Georg Cleppien · Ulrike Lerche (Hrsg.) Soziale Arbeit und Medien
Georg Cleppien Ulrike Lerche (Hrsg.)
Soziale Arbeit...
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Georg Cleppien · Ulrike Lerche (Hrsg.) Soziale Arbeit und Medien
Georg Cleppien Ulrike Lerche (Hrsg.)
Soziale Arbeit und Medien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Monika Mülhausen VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinn e der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Germany ISBN 978-3-531-16481-6
Inhalt Georg Cleppien/Ulrike Lerche Einleitung – Soziale Arbeit und Medien
I.
7
Gesellschaftliche Herausforderungen des Aufwachsens Franz Josef Röll Aufwachsen in der (Medien-)Gesellschaft
23
Ulrich Deinet Aneignung öffentlicher und virtueller Räume durch Jugendliche
37
II. Professionelle Herausforderungen der Arbeit mit Neuen Medien Bernward Hoffmann Medienpädagogische Kompetenz in der Sozialen Arbeit
55
Anja Hartung Medien als Orte informellen Lernens?
71
Ulrike Lerche Soziale Arbeit, Bildung und Medien
85
Hans-Joachim Gehrmann Onlineberatung – eine Herausforderung für die Soziale Arbeit
105
III. Sozialpädagogische Herausforderungen Neuer Medien Michael Kunczik/Astrid Zipfel Gewalttätig durch Medien?
119
Georg Cleppien/Detlef Scholz Exzessive Mediennutzung – soziales Problem, Konflikt, Abhängigkeit
129
Nadia Kutscher Digitale Ungleichheit: Soziale Unterschiede in der Mediennutzung
153
6
Inhalt Alexandra Klein Bin ich schon drin oder was? Partizipation und Internet
165
Kati Struckmeyer Handy – Potenziale und Probleme des Jugendmediums Nr. 1
177
Peter Holzwarth Aktive Medienarbeit als Integrationschance
189
IV. Öffentliche und organisatorische Herausforderungen der Nutzung von Medien Ute Straub Wer sich wie ein Bild macht
205
Thomas Ley „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“ Oder: Zur Konstruktion des sozialpädagogischen Falles in computerisierten Arbeitsumgebungen
219
Autorinnen und Autoren
235
Einleitung – Soziale Arbeit und Medien Georg Cleppien/Ulrike Lerche
1
Problemrahmung
Der gegenwärtige Diskurs um Medien ist durch eine thematische Spannung der Herausstellung von Chancen und Risiken der Nutzung von Medien gekennzeichnet. Auf der einen Seite wird auf Lern- und Bildungs- sowie auf Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten hingewiesen, auf der anderen Seite stehen Risiken der Vereinzelung, Suchtpotentiale, problematische Inhalte, Mobbing und Verringerung der Lernleistungen durch alternative Angebote der Zeitgestaltung im Vordergrund. Die Differenz lässt sich darüber hinaus sowohl an Angeboten als auch an Nutzungsweisen festmachen. Einige Angebote werden eher unter einer Risikoperspektive thematisiert, andere Angebote eher mit Blick auf Chancen. Davon zu unterscheiden ist die Betrachtung der Nutzungsweise von Angeboten. Jedes Angebot kann in einer problematischen Weise genutzt werden. Bei einigen Angeboten wird eine problematische Nutzung jedoch bereits in der Angebotsstruktur verortet. Dies gilt nicht nur für Gewaltinhalte (vgl. Kunczik/Zipfel sowie Struckmeyer in diesem Band), sondern auch für die Dauer der Nutzung von Medien (bspw. das Spielen am Computer), wie es im Kontext der Thematik „exzessive Mediennutzung“ diskutiert wird (vgl. Cleppien/Scholz in diesem Band). Als problematisch lässt sich dies jedoch nur vor dem Hintergrund von Alternativen bezeichnen. Diese Alternativen beziehen sich nicht nur auf eine allgemeine Zeitgestaltung, sondern auch auf mögliche Variationen der Mediennutzung. So lässt sich bspw. die Differenz von Nutzungsweisen vor dem Hintergrund sozialer Milieus in den Blick nehmen, um festzustellen, dass sich auch hierbei soziale Ungleichheiten und mangelnde Partizipationschancen aufweisen lassen (vgl. Kutscher sowie Klein in diesem Band). Pädagogische Projekte sind in der Regel darauf ausgerichtet, die Risiken zu verringern und die Nutzung von Chancen zu erhöhen (vgl. Holzwarth sowie Struckmeyer in diesem Band). Im medienpädagogischen Diskurs wird diese Orientierung seit den 1970ern in Rekurs auf die Herausbildung von Medienkompetenz diskutiert. Medien stellen in diesem Zusammenhang eine pädagogische Herausforderung dar, weil sie in unterschiedlicher Weise in Gebrauch genommen werden können. Dies, darauf werden wir einleitend hinweisen, impliziert ein spezifisches Verständnis von Medien (2). Daran anschließend werden wir auf Aspekte der Thematisierung des Zusammenhangs von Medien und Pädagogik eingehen. Da die wesentlichen gegenwärtigen Diskussionen im zweiten Teil mit Blick auf die professionellen Herausforderungen der Sozialen Arbeit beleuchtet werden (vgl. Hoffmann, Hartung sowie Lerche in diesem Band), beschränken wir uns darauf, Hinweise auf verwendete Differenzen zu geben (3). Abschließend stellen wir einen Überblick über die einzelnen Beiträge in diesem Sammelband dar (4).
8
2
Georg Cleppien/Ulrike Lerche
Medien und Gesellschaft
Die moderne Gesellschaft ist mehr als je zuvor durch Medien geprägt. Dieser Gemeinsatz lässt sich in zwei Richtungen verstehen. Erstens impliziert er, dass gesellschaftliche Entwicklung gegenwärtig nicht ohne die mediale Speicherung und selektive Verbreitung von Informationen sowie sozial differenzierten Nutzungsweisen zu verstehen ist (vgl. Faßler 1997: 337). Zweitens lässt sich darauf verweisen, dass mit der technischen Entwicklung und Vernetzung der Medien und durch Medien neue soziale Muster des Zusammenspiels von Kognition, Kommunikation und Wirklichkeitsverständnis entstehen (vgl. Viehoff 2002: 228). Während der Zusammenhang von gesellschaftlicher Entwicklung und Medien mit dem Begriff „Mediengesellschaft“ gefasst wird, wird für den zweiten Bereich der Begriff „Medienkultur“ verwendet. Ohne konkreter auf diese Differenzen einzugehen (vgl. dazu Thomas/Krotz 2008) lässt sich das implizite Medienverständnis herausstellen. Im Kontext der Thematisierung von Mediengesellschaft wird zumeist ein eher instrumentalistisches Verständnis von Medien angesetzt. Medien sind in diesem Sinne Mittel (hier: der Speicherung und Verarbeitung von Informationen), die Rückwirkungen auf Kommunikation haben. So sieht Manfred Faßler (1996) durch die Herstellung und Nutzung von medial strukturierten Zusatzräumen tiefgreifende Veränderungen von Bedeutung-, Sinn- und Orientierungssystemen. Claus J. Tully (1994) verweist diesbezüglich auf eine Veränderung von pädagogischen Tätigkeitsstrukturen sowie des lernortunabhängigen Aufbaus von Lernprozessen und Sozialisation. Medien sind in diesem Sinne als etwas zu verstehen, „das Kommunikation modifiziert, verändert, sie sich ausdifferenzieren lässt und zum Entstehen neuer Interaktions- und Kommunikationsformen führt. Medien sind deshalb … einerseits Inszenierungsmaschinen, insofern sie Kommunikate bereit stellen, andererseits Erlebnisräume, insofern sie genutzt, rezipiert, angeeignet werden“ (Krotz 2003: 23; vgl. Thomas/Krotz 2008).
Diese Bestimmung weist aber auch über ein instrumentelles Verständnis eines gebrauchten Mediums hinaus, weil die Nutzung von Medien in den Alltag eingelagert ist (vgl. Röser/Thomas/Peil 2010a). Damit wird die Bezeichnung von medial strukturierten Zusatzräumen problematisch. Wird davon ausgegangen, dass Medienhandeln immer auch soziales Handeln ist, weil der Gebrauch von Medien eine sinnverstehende Auseinandersetzung mit Bedeutungsgehalten, eigenen Erfahrungen, Werten und Meinungen darstellt (vgl. Theunert/Schorb 2004), so lässt sich in Anschluss an die Medienkulturforschung formulieren, dass soziales Handeln immer auch Teil einer medial strukturierten sozialen Praxis, also im gewissen Sinn von Medienhandeln ist (vgl. Thomas/Krotz 2008). Die bisherigen Überlegungen beruhen auf zwei Differenzen. Erstens haben wir explizit die Unterscheidung von Gesellschaft und Kultur eingeführt. Das eher strukturorientierte Gesellschaftsverständnis bezieht sich besonders auf gesellschaftliche Entwicklung, wohingegen das Verständnis von Kultur mit Blick auf Handlungs- und Bedeutungsmuster formuliert ist. Eine zweite eher implizite Unterscheidung, die für das Folgende relevant ist, bezieht sich auf den auffälligen Alltag. Mit Blick auf den Zusammenhang von Medien und Alltag bspw. lässt sich diese Differenz einerseits mit Blick auf Medien im Alltag, andererseits auf Alltag in den Medien lesen (vgl. Röser/Thomas/Peil 2010b). Medien machen Alltag auffällig, indem sie diesen selektiv darstellen. Die selektive Auffälligkeit ist Ansatz-
Einleitung – Soziale Arbeit und Medien
9
punkt einer spezifisch strukturierten Aufmerksamkeit für bestimmte Aspekte des Alltags, die sich in Erwartungsstrukturen manifestiert.1 Mit anderen Worten: das Auffällige strukturiert die Ausrichtung von Aufmerksamkeit und verändert damit die Wahrnehmung des Alltags. Die Anschlussfähigkeit solcher dargestellten Alltäglichkeit an Alltagserfahrungen resultiert aus der kommunikativen Einbindung der Rezeption in alltägliche, soziale Netzwerke, wie Angela Keppler (1995) nachgezeichnet hat. Sie wird durch den Metadiskurs der Medien über Medieninhalte gefördert. Letztendlich ist dies Rückwirkung aber nicht nur für die alltägliche Kommunikation sondern auch für auf den Alltag der Medien(-produktion), als ein dritter und seit Beginn der Medienforschung im Fokus stehender Kontext des Zusammenhangs von Medien und Alltag, und für den Alltag von Wissenschaftlern und von anderen Expertengruppen wie bspw. denjenigen der Sozialen Arbeit zu konstatieren. Nimmt man diese angeführten Unterscheidungen in den Blick lassen sich grob zwei Perspektiven des Zusammenhangs von Medien und Sozialer Arbeit formulieren. Im ersten Falle werden Medien als Umwelt, als Mittel der sozialen Interaktion und als Interpretationshilfen verstanden (vgl. Theunert 2008: 301). Soziale Arbeit und Medien sind zusammenzudenken, weil Medien zentraler Bestandteil der Gesellschaft bzw. der Kommunikation sind. Dennoch lässt sich hierbei von einer suggerierten Innen-Außen-Differenzierung ausgehen. Man könnte es vereinfacht auch so ausdrücken: Es gibt Soziale Arbeit mit und ohne Medien. Dies impliziert bspw. dass Beratungsangebote nun auch Online durchgeführt (vgl. Gehrmann in diesem Band) oder IT-basierte Verwaltungsprogramme eingeführt werden (vgl. Ley in diesem Band). Veränderte Mediennutzung verändert auch die Arbeit der Professionellen. Gleichzeitig sollte aber im Blick gehalten werden, dass derartige Analysen lediglich auf eine veränderte Nutzung oder auch die Nutzung anderer Medien abzielen. Dies lässt sich bei der Beratungsarbeit an der Konstruktion von Orten, bei Verwaltungen an der Wichtigkeit von Akten ablesen. Besonders deutlich wird dies auch im Kontext von Sozialer Arbeit in der Öffentlichkeit (vgl. Straub in diesem Band). Die Notwendigkeit einer aktiven Öffentlichkeitsarbeit wird erst vor dem Hintergrund einer ständigen Präsenz von sozialarbeitsspezifischen Thematiken in der Öffentlichkeit relevant. Die dargestellte Perspektive der Medienkulturforschung unterscheidet sich dem gegenüber, weil davon ausgegangen wird, dass soziales Handeln in einer medial strukturierten Praxis vollzogen wird. Damit rückt der Zusammenhang medial inszenierter Alltäglichkeit in Rückwirkung auf den Alltag auch von Expertengruppen in den Blick. Für die Soziale Arbeit ist diese Perspektive besonders durch die expliziten Darstellungen sozialarbeiterischen Alltags in TV-Serien wie „Raus aus den Schulden“ oder „Die Super-Nanny“ relevant. Erste Forschungen zu diesen Formaten sind jedoch im Kontext der oben beschriebenen ersten Perspektive entwickelt (vgl. zentral Grimm 2006) und nehmen die daraus resultierenden Problematiken für den Alltag der praktischen Sozialen Arbeit nicht in den Blick. Darüber hinaus sind auch Effekte anderer Formate (bspw. von Talkshows, Lifestyle-Shows) auf die Soziale Arbeit nicht zu unterschätzen. Hier stehen verschiedene Fragen im Zentrum: Wie das Bild von professionellen Sozialarbeitern und ihrer 1
Im Kontext der Medienforschung wird dies diskutiert als „Kultivierungshypothese“. Hierbei wird von einem nachhaltigen Einfluss von medial vermittelten Inhalten auf das Weltbild der Rezipienten ausgegangen (vgl. Wolff/Lehmann 2008). Dieser Einfluss ist jedoch nicht nur vom Inhalt, sondern auch von der kommunikativen Einbindung im sozialen Netzwerk der Rezipienten abhängig.
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Georg Cleppien/Ulrike Lerche
Praxis, aber auch von Adressaten der Sozialen Arbeit in der Öffentlichkeit medial beeinflusst ist? Welche Rückwirkungen hat dies auf die konkrete Arbeit bzw. Umstrukturierungsprogramme im Bereich der Sozialen Arbeit? Hinweise für diesen Zusammenhang finden sich bereits in ethnographischen Studien aus den frühen 1980ern (vgl. bspw. Wolff 1983). Im Folgenden steht nicht diese zweite, sondern die erste Perspektive auf Medien und Medienhandeln im Vordergrund, was nicht bedeutet, dass beide Thematisierungsweisen immer deutlich zu trennen sind. Aus diesem Grunde haben wir auch auf die Diskussion von Sozialer Arbeit in spezifischen medialen Formaten verzichtet. Dies müsste in einem größeren Kontext thematisiert werden. Mit Blick auf diese Primärorientierung an Medien als Umwelt, Interpretationshilfen und Mittel der sozialen Interaktion lässt sich das Ziel dieses Bandes darin sehen, eine Reihe unterschiedlicher Thematisierungsweisen des Zusammenhangs von Medien und Sozialer Arbeit in einem Überblick darzustellen. Jeder einzelne Ansatz stellt einen spezifischen Zugang zum je konkreten Thema dar, welches sich letztendlich in das umfassende Gewebe der sozialpädagogischen Diskussion einfügen lässt. Der Zuschnitt auf Heranwachsende ist einerseits Effekt der Reduktion von Komplexität aber auch des Versuches, gemeinsame Thematisierungen von Medienpädagogik und Sozialpädagogik aufzuzeigen. Andererseits lässt sich diese Ausrichtung aber auch dadurch begründen, dass sich für die „Generation @“ und die begleitenden Pädagogen die Problematiken der Mediengesellschaft in spezifischer Weise stellen. Mit einer so implizierten pädagogischen Perspektive werden wiederum spezifische Thematisierungen relevant (vgl. Lerche in diesem Band). An dieser Stelle werden Medien als Bedingung und als Problemfeld für sozialpädagogisches Arbeiten gelesen. Nicht aus dem Blick verloren werden darf aber, dass Mediennutzung generationsspezifisch gedeutet werden muss (vgl. Schäffer 2003). Dies hat u.a. den Effekt, dass im Zusammentreffen von Heranwachsenden und Pädagogen zwei unterschiedliche Nutzungsweisen in den Blick geraten. Auch diese Differenzierung haben wir nicht eigens herausgestellt. Sie wird implizit aber mitthematisiert. Bevor wir jedoch einen Überblick über den Überblick geben, werden wir eine innere Systematik der gegenwärtigen Diskussion von Pädagogik und Medien andeuten. Im Zentrum steht die Frage, was es bedeutet, Medien als Herausforderungen zu deuten.
3
Pädagogik und Medien
In den einschlägigen Einführungen in dem Zusammenhang von Pädagogik und Medien wird die pädagogische Interpretation von Medien in drei Phasen eingeteilt: (1) Medien als Verhinderung pädagogischer Ziele, (2) Medien als Herausforderung pädagogischer Praxis und (3) Medien als mögliche Quelle von Lern- und Bildungsprozessen (vgl. Vollbrecht 2001, Nolda 2002). Diese unterschiedlichen Thematisierungen werden wir an drei Beispielen darstellen. Herausstellen werden wir dabei vier Differenzen: 1. 2.
die Gegenüberstellung von kommerziellen und pädagogischen Angeboten, die Gegenüberstellung von kritischen und unkritischen Medienkonsumenten
Einleitung – Soziale Arbeit und Medien 3. 4.
11
die Differenz von medialer Innen- und Außenwelt sowie die Differenz von nützlichen und unnütz Gelerntem.
Nur kurz anzureißen ist die Frage, wie Medien die Erreichung von pädagogischen Zielen verhindern. Diese lässt sich besonders in bewahrpädagogischen und kritischen Interpretationen nachzeichnen. Ausgangspunkt ist eine Entgegensetzung von medialer und pädagogischer Beeinflussung, die letztendlich auf zwei Bedingungen beruht: einerseits erscheint eine Separierung von Orten des Medienkonsums möglich und andererseits wird von einem „passiven“ Medienkonsumenten ausgegangen. Im Zuge der weiteren Verbreitung von Medien (dies lässt sich besonders gut an dem Massenmedium Fernsehen nachzeichnen) weicht diese absolute Entgegensetzung auf und verschiebt sich in eine Differenzierung von medialen Angeboten. Nicht jedes Angebot hat eine vergleichbar negative Wirkung. Parallel entwickelt sich ein Bewusstsein von den Aktivitäten der Medienkonsumenten (vgl. am Beispiel der Medienwirkungsforschung Grimm 2008) und damit auch der Möglichkeiten einer pädagogischen Zielkonstruktion, die Dieter Baacke (1997) in den 1970ern auf den Begriff „Medienkompetenz“ bringt. Als beispielhaft für die Diskussion können die Auseinandersetzungen auf dem 2. Jugendhilfetag in Köln 1966 verstanden werden. Dort wurde konstatiert, dass die Jugendlichen nicht einseitig vor den schädlichen Einflüssen der Medien zu bewahren sind, sondern dass es darum geht, „der Jugend einmal echte Hilfen zu vermitteln in der Auseinandersetzung mit den Stoffen der Massenmedien und zum anderen deren positiven Gehalte für die Persönlichkeitsgestaltung fruchtbar zu machen“ (AGJJ 1966: 121). Medien als Herausforderung für die Pädagogik zu sehen ist Effekt der Einsicht, dass gesellschaftlicher Alltag und Jugendkultur nicht ohne den Einfluss von (Massen-)Medien zu verstehen sind und Pädagogen sich mit diesen beschäftigen müssen, wenn sie nicht den Bezug zu den Lebensinhalten der Jugend verlieren wollen. Diese Wendung zum Alltag impliziert eine Wendung zur Mediennutzung im Alltag. Dabei werden einige Differenzierungen eingeführt, auf die kurz am Beispiel der Diskussion in Köln hingewiesen werden soll. Zentral sind zwei Aspekte: 1.
2.
Die Gegenüberstellung von pädagogischen und kommerziellen Angeboten: In kritischer Abwendung von „kommerziellen“ Interessen, „jugendangemessener“ Programmgestaltung und dem „Sog der Sensation“ diskutieren die Pädagogen Möglichkeiten einerseits jugendschützender Begrenzung von kommerziellen Angeboten und andererseits die Möglichkeit pädagogische Angebote an die Jugend zu bringen. Die Differenz wird in der Vereinzelung pädagogischer Initiativen gegenüber einer durch ökonomische Überlegungen breit aufgestellten Unterhaltungsindustrie gesehen. Ziel sowohl der pädagogisch ausgerichteten Angebote als auch des Jugendschutzes ist die Kritikfähigkeit der Jugend. Diese Fähigkeit soll verhindern, dass Medien unvermittelt auf die jugendlichen Konsumenten einwirken. Die Gegenüberstellung des kritischen und des unkritischen Medienkonsumenten: Die Zielkonstruktion, auf die sich die pädagogische Diskussion zuspitzt, wird konkret mit „Kritikfähigkeit“ bestimmt. Dies bedeutet eine Verfeinerung des „Geschmacks am Filmstoff“, eine Immunisierung gegenüber dem „Sog der Sensation“ und das Aufzeigen medialer Manipulationsmöglichkeiten, um so einen positiven Einfluss auf die Weltbildgestaltung und Lebensorientierung der jüngeren Generation zu erreichen (vgl.
12
Georg Cleppien/Ulrike Lerche AGJJ 1966: 121ff). Im Zentrum stehen die pädagogischen Einflussmöglichkeiten, die auf den kritischen, aktiven Medienkonsumenten gerichtet sind. Wichtig ist hierbei der Hinweis darauf, dass „es Aufgabe aller gesellschaftstragenden Kräfte [ist], den Erziehungsraum und die Bildungsmöglichkeiten abzusichern“ (ebd., 134). Diesbezüglich wird auf die Notwendigkeit einer öffentlichen Sensibilisierung für diese Aufgabe hingewiesen.
Festhalten lässt sich, dass mit differenziertem Blick positive und negative Effekte von Massenmedien diskutiert wurde. Ziel pädagogisch strukturierter Bildungshilfen stellt die Kritikfähigkeit dar, die im Filmgespräch (Analyse) und durch Einblicke in Produktionsverfahren gewonnen werden kann. Dabei gilt es zu bedenken: „Die gesamten Bemühungen zum Thema Jugend und Fernsehen sollten nicht einseitig unter dem Gesichtspunkt einer momentanen Wirkung gesehen und bewertet werden; viel entscheidender ist die Stabilisierung von Verhaltensweisen, die in der Zukunft lebenswichtige Bedeutung erlangen“ (ebd.: 126).
In Anschluss an diesen kurzen Abriss einer kritischen Debatte lässt sich die zentrale Problematik herausstellen: Es geht um die Aneignung von Verhaltensweisen (im positiven wie im problematisierten Sinn), die den zukünftigen Umgang der Jugend mit Massenmedien kennzeichnen. Für diese Überlegungen ist nicht der Versuch die Medienangebote zu verändern entscheidend, vielmehr steht die Frage nach dem möglichen Umgang der Nutzer mit Medien, also das Verhältnis von Mediennutzern und Medien im Zentrum. Impliziert ist dabei, dass die Konsumenten von Medien sich aktiv mit Medien auseinandersetzen. Rückblickend ist die pädagogische Diskussion um 1970 durch eine doppelte Orientierung gekennzeichnet: einerseits wurde ein Ausbau der Forschungslage zu unterschiedlichen Themen angestrebt, um auf deren Basis fundiert zu diskutieren, andererseits stand eine kulturkritische Auseinandersetzung mit der sogenannten Kulturindustrie im Zentrum (vgl. Sander/von Groß/Hugger 2008). Gleichzeitig lässt sich in den AGs des 2. Deutschen Jugendhilfetages eine Ausrichtung auf ein als „höher“ bezeichnetes Bildungsziel festhalten. Ziel ist die Vermittlung von Kritikfähigkeit, eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit und eine Verfeinerung des Geschmacks sowie eine „permanente Selbstkontrolle“ (AGJJ 1966: 137) von Gesellschaft und Jugend als pädagogische Aufgabe. Grundlegend für die Thematisierung einer Konkurrenz von pädagogischen und massenmedial-kommerziellen Angeboten ist die Fraglichkeit des Umgangs mit den Medien und deren Gehalte. Diese beziehen sich v.a. auf die mögliche Aneignung problematischer Verhaltensweisen. Pädagogisch unbegleitete Auseinandersetzung mit Medien steht in Gefahr den Zuschauer zu passiven, manipulierten Konsumenten zu machen. Ziel pädagogischer Unterstützung ist die Herausstellung von Kritikfähigkeit in der Auseinandersetzung mit Medien. Kritikfähigkeit setzt demnach den widerständigen, aktiv-verarbeitenden Rezipienten voraus, der sich kompetent gegenüber dem massenmedialen Angebot verhält. In diesem Zusammenhang stehen Fähigkeiten wie das Auswählen und Nutzen von Medienangeboten (Geschmack), das Verstehen und Bewerten von Mediengestaltungen (Verarbeitung) und das Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion (Kritik) im Zentrum. Die Auseinandersetzung mit Medien wird hier als ein Moment einer allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung zu
Einleitung – Soziale Arbeit und Medien
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einem mündigen Bürger verstanden. Letzteres ist besonders mit Blick auf das Verhältnis von Innen und Außen der Medien bedeutsam und hat Effekte für die gegenwärtige Diskussion. 3.
Die Gegenüberstellung von medialer Innen- und Außenwelt: Prinzipiell ist die pädagogische Diskussion am außermedialen Lernen von Kompetenzen orientiert. „Medienkompetenz“ als ein kompetenter, kritischer Umgang mit Medien verweist auf eine allgemeine, an Kompetenzen orientierte Bildung (vgl. Baacke 1973, Hoffmann in diesem Band). Impliziert werden kritische Vorbehalte gegenüber der Mediensozialisation. Dies wird so gedeutet, dass die Grundlagen für Medienkompetenz „jeweils außerhalb oder vor der Orientierung auf Medien gelegt werden [müssen], und spezielle Fähigkeiten übersteigen im einzelnen weit ihre gemein implizierte Dimension von Medienkompetenz“ (Kübler 1999: 37f). Davon zu unterscheiden ist die Diskussion im Kontext der Auseinandersetzungen mit Medien als Bildungsorte (vgl. u.a. Marotzki/Meister/Sander 2000, auch Hartung sowie Lerche in diesem Band). Hier wird ein Lernen durch Medien reflektiert. Bei dieser Diskussion geht es um die Frage, welche Möglichkeiten Medien für Bildung bereitstellen. Entscheidend bleibt in der Kopplung beider Ansätze die Frage, ob das, was als Medienkompetenz bezeichnet wird, im Medium als Bildungsort gelernt werden kann sowie die Frage, ob Medienkompetenz pädagogisch vermittelt mit oder sogar durch Medien möglich ist.
Die hier angedeuteten Gegenüberstellungen lassen sich auf unterschiedliche Weise auch in den Beiträgen dieses Bandes nachzeichnen. Medien werden derzeit aus pädagogischer Sicht als mögliche Quelle von Lern- und Bildungsprozessen gedeutet (vgl. Hartung sowie Lerche in diesem Band). Dies gilt auch dann wenn soziale Ungleichheit und die Verhinderung von Partizipation im Vordergrund stehen (vgl. Kutscher sowie Klein in diesem Band). Einerseits lässt sich dies auf den Umstand zurückführen, dass Medien wie nie zuvor zentraler Bestandteil der Jugendkultur sind, andererseits aber auch aus pädagogischer Perspektive vermehrt nach den Bedingungen von außerschulischer Kompetenzentwicklung gesucht wird, um ganzheitliche Bildungsprogramme zu entwerfen. Damit eröffnet sich jedoch die Frage, wie das durch Medien Gelernte zu bewerten ist. Eine Kombination der von uns differenzierten Aspekte mit Blick auf Orientierung in Medienwelten und diesbezügliche pädagogische Hilfen lässt sich bspw. in der Diskussion in „Lost? Orientierung in Medienwelten“ (Pöttinger/Ganguin 2008) nachzeichnen. Beispielhaft können die Erörterungen von von Gottberg (2008) herausgestellt werden. Dieser bezieht sich auf die Orientierungsfunktion von TV-Formaten wie „DSDS“, die gerade durch keine klare Richtschnur der Orientierung gekennzeichnet sind. Für den Autor bieten sie aber Settings, die den Zuschauer dazu zwingen, „in der Auseinandersetzung mit der Sendung und in späteren Reflexionen im sozialen Umfeld, wozu auch die Metareflexion anderer Medien über entsprechende Sendung gehört, eine eigene Werthaltung zu entwickeln. Als Jugendschützer und Pädagogen sind wir Teil dieses Reflexionsprozesses“ (ebd.: 23). Betrachtet man dieses Argument genauer, lassen sich drei Aspekte diskutieren: erstens werden Werthaltungen als entscheidend für Orientierungen angesehen, zweitens wird der mediale Metarekurs als „Reflexion“ gekennzeichnet und drittens wird suggeriert, dass in solchen TV-Formaten von der Jury keine einheitliche Werthaltung vertreten wird. Selbst
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Georg Cleppien/Ulrike Lerche
wenn man die beiden ersten Voraussetzungen hinnimmt, so lässt sich letztere Annahme durchaus anzweifeln. Das Honorieren von Leistungen bei gleichzeitig häufig „destruktiver“ Kritik zum „Anspornen“ lässt sich durchaus als einheitliche Werthaltung beschreiben. Zusammenfassend ließe sich diese mit der Paraphrase beschreiben: „Über Geschmack lässt sich streiten, aber hier da musst Du durch, wenn Du berühmt sein willst“. Gleichzeitig wird suggeriert, dass jeder ein Superstar werden kann. Man könnte sagen, dass diese TVFormate unterhalten wollen (kommerzielle Angebote) und dabei ein „Ideal“ von Leistung und Konkurrenz (in der Unterhaltungsbranche) sowie personale und persönliche Konsequenzen und Effekte dieses Systems vermitteln. Die Diskussion über die Fraglichkeit dieser vermittelten Werthaltungen stellt sich jedoch erst mit Blick auf mögliches Lernen von Falschem bzw. Unnützem. Was dieses konkret ist, bleibt der Bewertung des jeweiligen Formates überlassen und ist dabei abhängig von einer Bestimmung des Richtigen/Nützlichem. Zentral für derartige Überlegungen ist, dass dieser Möglichkeit eine Deutung von Medien als pädagogische Herausforderung zugrunde liegt. Insofern wird an dieser Stelle ein kurzer Blick auf die Struktur des Problems gelenkt, dass Michael Winkler Ende der 1980er hat auf den Begriff „sozialpädagogisches Problem“ gebracht hat 4.
Das Lernen von Nützlichem und Unnützem: Michael Winkler (1988) sieht in den historischen Gestalten des sozialpädagogischen Problems ein Signum gegenwärtiger Gesellschaft. Die Kernfrage dabei lautet, wie unter modernen Bedingungen die Aneignung bestimmter kultureller Gehalte fehlgeht (vgl. zur Bildung Cleppien 2008). Dies heißt nicht, dass gar nichts angeeignet wird, sondern die Frage zielt auf das Was der Aneignung. M.a.W. lautet die Frage, warum dies und nicht anderes angeeignet wird. Die Sozialpädagogik, so Winkler (1988: 117ff), hat diesbezüglich drei mögliche Antworten ausgeprägt, die als Typen des sozialpädagogischen Problems bestimmt werden können (vgl. auch Uhlendorff 2010: 576f): „Bei dem ersten Typ fällt der sozialpädagogische Blick auf die sozialen Folgen gesellschaftlicher Umbrüche und Modernisierungsprozesse. Nach dieser Sichtweise partizipieren bestimmte soziale Gruppen an den gesellschaftlichen Veränderungen, andere sind von den Innovationen ausgeschlossen. Das Sozialpädagogische Problem wird darin gesehen, dass letztere aufgrund sozialer und struktureller Bedingungen sich bestimmte Bildungsgüter (und ökonomisches Kapital) nicht aneignen können“ (ebd.).
Während im ersten Typus die sozialen Bedingungen Aneignung problematisch werden lassen, ist der zweite Typ fehlgehender Aneignung durch die Überforderung der Familie bei den ihr gestellten pädagogischen Aufgaben der Vermittlung von kulturellen Gehalten und Normalitätserwartungen gekennzeichnet. Diese Überforderung lässt sich ebenfalls auf Modernisierungsprozesse zurückführen. Im Gegensatz zur Problematik der „sozialen Frage“ stehen hier aber Prozesse der Enttraditionalisierung und Innovation im Vordergrund. Dies ist besonders auffällig in der generationsspezifischen Gebrauchsweise von Medien (vgl. Schäffer 2003). Auch die Erwachsenen müssen sich neue Bedingungen aneignen und sind damit vor vergleichbare Probleme wie die Heranwachsenden gestellt. Darüber hinaus resultiert der dritte Typus des sozialpädagogischen Problems daraus, dass die jüngere Generation mit der Aneignung alleine gelassen wird und sich daraus ein Orientierungsproblem stellt. Was letztlich auch Hinter-
Einleitung – Soziale Arbeit und Medien
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grund der Frage „Lost? Orientierung in Medienwelten“ (Pöttinger/Ganguin 2008) ist. Insgesamt wird bei dieser Problemkonstellation von einem „Ausfall“ der traditionellen Erziehungsmächte und einem Misstrauen in pädagogisch nicht begleitete Lernprozesse ausgegangen. Zurückzuführen ist diese Diskussion auf die in modernen Gesellschaften ungeklärte Frage, woran es sich zu orientieren gilt. Das Problem entsteht, weil die nachwachsende Generation dies gleichzeitig für sich zu klären hat, ihr aber niemand helfen kann. Damit sind die folgenden Beiträge gerahmt. In den unterschiedlichen Diskussionen sind die angedeuteten Differenzen auf unterschiedliche Weise eingelagert. Um dies zu konkretisieren, nehmen wir abschließend kurz die Diskussion um „exzessive Mediennutzung“ in den Blick – was sicherlich in vieler Hinsicht ein extremes Beispiel ist. Diese Diskussion ist durch differente Positionierungen gekennzeichnet, die wir vor dem Hintergrund der vier Differenzierungen von Angeboten, Konsumentenbilder, Weltbezügen und Lerninhalten kursorisch umreißen (vgl. hierzu auch Wenz 2008, Große-Loheide 2008, Walber 2008 sowie Hoffmann und Cleppien/Scholz in diesem Band):
Aus einer Perspektive wird die kommerzielle Ausrichtung des Angebots an OnlineSpielen als problematisch herausgestellt. Versuche, das „Computer-Spielen“ als Teil der Jugendkultur zu deuten, werden aus dieser Sicht als wirtschaftliche Implementierungsstrategie kritisiert und diskreditiert. Die entgegengesetzte Position hingegen ist bemüht die Faszination des Spielens zu verstehen und mit pädagogischen Angeboten die Auseinandersetzung über das Spielen zu fördern. Mit Blick auf die Gegenüberstellung von kritischen und unkritischen Medienkonsumenten wird besonders im Zuge der Herausstellung von Suchtproblematiken einerseits der Generalverdacht eines unkritischen Suchtverhaltens gegen alle Spieler vorgebracht bzw. andererseits – worauf die Auseinandersetzung mit dieser Thematik in Spielerforen verweist – diese Problematik aufgrund der Voraussetzung kritischer Spieler als Randphänomen betrachtet. Auch angesichts der Differenz von medialem Innen und Außen werden unterschiedliche Positionen vertreten. So wird auf der einen Seite hervorgehoben, dass es zu einem vollständigen Rückzug aus der medialen Außenwelt des Spiels kommen kann, was v.a. auf den „Sog des Mediums“ zurückgeführt wird. Vorausgesetzt wird eine Differenz von medialer Innen- und Außenwelt. Auf der anderen Seite stehen Versuche einer integrativen Sichtweise. Diese gehen von einer Einlagerung des Spielens in den Alltag und die Lebenswelt aus. Betrachtet man den pädagogischen Diskurs ums „Online-Spielen“ so lassen sich zwei Perspektiven bezüglich der angeeigneten Kompetenzen herausstellen: einerseits wird anerkannt, dass Computerspieler über vielfältige Kompetenzen verfügen, andererseits erscheinen diese Kompetenzen angesichts realer Herausforderungen als fraglich. Mit Blick auf die Beschreibung als „sozialpädagogisches Problem“ lässt sich diese Gegenüberstellung dahingehend reinterpretieren, dass gefragt wird, angesichts welcher Normalitätskonstruktionen diese Kompetenzen bewertet werden und wie die Genese der Herausbildung diese Kompetenzen unter Bezugnahme auf differente Fremderwartungen vollzogen wird.
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Dieser kurze Abriss verdeutlicht, wie die von uns herausgestellten Differenzen in einer konkreten Diskussion eingelagert sind. Insgesamt lässt sich – in Rückgriff auf die Diskussion um Medien und Alltag – die gegenwärtige Auseinandersetzung in Medienwissenschaft, Pädagogik und Sozialer Arbeit vor dem Hintergrund einer Veralltäglichung von Mediennutzung lesen. Die aus der Entdifferenzierung von medialer Sonderwelt und „realer“ Welt entstehenden Effekte für das Aufwachsen, Leben und Arbeiten in der modernen Gesellschaft stehen im Folgenden mit Blick auf das Arbeitsfeld „Soziale Arbeit“ im Zentrum.
4
Zu den Beiträgen
Dieses Buch will einen Beitrag zur systematischen Auseinandersetzung mit Medien im Kontext Sozialer Arbeit leisten. Das Gemeinsame der Beiträge ist, dass heterogene Aspekte der Thematisierung von Medien mit Blick auf Konsequenzen für den Bereich der Sozialen Arbeit thematisiert werden. Letztere wird in diesem Kontext als ein organisiertes Praxisfeld in der modernen Gesellschaft verstanden. Strukturell können dabei gesellschaftliche Bedingungen, von organisatorischen und professionellen Bezügen unterschieden werden. Darüber hinaus bezieht sich Soziale Arbeit auf spezifische Adressatengruppen in spezifischen Lebenslagen. Soziale Arbeit lässt sich so auf der Ebene einer Binnenlogik einerseits im Sinne eines sozialpädagogischen Konfliktes und bezüglich seiner organisatorischen Strukturen andererseits verorten (vgl. Hamburger 2003: 32f). Nimmt man das Verhältnis von Medien und Sozialer Arbeit in den Blick, lassen sich die durch Medien gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen auf mindestens vier Ebenen als Herausforderungen interpretieren: (1) (2) (3) (4)
auf gesellschaftlicher Ebene, auf professioneller Ebene, auf Ebene der Adressaten und auf organisatorischer Ebene.
Diese vier Ebenen stehen im Folgenden im Zentrum der Betrachtung. Die Inblicknahme von unterschiedlichen Aspekten auf den jeweiligen Ebenen ist gleichsam das Spezifische der einzelnen Beiträge. Im ersten Teil umreißen Franz Josef Röll und Ulrich Deinet gewandelte Bedingungen des Aufwachsens in der Mediengesellschaft. Röll verortet Medien neben Familie, Schule, Peers und beruflichen Institutionen als zentrale Sozialisationsinstanzen und entfaltet ein detailliertes Bild der Herausforderungen, denen sich Heranwachsende im Spannungsfeld von Umwelt und Medien gegenübersehen. Deinet wirft demgegenüber einen Blick auf die räumlichen Strukturen des Aufwachsens. In Anschluss an ein dynamisches Raumverständnis zeichnet er das Geflecht von realen physikalischen und virtuellen Räumen nach. Jugendliche stehen dabei nicht nur vor der Aufgabe, sich die veränderten Bedingungen anzueignen, sondern auch reale und virtuelle Räume zu verknüpfen. Neben der raumkonsti-
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tuierenden Funktion kommt auch der Brückenfunktion von Medien in verinselten Sozialräumen eine zentralere Bedeutung zu. Nimmt man diese veränderten Bedingungen in den Blick, lassen sich unterschiedliche Herausforderungen für professionelle Soziale Arbeit nachzeichnen, die im zweiten Teil des Buches im Vordergrund stehen. Die Beiträge in diesem Teil haben eher systematische Funktion. Es werden in unterschiedlicher Schwerpunktlegung gegenwärtige Debatten nachgezeichnet und vor diesem Hintergrund auf professionelle Herausforderungen verwiesen. Im ersten Beitrag umreißt Bernward Hoffmann die Debatte um „Medienkompetenz“ und zeichnet systematische Beziehungen zum Feld der Sozialen Arbeit nach. Anja Hartung rekonstruiert den gegenwärtigen Diskurs in seiner Zuspitzung auf „informelle Lernorte“, wobei besonders generationenspezifische Mediennutzungsweisen in den Vordergrund treten. An die Bildungsdebatte schließt Ulrike Lerche an. Ihr Ausgangspunkt ist die Thematisierung von Bildung in der Sozialen Arbeit. Von hier aus sucht sie eine systematische Ordnung von medienpädagogischen Ansätzen und Programmen, die für die Arbeit im Bereich der Sozialen Arbeit relevant sind. Von diesen Herangehensweisen unterscheidet sich der Beitrag von Hans-Joachim Gehrmann. Nicht die in Konzepten wie Medienkompetenz oder informelle Bildung verborgenen Herausforderungen bzw. die Verortung von medienpädagogischen Programmen in diesem Kontext stehen im Vordergrund. Vielmehr legt Gehrmann den Fokus auf die konkrete Arbeit mit Medien in der Interaktion des Sozialarbeiters mit den Klienten. Dabei stellt er sowohl die Möglichkeiten von Onlineberatung als auch die sich daraus ergebenen Anforderungen an die Sozialarbeiter heraus. Vergleichbar mit der Etablierung und dem Ausbau von Onlineberatung ist die Einführung von computergestützten Diagnose- und Verwaltungssystemen oder die Verwendung von Medien zur Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen praktischer Sozialarbeit. Auch hierbei müssen sich Sozialarbeiter auf veränderte Bedingungen des Arbeitens einstellen und medienkompetent agieren, um die medialen Möglichkeiten zu nutzen. Da diese Diskussionen jedoch auf das Verhältnis der Professionellen zur Organisation oder der Organisation zur Umwelt bezogen sind, werden die diesbezüglichen Analysen angesichts organisatorischer Herausforderungen thematisiert (vgl. Straub sowie Ley in diesem Band). In den Beiträgen des dritten Teils wird jeweils ein konkretes Problemfeld in den Blick genommen. Michael Kunczik und Astrid Zipfel geben einen systematischen Überblick über Forschungen zum Thema medialer Gewalt. Im Zentrum ihrer kritischen Auseinandersetzung stehen Erklärungsansätze zur Wirkung von Gewalt in Medien sowie zur Effektivität von Interventionsmaßnahmen. Auch im zweiten Beitrag wird sich mit einem „klassischen“ sozialen Problem beschäftigt. Georg Cleppien und Detlef Scholz betrachten den Diskurs zur sogenannten „Onlinespielsucht“. Anders jedoch als im Diskurs üblich nehmen sie „exzessive Mediennutzung“ in Bezug auf Heranwachsende als familiären Konflikt in den Blick. Damit erweitern sie die Perspektive über die bisher dominierenden psychiatrischmedizinischen bzw. kriminologischen Rekonstruktionen hinaus. Mit einem weiteren Problembereich der Sozialen Arbeit beschäftigt sich auch Nadia Kutscher in ihrem Beitrag. Digitale Ungleichheit wird von ihr über die Differenz im Zugang zu digitalen Medien hinaus auf differente Möglichkeiten innerhalb der Mediennutzung zurückgeführt. Es sind ungleiche Verfügbarkeiten von Ressourcen auch außerhalb des Gebrauchs von neuen Me-
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Georg Cleppien/Ulrike Lerche
dien, die spezifische Nutzungsweisen, Präferenzen und Fähigkeiten beeinflussen. Welche Auswirkungen dies konkret haben kann, nimmt Alexandra Klein in den Blick. Mit Bezug auf Partizipationsmöglichkeiten destruiert sie die Hoffnung, dass das WWW Partizipationschancen auch für Benachteiligte eröffnet. In Anschluss an eigene Untersuchungen macht Klein deutlich, dass Teilhabe auch im Kontext von Medien ein soziales Projekt bleibt. Die letzten beiden Beiträge im dritten Teil unterscheiden sich von den ersten darin, dass sie konkretere praktische Projekte in den Blick nehmen. In Anschluss an die Ausarbeitung, welche Problematiken sich für Menschen mit Migrationshintergrund ergeben, betrachtet Peter Holzwarth Möglichkeiten der Nutzung von Medien in der integrativen Arbeit. Dabei stellt er verschiedene Formen und Konzepte aktiver interkultureller Medienarbeit dar. Kati Struckmeyer legt abschließend ihren Fokus auf das Jugendmedien Nr. 1, das Handy. In kritischer Distanz zu einer möglichen Vereinseitigung der Diskussion sieht sie die Notwendigkeit einer pädagogischen Auseinandersetzung mit diesem Medium darin, dass es der zentrale Gegenstand und wesentliches Ausdruckmittel aktueller Jugendkultur ist. Diesbezüglich gilt es auf Probleme und Potenziale dieses Mediums aufmerksam zu machen. Dies wird von ihr an einem konkreten pädagogischen Projekt verdeutlicht. Im abschließenden Teil stehen organisatorische Bedingungen im Zentrum der Überlegungen. Ute Straub nimmt die Beziehung Umwelt/Organisation in den Blick. Ausgangspunkt ist ein von ihr diagnostiziertes Imageproblem der Sozialen Arbeit in der Öffentlichkeit. Unter Rekurs auf die Forschungslage zu diesem Thema fordert sie eine intensivere Beschäftigung mit Öffentlichkeitsarbeit sowohl in der Forschung als auch im Studium und Praxis. Dem gegenüber nimmt Thomas Ley die Binnenstruktur von Organisation in den Blick. In Anschluss an neuste Überlegungen der Techniksoziologie fragt er nach Veränderungen professionellen Arbeitens durch die Einführung computergestützter Diagnose- und Verwaltungssysteme. Er zeichnet ausführlich nach, dass die Betrachtung von Informationstechnologien als Arbeitsmittel von der pädagogischen Konzeptualisierung von Medien zu unterscheiden ist. Es kann gezeigt werden, dass die neuen Technologien Einfluss auf die Wissensbasis der Professionellen haben und sich das Verhältnis von Organisation und Profession aus dieser Perspektive neu gestaltet. Dies ins Zentrum zu stellen ist Aufgabe weiterführender Forschung. Ein Buchprojekt ist nicht ohne die tatkräftige Mitwirkung unterschiedlicher Personen denkbar. Diesen gilt unser Dank. Ein besonderer Dank gilt hierbei Frau Mülhausen vom VS Verlag für ihre Geduld. Literatur AGJJ (Hrsg.): Jugendhilfe und Bildungspolitik. Dokumentation zum 2. Deutschen Jugendhilfetag in Köln. München 1966. Baacke, D. (1973): Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München. Baacke, D. (1997): Medienpädagogik. Tübingen. Cleppien, G. (2008): Sich an Bildung Orientieren. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 6, Heft 1, 2008, S. 32-50. Grimm, J. (2006): Super Nannys. Ein TV-Format und sein Publikum. Konstanz.
Einleitung – Soziale Arbeit und Medien
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Georg Cleppien/Ulrike Lerche
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I. Gesellschaftliche Herausforderungen des Aufwachsens
Aufwachsen in der (Medien-)Gesellschaft Franz Josef Röll
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Einleitung
Die Persönlichkeitsentwicklung, die Verhaltensmuster, die Einstellungen und die sozialen Beziehungen jedes Einzelnen werden von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen beeinflusst. Im Verlauf von Sozialisationsprozessen kommt es zu einer Anpassung an gesellschaftliche Denk- und Wahrnehmungsmuster sowie zu einer Verinnerlichung der jeweilig geltenden Werte und Normen. Klaus Hurrelmann u.a. bezeichnen Sozialisation als „den Prozess in dessen Verlauf sich der mit der biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt“ (Hurrelmann/Grundmann/Walper 2008: 24). Das interaktionistische Konzept der Sozialisation geht von einer ständigen Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft (Umwelt) aus. Die gesellschaftlichen Strukturen, Werte und Normen werden über Institutionen und soziale Netzwerke an die Individuen weitergegeben. Allerdings ist das Individuum bei der Aneignung dieser Vorgaben beteiligt. „In jedem Stadium der Subjektwerdung interagiert der Mensch mit der Umwelt, verhält sich gegenüber den Umweltgegebenheiten selektiv, interpretiert das Wahrgenommene aktiv vor dem Hintergrund subjektiver Erfahrungen und Lebensbedingungen, die wiederum Resultat vergangener Sozialisationsprozesse sind, und verändert die Umwelt für sich und andere durch sein Handeln“ (Theunert/Schorb 2004: 206). Neben der Familie, der Schule, den Peers und den beruflichen Institutionen nehmen die Medien längst eine Schlüsselfunktion im Sozialisationsprozess ein. Medien tragen einen bedeutenden Anteil bei der Konstruktion von Weltbildern bei. Welchen Herausforderungen sich Heranwachsende im Spannungsfeld von Umwelt (Gesellschaft) und Medien gegenüberstehen, möchte ich im Folgenden beispielhaft erörtern.
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Medienkonsum von Kindern
Kindheit bedeutet heute Medienkindheit. Dies zeigt ein Blick auf die Konsummuster von Kindern (3 bis 13-Jährige). 393 Minuten Freizeit stehen den Kindern pro Tag (im Durchschnitt) zur Verfügung. 2/3 davon werden drinnen verbracht, 70% von dieser Zeit beschäftigen sich die Kinder mit Medien (ca. 3 Stunden jeden Tag). Dabei wird das Lieblingsmedium Fernseher von 73 % jeden/fast jeden Tag benutzt. Trotz Zunahme an Spartenprogrammen, Pay-TV-Angeboten und neuen technischen Verbreitungsformen ist allerdings die Fernsehnutzung rückläufig. Während im Jahre 1996 die Kinder durchschnittlich 101 Minuten Fernsehen nutzten, liegt die Sehdauer mit aktuell 86 Minuten pro Tag so niedrig wie nie seit 1992. Auch die Verweildauer hat sich in den letzten Jahren um 10 Minuten gekürzt, sie
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Franz Josef Röll
hat sich jetzt bei 145 Minuten eingepegelt (vgl. Feierabend/Klingler 2009: 113). Gleichwohl überrascht es, dass bei der KIM-Studie (Mpfs 2009a: 5ff) bei dem Themeninteresse „Computerspiele“ und „Kino/Filme“ erst an sechster und siebter Stelle auftauchen. „Freunde/Freundschaften“ sind für fast alle Kinder wichtig, danach folgen „Sport“, „Schule“, „Musik“ und „Tiere“. Differenziert man nach geschlechtsspezifischen Aspekten sind für die Jungen vor allem Sport, Computer, Computerspiele und das Internet von größerem Interesse. Tiere, Kleidung, Schule und Musikthemen bekommen von den Mädchen einen höheren Stellenwert zugeschrieben. Im Vergleich zu früheren Studien ist das Interesse für Kino, Film und Fernsehen gesunken, während das Thema „Internet“ an Bedeutung gewonnen hat. 6-13-Jährige haben heute bis auf wenige Ausnahmen Zugriff auf Fernseher, Videorecorder, Hifi-Anlagen und Telefon. Für zwei Drittel der Kinder sind PC, Gameboy, Handy, Kassettenrecorder und Discman Teil der alltäglichen Medienumwelt. Die größten Zuwachsraten haben das Handy und MP3-Player. Kinder verfügen somit über viele mediale Möglichkeiten, die in ganz unterschiedlichen Kontexten genutzt werden. Leitmedium für die Kinder ist weiterhin das Fernsehen. 97 % der 12-13-Jährigen nutzt ein/mehrmals pro Woche das Medium Fernsehen (Computer: 66 %, Bücher lesen: 42 %). Fragt man die Kinder nach ihrem Lieblingsmedium steht das Fernsehen an erster Stelle, dicht gefolgt vom Handy, dann kommen die Spielkonsole, der Videorecorder und der PC mit Internet. Bei den jüngeren Kindern werden Gameboy, Kassettenrecorder oder Videorecorder als unverzichtbar angesehen. Jedes fünfzigste Kind (2 %) gilt als Extremseher mit einem Tageskonsum von fünf bis sechs Stunden. Vorwiegend handelt es sich um 12-13-Jährige und ältere Kinder. Bei genauerer Untersuchung stellt sich meist heraus, dass bei den Viel- bzw. Extremsehern der hohe Konsum des Mediums Fernsehen im Kontext zu einer familiär auffälligen Sozialisation steht. So konnte die RTL Studie „Kinderwelten 2002“ feststellen, dass ein hoher Anteil der Eltern der Extremseher zu der Gruppe der „Widersprüchlichen“ und/oder der „wenig familiären“ zählen, ein Elterntyp, „der sich in seinen erzieherischen Aufgaben eher distanziert verhält oder sich in ihnen ‚verheddert’“ (RTL 2002: 48).
