfragen in den Jahren 1996 und 2002 vorliegen, ordnen sich diesen Mustern empirisch verschiedene vorzufindende Kombinationen zu, die in Abbildung 2 wiedergegeben werden und denen mit Blick auf ihre Auswirkungen auf die relative Einkommensposition nachfolgend nachzugehen ist: chenden Alters in die Altersrente. Für die Zusammenfassung spricht auch der erleichterte Anspruch von teilweise erwerbsgeminderten Personen ohne Beschäftigung auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund ihrer geringen Beschäftigungschancen. Bei der Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente wird häufig – zusätzlich zu medizinischen Gründen – das Kriterium des verschlossenen Arbeitsmarkts herangezogen. Nur etwa die Hälfte der Personen, denen im Jahr 2004 im früheren Bundesgebiet eine Erwerbsminderungsrente bewilligt wurde, waren unmittelbar vor Rentenbeginn sozialversicherungspflichtig beschäftigt, knapp 30 Prozent wechselten aus dem Bezug einer SGB III-Leistung in die Erwerbsminderungsrente (VDR 2005, S. 113). Insgesamt stellen Arbeitslosigkeit, Vorruhestand, Berufs- und Erwerbsminderungsrentenbezug im sechsten Lebensjahrzehnt aufgrund der geringen Rückkehrwahrscheinlichkeit in eine existenzsichernde Beschäftigung typische Formen der Zwischenphase zwischen Erwerbsbeendigung und endgültigem Ruhestand dar.
Einkommensdynamik beim Übergang in den Ruhestand 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
149
erwerbstätig – erwerbstätig erwerbstätig – arbeitslos, Vorruhestand, Frührente/-pension erwerbstätig – Altersrente oder Pension arbeitslos, Vorruhestand, Frührente/-pension – Altersrente oder -pension Altersrente – Altersrente oder Pension sonst. Nichterwerbstätigkeit – Altersrente oder -pension sonst. Kombinationen
Zentrale abhängige Variable ist das Äquivalenzeinkommen. Es handelt sich hier um ein bedarfsgewichtetes Haushaltseinkommen pro Kopf, anhand dessen die Einkommenssituation von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung verglichen werden kann. Grundlage ist das Haushaltsnettoeinkommen, das unter Anwendung der sog. neuen OECD-Skala5 als der in der sozioökonomischen Forschung derzeit gebräuchlichsten Form der Bedarfsgewichtung in ein gewichtetes Pro-Kopf-Einkommen umgerechnet wird (Faik 1995, Figini 1998). Das in Euro ausgewiesene Äquivalenzeinkommen der Befragten lässt sich in Relation zum Landesdurchschnitt des Äquivalenzeinkommens darstellen und gibt dann die relative Einkommensposition der Individuen oder Gruppen in Relation zu dem – auf den Wert 1 standardisierten – Bevölkerungsdurchschnitt wieder. Da der Alterssurvey selber nur die Einkommenssituation der Bevölkerung ab 40 Jahren abbildet, diente als Referenz für die Berechnung der relativen Einkommenspositionen das im Sozioökonomischen Panel (SOEP) für die Jahre 1996 und 2002 hochgerechnete durchschnittliche Äquivalenzeinkommen der gesamten in Privathaushalten lebenden Bevölkerung Deutschlands.6 Die relative Einkommensposition der verschiedenen Altersgruppen, ihre Entwicklung im Alternsverlauf und ihre Veränderung im Zusammenhang mit den verschiedenen beobachtbaren Sequenzen oder Pfaden des Übergangs in den Ruhestand anhand der benannten Erwerbsstatusänderungen zwischen 1996 und 2002 stehen im Zentrum des nachfolgenden empirischen Teils der Untersuchung. Hierzu werden zunächst deskriptive Befunde vorgestellt. Anschließend wird der statistische Einfluss der verschiedenen Übergangssequenzen bzw. der aus beiden Messzeitpunkten gebildete Erwerbsstatuskombinationen auf die relative Einkommensposition mittels einer OLS-Regression (Fahrmeir et al. 1996, S. 93ff.) unter Kontrolle des Alters, des Geschlechts, der Region und der Entwicklung der Erwerbsbeteiligung des Partners untersucht.