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Lebenswelt von Kindern
Unsere Vorstellungen von Kindheit sind meist geprägt von idealtypischen Vorstellungen. Bewusst oder unbewusst denken wir an ein Biotop, bei dem Wohnen, Arbeiten und Lebensalltag noch weitgehend miteinander verbunden sind. Kindliche Entwicklung wird meist als zwar diskontinuierlich, aber gleichwohl systematische Aneignung von Wirklichkeit verstanden. Nach dem sozialökologischen Ansatz von Baacke (1987) entwickelt sich der Mensch in einer Wechselbeziehung zwischen sozialer Umwelt und sozialem Handeln. Ausgangspunkt ist das ökologische Zentrum, der alltägliche und unmittelbare Lebensraum, in den jemand hineingeboren wird. In der zweiten Zone erlebt das Kind den ökologischen Nahraum. Die Nachbarschaft wird als Ziel der Exploration erkundet. Erste Außenbeziehungen entstehen. Im Kontakt mit anderen Kindern gibt es Aktionsmöglichkeiten und werden Treffpunkte als Orte gemeinsamen Erlebens gefunden. Funktionsbestimmte Beziehungen kennzeichnen den dritten Zonenraum, die ökologischen Ausschnitte. Das Kaufhaus, der Sportplatz und die Schule sind Räume, die nur zu bestimmten Anlässen aufgesucht werden.
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Als vierte Zone bezeichnet er die ökologischen Ausschnitte. Dieser Raum steht nur zeitweise zur Verfügung (z.B. Fußball, Eishockey, Reiten). Betrachtet man die Entwicklung von Kindheit nach dem zweiten Weltkrieg muss dieses Zonenmodell modifiziert bzw. erweitert werden. Kindheit steht nicht mehr in einem ganzheitlichen Lebenszusammenhang. Zeiher (1983) beschreibt, wie sich die Außenwelt des Kindes nach 1945 verändert hat. Im Zuge der Verstädterung und durch die Entflechtung der Funktionen Wohnen, Arbeit und Einkauf werden die Wohngebiete zur Schlafstadt und damit vom Ort der Freizeit, der Kommunikation und des Konsums getrennt. Der neue Lebensraum von Kindern besteht nunmehr aus einzelnen Segmenten (Kitas, Schule, Freunde, Vereine), meist gesellschaftlich organisierte Spezialräume, die wie Inseln (Segmente) in einem größeren, unüberschaubar gewordenen Gesamtraum liegen. Damit geht eine Zunahme institutionalisierter Regulierungen des Lebenslaufes einher. Dieser Lebensraum vermittelt keine sinnliche Einheit mehr, er ist abstrakt und bruchstückhaft. Die Handlungsmöglichkeiten in spezialisierten Räumen sind einerseits komplex, andererseits sind sie auch determiniert. Kinder können in diesen Räumen nur das spielen, was durch Funktionsspezialisierung vorgegeben ist. Gleichzeitig wird jedoch auch die Bereitschaft und Fähigkeit gefordert, sich ständig wechselnden Räumen und Identitäten anzupassen, wobei innerhalb der jeweiligen Räume die Entfaltung eingeschränkt wird. Bezogen auf die Gesamtgesellschaft wird erhöhte Mobilität gefordert. Ebenso verlangt der verinselte Lebensraum eine höhere Mitwirkung der Betroffenen. Spontanes Handeln wird erschwert, da erst ein entsprechender Spezialraum aufgesucht werden muss. Der Zerstückelung des Raumes entspricht daher auch eine Zerstückelung der sozialen Beziehungen. Die segmentierte Lebenserfahrung verlangt die Fähigkeit zu kategorieller Einschätzung, um die Erfahrungen zu einem Sinnzusammenhang ordnen zu können. Im Alltagsleben führt dies zwangsweise zu Schwierigkeiten sich zurechtzufinden. Unsicherheit begünstigt die Suche nach stabilisierenden Handlungsstrategien. Alltagsästhetische Erfahrungen, Wiederholung und Anlehnung an eingeübte Muster können dabei helfen. Eines dieser notwendigen sich wiederholenden Erfahrungsmuster wird durch die Medien ermöglicht. Technische Medien, wie z.B. Handy, SMS, Fernsehen, Computer und Internet bieten das Anregungsmaterial, die Lücken zwischen den segmentierten Lebensräumen zu schließen. Die Medien simulieren nunmehr für die Rezipienten einen Aufenthalt in Räumen, die sie real nicht mehr aufsuchen müssen. Die Medien gestalten und verändern die Raumerfahrung. Durch den Umgang mit den Medien wird die Welt zum PseudoLebensraum. Obwohl dieser Schein-Raum auch verinselt ist, da keine Vorstellungen über Zwischen-Räume vermittelt werden, weckt er die Phantasie, Räume schließen zu können. Die Medien gewinnen im Kontext dieser Entwicklung eine konstitutionelle bzw. eine gesellschaftskonstituierende Bedeutung.
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Familie im Umbruch
Parallel zu der Entwicklung der Segmentierung des Lebensraumes lässt sich ein Bedeutungswandel des Stellenwerts der Familie feststellen. Wenn auch die Familie für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung den wichtigsten sozialen und psychischen Rückhalt bildet, steht sie unter einem verstärkten sozialen Druck. Bei immer mehr Familien ist es notwendig, dass beide Elternteile erwerbstätig sind. Dies führt zu einem Wandel vom „Ernährermodell“ zu einem „Zwei-Verdienermodell“. Steigende berufliche Anforderungen, ökonomischer Druck, Mobilitätsanforderungen, Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg verlangen von den Eltern eine hohe Flexibilität und führen dazu, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation als Belastung erlebt wird. Insbesondere der Bildungs- und Betreuungsbereich wird als defizitär erlebt. Die Eltern stehen unter der Verantwortung, ihre Kinder bei der Bewältigung von deren Herausforderungen umfassend zu unterstützen. Aufgrund Ihres Wissens über die Bedeutung der Schulbildung für den zukünftigen Lebensweg ihrer Kinder geben sie (bewusst oder unbewusst) den Druck an die Kinder weiter. Aktuelle statistische Erhebungen belegen den Strukturwandel der Familie. Das klassische Familienmodell (Eltern mit leiblichen Kindern) ist auf dem Rückzug. Zwar lebt weiterhin die Mehrzahl der Kinder in Familien bei denen die Partner verheiratet sind. Alternative Lebensformen gewinnen jedoch immer mehr an Bedeutung. 76 % der Kinder leben bei Ihren leiblichen Eltern, 14 % bei ihrer leiblichen Mutter, 2 % beim alleinerziehenden Vater, 8 % mit einem Stiefelternteil (vgl. Statistisches Bundesamt 2008). Vielen Kindern fehlen stabilisierende Rahmenbedingungen. Die gesellschaftlichen Hintergründe für diese Veränderung liegen in einem Wandel gesellschaftlicher Werte und Konventionen und in ökonomischen Zwängen. Die Suche nach Selbstbestimmung und Identifikation, die Emanzipation der Frau, die Verwirklichung von Lebensstilen und materielle Notlagen führten dazu, dass die bisherige Arbeitsteilung (Mutter kümmert sich um die Kinder, Vater ist Haupternährer) nicht mehr funktionierte. Inzwischen ist es notwendig, dass die Kinderbetreuung zumindest für einen Teil des Tages außerhalb der Kernfamilie stattfinden muss. Die Studie Kinderwelten von RTL (vgl. Guth/Schulte 2009: 5f) identifiziert sechs unterschiedliche Familienmodelle, wobei den ersten drei Modellen eine ungefährdete Konstellation zugeschrieben wird, da die Fürsorge und Geborgenheit nicht zu kurz kommt. Die restlichen drei Modelle werden als gefährdete Konstellationen bezeichnet.
Gleichgesinnte – Die Familienmitglieder sind über gemeinsame Interessen und Themen miteinander verbunden. Jeder kann sich frei entwickeln. Traditionelle Ordnung – Es herrscht eine klare Hierarchie. Die Kinder werden bewusst gefördert, die Eltern bestimmen die zur Verfügung gestellten Freiräume. Schmelztiegel – Die Kinder sind wichtig und werden ernst genommen. Die Atmosphäre ist wie bei Gleichaltrigen. Räderwerk – die Familie lebt wie ein Uhrwerk, alle Aufgaben sind fest verteilt. Solange die Interessen und der Rhythmus der Kinder berücksichtigt werden gibt es keine Störungen. Zufallsgemeinschaft –Ungeplante Anlässe lösen zufällige Erziehungsprozesse aus. Die Rollen der Familienmitglieder und die Familiensituation werden nicht reflektiert. Der Zusammenhalt dieser Familie ist permanent gefährdet. Kinder suchen sich oft Ersatzfamilien.
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Verwaiste – Bei dieser Familienform kommt es in der Regel zu Störungen in der kindlichen Entwicklung. Hoffnungs- und Hilflosigkeit kennzeichnet die Stimmung in dieser Familie.
Der Nährboden für die hohe Bedeutung der Medien in der Kindheit liegt auch an der soziokulturellen Lebenssituation. Durch die Auflösung der traditionalen Strukturen, der Veränderung des Sozialraums (vgl. auch Deinet in diesem Band) und vor allem dem Bedeutungsverlust der Familie erhalten die Medien im Vergleich zu früher eine höhere Bedeutung bei der Suche von Kindern nach Orientierung (Normenvermittlung), der sinnbildenden Ordnung (Ontologie) und der Bewältigung von Komplexität (Öffnung von Handlungsoptionen).
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Hintergründe für die Medienfaszination
Nur im Kontext ihrer alltäglichen Lebenswelt lassen sich die Umgangsweisen der Kinder mit Medien angemessen beurteilen. Aus unterschiedlichen Gründen erhalten die Medien Bedeutung. Langeweile und Überbrückung von Übergangsphasen, familiäres Zusammensein, Bedürfnis nach Action, Erleben von Stimmungen und Faszination sowie das Eintauchen in Erzählgeschichten können weitere Gründe sein für die Faszination, die Medien auslösen. Mittels Medien kann man sich von kognitiver Überlastung (Schule) erholen und sich der Imperativwelt der Erwachsenen entziehen. Bei vielen Kindern dienen Personen aus Film und Fernsehen als Vorbilder. Während sich Jungen eher an Sportidolen orientieren, begeistern sich Mädchen mehr an Film- und Fernsehstars. In Ihrer Fantasie gehen Kinder mit Medienfiguren parasoziale Beziehungen ein. Eine derartige Beziehung kann in einer Phase, die durch Verunsicherung und mangelndem Selbstbewusstsein geprägt ist, Raum für fantasievolle Bewältigung und aktive Gestaltung bieten. Götz (2000: 52ff) hat bei Ihrer Untersuchung über die Aneignungsmuster von Daily Soaps alterspezifischen Orientierungen herausgefunden. Das Ansehen und Verfolgen der spektakulären Handlungsstränge bildet die Hauptattraktion des Genres für die 9- bis 10Jährigen. Sie interessieren sich für spektakuläre Handlungsverläufe. Bei Mädchen steht das Gefühl im Vordergrund, Hilfestellung für konkrete Problemsituationen und damit Handlungsoptionen zu gewinnen. Sich in einer Figur wiederfinden bzw. sich mit dem eigenen Lebensgefühl auseinander zu setzen, bildet die Hauptattraktion des Genres für die 12- bis 14-Jährigen. Der (Lebens-)Stil und das Lebensgefühl stehen für eine große Anzahl von großen Kindern im Mittelpunkt. Wichtig sind die Atmosphäre, das Casting und die Thematisierung potenzieller Jugendthemen. Weitere Kriterien für die Akzeptanz der Soaps stehen in Verbindung mit biographischen Erfahrungen, der egotaktische Zentrierung (Ich-Sicht), der Nachvollziehbarkeit der Handlungen und Inhalte sowie den Inszenierungen von Grenzüberschreitungen. Nicht zu unterschätzen ist die Folgekommunikation (Agenda). Vocke (2001) hat darauf hingewiesen, dass sich vier von fünf der Befragten über die Inhalte austauschen. Mit dem Ansehen von Medien (z.B. auch Soaps) wird die Möglichkeit geschaffen, Kontakte zu Gleichaltrigen herzustellen (Gesprächsaufhänger). Soaps bieten Projektionsflächen und Rollenmuster für die eigene Rollenfindung. Vorwiegend haben die Soaps eine affirmative
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Dimension. Allerdings ist nicht zu vernachlässigen, dass diese Serien für die subjektive Aneignung auch wichtige Funktion haben. Zur Alltagsbewältigung und zur Hilfe für die Überbrückung schwieriger Zeiten können sie einen wichtigen Beitrag leisten. Die Familie bildet das entscheidende Vorbild für die Konsummuster der Kinder (vgl. Baacke 1988: 8). Medienvorlieben, die Kinder entwickeln, stehen in der Kindheit noch im engen Kontext mit den Einstellungen der Eltern, deren Mediennutzungsgewohnheiten und deren psychosozialer Situation. Neben dem familialen Medienklima, der familialen Lebenslage (Bildung der Eltern, Erwerbstätigkeit, Schichtzugehörigkeit, Wohnungsgröße), dem sozialen Netzwerk beeinflusst auch die öffentlich geplante Umwelt (Bebauungsstruktur, Verfügbarkeit von öffentlichen und offenen Räumen). Spätestens zu Beginn der Pubertät gewinnen die Peers eine ganz wesentliche Bedeutung. In der Gruppe der Gleichaltrigen werden Konsummuster eingeübt, differenzieren und stabilisieren sich die Vorlieben. Zu diesem Zeitpunkt gewinnen der Computer und das Internet an hoher Relevanz, wie die Daten über das Nutzungsverhalten in der Jugendzeit belegen.
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Aktuelle Mediennutzungsformen von Jugendlichen
Die Daten der JIM-Studie 2008 (Mpfs 2009b) geben Hinweis auf die Bedeutung, die die Medien in der Lebenswelt der Jugendlichen einnehmen. 97 % der Jugendlichen beschäftigen sich zumindest einmal im Monat mit einem Computer. 89 % der Jugendlichen gehen täglich oder mehrmals pro Woche ins Netz. 71 % haben einen eigenen PC oder Laptop. Vom eigenen Zimmer kann die Hälfte online gehen. Erkennbar wird an diesen Daten, dass die Bedeutung des Internets bei den Jugendlichen wächst. Das Thema Web 2.0 ist ebenfalls bereits bei den Jugendlichen angekommen. 84 % der Jugendlichen gehören zu den generellen Anwendern von Web 2.0-Aktivitäten (Weblogs schreiben, Musik, Fotos, Videos einstellen, in Newsgroups schreiben, Online-Communities nutzen). Fast drei Viertel der Jugendlichen haben inzwischen mehr oder weniger intensive Erfahrungen mit OnlineCommunities, 41 % besuchen die Plattformen (wie z.B. SchülerVZ, StudiVZ, MySpace, wer-kennt-wen) täglich, 16 % mehrmals die Woche. Als wesentlicher Grund für die Nutzung der Online-Communities wird die Möglichkeit genannt, auf unterschiedlichen Ebenen Kontakt zu Freunden herzustellen. Knapp die Hälfte der Zeit, die Jugendliche im Internet verbringen, sind der Rubrik „Kommunikation“ (Email, Messenger, Chat, Communities) zuzuordnen, die andere Hälfte fällt in etwa gleich auf die Rubriken Spiele, Informationssuche und Unterhaltung. Diese Daten werden auch von einer Studie von Microsoft und MTV mit dem Titel Circuits of Cool bestätigt (vgl. MTV-Networks 2007). In dieser Studie wurde das Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 8 und 24 Jahren untersucht. Bestätigt wurde, dass die Mediensozialisation bereits sehr früh einsetzt. Zu Beginn dominiert der spielerische Umgang mit der Technik, oft auch unter Anleitung der Eltern. Mit der Pupertät steigt die Mediennutzung. Sobald sie von der Schule oder Arbeit nach Hause kommen, gehen 53 % der befragten Jugendlichen sofort online. Der Computer wird von nahezu jedem Vierten nur noch ganz selten ausgemacht. Bereits 83 % äußern, dass sie ohne das Internet nicht leben können. Jeder dritte Befragte identifiziert das Handy als das Medium, das am Morgen zuerst und am Abend zuletzt kontaktiert wird. Wenn Jugendliche über
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Instant Messenger (IM) kommunizieren, werden parallel dazu 3,6 andere Dinge erledigt. 67% surfen zugleich im Internet, 64% hören Musik, 46% essen, 43% schauen Fernsehen und 32% sind gleichzeitig mit einem Spiel beschäftigt. Die Studie verweist auf die Fähigkeiten von Jugendlichen aus einer Vielzahl an Reizen blitzschnell die jeweils für sie relevantesten Informationen herauszufiltern (Multitasking). Auffallend ist, dass viele Geräte ständig und parallel benutzt werden. Feststellen lässt sich, dass in der letzten Zeit eine Kommunikationsexplosion stattgefunden hat. Jugendliche sind heute permanent damit beschäftigt zu kommunizieren. In erster Linie ist für sie das Internet ein Kommunikationstool. Die favorisierten virtuellen Aufenthaltsorte sind Chat-Rooms, IM, Email-Kommunikation und Foren. 59 % der 14-24Jährigen besuchen regelmäßig Communities, dabei sind sie im Durchschnitt bei drei Communities Mitglied. 51% haben mindestens ein Profil bei einer Community. Dazu kommen die Offline-Medien Telefon und Handy. Ein Mobiltelefon ist für Jugendliche bereits eine Selbstverständlichkeit (95 % besitzen ein Handy) (vgl. auch Struckmeyer in diesem Band). Mit der Kommunikations-Explosion geht eine extreme Vernetzung der Jugendlichen einher. Nachrichten, Bilder, Filme und Audiofiles werden in kürzester Zeit verbreitet. Durchschnittlich haben Jugendliche 86 Telefonnummern auf ihrem Handy gespeichert. Die Anzahl der Freunde und Bekannten im Netz gilt als Statussymbol. Die Jugendlichen haben durchschnittlich bei MySpace 55 „Freunde“ und bei IM stehen 38 Personen auf der Freundes-Liste. Dabei hat das Medium Internet eine exponierte Stellung, weil es am idealsten dem Trend der konvergenten Medienwelt gerecht wird, bei der es zu einer Auflösung der Grenzen von einzelnen Medien, individueller und massenmedialer Kommunikation sowie privater und öffentlicher Kommunikation kommt.
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Bedürfnisse von Jugendlichen
Das Internet scheint im Moment das Medium für Jugendliche zu sein, sich von der Familie abzunabeln. Es bietet vielfältige Potentiale sich auszuprobieren, zu entfalten, Erfahrungen zu sammeln und neue Perspektiven kennen zu lernen. Aber keineswegs ist es so, dass sich die Jugendlichen immer mehr von der realen Welt entfernen. Die Freizeit-Interessen der jüngsten Generation gegenüber vorhergehenden Generationen haben sich nicht grundsätzlich geändert habe. Nur 20 % werden von der MTV-Studie als Techno-Enthusiasten eingeschätzt. Für die Mehrzahl der Jugendlichen bilden die technischen Medien Hilfsmittel, um die traditionellen Bedürfnisse Heranwachsender zu befriedigen. Die Ängste und Bedürfnisse der Jugendlichen haben sich nicht gewandelt. Die Musik-Leidenschaft ist ungebrochen. 87 % sagen: „Musik ist sehr wichtig für mich“. Die Interessen können jedoch mit Hilfe der Technik einfacher und intensiver genutzt werden. Die zahllosen Bandseiten und Fan-Foren geben im Vergleich zu früher erheblich mehr Möglichkeiten, sich mit dem favorisierten Musikgeschmack zu beschäftigen. In ihren Freizeitaktivitäten sind sie traditionell und früheren Generationen erstaunlich ähnlich. Neben Musikhören steht „mit Freunden zusammen sein“, „Essen oder ins Kino gehen“, „fernsehen“ und „relaxen“ (chillen) auf der Prioritätenliste. Nur die Online-Aktivitäten sind
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hinzugekommen. Folgende grundlegende Bedürfnisse werden von der Studie Circuits of cool herausgestellt:
Erlebnisorientierung (sich mit Freunden treffen, etwas unternehmen – real und virtuell) Wunsch nach Zugehörigkeit (Teil eines Freundeskreises zu sein, Communities) Entwicklung der eigenen Identität (Weblogs, Online-Rollenspiele, Selbstdarstellung) Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit (Handy, Internet, Foren) Umgang mit Sexualität (flirten per IM, Foren) Streben nach Status (Online-Bestenliste, Freundesliste, cooler Content)
Diese Liste der Bedürfnisse stimmt nahezu überein mit dem Ende der 70er Jahre von Diethelm Damm (1977) entwickelten Konzept der bedürfnisorientierten Jugendarbeit. Für Eltern ergibt sich das Problem, dass sie Ihre Kinder in dieser Welt nicht oder kaum „begleiten“ können, da Ihnen in der Regel die Kommunikationsform nicht bekannt ist und/oder sie keinen Zugang zu den virtuellen Welten haben. Gleichzeitig sind sie nachvollziehbarer verängstigt, weil die neuen Erfahrungswelten der Internetkultur durchaus Risiken mit sich bringen.
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Risiken im Internet
Ganz unterschiedliche Risiken lassen sich identifizieren. So gibt es konkrete beobachtbare Risiken, Risiken, die aufgrund eines unangemessenen Gebrauchs der Medien (Suchtgefahr) entstehen und es gibt latente Risiken, die im Kontext eines epochalen Wahrnehmungswandels stehen. Betrachten möchte ich zuerst die direkt beobachtbaren Gefahren, die von den Inhalten, die im Internet veröffentlicht sind oder werden, ausgehen:
Content – Im Internet gibt es eine Menge von ungeeigneten Inhalten, das betrifft u.a. die Themen Gewalt, Pornographie und radikale politische Botschaften (z.B. Neofaschismus). Contact – Jugendliche sind leichtfertig im Umgang mit Ihren persönlichen Daten. Drei Viertel der Internetnutzer haben persönliche Informationen, Bild- und Fotomaterial von sich, Vorlieben und Hobbies online gestellt. Diese Daten können missbraucht werden. Commerce – Die Werbeindustrie nutzt die Daten, die sie u.a. in den Social Network Sites (z.B. SchülerVZ und StudiVZ) finden, um mit Hilfe des virales Marketing (die Werbebotschaft wird wie ein Virus verbreitet), Jugendliche zu „verführen“.
Der zweite Risikofaktor bezieht sich auf die Art und Weise der Nutzung. Wenn der persönliche Verhaltensraum durch die Nutzung von Medien eingeschränkt wird, wenn ein Kontrollverlust zu beobachten ist, Entzugserscheinungen auftauchen und allgemein eine negative persönliche Auswirkung festgestellt werden kann und vor allem dann, wenn die wahre Welt die Welt der Computer und der Computerspiele ist und die reale Welt nicht mehr als interessanter Lebens- und Erfahrungsraum wahrgenommen wird, kann von einem Miss-
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brauch oder misslungenen Umgang mit Medien gesprochen werden (vgl. auch Cleppien/Scholz in diesem Band). Während Mädchen eher gefährdet sind, sich in der ChatKommunikation zu „verlieren“, lösen bei den Jungen die Computerspiele Gefahren eines unangemessenen Gebrauchs der Medien aus. So kann von einer Abhängigkeit gesprochen werden, wenn ein Jugendlicher z.B. 37,4 Std./Woche durchschnittliche Spielezeit mit einem Computerspiel verbringt. Cypra (2005) kommt bei seiner Untersuchung zum Ergebnis, dass bei 5 % der Befragten starke Anzeichen einer Abhängigkeit festzustellen ist. 21 % hält er für gefährdet (durchschnittliche Spielzeit: 30,2 Std./Woche). Auffallend ist, dass bei dieser Personengruppe vor allem Arbeitslose, Personen mit geringerer Bildung und Personen, die mit ihren Lebensumständen unzufrieden sind, dominieren. 74 % der Befragten wiesen keine Anzeichen von Sucht auf. Die Frage stellt sich nunmehr, ob die Gefährdungen vom Medium ausgelöst werden oder auf den Einfluss der Medien zurückzuführen ist. Die Mehrzahl der Wissenschaftler geht davon aus, dass die Medien nicht die Sucht hervorrufen, sondern die Persönlichkeit des Nutzers entscheidend ist. Gleichwohl ist es berechtigt nachzudenken, ob und welche Medien Suchtpotentiale begünstigen. Als fördernde Gründe bei Computerspielen können genannt werden: die Persistenz der Spielewelten, die Spielewelten sind immer verfügbar, Erfolgserlebnisse sind leicht zu erreichen, Serien-Quests (Aufgaben, die nur gemeinsam zu bewältigen sind), Klassen- und Punktesysteme, Gildenzugehörigkeit (Gruppendruck), klare, verlässliche Strukturen, Kinder und Jugendliche können über sich hinauswachsen, die Ablehnung der Erwachsenen und die Möglichkeit mit Hilfe einer Flow-Erfahrung mit dem Computer zu „verschmelzen“ (Immersion). Es gibt auch latente Risiken, die sich auf die Veränderung der Wahrnehmung beziehen. Die jeweiligen Medien, die benutzt werden, verändern zugleich auch die Art und Weise wie Weltwahrnehmung sich konstituiert. So ist erkennbar, dass bei Jugendlichen, die viel mit Medien zu tun haben, das prozedurale Gedächtnis zunimmt und das deklarative Gedächtnis (Fakten, Daten, Ereignisse) abnimmt. Das prozeduralen Gedächtnis speichert Informationen, die ohne Einschaltung des Bewusstseins unser Verhalten beeinflussen können. Dazu gehört z.B. Auto fahren, Radfahren, Gehen und Tanzen. Ohne nachzudenken sind Jugendliche in der Lage komplexe Befehlsketten im Internet zu speichern und/oder schwierige Software handlungskompetent bedienen, aber sie sind keineswegs immer in der Lage ihre Kompetenz „sprachlich“ zu artikulieren. Insgesamt verändert sich die Sprach- und Kommunikationsform. Sprache wird durch Chat und neuerdings durch Twitter immer kürzer. Die Verwendung von Akronymen (bg = breit grinsen) nimmt zu und die Verwendung von Nebensätzen nimmt ab. Sprachformen wie „Tami voll toll mit dir“ (SchülerVZ) verweisen auch auf eine kreative Sprachveränderung. Insgesamt kann von einer sekundären Oralität gesprochen werden, da es sich bei der im Internet benutzten Sprache um eine in Buchstaben performierte orale Sprachkultur handelt. Die Erfahrung im Umgang mit interaktiven Diensten (Web 2.0) führt zu einem hohen Drang Lernen durch eigene Aneignung zu bewältigen. Dies führt dann bei vielen in der Schule zur Überforderung (weil auf die eigenen Wahrnehmungsmuster nicht eingegangen wird) und einer Unterforderung (weil die positiven Stärken die mit diesem Wahrnehmungswandel einhergehen ignoriert werden). Kompetenzen, die den Jugendlichen helfen, ihre Bedürfnisse auszuleben und ihre Identität zu stabilisieren begünstigen zugleich den Konflikt, dass Eltern und Pädagogen diesen Dis-
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kurs nicht kennen und oft als unangemessen interpretieren. Daraus kann das Risiko eines Generationenkonfliktes entstehen. Daher ist es auch wichtig, dass Eltern und Pädagogen die positiven Chancen der Neuen Medien kennen.
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Selbstdarstellung und Identitätssuche
Das Internet ist nicht nur ein Medium und/oder ein Ort der Information und Kommunikation, sondern zugleich ein Ort der Vermittlung soziokultureller Denk- und Wahrnehmungsweisen. Vor allem die Social Network Sites tragen dazu bei, Denk- und Wahrnehmungsmuster zu entwickeln, die helfen in der aktuellen gesellschaftlichen Situation Handlungsfähigkeit zu erwerben. Die Komplexität der Lebenswelt nimmt zu. Die Sicherheiten traditioneller Bindungen und Strukturen gehen verloren. Beeinflusst wird diese Entwicklung von der Globalisierung. Die weltumspannenden Informations- und Finanzmärkte operieren in Sekundenbruchteilen und sind längst politisch und rechtlich nicht mehr steuerbar. Eine Folgeerscheinung dieser Entwicklung ist, dass es zu einem Kontrollverlust hinsichtlich Karriere und Lebensplanung kommt sowie zur Erfahrung, dass es in allen Bereichen zu einem Abbau von Strukturen kommt, die auf Langfristigkeit und Dauer angelegt sind. Das neue Leitbild ist nach Auffassung des amerikanischen Soziologen Sennet (1998) der flexible Mensch. Nur die reaktionsschnelle, anpassungsfähige Persönlichkeit ist in der Lage, sich gegenüber dem „flexiblen Kapitalismus“ zu behaupten. Sennett verweist auf die gefährlichen Fallstricke, in denen sich die Erfolgszwanggeplagten verfangen, weil sie immer weniger auf ihr Wissen vertrauen dürfen, aber zugleich die Furcht vor neuen Anforderungen wächst. Der flexible (neoliberale) Kapitalismus führt jedoch keineswegs zu mehr Gleichheit, eher scheint es, dass sich Ungleichheiten verstärken. Selbstmanagement und Flexibilität wird zur Überlebenskompetenz in einer Gesellschaft, die vom flexiblen Kapitalismus geprägt ist. Die Undurchschaubarkeit gesellschaftlicher Faktoren und der Lebensverhältnisse bei gleichzeitiger mangelnder Sicherheit und erheblicher Durchlässigkeiten tragen zur Beunruhigung bei. Begleitet wird dieser Prozess von einer technischen Beschleunigung, einer Beschleunigung der sozialen und kulturellen Veränderungsraten sowie einer Beschleunigung des Lebenstempos. Kontinuität und traditionsbewusstes Denken können unter diesen Prämissen schnell zu dysfunktionalen Fähigkeiten werden. An die Individuen werden zugleich hohe Anforderungen bei der Konstruktion ihrer Identität gestellt. Die Individuen sind stärker gefordert, an der Selbstkonstitution mitzuwirken. Das Individuum muss lebenslang erhebliche Eigenleistungen bringen, um die heterogenen Selbsterfahrungen (Patchwork) zu einem sinnvollen (kohärenten) Zusammenhang zu verorten. Die Vorlagen für die Bricolage am Selbstkonzept liefert vor allem der audiovisuelle Diskurs mit den Medien. Die „Identität wird bestimmt als relationale Verknüpfungsarbeit, als Konfliktaushandlung, als Ressourcen- und Narrationsarbeit“ (Keupp/Ahbe/Gmür 1999: 195). Identität ist nach diesem Verständnis vergleichbar einem Projekt, das mit Hilfe von Selbstreflexion sich ständig verändert. Dadurch rückt die Selbsterzählung in den Mittelpunkt. Alle für das Selbst relevanten Erfahrungen müssen aufeinander bezogen werden. Es kommt zur Erprobung unterschiedli-
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cher Bedeutungszusammenhänge und damit auch zu einer Fragmentierung der Identitätsrepräsentation. Eine themenbezogene Interaktion und authentische Selbstrepräsentation fördert die kontinuierliche Präsentation des Selbst sowie die Auseinandersetzung mit anderen über dieses Selbstbild. Da es keine einseitigen Diskurse gibt, impliziert dies eine Demokratisierung der Subjektkonstitution. Die Subjekte konstituieren sich in ihren Dialogen. Eine Vielzahl von Rollenbeziehungen eröffnet sich, da unterschiedlichen Kompetenzen und Erwartungen synchronisiert werden können. Eine Modifikation oder Neudefinition der eigenen Identität wird somit möglich. Die Anforderungen an die Sinnkonstruktion bei den Rezipienten werden für die einzelnen Individuen dadurch höher. Die notwendige Kohärenz der fragmentierten Identitätsanteile müssen vom Individuum zu einer sinnstiftenden und bedeutungsvollen Geschichte verdichtet werden. Die Erzählfragmente der Teilidentitäten bedürfen der Komplettierung und Konsistenzbildung. Dies gelingt nicht automatisch. Notwendig sind Lernumgebungen, die es ermöglichen eine aktive Passungsleistung zu ermöglichen, um die unterschiedlichen Teilidentitäten zu synchronisieren.
10 Positive Aspekte der Mediennutzung Jugendliche benötigen für eine Existenz in einer von Medien und der Globalisierung geprägten Gesellschaft Schlüsselqualifikationen, wie z.B. Kreativität, Flexibilität, Spontaneität, Teamfähigkeit, Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein, mentale Beweglichkeit, vielschichtige Problemlösungskompetenz sowie systemisches und vernetztes Denken. Dieses Denken erwerben sie in der Regel nicht in den traditionellen Bildungseinrichtungen sondern im alltäglichen Umgang mit und innerhalb der Medien. Die Kompetenzen, die in der Wissensgesellschaft benötigt werden, erwerben sie durch informelles Lernen. Neben den schon genannten Kompetenzen eignen sie sich auch hypermediale Kompetenz, induktives Denken, kommunikative Kompetenz, Orientierungswissen, Auge-Hand-Koordination und Multitaskingfähigkeiten an. Das Medium Internet und vor allem das Web 2.0 kann helfen, die notwendigen Wahrnehmungsmuster zu erlernen, um in einer durch die Globalisierung, flexiblen Kapitalismus und eine digitale Kommunikationskultur geprägten Gesellschaft Orientierung zu finden. Das Web 2.0 bietet Ansätze eines positiven Umgangs mit Anderen. Web 2.0-Anwendungen zeichnen sich durch eine fortwährende Dynamik aus. Kennzeichnend für diese Entwicklung sind die Partizipation der Nutzer und der permanente Austausch. Neue Formen von Beteiligung, Teilnahme, Mitwirkung und Mitbestimmung kristallisieren sich heraus. Web 2.0 fördert die Tendenz, dass die Nutzer Personen mit gleichen Interessen finden. Kennzeichnend für diese Bewegung ist eine Ethik der Kooperation. Kollektiv werden Ressourcen erschlossen, Kompetenzen und Potentiale zur Verfügung gestellt. Die Beweggründe sind sicherlich ganz unterschiedlich, eher selten sind sie orientiert an sozialpolitischen Idealen. Im Gegenteil, es lässt sich ein hedonistisches Interesse konstatieren. Es handelt sich um Unterstützungssysteme auf Gegenseitigkeit. Kooperiert wird „nur“ im Rahmen gemeinsamer Angelegenheiten. Dies fördert eine Community-Kultur. Bei virtuellen Rollenspielen können Erfahrungen mit unterschiedlichen Rollen gemacht werden.
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Die Freundesbeziehungen bei den Communities können als schwache Beziehungen bezeichnet werden. Diese schwachen Beziehungen können als „Brücken“ zwischen (ansonsten) disparaten Personen oder Gruppen dienen. Informationen zwischen den Gruppen können über die Brücke „Freunde“ fließen. Brücken erzeugen mehr Beziehungspfade. Neue Informationen erreichen eine größere Zahl von Akteuren und tragen dazu bei eine größere soziale Distanz zu überwinden, wenn sie über schwache und nicht über starke Beziehungen vermittelt werden. Je höher der Anteil schwacher Beziehungen ist, desto besser funktioniert die Kommunikation. Die besondere Stärke der schwachen Beziehungen für die Individuen liegt im Umstand, dass sie schnell Informationen erhalten können, die für sie mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Neuigkeitswert haben. Starke Beziehungen sind für die Identität weiterhin wichtig, sie genügen aber nicht mehr, um die eigene Existenz abzusichern, da die Empfehlungen über interessante Jobs viel häufiger über schwache Verbindungen kommuniziert werden. Die starken Beziehungen sind meist redundant. Sie bilden einen engen sozialen Cluster, über den wenig neue Informationen weitergegeben werden. Da über schwache Verbindungen auch mit ganz anderen Kreisen verkehrt werden kann, können die Akteure neue, wertvolle Informationen erhalten und weitergeben. Da die Notwendigkeit zur Flexibilisierung ein Kennzeichen der von der Globalisierung gekennzeichneten Entwicklung ist, bieten schwache Beziehungen eine besondere Möglichkeit Zugang zu Informationen aus anderen sozialen Kreisen zu erhalten, zu denen normalerweise der Zugang versperrt ist. Somit kommt den schwachen Beziehungen eine besondere Bedeutung bei der Bereitstellung von relevanten Informationen zu. Aus diesem Grunde erhalten aktuell soziale Kontaktseiten wie z.B. Xing, Facebook, Lokalisten, Meinestadt, schülerVZ oder studiVZ eine zentrale Bedeutung bei der Strukturierung sozialer Beziehungen. Zunehmend ist entscheidend, welchen Umfang des ökonomischen, kulturellen oder symbolischen Kapitals diejenigen besitzen, mit denen man in Verbindung steht. Die Möglichkeit eines Akteurs aufgrund seiner sozialen Position in einem sozialen Beziehungsgeflecht bestimmte Ressourcen zu mobilisieren, hat Auswirkung auf sein soziales Kapital. Das Internet hilft somit soziales Kapital zu bilden, da Internet-User über größere private Netzwerke wie Offliner verfügen (vgl. auch Klein in diesem Band). Die emotional schwachen Bindungen sind informationstheoretisch daher die starken Bindungen. Allerdings ist die Unterstützung abhängig von der Größe und der Heterogenität des genutzten sozialen Netzwerks sowie von der Erreichbarkeit der Kontakte.
11 (Medien-)Pädagogische Herausforderung Aufwachsen in der (Medien-)Gesellschaft bedeutet, sich der Relevanz der Medien für die Identität, die Beziehungs- und Kommunikationskultur sowie die Informations- und Wissensgenerierung von Heranwachsenden bewusst zu werden. Gerade weil auch die Medien eine wichtige Rolle für die berufliche Zukunft spielen und die aktive Teilhabe an der Kommunikationskultur im Internet zugleich auch eine partizipative Nutzung beinhaltet und damit die Möglichkeit gegeben ist, sich im gesellschaftlichen Dialog zu beteiligen, bedarf es der aktiven Aneignung der aktuellen Medien. Das Ignorieren der Medien führt zur Exklusion. Bereits heute wird vom Digital Gap (Digitale Spaltung) geredet, der Tendenz, dass diejenigen, die keinen Zugang zu modernen Kommunikationstechniken haben, geringere
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soziale und wirtschaftliche Entwicklungschancen haben (vgl. auch Kutscher in diesem Band). Zugleich bedarf es auch einer kritischen Auseinandersetzung mit den Medien, da die Nutzung von Medien mit Risiken verbunden ist. Die Heranwachsenden müssen lernen die Interessen und Absichten von Medienproduzenten zu decodieren, um damit gegen mögliche bewusste oder unbewusste Beeinflussung und/oder Manipulation geschützt zu sein. Sie müssen auch lernen die Medien als Mittel und Methode für ihre Interessen, Bedürfnisse und gesellschaftlichen Herausforderungen zu nutzen, ohne ihrer Faszinationskraft zu erliegen. Eltern und Pädagogen sollten sich als Navigatoren verstehen, die den Heranwachsenden helfen selbstgesteuert die Risiken zu bewältigen. Dazu bedarf es eines anderen Lern- und Lehrverständnisses bei der es zu einem komplementären Lernen kommt. Die Schlüsselqualifikation der Mediengesellschaft lautet jedenfalls „Medienkompetenz“. Die große Herausforderung besteht in der Vermittlung von kommunikativer Kompetenz im Umgang mit Medien, wobei mit diesem Begriff u.a. selbstreflexive, kritische, kulturelle, ästhetische, ethische, soziale und handlungsorientierte Aneignungsformen der Medien gemeint sind. Die produktive Integration der Neuen Medien in das Arbeitsfeld Soziale Arbeit und die kritische Auseinandersetzung mit deren Auswirkungen auf die Lebenswelt lässt sich auch als aktuelle Herausforderung für die Soziale Arbeit herausstellen, damit die Verluste sich nicht auf Kosten der Mehrheit und die Erweiterungen zum Nutzen von Einzelnen realisieren.
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Aneignung öffentlicher und virtueller Räume durch Jugendliche Ulrich Deinet
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Einleitung
Ausgehend von der Bedeutung öffentlicher Räume für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen geht es im folgenden Teil um eine differenzierte Betrachtung des öffentlichen Raums auf der Grundlage vorhandener Typisierungen. Dabei wird deutlich: es existiert nicht „der“ öffentliche Raum sondern ein breites Spektrum unterschiedlicher Orte und Räume mit sehr verschiedenen Raumqualitäten aus Sicht von Kindern und Jugendlichen. Mit dem Hinweis auf „mobile Verkehrsräume“ und „virtuelle Stadtöffentlichkeit“ von Schubert (vgl. Schubert 2000) wird auch die eingeschränkte Sichtweise des „Containerraums“ zugunsten eines dynamischen Raumverständnisses überwunden (vgl. Löw 2001). Letzteres beschreibt, wie unterschiedliche Räume durch menschliche Handlungen und Platzierungen an einem Ort entstehen können. Der daran anschließende Teil thematisiert die sozialräumliche Orientierung von Kindern und Jugendlichen vor dem Hintergrund sozialökologischer Modelle, insbesondere die Verinselung jugendlicher Lebenswelten. Anknüpfend an Martina Löw geht es darum, deutlich zu machen, dass sich jugendliche Lebenswelten auf der Grundlage eines dynamischen Raumverständnisses in einem Geflecht von realen physikalischen und virtuellen Räumen entfalten, in denen sich Jugendliche zum Teil gleichzeitig aufhalten. Der Zusammenhang der sozialräumlichen Entwicklung von Jugendlichen kann mit dem Aneignungskonzept sehr gut beschrieben werden, das im vorletzten Teil thematisiert wird. Vor dem Hintergrund des klassischen Aneignungskonzeptes der kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie, hat sich ein modernes Konzept sozialräumlicher Aneignung entwickelt, das sich in seiner Operationalisierung auch auf das Verhalten von Jugendlichen in virtuellen Räumen beziehen lässt. Insbesondere mit dem von Martina Löw (ebd.) geprägten Begriff des „Spacing“ wird die aktive Erschließung von Handlungsräumen durch Jugendliche betont, die in unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen Raumes und von virtuellen Räumen, etwa in Chatrooms, geschieht. Als eine wichtige Entwicklungsaufgabe von Jugendlichen heute wird dabei die Verknüpfung von realen und virtuellen Räumen angesehen. Der abschließende Teil beschreibt methodische Zugänge zu den Aneignungsräumen von Jugendlichen: Hier geht es etwa bei der Nadelmethode oder dem Cliquenraster um die Raumqualitäten bestimmter Orte oder um jugendkulturelle Ausdrucksformen und Stilbildungen im öffentlichen Raum. Vergleichbare Befragungen können das Verhalten von Jugendlichen im virtuellen Raum beschreiben, so, wie in einer aktuellen Jugendstudie in einer Großstadt in NRW. Inwieweit das Verhalten in Chatrooms bzw. im Internet allgemein auch als Aneignungsverhalten interpretiert werden kann, wird im letzten Teil dieses Beitrages
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auf der Grundlage der aktuellen Studie von Ulrike Wagner (2008) zum Medienhandeln in Hauptschülermilieus thematisiert.
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Öffentlicher Raum
Mit Oliver Frey (2004: 170) können drei Typen von öffentlichen Räumen unterschieden werden: „öffentliche Freiräume“ (Grünflächen, Parks, Spielplätze, der Straßenraum…), „öffentlich zugängliche verhäuslichte Räume“ (Kaufhäuser, Shopping-malls, Bahnhöfe…) und „institutionalisierte öffentliche Räume (Sportanlagen, Vereine, Musikschulen, Schulräume, Kirchenräume…)“. Diese Differenzierung ist insofern hilfreich, als sie unterschiedliche Bereiche des öffentlichen Raums beschreibt und die umgangssprachliche Assoziation als Grünfläche, Park etc. hervorhebt. Insbesondere für Kinder und Jugendliche spielen, die öffentlich zugänglichen verhäuslichten Räume, wie Kaufhäuser, Shoppingmalls etc., eine wichtige Rolle. Ebenso aber auch die institutionalisierten öffentlichen Räume, wie Sportanlagen, Vereine, Musikschulen etc. Letzterer Typ weist auf eine Qualität öffentlicher Räume hin, die durch eine bestimmte Nutzungsform entsteht. Das heißt, öffentliche (und andere) Räume erhalten ihre spezifische Qualität durch die Art der Nutzung, Aneignung, Umdeutung und Definition durch Menschen. Dies bedeutet, dass auch institutionalisierte öffentliche Räume (z.B. Schulen) aus Sicht der Kinder und Jugendlichen eine spezifische Aneignungsqualität besitzen (können). Eine sehr differenzierte Beschreibung öffentlicher Stadträume nimmt Schubert (2000: 60) vor (vgl. Tabelle 1). Seine Typisierung geht weit über die von Frey hinaus und schließt z.B. auch virtuelle Stadtöffentlichkeit oder mobile Transiträume (Buslinien etc.) mit ein. Mit dem Begriff „Pattern“ ist hier auch ein Hinweis auf die jeweilige Raumdefinition und Raumqualität verbunden, die sich aus den jeweiligen Benutzergruppen jeweils unterschiedlich erschließt. Damit legt Schubert ein multiples Verständnis der Bereiche des öffentlichen Raumes vor, das auch eine wichtige Grundlage für deren Interpretation sein kann. Zusammen mit dem weiter unten ausgeführten Aneignungskonzept können auf sehr unterschiedliche Qualitäten öffentliche Orte und Räume aus Sicht verschiedener Zielgruppen beschrieben werden. Dies schafft eine große Bandbreite sehr unterschiedlicher Nutzungsweisen und Erfahrungen des öffentlichen Raumes.
Aneignung öffentlicher und virtueller Räume durch Jugendliche
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Tabelle 1: Typologie gelebter öffentlicher Stadträume (Schubert 2000: 60) Nr. 1
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Setting
Pattern
Beispiele
Verteilungspolitische Bereitstellung von Räumen für Öffentlichkeit Religiöse und ethische Orte
Öffentliche Infrastruktur
Freizeitheim, Bürgerhaus, Bibliothek, Museum, Theater, Schwimmbad, Sportplatz, Spielplatz, Stadtteilpark, naturnahe Erholungsbereiche Kirche, Mahnmal, Friedhof
Lokale Räume des Wohnumfeldes Halböffentliche Übergangsbereiche Reservierte Verkehrsflächen Ränder von Verkehrswegen
Auffallende oder formal abweichende Bauwerke Nahbereich der Wohnstandorte Verbindung privat / öffentlich Fahrwege Straßenrand, Kommunikationsinseln
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Mobile Verkehrsräume
Serielle Sitzordnung
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Umfeld von Konsumorten
Markt, Erlebnis, Dienstleistung
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Öffentlich zugängliche Orte für private Tätigkeiten Lokale Mittelpunkte
Orte der Außerhäuslichen Eigenarbeit Zentrum, Aktivitätsknoten Forum, Runder Tisch
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Informelle Mittelpunkte von sozialen Beziehungsnetzen Virtuelle Stadtöffentlichkeit
Internet
Hausnahe Spielplätze, Bänke, Sitzgruppen, kleine Plätze, kleine grüne Verweilzonen Balkone, Terrassen, Wintergärten, Eingangsbereiche, Zufahrten, Werbeplakate Ringstraße, Hauptstraße, Wohngebietsstraße, Bahntrassen, Radwege Bürgersteig, Fußwege, Arkaden, Promenaden, Alleebäume, Straßengraben, wegenahe Grünstreifen; Bahndämme, Bahnhöfe, Airport, ÖPNV-Haltestellen; Telefonzellen, Tankstellen, Straßenkioske, Imbissstände, Stadtinformationssäulen Innenräume von öffentlichen Verkehrsmitteln: Eisenbahn, Stadtbahn, U-Bahn, Bus; Fahrstuhl/Lift, Rolltreppen Konsumorientierte Erlebnisorte: Markthallen, Einkaufszentren, Freiluftmärkte, Passagen, Sportarenen, Volksfestplätze; Dienstleistungsorte: Restaurants, Straßencafés, Bars/Clubs, Warteräume Waschsalons, Autowaschstraßen, Recyclinghöfe, Treffpunkte von Autobastlern Innenstadt, zentrale Plätze, zentrale Promenaden Vereine, Bürgerinitiativen, Versammlungen; Vereinsräume, Treffpunkte öffentlicher Kreise Lokale Chatrooms, Stadtinformationssystem
Für ein erweitertes Verständnis des öffentlichen Raums bedarf es als Grundlage ein Raumverständnis, das nicht mehr von einer Trennung von Subjekt und Raum ausgeht bzw. den Raum als etwas Äußeres betrachtet, den das Individuum betritt, um ihn zu nutzen, zu ge-
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stalten etc. Solche zu überwindende Vorstellungen gehen davon aus, dass Subjekte ohne Raum existieren und dieser mehr oder weniger eine physikalische Gegebenheit darstellt. Löw nennt solche Raumbegriffe „absolutistisch“. Dies meint, „dass Raum als eigene Realität, nicht als Folge menschlichen Handelns gefasst wird. Raum wird als Synonym für Erdboden, Territorium oder Ort verwendet“ (Löw 2001: 264). Auch in der neueren Sozialraumdiskussion findet man den absolutistischen Raumbegriff an vielen Stellen, insbesondere in einer rein formalen Sozialraumorientierung, in der Räume als Stadtteile, sozialgeografisch begrenzte Territorien, definiert werden und erst im zweiten Schritt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Sozialräumen und deren Bewohnern gestellt wird. Löw entwickelt demgegenüber einen dynamischen Raumbegriff, der die Trennung von Subjekt und Raum überwindet: „Meine These ist, dass nur, wenn nicht länger zwei verschiedene Realitäten – auf der einen Seite der Raum, auf der anderen die sozialen Güter, Menschen und ihr Handeln – unterstellt werden, sondern stattdessen Raum aus der Struktur der Menschen und sozialen Güter heraus abgeleitet wird, nur dann können die Veränderungen der Raumphänomene erfasst werden“ (Löw 2001: 264). Räume entstehen durch die Interaktion von Menschen und können für diese sehr unterschiedlich gestaltet sein. Insofern geht Löw davon aus, dass an einem bestimmten Ort (als eindeutig bestimmbare sozialgeografische Lokalisierung, eine bestimmte Stelle unserer Erdoberfläche) unterschiedliche Räume entstehen können, je nach dem, welche Bedeutungen, Veränderungen Menschen den Orten verleihen. Raum ist „eine relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten” (Löw 2001: 271). Damit ist die Grundlage für ein sehr breites Verständnis des öffentlichen Raums gelegt, das sich auch auf virtuelle Räume beziehen lässt. Die Frage ist aber, wie Kinder und Jugendliche diese unterschiedlichen Räume nutzen und wie dabei sehr verschiedene Raumqualitäten entstehen können.
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Die sozialräumliche Orientierung von Kindern und Jugendlichen
Die Frage nach den Räumen von Kindern und Jugendlichen ist auch als eine sozialräumliche zu verstehen. Der Sozialraum-Diskurs wird allerdings sehr stark durch planerische und administrative Aspekte geprägt. In der Diskussion um Sozialräume bzw. eine sozialräumliche Orientierung fehlt oft der Blick der Akteure, etwa der von Kindern und Jugendlichen, die Sozialräume und Stadtteile als Aneignungsräume sehen und spezifische Nutzungen suchen. Es geht also darum, die subjektive Sichtweise des Sozialraums stärker in den Blick zu nehmen. Dabei plädiere ich für ein erweitertes Verständnis des Sozialraumbegriffes, wie er etwa von Kurt Bader verwendet wird. „Der hier verwendete Begriff des Sozialraums bedeutet die erschlossenen und genutzten sozialen bedeutsamen Handlungszusammenhänge, verweist aber gleichzeitig auf bisher unerschlossene und wenige bzw. nicht genutzte Handlungsmöglichkeiten – Möglichkeitsräume. Sozialraum ist hier ausdrücklich als Subjektbegriff verwendet und setzt sich entschieden von einem Begriff des Sozialraums ab, der in den letzten Jahren verstärkt in der Sozialverwaltung als quantitative Raumzuweisung verwendet wird“ (Bader 2002: 55). In Abgrenzung zu einem eher administrativen Begriff des Sozialraums als Planungsraum wird im Folgenden eine stärker subjektorientierte Sichtweise von Sozialräumen als Lebenswelten entwickelt.
Aneignung öffentlicher und virtueller Räume durch Jugendliche
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Um die Bedeutung des öffentlichen Raumes für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu erfassen sind theoretische Bausteine erforderlich, so wie sie in den sozialökologischen Modellen zu finden sind. Die sozialökologischen Modelle von Baacke (1984) und Zeiher (1983) sind geeignet, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und den Räumen, in denen sie leben und heranwachsen. Beide Ansätze gehen nicht explizit auf den öffentlichen Raum ein, sondern beschreiben sehr viel allgemeiner die sozialräumliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bzw. die Struktur subjektiver Lebenswelten in Form des Inselmodells. Baacke geht es darum, „den Handlungs- und Erfahrungszusammenhang Heranwachsender – zunächst ohne weitere theoretische Prätentionen – zu ordnen nach vier expandierenden Zonen, die der Heranwachsende in bestimmter Reihenfolge betritt und die ihn ihrem räumlich-sozialisatorischen Potential aussetzen” zu betrachten (Baacke 1980: 499). In Anlehnung an Bronfenbrenner beschreibt Baacke die Lebenswelt in vier ökologischen Zonen, die das Kind nacheinander betritt: „das ökologische Zentrum, der Nahraum, die Ausschnitte und die ökologische Peripherie“ (ebd.). Dieses Zonenmodell darf man nicht zu statisch verstehen, etwa so, dass die einzelnen Zonen in einem ganz bestimmten Alter betreten werden, sondern als dynamisches Modell, das verschiedene Bereiche der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen systematisch erfasst. Die einzelnen Zonen bieten verschiedene Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten und stellen unterschiedliche Anforderungen an das Kind oder den Jugendlichen (vgl. dazu auch Krisch 2009) Die Vorstellung einer Struktur des kindlichen Lebensraumes als Zonenmodell von konzentrischen Kreisen, die nach und nach erobert werden, kann nach Überlegungen von Zeiher so nicht aufrecht erhalten werden. Wohl bestätigte auch Zeiher die Bedeutung des „ökologischen Nahraums”. Für die Erweiterung des Handlungsraumes über diesen Nahraum hinaus, trifft das Zonenmodell jedoch nur sehr bedingt zu. Die Struktur des großstädtischen Lebensraumes von Kindern und Jugendlichen kann eher mit dem Inselmodell beschrieben werden: „Der Lebensraum ist nicht ein Segment der realen räumlichen Welt, sondern besteht aus einzelnen separaten Stücken, die wie Inseln verstreut in einem größer gewordenen Gesamtraum liegen, der als ganzer unbekannt oder zumindest bedeutungslos ist” (Zeiher 1983: 187). Die Wohninsel ist das ökologische Zentrum, von dem aus die anderen Inseln, wie der Kindergarten, die Schule, das Kinderzimmer eines Freundes in einem anderen Stadtteil etc. aufgesucht werden. Die Entfernungen zwischen den Inseln werden mit dem Auto oder anderen Verkehrsmitteln zurückgelegt. Dabei verschwindet der Raum zwischen den Inseln und wird von den Kindern nicht wahrgenommen: „Im Extrem versinkt der ,Zwischenraum‘ sogar, nämlich in Großstädten mit U-Bahnen, wo er zur Röhre wird, durch die man befördert wird, um anschließend auf einer anderen Insel wieder aufzutauchen” (Rolff 1985: 152). Die Erweiterung des Handlungsraumes vollzieht sich nicht mehr in konzentrischen Kreisen, sondern entsprechend der Inselstruktur. „Die Aneignung der Rauminseln geschieht nicht in einer räumlichen Ordnung, etwa als allmähliches Erweitern des Nahraums, sondern unabhängig von der realen Lage der Inseln im Gesamtraum und unabhängig von ihrer Entfernung” (Zeiher 1983: 187). Martina Löw (2001) entwickelt die skizzierten Raumvorstellungen weiter und formuliert, dass Kinder und Jugendliche heute anders als frühere Generationen keine homogene Raumvorstellung mehr entwickeln können, sondern Raum als inkonsistent erfahren. „Diese
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neue Sozialisationserfahrung bestätigt nicht mehr die Vorstellung im Raum zu leben. Raum wird nun auch als diskontinuierlich, konstituierbar und bewegt erfahren. An einem Ort können sich verschiedene Räume herausbilden. Dadurch entsteht, so meine These, neben der kulturell tradierten Vorstellung im Raum zu leben, d.h. von einem einheitlichen homogenen Raum umgeben zu sein, auch eine Vorstellung vom Raum, die einem fließenden Netzwerk vergleichbar ist“ (Löw 2001: 266).
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Das Konzept der sozialräumlichen Aneignung
Das Aneignungskonzept der kritischen Psychologie ist dazu geeignet, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen als sozialräumliche Aneignung ihrer Lebenswelt zu begreifen. Die Ursprünge des Aneignungskonzeptes gehen auf die sogenannte kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologie zurück, die vor allem mit dem Namen Leontjew verbunden ist. Die grundlegende Auffassung dieses Ansatzes besteht darin, die Entwicklung des Menschen als tätige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und als Aneignung der gegenständlichen und symbolischen Kultur zu verstehen. Die Umwelt präsentiert sich dem Menschen in wesentlichen Teilen als eine Welt, die bereits durch menschliche Tätigkeit geschaffen bzw. verändert wurde. In der materialistischen Aneignungstheorie von Leontjew (1973) wird der Begriff der „Gegenstandsbedeutung“ in den Mittelpunkt gestellt. Genauso, wie im Prozess der Vergegenständlichung, Personen und Gegenstände durch das Ergebnis produktiver Arbeit miteinander verbunden sind, geht es im umgekehrten Prozess der Aneignung für das Kind oder den Jugendlichen darum, einen Gegenstand aus seiner „Gewordenheit“ zu begreifen und sich die in den Gegenständen verkörperten menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten anzueignen. Im Gegensatz zu klassischen entwicklungspsychologischen Ansätzen entwickelt Leontjew damit ein Konzept, das die Entwicklung des Menschen nicht als innerpsychischen Prozess begreift, der mehr oder weniger von „außen“ beeinflusst verläuft, sondern Entwicklung als tätige Auseinandersetzung mit der Umwelt begreift. Als tätigkeitstheoretischer Ansatz wurde das Aneignungskonzept insbesondere von Klaus Holzkamp (1983) weiterentwickelt und auf heutige gesellschaftliche Bedingungen übertragen. In der Individualentwicklung geht es unter diesem Aspekt u.a. um zwei Dimensionen, die biographisch nie abschließbar sind: Die Fähigkeiten der „Bedeutungsverallgemeinerung“ und der „Unmittelbarkeitsüberschreitung“ (vgl. Braun 1994: 108). Der Begriff der Bedeutungsverallgemeinerung meint „zunächst die subjektive Erkenntnis, positive emotionale Bewertung und alltagspraktische Umsetzung der Tatsache, dass die gegenständliche Welt nicht zufällig so ist, wie sie ist, sondern dass in sie eingehen die Erfahrungen und Erkenntnisse einer tendenziell verallgemeinernden und optimierenden Gebrauchsfähigkeit der Gegenstände (vom Besteck über die Möbel und Werkzeuge bis hin zu den Verkehrsmitteln und Massenmedien)“ (Braun 1994:109). Der Leontjewsche Begriff der Gegenstandsbedeutung (als Vergegenständlichung gesellschaftlicher Erfahrung, die im Aneignungsprozess erschlossen werden muss) wird von Holzkamp abstrahiert bis auf die gesellschaftliche Ebene komplexer sozialer Beziehungen, die in der individuellen Entwicklung ebenfalls von einfachen (gegenständlichen) Formen bis zu hochkomplexen Zusammenhängen verallgemeinert werden müssen.
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Der Aneignungsbegriff lässt sich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen aktualisieren. Er meint nach wie vor die tätige Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt und kann, bezogen auf die aktuelle Diskussion um Raumveränderungen, der Begriff dafür sein, wie Kinder und Jugendliche eigentätig Räume schaffen und die (verinselten) Räume ihrer Lebenswelt verbinden. Insofern verbindet sich auch der Begriff der Aneignung mit der von Löw besonders herausgehobenen Bedeutung der Bewegung und der prozesshaften Konstituierung von Raum im Handlungsverlauf. „Tätigkeit“ ist heute nicht mehr (nur) als gegenständlicher Aneignungsprozess im klassischen Sinne zu verwenden. Tätige Auseinandersetzung ist vielmehr auch, die von Kindern und Jugendlichen heute zu leistende Verbindung unterschiedlicher (auch virtueller und symbolischer) Räume. Zusammenfassend kann man den Aneignungsbegriff wie folgt operationalisieren: Aneignung für Kinder und Jugendliche ist
eigentätige Auseinandersetzung mit der Umwelt, (kreative) Gestaltung von Räumen mit Symbolen etc., Inszenierung, Verortung im öffentlichen Raum (Nischen, Ecken, Bühnen) und in Institutionen, Erweiterung des Handlungsraumes (neue Möglichkeiten in neuen Räumen), Veränderung vorgegebener Situationen und Arrangements, Erweiterung motorischer, gegenständlicher, kreativer und medialer Kompetenz, Erprobung des erweiterten Verhaltensrepertoires und neuer Fähigkeiten in neuen Situationen und Entwicklung situationsübergreifender Kompetenzen im Sinne eine „Unmittelbarkeitsüberschreitung“ und „Bedeutungsverallgemeinerung“.
In der Konsequenz bedeutet also die „Aneignung von Raum“ für Kinder und Jugendliche nicht nur die Aneignung schon vorhandener und vorstrukturierter Räume, sondern im Sinne von Martina Löw auch die Schaffung eigener Räume als Platzierungspraxis (Spacing). Gerade der öffentliche Raum hat in Hinblick auf die hier dargestellten Prozesse eine wichtige Funktion als „Bühne“ für Aneignungsprozesse außerhalb von Institutionen, wie Schule oder Jugendarbeit. Die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche keinen homogenen Raum erleben, führt Löw insbesondere auf den Einfluss der modernen Medien zurück: „Was jedoch die Kinder und Jugendlichen betrifft, die mit Cyberspace-Technologien aufwachsen, so ist meine Schlussfolgerung, dass in virtuellen Räumen systematisch wiederholt wird, was bereits in der verinselten Raumaneignung vorgegeben wird: Die Bezugnahme auf einen nicht einheitlichen Raum“ (Löw 2001: 100). Hintergrund der Notwendigkeit der Verknüpfung von Räumen ist die Entwicklung einer räumlichen Inselstruktur sowie die Entstehung unterschiedlicher Räume an einem Ort. Insbesondere durch den Einfluss der neuen Medien, aber auch durch Mobilität und andere Aspekte der Globalisierung, entstehen immer stärker Räume ohne konkrete Ortsbindung: „Raum kann nicht mit einem Ort gleichgesetzt werden, weil somit ein komplexer Prozess auf einen Aspekt, nämlich dem ‚Lokalisiertsein‘ an einem Ort reduziert und die Konstitution verschiedener Räume am gleichen Ort ausgeschlossen wird” (Löw 2001: 270). Aufgrund dieser Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Raumbezüge kann geschlossen werden, „dass die Konstitution von Räumen durch Verknüpfung her-
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gestellt werden muss“. Insbesondere Kinder und Jugendliche konstituieren Räume „in der Zusammenschau einzelner Inseln“ (Löw 2001: 131). Kinder und Jugendliche, die in der Mediengesellschaft bzw. in einer verinselten Lebenswelt aufwachsen, entwickeln also nicht nur gleichzeitig unterschiedliche Raumvorstellungen, sondern auch die Fähigkeit in unterschiedlichen Räumen gleichzeitig zu agieren. Dies bedeutet Herstellen von Verbindungen zwischen unterschiedlichen Räumen, dem konkreten geografischen Ort, an dem man sich gerade befindet, sowie diesem Ort (durch Aneignung) gegebenen Sinnbedeutungen und den anderen Räumen, mit denen man jederzeit kommunizieren kann ( z.B. über Handy) als auch die virtuellen Orten. Abbildung 1:
Das Inselmodell: Deinet in Anlehnung an Helga Zeiher (1983)
Shopping mall Kurs Verwandte Party, Disko Jobim Laden
Pokernim
Sportverein, Sportplatz Wohnort Verein amOrt Bushaltes telle
Internet
Chatroom
Schulzentrumin einemanderen Ortstteil, Verabredungenmit Freunden Schülercafe Jugend gruppe
Inwieweit die Verknüpfung von Räumen möglich ist, hängt u.a. auch von den die Mobilität beeinflussenden Strukturen einer Stadt ab. Dabei hat der öffentliche Raum wieder eine bedeutende Funktion als Medium von Mobilität, Verbindung und Kommunikation.
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Methodische Zugänge zu den „Räumen“ der Jugendlichen
Mit Methoden einer Sozialraumanalyse wird versucht, Räume und Orte von Jugendlichen zu erkunden, ihre Bedarfe und Bedürfnisse einzuschätzen und darauf aufbauend sozialpä-
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dagogische Maßnahmen zu planen. Typisch sind die Verwendung von quantitativen sowie qualitativen Methoden, wie etwa Befragungen von Jugendlichen an Schulen oder an informellen Orten, aber auch qualitative Methoden, die im Rahmen einer Sozialraumanalyse eingesetzt werden, um spezifische Deutungsmuster von Jugendlichen erklären zu können. Beispielhaft lassen sich nach Deinet/Krisch (2003) folgende Erhebungsmethoden nennen:
Befragungen von Jugendlichen Stadtteilbegehung mit Kindern und Jugendlichen Nadelmethode Cliquenraster Institutionenbefragung Strukturierte Stadtteilbegehung Autofotografie Subjektiven Landkarten Zeitbudgets
Exemplarisch werden im Folgenden die Nadelmethode und das Cliquenraster ausführlicher beschrieben. Nadelmethode: Die Nadelmethode ist ein Verfahren zur Visualisierung von bestimmten Orten, das ohne großen Aufwand angewandt werden kann und schnell zu Ergebnissen führt. Bei dieser aktivierenden Methode, die von Norbert Ortmann (1996) entworfen wurde, werden von Kindern oder Jugendlichen verschiedenfarbige Nadeln auf eine große Stadtteilkarte gesteckt, um bestimmte Orte wie Wohngegenden, Treff- und Streifräume, „Angsträume“ etc. im Stadtteil zu bezeichnen. Werden entsprechend bestimmter Kriterien (wie Alter oder Geschlecht) verschiedenfarbige Nadeln verwendet, sind nach Abschluss des Projektes differenziertere Aussagen beispielsweise über von Mädchen präferierte Orte möglich. Diese Methode kann in Institutionen, aber auch im öffentlichen Raum durchgeführt werden, indem z.B. Stadtpläne auf einer mobilen Stellwand oder auf einer Styroporplatte befestigt werden. Sie kann somit dazu dienen, Informationen über spezifische Orte zu erhalten und einen kommunikativen Zusammenhang auf der Straße zu schaffen. Selbstverständlich kann das Verfahren mittels einer weiteren Stellwand und zusätzlichen Nadeln durch andere inhaltliche Fragestellungen und Positionierungen wie z.B. präferierte Freizeitaktivitäten o.ä.m. erweitert werden. Typisch für die Ergebnisse der Nadelmethode sind immer Beschreibungen von Orten, an denen sich Jugendliche aufhalten, die sie meiden und auf die die Forscher hingewiesen werden. Ergebnisse der Nadelmethode verweisen auf Orte (meist im öffentlichen Raum), die für Kinder und Jugendliche sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Gerade die jugendkulturelle Orientierung schafft sowohl Anziehungs- wie auch Abgrenzungsverhalten in Bezug auf die Nutzung einzelner Orte. Cliquenraster: Während die Nadelmethode allenfalls Hinweise auf Nutzungsarten und -orte bietet, kann mit der Methode des Cliquenrasters die Selbstthematisierung von Jugendlichen aktiviert werden, so dass sich die Jugendlichen selbst, aber auch andere Cliquen auch in Bezug auf
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die Orte, an denen sich diese aufhalten beschreiben. Ziel dieser qualitativen Erhebungsmethode ist es, einen differenzierten Blick auf verschiedene Jugendkulturen und deren Verhaltens- und Lebensweisen zu bekommen, um die verschiedenen Bedürfnisse der einzelnen Jugendcliquen in Erfahrung zu bringen (vgl. Deinet/Krisch 2003). Ein besonderes Merkmal ist hierbei die (Raum-)Aneignung und Abgrenzung der verschiedenen Jugendszenen, die vor allem durch die Kleidung und Musikstile deutlich gemacht werden. Hinter einer solchen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe steckt vor allem eine Identifikation mit dieser, aber auch ein hohes Maß an Einheit innerhalb einer Gruppe. Neben den untersuchten objektiven Merkmalen, wie z.B. die Herkunft und das Geschlecht der Mitglieder, interessiert besonders das Verhältnis zwischen den einzelnen Cliquen und mögliche Konflikte. Die Ergebnisse solcher Methoden sind exemplarisch, sehr stark auf einzelne Orte und Räume bezogen und zeitlich sehr begrenzt, weil sich z. B. die Cliquenorientierung innerhalb kurzer Zeit deutlich verändern kann. Nutzbar sind solche Cliquenbeschreibungen etwa für die Fachkräfte der Jugendarbeit, die sich im Rahmen ihrer Angebote mit den unterschiedlichen Jugendkulturen auseinandersetzen müssen, um für diese auch Angebote entwickeln zu können. Eine intensive Beschreibung dieser und weiterer Methoden findet sich in der „sozialräumlichen Methodik der Jugendarbeit“ von R. Krisch (2009). Die von den Jugendlichen selbst gegebenen Hinweise auf den Zuwachs der Bedeutung virtueller Räume führten dazu, dass bei Sozialraumanalysen immer auch die Frage nach virtuellen Räumen gestellt wird. In folgendem Beispiel wird gezeigt, wie im Rahmen einer Sozialraumanalyse in einer nordrhein-westfälischen Großstadt eine Befragung von Jugendlichen an Schulen zu ihrem Verhalten im Internet durchgeführt wurde1: Die Internetnutzung, die täglich stattfindet, beläuft sich bei der Hälfte der befragten Jugendlichen auf einen Zeitraum von zwei bis drei Stunden, 30 % der befragten Jugendlichen verbringen sogar mehr als drei Stunden im Netz. Hingegen nutzt ein deutlich geringerer Anteil von 18 % der „User“ das Internet weniger als eine Stunde täglich. Interessanterweise ergibt sich hier eine Diskrepanz zwischen der angegebenen, tatsächlichen Aufenthaltsdauer und den von den Jugendlichen geäußerten Interessengebieten. Auf die Frage, ob die Freizeitgestaltung vorzugsweise mit Freunden geplant oder im Internet verbracht wird, geben insgesamt 73 % der Jugendlichen an, dass Treffen mit den Freunden wichtiger seien. Bei den vielfältigen Möglichkeiten, die das Internet bietet, stellte sich die Frage nach der tatsächlichen Art der Nutzung durch Jugendliche. Erstaunlicherweise scheint Recherche für schulische Zwecke oder Informationsbeschaffung als Nutzungsmöglichkeit in den Hintergrund zu rücken. Auch die Online-Enzyklopädie „Wikipedia“ findet bei den befragten Jugendlichen wenig Beachtung. Dafür scheint die Unterhaltung durch „Chatten“, „Surfen“ oder Spielen umso wichtiger. Es lässt sich erkennen, dass 60% der befragten Jungen ihre Zeit im Internet mit „Surfen“ und Spielen verbringen. 85% der Mädchen halten sich hauptsächlich in „Chatrooms“ auf. Hier bestätigt sich die auch in anderen Studien (vgl. JIM 1
In welcher Weise das Internet genutzt wird, in welchen virtuellen Räumen sich Jugendliche aufhalten und wie stark dies die realen Treffen mit den Gleichaltrigen ersetzt, untersucht eine Projekt der Fachhochschule Düsseldorf im Rahmen einer Sozialraumanalyse in einer Großstadt. Vgl. Aktuelles Projekt der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung (FSPE) der FH, Düsseldorf, in Anlehnung an einen Beitrag von Christina Wodtke: Virtuelle Räume und Aneignungspraktiken. URL: http://www.sozialraum.de /virtuelle-raeume.php, Datum des Zugriffs: 13.06.2009
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2008, auch Röll in diesem Band) genannte Annahme, dass Mädchen im Vergleich mit Jungen die kommunikationsorientierteren NutzerInnen des Internets darstellen. Besondere Aufmerksamkeit schenken die Jugendlichen in der Befragung so genannten Videoportalen. 88 % der Befragten geben an, diese regelmäßig zu besuchen. Zu den beliebtesten dieser Internetseiten gehören Plattformen, auf denen kostenlos Videomaterial angesehen werden kann wie „Youtube“ und „Myvideo“. Das Spektrum reicht hierbei von Musikvideos, Fernsehmitschnitten bis hin zu selbst aufgenommenen Videoclips von Privatpersonen. Ebenfalls große Zuwendung finden mit 54 % jugendlicher Nutzer so genannte „Internet-Gemeinschaften“. Über Communities, wie „SchülerVZ“ oder „Knuddels“ tauscht man sich auf elektronischer Ebene aus, schließt Freundschaften oder schaut sich die Fotos der virtuellen Freunde an. Ein persönliches Profil vermittelt hierbei den anderen Nutzern Angaben über Hobbies, Interessen manchmal sogar Kontaktdaten, wie Name und Adresse. Insbesondere die Mädchen nutzen neben Chatrooms und „Instant-Messengern“ die kommunikative Ebene des Mediums. Auch wenn diese (kleinräumige) Art von Befragungen sicher in ihrem Ergebnis begrenzt sind und mit den Ergebnissen der großangelegten Studien in Beziehung gesetzt werden müssen, geben sie doch Aufschlüsse auf das Verhalten der Jugendlichen in virtuellen Räumen und deren Nutzung. Qualitative Methoden in diesem Bereich sind meiner Einschätzung nach in diesem Bereich noch nicht so weit verbreitet. Es gibt allenfalls Hinweise z.B. aus Interviews mit Fachkräften und erste Begehungen virtueller Räume mit Jugendlichen. Insbesondere die Tatsache, dass besonders Jugendliche einen versierten Umgang mit dem Medium zeigen und sich diesen größtenteils selbst aneignen, zeigt, wie vielfältig die Möglichkeiten sind, die für Jugendliche in einer simulierten Welt entstehen. Ebenso wie im „realen“ Raum bezieht sich das Erleben in virtuellen Räumen auf selbsttätige Aneignungsprozesse. Diese bieten Kindern und Jugendlichen vielschichtige und zahlreiche neue und interessante Möglichkeiten für Aneignungsprozesse und die Vertiefung bestehender Netzwerke. Gleichzeitig entstehen durch die Eigenschaften virtueller Räume neue Anforderungen an und Herausforderungen für Kinder- und Jugendliche. Es bedarf also einer innovativen Form sozialpädagogischer Arbeit durch die Aneignungsprozesse aufgegriffen und begleitet werden können.
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Auf den Spuren von Aneignungsverhalten in virtuellen Räumen
Aus Sicht der Jugendlichen geht es in der Nutzung des öffentlichen Raums um die Raumqualitäten (die sich auch als Gefahren äußern können), die durch Aneignungsprozesse entstehen. Zu den öffentlichen Räumen gehören vordefinierte Orte wie McDonalds, öffentliche Grünanlagen und selbst geschaffene „Treffpunkte“, zu denen auch virtuelle Räume gehören können, wenn diese zugänglich sind und Interaktion und Kommunikation ermöglichen. Dass sich materielle und virtuelle Räume nur in gewisser Weise vergleichen lassen, erscheint evident, wenn man von dem Faktor der Körperlichkeit ausgeht, der sich in den gegenständlichen Räumen materialisiert, in den virtuellen aber nur symbolisiert. Aus einer sozialpädagogischen bzw. sozialwissenschaftlichen Sicht kann untersucht werden, inwieweit Jugendliche öffentliche bzw. mediale Räume nutzen. Auch wenn hier die Kommunikation im Internet nicht mit der „face-to-face-Kommunikation“ gleichgesetzt werden soll,
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ergeben sich aus der Studie von Wagner (2008) doch zahlreiche Hinweise auf Aneignungsverhalten in virtuellen Räumen. In den Ergebnissen der Studie zum Medienhandeln in Hauptschülermilieus finden sich einige Hinweise auf Aneignungsformen in virtuellen Räumen, wie etwa in der Dimension der Veränderung vorgegebener Situationen und Arrangements: „Die Möglichkeit im Skaterspiel Tony Hawk eigene Parcours zu erstellen und damit selbst Aufgaben zu definieren, wird mehrfach positiv herausgestellt. So berichtet ein 13-Jähriger von einem ActionAdventure, bei dem man neue Level designen könne und sich damit gegenseitig herausfordern, ein anderer 13-Jähriger ist begeistert von der Möglichkeit, auf einem Counter- Strike- Server neue Maps zu erstellen“ (ebd.: 126). Eine Erweiterung des Handlungsraumes spielt z.B. für Mädchen auch ohne häuslichen Internetzugang eine wichtige Rolle. Sie erobern sich trotz dieser begrenzten Möglichkeiten alternative Zugangswege zum Internet. Es lässt sich vermuten, dass die sogenannte „digital divide“ nicht ausschließlich über die Zugänglichkeit thematisiert werden kann (vgl. Kutscher in diesem Band). Besonders auch Mädchen aus Migrantenfamilien können Formen der Raumaneignung im Internet für sich nutzen: „Gerade jene Mädchen mit Migrationshintergrund, die in ihrem Umfeld mit Restriktionen (z. B. was die Zugänge zum Internet betrifft, oder familiäre Regelungen zur Begrenzung des Kontaktes nach außen) umgehen müssen, entwickeln in ihrem medialen Alltag Strategien um ihre Handlungsspielräume zu erweitern. Sie erweisen sich als zielstrebig und kreativ, sie finden Mittel und Wege, sich virtuelle Medienwelten zu erschließen (z. B. über alternative Zugangsorte über Freundinnen und Freunde oder im Internetcafé), die ihnen nicht so leicht zugänglich sind wie den Jungen“ (ebd.: 218).
Die Erweiterung des Handlungsraumes ist eine in zahlreichen Situationen beobachtete Handlungsform der Jugendlichen. Dabei zeigen sich einige Heranwachsende sehr zielstrebig im Hinblick auf eine sukzessive Erweiterung ihrer Fähigkeiten. „Diese Zielstrebigkeit korrespondiert mit der der Suche nach Anerkennung, da diesen Fähigkeiten unter gleichaltrigen hohe Bedeutung zugeschrieben wird“ (ebd.: 212). Zentral aber ist, dass die Jugendlichen ihren Raum durch Kontaktaufnahmen in Chatrooms und Portalen erweitern und nicht in ihrem vertrauten Terrain verbleiben. Reizvoll ist dabei der Kontakt zu Fremden, die einer Erweiterung des eigenen Freundes- und Bekanntenkreises dient (vgl. ebd. 215). Motiv ist aber auch, dass die Größe des zur Schau gestellten Freundeskreises eine hohe Bedeutung hat (vgl. Struckmeyer in diesem Band). Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Dimension der Verknüpfung von Räumen und der damit intendierten Verbindung von virtueller und direkter, face to face Kommunikation. Diese wird anscheinend oft im Internet verabredet, auch im Sinne eines ständigen Wechsels der Kommunikationsräume. Wagner bezeichnet Virtuelle Welten auch als Dorfplätze. Mit diesem Begriff bezieht sie sich insbesondere auf die vielfältigen Möglichkeiten, sich in virtuellen Welten zu vernetzen: „Die Befragten treten in Kommunikation miteinander, vereinbaren gemeinsame Aktivitäten, die dann sowohl online, als auch offline realisiert werden. In den quantitativen Ergebnissen wird deutlich, dass diese kommunikativen Tätigkeiten viel Raum im Gebrauch multifunktionaler Medien einnehmen“ (Wagner 2008: 209). Auch der von Löw betonte Aspekt der Verknüpfung von Räumen kann von Wagner beobachtet werden. Im Sinne der sozial-ökologischen Modelle könnte man auch von einer
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virtuellen Dimension der ökologische Peripherie sprechen: „Insbesondere für Heranwachsende mit Migrationshintergrund bieten virtuelle Räume Vorteile, da sie auch über große Entfernungen am Leben der Familienmitglieder teilhaben können, weil damit eine direkte Kommunikation sehr einfach zu realisieren ist“ (ebd.: 219). Besonders interessant sind Hinweise auf die Fähigkeit vieler Jugendlicher, sich gleichzeitig in verschiedenen Räumen zu bewegen bzw. die unterschiedlichen sozial-räumlichen Möglichkeiten sehr selbstverständlich miteinander zu verknüpfen: „Für viele Befragte sind gerade die kommunikativen Strukturen etwas Selbstverständliches und sie nehmen diese als Bestandteil ihres Alltags wahr. Die versierten unter ihnen wechseln die Kommunikationssphären, je nachdem mit wem sie gerade in Kontakt treten wollen. So nutzen sie bestimmte Räume, bei denen sie davon ausgehen, doch diejenigen zu treffen, mit denen sie gerade zu tun haben wollen“ (ebd.).
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Abschließende Bemerkungen
Die möglichen problematischen Folgen der Nutzung virtueller Räume werden am Ende zusammenfassend angedeutet. Zu beachten ist, dass so gut wie keine Studien vorliegen, die sich mit den Folgen der sozialräumlichen Veränderungen des Aufwachsens beschäftigen. Lothar Böhnisch (2002) spricht im Zusammenhang der Nutzung virtueller Räume durch Jugendliche auch von „parasozialen“ Räumen: „Je enger die soziale und kulturelle Umwelt für die Jugendlichen wird, je weniger selbstständiges Aneignungsverhalten möglich ist, desto mehr verbreitet sich die Tendenz, sich in mediale, parasoziale Räume begeben zu müssen, vielleicht sich sogar ihnen auszuliefern, vor allem dann, wenn man nicht mehr sozial eingebettet ist, keinen alltäglich-konkreten sozialräumlichen Rückhalt hat“ (ebd.: 71). Vergleichbares konstatiert Wilhelm Heitmeyer mit seinem Hinweis auf die möglichen Folgen der verinselten Lebenswelt, ohne diesen Aspekt aber theoretisch oder empirisch zu untermauern: „Mit einem verinselten Lebensraum kann man nicht in gleicher Weise verwachsen, wie mit einem einheitlichen Lebensraum. Die Folgen zeigen sich in Verlusten von Kontinuitätserleben und Konsistenzgefühlen“ (Heitmeyer 1966: 18). Die Nicht-Einbettung der virtuellen Räume in die Lebenswelten von Jugendlichen bedingt auch Gefahrenpotenzialen, die gerade mit der nicht physischen Anwesenheit in diesen Räumen zu tun haben könnte. So berichten LehrerInnen und SchulsozialarbeiterInnen über Formen von Mobbing und Bullying im Bereich von Hauptschulen (vgl. auch Struckmeyer in diesem Band): Es wird berichtet, dass diese indirekte psychische Form der Gewalt häufig oder immer wieder vorkommt und auch oftmals in Verbindung mit dem Internet und dortigen Plattformen entsteht oder ausgeübt wird. „Es gibt viele Konflikte, die sich dann eben nicht mehr nur hier abspielen, sondern im Schüler-VZ oder auch in anderen Foren oder über E-Mail“ (Interview mit Schulsozialarbeiterin). Oder: „Ja das ist ganz, ganz viel, ich meine die Plattformen sind natürlich „msn“ und „Schüler-VZ“. Das macht Gewalt natürlich viel einfacher“. Nach Ansicht der Befragten birgt das Internet dabei ein großes Konfliktpotenzial: So entstehen nach den Angaben der Schulsozialarbeiterin erst viele der Auseinandersetzungen in Chaträumen, Foren und auf den von den Schülern viel genutzten Plattformen. Genannt
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werden hier vor allem Internetseiten, wie „Schüler-VZ“ und msn, in deren virtueller Welt die Ausübung von Gewalt entsteht und stattfindet. Ursächlich dafür sehen sie die für die Jugendlichen scheinbare Anonymität des Internets sowie den Umstand, dass ein Konflikt leichter indirekt als direkt ausgetragen werden kann. Eine Schulsozialarbeiterin weist darauf hin, dass vielen der Schüler nicht bewusst ist, dass das Internet ein öffentliches Medium ist, das letztendlich fast für jeden zugänglich und somit auch für alle lesbar ist (Quelle: Interviews mit SchulsozialarbeiterInnen in einem laufenden Projekt der FH Düsseldorf). Mit diesem kurzen Hinweis auf mögliche Aspekte der Nutzung der Raumqualitäten von virtuellen Räumen für die Austragung von Konflikten und der damit verbundenen Gefahren, bleibt am Ende des Beitrags eine ambivalente Einschätzung zum Aneignungsverhalten von Jugendlichen im öffentlichen Raum. Sozial-räumliche Aneignungsprozesse finden in öffentlichen Räumen statt. Des Weiteren gibt es viele Anhaltspunkte dafür, dass Jugendliche gerade virtuelle Räume in starkem Maße aneignungsorientiert nutzen. In wieweit sie aber auf virtuelle Räume ausweichen und sich aus ihren „realen“ Räumen zugunsten virtueller Räume zurückziehen, bleibt zu erforschen. Die eingeschränkte Kommunikation in virtuellen Räumen schränkt aber anscheinend deren Aneignungsmöglichkeiten nicht ein. Sie scheinen sich jedoch im Vergleich zu den „realen“ Räumen zu verändern, etwa im Sinne der Verknüpfung von Räumen. Gewalt und Verdrängungsverhalten sind im öffentlichen Raum immer schon ein Thema gewesen, denkt man etwa an den „Kampf um die Spielplätze“ oder die Verdrängung bestimmter Cliquen aus ganzen Stadtteilen. Die Verdrängung Jugendlicher aus dem öffentlichen Raum (vgl. Deinet u.a. 2009) ist ein breites gesellschaftliches Problem, und die virtuellen Räume bilden auch deshalb für Jugendliche hoch attraktive Ausweichräume, da sie hier gegenüber den meisten Erwachsenen einen echten Vorsprung in Bezug auf Handhabung und Nutzung haben. Literatur Baacke, D. (1980): Der sozialökologische Ansatz zur Beschreibung und Erklärung des Verhaltens Jugendlicher. In: Deutsche Jugend, Jg. 28, Heft 11/1980, S. 493-505. Baacke, D. (1984): Die 6-12jährigen. Weinheim. Bader, K. (2002): Alltägliche Lebensführung und Handlungsfähigkeit. Ein Beitrag zur Weiterentwicklung gemeinwesenorientierten Handelns. In: Stiftung Mitarbeit: Alltagsträume, Lebensführung im Gemeinwesen Beiträge zur Demokratieentwicklung von unten Nr. 18. Bonn, S. 11-60. Böhnisch, L. (2002): Räume, Zeiten, Beziehungen und der Ort der Jugendarbeit. In: Deutsche Jugend, Jg. 50, Heft 2/2002, S. 70-77. Braun, K.-H. (1994): Schule und Sozialarbeit in der Modernisierungskrise. In: Neue Praxis 24, 2/1994, S. 107-118. Deinet, U./Okroy, H./Dodt, G./Wüsthof, A. (Hrsg.): Betreten erlaubt! Projekte gegen die Verdrängung Jugendlicher aus dem öffentlichen Raum, soziale Arbeit und sozialer Raum Bd. I. Opladen/Farmington Hills 2009. Frey, O. (2004) Urbane öffentliche Räume als Aneignungsräume. Lernorte eines konkreten Urbanismus? In: Deinet, U./Reutlinger, Ch. (Hrsg.): „Aneignung“ als Bildungskonzept der Sozialpädagogik. Beiträge zur Pädagogik des Kindes- und Jugendalters in Zeiten entgrenzter Lernorte. Opladen, S. 219-233. Heitmeyer, W. (1996): Die gefährliche Zerstückelung von Zeit und Raum. Zu den Folgen wachsender sozialer Desintegration (Vortragsdokumentation). In: Frankfurter Rundschau 26. 9. 1996, S. 18. Holzkamp, K. (1973): Sinnliche Erkenntnis. Frankfurt am Main.
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II. Professionelle Herausforderungen der Arbeit mit Neuen Medien
Medienpädagogische Kompetenz in der Sozialen Arbeit Bernward Hoffmann
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Kompetent oder: „Das Problem sitzt meistens vor dem Monitor“
Man könnte meinen, die heutige Medientechnik sei kompetent geworden. Aber dieser Sprachgebrauch wäre irritierend, weil Technik zwar etwas kann, aber nichts weiß; kompetent sind Menschen, nicht Sachen. Kompetenz von Menschen ist relativ, aber in unserer von wirtschaftlichem Kalkül dominierten Gesellschaft sehr gefragt. Doch dies gilt nicht für jede Art von Kompetenz gleichermaßen. Sie muss schon gewinnbringend sein. Die meisten Kompetenzen beispielsweise, die in der TV-Show „Wetten dass“ präsentiert werden, sind außerhalb des Sendeformats und Showeffekts wenig nützlich. Und es ist legitim zu fragen, wozu die unbestreitbaren Kompetenzen eines versierten Computerspielers taugen. Kompetenz ist ein abstrakter und für sich leerer Begriff. Wer gefragt wird, ob er kompetent ist, wird vermutlich mit einer Gegenfrage nach dem Gegenstand der Kompetenz fragen oder ausweichend antworten: „Kommt darauf an ...“. Wann ist jemand in Bezug auf einen Sachverhalt oder in einem bestimmten Bereich kompetent? Gehört dazu eher Können oder Wissen oder beides, gehören z.B. auch Entscheidungsbefugnis, Mut etwas zu tun und moralische Haltung bzw. Verantwortung und ein sinnvoller Anwendungsbezug oder gar Abweichen vom Gewöhnlichen und Normalen dazu? Offensichtlich muss Kompetenz einen Sachbezug haben. Sie bezieht sich auf einen bestimmten in der Regel abgrenzbaren Bereich des Könnens und/oder Wissens eines Menschen. Ein Beispiel: Ein 15jähriger Jugendlicher bescheinigt sich selbst Handykompetenz und ist von seinen Eltern auch als „kleiner Spezialist“ anerkannt. Er kann seinen mobilen Minicomputer in seinen unterschiedlichsten Funktionen bedienen. Er kann telefonieren, Nummern speichern, das Adressbuch verwalten, SMS schreiben und empfangen, mit dem Gerät ins Internet gehen, Fotos und Videos damit machen und Musik darauf abspeichern, anhören und verschicken. Im guten Fall weiß er auch noch Bescheid über seinen Tarif und kennt Vergleiche zu anderen Flatrate-Möglichkeiten. Aber kann er damit auch gute Fotos machen? Weiß er eine kleine Videosequenz gut zu gestalten? Entdeckt er auch neue soziale Möglichkeiten mit seinem Gerät? Darf er mit seinem Handy alles tun, was es technisch kann, und weiß er über entsprechende rechtliche und ethische Grenzen Bescheid? Seit gut einem Jahrzehnt wird als abstrakte Chiffre für solche Art von Kompetenzen, die sich auf ein Medium oder die Medien beziehen, das Wort „Medienkompetenz“ benutzt. Aber: Was benutzt wird, nutzt sich auch ab; das gilt für den Begriff, sollte allerdings weniger für die Sache gelten. Wer seine Kompetenz anbringen und erproben kann, wird sie damit auch erweitern und festigen. Medienkompetenz gilt als zentrales Ziel medienpädagogischer Bemühungen. Schon einer der Väter dieses Begriffs, Dieter Baacke, hat ihn als „empirisch leer“ bezeichnet und anschließend differenziert und konkretisiert. Baacke (1999) unterscheidet mit Medienkritik und Medienkunde zwei Dimensionen der Vermitt-
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Bernward Hoffmann
lung und mit Mediennutzung und Mediengestaltung zwei Dimension der Zielorientierung im Handeln der Menschen. 1.
2.
3. 4.
Medienkritik ist eine „reflexive Rückbesinnung auf das, was über sozialen Wandel lebensweltlich und medienweltlich geschieht“. Sie soll analytisch problematische gesellschaftliche Prozesse (z.B. Konzentrationsbewegungen) angemessen erfassen. Reflexiv sollten medienkompetente Menschen in der Lage sein, das analytische Wissen auf sich selbst und das eigene Handeln anzuwenden. Ethisch sollten analytisches Denken und reflexiver Rückbezug als sozial verantwortet abgestimmt und definiert werden. Medienkunde als Wissen über heutige Medien und Mediensysteme hat eine informative (Wissen über Systeme, Genres etc.) und eine instrumentell-qualifikatorische (Können der Gerätebedienung ...) Dimension. Mediennutzung muss rezeptiv, anwendend (Programm-Nutzungskompetenz) und interaktiv, anbietend (Interaktion) erlernt werden. Mediengestaltung kann innovativ (Veränderungen, Weiterentwicklungen des Mediensystems innerhalb der angelegten Logik) und/oder kreativ (Betonung ästhetischer Varianten, die Grenzen der Kommunikationsroutine überschreitend) sein.
Diese Dimensionen einer Medienkompetenz finden sich etwas vermischt auch in den Formulierungen der „Europäischen Charta für Medienkompetenz“ wieder: medienkompetente Menschen sollten fähig sein, „die Medientechniken verantwortungsbewusst zu nützen, um durch Zugriff, Speicherung, Abruf und gemeinsame Nutzung von Inhalten ihre individuellen und gemeinschaftlichen Bedürfnisse und Interessen abzudecken; Zugriff auf zahlreiche Medienformen und Inhalte unterschiedlicher kultureller und institutioneller Quellen zu erhalten und eine sinnvolle Wahl treffen zu können; zu verstehen, wie und warum Medieninhalte produziert werden; die von den Medien verwendeten Techniken, Sprachmuster und Konventionen sowie die übermittelten Botschaften kritisch zu analysieren; die Medien kreativ zu nutzen, um Ideen, Informationen und Meinungen auszudrücken und weiterzugeben; unerwünschte, Ärgernis erregende oder schädliche Medieninhalte und Mediendienste zu erkennen, zu vermeiden oder zu hinterfragen; Medien für die Ausübung ihrer demokratischen Rechte und staatsbürgerlichen Aufgaben wirksam zu nutzen“ (www.euromedialiteracy.eu). Fragt man im nächsten Schritt, auf welchen Sachbereich konkret sich Medienkompetenz denn bezieht, steht die nächste Irritation bevor. Bei der Frage, was denn ein Medium bzw. was Medien sind, scheiden sich Alltagswissen und kritische Betrachtung. Der Begriff Medien (Plural) ist im Allgemeinverständnis reserviert für die technischen Individual- und Massenmedien. Ein Buch ist ein Medium und das Telefon auch Zeitung, Radio und Fernsehen sind Medien. Aber sind Computer, Mobiltelefone und Internet auch ein Medium oder Medien? Oder sind das nicht eher komplette Medienensembles? Beim Singular des Wortes bzw. im mediendidaktischen Kontext tauchen weitere Abgrenzungsprobleme auf: Was ist ein Medium? Funktional betrachtet vermittelt und speichert ein Medium Kommunikation auch über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg. Pädagogisch betrachtet ist ein Medium ein Vermittlungs-Instrument für Kommunikation in
Medienpädagogische Kompetenz in der Sozialen Arbeit
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Lern-, Erziehungs- und Bildungsprozessen. Musik-CD, Fernsehapparat und konkrete Sendung können dann ebenso mediale Funktion haben wie Tafel, das Stück Kreide oder die Geste des Lehrers, ein Spruch oder ein Lied oder die Kleidung eines Menschen usw. Auch das Piercing, das ein Teenager trägt, ist ein Medium, wenn es in seiner kommunikativen bzw. symbolischen Funktion betrachtet wird. Gelegentlich hilfreich ist die folgende Unterteilung:
primäre Medien sind mit der Person des Menschen unmittelbar verbunden (Gesten, Kleidung ...) und können ohne weitere Hilfsmittel genutzt werden; sekundäre Medien brauchen zumindest auf der Produktionsseite technische Hilfsmittel (z.B. das Foto); tertiäre Medien benötigen auf der Produktions- und Rezeptionsseite technische Hilfsmittel. Als weiterer aktueller und eigenständiger Bereich müssten aktuelle Formen der Netzmedien hinzukommen, die teils nahtlos mit direkt-peronaler Kommunikation verwoben sind.
Jedes Medium hat einen materialen und einen symbolischen Aspekt. Material ist z.B. das Speichermedium, der Datenträger etc. Die symbolische Dimension ist die Bedeutung, der Inhalt eines materialen Trägers, der zwar vom Produzenten oder Sender in das Material eingeschrieben sein kann, aber seine Bedeutung erst in der Konstruktion durch den Nutzer im konkreten Kontext der Rezeption entfaltet. Medienpädagogische Kompetenz muss auf jeden Fall diese Grunderkenntnis bezüglich medialer Kommunikation berücksichtigen. Zwar kann ein Medium Inhalte und Bedeutungen speichern und über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg transportieren, aber die tatsächliche Bedeutung entfaltet erst der Nutzer im Prozess der Rezeption in einer je konkreten Situation. Und an dieser Bedeutung ist der Rezipient aktiv konstruierend mit seinem Wissen, seiner Person, seiner Vorgeschichte beteiligt. Dieser konstruktivistische Grundgedanke ist für jeden Kommunikationsprozess gültig, den direkt-personalen wie den medialen. Und da auch Lernprozesse auf Kommunikation beruhen, gilt auch hier: Lernen ist eine aktive Konstruktion des Lernenden – in der Regel auf der Basis eines Angebots. Bevor der Frage weiter nachgegangen werden kann, welche medienpädagogischen Kompetenzen die Soziale Arbeit braucht oder besser Mitarbeiter in der Sozialen Arbeit brauchen, muss kurz auf Diskussionen um den Gegenstandsbereich Sozialer Arbeit und dessen Bezug zur Pädagogik eingegangen werden.
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Gegenstand von Sozialer Arbeit: Lebensbewältigung besonders in Risikosituationen
Der Gegenstand von Pädagogik ergibt sich aus der Bildsamkeit, der Erziehungsbedürftigkeit und Lernfähigkeit des Menschen und dies gilt in unterschiedlicher Ausprägung wohl für alle menschlichen Gesellschaften. Soziale Arbeit ist demgegenüber ein Phänomen der modernen Gesellschaften, eine Notwendigkeit als Folge der Industrialisierung und der
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damit verbundenen veränderten Lebensformen und neuen sozialen Ungleichheiten, ist Teilfunktion eines Sozialstaates. Eine „heile“ Inselgesellschaft braucht vermutlich keine Soziale Arbeit. Soziale Arbeit basiert auf menschlichem Hilfehandeln, das dem Menschen als positive Grundeigenschaft zugerechnet werden kann. Damit sie nicht im Helfersyndrom versackt, wird sie professionalisiert. Individuelle und vor allem soziale Probleme sollen durch Hilfeleistungen gemildert und möglichst behoben werden. In der Moderne wuchs die Erkenntnis, dass soziale Problemlagen nicht naturgegeben und einfach so da sind, sondern sozial konstruiert, d.h. von der Gesellschaft produziert und von gesellschaftlich dazu ermächtigten Menschen oder Gruppen als Problem definiert sind. Und zu ihrer Bearbeitung und bestenfalls Behebung ist nicht nur direkte Hilfeleistung z.B. in Form von Geld nötig, sondern Erziehung, Bildung, Lernen spielen eine Rolle. Dafür organisiert und finanziert ein Sozialstaat zwar ein umfangreiches schulisches Ausbildungssystem, das aber offensichtlich nicht ausreicht und dessen Erziehungsfunktion auch kritisch angefragt, auf jeden Fall aber begrenzt ist. Sozialpädagogik als Teil von oder eigenständiger Bereich neben Sozialarbeit „entwickelte sich innerhalb der Erziehung als Unterstützung der Bewältigung von Anpassungsund Normalitätserwartungen der Moderne und als Hilfe und Unterstützung des Individuums zur Entfaltung seiner Bildungs- und Entwicklungschancen“ (von Spiegel 2008: 21). Auch wenn viele Denker und manche Praktiker bereits in früheren Jahrhunderten die prinzipielle Freiheit und Mündigkeit des Menschen betonten, bedeutete Erziehung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein vor allem Hineinziehen in einen herrschenden Normenund Wertekodex, also Inklusion in die jeweils herrschenden Verhältnisse. Erst allmählich setzten sich Grundtheoreme wie Emanzipation, Freiheit des Individuums, soziale Gerechtigkeit und Recht auf Bildung als prinzipielle Grundwerte zumindest theoretisch in der Pädagogik durch. Dies sind Voraussetzungen für Medienkompetenz. Der Sozialarbeit und Sozialpädagogik wurden also in ihrer relativ jungen Geschichte eines Jahrhunderts die Unterstützungs-, Versorgungs- und Erziehungsleistungen zugewiesen, die aufgrund gewandelter gesellschaftlicher Lebensbedingungen von primären Sozialsystemen (z.B. Familie) nicht mehr übernommen werden konnten. Mit den Bemühungen um Anerkennung der Disziplin Sozialarbeitswissenschaft wurden sozialpädagogische und sozialarbeiterische Bereiche unter dem Dach Soziale Arbeit vereint. Die Annäherungen an eine Bestimmung des Gegenstands Sozialer Arbeit erfolgen über eine Analyse ihrer gesellschaftlichen Funktion und den fachwissenschaftlichen Diskurs. Hiltrud von Spiegel (2008) nennt exemplarisch vier aktuell einflussreiche Theorien Sozialer Arbeit: (1) Soziale Arbeit als Bearbeitung sozialer Probleme (vgl. StaubBernasconi 1995), (2) als organisierte Hilfe zur Inklusionsvermittlung, Exklusionsvermeindung und Exklusionsverwaltung (vgl. Bommes/Scherr 2000), (3) die lebensweltorientierte Soziale Arbeit (vgl. Thiersch 1997) und (4) ein Konzept der Sozialen Arbeit als Dienstleistung (vgl. Otto/Olk 2003). „Alle Theorien betonen die wechselseitige Bedingtheit von staatlichem Auftrag, institutioneller Organisation und personenbezogener Arbeit mit den Adressaten und alle fokussieren mehr oder weniger ausdrücklich eine Arbeit an Problemen (und der Stärkung der Ressourcen) mit dem Ziel
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der ‚Normalisierung’, sodass sich die Konturen der Sozialen Arbeit hiermit gut umreißen lassen“ (von Spiegel 2008: 35).