5
6
Dabei erhält die erste erwachsene Person das Gewicht 1,0, alle weiteren erwachsenen Haushaltsmitglieder 0,5 und Haushaltsmitglieder unter 14 Jahren das Gewicht 0,3. Bei einem Haushalt mit zwei Erwachsenen errechnet sich somit das Äquivalenzeinkommen durch die Division des Haushaltsnettoeinkommens durch 1,5. 1996: 1158 Euro; 2002: 1360 Euro. Wir danken Peter Krause (DIW, Berlin) für die Bereitstellung verschiedener Mittelwertangaben zum Einkommen aus dem SOEP.
Andreas Motel-Klingebiel, Heribert Engstler
150
5 Ergebnisse 5.1 Altersbezogene Einkommenslage und -entwicklung 1996 bis 2002 In Abbildung 3 sind die durchschnittlichen Einkommenspositionen der einzelnen Altersgruppen im Ausgangsjahr 1996 und im Jahr der Wiederholungsbefragung derselben Personen im Jahr 2002 abgebildet. Daraus lassen sich erstens die Einkommenslagen der Altersgruppen in Relation zum Bevölkerungsdurchschnitt ablesen. Zweitens lässt sich die Veränderung dieser Einkommenspositionen im beobachteten Sechs-Jahres-Ausschnitt des Lebensverlaufs erkennen und drittens die veränderte Beziehung zwischen Alter und Einkommenslage ermitteln. Die runden Punkte markieren die Einkommenspositionen im Jahr 1996 (t1) und die dreieckigen Punkte die Positionen im Jahr 2002 (t2). Die verbindenden Linien zwischen den Ausgangswerten einer Altersgruppe und ihren Folgewerten sechs Jahre später, wenn sie der nächsten Altersgruppe angehören, verdeutlichen die durchschnittliche Veränderung der individuellen Einkommenspositionen im Beobachtungszeitraum. Die über das gesamte Altersspektrum reichende graue Linie gibt den Altersgradienten im Jahr 1996 wieder, die schwarze durchgezogene Linie den Altersgradienten im Jahr 2002. Abbildung 3: Altersspezifische Entwicklung der individuellen relativen Einkommenslagen zwischen 1996 und 2002 Mittleres relatives Äquivalenzeinkommen
1,3
1,2
1,1
1,0 1996
0,9
2002
0,8 40-45
46-51
52-57
58-63
64-69
70-75
Alter in Jahren 1996 und 2002 Quelle: Alterssurvey 1996/2002, Panelstichprobe, n=1.286.
76-81
82-85
Einkommensdynamik beim Übergang in den Ruhestand
151
Aus Abbildung 3 ist zunächst ein insgesamt negativer Zusammenhang zwischen Alter und Einkommensposition in der zweiten Lebenshälfte ersichtlich, der sich im Vergleich der Jahre 1996 und 2002 verstärkt hat. Offenbar hat in diesem Zeitraum eine sukzessive Verlagerung der Einkommensverteilung stattgefunden, in der sich die Relationen zwischen den Einkommen in der Erwerbsphase und der Ruhestandsphase zu Ungunsten Letzterer verändert hat. Dies zeigt sich im steiler gewordenen Altersgradienten. Betrachtet man die Einkommenspositionen und -veränderungen der einzelnen Altersgruppen bzw. -kohorten, fällt die Verbesserung der Einkommenslage der beiden jüngsten Altersgruppen auf. Die 40- bis 51-Jährigen des Jahres 1996 konnten ihre bereits überdurchschnittlichen Einkommenspositionen bis 2002, als sie sich im Alter von 46 bis 57 Jahren befanden, deutlich steigern, während alle älteren Gruppen in ihrem Alternsverlauf Abstiege in der Einkommenshierarchie hinnehmen mussten. Die Einkommensverbesserung der beiden jüngeren Altersgruppen ergibt sich, da sie überwiegend noch erwerbstätig sind, teilweise noch berufliche Aufstiege erleben und von den allgemeinen Gehaltssteigerungen profitieren. In diesem Alter kommt es im Haushaltskontext zudem verstärkt zu Auszug und Berufseinstieg der älteren Kinder und einer Ausweitung der Erwerbsbeteiligung der Frauen, damit auch zu einer Steigerung des Haushaltseinkommens. Sehr ausgeprägt ist der Rückgang der Einkommensposition bei den beiden darauffolgenden Altersgruppen, den 52- bis 63-Jährigen des Jahres 1996, die im Jahr 2002 ein Alter zwischen 58 und 69 Jahren erreicht haben. Dieser relative Rückgang ist im Durchschnitt auch mit absoluten Einkommenseinbußen verbunden, da in dieser Altersphase typischerweise der Übergang in den Ruhestand erfolgt. So haben 67 Prozent der 1996 erwerbstätigen 52- bis 63-Jährigen bei der Wiederholungsbefragung im Jahr 2002 angegeben, nicht mehr hauptberuflich erwerbstätig zu sein. Allerdings befanden sich nur drei Viertel der nicht mehr Erwerbstätigen bereits in der Altersrente, das verbleibende Viertel in einem Zwischenstadium aus Arbeitslosigkeit, Vorruhestand, Erwerbsminderungsrente oder sonstiger Nicht-Erwerbstätigkeit. Interessant ist die Tatsache, dass auch die 64-Jährigen und Älteren des Jahres 1996, die damals größtenteils bereits im Ruhestand waren, in der Folgezeit relative Einkommensabstiege erfahren haben. Dies gilt selbst für die über 70- oder 80-Jährigen. Offensichtlich konnten die Steigerungen der Alterseinkommen nicht mit der allgemeinen Einkommensentwicklung mithalten, wodurch sich die relative Einkommenslage der im Ruhestand Befindlichen verschlechterte. Insgesamt weist die Entwicklung der individuellen Einkommenslagen eine beträchtliche Dynamik auf. In der Altersphase des Übergangs in den Ruhestand kommt es dabei zu deutlichen relativen (und absoluten) Einkommenseinbußen. Die Auswirkungen dieses Übergangsprozesses auf das Einkommen lassen sich mit einer Altersbetrachtung jedoch nur indirekt erfassen, Zusammenhänge mit verschiedenen Pfaden in den Ruhestand bleiben vollständig verborgen. Daher
152
Andreas Motel-Klingebiel, Heribert Engstler
werden nachfolgend die Einkommensveränderungen direkt zur individuellen Entwicklung der Erwerbsbeteiligung bzw. zu den Übergangssequenzen in Beziehung gesetzt.
5.2 Übergangspfade und individuelle Einkommensentwicklung Zur Erfassung unterschiedlicher Sequenzen des Übergangsprozesses vom Erwerbsleben in den Ruhestand wurden – wie oben beschrieben – die Befragten entsprechend ihres Erwerbsstatus 1996 und 2002 gruppiert. In Tabelle 2 sind für die Geburtsjahrgänge 1927-1944 die Einkommensniveaus dieser sieben Gruppen zu beiden Erhebungszeiten – jeweils in Relation zum Durchschnitt der Gesamtbevölkerung – dargestellt. Bei der Erstbefragung waren die Mitglieder dieser Geburtskohorten 52 bis 69 Jahre alt, bei der Wiederholungsbefragung 58 bis 75 Jahre. Neben den Personen, die in dieser Zeit den Übergang in den Ruhestand, in Arbeitslosigkeits- bzw. Vorruhestandsphasen oder aus diesen hinaus in den Altersrenten- oder -pensionsbezug erlebt haben, sind in dieser Kohorte auch genügend Befragte enthalten, die als ältere Arbeitskräfte über den Untersuchungszeitraum erwerbstätig geblieben oder 1996 bereits im Altersrenten- oder -pensionsbezug gewesen sind und so keine Statusänderung erfahren konnten. Sie können als Vergleichsgruppe ohne Übergänge herangezogen werden. Es zeigt sich, dass sowohl die Ausgangsniveaus als auch die Dynamiken der Einkommenslagen deutliche Unterschiede zwischen den Gruppen aufweisen. Das höchste relative Einkommen haben die