Eine solch knappe Skizzierung im Kontext dieses Beitrags kann natürlich der Differenziertheit der verschiedenen Ansätze nicht wirklich gerecht werden. Aber es sollte deutlich werden, dass alle Ansätze dem Primat gesellschaftlicher Funktion folgen und eine primäre Orientierung an Problemen in allen Ansätzen Sozialer Arbeit zu finden ist. Eine pädagogische Dimension, die Stärkung der Ressourcen, wird nicht ausgeklammert, aber eben nur in einer Klammer eingefügt. Mit der Vereinigung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik unter dem Dach Soziale Arbeit und den Bemühungen um die Profilierung einer wissenschaftlichen Fachdisziplin wurde m.E. zugleich ein Trend erkauft, den man als Defizitorientierung markieren kann: Soziale Arbeit ist für soziale Probleme zuständig, aber doch nicht für alle (z.B. Umweltschutz), bzw. für manche Probleme ist sie nur partiell bzw. neben anderen zuständig. In Absetzung von der allgemeinen Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft ist Soziale Arbeit für die problematischen Fälle, die gescheiterten, die nicht-integrierten Menschen zuständig. Diese Sicht ist vor allem defizitorientiert, setzt am Scheitern an und nimmt damit auch die gesellschaftliche Funktionszuweisung auf, Reparaturdienst zu sein. Eine soziale Pädagogik müsste den Aspekt betonen, dass Hilfe nicht erst dann einsetzen darf, wenn die eigenen Ressourcen nicht mehr ausreichen. Der gesetzliche Auftrag in unserem Land ist allerdings weiter gefasst. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz bzw. Sozialgesetzbuch VIII als Grundlage des gesamten Bereichs der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland umfasst grundsätzlich einen pädagogischen Erziehungsauftrag, etwa wenn § 1, Abs. 3 als Aufgabe benennt: „junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern“. Soziale Arbeit hat damit auch einen pädagogischen Auftrag (= Sozialpädagogik), nämlich entsprechenden sozialen Problemen vorzubeugen, Ressourcen zu stärken, eine gelingende Lebensbewältigung zu ermöglichen. Hier schließt der Ansatz der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit an (vgl. Thiersch 1997). Dieser geht davon aus, dass Pluralisierung und Individualisierung der Lebensverhältnisse in unserer aktuellen Gesellschaft eine große Variationsbreite von Möglichkeiten und Freiheiten bedingt, aber darin zugleich der Zwang und das Risiko der ständigen Entscheidung und des Scheiterns steckt. In der „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) geht es grundsätzlicher darum, Ressourcen zu stärken, damit Probleme möglichst vermieden werden und Lebensbewältigung gelingen kann. Dabei scheint der Grad der Komplexität moderner Gesellschaften deutlich mehr Menschen als früher zu überfordern und auf dem Fortschrittsweg bei Seite oder zurück zu lassen. Das wirkt sich auch auf die Motivationslage vieler Menschen aus, ihre Sozialisation selbst in die Hand zu nehmen, ihre Bildung zu betreiben. Wenn das nicht mehr erfolgversprechend scheint, ziehen (junge) Menschen möglicherweise die Orientierungsmuster der Spaßgesellschaft und ihrer Medien vor. Die Therapiemittel gegen soziale Problemlagen werden schon zu „normalen“ Mitteln der Lebensbewältigung (z.B. Ritalin nicht als Medikament zur Behandlung der sog. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, sondern als Mittel zur Konzentrations- und Leistungssteigerung). Die pädagogische Dimension Sozialer Arbeit ist besser aufgehoben, wenn man nicht von sozialen Problemlagen, sondern von Lebensbewältigung spricht. Aufgabe Sozialer Arbeit ist es dann, Lebensbewältigung zu ermöglichen. Ihr Gegenstandsbereich sind alle
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nicht versicherbaren Lebensrisiken. Zuerst kommt die erzieherische, Bildung ermöglichende und begleitende Hilfe zur Lebensbewältigung, dann erst der Reparaturdienst. Ein Beispiel mag dies an einer aktuellen medienpädagogischen Thematik verdeutlichen: Derzeit wird vergleichsweise viel über exzessive Computerspielnutzung diskutiert (vgl. auch Cleppien/Scholz in diesem Band). Als Problembeispiel wird dabei vor allem das OnlineRollenspiel „World of Warcraft“ (WoW) genannt. Exzessive Nutzung, wenn sie bestimmte Merkmale erfüllt, wird von manchen auch als Computerspielsucht bezeichnet, verbunden mit der Forderung, sie im Katalog der Suchtkrankheiten offiziell anzuerkennen. Ob WoW bestimmte Spielmerkmale hat, die einer entsprechenden suchtartigen Nutzung Vorschub leisten, ist ein Analysegegenstand der Gamestudien. Wenn Computerspielsucht als psychische Störung klassifiziert und anerkannt wird, sind Medizin, Psychologie und Psychiatrie gefragt. Wird sie eher als Verhaltensstörung begriffen, wären pädagogisch Maßnahmen angesagt. Und wenn diese Problematik nicht nur einzelne Individuen betrifft, sondern als größerer Problemkontext von Computerspielnutzern und vielleicht auch besonders Heranwachsenden zugeordnet wird, wird exzessive Computerspielnutzung als soziales Problem eingeordnet und an die Zuständigkeit Sozialer Arbeit übergeben. – Und was macht die dann? Akzentuiert man die Defizitorientierung Sozialer Arbeit, dann färbt das auch auf Medienpädagogik in diesem Bereich ab; Medien werden zum Risikofaktor einer „normalen“ Entwicklung (vgl. populäre Buchtitel wie „Die neuen Medien machen uns krank“, „Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen durch Medien“, W. Glogauer; „Vorsicht Bildschirm!“, M. Spitzer 2005; „Da spiel ich nicht mit!“, R. Hänsel 2005), sind notwendiges Übel der Moderne (N. Postman: „Das Verschwinden der Kindheit“; „Wir amüsieren uns zu Tode“), und Soziale Arbeit wird zur Reparaturinstanz gegenüber diesen mächtigen und verführerischen Medien. Bewahrender bzw. verbietender Kinder- und Jugendschutz, Aktionen gegen Computerspielsucht durch Verbote, vereinzelte und oft an Nutzerinteressen vorbeigehende Gestaltung von Medien zur Aufklärung etc. passen dazu. Pädagogisch müssten die Wirklichkeit und ihre Chancen und Risiken zur Lebensbewältigung stärker unter positiven Aspekten wie Lern-, Erziehungs- und Bildungschancen betrachtet werden. Die Teildisziplin Medien-Pädagogik bezieht diese Aspekte auf den Gegenstands- und Handlungsbereich Medien. Die pädagogische Beziehung von Ich und Wirklichkeit ist durch Medien mitbestimmt. Wirklichkeit ist heute nicht nur vielfältig durch Medien vermittelt, sondern wird von Medien mitdefiniert. Eine Pädagogik ohne Berücksichtigung von Medien ist daher praktisch nicht möglich. „Keine Bildung ohne Medien“ ist ein von zentralen Verbänden im März 2009 publiziertes „Medienpädagogisches Manifest“ überschrieben (vgl. www.gmk-net.de).
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Die folgende Matrix versucht die beiden Orientierungen nochmals anhand einiger Stichworte gegenüberzustellen:
Medienpädagogik & Soziale Arbeit Leitgedanke
Fokus Mittel
Reichweite
Handlungsbasis
Problem-/ Defizit-Orientierung Wie sind Beeinträchtigungen (der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen) durch Medien möglichst gering zu halten? Gefahren, Defizite, Probleme Einschränkungen des Zugangs, Reglementierungen, Kontrollen; therapeutische Maßnahmen Begrenzt auf kontrollierbare soziale Kontexte (Familie etc.); ggf. national verbindlich Gesetze; strukturell verankert Ein gewisser ethischer Grundkonsens: Freiheit und Autonomie für Erwachsene. Befunde der Psychologie und Medienforschung
Pädagogische Orientierung Wie können eine die Entwicklung fördernde Einstellung zu Medien und ein kompetenter Umgang mit Medien gelingen? Chancen; Medienaneignung in soziokulturellen Kontexten Anregungen, Angebote, Räume für autonome Erfahrungen
nur punktuell als Pflichtaufgabe verankert; wenig Wissen über Nachhaltigkeit; braucht Strukturen und Kontinuität (statt neuer Projekte) Ethischer Grundkonsens; interdisziplinäre Erkenntnisse; päd. (Praxis-)Erfahrungen
Es gibt zweifellos soziale Problemlagen, die mit Medien zu tun haben, von Medien verstärkt werden, teils vielleicht sogar von ihnen (mit) verursacht sind. Sie können resultieren aus mangelnder Medienkompetenz bezüglich einer Nutzungsweise von Geräten und Programmen, die dem Individuum förderlich wäre (so wie sich ja auch Menschen falsch ernähren). Eine einseitige und zeitlich extensive Nutzung ist fragwürdiger. Sozial wenig verträgliche bis rechtlich problematische Medieninhalte und -formen können Probleme verstärken. Aber im Vergleich zu anderen Formen sozialer Problemlagen (Armut, Krankheit, Behinderung etc.) ist es in der Regel nicht so einfach, eine konsensfähige Definition der Problemsituation zu erreichen, die primär auf die genutzten Medien oder die Nutzungsweisen zurückzuführen ist. Monokausale Erklärungen sind in Sachen Medien meist das falsche Etikett, wie einige (teils überzeichnete) Beispiele deutlich machen: extensive Computerspieler sind isolierte Sozialphobiker; Fans von Splatterfilmen sind latente Kannibalen; Kinder, die zu viel Zeit vor dem Fernsehen und mit Computerspielen verbringen, sind phlegmatisch, dick und unbeweglich und haben ein reduziertes Sprachvermögen; Menschen mit Migrationshintergrund, die bevorzugt Internet-Plattformen in ihrer Muttersprache nutzen, sind weniger integrierbar; Jugendliche, die bevorzugt Egoshooter spielen und Actionfilme präferieren,
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sind latent gewaltbereiter. Es gibt solche Beispiele, aber immer auch genau gegenteilige. Mit einseitigen Kausalzuweisungen werden von Medien mitbedingte Problemlagen nicht angemessen erfasst. Im Gegenteil wird dadurch das komplexe Geflecht von Mediennutzung und -wirkung im Kontext individueller Lebensbewältigung banalisiert. Medienmissbrauch und negative Medienwirkungen haben ihre eigentliche Ursache kaum in den Medien(-inhalten) selbst. Vielmehr liegen die Ursachen in problematischen Lebenssituationen und Persönlichkeitsstrukturen der betroffenen Menschen. Aus Problemund Belastungssituationen bieten Medien einen vorübergehend funktionierenden, oft aber die falsche Richtung stärkenden Fluchtweg, das ergibt eine Problemspirale. Gegen Missbrauch bzw. negative Medienwirkungen mit einem Kampf gegen die Medienformen und -inhalte anrennen zu wollen, trifft nicht den zentralen Aspekt der Problematik. Die Lebensumstände müssten angegangen werden, Alternativen ermöglicht werden. Medienpädagogik in diesem Sinne ist nicht primär gegen etwas gerichtet, sondern verfolgt positive Ziele. Nicht die Problemlagen und nicht die Medien sind Gegenstand der Medienpädagogik in Sozialer Arbeit, sondern der Mensch, der mit ihnen umgeht. Für die Menschen heute stellen die sie umgebenden Medien eine Chance ihrer Lebenswelt und ein „Risiko“ ihrer je spezifischen Lebensbewältigung dar. Dies ist allerdings nicht isoliert zu sehen, sondern immer im Verbund mit anderen Aspekten ihrer Persönlichkeit und ihrer Lebenswelt. Ohne ein gewisses Maß an ständig zu aktualisierender Medienkompetenz ist in unserer Gesellschaft ein „normales“ Leben kaum mehr zu bewältigen. In der schon vorher zitierten Europäische Charta für Medienkompetenz heißt es positiv formuliert: „den Menschen ermöglichen: ihre Erfahrungen mit unterschiedlichen Medienformen und -inhalten zu erweitern; kritische Fähigkeiten zur Analyse und Bewertung der Medien zu entwickeln; kreative Fähigkeiten zur Nutzung der Medien für Ausdruck und Kommunikation sowie Teilnahme an der öffentlichen Debatte auszubilden“ (www.euromedialiteracy.de). Das gilt nicht nur für Bildungsbürger, sondern für alle Menschen unserer Gesellschaft.
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Aspekte von Medienpädagogik in der Sozialen Arbeit
Die Grenzen zwischen einer die Ressourcen stärkenden Pädagogik und einer Reparatur bzw. Kompensation von Problemlagen sind fließend, müssen aber gerade deshalb ständig und sehr sensibel bearbeitet werden. Medienpädagogik hat auch in der Sozialen Arbeit das Ziel Medienkompetenz zu vermitteln. Solche Kompetenz brauchen aber nicht nur Adressaten, sondern auch die Institutionen Sozialer Arbeit und ihre Mitarbeiter selbst. Wenn man Medienkritik und Mediennutzung differenziert nach einer individuellen und mikrosoziologischen Ebene und einer makrosoziologischen bzw. gesellschaftlichen Ebene, dann ergibt sich folgende Matrix:
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Aktive Nutzung und Gestaltung Partizipation Neue Sozial-Räume individuell / mikrosozio- Medienkompetenz logischer Blick & Soziale Arbeit Medien z.B. als Informa- Wahrnehmung tions- und Lernspeicher, Beeinflussung Information aber auch als EinflussMeinungsbildung faktoren; kritische Nutzung muss gelernt, gerechter Zugang ermöglicht werden. Medien z.B. als Mittel kreativer Erfahrung und Produktion
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Medien z.B. als Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit. Makrosoziologisch / gesellschaftlicher Blick Medien prägen z.B. öffentliche Meinung und Images; soziale Benachteiligung muss angemessen thematisiert und ausgeglichen werden.
Überträgt man Baackes Aspekte von Medienkompetenz auf Soziale Arbeit, dann ergeben sich beispielsweise folgende Schwerpunkte: Medienkritik im Kontext Sozialer Arbeit muss ihr Augenmerk darauf richten, wie Beispiele der Lebensbewältigung von Menschen (fiktional und non-fiktional) vorgeführt werden und wie soziale Probleme durch Medien dargestellt und mit definiert werden. Außerdem muss sie die Mediensysteme kritisch beobachten und analysieren, inwieweit sie Partizipation ermöglichen und ggf. einer Aufteilung der Gesellschaft in Informationsreiche und -arme Vorschub leisten (vgl. auch Klein sowie Kutscher in diesem Band). Ebenfalls ist unter ethischer Perspektive darauf zu achten, wie und was Medien über Menschen und ihre Probleme berichten (dürfen). Eine am Ethos Sozialer Arbeit orientierte Medienkritik muss Partei ergreifen für in verschiedener Hinsicht benachteiligte Menschen (z.B. Kinder). Medienkunde aus der Perspektive Sozialer Arbeit muss allen Menschen zugänglich sein und auf ihr jeweiliges Vorwissen abgestimmt werden. Hier ist sicher als eines der primärsten Instrumente jede Form von Sprachförderung zu nennen. Die Bedienung von Geräten und das Wissen um Medienstrukturen, Genres etc. sind nur eine Vorbedingungen für einen verstehenden Zugang, wie unterschiedliche Menschen Medien nutzen, welche Präferenzen und Nutzungsweisen sie tatsächlich haben und wie Medien und ihre Inhalte den Menschen für ihr Leben nützlich sind oder sein können. Mediennutzung im Kontext Sozialer Arbeit muss handlungsanleitend und orientierend sein: Menschen pädagogisch zu einer selbstbestimmten Nutzung anleiten bzw. Medienkommunikation und -technologie menschendienlich nutzen. Mögliche durch Medien (mit)bedingte kommunikative Problemlagen müssen als solche markiert und bewusst gemacht und zu zu ihrer Bewältigung beitragen werden. Mitarbeiter in der Sozialen Arbeit müssen darüber hinaus die Mechanismen der Medienöffentlichkeit kennen, um sie einerseits für die Interessen des eigenen Arbeitsbereiches bzw. im Sinn der Lobbyarbeit für ihre Klientel zu
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nutzen, andererseits aber auch bei Bedarf kritisch Distanz zu wahren (vgl. Straub in diesem Band). Mediengestaltung in der Sozialen Arbeit muss entsprechend ihren Möglichkeiten und bezogen auf ihre je spezifische Klientel Räume öffnen und Zugänge schaffen, innovativ und kreativ Medien probieren zu können, und muss Partizipation ermöglichen. Hier können auch aufgrund gesellschaftlicher Machtverhältnisse und ökonomischer Interessen dominierende Formen der Medienkommunikation und -gestaltung kritisch in Frage gestellt und durch Alternativen kontrastiert werden.
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Medienkompetenz in der Sozialen Arbeit
Im Folgenden werden einige zentrale Punkte bestimmt, die ein umfassenderes Verständnis von Medienkompetenz in der Sozialen Arbeit betreffen. Punkt 1. Soziale Themen und Probleme sind durch Medien geprägt. Medieninhalte und -formate müssen durch Berufsrollenträger als ein Bedingungsfeld Sozialer Arbeit kontinuierlich und kritisch wahrgenommen werden. Soziale Arbeit als Kommunikationsberuf hat es mit Menschen zu tun, die jeweils in spezifischen kulturellen Milieus leben, die sich u.U. von denen der professionellen Mitarbeiter deutlich unterscheiden. Diese Teilkulturen sind immer durch besondere Formen von Medienrezeption und -nutzung mitbestimmt. Diese gilt es zunächst möglichst wertneutral in ihrer Funktion für die Menschen wahrzunehmen. Warum wird beispielsweise eine arbeitslose Frau in der Hochhausanonymität zur Fernseh-Vielseherin? Welche Lebensorientierung holt sie sich aus Talkshows? Wie könnten Alternativen aussehen? Soziale Probleme spiegeln sich in unseren Massenmedien. Die Medien spiegeln die Agenda der relevanten Themen, aber sie bestimmen sie auch. Man kann das Phänomen der Daily-Talkshows (der Gerichts-Shows etc.) im Fernsehen belächeln und die Nase darüber rümpfen. Aber 50% unseres Fernsehpublikums gehören zum Adressatenkreis dieser nachmittäglichen Talkshows. Dort wird ein Stück Leben abgehandelt. Dort wird Orientierung gesucht und angeboten. Mediale-Ratgeberformate (z.B. „Domian“ im WDR) provozieren Rückfragen an Beratungsbedarf und seine Deckung. Mit diesem Medien-“Spiegel“ gesellschaftlicher Realitäten muss sich Soziale Arbeit auseinandersetzen. Soziale Probleme werden u.a. in medialen gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen als solche diskutiert und definiert. Konkret: Wenn ein Sozialarbeiter in einem örtlichen Jugendzentrum arbeitet, dann kann ihm nicht egal sein, was in der Lokalzeitung über Jugendliche, über Migranten, über Kriminalität und weitere Themen steht, die junge Menschen des Ortes betreffen. Wenn die jugendlichen Besucher der Einrichtung gerne Counterstrike spielen, DSDS (Deutschland sucht den Superstar) oder „Germanys next Topmodel“ verfolgen, und die Eltern eines „Problemjugendlichen“ auf RTL „Die Ausreißer“ oder „Teenager außer Kontrolle“ sehen, dann muss ein Sozialarbeiter von heute sich mit diesen Medienformaten auseinandersetzen und sie in sein Deutungswissen einbeziehen.
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Punkt 2. Soziale Arbeit ist ein Kommunikationsberuf, als solcher der Öffentlichkeit verpflichtet und auf die Nutzung medialer Kommunikation angewiesen. Als Kommunikationsberuf ist Soziale Arbeit darauf angewiesen, Menschen zu erreichen. Sie muss ihre Adressaten informieren und ansprechen und der Öffentlichkeit Rechenschaft geben. Soziale Arbeit steht mit ihren Angeboten (egal ob Straßenfest, ob Beratungsangebot, ob Streetwork etc.) in Konkurrenz zu und unter dem Einfluss von Medienwelten. Das müssen Fachkräfte selbstkritisch wahrnehmen lernen, um Frustrationen zu vermeiden. Zugleich müssen sie lernen, die verfügbaren Medien für eine konstruktive Öffentlichkeitsarbeit zu nutzen, zur Herstellung und Pflege von „public relations“, von öffentlichen Beziehungen. Multiplikatoren brauchen heute eine weite kommunikative Kompetenz und Kreativität, um Menschen zu erreichen und in der Vielfalt der Angebote nicht unterzugehen. Und Soziale Arbeit hat den Auftrag, sich mit ihrer Klientel zu solidarisieren, um die gesellschaftliche Bedingtheit ihrer Problemlagen grundlegender anzugehen. Sie muss Lobbyarbeit für betroffene Menschen betreiben und ihnen Partizipation an gesellschaftlicher, d.h. medialer Kommunikation ermöglichen. Gute Beispiele für diese Thematik sind das multidimensionale Phänomen der sog. „Straßenzeitungen“ oder die Öffentlichkeitsarbeit der „Aids-Hilfe“ als Sozialer Arbeit. Punkt 3. Soziale Arbeit muss Begleitung, z.T. auch Schutz für (bevorzugt junge, heranwachsende) Menschen gegenüber den Risiken der Medienwelten bieten. Aktuelle Medienwelten enthalten – wie andere Lebensbereiche auch – Risiken, die für Heranwachsende besonders problematisch sein können. Den Illusionen, durch sogenannte Star-Search-Formate im Fernsehen selbst berühmt werden zu können, muss kritisch konstruktiv entgegengewirkt werden. Viele Jugendliche, die in die Mühlen solcher Contests geraten, gehen weniger darin auf, als darin unter. Wer sich auf die Bühne öffentlicher Medienpräsentation begibt, muss sich der Folgen auch im unmittelbaren sozialen Umfeld bewusst werden. Wie jeder Bürger unseres Landes das Recht auf den Schutz seiner Persönlichkeitssphäre und seiner persönlichen Daten hat, so haben nicht nur Kinder ebenfalls dieses Recht, sondern sie sind aufgrund begrenzten Wissens möglicher Folgen auch in besonderer Weise zu schützen und zu begleiten. So wie es einen gesellschaftlichen Konsens gibt, dass Kindern und Jugendlichen der Zugang zu Alkohol bis zu einem bestimmten Alter verwehrt wird und beispielsweise auch ihre Geschäftsfähigkeit eingeschränkt ist, so müssen sie auch im Bereich der Medien mit langsam wachsender Verantwortung und entsprechend nachlassender Begleitung groß werden. Ein Beispiel dafür ist die Nutzung des sog. Web 2.0 zu Kommunikations- und Selbstdarstellungszwecken. Kinder- und Jugendmedienschutz hat entsprechend Art. 5 unseres Grundgesetzes immer dann eine Berechtigung, wenn die Entwicklung Heranwachsender durch die Nutzung eines entsprechenden Medienangebotes nachhaltig gefährdet ist. Dafür gibt es keine zeitlos gültigen Kriterien. Entsprechende Normen sind ständig im gesellschaftlichen Prozess neu auszuhandeln. Daran muss sich Soziale Arbeit in der Funktion eines Anwalts für Kinder und Jugendliche beteiligen.
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Punkt 4. Soziale Arbeit muss die Funktion von Medien als Hilfsmittel für Menschen zur Lebensbewältigung in besonderen Problemlagen deutlich machen und unterstützen. Massen-Medien prägen z.B. das Bild von Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Land oder auch von (Menschen mit) Behinderungen. Sie definieren ihren Sonderstatus mit. Zugleich erleichtern technische Medien den Menschen das Leben, ermöglichen ihnen Dinge, die sonst nicht möglich wären. Generell können Medien für verschiedenste Formen der Benachteiligung und Behinderung eine wertvolle Hilfe sein; das müssen entsprechende Profis Sozialer Arbeit wahrnehmen und wissen. Dieser Aspekt spielt in der Medienpädagogik allgemein kaum eine Rolle, muss aber im Kontext Sozialer Arbeit Beachtung finden. Einige Beispiele:
Nutzung von kostengünstigen Internet-Telefon und -Kommunikationsangeboten, um den Kontakt zum Herkunftsland zu halten; parallele Nutzung heimatlicher TV-Programme über Satellit, Computerprogramme als geduldige Nachhilfelehrer für alle Menschen, die beim lernen von Sprachen, Vokalen, Rechnen etc. Schwierigkeiten haben, Computerprogramme für Menschen mit Legasthenie oder autistischen Störungen, Mediale Kommunikations- und Kontaktmöglichkeiten für Selbsthilfegruppen und ältere Menschen und Videotext, Fax, E-Mail in der Kommunikation von gehörlosen Menschen. Ebenso Radiozeitung oder Computer-Sprachumsetzung für blinde Menschen.
Punkt 5. Soziale Arbeit muss dazu beitragen, soziale Benachteiligung in Sachen Medienzugang und Medienkompetenz auszugleichen. Daten der Mediennutzung zeigen, dass Medien schichtspezifisch unterschiedlich genutzt werden. Bereits die Zugänge sind von Bildung und finanzieller Situation abhängig. Entgegen früher Hoffnungen, etwa durch Vorschulprogramme wie „Sesamstraße“ Bildungsunterschiede auszugleichen, weiß man inzwischen: Durch Mediennutzung werden Bildungsunterschiede kaum ausgeglichen sondern die sogenannte Wissenskluft eher verschärft. Für solche auch als „knowledge gap“ (Wissenskluft) oder „digital divide“ bezeichnete Ungerechtigkeiten in den Möglichkeiten der Lebensgestaltung muss Medienpädagogik im Sozialbereich einen kompensatorischen Ausgleich schaffen. Entsprechende Gruppen von Benachteiligten sind besonders zu fördern, Chancengerechtigkeit muss politisch eingeklagt und auch umgesetzt werden. Unser marktwirtschaftliches, an Quoten orientiertes Mediensystem bedient (rund um die Uhr) die Zielgruppen mit den Medieninhalten, die sie vermeintlich wollen. Dem kompetenten Mediennutzer steht per Internet und künftiger Online-Nutzung aller anderen erdenklichen Medien die ganze Welt symbolisch informell zur Verfügung. Aber auf der anderen Seite gibt es immer mehr Menschen, die nicht mehr mitkommen, die von der Infotainment-Flutwelle mitgerissen werden und zu ertrinken drohen, die aus ihrer drückenden Realität in einen narkotisierenden Unterhaltungsslalom flüchten. Ausgleich von Benachteiligung auch in Sachen Medienkompetenz muss sich jede soziale Pädagogik ganz oben auf die Fahnen schreiben.
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Zu sozialem Ausgleich von Benachteiligung und Förderung von Medienkompetenz gehören auch das Lernen mit Medien und der Bereich nicht-medialer Alternativen. Medienverhalten ist eine Funktion im gesamten Lebenskontext des Individuums. Durch Bewahrung oder Aufklärung sind nur in geringstem Umfang hier Veränderungen zu erreichen. Es müssen auch die Chance und der Zugang zu alternativen Lebens- und Erlebensmöglichkeiten geboten werden. Der gesamte Bereich der Gestaltungspädagogik und erlebnispädagogische Ansätze auch mit Medien bieten hier ein weites Aktionsfeld. Dabei zeigt sich ganz deutlich, dass eine Medienpädagogik, die sich auf die Technik der Medien fixiert, immer zu kurz greift. Punkt 6. Es geht nicht nur um ein Lernen gegenüber sondern mit Medien. Sie sind wichtige didaktische Hilfsmittel für intentionale Lernprozesse auch außerhalb der Schule und müssten als solche viel stärker genutzt werden. Unser Schulsystem ist noch immer sehr stark von sprachlichen Kompetenzen abhängig und auf kognitive Wissensaneignung ausgelegt. Die diversen Bildungsstudien haben für Deutschland deutlich gemacht, dass die Bildungschancen in Deutschland sehr stark von der Herkunft und dem Bildungshintergrund abhängig sind. Unser schulisches System verstärkt das. Soziale Arbeit hat hier die Funktion, Benachteiligungen auszugleichen. Dann müssen sich die dort angesiedelten Bildungsangebote aber auch von schulischer Bildung unterscheiden. Hier bieten audiovisuelle Medien und deren praktische Nutzung große Chancen. Mediendidaktik ist nicht auf schulische Lernprozesse beschränkt, sondern gerade in vielen Förderprogrammen Sozialer Arbeit müssen diverse Medien didaktisch sinnvoll und an den Zielgruppen orientiert eingesetzt werden. Dazu müssen Sozialarbeiter eine entsprechende mediendidaktische Kompetenz erwerben, die auch Formen aktiv-produzierender Medienarbeit mit einschließt. Punkt 7. Prinzipiell allen Menschen muss eine soziale Pädagogik kreative Entdeckungen und ästhetische Gestaltungen auch mit technischen Medien ermöglichen. „Gestaltungspädagogik“ als Erlebnis und Erfahrung sowie kreative Gestaltungen für den Einzelnen und kleine Gruppen ist auch mit technischen Medien möglich. Praktische Medienarbeit ist einerseits ein „Königsweg“, um Menschen etwas über die Wirkmechanismen der Medien erfahren zu lassen. Andererseits sollten technische Hilfs- und Ausdruckmittel gleichrangig neben den traditionellen ästhetischen Medien (Musik, Kunst, Tanz, Theater etc.) stehen. Praktische Medienarbeit darf nicht nur in vereinzelten Projekten stattfinden, sondern muss sich als Lernbereich im schulischen Ganztag und in allen Bereichen offener pädagogischer Angebote etablieren. Einblicke in die (inter-)aktive Nutzung des sogenannten Web 2.0 gerade durch junge Menschen machen deutlich, dass auch technische Medien Instrumente kreativer Erfahrungen und Gestaltungen und eines entsprechenden Ausdrucks von Individuen in der Öffentlichkeit sind. Ob jemand als Hobby und kreatives Feld für sich Musik, Tanz, Sprache, Spiel oder Foto, Video, Computer entdeckt und nutzt, ist prinzipiell gleichwertig anzusehen. Und wer solche Bereiche als junger Mensch für sich entdeckt, entwickelt darin zumeist ein Stück die eigenen Ressourcen stärkende Medienkompetenz.
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Punkt 8. Soziale Arbeit muss der globalen Medienwelt lokale Aneignungen in Kontexten Sozialer Kulturarbeit zur Seite stellen. Was im vorhergehenden Punkt eher auf den einzelnen Menschen bezogen benannt wurde, gilt auch für soziale Gruppen in unserer Gesellschaft. Sozialpädagogik und Soziale Arbeit bieten ihre Dienste bevorzugt in Institutionen oder Einrichtungen an, die in konkreten Bereichen überwiegend lokal verortet sind. Gemeinwesenarbeit wird neben Einzel- und Gruppenarbeit als Methode Sozialer Arbeit gehandelt. Sie ist aber auch ein Aktionsrahmen. Konkrete Soziale Arbeit vor Ort hat den lokalen Bezug ernst zu nehmen. Die Welt der Medienangebote ist global organisiert und ihre ökonomische Auswertung geschieht im Weltmaßstab. Aber die Aneignung der globalen Medieninhalte geschieht weiterhin lokal. Jugendliche nutzen beispielsweise Landes- oder gar weltweite Communities im Internet. Aber in der Regel stammen die Mehrzahl der Freunde und Partner solcher virtueller Gemeinschaften aus dem lokalen Bezugsraum. Mit den Schulfreunden vom Vormittag wird der Kontakt nachmittags über Schüler-VZ, ICQ oder andere Kommunikationstools fortgesetzt. Und welche Musik Menschen hören oder welche Medienangebote sie bevorzugen, ist in der Regel stärker vom Geschmack der sozialen Bezugsgruppen abhängig als vom globalen Mainstream. Gegen die globale Weltmacht der Medien-Vereinheitlichung muss die kreative Aneignung und soziale Nutzung lokal unterstützt werden. Entsprechend können Formen lokaler Gemeinwesenarbeit bzw. sozialer Kulturarbeit vor Ort die unterschiedlichsten Medienangebote in ihre Arbeit sinnvoll integrieren. Sie müssten manche der Medienangebote in einem ersten Schritt erst einmal als neue soziale Räume akzeptieren. Punkt 9. Medienpädagogik als ästhetische Erziehung und soziale Kulturarbeit: Medienpädagogik muss die Sachproblematik Medien klären und die Ressourcen der Menschen stärken. Das geschieht de facto in den letzten Jahrzehnten medienpädagogischer Arbeit vor allem durch praktische (Projekt-)Arbeit mit Medien. In den Studiengängen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik an Fachhochschulen wurde mit deren Gründung Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts fast in allen Studienordnungen ein ästhetischer Fachkomplex eingeführt. Der Bereich firmiert unter verschiedenen Bezeichnungen: Ästhetik und Kommunikation, (soziale) Kulturarbeit, soziokulturelle Animation (Frankreich, Schweiz), Gestaltungspädagogik und teilweise wurde dafür auch generell (mit einem gewissen Recht irreführend) die Bezeichnung Medienpädagogik verwendet. Entsprechend dieser Teilfächer muss Medienpädagogik als Erziehung (Lernchance, Bildungsraum) zur sozialen Kommunikationsfähigkeit mit unterschiedlichsten Gestaltungsmedien konzipiert sein. Sozialpädagogische Medienarbeit will Erziehung der Sinne und soziale Kulturarbeit zugleich sein: Menschen aus ihrer Medien-Konsumhaltung herauslocken; Anregung zu eigener Aktivität geben, um die eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren, eigene kreative Fähigkeiten zu entdecken und sich aktiv in die eigene und soziale Lebensgestaltung einzumischen; die Motivationskraft der Gestaltungsmedien für solche Aktivierungen nutzen und gleichzeitig Erfahrungen und Kompetenzen im Umgang mit Medien ermöglichen; über die Mediengestaltungen auch inhaltliche Auseinandersetzung mit Lebensthemen und -risiken anregen; die Gestaltungen in soziale Erfahrungsprozesse einbinden (das Produkt ist nicht alleiniges Ziel, sondern der soziale Entstehungsprozess ist gleich
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wichtig); sich mit den Gruppenergebnissen wiederum kommunikativ an andere Menschen bzw. Öffentlichkeiten wenden. Der einleitende Satz, dass die Probleme in Sachen Medienkompetenz eher vor dem Bildschirm zu suchen sind, mag stimmen. Aber Medienkompetenz ist pädagogisch betrachtet keine Kompetenz von Medientechnik in Menschenhand, sondern eine soziale und kommunikative Kompetenz im Umgang mit medialen Angeboten und Möglichkeiten. Auf die Interessen und Bedürfnisse der Menschen vor den Displays und Bildschirmen, auf ihre Sehnsucht nach Lebensbewältigung, zielt medienpädagogische Kompetenz in der Sozialen Arbeit.
Literatur Baacke, D. (1999): Medienkompetenz als zentrales Operationsfeld von Projekten. In: Ders. u.a.: Handbuch Medien: Medienkompetenz. Modelle und Projekte. Bonn, S. 31-35. Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main. Bommes, M./Scherr, A. (2000): Soziologie der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in Formen und Funktionen der Sozialen Arbeit. Weinheim. Hoffmann, B. (2003): Medienpädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Paderborn. Hoffmann, B. u.a. (Hrsg.): Gestaltungspädagogik in der Sozialen Arbeit. Paderborn 2004. Otto, H.-U./Olk, Th. (Hrsg.): Soziale Arbeit als Dienstleistung. Grundlegungen, Entwürfe und Modelle. Neuwied 2003. Staub-Bernasconi, S. (1995): Systemtheorie, soziale Probleme und soziale Arbeit: lokal, national, international. Oder: vom Ende der Bescheidenheit. Bern. von Spiegel, H. (2008): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. 3. Auflage. München. Thole, W. (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 2. Auflage. Wiesbaden 2005. Thiersch, H. (2008): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im Wandel. 7. Auflage. Weinheim/München.
Medien als Orte informellen Lernens? Anja Hartung
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Der Problemhorizont
„Bildung trotz Computer?“ fragen Ende der 1980er Jahre zehn Autor/innen einer Publikation, deren erklärtes Ziel es ist, „eine Zwischenbilanz zu ziehen und zu fragen, ob das Bildungssystem erkennbar aus der Einführung des Informatikunterrichts Nutzen gezogen oder daran Schaden genommen hat, ob Bildung wegen oder trotz Computern im Bildungswesen stattfindet“ (Schorb u.a. 1989: Vorwort [o.S.]). Zeithistorischer Hintergrund dieses Anliegens ist das zunehmende Eindringen des Computers in die Lebens- und Lernwelten der Menschen und seine Auswirkungen auf das Schul- und Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Referiert werden die Ergebnisse unterschiedlicher Studien, die Einblick geben in das auf den Computer bezogene Verständnis und Handeln von Jugendlichen und Eltern und die nicht zuletzt empirischer Anlass sind, Status quo und mögliche Entwicklungen zu skizzieren. Hier konstatiert etwa Hans-Günther Rolff (1989), dass mit dem Einzug Neuer Medien „ein unübersehbarer Verlust an Bedeutung von Schule eingetreten“ (ebd.: 95) sei und spitzt diesen noch einmal polemisch zu, in dem er das „Szenario“ einer „Zwangsentschulung durch Neue Medien“ entwirft. So sei es angesichts der (Wirk-)Möglichkeiten neuer Technologien beispielsweise „in Zukunft nicht mehr ausgeschlossen, dass man über ein digitalisiertes Telefonnetz zu Hause Schul- und Studienabschlüsse nachholen kann“ (ebd.: 97). Die „sogenannten [sic] Fernsehkinder“, so argumentiert Rolff weiter, „entgleiten den Lehrern heute schon in vielen Schulen. Vernetzte Heimcomputer und Teletotal nehmen der Schule noch mehr an Attraktivität, zumindest, was die staatliche Schule als auch die öffentlich organisierte Bildung anbelangt“ (ebd.: 104). Nur zwölf Jahre später verspricht eine Publikation der Reihe „Bildungsräume digitaler Welten“ über den ‚Bildungswert des Internet’ zu informieren (Marotzki/Meister/Sander 2000). Damit trägt es dem heute kaum mehr hinterfragten Umstand Rechnung, dass die Entwicklung der Gesellschaft wesentlich von neuen Informationstechnologien geprägt ist, welche intersubjektive Prozesse der Sozialisation, des Lernens und der Bildung unhintergehbar mitbestimmen und als solche „zu den großen Herausforderungen“ (ebd.: 115) der Gegenwart zählen. Der hier nur knapp und eher illustrativ skizzierte Diskurs thematisiert eine Entwicklung und Perspektivverschiebung, die Wissenschaftler/innen dazu veranlasst, grundlegende Konzepte der Erziehungswissenschaft und Pädagogik neu zu denken. Angesichts der zunehmenden Ausweitung und Bedeutung der Medien im Lebensalltag des Menschen hinterfragen sie die Gestalt und Entstehungsbedingungen von Lernprozessen und sprechen dabei insbesondere den neuen Medien eine zentrale Rolle zu. Mit der lern- und bildungstheoretischen Fokussierung der Neuen Medien, wie sie in beiden Publikationen vorgenommen wird, gerät der Stellenwert formalisierter, didaktisch konzeptionalisierter und an pädagogische Institutionen gebundener Lern- und Bildungsprozesse in das Zentrum der Aufmerksamkeit und wird in seiner Zentralität offenbar fragwürdig, wenngleich jener Bedeutungs-
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verlust unterschiedlich bewertet wird. Es ist so auch kein Zufall, dass in diesem Zusammenhang ein Lernkonzept innerhalb und außerhalb der scientific community an Popularität gewinnen sollte, das mit dem Etikett ‚informelles Lernen’ nun genau jene Dimension von Lernprozessen in den Blick nimmt, die weniger intendiert, vermittlungsbezogen und pädagogisch-institutionell gerahmt sind. Damit wird auf Lernprozesse abstellt, die nicht bewusst oder absichtsvoll herbeiführbar und die deshalb auch häufig in (Medien-)Sozialisationsprozesse eingebunden sind. Während die Autoren der ersten Veröffentlichung Lernen – dem Zeitkontext entsprechend – indes noch wesentlich vermittlungsbezogen konzeptionalisieren und im Kontext der Schule verorten, zu welcher die Medien quasi in concurrentia geraten, werden Neuen Medien in der späteren Veröffentlichung Lern- und insbesondere Bildungswerte zugewiesen, die auf einem Lern- und Bildungsverständnis beruhen, dass weder an pädagogische Institutionen gebunden ist, noch didaktisch begriffen wird und das kaum mehr hinreichend mit dem Topos des informellen Lernens zu treffen ist. Im Folgenden möchte ich unter Bezugnahme auf aktuelle Erkenntnisse und Diskursfelder ein heute nach wie vor virulentes Konstrukt auf seine begriffliche Reichweite und zeithistorische Plausibilität hinterfragen und dabei zentrale sozialpädagogische Problemfelder skizzieren.
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Herkunft und Konzeptionalisierung des Terminus ‚informelles Lernen’
Betrachtet man, was mit dem viel bemühten Topos des informellen Lernens eigentlich konkret gemeint ist, so stößt man zunächst auf ein schwer überschaubares Feld unterschiedlichster interdisziplinärer Diskurse, die dieses auf verschiedenen Ebenen, in Anschluss an unterschiedliche Denktraditionen und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Interessenlagen und Zielperspektiven fassen. Auf diese Weise entfaltet die Rede vom informellen Lernen eine Beliebigkeit, deren gemeinsames Zentrum lediglich darin begründet ist, ein im abstraktesten Sinne Pendant zum formalen und institutionalisierten Lernen auf einen Begriff zu bringen. Zur Unbestimmtheit und Vagheit des Konzeptes ‚Informelles Lernen’ trägt weiter bei, dass im Diskursfeld unterschiedliche Begriffe miteinander in Berührung geraten, die nicht immer trennscharf zueinander sind, aber doch aus unterschiedlichen epistemologischen Perspektiven entstammen und verschiedene Denkmodelle bezeichnen. Die hier häufig implizite Verwischung insbesondere der erziehungswissenschaftlichen Grundkonzepte Lernen, Sozialisation und Bildung aber ist nicht nur auf mangelnde analytische Sorgfalt zurückzuführen. Denn wenn das Konzept des informellen Lernens auf jene Lernprozesse fokussiert, die sich in Abgrenzung zu erzieherischen Maßnahmen, in alltäglichen, sozialen und problembezogenen Lebenszusammenhängen ereignen (Sozialisation), wird hier gleichsam einer Entwicklung Rechnung getragen, die kaum mehr unter das tradierte Verständnis von Lernen zu subsumieren ist. Gehen wir vom Ideengehalt des Konzeptes des informellen Lernens aus, so lassen sich erste theoretische Explikationen bereits im frühen 20. Jahrhundert finden. Bereits John Dewey (1997: 9) betonte die Relevanz von Erfahrung in Lern- und Bildungsprozessen und wies in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit informeller Lernweisen hin, die er
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als entscheidende Grundlage für formale Bildungsszenarien verstand. Und auch Paulo Freire (1974) und Ivan Illich (1972) vertraten mit ihrer Kritik an der Institution Schule eine Idee von Lernen und Bildung, in deren Zentrum gerade die Selbstbestimmung und Selbstbemächtigung der Lernenden stand. Der konkrete Benennungs- und Problematisierungskontext des Informellen Lernens ist mit der Bildungspolitik in Entwicklungsländern bezeichnet, in deren Zusammenhang Lernen seit jeher unter den spezifischen Bedingungen mangelnder Bildungsressourcen wie -möglichkeiten diskutiert wurde. Im Kontext empirischer Studien, die sich mit der Vermittlung und dem Erwerb etwa von Problemlösungskompetenzen im Schneiderhandwerk auseinandersetzten, wurde der Begriff ‚Informelle Lehre’ in den 1980er Jahren geprägt (vgl. Lave/Wenger 1991). Von nachhaltiger Bedeutung für die Anerkennung und Popularisierung des ‚Informellen Lernens’ war die als Faure-Bericht bekannt gewordene Expertise „Learning to Be – The World of Education Today and Tomorrow“, die zu Beginn der 1970er vor dem Hintergrund anhaltender gesellschaftlicher Transformationsprozesse Bildungsziele und Bildungssysteme einer demokratischen Gesellschaft neu zu bestimmen suchte. Angesichts der mit diesen Entwicklungstendenzen verbundenen Notwendigkeit permanenten Umdenkens und lebenslangen Lernens gründete die UNESCO im Jahr 1972 eine Kommission, die unter der Leitung von Edgar Faure Perspektiven für eine neue Bildungspolitik entwickelte (vgl. Faure 1972: 31). „Lebenslanges“ und „Selbstorganisiertes Lernen“ wurden dabei zu „Grundsteinen der Lerngesellschaft“ (Faure u.a. 1973: 246) erklärt. Der Einzelne ergreift „selber die Initiative, er wählt die Richtung aus, die er einschlagen will, er sucht die Personen aus, deren Hilfe er in Anspruch nehmen will und er selbst beurteilt den Wert der erzielten Ergebnisse“ (ebd.: 279). Während die Ideen des informellen und lebenslangen Lernens weltweit großen Nachhall fanden, wurde dies in Deutschland erst spät und hier vor allem im Umfeld der Erwachsenenbildung aufgegriffen (vgl. Dohmen 2001). Angesichts der mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen einhergehenden Freisetzungs- und Flexibilisierungstendenzen, der zunehmenden Entgrenzung von einzelnen Lebenskontexten (z.B. Arbeit und Freizeit) und damit verbunden von Lernorten und -modalitäten wurde das informelle Lernen erst in den 1990er Jahren verstärkt als wichtige und unverzichtbare Form des Lernens diskutiert und (an)erkannt (vgl. ebd.: 33). Konstitutiv für den Diskurs um das informelle Lernen im Kindes- und Jugendalter war, wie oben skizziert, insbesondere die Ausweitung neuer Informationstechnologien und die damit verbundenen Debatten um die Neukonfiguration schulischer und beruflicher Bildung (vgl. ausführlich dazu z.B. Tully 2004: 11ff). Die eingeschränkten Ressourcen in Ausstattung wie Qualifikation und vor allem die spezifisch lebensweltliche, mithin subversive Aneignung der Computertechnologie durch Heranwachsende, wies jene Versuche einer umfassenden „informations- und kommunikationstechnologischen (Grund-)Bildung“ schnell in ihre Grenzen (vgl. Kübler 1997: 44) und stützten die These einer wachsenden Informalisierung des Lernens. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der mit den PISA-Erhebungen ausgelösten Bildungsdebatte werden die Diskurse zum informellen Lernen in den deutschsprachigen Diskussionen heute in einem zunehmend breiteren Rahmen rezipiert, was nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass die Problematik ‚Nonformale und Informelle Bildung im Kin-
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des- und Jugendalter’ im Zentrum des im Jahr 2004 veröffentlichten 6. Nationalen Bildungsberichtes stand. Mit der hier vorgenommenen terminologischen Bezeichnung des Problemfeldes knüpfen die Autor/innen des Berichtes an eine heute verbreitete Definition an, die zwischen formalen, non-formalen und informellen Lernorten und -modalitäten unterscheidet. Dabei wird ‚formales Lernen‘ als institutionell geprägtes, planmäßig strukturiertes Lernen mit anerkannten Abschlüssen und Zertifikaten (Schule, Ausbildung und Hochschule) und ‚nonformales Lernen‘ als selbst- oder fremdorganisiertes Lernen jenseits formalisierter Bildungseinrichtungen bzw. Lernsettings (z.B. Kinder- und Jugendhilfe) gefasst. Während diese Formen des Lernens gewissermaßen organisiert und intendiert sind, vollzieht sich ‚informelles Lernen’ nicht organisiert und geregelt, sondern in alltäglichen und unmittelbaren lebensweltlichen Zusammenhängen und sozialen Umwelten, so etwa in familialer Kommunikation oder auch im Rahmen von Computer- oder Internetanwendungen, wobei dieses intendiertes aber auch unbewusstes, andere Handlungsvollzüge begleitendes Gelegenheitslernen (vgl. Dohmen 1996: 29) sein kann. Wichtig dabei ist, dass diese so gefassten Lernprozesse nicht allein außerhalb des formalen Bildungswesens, sondern ebenso in formalisierten und didaktisch konzeptionalisierten Lernsettings denkbar sind.
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Mediatisierung der Lebensläufe als wachsende Informalisierung des Lernens
Wird informelles Lernen als nicht organisiertes und ungeregeltes Lernen in alltäglichen, lebensweltlichen Kontexten verstanden, so ist die Relevanz der Medien für dieses Lernen heute als ausgesprochen hoch einzuschätzen. Als umspannende Räume sozialen und kulturellen Handelns sind Medien immer weniger als exklusive und separierbare Umgebungen menschlichen Lebens zu verstehen, sondern diese sind heute zweifellos konstitutiver Bestandteil des alltäglichen Lebensvollzugs. Medien rahmen, begleiten, moderieren und konstituieren Erlebnisse und Erfahrungen entscheidend mit und offerieren nicht nur Anlässe und Räume für vielfältige Lernerfahrungen, in dem hier nicht nur bewusst oder unbewusst Informationen erschlossen, sondern diese sind heute auf vielfältige Weise an der Gestaltung von Alltagsvollzügen und den Prozessen der Individuation beteiligt und entfalten damit zugleich eine unhintergehbare sozialisierende Kraft (vgl. ausführlich dazu Theunert u.a. 2005). Menschen stehen heute mehr denn je vor der Herausforderung, sich vor dem Hintergrund mitunter widersprüchlicher Lebensanforderungen in einer Vielfalt von Möglichkeiten und Angeboten zu orientieren und zu verorten. Mag auch Niklas Luhmanns (1996: 9) viel zitierter Ausspruch „was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ noch nicht immer in Gänze zutreffen, so steht doch außer Frage, dass die Relevanz der Medien mit jenen sich seit den 1990er Jahren verbreitenden Informationsverarbeitungstechnologien noch einmal deutlich gewachsen ist. Im steten Such- und Erprobungsprozess bieten insbesondere die ‚neuen’ digitalen Medien Handlungsräume und Offerten für höherstufiges informelles Lernen und damit einhergehende Bildungsprozesse, aus welchen Lebenswerte erschlossen, Handlungsvarianten getestet und auf diese Weise Selbst-Weltbezüge ausgebildet werden können.
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In Fachdiskursen werden diese Entwicklungszüge durchaus ambivalent kommentiert. Fürchten die einen den Verlust an Fähigkeiten zu und der Vielfalt leibgebundener Kommunikation, so loben die anderen, die mit den digitalen Medien gewonnenen neuen Möglichkeiten informeller, kooperativer und vernetzter Formen lebenslangen Lernens, so etwa in digitalen „Communities of Practice“ (Wenger 1998). Ganz gleich wie man sich hierzu im Konkreten verhalten mag. Fest steht, dass die der neuen Medientechnologie zugeschriebenen Lern- und Bildungspotenziale notwendig in Abhängigkeit zu den je spezifischen Lernbedingungen des Menschen zu denken sind. Aus dieser Perspektive vermögen jene neuen ‚Bildungsräume’ es dann nämlich ebenso, gesellschaftliche Ungleichheiten zu zementieren, in dem sie die „die Kluft zwischen denen, die an diesen neuen Möglichkeiten teilhaben und teilnehmen können auf der einen Seite und denen, die aus verschiedensten Gründen dazu nicht in der Lage sind“ (Jörissen 2009: 21) verschärfen. Dabei stellt sich dieser Problemzusammenhang heute weniger mit Blick auf die Frage des Zugangs zu neuen Informationstechnologien (‚access devide’), sondern vielmehr hinsichtlich der je unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten der Subjekte, diese im Sinne ihrer Interessen und Bedürfnisse und als Möglichkeit der Partizipation an Gesellschaft zu nutzen (‚voice divide’) (vgl. auch Klein sowie Kutscher in diesem Band). Menschen leben in unterschiedlichen Sozialund Bildungsmilieus, die auch die Voraussetzungen und Bedingungen von Lern- und Bildungsprozessen je nach vorhandener Medienkompetenz entscheidend prägen. Die Dynamik medialer Entwicklungen und die damit verbundene stetige Erweiterung, Diversifikation und Einbettung der Medien in alltägliche Lebenszusammenhänge machen den Erwerb von Medienkompetenz(en) in den Dimensionen der Nutzung, der Bewertung, der Reflexion und des Handelns heute zu einer lebenslangen Aufgabe (vgl. dazu ausführlich Schorb 2008). Diese Aufgabe aber besteht nicht allein darin, die vielfältigen Möglichkeiten der Medien technisch handhaben zu können, sondern sie bedeutet vor allem, mit diesen Medien „auf der Basis strukturierten zusammenschauenden Wissens und einer ethisch fundierten Bewertung“ verantwortungsvoll und selbstbestimmt zu handeln (Schorb 2008: 94). Die Zunahme, Omnipräsenz und damit potenzielle Erreichbarkeit von Informationsbeständen ist nicht per se mit einer Erweiterung des Wissens auf Seiten der Menschen verbunden (Kübler 2004: 126). Aus Informationen formiert sich Wissen erst dann, wenn diese von Menschen erfasst, auf konkrete Probleme bezogen und kontextualisierend in ihrer Relevanz bewertet werden. Und diese Herausforderungen stellen sich heute einmal mehr, denken wir an die mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien verbundene Vielfalt an Informationen, die in den unterschiedlichsten Repräsentationsformen (etwa Suchmaschinen, Datenbanken, Weblogs, Online-Zeitungen, Audiotheken, Internetforen oder Mailinglisten) und in den unterschiedlichsten Zweckzusammenhängen zugänglich sind. Die Vielfalt (‚information overload’) aber auch Heterogenität dieser Informationen setzt Reflexionskompetenzen voraus, die es dem Lernenden erst erlauben, Kriterien der Auswahl und Bewertung zu entwickeln. Wenn heute auf die notwendige Unterscheidung des Verfügungswissen in Faktenwissen und prozedurales Wissen hingewiesen wird, so wird damit unterstrichen, dass „die Einsicht in die Faktizität der Dinge“ (Jörissen/Marotzki 2009: 32) als Handlungsgrundlage allein nicht mehr genügen kann, sondern dass „das bloße Informiertsein und ‚Bescheidwissen’, wie es geht“, überführt werden muss in eine kritische Reflexion. Mit Blick auf die multi- bzw. hypermediale Konstitution von Informationen ist
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Reflexion als höherstufige Form des Lernens insbesondere deshalb gefordert, da diese Informationen sich in einer Vielzahl unterschiedlichster Perspektiven manifestieren, die nicht per se verbindlich, sondern stets vor dem Hintergrund ihrer Veränderbarkeit und Kontextrelativität zu interpretieren sind. Die in modernen Gesellschaften mit dem Verlust eindeutiger Werte- und Normsysteme einhergehende Pluralisierung von Selbst- und Weltsichten erzeugt Unbestimmtheitsräume, die eine Flexibilitätssteigerung von Lern- zu Bildungsprozessen, also vom Erlernten zum flexiblem Umgang mit diesem Erlernten, notwendig machen (vgl. ebd.: 21ff).