zu beiden Zeitpunkten Erwerbstätigen (G1, vgl. Tabelle 2). Ihr Äquivalenzeinkommen betrug 1996 mit durchschnittlich 1.743 Euro das 1,51-fache des Bundesdurchschnitts, woran sich bis 2002 kaum etwas geändert hat (1,45). In den alten Bundesländern verschlechterte sich ihre relative Einkommensposition geringfügig, in den neuen Bundesländern verbesserte sie sich leicht. Erhebliche absolute und relative Einkommenseinbußen erlitten hingegen ältere Erwerbstätige, die 2002 arbeitslos, im Vorruhestand oder Frührentner waren (G2, vgl. Tabelle 2). Ihr relatives Einkommen reduzierte sich im Beobachtungszeitraum um mehr als ein Viertel (im Westen stärker als im Osten Deutschlands) und lag 2002 mit 0,92 acht Prozent unter dem Bundesdurchschnitt. Von allen betrachteten Gruppen verfügten diese Personen im Jahr 2002 über die geringsten Äquivalenzeinkommen (1.253 Euro). Es lag zudem unter dem relativen Niveau, das ältere Arbeitslose, im Vorruhestand befindliche Personen und Frührentenbezieher im Jahr 1996 hatten (G4: 0,98, vgl. Tabelle 2). Die negativen finanziellen Auswirkungen des vorzeitigen, oftmals fremdbestimmten Ausstiegs älterer Arbeitskräfte aus dem Erwerbsleben in einem Alter, das noch nicht für eine Altersrente qualifiziert, haben sich offenbar verstärkt: Altersarbeitslosigkeit und Vorruhestand gehen zu Beginn dieses Jahr-
153
Einkommensdynamik beim Übergang in den Ruhestand
zehnts mit einem geringeren relativen Einkommensniveau einher als noch Mitte der 1990er-Jahre. Tabelle 2:
Äquivalenzeinkommen der Geburtskohorten 1927-1944 in den Jahren 1996 und 2002 nach Erwerbsstatus
Erwerbsstatus 1996 und 2002
Deutschland %
1996
2002
West 1996
2002
Ost 1996
2002
Äquivalenzeinkommen (Euro) G1: 1996 erwerbstätig 1 – 2002 erwerbstätig G2: 1996 erwerbstätig 2 – 2002 arbeitslos/V/F G3: 1996 erwerbstätig 3 – 2002 Altersrente G4: 1996 arbeitslos/V/F – 2002 Altersrente G5: 1996 Altersrente – 2002 Altersrente 4 G6: 1996 Sonst. NEWT – 2002 Altersrente G7: Sonst. Kombinationen
(15,3)
1.743
1.971
1.869
1.302
1.625
(6,4)
1.458
1.253
\1.673\ \1.472\ \1.068\
\857\
(16,7)
1.381
1.349
1.480
1.416
1.037
1.116
(10,3)
1.133
1.279
1.240
1.346
941
1.159
(28,7)
1.212
1.337
1.288
1.417
937
1.044
(6,8)
\976\
\1.323\
\973\
\1.328\
/
/
(15,8)
1.124
1.308
1.152
1.358
\931\
\964\
1.302
1.506
1.365
1.585
1.006
1.175
Total (alle Altersgruppen)
2.070
Relatives Einkommensniveau (Bundesdurchschnitt=1,0) G1: 1996 erwerbstätig 1 – 2002 erwerbstätig G2: 1996 erwerbstätig 2 – 2002 arbeitslos/V/F G3: 1996 erwerbstätig 3 – 2002 Altersrente G4: 1996 arbeitslos/V/F – 2002 Altersrente G5: 1996 Altersrente – 2002 Altersrente 4 G6: 1996 Sonst. NEWT – 2002 Altersrente G7: Sonst. Kombinationen Total (alle Altersgruppen)
(15,3)
1,51
1,45
1,61
1,52
1,12
1,20
(6,4)
1,26
0,92
\1,44\
\1,08\
\0,92\
\0,63\
(16,7)
1,19
0,99
1,28
1,04
0,90
0,82
(10,3)
0,98
0,94
1,07
0,99
0,81
0,85
(28,7)
1,05
0,98
1,11
1,04
0,81
0,77
(6,8)
\0,84\
\0,97\
\0,84\
\0,98\
/
/
(15,8)
0,97 1,12
0,96 1,11
1,00 1,18
1,00 1,17
\0,80\ 0,87
\0,71\ 0,86
1) ohne erwerbstätige Renten- oder Pensionsbezieher; 2) arbeitslos, Vorruhestand, Frührente/ -pension (unter 60 J.); 3) Bezug einer Altersrente oder Pension (ab 60 J.); 4) Sonstige NichtErwerbstätigkeit; \ .\ = ungewichtete Fallzahl < 30; / = ungewichtete Fallzahl < 10. Quelle: Alterssurvey 1996/2002, Panelstichprobe, n=633 (G1 – G7).