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Generationsspezifische Medienkulturen
Ungeachtet dieser Tatsache ist pädagogisches Handeln heute häufig noch immer auf die Vermittlung von Wissen und instrumentellen Fähigkeiten konzentriert. Seltener wird hingegen die Restrukturierung von Erfahrungen angestrebt. Gerade der Umgang mit (neuen) Medien aber erfordert eine Vielzahl von Fähigkeiten, die kaum mehr hinreichend über formalisierte Lehrarrangements vermittelt werden können. Der Erwerb von Medienkompetenz(en), so folgert etwa der Jugendsoziologe Claus J. Tully (1994: 183) mit Blick auf die Ergebnisse seiner Studie ‚Lernen in der Informationsgesellschaft’, ist durch eine starke Individualisierung der Lern- und Aneignungsstrategien als auch eine wachsende Informalisierung des Lernens gekennzeichnet, „und nicht nach Stundenplan wie in der Schule” zu vermitteln. Dabei sind diese informellen Lernprozesse stets eingebunden in das je spezifische soziale Gefüge, durch welches sie angeregt, moderiert und begleitet werden. Der Wunsch nach Anerkennung und Gemeinschaft und das damit verbundene distinktive wie kollaborative Handeln sind konstitutive Gründe für den Umgang mit den vielfältigen Offerten der Medien, der nur unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge nachvollziehbar ist. So zeigt etwa Schäffer (2003) in einer Studie, in der er generationenspezifische Medienpraxiskulturen untersucht, dass entgegen der im Konzept des ‚selbstgesteuerten Lernens’ angelegten „monadischen Konzeption des Wissenserwerbs“ (ebd.: 341) Wissen und Fertigkeiten „wesentlich im Rahmen kollektiver [Hervorhebung im Original] Lern- und Aneignungsprozessen“, erworben werden, die er im Anschluss an Susanne Weber (1998) auch als „Kulturen der Selbstorganisation“ bezeichnet. Angesichts der sich im Umgang mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien abzeichnenden generationsspezifischen Divergenzen ergründete Schäffer in Gruppendiskussionen und biographischen Interviews mit Jugendlichen, berufstätigen Erwachsenen in der Lebensmitte und Senioren in der Nacherwerbsphase das Medienhandeln der je unterschiedlichen Generationen. Unter Rekurs auf das Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums des wissenssoziologischen Generationentheorems Karl Mannheims (1928) zeigt er auf, dass die Angehörigen einer Generation über strukturidentische Erfahrungen einen vergleichbaren ‚Fond’ ausbilden, der Grundlage eines gemeinsamen (Welt-)Verständnisses ist. Dieser Fond manifestiert sich in präsprachlichen Ausdrucksformen wie Gesten, Körperhaltungen ebenso wie in ästhetisch-kulturellen Ausdrucksformen, welchen spezifische „Grundintentionen“ und „Gestaltungsprinzipien“ eigen sind. Auf den Umgang mit Medien bezogen bedeutet dies, „dass sich auf der Grundlage der Medienerfah-
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rungen und -praxen zu einer gegebenen Zeit für die jeweiligen Kohorten in ihrer Jugendzeit eigenständige Muster, Formen und Stile des Handelns mit den zeitgeschichtlich zur Verfügung stehenden Medien ausbildeten“, die Schäffer (2009: 42) als Medienpraxiskulturen beschreibt. Grundlegend für diesen Zusammenhang aber ist, dass diese in der Regel als unbewusste Muster von zeitlich anhaltender Bedeutung (Medienhabitus) das aktuelle Handeln mit den jeweils neuen Medien prädisponieren und damit gleichsam eine wichtige Voraussetzung für die Lern- und Aneignungsprozesse sind. Das bedeutet, der Mensch entwickelt in seinem Lebensvollzug und in der Aneignung neuer medialer Formationen und Gehalte habituelle Handlungsweisen, die den Umgang mit neuen Medientechnologien moderieren. Konstitutiv für die Entwicklung dieser Handlungsweisen ist Schäffer zu Folge insbesondere das Kindes- und Jugendalter, da der Umgang mit Technologien hier maßgeblich in Peerkontexte eingebunden und habitualisiert wird. Während Lernprozesse im Erwachsenenalter etwa vor dem Hintergrund beruflicher Anforderungen stärker rational gesteuert sind, womit ihnen eine gewisse reflexive Distanz implizit ist (vgl. Fromme 2002: 162f), vollzieht sich Lernen im Kindes- und Jugendalter in seiner Einbettung in die spielerische Exploration der Lebenswelten überwiegend incidental, also beiläufig und unbewusst. Im Prozess des Heranwachsens sind Medien wichtige Bezugsinstanzen und -räume sozialen Handelns. Während der Medienumgang im frühen Kindesalter noch wesentlich von der Alltagsführung und den Reglementierungen der Eltern moderiert wird, geht die zunehmende Exploration jugendlichen Handelns einher mit der Ausbildung eigener Medienhandlungspraxen, die als Konstituenten eines selbstbestimmten Alltagsvollzugs ostentative Bedeutung gewinnen (vgl. Hartung/Schorb 2007). Dabei erwerben Heranwachsende im kollektiven Prozess des Austauschs, der Kooperation und Konkurrenz „ein handlungspraktisch fundiertes und zunehmend auch theoretisch explizites Wissen über die Technologie“ (Schäffer 2003: 323), das entscheidend ist für den Erwerb fundamentaler Lern- und Aneignungsprozesse. Besonders deutlich zeigt sich dies am Umgang mit Computerspielen, die bereits im Grundschulalter die Entwicklung grundlegender computerbezogener Fähigkeiten fördern können (vgl. z.B. Gebel/Gurt/Wagner 2004). Entscheidend dabei ist, dass Computerspiele Aufgaben und Anforderungen beinhalten, deren Bewältigung Kompetenzen voraussetzen, die beim Spielen selbst erworben werden können und müssen. „Da die Spielenden bestrebt sind, im Spiel zu bleiben bzw. es zu gewinnen, investieren sie nicht unerhebliche Zeit und Anstrengungen, um die Herausforderungen der digitalen Spiele verstehen und meistern zu können“ (Fromme/Jörissen/Unger 2008: 8). Mit der sukzessiven Erweiterung des Wissens über Spielregeln und -strukturen werden so gleichsam Strategien des Wissenserwerbs angeeignet, die auch außerhalb des konkreten Spielgeschehens von Bedeutung sind (vgl. ebd.: 23). Anschaulich wird dies mit Blick auf die Aneignung so genannter Multiplayer-Spiele. So kommen etwa Bausch/Jörissen (2004) in einer empirischen Studie über Counterstrike-Spieler zum Ergebnis, dass die Mitglieder der Spieler-Clans zwar überwiegend des Spaßes wegen spielen, diese „die Angelegenheiten des Spiels und seine Organisationsbedingungen“ jedoch „ausgesprochen ernst nehmen, und die in diesem Zuge auf einer Meta-Ebene des Spiels hohe soziale und moralische Standards etablieren (Fairness, angemessene Repräsentation des Clans, angemessene Konfliktlösungsstrategien etc.), welche das Spielgeschehen – d.h. den Spielhabitus der Einzelnen und der Gruppe – bestimmen“
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(ebd.: 13). Ungeachtet dieser Potenziale werden aus lerntheoretischer Perspektive gegenwärtig insbesondere solche Computerspiele diskutiert, deren explizites Ziel es ist, Lerninhalte zu spezifischen Sachgebieten zu vermitteln (z.B. Serious Games). Aus gesellschaftsund bildungspolitischer Sicht sind jedoch gerade im Hinblick auf informelle Lernprozesse auch jene ‚nicht-didaktischen’ Spiele beachtenswert, da vor allem so genannte bildungsfernere Milieus und sozial benachteiligte Gruppen an diesen medialen Kulturen partizipieren. Die mangelnde Anerkennung jugendkultureller Medienpraxen als Lern- und Bildungsräume wird nicht zuletzt aus der Perspektive einer sich verstärkenden Kluft im Medienhandeln der Generationen verständlich. Eltern fällt es oft schwer, das Medienhandeln ihrer Kinder reflektierend und unterstützend zu begleiten, fehlt ihnen doch selbst häufig das Wissen, die Potenziale aber auch Risiken der Medien hinreichend abschätzen zu können. Dieser Umstand ist nicht nur für den innerfamiliären Medienumgang folgenreich, sondern auch für pädagogisch Tätige, für die jene Kenntnisse um die Lebens- und Erfahrungswelten ihrer Klientel unabdingbar sind (vgl. auch Struckmeyer in diesem Band). Hier ist das Verhältnis häufig dadurch belastet, dass Heranwachsende angesichts des eigenen Wissens- und Erfahrungsvorsprungs die Medienpraxis der älteren Generationen als defizitär bewerten. Hingegen scheuen Pädagogen aus Angst vor Anerkennungs- und Autoritätsverlust die Einbindung neuer Medien in pädagogische Arbeit (vgl. z.B. Röll 2008: 59ff).
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Medienhandeln zwischen konjunktiven Erfahrungen und gesellschaftlichen Imperativen
Die sich gegenwärtig insbesondere am Umgang mit der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie abzeichnenden Divergenzen in der Medienpraxis der Generationen wird häufig einseitig unter dem Vorzeichen eines Defizits auf Seiten der Älteren thematisiert oder mit Blick auf jene als Eltern, Erzieher oder Lehrer als pädagogisch Verantwortliche problematisiert. Ein Anschluss defizitärer Medienakteure an einen gesellschaftlichen IST-Zustand (der Wissens- oder Informationsgesellschaft) ist vor diesem Hintergrund das Ziel von Initiativen, die ein ‚Aufholen’ und das Überwinden von Differenzen versprechen. Anders als im englischsprachigen Raum (vgl. etwa Alterovitz/Mendelsohn 2009, Turner u.a. 2007, Clark 2002), der stärker auf den Stellenwert des Internets für die Lebensführung und kulturelle Selbstbestimmung vor dem Hintergrund der jeweiligen Erfahrungshorizonte abstellt, ist hierzulande die Wünschbarkeit des Internetzugangs von der Erfahrungs- und Lebenswelt der Akteure oft weitestgehend abstrahiert. Entscheidend für die vermeintlich defizitäre Medienpraxis älterer Generationen aber ist nicht, so zeigen Schäffers Analysen, dass es die kommunikativ-generalisierten Wissensaspekte sind, die den Zugang zu und Umgang mit neuen Medien moderieren und damit auch die Bereitschaft, sich entsprechendes handlungspraktisches Wissen anzueignen. Es sind vielmehr konjunktive Aspekte, welche „die generationenspezifischen Formen des Erwerbs handlungspraktischen Wissens beeinflussen“ (Schäffer 2003: 338). Angesichts ihrer eher vom Umgang mit (analogen) Massenmedien getragenen Mediensozialisation hatten jene Generationen in ihrer Jugend- und frühen Erwachsenenzeit nicht die Gelegenheit grundlegende Handlungs- und damit Lernpraxen im Umgang mit den Spezifika neuer
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Medien auszubilden. In der Konsequenz sind sie gefordert, entsprechendes Wissen „mühsam auf dem Weg kognitiv-rational strukturierter Vergegenwärtigung“ zu erarbeiten (ebd.: 322). Vor diesem Hintergrund ist dann auch nahe liegend, dass das Medienhandeln hier wesentlich geformt ist durch einen „zweckrationalen Modus“, der dem für das Medienhandeln Heranwachsender charakteristischen spielerischen Modus nahezu „diametral“ entgegensteht (ebd.: 338). Interessant ist nun, dass Schäffer in seiner Studie bei der von ihm befragten Senior/innengruppe durchaus ähnlich spielerische Formen des Medienhandelns extrahiert. Die Senior/innen explizieren diese aber selbst im Unterschied zu den Vertreter/innen jüngerer Generationen nicht als selbstverständliche Handlungspraxen, sondern sehen sich hier vor dem Hintergrund gesellschaftlich-kultureller Regelsysteme in einem „Orientierungsdilemmata“(vgl. ebd.: 324). Zu ähnlichen (Zwischen-)Ergebnissen kommt die wissenschaftliche Begleitung einer betreuten Senior/innen-Online-Community (vgl. Küllertz/Hartung 2009). Ungeachtet des offen und spielerisch angelegten Projektes, dessen Ziel die Hinführung an basale Internettechnologien ist, antizipieren die Teilnehmer/innen die gesellschaftliche Erwartungen und handeln hier in einem sich fortwährend kontrollierenden und auf (vorzeigbare) Ergebnisse hin orientierten Modus der Zweckrationalität. Selbstverständlich muss diese Beobachtung vor dem Hintergrund der hohen Bildungsaspiration der überwiegend hochqualifizierten Teilnehmer/innen gedeutet werden. Die Problematik des Stellenwertes gesellschaftlicher Zuschreibungen und Erwartungen ist hier aber besonders offenkundig. Die (auch medial) postulierten Erwartungen an ein aktives Altern sind verbunden mit einem hohen Druck, der jener Offenheit und Tentativität, die gerade für den Umgang mit neuen Medien konstitutiv sind, zuwiderzulaufen scheint. „Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge stellt sich dann auch jenes bildungspolitische Imperativ des lebenslangen Lernens unter anderem Licht dar, verweisen diese doch auf die Grenzen des Modells kontinuierlicher lebenslanger Lern- und Aneignungsprozesse“ [Herv. im Original]). Diese Einsicht auf konkretes pädagogisches Handeln projizierend plädiert Schäffer für eine Erwachsenen(Medien)pädagogik, die nicht auf Anschluss, sondern auf Begegnung unterschiedlicher konjunktiver Erfahrungsräume setzt. Den neuen Medien weist er dabei entgegen dem viel beschworenen Szenario eines ‚Generation Gap’ gerade „eine metaphorische Schlüsselposition“ zu, die es vermag in der Kommunikation über unterschiedliche Erfahrungen „Relationierungen des Eigenen und des Fremden zur Artikulation“ zu bringen und welchen damit durchaus auch das „Potenzial innewohnt, intergenerationelle Bildungsprozesse anzustoßen“ (ebd.: 326).
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Perspektiven und Handlungsbedarfe
Mit dem Konzept des ‚informellen Lernens’ wird versucht, jene stark an Sozialisationsaber auch Bildungsprozesse gekoppelten Lernformen in den Blick zu nehmen, die nicht pädagogisch geplant und ergebnisorientiert institutionell organisiert werden können. Es ist also kein Zufall, dass dieses Konzept oft mit jenem der Sozialisation auf der einen und jenem der Bildung auf der anderen Seite verwischt. Entscheidend aber ist, dass der Offenheit dieser Prozesse in der pädagogischen Praxis angemessen begegnet wird. Zwei aus
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meiner Sicht zentrale Problemzusammenhänge möchte ich abschließend noch einmal festhalten. Wenn Lernen und Bildung erstens nicht zuletzt durch eine zunehmende Mediatisierung der Lebenswelten verstärkt außerhalb expliziter pädagogisch geplanter und institutionell organisierter Praxis bedeutsam werden, so macht dies pädagogisches Handeln nicht obsolet, sondern stellt dieses vielmehr unter veränderte Rahmenbedingungen und vor neue Herausforderungen. Jene programmatisch zum erstrebenswerten Ideal erklärte Freiheit zur subjektiven Lebensführung und -gestaltung rückt die Eigenständigkeit und Mündigkeit des Individuums auf nicht unproblematische Weise in den Mittelpunkt (nicht zuletzt diese, die vor dem vor dem Hintergrund eines von Wirtschaft und Politik beförderten Effizienzgedanken formuliert wird). Damit werden allzu oft wichtige Kontexte ausgeblendet, welche die postulierten Möglichkeiten deutlich relativieren. Die lebensweltlichen Lebensbedingungen der Menschen, die in Gestalt sozioökonomischer Lebenslagen, des regionalen Kontextes, der Form der Bearbeitung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten, kultureller Traditionen und Milieus wie auch ethisch-moralischer Haltungen, die Lern- und Bildungschancen erheblich disponieren, machen den Bedarf einer komplexen, lebensweltbezogenen pädagogischen Intervention, Begleitung und Unterstützung deutlich. Diese Aufgabe aber kann erstens nicht mehr allein in den Verantwortungsbereich von Schule und Ausbildung gestellt werden, sondern verlangt zunehmend das Engagement nonformaler Bildungseinrichtungen und sie erfordert zweitens eine zunehmende Vernetzung und Kooperation von Einrichtungen und Orten, etwa im Modus der pädagogischen Projektarbeit. Eine lebensweltbezogene Pädagogik bedeutet in diesem Sinne, an den Erfahrungen des Menschen anzusetzen, diese aufzugreifen und Anlässe und Räume zu schaffen, diese in ihrer Bedeutung für den Menschen zu reflektieren. In der Kinder- und Jugendarbeit gilt es beispielsweise Reflexionen anzustoßen, die habitualisierte Medienhandlungspraktiken auf die mit ihnen verbundenen Problemstellungen zu hinterfragen vermögen. Und es heißt weiterhin Anlässe der Selbstund Weltauslegung zu initiieren, die sich abheben von jenen (auch) medialen Tradierungen, die einen subversiven mithin innovativen und kreativen Umgang mit der Welt und dem eigenen Selbst und damit Flexibilität und Reflexivität erst ermöglichen. Wenn Lernen und Bildung zweitens weiter als Prozesse zu fassen sind, die nicht nur in Kindheit und Jugend, sondern in allen Lebensabschnitten von Bedeutung sind, so gilt es (namentlich im Kontext der Erwachsenen- aber auch der Altenbildung) den Blick stärker und vor allem differenzierter als bisher auf die Bedingungen und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens zu richten. Hier bedarf es einer pädagogischen (Medien-)Praxis, in deren Mittelpunkt nicht das Defizit eines technisch-inkompetenten Umgangs als zu überwindende Differenz steht, sondern vielmehr das Artikulations- und Verständigungsinteresse vor dem Hintergrund lebensweltlicher Interessen und Handlungsprobleme als das Gemeinsamkeit konstituierende ins Zentrum rückt. Ein Artikulations- und Verständigungsinteresse entwickelt sich als Voraussetzung selbst- und weltkonstitutiven Artikulierens und als Bedingung eines Umgangs mit Kommunikationstechnologien im Sinne eines Verständigungsmediums aber erst auf dem konstitutiven Boden einer als offen wahrgenommenen Situation (vgl. Hartung u.a. 2009). Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die von Schäffer (2003) benannten Potenziale einer „Verflechtung generationsspezifischer Medienpraxiskulturen“ (ebd.: 347) sind dabei insbesondere Anlässe intergenerativer Begegnung zu initiieren, die
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eben gerade durch die über Differenzerfahrungen ausgelösten „Irritationen“ Bildungsprozesse anzustoßen vermögen. Wird der Einsicht gefolgt, dass Subjekte in ihren täglichen Lebenszusammenhängen informelle Lernprozesse durchlaufen, die sich wechselseitig beeinflussen und die sich im Hinblick auf ihren Beitrag für Prozesse der Sozialisation und Bildung kaum mehr voneinander trennen lassen (vgl. Kirchhoff 2007: 49), so bedeutet dies, dass wir heute kaum mehr nur von ‚Orten’ als abgrenzte Räume spezifischer Lernprozesse sprechen können. (Sozial-)Pädagogisches Handeln sollte grundsätzlich eine Sensibilität für jenen Prozesscharakter nicht zuletzt dahingehend aufweisen, dass Medien immer auch reflexive Optionen und somit nicht nur Lern-, sondern vor allem auch Bildungspotenziale beinhalten und vor diesem Hintergrund (neue) Möglichkeitsräume für kreativ-reflexives Medienhandeln in Bezug auf die komplexe Lebenswelt der Akteure eröffnen.
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Einleitung
Die hohe Aufmerksamkeit, die heute dem Prozess des Aufwachsens, der Betreuung, Erziehung und insbesondere der Bildung von Kindern und Jugendlichen zukommt, ist historisch betrachtet ein relativ junges Phänomen (vgl. BMFSFJ 2005: 51). Zwar wurden bereits im 16./17. Jahrhundert die Kindheit und im 18. Jahrhundert die Jugend als eigenständige Lebensphasen herausgestellt, ihre Bedeutung für die individuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, im Sinne einer subjektiven Lebensgestaltung und einer gesellschaftlichen Beteiligung, entwickelte sich jedoch erst im 19. Jahrhundert (vgl. Honig 2002: 311; Dudeck 2002: 336). Werden Kinder und Jugendliche zu Beginn der Bildungsgeschichte noch als passive Subjekte gesehen, die fürsorglich beschützt und geleitet werden müssen, entwickelt sich im 20. Jahrhundert zunehmend ein Verständnis von einem aktiven Subjekt, das im Prozess des Aufwachsens und in seinem Recht auf Mitgestaltung unterstützt und begleitet werden soll (vgl. Tenorth 1988). Das sich wandelnde Verständnis von Kindheit und Jugend führte zur Veränderung von Bildungsinhalten sowie Bildungszielen und zu einem Zuwachs an Bildungsinstitutionen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts findet Kindheit und Jugend, durch die Trennung von Familie und Arbeit, in Prozessen der „Familialisierung“ und „Scholarisierung“ (Ariès 1978) statt. Im 20. Jahrhundert entwickelt sich, mit der weiteren Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme, ein eigenständiges familienergänzendes Betreuungs- und Erziehungssystem sowie ein mehrgliedriges Bildungssystem. Heute ist die Soziale Arbeit als feste Institution mit bildenden und helfend-unterstützenden Funktionen anerkannt. Seit den internationalen Vergleichen von Bildungssystemen durch die PISA-, IGLU-, TIMSS-Studien etc., in denen Deutschland nur mit unbefriedigenden Ergebnissen abschnitt, finden öffentliche Debatten über die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems statt. Bezweifelt werden, ähnlich wie nach dem Ausruf der Bildungskatastrophe im Jahr 1964 durch Picht, die Konkurrenz- und Zukunftsfähigkeit der nachfolgenden Generationen im internationalen Wettbewerb. Diskutiert wird heute jedoch anders als in den 1970er Jahren, nicht nur über das Bildungspotential von Schulen, sondern verstärkt auch über die Ressourcen der Familie und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Begründet ist dies durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Bildungspotenzialen verschiedener Lebensbzw. Entwicklungsphasen, wie besonders der frühen Kindheit, vor allem aber auch in dem vermeintlich starken Zusammenwirken von sozio-ökonomischen Lagen von Individuen und deren Bildungschancen (vgl. BMFSFJ 2005: 51). Aber auch der gesellschaftliche Wandel und die wachsende Technisierung und Mediatisierung, aus denen ein Bedarf an neuen bzw. anderen Kompetenzen (z.B. interkultureller Kompetenz, Medienkompetenz) abgeleitet wird, sind Gründe für ein Umsteuern im Bildungsdenken.
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Bildung und Soziale Arbeit werden also zum einen wegen des Bildungsauftrags und zum anderen wegen der Hilfe-/Unterstützungsfunktion der Sozialen Arbeit, beim Entgegenwirken der Reproduktion von sozialer Ungleichheit durch das Bildungssystem zentral diskutiert. Weil Medien aus dem privaten und dem öffentlichen Leben kaum mehr wegzudenken sind, spielen sie natürlich auch für Bildungsprozesse eine bedeutende Rolle und werden deshalb mit Bildung in Beziehung gesetzt. Folglich muss auch das Zusammenwirken von Sozialer Arbeit und Medien bzw. mit ihnen verbundenen Bildungschancen und Bildungsbedarfen thematisiert werden. Ziel der folgenden Darstellung ist es, die Funktion bzw. Aufgabe der Sozialen Arbeit in Bezug auf die (Medien-)Bildung herauszustellen.
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Bildung in der Wissensgesellschaft
Bildung wird häufig mit Begriffen wie Betreuung und Erziehung gleichgesetzt und in einem Atemzug genannt, wenn von Aneignungs- und Lernprozessen in gesellschaftlichen Institutionen wie Familie, Freizeiteinrichtungen, Schule, Hochschule etc. die Rede ist. Ein einheitliches Bildungsverständnis gibt es aber nicht. Traditionell und umgangssprachlich, wird jemand als gebildet bezeichnet, wenn er Vieles weiß bzw. Vieles kann. In wissenschaftlichen Diskursen wird unter Bildung bereits seit Wilhelm von Humboldt ein Prozess der Aneignung bzw. des Erlernens von Kompetenzen verstanden, der sich durch den wechselseitigen Austausch von Individuum und Umwelt vollzieht und Individuen zur gesellschaftlichen Partizipation und zur Mündigkeit befähigt. Im Sinne Humboldts ist Bildung grundsätzlich gegen die Funktionalisierung des Menschen gerichtet (vgl. Jörissen/Marotzki 2009: 12f). Wolfgang Klafki (1996), der an bildungstheoretischen Annahmen von Kant, Hegel, Humboldt u.a. anknüpft, entwirft ein kategoriales Bildungskonzept, in dem Ansichten verschiedener bildungstheoretischer Annahmen zusammenfließen. Aspekte des bildungstheoretischen Objektivismus (Bildung als Aneignung von möglichst umfangreichen Wissen) und Inhalte der klassischen Bildungstheorie (Bildung als Aneignung von allgemeinen bzw. klassischen Inhalten eines bestimmten Bereichs) sind ebenso wie Theorieaspekte der funktionalen Bildung (Bildung als Ausformung und Reifung der körperlichen und geistigen Kräfte) und die Theorie der methodischen Bildung (Bildung als Methodenkompetenz und deren Anwendung) Teil des kategorialen Bildungskonzeptes. Allgemeinbildung wird von Klafki in Abhängigkeit von der Gesellschaftssituation und den sich daraus entwickelnden Bildungsansprüchen verstanden, was ihn zu einem Konzept „zeitgemäßer Bildung“ führt. Sie „muss verstanden werden als Aneignung der die Menschen gemeinsam angehenden Frage- und Problemstellungen ihrer geschichtlich gewordenen Gegenwart und der sich abzeichnenden Zukunft und als Auseinandersetzung mit diesen gemeinsamen Aufgaben, Problemen, Gefahren. […] Abkürzend kann man von der Konzentration auf epochaltypische Schlüsselprobleme unserer Gegenwart und der vermeintlichen Zukunft sprechen“ (ebd.: 53 ff).
Was aber sind typische Schlüsselprobleme unserer Zeit? Was ist für unsere Gesellschaft charakteristisch? Welchen inhaltlichen Schwerpunkt braucht Bildung heute? Welche Kompetenzen muss Allgemeinbildung vermitteln, um vor allem Kindern und Jugendlichen, aber
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auch Erwachsenen und älteren Menschen im wechselseitigen Austausch mit der Umwelt (Gesellschaft), Mündigkeit und Partizipation zu ermöglichen? Unsere Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant entwickelt. Aufgrund enormer Fortschritte in Wissenschaft und Technik wandelte sich die Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft. Etwa zwei Drittel der Erwerbstätigen sind gegenwärtig im Dienstleistungssektor tätig (vgl. Deutscher Bundestag 2002: 260). „In allen volkwirtschaftlichen Bereichen wird davon ausgegangen, dass 70 bis 80 Prozent des wirtschaftlichen Wachstums auf neues oder verbessertes Wissen zurückgeführt werden könne“ (Jörrisen/Marotzki 2009: 27). Wissen ist existenzsichernd für Beschäftigte aller Tätigkeitsfelder, trägt maßgeblich zur Übernahme gesellschaftlicher Funktionen und Rollen bei und unterstützt damit u.a. die individuelle Positionierung in die Gesellschaft. Stellt man sich die Frage, wie entsprechendes Wissen angeeignet und eine hohe Professionalisierung gehalten werden kann, begegnen einem Schlagworte wie „lebenslanges Lernen“, „Lernen lernen“ und „Wissensgesellschaft“. Der Begriff Wissensgesellschaft löst dabei den Terminus Informationsgesellschaft ab. Was auf den ersten Blick wie ein bloßer Austausch von Begrifflichkeiten wirkt, zeigt jedoch beim zweiten Hinschauen seine Relevanz für den aktuellen Bildungsdiskurs. Der Terminus Information steht für ein „Zeichen(-system)“, der Begriff Wissen hingegen meint die Aufnahme von Informationen und die Einordung dieser in einen spezifischen Kontext zur Bewertung und Lösung von Problemen. Im Wissen findet also ein Transfer von Informationen auf individuelle Situationen statt. Es macht handlungsfähig und dient der Einbettung des Individuums in die soziale Gemeinschaft, Kultur und Gesellschaft (vgl. Stehr 1994: 208). Die Wissensgesellschaft ist stärker als die Informationsgesellschaft, welche auf einem materialen Bildungsverständnis basiert (Erwerb von Wissen in Form von Sach- und Fachwissen und die Sicherung der gesellschaftlichen Ordnung), auf das Individuum ausgerichtet. Dieses soll Kompetenzen im Wissensmanagement, kommunikativen Kompetenzen und Problemlösungsfähigkeiten erwerben, um orientierungs- und handlungsfähig zu werden bzw. es zu bleiben (vgl. Röll 2003: 21).
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Medienkompetenz und Medienbildung als erfolgsversprechendes Konzept
Medien sind in unserer Gesellschaft mittlerweile allgegenwärtig und haben somit auch für die Bildung eine (Doppel-)Bedeutung. Zum einen sind Medien als gedruckte, audiovisuelle und digitale Informationsübermittler eine wichtige Bildungsquelle über die Wissen angeeignet wird (vgl. Jörissen/Marotzki 2008: 15). Die Bildung durch Medien – die Medienbildung – dient der Allgemein- und damit der Persönlichkeitsbildung und kann als Prozess und Ergebnis der Vermittlung von Welt und Selbst verstanden werden. Durch diesen Prozess wird Weltwissen angeeignet, um eigene Bedürfnisse, Intentionen, Anliegen zu erreichen. Zum anderen ist, neben der Orientierung in der Welt mittels medialer Informationen, die Kompetenz im Umgang mit Medien ein wichtiger Aspekt von (Allgemein)Bildung selbst. Denn ohne die Fähigkeit im Umgang mit Medien – der Medienkompetenz – können Medien nicht sinngemäß oder nicht hinreichend zur Erschließung von Informationen und zur Aneignung von Selbst- und Weltbezügen nutzbar gemacht werden. Der systematische Erwerb von Medienkompetenz ist also Grundvoraussetzung für Medienbil-
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dungsprozesse, die in der Wissensgesellschaft wiederum basal für die Allgemein- und Persönlichkeitsbildung sind (vgl. Röll 2009: 59; Schell 2009: 82ff). Der Begriff Medienkompetenz wurde von Dieter Baacke eingeführt, der seit 1973 das Konzept einer handlungsorientierten Medienpädagogik entwickelt. Medienkompetenz im Verständnis von Baacke meint generell die Fähigkeit zur kommunikativen Kompetenz und Handlungskompetenz und zielt auf die Befähigung von Individuen zum „In-der-Welt-sein“ ab (vgl. Baacke 1996: 112ff). Im Speziellen sind damit der Erwerb bzw. die Vermittlung von Fähigkeiten im Bereich Medienkunde, Medienkritik, Mediennutzung und Mediengestaltung gemeint (zur Systematik vgl. auch Hoffmann in diesem Band). In der normativen Zieldimension lassen sich verschiedene Aspekte herausstellen:
Individuen sollen umfangreiches Wissen über Mediensysteme, Kompetenzen der rezeptiven und interaktiven Mediennutzung sowie innovativ-kreative Fähigkeiten zum (Mit-)Gestalten und zur aktiven Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen, erwerben. Medien sowie mit ihnen verbundene Möglichkeiten sollen für eigene Interessen, Bedürfnisse und biographischen Pläne nutzbar gemacht werden. Darüber hinaus sollen die Adressaten befähigt werden, analytisch problematische gesellschaftliche Prozesse zu erfassen und ihr Wissen reflexiv auf sich und auf ihr Handeln anzuwenden. Zudem sollen sie in die Lage versetzt werden, das analytische Wissen und den reflexiven Selbstbezug sozial verantwortlich und ethisch vertretbar aufeinander abzustimmen (vgl. ebd.).
Diese Dimensionen machen deutlich, dass Medienkompetenz letztlich immer eingebettet bleibt in einen umfassenderen Bildungsprozess. Die Fähigkeiten zur Selbstreflexion, zur kognitiven Analyse von Lernprozessen und Wissensstrukturen, zur kritischen Auseinandersetzung mit Kultur und Gesellschaft sowie das Vermögen, einen eigenen kreativen und unverwechselbaren Beitrag beizusteuern, beschreiben eben immer auch allgemeine Bildungskompetenzen und sind keineswegs auf die Medienwelt beschränkt (vgl. von Wensierski/Lerche 2009: 4). Es ist aber davon auszugehen, dass Bildungsprozesse in der Wissensgesellschaft wesentlich durch Medien mitbestimmt sind, da diese Übermittler von Informationen bzw. Vermittler in Bildungsinstitutionen sind. Gleichzeitig wird Medienkompetenz, neben der Schreib-, Lese- und Rechenkompetenz, als vierte Schlüsselkompetenz gehandelt, die Voraussetzung für die Aneignung weiteren Wissens ist. „Medienkompetenz ist heute wesentlicher Teil kommunikativer Kompetenz und damit wichtiger Bestandteil von Bildung. Bildung ist Voraussetzung dafür, dass sich Medienkompetenz möglichst umfassend entwickeln kann“ (Schell 2009: 93). Die Nutzung sowie der Umgang mit Medien sind also selbst Bildungsinhalte und bedürfen einer systematischen und möglichst frühzeitigen Aneignung, um Individuen die Teilhabe an Medienbildungsprozessen zu ermöglichen. „Die Förderung von Medienkompetenz ist deshalb eine wichtige Bildungsaufgabe und zwar für alle Bereiche von Bildung und Erziehung“ (ebd.; vgl. Sander 2001: 1177).
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Medienhandeln von Kindern und Jugendlichen
„Die heutige Wirklichkeit von Kindern und Jugendlichen ist durch die Erfahrung medialer Wahrnehmung maßgeblich geprägt. Ein wesentliches Element der Erfahrung von Kindern und Jugendlichen ist die frühe Vertrautheit mit Medien“ (Röll 2003: 95). Seit etwa zehn Jahren werden durch die KIM- und JIM-Studien Untersuchungen zum Medienbesitz, zur Mediennutzung und zur Medienkompetenz von Kindern im Alter von 6 bis 13 Jahren (KIM-Studie) und Jugendlichen von 12 bis 19 Jahren (JIM-Studie) sowie deren Haupterziehern durchgeführt. Durch die Langfristigkeit der Untersuchungen wird deutlich, wie rasant die Ausstattung der Haushalte mit Medientechnik in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Aktuell besitzt fast jeder Haushalt mindestens einen Fernseher, 90% der Befragten verfügen zusätzlich über mindestens einen Computer/ein Notebook. Etwa jedes zweite Kind im Alter von sechs bis 13 Jahren besitzt ein eigenes Fernsehgerät. Ungefähr jedes dritte Kind besitzt ein eigenen Computer/eigenes Notebook. Neben Fernseher und Computer finden aber auch Handys, MP3-Player, Spielkonsolen und Co. ihren Platz im Kinderzimmer. Bereits jedes zweite Kind im Alter von sechs bis 13 Jahren hat ein Mobiltelefon, welches oft auch als MP3-Player, Foto- und Filmkamera funktioniert und internetfähig ist (vgl. KIM 2008: 7ff). Die Mehrheit der deutschen Haushalte zählt also eine Vielzahl an medientechnischen Geräten zu ihrem Besitz. Dementsprechend nutzen und konsumieren Kinder und Jugendliche viel: Das Fernsehen wird bei der Befragung nach den häufigsten Freizeitaktivitäten der Kinder (neben dem Erledigen der Hausaufgaben und dem Lernen) an erster Stelle genannt und ist damit das Leitmedium der Jüngeren. Durchschnittlich 90 Minuten schauen Kinder am Tag fern. Gelesen wird, mit etwa 20 Minuten, vergleichsweise wenig. Für die Nutzung von Computer und Internet werden im Durchschnitt 30 bis 60 Minuten aufgebracht, ca. 30 Minuten davon recherchieren, spielen, kommunizieren und „surfen“ die Kinder im Internet (vgl. KIM 2008: 9 ff). Mit zunehmendem Alter verliert der Fernseher zu Gunsten des Computers seine Bedeutung. Der PC gewinnt vor allem in Kombination mit dem Internet an Wichtigkeit. Jeder zweite Jugendliche besitzt einen eigenen Internetanschluss und nutzt den Computer mehrere Stunden täglich. Im Internet ist für Jugendliche besonders die Kommunikation mit Freunden, Klassenkameraden und Bekannten über Instant Messenger/Chat und E-Mail wichtig (vgl. JIM 2008: 46; ARD/ZDF-Onlinestudie 2009). Etwa die Hälfte aller 12 bis 19Jährigen suchen täglich virtuelle Plattformen/Online-Communities wie schülerVZ, MySpace, Facebook etc. auf. Dort legen sie sich Profile an, auf denen sie sich mit Angaben zur Person, persönlichen Kontaktdaten, Interessen, Fotos etc. präsentieren (vgl. JIM 2008: 48f). Der Großteil der Kinder und Jugendlichen verfügt über sehr gute technische Mediennutzungsfähigkeiten. Völlig selbstverständlich bedienen sie Handy, MP3- und DVD-Player, Computer und bewegen sich im Internet. Was jedoch die Analyse- und Kritikfähigkeit in Bezug auf konsumierte Medieninhalte sowie das Reflexionsvermögen hinsichtlich der Veröffentlichung persönlicher Daten etc. angeht, werden Gefahren deutlich (vgl. KIM 2008: 52ff; JIM 2008: 22f). Kinder und Jugendliche können bspw. durch falsche medial vermittelte Informationen in ihrem Handeln beeinflusst werden, mit nicht altersgerechten Inhalten und fremden Personen in Kontakt kommen oder ein problematisches Verhalten entwickeln (vgl. Röll, Struckmeyer und Kunczik/Zipfel in diesem Band). Die bloße Fähig-
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keit zur Bedienung von Medientechnik sagt folglich relativ wenig über den kompetenten Umgang mit Medieninhalten aus. Nachfolgend soll deshalb dargestellt werden, inwiefern die Soziale Arbeit Kinder und Jugendliche in der Aneignung von Medienkompetenz, in der Nutzung von Medienbildungschancen sowie im Umgang mit problematischen Inhalten und entwickeltem Problemverhalten unterstützen kann.
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Soziale Arbeit im Kontext von Medien und Bildung
Die Soziale Arbeit als öffentliche und gesetzlich fundierte Instanz hat Verantwortung gegenüber dem Individuum, der Gesellschaft und ihrer Profession (Tripelmandat). Wie oben beschrieben, haben Medien durch den Wandel der Informations- zur Wissensgesellschaft eine zunehmend stärkere Wirkung auf gesellschaftliche Prozesse sowie auf die Gesellschaftsmitglieder. Liest man die Soziale Arbeit von ihrer pädagogischen Seite, lassen sich die Befähigung von Individuen zur Mündigkeit und zur gesellschaftlichen Beteiligung als traditionelle Zuständigkeiten herausstellen. Um diesen Zuständigkeiten nachzukommen werden zum einen inhaltlich-konzeptionelle Tätigkeiten und zum anderen konzeptionellstrukturelle Leistungen (für die Überwindung gesellschaftlicher und sozialer Barrieren) erbracht. In Bezug auf die Aktualität von Medien und Bildung in der Gesellschaft hat die Soziale Arbeit zwei Funktionen – eine bildende (Bildungsfunktion) und eine helfende (Hilfefunktion), die nachfolgend beispielhaft erläutert werden sollen.
Soziale Arbeit
Medien und Bildung in der Gesellschaft
Bildungsfunktion
Initiierung von Medienbildungsprozessen als Bestandteil der Persönlichkeitsbildung (medial) Bearbeitung sozialpädagogischer Probleme durch Eröffnung von Medienbildungschancen
Hilfefunktion
Vermittlung von Medienkompetenz als Bestandteil der Allgemeinbildung (formal) Bearbeitung sozialpädagogischer Probleme aufgrund von exzessiver Mediennutzung
Darüber hinaus sind die auf beide Funktionen bezogenen Methoden wesentlich. Im Folgenden werden neben der Bildungsfunktion und der Hilfefunktion auch im medienpädagogischen Bereich zentral diskutierten handlungsorientierten Methoden angerissen. 5.1 Bildungsfunktion der Sozialen Arbeit Die Soziale Arbeit ist, neben der Familie (informell) und der Schule (formal), als nichtformelle Bildungsinstanz, für professionell gestaltete, geplante und gewollte Bildungsprozesse zuständig (vgl. Böllert 2008: 10; Bock/Otto 2007: 206). So ist sie zum einen – defi-
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nieren wir Medien als zentrale Instanz der Wissensgesellschaft, die Sozialisation und Bildung von Individuen beeinflusst – im Sinne des Allgemeinbildungskonzepts Klafkis für die Vermittlung von Medienkompetenz verantwortlich. Zum anderen zielt sie auf die Bearbeitung entwicklungshemmender Strukturen ab, um Bildung allen Menschen gleichermaßen zugänglich machen und Exklusion aufgrund mangelnder (Medien-)Bildungschancen zu vermeiden. Die Angebote und Leistungen der Sozialen Arbeit sind vornehmlich am Konzept des lebenslangen Lerners ausgerichtet und mit der Vermittlung von praktischem und theoretischem Wissen auf verschiedene Adressatengruppen ausgelegt. Die Bildungsfunktion der Sozialen Arbeit kann wiederum in zwei Dimensionen unterteilt werden: a)
Initiierung von Medienbildungsprozessen als Bestandteil der Persönlichkeitsbildung
Die Thematisierung der Initiierung von Medienbildungsprozessen in der Sozialen Arbeit beschreibt klassische Bildungssituationen, die in nahezu allen Institutionen der Sozialen Arbeit wie im Elementarbereich (Kindertagesstätte, Hort etc.), im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit (Ganztagsschule, Offene Kinder- und Jugendarbeit etc.), in der Berufsausbildung, der Altenarbeit angeboten werden, dem „Unterrichten, Informieren und Animieren“ (im Sinne Giesecke) dienen, dabei aber keinen explizit beratenden, arrangierenden oder unterstützenden Auftrag verfolgen. Adressaten dieser Angebote nutzen vor allem die geschützten Räume sowie die Möglichkeit der sozialpädagogischen Betreuung, bewegen sich im Rahmen dieses Angebots aber selbstständig. Besonderheit dieser bildenden Dimension ist, dass das „Unterrichten“ der Adressaten, die „Informationsbeschaffung“ oder die „Animation“ dieser durch Medien (also: medial) erfolgt. Die medialen Bildungsprozesse im Kontext Sozialer Arbeit sind jedoch nicht vordergründig auf den Erwerb von Medienkompetenz ausgerichtet und zielen auch nicht auf die Bearbeitung eines sozialpädagogischen Problems ab. Vielmehr steht die (Weiter-)Bildung, hinsichtlich einer für die Person relevanten Fragestellung, im Zentrum. Es findet also ein Beitrag zur Persönlichkeitsbildung statt, der medial inszeniert wird (vgl. Theunert 2009: 25; Lutz/Struckmeyer 2009: 111ff). Beispielhaft können hier Situationen in sozialpädagogisch betreuten Einrichtungen (z.B. Jugendclub, Rehabilitationsklinik) genannt werden, in denen sich Adressaten mit Hilfe des Computers/dem Internet über eine bestimmte Sache informieren. Das kann für Jugendliche die Recherche nach einem Ausbildungsplatz und für Patienten einer Reha-Klinik die Informationsbeschaffung über mögliche Selbsthilfegruppen in Bezug auf ihr Krankheitsbild sein. Die Sozialpädagogen sind dabei meist Initiatoren, die ihre Adressaten z.B. über die Möglichkeit der Internetrecherche informieren, ihnen ggf. Internetseiten empfehlen. Die Umsetzung bzw. der Medienbildungsprozess erfolgt in der Regel jedoch selbstständig durch die Adressaten. b) Vermittlung von Medienkompetenz als Bestandteil der Allgemeinbildung Durch die Thematisierung der Vermittlung von Medienkompetenz als Bestandteil von Allgemeinbildung werden Institutionen der Sozialen Arbeit beschrieben, die einen klassischen medienpädagogischen Arbeitsschwerpunkt haben. Das pädagogische Handeln kann dabei, ähnlich wie in der Medienbildungsdimension (1a), auf ein breites Adressatenspektrum und
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unterschiedliche Bildungskontexte (Kita, Schule, Freizeit, Erwachsenenbildung etc.) zugeschnitten sein. Signifikanter Unterschied zur Initiierung von medialen Bildungsprozessen ist, dass die Adressaten Medien nicht völlig autonom nutzen, um sich Wissen bzgl. eigener Interessen anzueignen, sondern meist in handlungsorientierte Medienarbeit eingebunden sind. Sozialpädagogen sind dabei Anleiter von Medienbildungsprozessen und unterstützen ihre Adressaten beim Medienkompetenzerwerb. Mit der Flexibilisierung von Lebenswelten, bedingt durch die Erweiterung von medialen Erfahrungsräumen, wächst auch das Interesse an neuen Lernwelten (vgl. BMFSFJ 2005: 34; Harring/Rohlfs/Palentin 2007: 9). Die Autoren verweisen darauf, dass die Soziale Arbeit besonders gute Möglichkeiten hat auf diese Bildungsbedarfe von Kindern und Jugendlichen zu reagieren, indem sie Angebote macht, die im Gegensatz zu reinen schulischen Lernarrangements auf Freiwilligkeit beruhen und Anwesenheit oder Leistungen nicht bescheinigt oder benotet. Die Arbeit setzt an den Ressourcen und Interessen des Einzelfalls an, orientiert sich weniger an verallgemeinerbaren Inhalten (vgl. Böllert 2008: 10: Lutz 2009: 71f). Im Vordergrund dieser Dimension stehen also die Aneignung von Medienkompetenz und der Erwerb von analytischem, kritischem und vernetzendem Denken, kommunikativer Kompetenz, Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein, Flexibilität, Teamfähigkeit und Kreativität. Beispielhaft kann das bundesweite Filmprojekt CITYZOOMS angeführt werden. CITYZOOMS ist ein Projekt das von film up interkulturell Hamburg und einer Initiative vom up-and-coming, Internationales Film Festival Hannover sowie verschiedenen Partnereinrichtungen in den projektbeteiligten Städten München, Frankfurt, Dresden, Hamburg und Rostock organisiert und durchgeführt wurde. Thema des Projekts war die mediale bzw. filmische Auseinandersetzung von Schülern mit den „unterschiedlichen Gesichtern ihrer Heimatstadt“. Zentral für die methodische Umsetzung des Projekts war die handlungsorientierte Medienarbeit. Das praktische Arbeiten mit Medien war besonders auf den interkulturell-ästhetischen Zugang der Schüler zum Thema sowie auf den kommunikativ-sozialen Austausch untereinander, kurz auf den Erwerb von Medienkompetenz ausgerichtet. In Rostock, wo das Projekt vom „institut für neue medien“ durchgeführt und u.a. durch den Fonds Soziokultur gefördert wurde, hatte das Projektthema eine besonders starke soziokulturelle Ausrichtung. Die Schüler haben sich über die Medienarbeit in ihrem Filmteam bewusst mit dem „Andersseins“ von Menschen, Orten und Dingen in verschieden Stadtteilen auseinandergesetzt. Durch diesen inhaltlichen Schwerpunkt konnte dem Projekt eine sozialpädagogische Dimension gegeben werden, die die Schüler für die Auseinandersetzung mit der Vielfältigkeit von Menschen und Lebensformen, Lebenswelten und Interessen sowie die interkulturelle Kommunikation sensibilisierte (vgl. http://www.cityzooms.de/). 5.2 Hilfefunktion der Sozialen Arbeit Die Dimension der Hilfefunktion begründet sich auf Bedarfe, die bereits vielfach durch Studien nachgewiesen wurden: „Die Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft aufwachsen, sind nach wie vor unterschiedlich. Unterschiedlich sind auch die Formen, in denen sich Kinder und Jugendliche die Welt sozial und ästhetisch aneignen. Es ist hinreichend bekannt, dass z.B.
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spezifische Bildungsniveaus, soziale Lebenslagen und sozialräumliche Kontexte nachhaltig die jeweiligen Mediennutzungsformen beeinflussen“ (Niesyto 2000: 3).