154
Andreas Motel-Klingebiel, Heribert Engstler
Deutlich geringere Einkommenseinbußen erfuhren Personen, die im Jahr 1996 erwerbstätig waren und zum zweiten Erhebungszeitpunkt im Jahre 2002 eine Altersrente oder Pension (ab 60 J.) bezogen (G3, vgl. Tabelle 2). Diese Personen haben größtenteils einen nahtlosen Übergang von der Berufstätigkeit in den Ruhestand vollzogen. Sie erzielten im Jahr 2002 im Durchschnitt ein relatives Äquivalenzeinkommen, das dem nationalen Einkommensdurchschnitt der Gesamtbevölkerung entsprach. Der Wechsel in die Altersrente war für die Gruppe mit direktem Ruhestandsübergang mit einer Verringerung ihres relativen Einkommensniveaus um 20 Prozentpunkte verbunden. In Ostdeutschland waren die relativen Einbußen dabei geringer (minus 8 Prozentpunkte von 0,90 auf 0,82) als in Westdeutschland (minus 24 Prozentpunkte), nominal stieg das Einkommen dieser Gruppe sogar leicht (von 1.037 auf 1.116 Euro). Hauptgrund für diese Ost-West-Differenz dürften die höheren Rentenanwartschaften der ostdeutschen Frauen aufgrund ihrer gegenüber westdeutschen Frauen dieser Jahrgänge höheren Anzahl an rentenrelevanten Erwerbsjahren und ihrer häufigeren Vollzeitbeschäftigung in der Erwerbsphase sein. Personen, die in der ersten Befragung 1996 wegen Arbeitslosigkeit, Vorruhestand oder Minderung der Erwerbsfähigkeit faktisch bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden waren und bis 2002 offiziell in den Ruhestand gegangen sind (G4), mussten zwischen 1996 und 2002 weitere relative Einbußen ihrer Einkommensposition hinnehmen. Von den vier Gruppen im Ruhestand (G3 bis G6, vgl. Tabelle 2) hatten die aus dieser Überbrückungsphase in die Altersrente Gewechselten mit durchschnittlich 1.279 Euro bzw. 94 Prozent des Bundesdurchschnitts das niedrigste Alterseinkommen. Die frühzeitige Ausgliederung älterer Arbeitskräfte aus dem Erwerbsleben führt demnach nicht nur vorübergehend in der Zeit der Überbrückung bis zur Altersrente zu den vergleichsweise stärksten Einkommenseinbußen. Die Einkommenssituation der Betroffenen verbessert sich vielmehr auch mit dem anschließenden Übergang in die Altersrente zumeist nicht mehr. Personen, die diese Übergangspfade beschreiten (müssen), sind gezwungen im Durchschnitt mit einem langfristig relativ niedrigen Alterseinkommen zu leben. Allerdings ist der Wechsel aus der Altersarbeitslosigkeit oder dem Vorruhestand in den Altersrentenbezug in Ostdeutschland mit einer geringfügigen Verbesserung der relativen Einkommensposition verbunden. Dies begründet sich zum einen aus der höheren durchschnittlichen Anzahl an Erwerbsjahren und den damit verbundenen Rentenanwartschaften in Ostdeutschland. Zum anderen drückt die hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern das dortige Durchschnittseinkommen. In beiden Landesteilen musste die Gruppe derjenigen, die sich bereits 1996 im Ruhestand befanden (G5, vgl. Tabelle 2), trotz eines nominalen Einkommenszuwachses im Durchschnitt eine relative Verschlechterung ihrer Einkommenssituation hinnehmen. In Westdeutschland lag ihr Einkommen im Jahr 2002 noch knapp über dem Bundesdurchschnitt (1,04), in Ostdeutschland allerdings
Einkommensdynamik beim Übergang in den Ruhestand
155