Kinder und Jugendliche haben also, bedingt durch familiäre Umstände, wie dem Engagement der Eltern für die Bildungsbiographie ihrer Kinder, die finanziellen Ressourcen, die Wohnungslage, aber auch bedingt durch ihre individuellen kognitiven Möglichkeiten unterschiedliche Zugangs- und Bildungschancen, wenn es um den Erwerb von Medienkompetenz geht (vgl. auch Kutscher in diesem Band). Die Benachteiligung durch die Nichtaneignung von Medienkompetenz bewirkt jedoch nicht nur einen Ausschluss von Individuen aus der Mediengesellschaft, sondern kann auch zum exzessiven Medienkonsum führen. Beide Entwicklungen können Ursache für gesellschaftliche Exklusion und Reproduktion sozialer Ungleichheit sein, da ein kompetenter Umgang mit Medien für unser gegenwärtiges Gesellschaftskonzept erfolgsversprechend ist. Darin liegt die Begründung der Hilfefunktion der Sozialen Arbeit. Als intervenierende Instanz unterstützt sie in Notgeratende bei der Bewältigung sozialpädagogischer Probleme. Ziel ist es, Probleme von Adressaten zu bearbeiten, um Ressourcen zu erschließen, Defizite auszugleichen und ihnen die aktive und autonome Beteiligung an der Gesellschaft zu ermöglichen. Ähnlich wie die Bildungsfunktion ist die Hilfsfunktion der Sozialen Arbeit in Bezug auf Medien und Bildung in eine inhaltliche und eine strukturelle Dimension ausdifferenzierbar: a)
Bearbeitung sozialpädagogischer Probleme durch die Eröffnung von Medienbildungschancen
Die Thematisierung der Bearbeitung sozialpädagogischer Probleme durch die Eröffnung von Medienbildungschancen zielt auf die zunehmende gesellschaftliche Beteiligung benachteiligter Individuen ab. Adressaten sind vor allem Menschen, die aufgrund struktureller Bedingungen, wie der sozio-ökonomischen Lage, der ethnischen Herkunft, dem Geschlecht, regionalen Bedingungen, familiären Strukturen u.a. eingeschränkte Chancen im Zugriff auf Mediennutzungsmöglichkeiten und damit auch auf den Erwerb von Medienkompetenz haben. Diese Faktoren werden als Bedingung für Nichtnutzung und Abwendung von den Medien betrachtet und können langfristig zur Einschränkung der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit und Mündigkeit führen, da inzwischen nahezu alle Gesellschaftsbereiche durch Medien beeinflusst sind (vgl. Niesyto 2004: 123f). Solche sozialpädagogischen Angebote in Hilfeeinrichtungen, die ambulant (z.B. Kinder- und Jugendhilfe, Schulsozialarbeit, Schulverweigerer-Projekte, Interkulturelle Arbeit) oder (teil-)stationär (z.B. Frauenhaus, Psychiatrische Kliniken, Strafanstalten) sein können, zielen auf Adressaten aller Altersgruppen, denen der Zugriff auf Medien und Medienbildung ermöglicht werden soll. Dabei steht das Aufbrechen behindernder Strukturen durch die Hilfe des professionellen Sozialarbeiters im Zentrum. Methodisch wird meist auf die handlungsorientierten Medienarbeit, die u.a. auch Teile der sozialen Gruppenarbeit integriert, zurückgegriffen. Neben dem Ausbau der Medienkompetenz wird außerdem die Möglichkeit zur Thematisierung des sozialpädagogischen Problems wie bspw. Schulden oder Gewalt geboten (siehe auch Struckmeyer und Kunczik/Zipfel in diesem Band). Die Hilfe bei der Bearbeitung sozialpädagogischer Probleme durch die Eröffnung von Medienbildungschancen ist an die Bildungsdimension (1a) angelehnt, die auf die Initiierung medialer Bildungsprozesse ausge-
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richtet ist. Höchstes Ziel der Hilfe ist die Förderung der Persönlichkeits- und Allgemeinbildung von Adressaten. Die Besonderheit dieser helfenden Dimension besteht darin, dass Medienbildung initiiert wird, um Medienkompetenz zu erwerben und sozialpädagogische Probleme zu überwinden (vgl. Menzke/Wagner 2009: 129ff). Als Beispiel kann hier das Filmprojekt „Fichtestraße – Unser Block“ angegeben werden, dass im Jugendclub „Treff Derrsiedlung, Leverkusen“ mit Jugendlichen im Alter von 11 bis 17 Jahren realisiert wurde. Unter Anleitung einer pädagogischen Mitarbeiterin des Jugendtreffs setzten sich Jugendliche verschiedener ethnischer Herkunft mit ihrer Lebenswelt, einem Plattenbaugebiet am Rande Leverkusen-Steinbüchel, auseinander. Thematisiert wurden Herkunft, Religion und das alltägliche Leben zwischen Arbeitslosigkeit, Gewalt und Vorurteilen aber auch Zukunftswünsche und Träume der Jugendlichen (vgl. http://www.ksta.de/html/artikel/ 1212172880956.shtml). Über die handlungsorientierte Medienarbeit und das selbstständige Arbeiten im Team hatten die Jugendlichen die Möglichkeit zu diskutieren, was sie bewegt und wie sie sich als Migranten in Deutschland fühlen. Darüber hinaus erwarben sie Kenntnisse der Mediennutzung und fanden über die filmische Darstellung einen Weg, sich ihrer Umwelt mitzuteilen. Durch die sozialpädagogische Hilfefunktion wurde den Jugendlichen zum einen eine Plattform zur Thematisierung ihrer Probleme und zum anderen die Möglichkeit zum Erwerb von Medienkompetenz gegeben. Auf dem Bundesfestival Junger Film in Rostock wurde der Film im Jahr 2008 mit dem Förderpreis für die beste Gruppenarbeit ausgezeichnet. In Ludwigsburg war er für den „Deutschen Jugendvideopreis 2008“ nominiert. b) Bearbeitung sozialpädagogischer Probleme durch Vermittlung von Medienkompetenz Die Thematisierung der Bearbeitung sozialpädagogischer Probleme durch die Vermittlung von Medienkompetenz unterscheidet sich von der Dimension der Bearbeitung sozialpädagogischer Probleme durch die Eröffnung von Medienbildungschancen (2a), da das zentrale und zu bearbeitende Problem hier (primär) kein strukturelles ist, sondern durch individuelle, biographische Faktoren verursacht wurde. Problem ist hier nicht die Benachteiligung von Individuen hinsichtlich der Medienbildungschancen o.ä., sondern die problematische bzw. exzessive Mediennutzung. Die Bezeichnung „exzessive Mediennutzung“ ist dabei zugleich als Diagnose und Ursache des Problems zu verstehen (vgl. Cleppien/Kutscher 2004: 80ff; vgl. auch Cleppien/Scholz in diesem Band). Pädagogische Studien gibt es zu dieser Thematik bisher wenig, der Großteil der Studien fokussiert pathologische Auffälligkeiten. Vorhandene Ergebnisse weisen jedoch auf, dass die exzessive Mediennutzung (z.B. Computerspielsucht) häufig ein Ausgleichverhalten für psycho-soziale Defizite und Probleme (z.B. Identitäts-/Selbstwertprobleme, mangelnde soziale Kontakte, Probleme im Elternhaus oder mit der Peergroup) ist (vgl. u.a. Kratzer 2006). Strukturelle Faktoren können die Problementwicklung mit bedingen, sind aber selten Auslöser. Helfende Angebote können dabei einerseits durch die Einzelfallhilfe (z.B. Beratungsgespräche, Hilfe- bzw. Schuldenabbauplan) und andererseits durch die soziale Gruppenarbeit gemacht werden. Dabei kann gesprächsbasiert (z.B. Suchtberatung, auch OnlineBeratung), aber auch medienbasiert (z.B. handlungsorientierte Medienarbeit) gearbeitet
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werden (vgl. Gehrmann in diesem Band). Ziel ist vor allem, die Vermittlung von Medienkompetenz. Dabei steht in dieser Dimension nicht die Ebene der technischen Bedienbarkeit oder die eigene Gestaltung von Medien, sondern der kritisch-reflexive u.v.a. der zeitbeschränkte Umgang mit ihnen im Mittelpunkt. Zentral ist außerdem die Problemidentifikation (z.B. Sucht, Gewalt) und die Bearbeitung dieser mit Hilfe des Sozialpädagogen. Ähnlich wie bei der Bearbeitung sozialpädagogischer Probleme durch die Eröffnung von Medienbildungschancen (2a) kann die sozialpädagogische Hilfe ambulant, stationär oder teilstationär erfolgen und inhaltlich sowie methodisch auf alle Adressatengruppen angepasst werden. Beispielhaft können Projekte von Sucht- oder Gewaltberatungsstellen genannt werden, in denen sich Adressaten medial (z.B. Podcast, Kurzfilm) mit ihrem u.a. medienbasierten Problem auseinandersetzen. 5.3 Handlungsorientierte Medienarbeit als Methode der Sozialen Arbeit Im Gegensatz zur traditionellen bewahrpädagogischen Medienarbeit, die auf den Schutz von Kindern vor problematischen Medieninhalten ausgerichtet war, wird Medienpädagogik heute vornehmlich mit einer starken handlungsorientierten Ausrichtung diskutiert. Damit wird auf einen bewussten kritischen und kreativen Umgang mit Medien und ihren Inhalten abgezielt. Im Zentrum der handlungsorientierten Medienarbeit steht die praktische Herangehensweise, bei der die Lernenden zum eigenen Ausprobieren angeregt werden. Die handlungsorientierte Medienarbeit findet größtenteils in Form von mehr oder weniger langfristigen Projekten statt. Unabhängig vom zeitlichen Rahmen der Projekte wird konzeptionell besonderer Wert auf Ganzheitlichkeit und kooperierendes Lernen gelegt. Bereits mit Beginn des Projekts werden die Teilnehmenden in Planungs-, Organisations- und Arbeitsabläufe eingebunden und somit zu bewussten (Mit-)Gestaltern ihres persönlichen Bildungsprozesses gemacht (vgl. Kubicek/Welling 2004: 67ff). Die projektverantwortlichen Sozialpädagogen bzw. Medienpädagogen werden als Initiatoren der Lernprozesse beschrieben, die an den Ressourcen, der Lebenswelt sowie den Interessen der Adressaten orientiert sind. Sie haben dabei moderierende und organisatorische Funktion bei der Unterstützung von Gruppenprozessen. Die Projektteilnehmenden werden vorwiegend eigenständig beschrieben, entscheiden bspw. selbst, welches Thema (z.B. Musikstile, Clique) in ihrem Medienprojekt bearbeitet, wie das Thema medial umgesetzt wird (z.B. Kurzspielfilm, Fotostory, Blog, Hörspiel) und wer dabei welche Funktion oder Rolle übernimmt (z.B. Redakteur, Techniker). Ziel der handlungsorientierten Medienarbeit ist zum einen die Vermittlung von Medienkompetenz im Sinne Baackes. Den Projektteilnehmenden soll ein umfangreiches Wissen über Mediensysteme vermittelt werden. Damit sind sowohl instrumentell-qualifikatorische Kompetenzen (z.B. Bedienung von Medientechnik) als auch klassisches Wissen (z.B. über den Zusammenhang von Medienbeiträgen und Werbung) gemeint. Darüber hinaus sollen sie befähigt werden analytisch problematische gesellschaftliche Prozesse zu erfassen und ihr Wissen reflexiv auf sich selbst und auf ihr Handeln anzuwenden. Zudem sollen sie in die Lage versetzt werden, das analytische Wissen und den reflexiven Selbstbezug sozial verantwortlich und ethisch vertretbar aufeinander abzustimmen. Kindern und Jugendlichen sollen Kompetenzen der rezeptiven und interaktiven Mediennutzung erwer-
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ben und Medien innovativ-kreativ selbst gestalten und sich aktiv an gesellschaftlichen Prozessen beteiligen. Zum anderen steht die Vermittlung sozialer Kompetenz bzw. kommunikativer Kompetenz im Zentrum der handlungsorientierten Medienarbeit. Gemeint sind sowohl Fähigkeiten wie z.B. Selbstvertrauen und Eigenverantwortung, Team-, Konflikt-, Kommunikations- und Kritikfähigkeit sowie Toleranz und Akzeptanz. Daneben sind Medienprojekte die Plattform für die Aneignung von Sachwissen, das für die mediale Thematisierung einer bestimmten Fragestellung angeeignet wird. Das Thema kann dabei völlig frei gewählt werden und z.B. an persönliche Interessen der Adressaten anknüpfen aber auch einen schulischen Schwerpunkt haben. In der Sozialen Arbeit ist die handlungsorientierte Medienarbeit besonders gut anwendbar und sehr beliebt, weil sie dem Pädagogen durch die Arbeit mit einem Medium (z.B. Kamera, Computer, Handy) zwar einen Projektrahmen vorgibt, ansonsten aber eine große thematische und methodisch-didaktische Freiheit ermöglicht (vgl. auch Holzwarth und Struckmeyer in diesem Band). Der Sozialpädagoge kann entsprechend seiner Adressatengruppe ein Bildungs- oder Hilfekonzept entwickeln, bei dem der Erwerb von Medienkompetenz oder die Bearbeitung eines sozialpädagogischen Problems, oder die Kombination aus beidem zentral sind (vgl. Anfang/Uhlenbruck 2009: 105ff).
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Medienhandeln und Familie
Die Familie, Verwandte sowie der Freundeskreis von Kindern und Jugendlichen bilden das soziale Herkunftsmilieu und sind, als informelle Erfahrungs- und Bildungsinstanz, der Ort für ungeplantes, keinem Lehr-, Erziehungs- oder Hilfeplan folgenden Lernens. Die informelle Bildung findet also im sozio-kulturellen Umfeld, in der Freizeit statt und umfasst vor allem die soziale und kulturelle Bildung von Individuen (vgl. Böllert 2008: 10; Bock/Otto 2004: 206). Für die Vermittlung von Medienkompetenz und die Initiierung von Medienbildungsprozessen ist die familiäre Situation zum einen bestimmend dafür, welche materiellen Ressourcen (Medientechnik) dem Kind für Bildungsprozesse zur Verfügung stehen. Zum anderen ist die Familie basal für die Erschließung struktureller Bildungsmöglichkeiten (Kita, Schule, Freizeitaktivitäten) und für die Eröffnung und Initiierung von Bildungschancen. Dem Modelllernen wird eine entscheidende Rolle zugeschrieben, da sich Kinder an Verhaltens- und Handlungsweisen ihrer Eltern orientieren (vgl. Kubicek/Welling 2004: 62 ff). Die technische Ausstattung der Haushalte hat, wie oben beschrieben, sehr stark zugenommen. Die mangelnde Verfügbarkeit von Medientechnik bei der Aneignung von Medienkompetenz wird deshalb heute kaum mehr als Problem für Aneignungsprozesse diskutiert (vgl. Kutscher in diesem Band). Stattdessen rücken der Bildungsstand der Eltern sowie der sozio-ökonomische Status von Familien zunehmend in den Fokus, wenn über zentrale Einflussfaktoren der Bildungsbiografie von Kindern diskutiert wird. Bundesweite Studien bilden ab, dass die Bindung an Medien sich in Abhängigkeit vom Bildungsabschluss verändert. So verliert bspw. der Fernseher als Leitmedium mit zunehmender formaler Bildung an Bedeutung, die Wichtigkeit von Literatur hingegen nimmt zu. Die unterschiedliche Bedeutung von Medien für die Eltern wirkt sich nachweislich auch auf das Nutzungsverhalten der Kinder aus. So nutzen bspw. Kinder von Haupter-
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ziehern mit einem Hauptschulabschluss das Fernsehen und das Radio entsprechend häufiger als Kinder von Eltern mit höheren Bildungsabschlüssen. Kinder von Eltern mit Abitur oder Studienabschluss beschäftigen sich bedeutend häufiger mit Büchern, dem Computer und dem Internet (vgl. KIM 2008: 55ff). Vergleichbare Ergebnisse weist die ARD/ZDFOnlinestudie auf. Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Internetnutzung bzw. Nichtnutzung und dem Bildungsabschluss. Mehr als 70% der Offliner sind Volks- und HauptschülerInnen. Prozentual sind außerdem mehr Frauen (62,4%) als Männer (37,6%) offline. Auch wenn die Zahl der Offliner im Vergleich zu den Vorjahren geringer wird, die prozentuale Verteilung bleibt gleich und zeigt deutlich die anhaltende Exklusion von bildungsfernen Personengruppen aus der Mediengesellschaft (vgl. ARD/ZDF-Onlinestudie 2009). Neben dem klassischen Modelllernen der Kinder und Jugendlichen von Menschen aus ihrem sozialen Umfeld, spielt die Eröffnung struktureller Möglichkeiten für die Aneignung von Medienkompetenz und für die Nutzung von Medienbildung eine ausschlaggebende Rolle. Besonders in der (frühen) Kindheit bilden durch Eltern inszenierte bzw. organisierte Lernarrangements die Grundlage für kognitive Aneignungsstrukturen (vgl. Jörissen/Marotzki 2009: 21f). Über die familiären Entwicklungsimpulse hinaus sind auch elterliche Entscheidungen, die die schulische Laufbahn sowie die Freizeitgestaltung ihrer Kinder betreffen, von großer Bedeutung. Die Eröffnung oder Verschließung von Möglichkeiten steht häufig in einem engen Zusammenhang mit der Bildung und der sozialen Situation der Eltern. Einige Eltern wissen bspw. nicht, welche unterschiedlichen (Bildungs-)Angebote ihnen und vor allem ihren Kindern zur Verfügung stehen. Die Kompetenzförderung sowie der sozial-kommunikative Austausch mit verschiedenen Menschen bleiben in Folge begrenzt. Diese Beobachtung kann gleichermaßen für den Bereich der nicht-formellen Bildung (Kita, Hort, Freizeit etc.) als auch für den Bereich der formalen Bildung (Schule) durch dekliniert werden (vgl. Prölß 2009: 13ff). Vielfältige Entwicklungsimpulse bestimmen die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen entscheidend mit, begleiten Entwicklungsschritte/-stufen und vermitteln basale moralische und ethische Werte sowie Normen und beeinflussen die Chance zur Erschließung von Lebensräumen (vgl. Deinet in diesem Band). Abhängig von der sozialen Lage und dem Bildungsgrad der Eltern variiert die Vielfalt an Entwicklungsimpulsen, die Kindern und Jugendlichen geboten werden. Die ungleichen Chancen im Erwerb von Medienkompetenz und in der Nutzung von Medienbildung sind also u.a. in den ungleichen familiären Voraussetzungen begründet und können Ursache für sich verfestigende strukturelle Benachteiligungen in Bildungsprozessen sein und gesellschaftliche Exklusion bewirken, die wiederum zur Reproduktion sozialer Ungleichheit führt. Es besteht folglich die Notwendigkeit Kindern und Jugendlichen Bildungsangebote über Familie und Schule hinaus zu eröffnen, um die Verschiedenheit familiären Voraussetzungen zu kompensieren. In den nicht-formellen, offenen und flexiblen Bildungsangeboten der Sozialen Arbeit kann, wie bereits im Abschnitt zur handlungsorientierten Medienarbeit beschrieben, auf unterschiedliche Bedarfe und Ressourcen von Adressaten eingegangen werden, so dass das Angebot individuell angepasst den Adressaten genau in dem Bereich bildet, wo eine Förderung nötig ist. Die Bildungsinhalte können dabei von sozialen Kompetenzen über Sachwissen bis hin zur Medienkompetenz variieren. Entscheidend für Bildungsangebote der Sozia-
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len Arbeit sind die starke lebensweltliche und interessenorientierte Ausrichtung sowie der aufsuchende Charakter. Dennoch stehen diese Angebote prinzipiell in Konkurrenz zu medialen Alternativangeboten jugendlicher Freizeitgestaltung. Neben ungleichen Voraussetzungen, die Kinder und Jugendlichen aufgrund von familiären Situationen haben und gegen die mit klassischen (Medien-)Bildungsangeboten gegengesteuert werden kann, gibt es die „bewusste“ Benachteiligung von Risikogruppen. Ein zentraler Aspekt der Bildungsdiskussion in Anschluss an die PISA-Studie ist das Ergebnis, dass in keinen anderen untersuchten Land soziale Herkunft bzw. soziale und regionale Disparitäten für den Wissenserwerb von Kindern und Jugendlichen so entscheidend ist wie in Deutschland (vgl. Otto/Rauschenbach 2004: 12ff). Besonders betroffen sind Kinder mit Migrationshintergrund. Hinzu kommt erschwerend, dass die „Bildungsbremse Herkunft“ nicht wie zunächst vermutet – erst in den höheren Klassenstufen, also nach Absolvierung der Grundschule im mehrgliedrigen Schulsystem zu wirken beginnt, sondern die Reproduktion sozialer Ungleichheiten sich bereits im Vorschulalter anbahnt (vgl. Bock/Otto 2007: 203). Hier kann zum einen auf pädagogischer Ebene durch ein besonderes Hilfeangebot der Sozialen Arbeit interveniert werden, indem sie ihr Problem thematisieren können und zugleich an das Lernen mit Medien herangeführt werden (siehe 2a, b). Darüber hinaus wird die Beschränktheit einzelner Projekte der Medienarbeit im Diskurs herausgestellt und Forderungen nach strukturellen Maßnahmen auf sozial-politischer Ebene gestellt, um Risikogruppen und Minderheiten ins Gesellschafts- und besonders ins Bildungssystem zu integrieren.
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Medienhandeln und Schule
Schulen werden als formale Bildungsinstanzen bezeichnet, die in geregelten Prozessen und an Lehr- bzw. Rahmenplänen orientiert, einem Wissenskanon folgen und Leistungen nach festgelegten Kriterien überprüfen und zertifizieren (vgl. Böllert 2008: 10). Die formale Bildung in staatlichen Schulen ist stark auf einem materialen Bildungsverständnis gegründet und zielt besonders auf den Erwerb von Sach- und Fachwissen (historische Daten, naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten etc.). Die Arbeit mit Medien (Mediendidaktik) und die Medienbildung sind bisher kaum in den schulischen Kontext integriert. Obwohl bereits 1995 auf der Kulturministerkonferenz beschlossen wurde, Medienpädagogik als festen Bestandteil von Allgemeinbildung auch in Schulen zu integrieren gelten Bundesländer wie Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit ihren Konzepten und Rahmenplänen zur Medienerziehung eher als Vorkämpfer. Konzeptionell soll Medienpädagogik in der Schule Schülern zu einem sachgerechten, selbstbestimmten und sozial verträglichen Umgang mit Medien befähigen. Vermittelt werden sollen nach Tulodziecki (2004) 1. 2. 3. 4.
Auswählen und Nutzen von Medienangeboten Gestalten und Verbreiten von eigenen Medienbeiträgen Verstehen und Bewerten von Mediengestaltung Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen
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Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion und Medienverbreitung
Die Realität an Schulen sieht jedoch anders aus. Umfragen ergeben, dass lediglich zwei Fünftel der Kinder mit Computererfahrung, den PC auch regelmäßig in der Schule nutzen (vgl. KIM 2008: 34ff). Wird der Computer genutzt, dann hauptsächlich in den Fächern Deutsch und Mathematik. An weiterführenden Schulen bedienen sich zunehmend mehr Fremdsprachenlehrer des Computers, um ihren Unterricht zu gestalten. Für künstlerischkreative sowie wirtschaftlich-politische Fächer wird der PC allgemein vergleichsweise wenig genutzt. Verwendet wird der Computer vor allem für Lernprogramme, Internetrecherche und zur Textbearbeitung. Es liegt also eine klare Ausrichtung auf den technischbedienenden Aspekt von Medienkompetenz vor. Auf kritisch-analytische und kreativgestalterische Ansätze wird demgegenüber wenig zurückgegriffen. Das wirkt sich auf die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen aus. Nur etwa 10% der befragten Kinder, im Alter von 6 bis 13 Jahren, geben an Erfahrungen in kreativ-produzierenden Tätigkeiten, bspw. in der Gestaltung einer (Schüler-)Zeitung, der Produktion eines Videofilms oder einer Radiosendung, in der Freizeit oder in der Schule, zu haben (vgl. ebd.). Die praktische Umsetzung der Medienkompetenzvermittlung und Medienbildung ist schwierig, weil sie mit vielen Hürden verbunden ist. Probleme ergeben sich besonders durch die Schulstrukturen, der kognitiv orientierten Bildungsarbeit mit Leistungs- und Notensystem, die der Projektarbeit, wie sie für die handlungsorientierte Medienarbeit und dem autonomen Lernen typisch ist, konträr gegenübersteht. Aufgrund der rasanten medialen Entwicklung in den vergangenen Jahren ist die Generation der Kinder und Jugendlichen heute zumeist erfahrener als ihre Lehrer – zumindest was die technischen Fähigkeiten betrifft. Das führt oft zu Unsicherheit, mangelnder Motivation und Verweigerungshaltung der Lehrer, was Medienpädagogik bzw. Projektarbeit im Allgemeinen betrifft (vgl. Dietsch/Pöttinger 2009: 123ff). Aus diesem Grunde wird die Umstrukturierung des Bildungssystems und die Fokussierung auf ein ganzheitliches Bildungsverständnis gefordert, die auf die Anknüpfung an informelle Lernprozesse und der Orientierung an den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen basiert (vgl. Schell 2009: 91f). Die Spezialisierung der schulischen Lernarrangements, die Verkürzung der Bildung auf den reinen Wissenserwerb (Faktenwissen) und darauf bezogene Leistungsanforderungen, sollen durch Umstrukturierungen mit dem Ziel von Ganztagsschulkonzepten aufgehoben werden, um Schule nicht nur als Lernort, sondern auch als Lebensort zu etablieren. Dadurch soll der Erwerb eines breiteren Kompetenzspektrums und ein gemeinsames Lernen ermöglicht werden, bei dem wiederum der Erwerb von Medienkompetenz, als kommunikative Kompetenz und Handlungskompetenz besser zu integrieren wäre. Zudem wird gefordert, dass an einer systematischen Integration von Medienkompetenzvermittlung in allen Schulformen (Vor-, Grund-, Hauptschule und Realschule sowie Gymnasium, berufliche Schulen und Sonderschulen) gearbeitet werden muss (vgl. Lauffer 2006: 38ff). Als grundlegend wird der medienpädagogische Schwerpunkt im schulischen Kontext angesehen. Begründet wird dies mit der Gewährleistung vom Erwerb der gesellschaftlich wichtigen Medienkompetenz, die stark von Faktoren mitbestimmt wird, die auf bildungspolitischer Ebene erörtert werden müssen. Ziel ist es, allen Schülern gleichermaßen nötige Kompetenzen für die Mediengesellschaft zu eröffnen – unabhängig davon, welche Schule
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sie besuchen. Aus dieser Perspektive wird Soziale Arbeit interessant, weil durch eine Kooperation mit der Schule, besonders im Ganztagsschulkontext als Nachmittagsangebot, aber auch an Projekttagen oder -wochen, Medienangebote gemacht werden können, die Schulen bzw. Lehrer aus o.g. Gründen derzeit noch nicht leisten können. MecklenburgVorpommern hat bspw. Medienbildung durch außerschulischen Partner an den Schulen verankert. Damit werden Lehrer bei der Erfüllung des, im Rahmenplan Medienerziehung in Mecklenburg-Vorpommern verankerten, Medienbildungsauftrags entlastet und die Integration von Medien in den Fachunterricht unterstützt (vgl. http://medienundschule.inmv.de/). Durch die außerschulische bzw. außerunterrichtliche Medienarbeit von Sozialpädagogen/Medienpädagogen in Projekten können Kompetenzen von Lehrern ergänzt und die Bildungsbedarfe der Kinder und Jugendlichen erfüllt werden.
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Herausforderungen und Zukunftsperspektiven
Betrachtet man die Auseinandersetzung mit Medienarbeit in der Sozialen Arbeit stehen v.a. folgende Herausforderungen und Zukunftsperspektiven im Vordergrund:
Sensibilisierung der Erzieher für Medienkompetenz und Medienbildung: Begründet wird diese Aufgabe damit, dass Medien im Allgemeinen eine gesellschaftlich wichtige Bedeutung haben, aber Eltern und Lehrer noch nicht ausreichend für mit Medien verbundenen Chancen und Risiken sensibilisiert sind. Beispielsweise wird bei der Befragung der Haupterzieher nach der Relevanz verschiedener Themen in ihrem Alltag, von 74% der Befragten die Schule genannt. Dicht gefolgt ist das Thema Schule von der Diskussion über Erziehungsfragen (73 %), Liebe und Partnerschaft (72 %) sowie Gesundheit (70 %). Über Medien (allgemein) wird laut Angaben der Eltern (54 %) vergleichsweise wenig gesprochen. Speziellere Themen wie dem Interesse ihrer Kinder am Internet (34 %) oder am Handy (21 %) sind diesem nachgeordnet. Schlusslicht bilden die Computerspiele, die nur jeden zehnten Haupterzieher (11 %) besonders beschäftigen (vgl. KIM 2008: 57).
Angebote machen: In der Thematisierung der Angebote werden Kinder und Jugendliche als aktive „Nutzer“ gesehen, die mediale Angebote nicht willkürlich konsumieren. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass sie mit zunehmendem Alter ansprechende Angebote bewusst auswählen. Gleichzeitig werden sie verstärkt selber aktiv. Sie beteiligen sie sich in Form von Zuschriften, Anrufen, SMS, E-Mails an Gewinnspielen, Abstimmungen, schicken Grüße und Wünsche über den Fernsehbildschirm und besuchen die Internetseiten der Sender (vgl. KIM 2008: 41). Gefordert wird, dass auf solche Interessen und Potenziale (medien-)pädagogisch reagiert werden muss, um Kinder und Jugendliche durch ressourcenorientierte Angebote Medienkompetenz zu fördern und zu stärken.
Bildungsgerechtigkeit, gleichberechtigte Eröffnung von Bildungschancen: Als eine zentrale Herausforderung wird gesehen, dass Kindern und Jugendlichen unabhängig von sozio-kultureller Lage, Bildungsstand der Eltern, ethnischer Herkunft etc. gleiche Bildungschancen zugänglich gemacht werden müssen. Da familiäre Ausgangsbedin-
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gungen Kindern und Jugendlichen unterschiedliche Startvoraussetzungen bieten, wird besonders die Verpflichtung von Schule und außerschulischen Bildungseinrichtungen thematisiert.
Förderung Benachteiligter (Inklusion): Studien zeigen, dass besonders Kindern und Jugendliche aus bildungsfernen Familien mehr konsumieren und Medieninhalten weniger kritisch gegenüberstehen. Hier ist es notwendig den Angeboten von Bildungsinstitutionen einen besonderen Förderschwerpunkt zu geben, um strukturelle Benachteiligung von Individuen zu reduzieren bzw. ihr entgegen zu wirken.
Integration von Medienangeboten in Bildungsinstitutionen: Medienkompetenzvermittlung und Medienbildung werden durch ihre Notwendigkeit für eine gelingende gesellschaftliche Beteiligung von Individuen, Teil der Allgemeinbildung begründet. Politisch wird daher gefordert, diese in Konzepten aller Bildungsinstitutionen (Kita, Schule, Erwachsenenbildung, Seniorenbildung) zu integrieren.
Kooperation mit Medienpartner: Um unzureichende Ausgangsbedingungen für Medienarbeit (fehlende Technikausstattung, fehlende Medienkompetenz von Pädagogen etc.) an Schulen oder in anderen Bildungseinrichtungen zu kompensieren, wird auf die Möglichkeit einer Unterstützung durch Medienpartnern wie Medienwerkstätten, Offene Kanäle für Fernsehen oder Radios, aber auch „freie Medienberufler“ hingewiesen. Diese ebenfalls öffentlichen Angebote dienen der Unterstützung, um Angebote in anderen Kontexten und Institutionen zu realisieren.
Finanzierung von Kooperationspartnern: Für systematische und flächendeckende Medienangebote (z.B. unterrichtsergänzende Angebote), die gleichermaßen allen Kindern im Bereich der Vorschul-, Schul- und Freizeitbildung gemacht werden soll, werden darüber hinaus langfristige Finanzierungsmöglichkeiten für kita- oder schulexterne Medienpartner gefordert, die auch über kurzfristige Projektfinanzierung hinausgehen.
Aus- und Weiterbildung des pädagogischen Personals: Fehlende medienpädagogische Kompetenzen können gerade durch ältere Lehrer, Sozialpädagogen, Erzieher etc., die nicht wie ihre Adressatengeneration völlig selbstverständlich mit Medien aufgewachsen sind nur durch Weiter-/Fortbildungen auffüllen. Diese sind strukturell in den Arbeitsalltag zu intergieren.
Literatur Anfang, G./Uhlenbruck, G. (2009): Medien selber machen bildet – Aktive Medienarbeit. In: Demmler, K./Lutz, K./Menzke, D./Prölß-Kammerer, A. (Hrsg.): Medien bilden – aber wie?! Grundlagen für eine nachhaltige medienpädagogische Praxis. München, S. 105-110 ARD/ZDF-Medienkommission (2009): ARD/ZDF- Onlinestudie 2009. Baden-Baden. Baacke, D. (1996): Medienkompetenz – Begrifflichkeit und sozialer Wandel. In: Rhein, Antje von (Hrsg.): Medienkompetenz als Schlüsselbegriff. Bad Heilbrunn, S. 112-124
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Ulrike Lerche
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Onlineberatung – eine Herausforderung für die Soziale Arbeit Hans-Joachim Gehrmann 1
Eine Problemskizze zur Einführung
Die Suche und das wachsende Bedürfnis nach Informationen, Orientierungen, Beratung oder konkreter Hilfe in den verschiedensten Lebenslagen ist ein zentrales Phänomen unserer durch zunehmende Unübersichtlichkeit und Differenzierung geprägten Wissensgesellschaft. Hohe Einschaltquoten in Sendungen des Infotainment-TV – wie z.B. „Die Super Nanny“ oder „Raus aus den Schulden“ – sprechen ebenso dafür wie die Vielzahl der Chats oder Foren im Internet, die sich – teils eingebunden in soziale Netze wie studivz oder facebook – oft spontan entwickeln und geprägt sind durch den engagierten Austausch von persönlichen Erfahrungen und subjektiven Meinungen im Sinne von Alltagsgesprächen. Von einer professionellen Beratung im Sinne sozialer Dienste und Leistungen der Sozialen Arbeit sind diese medialen Angebote weit entfernt. Vielmehr laufen sie Gefahr, etwa durch Halbwissen, falsche und für den Ratsuchenden oft auch gefährliche Informationen zu verbreiten, wenn man an diverse Foren zum Thema Drogen, Armut oder psychische Erkrankungen denkt. Gleichzeitig steht aber auch die Soziale Arbeit in ihren zentralen Handlungsfeldern vor großen Schwierigkeiten. Sie erlebt eine wachsende Nachfrage nach Beratung – etwa im Bereich der Schuldnerberatungen, der Erziehungs- und Familienberatung oder auch der Suchtberatung. Sei es, dass die Wartezeiten immer länger oder die Beratungsleistungen immer eingeschränkter werden oder man nicht auf zunehmende Fälle wie z.B. bei Spieloder Onlinesucht mit zusätzlichen Beratungskapazitäten angemessen reagieren kann. Denn die öffentlichen und die freien Träger der Sozialen Arbeit haben immer größere Probleme ihre Aufgaben finanzieren zu können. Personelle und finanzielle Einschränkungen und Reduzierungen beschneiden quantitativ und qualitativ das Beratungsangebot der sozialen Dienste. Sie stehen damit vor der Herausforderung noch stärker als bisher innovative Wege und Methoden nützen zu müssen, um ihrem Anspruch und Auftrag auf fachlich fundierte Beratung gerecht werden zu können. Eine solche „spezielle Dienstleistung für Einzelpersonen, Familien und Institutionen, um diesen zur eigenständigen Lösung von Problemen im psychosozialen und/oder materiellen Bereich zu verhelfen“, muss nach Auffassung der Beratungstheorie neben Erkenntnissen und Verfahren der Verwaltungs- und Rechtswissenschaften (Belardi 2005: 40) besonders die „disziplinspezifischen Debatten der Psychologie, Soziologie, Pädagogik (und) sozialen Arbeit“ in ihren Ansatz integrieren (vgl. u.a. Engel/Nestmann/Sickendiek 2004: 35). Wenn darüber hinaus nach Frank Nestmann (2008: 84), das „‚Blended Counselling‘ im Wechsel von Beratung von Angesicht zu Angesicht und virtuell vermittelt, […] die Zukunft der Beratung auch in der sozialen Arbeit prägen“ wird, steht für die Soziale Arbeit eine weitere Aufgabe an. Sie hat sich dann auch zunehmend mit den Ansätzen der Informations-
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Hans-Joachim Gehrmann
und Kommunikationstechnologie und hier speziell mit Entwicklungen der Sozialinformatik (vgl. z.B. Kreidenweis 2004) auseinanderzusetzen, wenn sie ihre Beratung online auch im Internet anbietet. Vor dem Hintergrund der bisher skizzierten Probleme könnte eine fachlich fundierte Onlineberatung zum einen dazu beitragen der Vielzahl der im Netz Ratsuchenden professionelle Orientierungshilfe anzubieten, die es ihnen erspart auf unseriöse Plattformen zurückgreifen zu müssen. Zum anderen liegt in der Onlineberatung für die Beratungsdienste die Chance, ihre Angebote zielgenauer und effizienter anbieten zu können und so bei knapper werdenden Ressourcen einen Teil dieser Mangelsituation durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien auszugleichen. Anlehnen könnte man sich hier an Vorbilder und Erfahrungen aus dem Bereichen von e-banking, e-learning oder auch dem e-government. Diese dürfen jedoch nicht unreflektiert auf das Beratungsfeld übertragen werden. Vielmehr ist es die Aufgabe einer medial-internetorientierten Beratungsarbeit, Methoden und Strukturen zu entwickeln, die die Beratungsarbeit nicht den Bedingungen und der Technologie des Internets anpasst, sondern sich darum bemüht, die Ziele einer verantwortlichen Beratung mit den sich immer mehr erweiternden Möglichkeiten des Netzes effizienter und optimaler zu erreichen. Auf dem Weg dorthin stehen Praxis, Forschung und erst recht die Theorie noch am Anfang. So wird der Onlineberatung in der Grundlagenliteratur zur Beratung erst seit kurzem Aufmerksamkeit geschenkt. In der vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge herausgegeben 6. völlig überarbeiteten und aktualisierten Auflage des Fachlexikons für Soziale Arbeit kommen die Stichworte „Internet“ oder „Onlineberatung“ gar nicht vor und sie werden auch nicht unter dem Beitrag „Beratung“ erwähnt. Lediglich unter „Jugendberatung“ skizziert Thiery (2007) in Verbindung mit dem bke-Beratungsportal (vgl. dazu auch 2) den Ansatz der Onlineberatung. Dagegen muss man aber auch sehen, dass seit 2005 mit der Fachzeitschrift „e-beratungsjournal“ eine Plattform für die deutschsprachige Fachdiskussion besteht, im selben Jahr die „Deutsche Gesellschaft für Online-Beratung“ (DGOB) gegründet wurde und das erste „Handbuch zur Online-Beratung“ (Kühne/ Hinterberger 2009) erschienen ist. Es wird nun in den nächsten Jahren darauf ankommen, ob und wie die Soziale Arbeit auf dem Feld der Beratung diese bisher sehr getrennt verlaufenden Entwicklungsstränge zusammenführen und zu einer Theorie und Praxis des „Blended Counselling“ verbinden kann. Die nachfolgenden Ausführungen sollen dazu einen Beitrag leisten, indem exemplarisch an einigen zentralen Aspekten aufgezeigt wird, auf welchen konkreten bisherigen Ansätzen und Erfahrungen die weitere Fachdiskussion dabei aufbauen kann und welche Probleme und Herausforderungen es zu lösen und bewältigen gilt. Begrifflicher Ausgangspunkt dafür ist die weit verbreitete Definition der Onlineberatung. Darunter wird eine computergestützte, medial vermittelte und interaktiv stattfindende Beratung verstanden. Diese Form von Beratung enthält unterschiedliche Kommunikationsformen, wie E-MailBeratung, Chatberatung, Beratung in Foren (vgl. u.a. Brunner 2009). Im folgenden Teil werden allgemeine Entwicklungen des Angebotes und seine Nutzer thematisiert. Daran anschließend werden Aspekte einer erfolgversprechenden Onlineberatung beschrieben, wie diese gegenwärtig diskutiert werden. Abschließend wird auf zukünftige Herausforderungen hingewiesen.
Onlineberatung – eine Herausforderung für die Soziale Arbeit
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Entwicklung des Angebotes und seine Nutzer
Die Form der computergestützten Beratung hat sich im Laufe von fast 15 Jahren, mit zunehmender Dynamik seit ca. 2004, im deutschsprachigen Raum mittlerweile zu einem fachlich und inhaltlich sehr heterogenen Angebot entwickelt, das nur noch schwer zu überschauen ist (vgl. u.a. Döring 2006). Innovative erste Versuche und Ansätze gingen zu großen Teilen aus Projekten von Selbsthilfegruppen hervor, die gezielt Beratungsangebote im Internet entwickelten. Diese wandten sich an spezielle Personengruppen mit z.T. tabubesetzten Themen, die von den „normalen“ klassischen Beratungsstellen vor Ort nur unzureichend angesprochen und erreicht wurden. Besonders Themen wie „Mager-/Esssucht“, „Schwule und Lesben“ oder auch Angebote zur Aids-Beratung gehörten neben allgemeinen Aspekten der psychosozialen Beratung zu den thematischen Vorreitern der Onlineberatung. Innerhalb des Beratungsportals www.das-beratungsnetz.de wurden viele dieser Aktivitäten gebündelt und zunehmend durch weitere Themenbereiche, auch aus dem Beratungsangebot der etablierten Wohlfahrtsverbände, erweitert und ergänzt. So bieten gegenwärtig etwa 150 verschiedene Beratungsstellen alleine in diesem Portal die Möglichkeit einer Onlineberatung an. Auf der Grundlage eines Drei-Phasenmodells der Institutionalisierung versucht Kühn gegenwärtig diese Entwicklung systematisch zu erfassen. Nach einer Vorstufe der Institutionalisierung als „Habitualisation“ zwischen 1995 bis 2002 erkennt er seit 2003 eine weitere Annäherung an die Institutionalisierung im Sinne einer „Objectification“, die gekennzeichnet ist durch „eine Zunahme an systematischer Beobachtung und Reflexion des Arbeitsgebietes“ (Kühn 2009b: 5). Aber eine „Sedimentation“ der Onlineberatung, in der als vollständige Institutionalisierung in der dritten Phase Standards und Normen für die Online-Beratung universell anerkannt und nicht mehr in Frage gestellt werden, sieht auch er noch nicht erreicht (vgl. ebd.: 6). Einen wichtigen Beitrag zur weiteren Institutionalisierung könnten aber die Wohlfahrtsverbände leisten, die innerhalb ihrer Organisationen immer stärker an einem eigenen, fachlich qualifizierten Onlineberatungsprofil arbeiten. Neben den ca. 70 Beratungsangeboten des „Paritätischen“ (unter www.der-paritätische.de) sind besonders die Bemühungen des Deutschen Caritasverbandes (DCV) zu nennen, der seit 2006 als erster Spitzenverband der Wohlfahrtspflege ein eigenes Onlineberatungsportal auf seiner zentralen Homepage anbietet. Dies gilt auch für die Caritas (unter www.beratung-caritas.de). Hier präsentieren sich verschiedene Beratungsdienste, u.a. zur Schwangeren-, Eltern- und Jugend- und Suchtberatung und neuerdings auch zur Schuldnerberatung, als eine deutschlandweite Onlineberatung. Eine genauere Beschäftigung mit diesem Portal zeigt aber auch den unterschiedlich hohen Stellenwert, der hier der Onlineberatung in den verschiedenen Beratungsbereichen zukommt. Neben dem Sonderfall der „Mütterkuren“, wo bei bisher noch geringer Nachfrage fast alle 217 Stellen ihre Beratung online anbieten, sind mit 61 % von 309 die Eltern- und Jugend- sowie die Schwangerschaftsberatung mit 52 % die Felder mit dem höchsten Anteil an Onlineberatungsangeboten. Der Beratungsbereich „Sucht“ (20 % von 443), der Bereich Schuldnerberatung (12 % von 294) und speziell die „Allgemeine Sozialberatung“ mit 9 % aller 519 Einrichtungen, sind jedoch bisher nur zu einem geringeren Teilen auch online
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erreichbar (Stand November 2009). Die Gründe dafür liegen nicht nur in einem differenzierten Nutzerverhalten und in fehlenden Ressourcen des Trägers, sondern oft auch in der Einstellung und der Praxis der BeraterInnen. Diese bevorzugen überwiegend eine persönliche Beratung von Angesicht zu Angesicht und können sich oft – auch aufgrund fehlender Erfahrungen – eine ihnen zu technisch anmutende Beratung am PC gar nicht vorstellen. Dennoch weist die Onlineberatung beim DCV insgesamt einen überproportional hohen Anteil auf. Noch ist ein exakter Vergleich mit anderen Anbietern zwar nicht möglich, aber eigene erste Recherchen zeigen das folgende Bild: 1.
2.
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Wenn nach dem Online-Beratungsführer der „Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und Erziehungsberatung“ (www.dajeb.de) zum 01.12.2009 exakt 12554 Beratungsstellen ihre Dienste im psychosozialen Bereich anbieten, dann haben davon wahrscheinlich max. 1200 Einrichtungen auch eine Onlineberatung, was somit einer Anteilsquote von ca. 10 Prozent entspricht. Genauere Angaben sind (noch) nicht möglich. Bei den erfassten Beratungsstellen wird zwar mittlerweile die E-Mail- und die Internet-Adresse – wenn vorhanden – ausgewiesen; nicht informiert wird jedoch darüber, ob eine Onlineberatung angeboten wird. Berücksichtigt man die Zahlen der Telefonseelsorge, die zu den Pionieren der Onlineberatung in Deutschland zählt, dann zeigt sich auch hier nur ein geringer Anteil, den die Onlineberatung an der Gesamtberatung einnimmt. So berieten zwar 35 der insgesamt 106 Beratungsstellen auch auf der Basis einer E-Mail-Kommunikation. Angesprochen wurden damit aber im Vergleich zu den ca. 0,8 Mio. Erstanrufenden in 2008 mit 4031 Erstmails und über 13000 Folgemails auf der Basis der Erstkontakte nur 0,5 % aller Beratenen. Eine starke Nachfrage dagegen zeichnet sich bei der zum Verband des Paritätischen gehörenden Onlineberatung von „pro-familia“ ab. Hier sind in 2007 sogar über 20000 E-Mai-Anfragen eingegangen, was für eine hohe Attraktivität dieses Beratungsmediums spricht, wenn man vergleicht, dass in 2001 die Zahl noch unter 8000 lag (vgl. pro-familia 2008: 1). Und das von pro-familia angebotene Dialogforum „sextra“ für Jugendliche und junge Erwachsenen zeigt Ende 2009 einen Mitgliederstand von ca. 56000 Usern auf. Ein gegenwärtig überaus stark nachgefragtes Onlineberatungsportal ist das Angebot der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (www.bke.de). Mit insgesamt 1,8 Millionen Besuchern hatte dieses Portal, das sich mit jeweils spezifischen Inhalten sowohl an Jugendliche als auch an Eltern wendet, eine hohe Attraktivität. Es setzt mit Chats, Foren und E-Mail-Beratung verschiedene Instrumente der Onlineberatung ein und konnte so neben 4229 Einzelberatungen auch für über 8000 Jugendliche und Eltern insgesamt 1332 Gruppenchats anbieten (vgl. bke 2008: 31).
Schon diese knappe Skizze einiger zentraler Onlineberatungsangebote und deren Nutzung spiegelt in vielen Fällen das Nutzerverhalten im Internet und seine Entwicklungstendenzen wider, verdeutlicht aber auch, wo Soziale Arbeit noch besondere Akzente setzten muss, um erfolgreich Ratsuchende im Netz ansprechen zu können. Allgemein nehmen besonders Jüngere und schulisch und/oder beruflich besser Qualifizierte das Angebot in Anspruch. Und auch der Zuwachs von Angebot und Nachfrage in der Onlineberatung in Feldern der Sozialen Arbeit weist Parallelen mit der Internetnutzung in Deutschland auf. Während 1997
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erst 6,5 % der Bevölkerung das Internet nutzten, ist diese Quote bis 2009 auf 69,1 % angestiegen (vgl. nonliner 2009: 14). Und während 14 -19 jährige Internetnutzer zu über 70 % es gewohnt sind, an Chats oder Gesprächsforen teilzunehmen, lag diese Quote 2008 bei den über 60jährigen Internetnutzern gerade bei 4 % (vgl. Eimeren/Frees 2008). Schon diese wenigen Zahlen weisen auf notwendige Handlungsschritte hin. Arme oder Ältere werden nur bedingt über das Internet erreicht und auch nicht alle Beratungsfelder scheinen in einem gleichen Maße für die Onlineberatung geeignet zu sein. Wo also kann Soziale Arbeit anzusetzen, um auch das Internet für seine Beratungsarbeit noch sinnvoller zu nutzen?
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Ansätze für einen weiteren Ausbau der Onlineberatung
„Die Jungen von heute sind die Alten von morgen“. Diese demografische Selbstverständlichkeit muss sich auch die aktuelle Diskussion um die zukünftige Sozialberatung im Internet noch zu eigen machen. Die anstehenden Generationen der 40, 50 oder 60-Jährigen sind die heutigen 20 oder 30-Jährigen, die wie selbstverständlich mit dem Internet aufgewachsen sind und unfraglich in und mit diesem Netz kommunizieren. Diese Kommunikations- und Verhaltensweisen werden in den nächsten Jahrzehnten zunehmend auch die Erwartungen bestimmen, denen sich die Angebote und Einrichtungen der psychosozialen Beratung zu stellen haben werden. Daher gilt es schon heute, sich kreativ auf diese Entwicklung einzustellen. Dabei sollte nicht der Fehler gemacht werden, schematisch nur die bisherige face-toface-Fachberatung im Internet abbilden zu wollen. Die Einführung etwa einer isolierten Onlineberatung durch eine bisher in der Vor-Ort-Beratung sehr wirksam arbeitenden Suchtberatung und ihrer professionellen MitarbeiterInnen muss nicht automatisch erfolgreich sein. Vielmehr sind die Chancen einer differenzierten Vernetzung zwischen realen und virtuellen Beratungsangeboten zielstrebig zu nutzen. Erfahrungen mit jetzt schon erfolgreichen Ansätzen der Onlineberatung zeigen die Notwendigkeit einer stärkeren quantitativen und qualitativen Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Diensten und auch Trägern auf. Im Folgenden werden Aspekte der Vernetzung sowie der Verbesserung der Infrastruktur angesprochen, und wie eine Effizienzsteigerung im Interesse Schwacher genutzt werden kann. 3.1 Vernetzung der Onlineberatung Ein wesentlicher Vorteil der Onlineberatung ist ihre Möglichkeit, nicht nur raum- sondern auch relativ zeitungebunden ihre Dienste vorhalten zu können. So kann ein Ratsuchender einen Kommunikationsprozess mit einem Berater in einer Einrichtung etwa nachts zu einem Zeitpunkt anstoßen, wenn diese geschlossen ist, und eine Antwort am darauffolgenden Tage bzw. innerhalb von 24 Stunden auf eine E-Mail-Anfrage wird als eine direkte Reaktion gewertet. Dies setzt aber eine personelle Besetzung einer Beratungsstelle voraus, die es ermöglicht, auch zügig eine Anfrage bearbeiten zu können. Die Vernetzung mehrerer Einrichtungen und ihrer BeraterInnen kann dies eher garantieren als die isolierte Arbeit einer Beratungsstelle.