erheblich darunter (0,77). Dort hatten 2002 die zu beiden Erhebungszeitpunkten Altersrente Beziehenden ein geringeres Äquivalenzeinkommen als die jüngeren Ruhestandsgruppen (G3 und G4, vgl. Tabelle 2). Dies kann zum Teil daran liegen, dass in den Haushalten der erst nach 1996 in den Ruhestand Gewechselten andere Haushaltsmitglieder, v.a. der Partner oder die Partnerin, noch erwerbstätig sind. Insgesamt rutschten die mehrjährigen Altersrentnerinnen und Altersrentner einkommensmäßig unter den Bundesdurchschnitt (0,98), während sie 1996 noch darüber lagen (1,05). Die Anzahl der befragten Personen, die aus sonstiger Nicht-Erwerbstätigkeit (1996) in die Altersrente wechselten (G6, vgl. Tabelle 2), erweist sich als zu gering für belastbare Aussagen. Tendenziell geht für sie der Übergang in den Ruhestand mit einer Verbesserung der absoluten und relativen Einkommenshöhe einher – wahrscheinlich, da unter ihnen viele Personen ohne eigenes Erwerbseinkommen (z.B. Hausfrauen) sind, die nun zu Empfängern von Rentenzahlungen wurden. Die Einkommensposition der Personen in sonstigen Statuspositionen (G7) blieb im Vergleich der Jahre 1996 und 2002 nahezu unverändert. Nachfolgend gilt es zu prüfen, ob die bisher berichteten deskriptiven Befunde auch unter Kontrolle anderer Einflüsse Bestand haben. Hierzu wird eine OLSRegression auf die Veränderung der relativen Einkommensposition zwischen 1996 und 2002 (bezogen auf den Bundesdurchschnitt) mit den verschiedenen Erwerbsstatuskombinationen als erklärende Dummy-Variable durchgeführt. Referenzkategorie sind die zu beiden Zeitpunkten Erwerbstätigen. Die Schätzungen erfolgen unter Kontrolle der Designvariablen der Stichprobenziehung (Alter, Geschlecht, Landesteil). Aus mehreren Studien ist bekannt, dass Paare ihren Übergang in den Ruhestand teilweise aufeinander abstimmen (Allmendinger 1990; Coile 2003). Andere Untersuchungen haben auch gezeigt, dass Paare bei längerer Arbeitslosigkeit des Mannes versuchen, durch die Begründung oder Ausweitung der Erwerbstätigkeit der Frau Einkommenseinbußen des Haushalts zu begrenzen oder zu vermeiden (Maier 2000; Rife 1997). Ganz allgemein ist also zu bedenken, dass sich das Äquivalenzeinkommen der Befragten auch durch mögliche Dynamiken der Einkommenssituation anderer Haushaltsmitglieder verändern kann – bei der hier betrachteten Altersgruppe betrifft dies ganz überwiegend die Einkommensentwicklung des Partners oder der Partnerin. Es erscheint daher angebracht, den Einkommenseffekt der verschiedenen Erwerbsstatusentwicklungen der Befragten unter Kontrolle der Entwicklung der Erwerbsbeteiligung des Partners bzw. der Partnerin zu untersuchen. Daher wird in einem zweiten Schritt auch ein OLS-Regressionsmodell geschätzt, bei dem die Erwerbsstatuskombinationen der Partnerin oder des Partners als Prädiktor mit einbezogen werden. Tabelle 3 enthält die Ergebnisse dieser Berechnungen sowohl für Deutschland insgesamt als auch getrennt für die alten und neuen Bundesländer, um die zuvor festgestellten Ost-West-Unterschiede zu überprüfen.
Andreas Motel-Klingebiel, Heribert Engstler
156 Tabelle 3:
Übergangspfade und individuelle Veränderungen relativer Einkommenspositionen; Geburtskohorten 1927-1944 – OLS-Regression (kontrolliert für Stichprobenschichtung)
*p