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Von besonderer Bedeutung ist aber auch die Verknüpfung von Beratungsstellen unterschiedlicher Träger. So treten in Mannheim die städtische Jugendberatung und die der örtlichen Caritas und der evangelischen Kirche zusammen in einer virtuellen Beratungsstelle auf (unter www.helpmails.de) und präsentieren damit ein breiteres Beratungsspektrum im Bereich der Jugendberatung als dies einem einzigen Träger alleine möglich wäre. Ein weiteres Beispiel dafür ist auch der gemeinsame Onlineauftritt aller Berliner Schuldnerberatungsstellen (unter www.schuldnerberatung-berlin.de). Eine besondere qualitative Vernetzung stellt die Zusammenarbeit mehrerer fachlich unterschiedlicher Beratungsstellen dar. Durch die Bündelung der Beratungskompetenzen von z.B. Allgemeiner Sozial-, Sucht-, Schuldner-, Erziehungs- und Jugendberatung lassen sich Ziele einer ganzheitlichen Beratung, wie sie z.B. durch Sozialberatungszentren angestrebt werden, relativ einfach erreichen. Wie Erfahrungen mit der helpline Mainz (unter www.caritas-mainz.de), die aus einem an der Hochschule Darmstadt angesiedelten Studienprojekt heraus entstanden ist (vgl. Gehrmann u.a. 2005), zeigen, ist es so möglich, kompetent auf Fragen einzugehen, die sich im Einzelfall auf so unterschiedliche Aspekte wie z.B. Pflege, SGB II, Arbeit und Arbeitslosigkeit oder psychische Erkrankungen beziehen. Möglich wird dies durch den auf der Ebene der Onlineberatung erfolgten Zusammenschluss unterschiedlicher Beratungsdienste und ihrer MitarbeiterInnen eines regionalen Trägers, die ansonsten in der face-to-faceBeratung an unterschiedlichen Standorten (noch) relativ voneinander isoliert arbeiten. 3.2 Verbesserung der Beratungsinfrastruktur Ein weiterer wichtiger Schritt ist die konsequente Vernetzung realer und virtueller Beratungsangebote, um eine leistungsfähige Beratungsinfrastruktur zu erhalten. Trotz steigenden Beratungsbedarfs führen Mittelkürzungen und damit einhergehender Personalabbau gegenwärtig zu einer Reduzierung der Angebote bei den freien und öffentlichen Trägern der psychosozialen Beratungsdienste. Verstärkt wird diese Mangelsituation auch durch die demografische Entwicklung. Gerade in ländlichen Gebieten zeigt ein beginnender Bevölkerungsrückgang Wirkung. Sinkende Nutzerzahlen führen zu einer räumlichen Konzentration oder gar einer Reduzierung von Beratungsmöglichkeiten vor Ort. Ausdünnungen oder oft auch der Rückzug sozialer Dienste aus der Fläche stellen eine Verschlechterung der Lebenssituation der dortigen Wohnbevölkerung dar. Unter diesen Bedingungen kann die Aufrechterhaltung eines Beratungsangebotes auf der Basis der Onlineberatung auch eine Möglichkeit sein, den Verlust von face-to-face-Angeboten in der Fläche auszugleichen. So ist es möglich, dass über das Internet weiterhin mindestens die Gelegenheit zu einer niederschwelligen Erstberatung besteht. Denkbar ist aber auch, während eines laufenden Beratungsprozesses in Teilen auch zwischen BeraterIn und KlientIn online zu kommunizieren, um damit für Ratsuchende den Fahrt- und Zeitaufwand zu entfernter gelegenen Beratungsstellen zu verringern. Voraussetzung für dieses Vorgehen ist aber eine befriedigende Versorgung und gute Zugangsmöglichkeiten zu einer digitalen Telekommunikationsinfrastruktur, die immer mehr die für wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse notwendige klassische Verkehrsinfrastruktur erweitert. Die in 2009 beschlossenen konjunkturpolitischen Bemühungen für den Ausbau der Breitbandkommunikation gerade in den bisher noch
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schlecht versorgten ländlichen Regionen können auch für die soziale Arbeit neue Chancen schaffen, diese neuen Formen einer sozialen und räumlichen Mobilität und der sozialen Interaktion in der Wissensgesellschaft für sich und ihre Klienten besser als bisher flächendeckend einsetzten zu können. Wie langsam dieser Abbau regionaler Disparitäten jedoch erfolgt, zeigt auch die nochmalige Forderung nach dem für Wirtschaft und Gesellschaft notwendigen Ausbau der digitalen Infrastruktur in der „Stuttgarter Erklärung“ auf dem 4. Nationalen IT-Gipfel im Dezember 2009 (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2009). In ihr wird nicht nur ein „entschlossenes und gemeinschaftliches Handeln von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft“ angemahnt, um eine digitale Zukunft in einer zunehmend vernetzten Welt zu gestalten, sondern auch am Beispiel der elektronischen Gesundheitskarte gezeigt, wie notwendig eine ausgebaute Telematik-Infrastruktur für eine flächendeckende Versorgung ist. Es wird eine Herausforderung für die Beratungsdienste und ihrer Träger sein, sich auch sozialpolitisch mit ihren Zielen und Interessen in diese Diskussion einzuschalten. Für die Beratungswissenschaft stellt sich ihrerseits die Aufgabe, sich mit den Fragen der Weiterentwicklung und Wirkung digitalen Informationsund Kommunikationsinfrastruktur intensiver als bisher zu beschäftigen, wenn „Blended Counselling“ nicht nur ein Schlagwort, sondern ein reales Programm sein soll. So wird z.B. innerhalb des Verbundes aller Caritas- Suchthilfeeinrichtungen in Hessen versucht, im Rahmen der vom Autor geleiteten Evaluation dieses Projektes der Frage nachzugehen, ob und wie das Suchthilfeangebot durch die schon im Verbund bestehenden und noch weiter auszubauenden Onlineberatungen ergänzt und zu einer besseren Versorgung – gerade außerhalb von Ballungsgebieten in der Fläche – eingesetzt werden kann (vgl. www.suchthilfe-hessen.de). Dabei zeigen die Ergebnisse einer im Frühjahr 2009 durchgeführten Klientenbefragung (vgl. Gehrmann/Butz/Englert 2009), dass von 562 Befragten bisher zwar nur 3% eine Onlineberatung zum Thema Sucht genutzt hatten. Aber an einer zukünftigen Nutzung der Onlineberatung war ein Drittel aller Klienten interessiert. Und die Hälfte derer, die dieses Angebot auch in Zukunft nicht nutzen wollen, begründeten dies damit, über keinen Internetzugang zu verfügen – ein weiterer Beleg dafür, wie wichtig es ist, die ungleiche Versorgung mit Internetzugängen weiter abbauen zu müssen. 3.3 Effizienz im Interesse Schwacher Wie bisherige Erfahrungen mit e-banking, e-commerce oder e-learning zeigen, kann der intensivere Einsatz digitaler Kommunikation in der Beratung auch dazu beitragen, Beratungsprozesse nicht nur effektiver, sonder auch effizienter zu gestalten. Durch den Einsatz von Telearbeit in der Onlineberatung können ebenso personalwirtschaftlich Vorteile erzielt werden wie durch den Einsatz der E-Mail-Beratung, die das für den Beratungsprozess speziell und auch allgemein für die Soziale Arbeit geltende kostenintensive „uno-actu-Prinzip“ reduziert: Ratsuche und Beratung müssen nicht mehr – wie oben schon erwähnt – zeitlich zusammenfallen, die Antwort auf eine Mail kann z.B. auch zu einer weniger arbeitsintensiven Tageszeit formuliert werden. Ebenso können durch die Verbindung der Onlineberatung mit einem guten Informationsportal BeraterInnen von Routineanfragen entlastet werden. Dies sind einige Ansätze zur Effizienzsteigerung der Beratung, die z.B. bei einer konsequenten Anwendung der E-Mail-Beratung eintreten können (vgl. zu hier nicht näher zu
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erläuternden methodischen und inhaltlichen Aspekten der E-Mail Beratung u.a. Knatz/Dodier 2003 oder Weinhardt 2009). Dennoch wird trotz zunehmender Internetnutzung immer noch ein Drittel der Bevölkerung nicht über dieses Kommunikationsmedium erreicht – und dies sind besonders die sozial und ökonomisch Schwächeren, die in einem besonderen Maße auf soziale Hilfe und Beratung angewiesen sind. Denn auch wenn Arbeitsloseninitiativen, Schuldnerberatungen und Hartz-IV-Empfänger im Internet immer stärker präsent sind: Onliner verfügten 2009 über ein durchschnittliches Nettohaushaltseinkommen von 2.306 Euro im Monat; denen, die nicht in die Internet-Community eingebunden sind, stehen dagegen nur 1.546 Euro zur Verfügung. „Zudem nutzen in der Gruppe bis 1.000 Euro (Nettohaushaltseinkommen) noch immer weniger als die Hälfte das Internet“ (vgl. (n)onliner-Atlas 2009: 17). Hier besteht die sozialpolitische Chance und Herausforderung, die durch effiziente Online-Beratung gewonnenen Ressourcen konsequent dafür zu verwenden, den Benachteiligten einer Wissensgesellschaft ein für sie nutzbares ortsnahes Beratungsangebot zu erhalten (vgl. Gehrmann 2004).
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Zukünftige Herausforderungen
Die Herausforderungen der sozialen Arbeit durch die Onlineberatung sind in diesem Beitrag überwiegend unter sozialpolitisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive thematisiert worden. Für eine nähere Auseinandersetzung mit den methodischen und verhaltenstheoretischen Ansätzen ist deshalb hier besonders auf die aktuellen Handbuchartikel in Kühne/Hintenberger (2009) verwiesen. Drei Punkte, denen für die zukünftige Akzeptanz und Realisierung der Onlineberatung eine besondere Bedeutung zuzumessen sind, sollen abschließend aber noch angesprochen werden:
Erstens stellt die Finanzierung dieses glokal (global und gleichzeitig lokal) arbeitenden Beratungssystems bei zunehmender Kommunalisierung der sozialen Leistungen die Onlineberatung vor Probleme, die es zu lösen gilt. Es muss eine praktikable Regelung gefunden werden, die Arbeit von BeraterInnen in einer örtlichen Beratungsstelle zu finanzieren, wenn sie online auch Klienten aus anderen Regionen beraten. Vernetzungen in der Finanzierung, die quer zu den Kommunalisierungsstrategien der sozialen Leistungen verlaufen, könnten – wie bei dem erfolgreichen Projekt der bke – eine Lösungsmöglichkeit aufzeigen. Auch wäre mittelfristig zu überlegen, ob durch eine stärkere subjektorientierte Finanzierung im Gegensatz zur bisher eher objektorientierten Finanzierung die Chance besteht, eine wirtschaftliche Basis für eine professionelle Onlineberatung zu schaffen. Da die bisherige Aktivitäten häufig noch als Modellprojekte durchgeführt und aus Sondermitteln finanziert werden, fällt es schwer, auf dieser Grundlage eine langfristige Institutionalisierung zu sichern. Zweitens ist Beratung im Internet auf Verschwiegenheit und Diskretion angewiesen. Damit kommt dem Datenschutz eine zentrale Aufgabe zu. Eine einfache E-Mail, die mit sehr persönlichen Fragen und Informationen an eine Beratungsstelle geschickt wird, entspricht bei Weitem nicht den Anforderungen an eine professionell arbeitende Onlineberatung. Ein verschlüsselter und – wenn gewünscht – anonymer Datenaus-
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tausch ist daher eine zentrale Bedingung für diese Art der Beratung. So muss heute etwa eine webbasierte E-Mail-Beratung mit dem allgemein anerkannten SSL-Standard (Secure Socket Layer) für eine professionelle Beratungsstelle eine Selbstverständlichkeit sein. Denn bei diesem Verfahren werden keine Informationen als E-Mail verschickt, sondern nur direkt in einem individuellen Briefkasten hinterlegt. SSL gewährleistet durch die automatisierte Verschlüsselung einen vertraulichen Datentransfer und schützt so die sensiblen persönlichen Daten aus einer Beratungskommunikation vor unbefugtem Zugriff (vgl. weiterführend u.a. Wenzel 2009). Ob und wie bekannt gewordene Skandale zum Datenmissbrauch im Internet und die neuen datenschutzrechtlichen Bestimmungen zur Datenspeicherung oder auch zur Onlinedurchsuchung das Vertrauen auch in eine geschützte Onlineberatung schwächen, muss jedoch aufmerksam verfolgt werden. Und so wie Ärzte, Rechtsanwälte oder Journalisten durch ihre Berufsverbände diese Entwicklung sehr aufmerksam und kritisch begleiten (vgl. exemplarisch Krüger-Brand 2008), so ist auch die Soziale Arbeit aufgefordert, sich damit intensiver auseinander zu setzen. Denn es gilt, die durch § 203, Strafgesetzbuch, geregelte Schweigepflicht in der Beratung auch unter den Bedingungen einer medial vermittelten Beratung zu sichern. Drittens sind eine Voraussetzung für eine gelingende Professionalisierung und Institutionalisierung der Onlineberatung fachlich begründete Qualitätsstandards und eine angemessene Fort- und Weiterbildung. Erste Schritte dazu zeigt eine international ausgerichtete Übersicht über verschiedene Qualitätskriterien und Kompetenzprofile (vgl. Kühne 2008), und die seit 2006 geltenden Richtlinien zur Anerkennung von OnlineBeraterInnen. Sie setzen einen für die Beratungstätigkeit relevanten Hochschulabschluss und eine „Beratungskompetenz voraus, die durch eine einschlägige psychosozial orientierte, methodisch angelegte und zertifizierte Zusatzausbildung und Tätigkeit von zusammen mindestens 400 Stunden erworben worden ist“ (vgl. Deutsche Gesellschaft für Online-Beratung 2006). Auf dieser Basis werden dann in einem Umfang von ca. 100 Stunden spezifische Kenntnisse für die Onlineberatung vermittelt. Wie solch ein Curriculum aussehen kann, verdeutlicht auch ein 160 Unterrichtseinheiten umfassender Lehrgang, der in Wien entwickelt wurde. Neben der Psychologie des Internets, der Online-Kommunikation und den Formen der Onlineberatung (E-Mail, Chat, Foren) werden hier die rechtlichen und technischen Voraussetzungen der Onlineberatung vermittelt und Fragen des für die Onlineberatung relevanten Projekt- und Qualitätsmanagements behandelt (vgl. Kühne 2009a: 234). Aber auch erste Ansätze für ein eigenes Studium der Onlineberatung zeichnen sich im deutschsprachigen Raum ab. So wird seit der Wintersemester 2009/10 mit einem Weiterbildungsstudiengang zum „Master of Arts in Counseling“ an der Georg-Simon-Ohm Hochschule in Nürnberg in Verbindung mit der „Grundig-Akademie“ die Onlineberatung auf ein akademisches Qualitätsniveau angehoben, wobei auch Unternehmens- und Technikberater zur Zielgruppe dieses Studienganges gehören (unter www.counseling-master.de/master /masterstudiengang).
All dies sind Ansätze, die die Onlineberatung in Praxis und Studium etablieren und dazu beitragen können, dass sich dieser mediale Aspekte der Beratung mit den anderen Praxisfeldern, Methoden und Einrichtungen der Beratungslandschaft verbindet und im Sinne des „Blended Counselling“ sich nicht als Alternative zu den bisherigen Beratungsansätzen
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Hans-Joachim Gehrmann
versteht, sondern als eine sinnvolle Ergänzung zu diesen. Wenn auch die Probleme der Datensicherheit und der Finanzierung der Onlineberatung gelöst werden können und die bisher noch in den Anfängen stehende Forschung zur Onlineberatung belast- und verwertbare Ergebnisse liefert, scheint es möglich, dass zukünftige Generationen von Ratsuchenden dann flächendeckend auch online auf qualitativ hohe, effektive und effiziente Beratungsangebote von der Erziehungs- über die Studien- und Schuldnerberatung bis hin zur Pflegeberatung zurückgreifen zu können.
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III. Sozialpädagogische Herausforderungen Neuer Medien
Gewalttätig durch Medien? Michael Kunczik/Astrid Zipfel
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Einleitung
Spektakuläre Gewalttaten wie die Schul-Amokläufe in Littleton, Colorado (1999), in Erfurt (2002), Emsdetten (2006) oder Winnenden (2009) lösen immer wieder Aufmerksamkeitswellen für das Thema „Medien und Gewalt“ aus. Zwar fällt die öffentliche Diskussion um die Ursachen solcher Ereignisse mittlerweile etwas differenzierter aus, d.h. Mediengewalt wird in der Regel nicht mehr monokausal als Gewaltverursacher angesehen. Violente Medieninhalte, v.a. gewalthaltige Computerspiele, gehören jedoch regelmäßig zu den Faktoren, über die besonders intensive und kontroverse Auseinandersetzungen stattfinden. Auch der Ruf nach einem Verbot so genannter „Killerspiele“ lässt im ritualgleichen Ablauf entsprechender Debatten zumeist nicht lange auf sich warten. Wie gefährlich sind violente Filme und Spiele wirklich? Und welche sozialpädagogischen Ansatzpunkte/Ansätze für eine Eindämmung möglicher negativer Folgen des Konsums von Mediengewalt gibt es? Zur Beantwortung dieser Fragen soll im Folgenden dargestellt werden, welche Erkenntnisse die Forschung zur Wirkung von Gewalt in den Medien und zur Effektivität gewaltbezogener medienpädagogischer Interventionsmaßnahmen erbracht hat (vgl. dazu ausführlich Kunczik/Zipfel 2006).
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Theorieansätze zur Wirkung von Mediengewalt
In der Medien-und-Gewalt-Forschung sind im Laufe der Zeit diverse Erklärungsansätze zur Wirkung von Mediengewalt entwickelt worden, zu denen zunächst ein kurzer Überblick gegeben werden soll. Die einzige These, die positive Wirkungen von Mediengewalt unterstellt, ist die Katharsisthese. Deren Anhänger gehen von der Existenz eines angeborenen Aggressionstriebes aus und behaupten, durch das Mitvollziehen an fiktiven Modellen beobachteter Gewaltakte in der Phantasie nehme die Neigung des Rezipienten ab, selbst aggressives Verhalten zu zeigen. Die Katharsisthese konnte bis heute nicht belegt werden. Einzelnen, methodisch angreifbaren Studien, die von ihren Autoren als Nachweis der Katharsisthese gewertet werden (vgl. z.B. Feshbach 1961), steht eine Vielzahl von Untersuchungen gegenüber, die gewaltfördernde Wirkungen von Mediengewalt gefunden haben. Sogar der Hauptvertreter der Katharsisthese, Seymour Feshbach, schätzt kathartische Effekte mittlerweile allenfalls als Ausnahmeerscheinung ein (vgl. Feshbach 1989: 71). Dennoch ist diese Wirkungsvorstellung aus der Diskussion noch nicht verschwunden, sondern erlebt v.a. im Kontext der Computerspielforschung eine Art Wiederbelebung. Aussagen von Computerspielern, das Spielen ermögliche ihnen ein „Abreagieren“ negativer Emotionen (vgl. z.B. Ladas 2002:
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Michael Kunczik/Astrid Zipfel
294), werden in Richtung der Katharsisthese gedeutet, ohne dass das tatsächliche Eintreten dieses Effekts jedoch nachgewiesen wäre. Auch die simple Annahme einer generellen, direkten Suggestion von Nachahmungstaten durch die Medien kann inzwischen als widerlegt betrachtet werden. Untersucht worden sind Nachahmungseffekte bislang v.a. in drei Bereichen: Bei Morden, Massenmorden und Amokläufen, bei fremdenfeindlichen Straftaten sowie bei Selbstmorden („Werther-Effekt“ – benannt nach Goethes Buch „Die Leiden des jungen Werther“, das eine Suizid-Welle ausgelöst haben soll). Imitationseffekte sind nach den Befunden der vorliegenden Studien zwar nicht völlig auszuschließen, dabei müssen jedoch diverse, mit dem jeweiligen Medieninhalt und der Person des Rezipienten zusammenhängende Faktoren berücksichtigt werden, und die Medien stellen allenfalls einen von vielen Einflussfaktoren dar (vgl. dazu ausführlich Kunczik/Zipfel 2006: 94ff). Mit langfristigen Auswirkungen von Mediengewalt in Gestalt von Abstumpfungs- und Gewöhnungseffekten beschäftigt sich die Habitualisierungsthese. Die Befundlage zu dieser These ist recht heterogen, was v.a. mit dem sehr unterschiedlichen Begriffsverständnis zusammenhängt (vgl. dazu z.B. Kirsh 2006: 219ff; Kunczik/Zipfel 2006: 113ff). Ein Teil der vorliegenden Studien beschäftigt sich v.a. mit der Frage, ob der Konsum von Mediengewalt zu einer Abnahme der Erregungsreaktionen auf Mediengewalt führt und zieht hierzu zumeist physiologische Messdaten (z.B. Herzfrequenz) und neuerdings auch Methoden der Hirnforschung heran (vgl. z.B. Bartholow/Bushman/Sestir 2006). Abgesehen von Problemen bei der Interpretation dieser Art von Daten stellt sich auch die Frage nach der Tragweite der Ergebnisse, denn letztlich handelt es sich bei dem untersuchten Effekt um einen natürlichen Anpassungsmechanismus, den man sich z.B. bei der Bekämpfung von Phobien bewusst zunutze macht. Dabei werden angstauslösende Reize in eine hierarchische Ordnung gebracht. Der Patient wird dann entsprechend dieser Hierarchie mit diesen Reizen konfrontiert und lernt so allmählich, seine Angst zu bewältigen. Von deutlich größerer Bedeutung ist die Herangehensweise eines anderen Teils der Studien zur Habitualisierungsthese. Diese fragen, ob der Konsum von Mediengewalt langfristig die Empathiefähigkeit der Rezipienten reduziert, dazu führt, dass Gewalt als normales Alltagsverhalten angesehen wird, die Toleranz für Gewalt steigt und die Hemmschwelle für eigene Gewalthandlungen sinkt. Insbesondere für die Auswirkungen auf das tatsächliche Verhalten gibt es bislang kaum stichhaltige Hinweise. Interessant sind in diesem Kontext zwei aktuelle Experimente von Bushman und Anderson (im Druck), die die Folgen violenter Medieninhalte auf das prosoziale Verhalten untersuchten. Die Forscher stellten fest, dass Probanden, die sich zuvor mit violenten Inhalten beschäftigt hatten, im Vergleich mit einer nicht-violenten Inhalten ausgesetzten Kontrollgruppe ein geringeres bzw. verzögertes Hilfeverhalten zeigten, wenn sie akustisch mit einem eskalierenden Streit vor der Tür des Versuchsraumes bzw. in einem Feldexperiment unmittelbar mit einer offenbar hilfebedürftigen Person konfrontiert wurden. Der Kultivierungsthese zufolge verzerrt ein hoher Fernsehkonsum das Weltbild von Vielsehern in Richtung der „Fernsehrealität“ und führt z.B. zu Verbrechensfurcht. In ihrer Meta-Analyse von Kultivierungsstudien der letzten 20 Jahre kommen James Shanahan und Michael Morgan (1999) zu dem noch heute gültigen Schluss, dass die Kultivierungsthese insgesamt eine breite Bestätigung erfahren habe. Sie konzedieren allerdings, dass der Kau-
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salzusammenhang der verschiedenen Variablen bei der Kultivierung noch nicht eindeutig bestimmt ist (so ist es z.B. auch möglich, dass ängstliche Menschen der vermeintlich gefährlichen Welt ausweichen, indem sie zu Hause bleiben und fernsehen). Zudem gibt es offensichtlich noch nicht genügend erforschte Drittvariablen, die zu sehr unterschiedlich ausgeprägten Kultivierungseffekten führen. Die Forschung konzentriert sich derzeit auf intervenierende Variablen wie Verbrechenserfahrung, auf Kultivierungseffekte bestimmter Genres (z.B. Krimis) und auf die bei der Kultivierung ablaufenden Prozesse der Informationsverarbeitung. Nach der Erregungstransfer-Theorie können Medieninhalte (Gewalt, aber auch Sport, Erotik, Humor usw.) unspezifische emotionale Erregungszustände auslösen. Diese bilden ein „Triebpotenzial“, das die Intensität nachfolgenden Verhaltens erhöht. Um welches Verhalten es sich handelt, hängt von der Situation ab und steht mit der Qualität der gesehenen Inhalte in keinerlei Zusammenhang. Bei einer entsprechenden situationsbedingten Motivation können erotische Medieninhalte ebenso gewalttätiges Verhalten fördern, wie violente Inhalte in der Lage wären, prosoziale Handlungen zu unterstützen. Der Erregungszustand des Individuums und Situationsfaktoren spielen auch bei der Stimulationsthese eine Rolle. Nach Berkowitz (z.B. 1969) können Gewaltdarstellungen aggressives Verhalten fördern, sofern der Rezipient emotional erregt ist (z.B. durch Frustration) und auf Schlüsselreize trifft, die entweder mit der gegenwärtigen Verärgerung oder mit vergangenen negativen Erlebnissen in Verbindung gebracht werden oder grundsätzlich aggressionsauslösend wirken (dies wird z.B. bei Waffendarstellungen angenommen). Mit der Wirkung solcher Schlüsselreize beschäftigt sich der Priming-Ansatz genauer. Das Konzept des „Primings“ besagt vereinfacht, dass semantisch miteinander verbundene Kognitionen, Gefühle und Verhaltenstendenzen im Gehirn durch assoziative Pfade bzw. neuronale Netze in Beziehung stehen. Wird nun durch einen Stimulus (z.B. gewalttätige Medieninhalte) ein „Knoten“ innerhalb dieses Gefüges angeregt, kommt es zu einem Ausstrahlungseffekt, durch den mit dem angeregten Knoten in Beziehung stehende Gedanken, Gefühle und Verhaltenstendenzen ebenfalls angeregt werden. Dieser Prozess beeinflusst die Interpretation neuer Stimuli und erhöht kurzfristig die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens. Für möglich wird es aber auch gehalten, dass bestimmte Konstrukte durch wiederholte Anregung schließlich „chronisch“ aktiviert bzw. zugänglich werden. In einem engen Zusammenhang mit dem Priming-Ansatz steht die Skript-Theorie. Skripts werden als mentale Routinen oder „Programme“ verstanden, die im Gedächtnis gespeichert sind und automatisch herangezogen werden, um das Verhalten zu steuern und Probleme zu lösen. Skripts enthalten Informationen über typische Ereignisabläufe (z.B. beim Arztbesuch, aber auch Abläufe gewalttätiger Auseinandersetzungen), Verhaltensweisen von Personen und Ergebnisse von Handlungen. Menschen, die viel Gewalt ausgesetzt sind, können demzufolge Skripts entwickeln, die aggressives Verhalten als Problemlösungsstrategie vorsehen. Zur Erklärung der bislang vorliegenden mittel- und langfristigen Wirkungsbefunde am besten geeignet ist die Theorie des Beobachtungslernens (vgl. Bandura 1979). Der Lerntheorie zufolge sind Menschen in der Lage, sich durch Beobachtung (in der Realität oder in den Medien) Handlungsmuster anzueignen. Dass Verhalten erlernt wird, bedeutet aber noch nicht, dass es auch tatsächlich zur Anwendung kommt. So wird die Ausübung von Aggres-
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Michael Kunczik/Astrid Zipfel
sion normalerweise durch internalisierte Normen, Furcht vor Bestrafung und Vergeltung, Schuldgefühle und Angst verhindert. Ob aus den latenten Handlungsmodellen dennoch manifestes Verhalten resultiert, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Hierzu gehören z.B. die Ähnlichkeit der Situation und das Vorhandensein der entsprechenden Mittel für eine Imitation (z.B. Besitz von Waffen). Die größte Bedeutung kommt aber den Konsequenzen eines solchen Verhaltens (Erfolg bzw. Misserfolg, Belohnung bzw. Bestrafung usw.) sowohl für das Modell als auch für den Beobachter zu. Insgesamt werden im Rahmen der Lerntheorie neben den Merkmalen von Medieninhalten (z.B. Stellenwert, Deutlichkeit, Nachvollziehbarkeit von Gewalt, Effizienz, Rechtfertigung, Belohnung von Gewalt) die Eigenschaften des Beobachters (z.B. Wahrnehmungsfähigkeiten, Erregungsniveau, Charaktereigenschaften, Interessen, frühere Erfahrungen, wie z.B. Bekräftigung erworbener Verhaltensmuster) sowie die situativen Bedingungen (z.B. Sozialisation, Normen und Verhaltensvorbilder in der Familie und in den Peergroups) als Einflussfaktoren bei der Wirkung von Mediengewalt einbezogen. Die jüngste Entwicklung im Bereich der Medien-und-Gewalt-Theorien und ein Versuch zur Integration verschiedener Ansätze ist das General Aggression Model (vgl. Anderson/Bushman 2001). Die Ausübung von Gewalt basiert demnach v.a. auf dem Lernen, der Aktivierung und der Anwendung aggressionsbezogener Wissensstrukturen. Die InputVariablen „Person“ (z.B. Einstellungen, Skripts, gegenwärtiger Zustand) und „Situation“ (vorausgegangener Mediengewaltkonsum, aggressive Schlüsselreize, Belohnung usw.) nehmen Einfluss auf die gegenwärtigen Kognitionen, den affektiven Zustand und die physiologische Erregung eines Individuums und beeinflussen so dessen Situationsbewertungen, Entscheidungsprozesse und Verhaltensweisen. Das Handeln einer Person zieht Reaktionen der Umwelt nach sich, die die Input-Variablen verändern und dazu führen können, dass das Verhalten bestärkt oder künftig gehemmt wird. Stimuli, denen das Individuum wiederholt ausgesetzt ist (z.B. Mediengewalt), führen dazu, dass sich bestimmte soziale Wissensstrukturen entwickeln, d.h. Individuen lernen, wie sie Ereignisse in ihrer Umgebung wahrnehmen, beurteilen und beantworten müssen. Diese Strukturen werden durch wiederholte Rezeption entsprechender (z.B. aggressiver) Stimuli immer differenzierter und änderungsresistenter. Auch medienbewirkte Desensibilisierungseffekte können zur Herausbildung einer aggressiven Persönlichkeit führen. Das General Aggression Model hat v.a. in der Forschung zu gewalttätigen Computerspielen Anwendung gefunden. Ein anderer, ebenfalls v.a. in der Computerspielforschung eingesetzter Ansatz ist das von Jürgen Fritz (2003) entwickelte Transfermodell, das sich mit der Übertragung von Verhaltensmustern zwischen virtueller und realer Welt befasst. Demnach müssen Reizeindrücke aus der einen Welt transformiert werden, um auf bestimmte abstrahierte Schemata zu passen, die eine Übertragung von Erfahrungen in die andere Welt ermöglichen. Ob es zu einem Transfer z.B. zwischen Spielwelt und realer Welt kommt und die transferierten Inhalte dann auch verhaltenswirksam werden, hänge davon ab, wie die „Adäquanzprüfung“ des Bewusstseins ausfällt. Normalerweise werden unangemessene Transfers durch diese „Transferkontrolle“ verhindert. Finden sie doch statt, so hat nach Fritz die „Rahmungskompetenz“ versagt, d.h. die Fähigkeit, Reizeindrücke dem richtigen Zusammenhang bzw. der richtigen Welt zuzuordnen und dementsprechend auf die richtigen Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata zuzugreifen. Die genauen Abläufe eines
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Transferprozesses und insbesondere die Faktoren, die die Transferkontrolle und die Rahmungskompetenz außer Kraft setzen, sind damit – wie auch Fritz zugibt – allerdings noch lange nicht geklärt.
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Einordnung empirischer Befunde
Eine Gesamtschau der Befunde der Medien-und-Gewalt-Forschung führt zu dem mittlerweile relativ unumstrittenen Ergebnis, dass Mediengewalt negative Effekte nach sich ziehen kann, die auf kognitiver, emotionaler und auf Verhaltensebene wirksam werden. Allerdings müssen diese Effekte sehr differenziert betrachtet werden. In empirischen Studien sind zumeist nur schwache Zusammenhangsmaße aufzufinden. Meta-Analysen haben Korrelationskoeffizienten zwischen r = 0,1 und r = 0,31 ermittelt, was bedeutet, dass höchstens 9% der Rezipientenaggression durch Mediengewalt erklärt werden (vgl. Comstock/Scharrer 2003). Obwohl die Annahme verbreitet ist, dass Computerspielgewalt noch deutlich gefährlicher sein müsse (weil der Spieler eine aktive Rolle einnimmt, Gewaltakte ständig wiederholt und belohnt werden usw.), sind für dieses Medium keine stärkeren Zusammenhänge festgestellt worden (vgl. Sherry 2007: 250). Die eher geringe Effektstärke deutet darauf hin, dass Mediengewalt nur einen von vielen Faktoren bei der Entstehung von realer Gewalt darstellt. Allerdings können sich hinter einem schwachen Zusammenhangsmaß für den Durchschnitt der Rezipienten durchaus starke Effekte für bestimmte Medieninhalte und bestimmte Rezipienten bzw. Rezipientenkategorien verbergen. In der Konkretisierung von Risikoinhalten und Problemgruppen hat die Forschung in den vergangenen Jahren einige Fortschritte erzielt (zu einem Überblick vgl. Kunczik/Zipfel 2006: 249ff), auch wenn im Hinblick auf die weitere Konkretisierung und das Zusammenspiel dieser Risikofaktoren noch weiterer Forschungsbedarf besteht. Was Rezipienteneigenschaften betrifft, so sind negative Wirkungen von Mediengewalt eher bei männlichen als bei weiblichen Rezipienten festzustellen, was allerdings weniger mit einer unterschiedlich starken Wirkung als mit einer unterschiedlichen Attraktivität dieser Inhalte für beide Geschlechter zu tun hat. Aufgrund des noch wenig gefestigten Wertesystems sind jüngere Rezipienten stärker gefährdet als ältere. Personen, die bereits aggressiv sind, reagieren stärker auf Mediengewalt. Darüber hinaus weisen sie eine ausgeprägtere Präferenz für entsprechende Inhalte auf. Dies ist insofern eine wichtige Erkenntnis, als es offenbar zu einem sich selbst verstärkenden Prozess im Sinne einer Wechselwirkung zwischen Gewaltverhalten und Interesse an violenten Medieninhalten kommen kann. Michael Slater et. al. (2003) sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Abwärtsspirale“. Einen sehr wichtigen Faktor stellt zudem das soziale Umfeld (Familie, Schule, Freundeskreis) dar. Art und Umfang des Medienkonsums werden in hohem Maße durch das elterliche Vorbild und die elterliche Aufsicht über das Freizeitverhalten ihrer Kinder geprägt. Zudem fehlt Kindern und Jugendlichen, die im realen Leben viel Gewalt erfahren, das Korrektiv zur Einordnung und Relativierung medialer Gewaltinhalte. Sie sind sozusagen einer „doppelten Dosis“ (Selg 1998) an Gewalt ausgesetzt.
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Michael Kunczik/Astrid Zipfel
In Bezug auf die Inhalte haben sich v.a. solche Darstellungen als gefährlich erwiesen, in denen Gewalt als gerechtfertigt dargestellt und belohnt wird und in denen ein attraktiver, dem Rezipienten ähnlicher, erfolgreicher Held Identifikationspotenzial bietet. Problematisch sind auch Darstellungen, bei denen das Leiden des Opfers nicht zu sehen ist, da diese keinen Anlass zur Empathie mit dem Opfern und zur Entstehung eines Prozesses „negativen Lernens“ (Grimm 1999: 706/717) aufgrund einer Auseinandersetzung mit negativen Folgen von Gewaltausübung bieten.
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Pädagogische Interventionsmöglichkeiten
Zur Prävention schädlicher Wirkungen von Mediengewalt existiert eine Fülle gut gemeinter Ratschläge, die allerdings nur selten auf empirisch abgesicherten Erkenntnissen basieren. Dabei hat die Medien-und-Gewalt-Forschung in letzter Zeit verstärkt Studien hervorgebracht, die Ansätze für sinnvolle medienpädagogische Herangehensweisen aufzeigen. Obwohl die wissenschaftliche Basis noch immer schmal ist, werden die wichtigsten Befunde im Folgenden kurz zusammengefasst. In Bezug auf elterliche Maßnahmen wird zumeist zwischen drei verschiedenen Interventionsstrategien unterschieden:
„Coviewing“, d.h. gemeinsames Fernsehen ohne weitere Auseinandersetzung mit dem Gesehenen, Restriktive Interventionsstrategien, d.h. Verbote und Regeln, die den Konsum violenter Medieninhalte einschränken und Aktive Interventionsstrategien, d.h. Gespräche zwischen Eltern und Kindern über violente Medieninhalte.
Mit Kindern gemeinsam fernzusehen, hat sich nur dann als sinnvoll erwiesen, wenn Gewaltinhalte eindeutig negativ kommentiert werden. Unterbleibt eine Bewertung, interpretieren Kinder das kommentarlose gemeinsame Ansehen violenter Inhalte als elterliche Billigung der gezeigten Verhaltensweisen (vgl. z.B. Nathanson 1999). Demgegenüber reduzieren restriktive Interventionsstrategien zwar schädliche Wirkungen violenter Medieninhalte (vgl. Nathanson 1999, Robinson et. al. 2001), sie sind allerdings am ehesten bei jüngeren Kindern sinnvoll. Bei älteren bergen sie die Gefahr, das Eltern-Kind-Verhältnis zu belasten, da v.a. Jugendliche darin einen mangelnden Vertrauensbeweis sehen (vgl. Nathanson 2002). Auch kann der so genannte „Forbidden Fruit Effect“ eintreten, d.h. Gewaltinhalte werden durch Verbote oder Warnungen erst richtig interessant (vgl. Bushman/Cantor 2003, Bushman 2006). Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass sich der Konsum entsprechender Inhalte aus dem eigenen Zuhause auf den Freundeskreis verlagert. Als erfolgversprechendste Maßnahme haben sich aktive Interventionsstrategien erwiesen. Hierbei ist es v.a. wichtig, der von den meisten Medieninhalten nahe gelegten Identifikation der Rezipienten mit den gewalttätigen Protagonisten entgegenzuwirken, indem die Empathiefähigkeit der Kinder durch Sensibilisierung für die Perspektive des Gewaltopfers gestärkt wird (vgl. Nathanson/Cantor 2000). Auch moralische Bewertungen von Gewaltverhalten haben sich als effektiv erwiesen. Schon ein nicht weiter begründetes moralisches
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Urteil alleine war in einem Experiment von Yang (2007) in der Lage, die positive Haltung von Kindern zu violenten Medieninhalten zu verringern, zusätzliche Erklärungen befähigten die Probanden zu elaborierteren Argumenten für ihre Ablehnung von Gewalt. Ebenfalls untersucht wurde die Frage, ob Hinweise auf die Fiktionalität der Darstellung negative Konsequenzen von Gewaltinhalten reduzieren können. Entsprechende Maßnahmen erwiesen sich als wenig effektiv, da sich mit dem Wissen darüber, dass Medieninhalte fiktiv sind, nicht zwangsläufig auch die Bewertung dieser Medieninhalte verändert und Kinder – z.B. aus einem Bedürfnis sozialer Integration in ihre Peergroup – auch Handlungen zum Verhaltensmaßstab machen können, von denen sie wissen, dass sie nicht real sind (vgl. Freitag/Zeitter 1999, 2001; Nathanson/Yang 2003; Nathanson 2004). Als Bewältigungsstrategie für medieninduzierte Angst scheint der Hinweis darauf, dass Medieninhalte nicht real sind, allerdings bei Kindern hilfreich zu sein (vgl. Cantor 2003). Neben inhaltlichen Aspekten hat Amy Nathanson (2004) auch die Präsentationsform medienpädagogischer Botschaften untersucht und kommt zu dem Schluss, dass jüngere Kinder eher von Statements bzw. Informationen profitieren, wohingegen älteren Kindern stärker Gelegenheit gegeben werden sollte, die erwünschten Schlüsse (z.B. durch Fragen) selbst zu ziehen. Studien zur Wirksamkeit schulischer Maßnahmen haben heterogene Befunde erbracht. Offenbar sind entsprechende Programme kaum in der Lage, die Attraktivität von Mediengewalt zu verringern, können aber positive Effekte im Hinblick auf die Einstellung zur Gewalt und eigenes Gewaltverhalten erbringen. Ihre Wirkung kann generell durch Aufgaben verbessert werden, die die aktive Beschäftigung und die Involviertheit der Teilnehmer mit dem Thema erhöhen (z.B. Verfassen von Aufsätzen). Solche Programme müssen langfristig angelegt sein, um Erfolge zu erzielen (vgl. z.B. Huesmann et. al. 1983, Kleber 2001, Rosenkoetter et. al. 2004, Scharrer 2006). Wichtig ist der in verschiedenen Studien bestätigte Befund, dass es auch zu unerwünschten Bumerang-Effekten kommen kann. Diese treten v.a. dann auf, wenn verwendetes visuelles Anschauungsmaterial auch eine Fokussierung auf unerwünschte Verhaltensweisen bzw. den Gewalt ausübenden Täter statt der beabsichtigten prosozialen bzw. gewaltkritischen Botschaft ermöglicht (vgl. z.B. Winkel/DeKleuver 1997, Cantor/Wilson 2003, Byrne 2009). Grundsätzlich gilt, dass es sinnvoll ist, mit der Medienerziehung schon bei sehr jungen Kindern zu beginnen, damit Ansichten und Verhaltensweisen noch nicht zu sehr verfestigt sind, und um eine Basis für die Zeit zu legen, in der Heranwachsende stärker von ihrem Freundeskreis als vom Elternhaus beeinflusst werden. Wie Maria von Salisch, Astrid Kristen und Caroline Oppl (2007) in einer Langzeituntersuchung herausgearbeitet haben, bietet insbesondere eine frühzeitige Einflussnahme auf die Herausbildung von Präferenzen für bestimmte Medieninhalte bzw. Computerspiele die Chance, der möglichen Entstehung eines Wechselwirkungsprozesses zwischen der Vorliebe für Gewaltinhalte und gewalttätigen Einstellungen und Verhaltensweisen vorzubeugen.
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Michael Kunczik/Astrid Zipfel
Fazit
Auf die komplexe Frage nach der Entstehung von Gewalt und der Rolle, die die Medien dabei spielen, kann es keine einfache Antwort geben. Insgesamt ist es nach heutigem Kenntnisstand weder gerechtfertigt, Gewalt in den Medien zu verharmlosen, noch sie zum Sündenbock für Gewalt in der Gesellschaft zu machen. Niemand wird alleine durch den Konsum violenter Medieninhalte gewalttätig. Mediengewalt ist nur einer von vielen Faktoren, die Gewalt in der Realität bewirken können, und der Einfluss dieses Faktors ist von einer Vielzahl intervenierender Faktoren abhängig. Die Bestimmung dieser Wirkungsbedingungen ist eine Aufgabe, die die Forschung momentan intensiv beschäftigt. Bereits jetzt lässt sich aber konstatieren, dass es sinnvoll ist, möglichst frühzeitig Einfluss auf die Präferenzen für bestimmte Medieninhalte zu nehmen, Kinder in der Auseinandersetzung mit violenten Medieninhalten anzuleiten, dabei v.a. die Empathiefähigkeit zu stärken und für die negativen Folgen von Gewalt zu sensibilisieren sowie dafür zu sorgen, dass das soziale Umfeld Kindern und Jugendlichen nicht nur violente Vorbilder liefert, sondern ihnen auch gewaltfreie Konfliktlösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden.
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Exzessive Mediennutzung – soziales Problem, Konflikt, Abhängigkeit Georg Cleppien/Detlef Scholz
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Einleitung
Die Problematik „exzessive Mediennutzung“ werden wir am Beispiel des Computerspielens diskutieren, wobei diese darüber hinaus bedingt auch den Gebrauch von Mobiltelefonen und Fernsehen einschließt. Zur begrifflichen Bestimmung und Unterscheidung von „Internetsucht“ und „Computerspielsucht“ muss auf eine große Schnittmenge bezüglich der Exzessivitäts- und Abhängigkeitsdiskussion hingewiesen werden, da einen Hauptteil der Internetaktivitäten das Spielen ausmacht und die für diesen Diskurs relevanten Computerspiele vor allem Onlinerollenspiele sind. Insoweit werden die Begriffe teilweise synonym verwendet. Im Folgenden sprechen wir hauptsächlich von „exzessiver Mediennutzung“, wobei die Bezeichnung „exzessive“ Nutzung von Medien immer ein Problem hervorhebt. Wir verlagern damit die Frage nach einer quantitativen Bestimmung einer Zeitdauer in eine kommunikative Bestimmung der Problematik. „Exzessiv“ ist eine Mediennutzung demnach für uns nicht, wenn Medien eine bestimmte Zeitdauer genutzt werden, sondern wenn diese Zeitdauer zum Problem gemacht wird. Eine solche Problematik kann aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich betrachtet werden. Als problematisch lässt sich die Zeit der Nutzung aber nur vor einem Horizont an Alternativvorstellungen der Zeitgestaltung thematisieren. Diesbezüglich lässt sich wiederum auf die Differenz von Nutzung und Angebot hinweisen: Alternative Vorstellungen kann es nicht nur zur Mediennutzung, sondern auch zu den genutzten Angeboten geben. Dabei gehen wir davon aus, dass ein Problem einen Streitfall bezüglich eines spezifischen Sachverhaltes bezeichnet. Wir interpretieren das Problem „exzessive Mediennutzung“ demnach als Streit über Zeitgestaltungsmöglichkeiten sowie damit einhergehenden Normalitätsvorstellungen. In einem ersten Schritt werden wir „Internetsucht“ als soziales Problem beschreiben (2). Hierzu gilt es, ein Verständnis von sozialen Problemen zu entwickeln, dass sich weniger auf einen Sachverhalt als vielmehr auf eine (öffentliche) Thematisierungsweise bezieht. In einem zweiten Schritt thematisieren wir die im Kontext von „exzessiver Mediennutzung“ zentral diskutierte Thematik der „Abhängigkeit“ und deuten daran anschließend die Möglichkeit an, Mediennutzung im Kontext familiärer Konflikte zu interpretieren (3). Abschließend weisen wir auf eine systematische Betrachtungsweise hin (4).
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2
Georg Cleppien/Detlef Scholz
Exzessive Mediennutzung als soziales Problem
Die angedeutete Bestimmung von exzessiver Nutzung von Medien legt erst einmal nicht fest, ob es sich bei dieser thematisierten Auffälligkeit als Problem um eine private oder öffentliche Wahrnehmung handelt. Dass Etwas als Problem auffällig ist, heißt noch nicht, dass dies auch öffentlich diskutiert bzw. als Problem öffentlich anerkannt wird. Es lässt sich vorstellen, dass eine Person etwas als Problem bezeichnet und sogar dieses Problem aus eigener Perspektive „wirklich“ sieht oder hat, es aber nicht öffentlich anerkannt bzw. öffentlich diskutiert wird. Von „sozialen Problemen“ werden wir im Folgenden sprechen, weil diese bereits öffentlich diskutiert bzw. als solche anerkannt werden. Probleme werden in dieser Sicht nicht zu „sozialen“ Problemen, wenn sie ein Problem des Sozialen thematisieren, sondern, weil sie sozial und d.h. soviel wie öffentlich thematisiert werden. Eine solche Beschreibung folgt dem Ansatz von Herbert Blumer (1975), der den Prozess kollektiver Definition für das Auftauchen sozialer Probleme verantwortlich sieht. Die öffentliche Wahrnehmung, die politische Betrachtung, die praktische Bearbeitung und die wissenschaftliche Untersuchung, „kurz der Prozess der kollektiven Definition bestimmt die Geschichte und das Schicksal der sozialen Probleme von dem ersten Augenblick ihrer Entstehung an“ (ebd., 106). Zentral bei einer solchen Bestimmung ist, dass nicht ein „objektiver“ Sachverhalt, sondern die gesellschaftliche Definition von Bedingungen, etwas als soziales Problem konstituiert. M.a.W. ein Problem ist ein solches immer nur „für“ jemanden und ein „soziales“ Problem ist ein solches immer nur dann, wenn dieser Jemand mit seiner Problemdefinition soziale Anerkennung erhält und somit Mit-Streiter gefunden hat. Nimmt man den Sachverhalt der „exzessiven Mediennutzung“ als soziales Problem in dem hier angedeuteten Sinne in den Blick, kann erst einmal festgehalten werden, dass dieser Sachverhalt öffentlich als Problem diskutiert wird: Um die Nutzung von Medien (als Sachverhalt) wird mit Blick auf die Zeitdauer (Problematik) öffentlich gestritten. Auf den Streit als bestimmend für das Problem haben wir oben hingewiesen. Nun thematisieren wir „exzessive Mediennutzung“ als ein Problem, dass von Jemandem sozial anerkannt problematisiert wird.1 Diese Problematisierung beruht auf einer spezifischen Problemdeutung, die darauf Bezug nimmt, dass der Sachverhalt im Vergleich zu Normalitätsvorstellungen als negativ zu bewerten ist. Man kann in diesem Sinne Sätze formulieren, die mit „Es ist nicht normal…“ beginnen. So lässt sich bspw. für die Behauptung: „Es ist nicht normal, solange vor dem Computer zu sitzen, bis Haltungsschäden eintreten“, sicherlich öffentliche Aner1
Prinzipiell kann man zu jeder Zeit, ohne sachverhaltsspezifische Vergleiche anzustellen, die Problematisierung bestimmter Mediennutzung nachzeichnen. Als Beispiele können je nach Zeit auch das Bücherlesen, das Fernsehen usw. angesehen werden. Dabei steht besonders das „Exzessive“ der Nutzung im Vordergrund (vgl. zu Chancen und Risiken der Nutzung von Massenmedien u.a. AG 6 des 2. Jugendhilfetages in Köln [AGJJ 1966]). Insofern kann alles, was „exzessiv“ genutzt oder konsumiert wird, als Problem thematisiert werden, wobei die Kriterien dessen, was „exzessive“ bedeutet, selbst sehr heterogen sein können. Um diesem Dilemma der heterogenen Kriterien auf der Ebene des Definitorischen aus dem Wege zu gehen, kann, wie oben geschehen, auf eine allgemeine Festlegung verzichtet werden. Die konkreten Kriterien sind dann in den Aushandlungsprozess relevanter Personen verlagert. Hinsichtlich der Bestimmung als „soziales Problem“ vollzieht sich dieser Aushandlungsprozess öffentlich. Zwar scheint es so, als sei das Problem „exzessive Mediennutzung“ kein öffentlicher Streitfall, weil eine medizinisch-psychologische Deutung von „Internetsucht“ dominant geworden ist, doch wird sehr wohl zwischen unterschiedlichen (Experten-/Laien-) Gruppen sowohl um spezifische Risiken als auch um die Definition der Problematik gestritten.
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kennung erlangen. Dennoch muss man diesen Sachverhalt natürlich differenzieren, denn Menschen, die viel mit dem Computer arbeiten müssen, leiden auch häufig unter Haltungsschäden. Insofern scheint es „nicht normal, freiwillig so lange vor dem Computer zu sitzen, bis …“. Was nun jedoch ab wann freiwillig ist, scheint wiederum schwierig zu bestimmen. Beim „Computerspielen“ scheint die Freiwilligkeit klar (es sei denn, dies ist ein Job). Wie sieht es bei Internetrecherchen aus? Bis wann muss Recherche im Netz sein? Ab wann ist man ein sogenannter „Info-Junkie“? Aber Freiwilligkeit der Nutzung als Bedingung der Problematik herauszustellen, ist mit Blick auf das Thema „Internetsucht“ ebenfalls nicht unproblematisch. Sucht ist gerade als nicht freiwillige Abhängigkeit von der Nutzung zu verstehen. Damit wird deutlich, dass hier eine Vielfalt an miteinander verzahnter Normalitätskonstruktionen relevant ist. M.a.W.: Je nachdem wie „Internetsucht“ thematisiert wird, lassen sich dahinter stehende (öffentlich anerkannte) Normalitätskonstruktionen nachzeichnen, von denen abgewichen wird. Impliziert wird damit eine negative Wertung, dass Personen in ihrer Abweichung von den unterstellten Normalitäten geschädigt oder benachteiligt werden (vgl. Schetsche 2008: 49). Für die Thematisierung von „Internetsucht“ als ein soziales Problem, also als ein öffentlich ausgetragener Streitfall, gilt es, zu beschreiben, wie das Problem thematisiert wird. Nimmt man an, dass ein „soziales Problem“ nur dann gesellschaftliche Aufmerksamkeit erhält, wenn gesellschaftlich relevante Akteure diese Problem für relevant halten, lässt sich die Problemkarriere (als Karriere der öffentlichen Aufmerksamkeit) nachzeichnen. Dies haben Susanne Walter und Michael Schetsche (2008) für den Problemdiskurs „Internetsucht“ exemplarisch angedeutet.1 Im Einzelnen lassen sich hinsichtlich einer solchen Analyse sozialer Probleme drei wesentliche Dimensionen unterscheiden: die Problemkarriere, das Problemmuster und die Problemwahrnehmung (vgl. Schetsche 2008: 43). Für das Problemmuster „Internetsucht“ lässt sich eine sehr homogene Bestimmung nachzeichnen. Es wird von Anfang an mit Hilfe der Leitdichotomie Gesundheit/Krankheit thematisiert. „Damit wird nicht nur eine begrenzte Verantwortung der Betroffenen für ihr Verhalten suggeriert, sondern in der Frage individueller Bekämpfung auch ganz unmittelbar auf eine psychologisch-medizinische Behandlungsbedürftigkeit fokussiert (was auch die Zuständigkeit bestimmter Berufsgruppen für die Behandlung einschließt)“ (Walter/Schetsche.: 189).
Diese einheitliche Problemmusterbeschreibung im Kontext von Suchterkrankungen lässt sich zurückverfolgen bis in die Mitte der 1990er, als die Problematisierung der Nutzung von Internetangeboten begonnen wurde. Es waren US-amerikanische Psychologen, die diese Krankheit mit Hilfe von Beschreibungsmodellen von Verhaltensstörungen bzw. des „pathologischen Spielens“ zu analysieren versucht haben. Geforscht wurde fast ausnahmslos mit Hilfe des Mediums, welches Gegenstand der Problematisierung ist (vgl. Walter/Schetsche 2008: 182f). Dies deutet auf eine Vereinseitigung der Forschungsergebnisse hin, weil davon auszugehen ist, dass die Stichproben in Richtung der an der Thematik 1
Die Beispielsanalyse zum Thema Internetsucht ist bereits 2003 veröffentlicht worden. Die für die Untersuchung zentralen Daten stammen aus den Jahren bis 2001. Damit ist die „neuere“ Diskussion auch um das Computerspiel World of Warcraft nicht mit erfasst. Die Darstellung der Problemkarriere kann jedoch trotzdem der Veranschaulichung des Problemmusters dienen. Dieses, so scheint es, hat sich mit der Etablierung zu Beginn der 2000er weiter stablisiert.
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interessierten Nutzergruppe verzerrt sind (vgl. auch Seifert/Jöckel 2008: 302). Des Weiteren ist für den Diskurs auffällig, dass keine „abstrakten“ Problemlösungen thematisiert werden. Dies liegt, so Walter und Schetsche (2008: 192), v.a. an den generellen Nutzungsgeboten der Mediengesellschaft und der damit implizierten Unabdingbarkeit von PC- und Internetnutzung. Die Möglichkeit eines generellen „Konsumverbotes“, was z.B. bei spezifischen Substanzen durchgesetzt ist, kommt als Problemlösungsstrategie nicht in Betracht. Dennoch existiert eine Vielzahl konkreter Handlungsanleitungen des Umgehens mit dem Problem, die v.a. auf einen „angemessenen“ Umgang mit dem Medium zielen. Das „Angemessene“ verweist auf eine „normale“ Nutzung. Eine solche Orientierung an einer Normalität kann sowohl bei der Bewertung eines „Zuviel“ als auch eines „Zuwenig“ vorausgesetzt werden. Dabei lässt sich der Diskurs über „digital inequality“ (vgl. Kutscher in diesem Band) als Thematisierung des „Zuwenig“ im Sinne eines „Spiegel“-Diskurses fassen. Nimmt man diese Konstruktion des Zuwenig genauer in den Blick, wird aber auch deutlich, dass die Nutzung spezifischer Angebote im Zentrum stehen. Das „Zuviel“ ebenso wie das „Zuwenig“ bleibt also an spezifische Angebote gekoppelt, was dann aber auch bedeuten kann, dass – im Gegensatz zum Diskurs um „digital inequality“ – ein „Zuviel“ mit einem „Zuwenig“ einher gehen kann. Herausstellen lässt sich, dass die Karriere des Problemmusters durch eine Ambivalenz gekennzeichnet ist. Zwar wird generell die Internetnutzung nicht als gefährlich angesehen, gleichzeitig kann aber auch jeder Nutzer potentiell süchtig werden. Zurückgeführt wird diese Problematik auf ein Zusammenspiel von personalen Risikofaktoren und der Spezifik des Mediums sowie dessen besonderer Anziehungskraft (die auch in Fachpublikationen im Sinne einer Dramatisierung als „Sog“ beschrieben wird). Im Sinne der medizinischpsychologischen Deutung werden als personale Risikofaktoren bereits vorliegende psychosoziale Problematiken und Pathologien herausgestellt, die auch zu einer „pathologischen Nutzung“ des Internets führen (vgl. Kratzer 2006). Als Effekt dieses Zusammenspiels von personalen und medialen Faktoren wird seit Beginn des Problemdiskurses v.a. die „soziale Isolation“ (neben bspw. Haltungsschäden und gesundheitlichen Problem aufgrund falscher Ernährung) als besondere Problematik hervorgehoben (vgl. Walter/Schetsche 2008: 183). In diesem Sinne wird die Nutzung von Internet vornehmlich als personalisierte Technologie interpretiert, die in Konkurrenz zur Aufmerksamkeit für andere Personen (vgl. Röser/Großmann 2008: 98) aber auch Themen und Angebote steht. Diese Konkurrenz um Aufmerksamkeit wird jedoch v.a. als Problem der Nutzung hervorgehoben. Als „personalisierte“ Technologie bietet der Computer aber nicht nur eine soziale Rückzugsmöglichkeit für Nutzer, sondern, je nach Nutzungsweise und Angebot, auch die Möglichkeit anderer sozialer Kontakte. Betrachtet man die von Walter und Schetsche (2008) rekonstruierte Thematisierung von Internetsucht, lassen sich zweierlei Akteursgruppen hervorheben: Experten sind medizinisch-psychologische Berufsgruppen und Betroffene die Internetnutzer und -süchtigen selbst. Eine Auffälligkeit der öffentlichen Thematisierung von „Internetsucht“ ist die Dominanz der Betroffenen bei der Thematisierung. Dies ist, so die Autoren (ebd.: 196), auf die hohe Internetnutzungskompetenz sowie die hervorragenden Möglichkeiten der Netzwerkmedien als Diskussions- und Austauschplattform zurückzuführen. Dass jedoch auch im Fachdiskurs (und damit ist nicht der Sachbuchdiskurs gemeint, vielmehr wissenschaftliche
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Publikationen und Tagungen) Nutzer bzw. der Hinweis auf die eigene Nutzungskarriere eine wesentlich Rolle spielen, hängt eher mit der angedeuteten Ambivalenz der Thematisierung und der an den Strukturen öffentlicher Diskursstrategien orientierten Fachdiskussion zusammen. Vergleichbar ist diese Diskursstrategie mit dem Hinweis in massenmedialen Präsentationen, dass sozialpädagogische Fachkräfte selbst „Eltern“ sind. Darüber hinaus wird von den Autoren auf den bis Anfang der 2000er herrschenden Mangel an klinischem Material und den dadurch bedingten Rückgriff auf Fallbeispiele aus massenmedialen Veröffentlichungen hingewiesen (vgl. ebd.: 194). Zwar liegen gegenwärtig weitere Studien vor, die Strategie des Ausweises eigener Expertenschaft über die Nutzung von Medien wird jedoch auch im Fachdiskurs beibehalten. Insgesamt lässt sich hier von einem Verschwinden der Barrieren zwischen lebensweltlichem und wissenschaftlichem Wissen ausgehen, welches der Karriere des Problems Internetsucht genützt hat (vgl. ebd.: 203). Mit Blick auf die Karriere der Thematisierung des Problemmusters lässt sich bis Anfang der 2000er eine Konsolidierung im medizinisch-psychologischen Diskurs feststellen. Walter/Schetsche (ebd.: 179) kommen in ihrer Analyse des Diskurses bis 2001 zu dem Ergebnis, dass von einer (staatlichen) Anerkennung der Eigenständigkeit des Problems „Internetsucht“ aufgrund der Verortung in herkömmlichen Kategorisierungen nicht auszugehen ist. Diese Einschätzung muss angesichts vielfältiger (auch staatlicher) Aktivitäten seit Anfang der 2000er revidiert werden. Der Einsatz verschiedener Ressourcen in Form von Geld, Information und Recht als staatliches Engagement, wie für die Anerkennungsdimension „soziale Probleme“ entscheidend ist (vgl. Schetsche 2008: 54), ist mit Blick auf „exzessive Mediennutzung“ nicht mehr nur partiell. So luden beispielsweise die zuständigen Ministerien der Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen im Juni 2009 zu einem Expertenhearing nach Hannover, um sich über die Notwendigkeit und Art von Interventionen beraten zu lassen.1 Der Aufbau ausgewiesener Beratungsstellen oder zumindest die Qualifikation von Suchtberatern, die in bestehenden Beratungsstellen mit anderen Schwerpunkten tätig sind, wird in Form von Landesfördermitteln bereitgestellt. Forschungsvorhaben und Studien werden ebenfalls von der Bundesregierung unterstützt. Exemplarisch ist hier die durch das Bundesinnenministerium in Auftrag gegebene Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, KFN genannt (vgl. Baier u.a. 2006, Rabold/Baier/Pfeiffer 2008). Parallelisieren lässt sich diese staatlich geförderte Forschungsaktivität mit dem massenmedial-geführten Diskurs. Hier ist in den letzten Jahren eine Zurichtung der Thematisierung auf jugendliche Nutzer und besonders Computerspieler nachzuzeichnen. Deuten lässt sich dies u.a. vor dem Hintergrund von Dramatisierungstendenzen. Müde, abgespannte Jugendliche und besorgte Eltern lassen sich in Talkshows sicherlich gut vermarkten. Ebenfalls kann diese Fokussierung vor dem Hintergrund einer allgemeinen öffentlichen Aufmerksamkeit bezüglich der Gruppe Jugendlicher (bspw. im Kontext der PISA-Studien oder 1
Expertenhearing des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit und des Ministeriums für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen am 8. Juni 2009 zu den zentralen Fragestellungen: 1. Was ist Sucht im Bereich Medien? 2. Bei welcher Ausprägung kann man von exzessiver Nutzung sprechen? 3. Wie äußern sich exzessive Nutzung und Sucht im Alltagsverhalten? 4. Welche Sucht auslösenden Momente sind in Computerspielen identifizierbar? 5. Was sollte zukünftig erfolgen, um exzessiven Gebrauch und Sucht zu verhindern? Was sind geeignete rechtliche, medienpädagogische, politische Instrumente?
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von Gewaltakten) interpretiert werden.1 Interessant erscheint dies vor dem Hintergrund von Normalitätsvorstellungen der Alltags- und Lebensgestaltung Jugendlicher, die, darauf haben wird oben hingewiesen, entscheidend auch für die Bestimmung der Problematik der „Exzessivität“ der Mediennutzung ist. Diesbezüglich müsste jedoch nachgezeichnet werden, wie sich die gesellschaftlichen Normalitätskonstruktionen bei differenten Sachverhalten ausprägen und überschneiden. Dies kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Neben möglicher Dramatisierungstendenz und vermuteten Gemeinsamkeiten der öffentlichen Thematisierung von Jugendlichen als Problemgruppe, lässt sich aber auch im Problemmuster eine Bedingung für die Zurichtung auf die Personengruppe der Heranwachsenden sehen. Zentral ist hier die Bestimmung der Risikogruppe, auf die das Medium eine besondere Anziehungskraft ausübt. Als anfällig für die Möglichkeiten des Internets werden v.a. Neueinsteiger und Personen, die in sich nicht gefestigt sind, angesehen (vgl. Kratzer 2006): „Die Möglichkeiten würden, so diese These, gerade auf Menschen mit bereits vorhandenen psychosozialen Problemen eine große Anziehungskraft ausüben (…). Als Ursache des Problems wird mithin das Zusammentreffen einer bereits vorhandenen psychischen oder psychosozialen Störung bzw. Anfälligkeit mit den spezifischen Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten der Neuen Medien angesehen – ein Modell, in dem das Internet, entgegen den expliziten Distanzierungen in vielen Dokumenten, letztlich doch als zumindest potentielle Gefahrenquelle konturiert wird“ (Walter/Schetsche 2008: 191).
Koppelt man diese Festlegung im Problemmuster mit der Neugierde von Neueinsteigern, kann „exzessive Nutzung“ bei diesen sogar als „normales Verhalten“ verstanden werden (vgl. Kratzer 2006: 17). Aktivitäten im Internet bieten darüber hinaus eine unüberschaubare – virtuelle – Handlungsvielfalt. Mit immer neuen Informationen, Anforderungen, Interaktionen oder dem Erschaffen neuer virtueller Welten wird die Neugier der Nutzer erhalten. Die im realen Leben zum Teil versagt bleibende oder nur schwer erlangbare Anerkennung kann hier erreicht werden und damit macht virtuelles Agieren vor allem Spaß – ein Faktum, das oft als erstes von nach ihrer Nutzungsintention befragten Jugendlichen genannt wird. Geht man davon aus, dass besonders Heranwachsende die Möglichkeiten des Internets „neu“ entdecken und sich im Jugendalter Identitätsbildungsprozesse und psychosoziale Entwicklungskrise ergeben (vgl. dazu Hurrelmann 2007), scheint eine Konzentration des massenmedial (hier besonders im Fernsehen) geführten Diskurses auf „exzessive Mediennutzung“ als ein jugendspezifisches Problem nicht verwunderlich. Dabei müssen die besonderen Problematiken der Jugendlichen, die über die anfängliche Faszination und eine „normale“ Nutzung von Medienangeboten hinaus zu einer Stabilisierung des „exzessiven“ Medienkonsums führen, konkreter herausgestellt werden. Fasst man „exzessive Mediennutzung“ als ein soziales Problem, geraten die öffentlichen Thematisierungen in den Blick. Dabei steht gegenwärtig das „Computerspielen“ im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Es lassen sich diese in den Versuchen der öffentlichen Anerkennung der Computerspielsuchtproblematik einerseits und der Vermeidung einer allgemeinen Pathologisierung von Computerspielern andererseits nachzeichnen. 1
Vgl. dazu die Studien des Pfeiffer u.a. 2007, Rehbein u.a. 2009; besonders in Pfeiffer u.a. 2008 wird die Gruppe der „exzessiven“ Medienkonsumenten in Beziehung zu Schulleistungen gesetzt.
Exzessive Mediennutzung – soziales Problem, Konflikt, Abhängigkeit
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Wie an der Karriere des Problemmusters deutlich gemacht werden konnte, ist der Versuch die Problematik zu fassen, durch einen medizinisch-psychologischen Blick gekennzeichnet. Dieser stellt v.a. die Person des Spielers sowie die vom Spiel erzeugten Wirkungen ins Zentrum (vgl. auch Witting 2007, Dittler/Hoyer 2008, Bühl 2000, Rössler 1998). Betrachtet man also die Herausbildung des Problemmusters lässt sich herausstellen, dass es von Anfang an auf die Beziehung von Person und Medium zugeschnitten war. Einerseits können dem Nutzer spezifischer Persönlichkeitsmerkmale, Motivationen usw., andererseits dem Angebot bestimmte „Sog“-Wirkungen zugeschrieben werden. So fassen bspw. Florian Rehbein u.a. (2009) die Entstehungsbedingungen von Computerspielabhängigkeit im Wechselspiel von Merkmalen des Spielers und des Spiels wie folgt zusammen: „In Hinblick auf den Spieler haben sich spielmotivationale Aspekte, realweltliche Selbstwirksamkeitserfahrungen, Persönlichkeitseigenschaften und zurückliegende Traumatisierungserlebnisse als relevante Belastungsfaktoren erwiesen. Zum Spiel zeigt sich, dass die Intensität des Abhängigkeit erzeugenden Potentials mit der Art der Spielstruktur und der Vergabe virtueller Belohnungen sowie der Einbettung in eine soziale und persistente Spielumgebung variiert, und dass der Art des genutzten Spiels damit eine eigenständige Erklärungskraft für die Entstehung einer Computerspielabhängigkeit zukommt“ (ebd.: 1).
Während die Beziehung Spieler zum Spiel sowie die Möglichkeiten, die das Spiel zum spielen offen lässt, in der Problemmusterbeschreibung als zentral herausgestellt wurden, erscheint die Umwelt als Rahmenfaktor personal vermittelt. Lebensweltliche Aspekte werden als Bedingungen für Spielmotivation und realweltliche „Mangel“-Erfahrungen, die mit Hilfe des Spiels ausgeglichen werden, einbezogen. Spielen lässt sich so als „stellvertretend für eine Auseinandersetzung mit realweltlichen Problemen und Konflikten“ (ebd.: 27) deuten (vgl. Meixner 2009). „Die Entscheidung für die pathologische Internetnutzung als Bewältigungsstrategie für belastende Lebensanforderungen setzt weiterhin voraus, dass Handlungsalternativen fehlen, d.h. die bestehenden Problemlösungskompetenzen eingeschränkt sind“ (Kratzer 2006: 23). Fehlen alternative Problembewältigungsstrategien kann eine „Flucht ins Internet“ zu einem „Teufelskreis“ von Problemverstärkung und Ausweitung der Nutzung führen (vgl. zur Stressbewältigung auch Grüsser/Thalemann 2006). In diesem Sinne werden lebensweltliche Push-Faktoren und spielspezifische Pull-Faktoren als bedeutsam angesehen. Die Frage, wie Spieler generell und Kinder und Jugendliche speziell mit diesen Faktoren umgehen, ist das Zentrum der gegenwärtigen Diskussion um „exzessive Mediennutzung“. Letztendlich ist dies ein Streit um die Größe und gesellschaftliche Relevanz einer spezifischen Problemgruppe, die einen Hauptteil ihrer Zeit spielend vor dem Bildschirm verbringt.
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„Exzessives Computerspielen“ als Abhängigkeit und familiärer Konflikt
Spielen ist generell eine anerkannte gesellschaftliche Tätigkeitsform, die in ihrer Bedeutung für das Aufwachsen von Menschen und deren Freizeitgestaltung als bedeutsam angesehen wird (vgl. Fritz 1991, 2004). Betrachtet man klassische Spieltheorien lässt sich das Spiel als Aufeinander-Einspielen von Person und Welt (vgl. Buytendijk 1933), als ursprüngliches
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Element der Kultur (vgl. Huizinga 1994) oder als Grundphänomen menschlichen Daseins (vgl. Fink 1960) beschreiben. Hans Scheuerl (1970: 34; auch Scheuerl 1979) bestimmt das Spielerische des Spiels mit Hilfe von sechs Charakteristika: Freiheit der Erscheinung (die durch jedweden Zwang zerstört wird), scheinhaftes Schweben oder Leichtigkeit der Bewegung, Geschlossenheit des Rahmens, Ambivalenz der Kräfte (die erst eine Spannung erzeugen), innere Unendlichkeit und zeitenthobene Gegenwart (im Sinne eines Zirkel des Spiels, der uns in ewiger Gegenwart festhält). In dieser phänomenologischen Bestimmung steht besonders die Beziehung vom Einzelnen zur Welt im Vordergrund, wobei Scheuerl (1970: 35) die Fälle, wo „jemand etwas“ oder „jemand mit etwas“ spielt aus dem Etwas, was spielt (im intransitiven Sinne), ableitet. Demgegenüber verfolgt bspw. Rolf Oerter (1999) einen handlungstheoretischen Ansatz und rekonstruiert Spiel bezüglich seines Konstrukt-, Rahmen- und Handlungscharakters. Mit Blick auf die Bestimmung des Spielerischen erscheint eine Konstruktion von „Spiel-Sucht“ sinnlos ist, da bei der Sucht gerade das „Spielerische“ verloren geht. Insofern ist von „Spiel-Sucht“ nur dann zu sprechen, wenn sich ein spezifischer Bezug auf ein als Spiel bezeichnetes Konstrukt nachzeichnen lässt. Im Folgenden gehen wir davon aus, dass Computerspiele als ein wesentlicher Teil gegenwärtiger Jugendkultur zu deuten sind (vgl. Wenz 2006, Vogelgesang 2003, Fromme/Meder/Vollmer 2000). Kinder und Jugendliche werden im Verlauf ihres Aufwachsens mit virtuellen Medienwelten konfrontiert und eigenen sich diese in spezifischer Weise an (vgl. auch Röll und Deinet in diesem Band). Im öffentlichen Diskurs wird, wie angedeutet, die „Internetsucht“ und „Computerspielsucht“ als Schwerpunkte der „Mediensucht“ verstärkt als Jugendproblem aufgefasst. Ein vergleichbares Bild zeigt sich dabei in der Beratungspraxis. Zum Einen sind es bei den Betroffenen vor allem junge Erwachsene, die nach längerer Nutzung körperliche, psychische und soziale Negativwirkungen wahrnehmen und eine Beratungsstelle aufsuchen. Zum Anderen lassen sich Angehörige (vorwiegend Mütter) beraten. Die Problematisierung findet demnach i.d.R. durch Erwachsene (Angehörige, ältere Nutzer oder Experten) statt und entwickelt sich aus einer Fremdperspektive, die eine Annahme der Betroffenensicht für weite Bereiche ausschließt. Wir werden im Folgenden auf die personalen, rahmen- und spielspezifischen Faktoren konkreter eingehen, wobei wir bei den spielspezifischen Faktoren beginnen und daran anschließend die personalen Faktoren andeuten. Die Rahmenfaktoren stellen sich für uns gegenüber anderen Deutungen als zentral dar, so dass wir diese ausführlicher behandeln. Dies liegt nicht nur an ihren Wirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung, sondern auch als konkrete situative Bedingungen. Wir hatten bereits auf der definitorischen Ebene einfließen lassen, dass das Phänomen „exzessive Mediennutzung“ einen kommunikativen Streitfall und insofern auch ein Problem darstellt. Waren die bisherigen Überlegungen auf den „öffentlichen“ Streitfall gerichtet, tritt im Kontext der Rahmenfaktoren der „private“ Streitfall in den Vordergrund. Insofern werden für uns Familien zentral. Diese müssen sich in der modernen Gesellschaft immer auch mit der Mediennutzung ihrer Mitglieder auseinandersetzen. Für die familiäre Problematik „exzessive Mediennutzung“ wesentlich ist, dass die Einigkeit über die Thematisierung der Nutzung als „exzessiv“ entweder nicht gegeben ist oder eine Reduktion der Nutzung im Sinne der medizinisch-psychologischen Deutung nicht möglich ist. Im letzteren Fall sprechen wir von einer Abhängigkeitsproblematik, im ersteren Fall von einem Konflikt. Ein weiterer wesentlicher Aspekt für die Stabilität der Abhängigkeitsproblematik
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über die Einsicht in das Problem hinaus sind Beziehungskonstellationen, die unter dem Label Co-Abhängigkeit thematisiert werden.1 Diesbezüglich werden wir es jedoch bei Verweisen belassen. Ebenso werden wir die jugendkulturelle Einbettung und die Relevanz der peer groups nicht weiter ausführen. 3.1 Spiel und Spieler Wie bereits herausgestellt, ist im Problemmuster das Verhältnis von Spieler und Spiel zentral. Für eine Abhängigkeit werden personale und spielimmanente Faktoren als relevant angesehen. Dabei werden die spielimmanenten Faktoren zumeist so thematisiert, dass gewisse Aspekte des Spiels bestimmten Dispositionen des Spielers entgegenkommen. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass Faktoren in der Regel nicht isoliert werden können, wenn von „exzessiver Mediennutzung“ gesprochen wird. Für das Spiel werden Faktoren angegeben, die eine Faszination erzeugen und die von den Produzenten der Spiele mit in die Entwicklung einbezogen werden, um eine Bindung des Spielers an das Spiel zu erreichen. Betrachtet man Computerspiele vor dem Hintergrund des oben nachgezeichneten medizinisch-psychologischen Deutungsmodells bieten diese eine breite Projektionsfläche für eine Anzahl an Bedürfnissen der Spieler. So werden von Jugendlichen häufig Ablenkung und das Unterdrücken von Langeweile als Mediennutzungsgründe genannt. Aber auch das Streben nach sozialer Integration und Anerkennung sowie Leistungserfolgen und positiven Rückmeldungen sind hierbei zentral (vgl. Seifert/Jöckel 2009). Diese sind auch als Grundprinzip in dem vieldiskutierten Onlinerollenspiel „World of Warcraft“ (WOW) verankert. Stefan Wesener (2008) stellt für die Faszination von Computerspielen besonders die Spielmechanik und die Regeln, aber auch das Belohnungssystem und die Glaubwürdigkeit der Atmosphäre heraus. Er hält fest, dass die Spielmechanik und die Atmosphäre entscheidend dafür sind, „welche Sogwirkung das Bildschirmspiel auf den Spieler ausübt und ob es für ihn durch das glaubwürdige Ineinandergreifen von Atmosphäre und Spielmechanik zur virtuellen Welt wird“ (ebd.: 108). Während diese Befunde für Computerspiele allgemein gelten, lässt sich bezüglich des Online-Rollenspiels WOW besonders im ausdifferenzierten Belohnungssystem ein wesentlicher Abhängigkeitsaspekt sehen, der von den Spielentwicklern kontinuierlich ausgebaut wird. Nicht nur das schnellere Aufsteigen in den Level wurde ermöglicht, es wurde zu dem differenzierten „Achievement“, dem Belohnungs- oder Leistungssystem kürzlich die Kategorie „Erfolge“ namentlich hinzugefügt, was, in Kontinuität der Interpretation der Computerspielsucht als Glückspielsucht, zu einer erhöhten Abhängigkeitswahrscheinlichkeit führt, da hier eine „besonders augenfällige Parallele zu dem [erkennbar wird], was auch das Abhängigkeitspotential von Glücksspielen ausmacht“ (te Wildt 2009). Um ein „Meister der 1
Unter Co-Abhängigkeit ist eine Abhängigkeit von Abhängigen zu verstehen. Diese Phänomenbeschreibung bezieht sich v.a. auf Angehörige oder Partner von Suchtkranken, die als förderliche Bedingung für die Stabilität der Abhängigkeit gedeutet werden. „Co-Abhängigkeit ist eine Problem- und Bewältigungsmuster, das in Interaktion mit einer suchtkranken Person entwickelt und verstärkt wird. Die Entwicklung co-abhängigen Verhaltens ist gekennzeichnet durch zunehmende Einschränkungen in der Wahrnehmung von Handlungsalternativen bis hin zum Gefühl von existentieller Bedrohung durch jegliche Veränderung. Sie geht mit den gleichen Begleiterscheinungen einher wie eine Entwicklung zur Drogenabhängigkeit: Verlust von Selbstwert, Unterdrückung von Gefühlen, Verstärkung von Abwehrmechanismen, Kampf um Kontrolle, Verlust der Realität, Beeinträchtigung aller Potentiale der Persönlichkeit“ (Rennert 1990: 194).
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Lehren“ zu werden, müssen „550 Quests in den Östlichen Königreichen, 700 Quests in Kalimdor, fast alle Outlandquests Northrendquests“ erfüllt werden. Ein „Held der eisigen Weiten“ wird nur, wer eine Reihe von „Bossen“ (starke computergenerierte Gegner) wie Sartharion der Onyxwärter, Anub'Arak, Sjonnir der Eisenformer, Ingvar der Plünderer und den Propheten Tharon'ja getötet hat. Die zur Schau gestellten Erfolge dienen der Möglichkeit öffentliche Anerkennung und sind insofern als Statussymbole beliebt. Diese kann man durch besondere Aufgabengruppen („Quests“) erlangen. Um Spielziele auch auf der Stufe 80, der derzeit höchsten erreichbaren Stufe, erstrebenswert zu halten, wurde beispielsweise der Titel des „Triumphators“ eingeführt, wofür „zehn Kämpfe mit Rangwertung in Folge und einer Wertung von über 2000“ auf dieser Stufe gewonnen werden müssen. Realisierbar sind diese „Erfolge“ nur durch einen hohen Zeitaufwand, wobei manche Aufgaben mehrstündige (bis zu sechs Stunden) ununterbrochene virtuelle Aktionen erfordern. So steht hinter jeder erreichten Stufe eines Avatars und jedem Titel eine hohe „Ingame-Zeit“, also Zeit, die ausschließlich in der virtuellen Welt verbracht wurde. Für einen Charakter auf Stufe 80 sind zwischen 350 und 500 Stunden notwendig, für einen Titel wie „Meister der Lehren“ noch einmal ca. 450 Stunden. Es ist aber davon auszugehen, dass ein Spieler über mehrere Avatare verfügt, die er nicht zeitgleich spielen kann. In Anschluss an den Kommunikationswissenschaftler Uwe Hasebrink (2009) kann für Computerspiele eine Reihe von Merkmalen, die zu einer Sogwirkung beitragen können, identifiziert werden: die Persistenz des Spiels (das Weiterlaufen der Spielhandlung, ohne dass der Spieler online ist, wodurch „eine Parallelwelt zum normalen Alltag“ entsteht), die Grenzenlosigkeit (komplexe offene Spielwelten ohne zeitliche oder räumliche Grenzen), Kommunikation (beispielsweise das Chatten während des Spiels als Unterstützung von Aufbau und Pflege sozialer Beziehungen), die notwendige Kooperation (fortgeschrittene Spielziele können nur in einer spielspezifischen Gruppe (z.B. einer Gilde) erfüllt werden) und die daraus resultierenden „Pflichten“ (wie beispielsweise der Einhaltung von Terminen). Das Verstärken sozialer Bindungen wirkt verstärkend auf das Motivationspotential. Gleichzeitig lassen sich die kognitive Anstrengung von Computerspielern v.a. durch einen selbstbelohnenden Effekt erklären (vgl. Bolay 2009). Zentrale Motivation ist bei WOWSpielern des Weiteren das Streben nach Erfolg (vgl. Seifert/Jöckel 2009: 305). Dabei spielt ein ausgewogenes Verhältnis von Herausforderungen und Erfolg ohne Über- oder Unterforderung eine entscheidende Rolle. Auf diese Weise wird eine besonders tiefgehende Immersion in der Spielerfahrung und den virtuellen Welten erreicht (vgl. Quandt 2009). Das vollständige Involvieren einer Person in seine Tätigkeit wird als ‚Flow-Erleben’ bezeichnet. „Flow“ ist ein „optimales“ bzw. „autotelisches“ (an sich lohnendes) Erleben, wie es auch von Scheuerl am Phänomen Spiel hervorgehoben wurde. Mit Blick auf die Balance im Arbeiten oder Spielen „setzt es ein Gleichgewicht zwischen den in einer gegebenen Situation wahrgenommenen Anforderungen einerseits und den mitgebrachten Fähigkeiten und Fertigkeiten andererseits voraus“ (Csikszentmihalyi 1995b: 43). Es geht zurück auf die Beobachtungen zur intrinsischen Motivation: „In seinen Forschungen fand deCharm eindrückliche Unterschiede zwischen Schulkindern, die er danach unterschied, ob sie den Ereignissen in ihrem Leben vertrauensoll-aktiv oder passivresignativ gegenüberstanden. Den ersten Typ nannte er ‚origin‘ (Spieler), weil die Kinder glaubten, sie täten das, was sie tun wollten; den zweiten Typen nannte er ‚pawn‘ (Figur), weil diese
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Schüler das Gefühl hatten, von äußeren Kräften herumgestoßen zu werden, die ihrer Kontrolle entzogen wären. Eine wichtige Eigenschaft der ‚Spieler‘ war ihre intrinsische Motivation: Da sie das Gefühl hatten, Meister ihres eigenen Verhaltens zu sein, nahmen sie es ernster und hatten unabhängig von äußerer Anerkennung Befriedigung daran“ (Csikszentmihalyi 1995a: 18).
Ist nun deCharms noch von einer generellen Lebenseinstellung der Kinder ausgegangen, was für eine Interpretation von „Flow“ als Lebensweise spricht (vgl. Csikszentmihalyi/Csikszentmihalyi 1995: 197ff), lässt sich motivationspsychologisch das „Flow-Erleben“ auf Tätigkeiten spezifizieren und davon ausgehen, dass dieses in unterschiedlichen Lebensbereichen verschieden erlebt (vgl. LeFrevre 1995) bzw. überhaupt erlebt wird. Dabei weisen diesbezügliche Studien darauf hin, dass Betätigungen, die für den Tätigen durch ein hohes Niveau der Anforderungen und der Fähigkeiten gekennzeichnet sind, auch das eigene Wohlbefinden erhöhen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Selbstbewertung, die geringer ist, wenn die Anforderungen als höher als die Fähigkeiten (Angst) oder niedriger als diese (Langeweile) erlebt werden (vgl. Well 1995: 350). Ein Anforderungsniveau mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad in der Anfangsphase, in der die Nutzung noch durch den Neuwert motiviert ist (vgl. Kratzer 2006), lässt eine stets adäquate Anpassung an das Leistungsvermögen des jeweiligen Nutzers zu. Darüber hinaus sieht Thorsten Quandt (2009) eine weitere wichtige Voraussetzung für eine kontinuierliche Spielmotivation in den Selbstwirksamkeitserwartungen, also dem Vermögen, positive Erfahrungen (durch den Gewinn eines Levels, das Freispielen neuer Herausforderungen o.Ä.) hervorzurufen. Dies weist über die spielimmanenten Faktoren hinaus auf die personalen Faktoren. Nimmt man die personalen Faktoren in den Blick, wird die medizinisch-psychologische Ausrichtung des Problemmusters besonders deutlich. In Anschluss an Walter/Schetsche (2008: 190) haben wir ausgeführt, dass es sich nach der dominierenden Problembeschreibung um eine psychische Erkrankung handelt, die sich durch einen exzessiven Internet-Gebrauch äußert. Der Stellenwert der einzelnen Symptome blieb jedoch ungeklärt. Eine solche Hierarchisierung der auftretenden Symptome setzt eine Kenntnis der individuellen Verknüpfungen von personalen, spielimmanenten und Umweltfaktoren voraus, die selbst in umfassenden Längsschnittstudien nur ansatzweise zu erfassen ist. Insofern ist eine entsprechende Ordnung der Symptomatik auch in näherer Zukunft nicht zu erwarten. Die von den Autoren ausgewerteten Quellen kommen in der Mehrzahl zu der „Feststellung, dass die Internetnutzung nicht generell gefährlich sei. Zu einer Bedrohung würde sie erst im Zusammensiel mit bestimmten ‚Risikofaktoren’“ (ebd.: 191), wobei hier vor allem Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder bereits vorhandene suchtförmige Verhaltensmuster genannt werden (vgl. auch Kratzer 2006). Hier wird also von einem bestehenden Krankheitsbild ausgegangen, welches die Entfaltung der ‚Sogwirkung’ des Internet befördert. Gleichzeitig lassen sich personale Faktoren identifizieren, die eine Ausweitung medialer Nutzung zur Exzessivität begünstigen, ohne dass im Vorfeld eine psychische Störung vorliegen muss. In unserer Betrachtung werden wir diese in den Vordergrund stellen, obwohl die Internetsucht durchaus als komorbides Phänomen bei einer Reihe pathologischer Befunde auftreten kann. Festzuhalten ist: „Die Frage, was die Ursachen und was die Auswirkungen einer exzessiven Computerspielnutzung sind, ist längst noch nicht geklärt. Gezeigt wurde jedoch, dass, wenn das Spiel einge-
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Georg Cleppien/Detlef Scholz schränkt werden soll/wird, Entzugserscheinungen zum Beispiel in Form von psychischen (depressiver Verstimmung, Aggressivität) und körperlichen Phänomenen (Unruhe, Nervosität) auftreten können“ (Grüsser/Thalemann 2006: 53).
Dennoch benennen die Autoren personale (Risiko)Faktoren wie niedrige Stresstoleranz, stark ausgeprägtes Einsamkeitsempfinden und geringe Impulskontrolle, wobei die Wirksamkeit der einzelnen Faktoren entscheidend von der Art und Stärke der damit verbundenen Gefühle, Gedanken, Erwartungen und ausgelösten biochemischen Prozesse im Körper abhängt (vgl. ebd.: 39ff). Sabine Meixner und Matthias Jerusalem unterscheiden drei personale Faktoren: Persönlichkeitsfaktoren, Stresserleben und Copingstrategien. Als Persönlichkeitsfaktoren wurden Depressivität, Einsamkeit, manifeste Ängstlichkeit, Impulsivität und Schüchternheit untersucht, wobei die exzessiven Nutzer im Vergleich zu den moderaten Nutzern durchgehend und teilweise erheblich höhere Werte (30% bei Einsamkeit) aufweisen. Das Selbstwertgefühl exzessiver Nutzer ist durchschnittlich um 7% niedriger (vgl. Meixner 2009). Die Ergebnisse zur Einsamkeit und Impulsivität bestätigen die o.g. Einschätzung von Grüsser und Thalemann. Ebenso ist das Stresserleben – untersucht wurden Herausforderung, Bedrohung und Verlust – unterschiedlich. Während sich moderate Internetnutzer stärker herausgefordert fühlen, erleben exzessive Nutzer eine höhere Bedrohung und einen um 35% stärkeren Verlust. Dies verweist auf die Annahme, dass der Auslöser einer exzessiven Nutzung häufig ein dramatisches Verlusterlebnis ist. Die Trennung der Eltern, traumatische Kindheitserlebnisse, die einen – zumindest inneren – Abschied von einem Elternteil bewirken sowie Krankheit oder Tod eines nahe stehenden Menschen zählen ebenso dazu wie allgemein die Beendigung vertrauter Situationen, beispielsweise das Verlassen des Elternhauses (Studenten gelten in den USA als Risikogruppe, da hohe Nutzungsraten nachgewiesen wurden), der Übergang von der Schule zur Ausbildung oder der Arbeitsplatzwechsel. Daran schließen auch Untersuchung zu Bewältigungsstategien dem so genannten ‚Coping’ an. Hier weisen moderate Nutzer beim aktiven Coping höhere Werte, beim emotionalen Coping niedrigere und beim Web-bezogenen Coping halb so hohe Werte wie exzessive Nutzer auf (vgl. Meixner 2009). Vor allem hier zeigt sich, wie eng die personalen Faktoren mit den Rahmenbedingungen verknüpft sind, denn Bewältigungsstrategien werden in sozialen Kontexten eingeübt (vgl. u.a. Seligman 1983). Wenn es an Modellen für aktive Bewältigungsstrategien fehlt, werden Alternativen gesucht und bspw. im Web-bezogenen Coping gefunden. Was bereits mit Blick auf das „Flow-Erleben“ angedeutet wurde, bestätigt sich auch an dieser Stelle. Neben einem positiv belohnenden emotionalen Erleben sind Empfindungen wie Spannung, Erleichterung, Angst, Freude und Stolz von entscheidender Bedeutung. Für die erfolgreiche Entwicklung emotionaler Kompetenz werden von Grüsser und Thalemann (2006: 59) die Ausbildung von Fähigkeiten in mindestens vier Bereichen genannt: Aufmerksamkeit für die eigenen Gefühle, Mitgefühl, Aufbau zufriedenstellender zwischenmenschlicher Beziehungen und der konstruktive Umgang mit belastenden oder sozial problematischen Gefühlen als Stressbewältigung. In der Betrachtung der Entwicklung dieser Kernkompetenz sehen die Autoren den Schlüssel zum Verständnis der Internetoder Mediensucht. Im Überschneidungsbereich von personalen Faktoren und Umweltfaktoren lassen sich die spezifischen Sozialisationsbedingungen der Person konkretisieren. Diese Bedingungen
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thematisieren wir an dieser Stelle, da sie für die Persönlichkeitsentwicklung, das Stresserleben und die Bewältigungsstrategien entscheidend sind. Die Grundlagen dafür, wie stark sich ein Mensch sozial unterstützt fühlt bzw. die Stärke eines Gefühls für das Unterstütztsein empfinden kann, entwickelt sich v.a. im familiären Kontext. Art und Weise sowie Dauer und Intensität der Interaktionen während der frühen Lebensphasen wirken sich nachhaltig auf die Entwicklung von Persönlichkeitsfaktoren aus (vgl. Ahnert 2006, Petzold 2006, Fried 2003). Hierfür wiederum sind die Lebensumstände der Bezugsperson in der entsprechenden Phase von großer Bedeutung (vgl. u.a. Schindler 1990, Göppel 2007, Beckmann u.a. 2009). Besteht eine familiär oder beruflich angespannte Situation über einen längeren Zeitraum kann dies bei gleichzeitig nicht adäquat verfügbaren Bewältigungsstrategien zu einer ungünstigen Beeinflussung der Kindesentwicklung führen. Hier ist besonders die Aufmerksamkeit für das Kind relevant. Bindungstheoretisch wird die Notwendigkeit einer guten und sicheren Beziehung in der frühen Lebensphase für spätere Beziehungsfähigkeit und Stressresistenz herausgestellt (vgl. Spangler 2009, Julius 2009). Als entscheiden wird hervorgehoben, dass Eltern ihre Zuneigung nicht an Bedingungen knüpfen und unvermeidbare Fehler nicht als Charakterschwäche personal zurechnen. Mit Blick auf den Spieler lassen sich, wie oben angezeigt, nicht nur Verlusterfahrungen als Auslöser für „exzessives“ Spieler herausstellen, auch die Veränderung der ungünstigen Nutzungsgewohnheiten kann als Verlust erlebt werden. Veränderung der Nutzung bedeutet, dass der Exzessivnutzer sich von vielen, zum Teil ritualisierten Gewohnheiten lösen muss, die seinem Leben Struktur und Sinn gegeben haben. Der Abschied von einem Avatar, dem virtuellen Alterego eines Onlinerollenspielers, kann ähnlich schmerzhaft empfunden werden wie realweltliche Verluste. Individuell gefundene Bewältigungsstrategien, die es ermöglichen, mit innerer Unruhe, Ängsten und Verunsicherung umzugehen und zudem extreme Befriedigung erzeugen, werden eher nicht freiwillig aufgegeben. Die Erkenntnis, dass bestimmte Bewältigungsstrategien perspektivisch Ängste verstärken und bestehende Probleme verschärfen können, wird durch das Erleben positiver Wirkungen permanent ‚überschrieben’. Damit ist es für Abhängige schwer, ihren Zustand auch emotional zu akzeptieren und eine Änderungsmotivation zu entwickeln. 3.2 Rahmenfaktoren Das Bedingungsgefüge, welches zur Ausprägung einer „exzessiven Mediennutzung“ führt, lässt sich unter besonderer Berücksichtigung der Angehörigenperspektive thematisieren. Der Anstieg der Internetnutzer in Deutschland in den Jahren von 1998 bis 2008 bewirkt selbst bei der in der Forschung als geringste angenommene Prozentzahl von Abhängigen eine hohe absolute Betroffenenzahl. Die Ergebnisse einer Schülerbefragung zur exzessiven Internetnutzung der Humboldt-Universität Berlin, die von Sabine Meixner und Matthias Jerusalem 2005-2008 als Paper-Pencil Fragebogenuntersuchung von 5202 Schülern im Alter von 12-24 Jahren in Hamburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt durchgeführt wurde, liefert weitere detaillierte Hinweise. In dieser Studie wird von einer exzessiven Nutzung ab 28,8 Stunden pro Woche gesprochen, was auf 4% der befragten Schüler zu traf. Nimmt man die Angehörigen und Freunde mit in den Blick, vervielfacht sich die Zahl der Betroffenen.
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Soziale Rahmenfaktoren lassen sich, erstens in ihrer Wirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung, die Herausbildung von Bewältigungsstrategien und das Stresserleben thematisieren. Die Bedingungen, unter denen die Jugendlichen aufwachsen – der Grad der elterlichen Fürsorge, die Einbindung in Gruppen Gleichaltriger, die Möglichkeiten für befriedigende Betätigungen etc. – bestimmen zum einen die Ausprägung der Persönlichkeitsfaktoren und bringen sie andererseits durch entsprechende Wechselwirkungen zur Geltung. Darüber hinaus verweisen Untersuchungen zur Einschätzung von Unterstützung und Konflikten bei „exzessiver Mediennutzung“ zweitens auf die Möglichkeit, den „sozialen Konflikt“ um Mediennutzung ins Zentrum zu stellen. Nach Meixner (2009) fühlen sich exzessive Nutzer weniger sozial unterstützt, sehen sich aber um 23% stärker sozialen Konflikten ausgesetzt. Im Folgenden werden wir die Mediennutzung selbst als Konflikt beschreiben. Liest man dies im Kontext der angeführten Ergebnisse zu Bewältigungsstrategien kann dieser Konflikt als selbstverstärkend beschrieben werden. Darüber hinaus lassen sich drittens das soziale Umfeld bspw. die peer group aber auch die unterstützend wirkenden Personen in den Blick nehmen. Darauf werden wir jedoch nicht näher eingehen, vielmehr stellen wir Mediennutzung als sozialen und als familiären Konflikt da. Neben den Bedingungen, die auf die Entwicklung Einfluss nehmen, sind auch die personalen Beziehungen wesentlich, die die Herausbildung einer „exzessiven“ Nutzung befördern. Es ist davon auszugehen, dass alle Nutzer anfänglich die von ihnen präferierten Medien in ihre Lebenswelt integrieren. Beim Zusammentreffen ungünstiger personaler und Rahmenfaktoren, können jedoch spielimmanente Faktoren eine negative Wirkung entfalten, die zu einer Gefährdung oder Abhängigkeit führen. Wir hatten bereits auf Krisensituationen hingewiesen. Nun stellen wir den „sozialen Konflikt“ der Mediennutzung ins Zentrum. Da zu Mediennutzung als (familiärer) Konflikt nur wenig empirische Studien vorliegen (exemplarisch Keppler 1994, Röser/Großmann 2008, Hinweise bei Meixner 2009), verstehen wir die folgenden darauf bezogenen Überlegungen als modellhaft. Hierzu gilt es, zu klären, was unter einem Konflikt verstanden werden kann und wie familiäre Konflikte zu fassen sind (vgl. aus familiensoziologischer Perspektive Schneider 1994, Bründel 2009). Anders als im oben nachgezeichnetem Problemmuster treten an dieser Stelle die Beziehungen des Spielers zu seinen Mitmenschen ins Zentrum. Dies schließt an die Beobachtung an, dass Mit-Betroffene in der Regel Familienangehörige sind. Die Familie wird dabei von uns als die „primäre“ Gemeinschaft angesehen, in der es zum Konflikt über Mediennutzung kommt. Das zugrunde liegende Problem verorten wir wie bisher in der Deutung von „exzessiv“ als Streitfall. Solange die einzelnen Familienmitglieder die Mediennutzung nicht als Problem deuten, liegt eine unproblematische Mediennutzung vor, die gemäß unserer Bestimmung nicht „exzessiv“ ist. „Exzessive Mediennutzung“ ist im Umkehrschluss wie einleitend formuliert, immer ein Problem. Das Problem der „exzessiven Mediennutzung“ ist nun nicht mehr eines, über das öffentlich diskutiert wird sondern ein Streitfall zwischen Personen. Wie diese jedoch in den Blick geraten, hängt von der Form des Konfliktes ab (vgl. Messmer 2003). In Anschluss an die bisherigen Überlegungen ist herauszustellen, dass es einen Unterschied macht, ob „exzessive Mediennutzung“ als Konfliktumgangsstrategie oder als Konfliktthema gedeutet wird.
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Mediennutzung als Konfliktumgangsstrategie: Diese Deutung schließt an die angedeutete Nutzung von Medien als Bewältigungsstrategie an. Konkret zu bewältigen ist hierbei ein Konflikt. Je „personalisierter“ das Medium ist, desto eher bietet es „soziale Rückzugsmöglichkeiten“ bzw. Möglichkeiten des Entziehens aus als problematisch erlebten Konfliktsituationen. Insofern steht in diesem Fall ein anderes Konfliktthema im Zentrum (was nicht bedeutet, dass es nicht zu einer Verlagerung auf das Thema „Mediennutzung“ kommen kann). In diesem Sinne tritt die Thematisierung der „exzessiven“ Nutzung dann aber auch erst in einer späteren Konfliktphase auf. Der Streitfall ist der Umgang mit Konflikten. Zu bearbeiten ist also weniger das Thema als vielmehr das Wie, welches sich auf den Umgang mit Konflikten bezieht und warum es zu einem Entzug als eine zentrale Umgangsstrategie kommt. Mediennutzung als Konfliktthema: Von der Konfliktumgangsstrategie zu unterscheiden ist der Streit um Mediennutzung, wenn sie selbst das Thema darstellt. Legt man, wie im ersten Falle auch, ein Phasenmodell des Konfliktes zugrunde, dann lässt sich in diesem Falle die Thematisierung der Nutzung in der „take-off-Phase“ des Konfliktes lokalisieren. Als besonders zentral lässt sich hierbei das „personalisierte Medium“ Computer in seiner Konkurrenz um Aufmerksamkeit für andere Personen bzw. Aufgaben sehen. In diesem Sinne stehen die von uns angedeuteten Normalitätskonstruktionen im Vordergrund des Konfliktes. Sie werden im Streit um Mediennutzung zum Thema. Es wird im Folgenden nicht darum gehen, eine beider Möglichkeiten als die primäre Variante ins Zentrum zu stellen. Vielmehr lässt sich davon ausgehen, dass zwischen Personen bzw. in Gruppen aufgrund der Vielfältigkeit von Themen auch vielfältige Konflikte existieren. Angenommen werden kann aber auch, dass bestimmte Konfliktthemen eine gewisse Dominanz entwickeln. Diese Entwicklung ist allerdings nicht notwendig.1 Zuerst gilt es zu klären, was unter einem „sozialen Konflikt“ zu verstehen ist, um anschließend familiäre Konflikte in den Blick zu nehmen. Mit dem bisher Gesagten setzen wir voraus, dass „soziale Konflikte“ als Kommunikationen zu verstehen sind (vgl. Messmer 2003). Sie sind eine bestimmte Form der Kommunikation, die über Themen strukturiert wird (vgl. Markowitz 1979). Themen stellen den Kern der Situationsdefinition und der darum gruppierten Relevanzen dar. Allgemeiner: sie fokussieren die Situation auf einen zentralen Kern, von dem aus sich Relevanzen der Umwelt strukturieren lassen (vgl. Schütz 1982). Dies gilt auch für Konflikte. Insofern lassen sie sich als funktional äquivalent zur Strukturierungsfunktion von Themen verstehen. In Konflikten scheint jedoch jedes Thema möglich, so dass hier von einer Stabilisierung der Situation über Themen hinweg gesprochen werden kann. Konflikte „befreien von Erwartungsunsicherheit dadurch, dass man im Konflikt den Partner als Gegner unterstellt und diese Annahme als ein sicheres Prinzip von Erwartungsbildung benutzt“ (Luhmann 1999: 97). Mit dieser Perspektive gerät nur eine spezifische Konfliktform in den Blick, in der die Gegnerschaft als zentrales Kriterium der 1
Eine solche Deutung bietet sich mit Blick auf die Hilfesuche an. Erst eine Dominanz des Konfliktes über Mediennutzung eröffnet die Möglichkeit diese auch gegenüber familienexternen Personen als problematisch zu beschreiben. Sie ist damit auch Anlass für die Suche nach Hilfe bei Beratungsstellen oder im Internet. Nimmt man das oben angedeutete, personal zugerechnete Problemmuster zur Hand, wird die personale Attribution als Effekt einer bestimmten Kommunikationsstruktur, wie sie in systemischen Ansätzen gedeutet wird (vgl. Schlippe/Schweitzer 2007), verdeckt.
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wechselseitigen Bezugnahme gesetzt wird. Scheint dies im Kontext einer Gesellschaftstheorie, also mit Blick auf rechtliche Konfliktregelungen und Arenen politischer Streitigkeiten angemessen, bedarf es für den „konkreten“, „interaktiven“ Konflikt eine erweiterte Perspektive (vgl. Messmer 2003). Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass sich der Konflikt nicht in der Interaktion, sondern als Interaktion ausdifferenziert (vgl. Kieserling 1999: 282). Der Konflikt kann selbst als System beschrieben werden, deren interne Dynamik zu seiner Entwicklung führt. Im Folgenden gilt es, einige Kennzeichen der Konfliktdynamik herauszustellen. Der angedeutete Konflikt, in dem eine Gegnerschaft zwischen Personen herrscht, lässt sich aus unserer Sicht als extreme Form von einer Widerspruchskommunikation beschreiben. In Anschluss an Niklas Luhmann (1987: 530) ist ein Konflikt „die operative Verselbständigung eines Widerspruchs durch Kommunikation. Ein Konflikt liegt also nur dann vor, wenn Erwartungen kommuniziert werden und das Nichtakzeptieren der Kommunikation rückkommuniziert wird“. Dabei ist nicht wichtig, was Thema der Kommunikationsofferte ist. Im Falle der von uns in den Vordergrund gestellten Mediennutzung könnte es sich um die Thematisierung eines Verhaltens als „exzessiv“ handeln, wenn „exzessive Mediennutzung“ Thema des Konfliktes ist, oder um die momentane Mediennutzung, wenn etwa ein anderes Thema im Vordergrund steht. So könnte die Offerte, die zum Widerspruch führt, im ersten Falle etwa lauten: „Spielst Du schon wieder am Computer“. Im zweiten Fall wäre eher folgende Form zu vermuten: „Kannst Du mir im Garten helfen?“ Wie Heinz Messmer (2003: 109ff) detailliert darlegt, ist der Widerspruch gegen diese Offerten zwar notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für den Konflikt. Zwar kann in beiden Fällen der Kommunikationszug mit einem Nein beantwortet werden, doch lässt sich in der einfachen Möglichkeit einer Ablehnung noch kein Konflikt sehen. Hierzu bedarf es der Stabilisierung der Widerspruchskommunikation. Diese resultiert erst aus einem wechselseitigen Beharren der Personen auf dem ihnen eigenen Standpunkt, der Offerte einerseits und der Ablehnung andererseits. „Konfliktsituationen bauen demnach auf eine dreigliedrige Kommunikationsfolge auf, die notwendig ist, um die Unvereinbarkeit zweier Perspektiven empirisch stichhaltig zu begründen. Mit dem anschließenden Widerspruch an vierter Zugposition konstituiert sich eine Opposition, für die beidseitige Unnachgiebigkeit zentrales Thema ist“ (ebd.: 127). Damit ist zumindest der take-off von Konflikten näher beschrieben. Ohne nun die unterschiedlichen Konfliktphasen und -formen detailliert zu beschreiben, stellen wir kurz ein Phasenmodell des „sozialen Konflikts“ dar. Dieses hat Heinz Messmer in Anschluss an konversationsanalytische Rekonstruktionen vorgelegt. Der „soziale Konflikt“ wird dabei nicht auf externe Ursachen zurückgeführt, sondern als ein Kommunikationsprozess beschrieben, in der sich eine Widerspruchskommunikation verselbständigt und verfestigt. Der Prozess vollzieht intern eine spezifische Selektivität seiner Relationierungen, die sich wechselseitig aufeinander beziehen und verstärken. „Er schafft ein Netzwerk von Verweisungen, das für Wiederverwendung verfügbar gehalten wird und den Beteiligten als Orientierung für zukünftige Mitteilungen dient; er gibt der Kommunikation ein spezifisches Thema und macht das System identifizierbar“ (ebd.: 88). Aus einer rekonstruktiven Perspektive interessiert damit, wie die Widerspruchskommunikation Selektivität produziert und damit sequenzielle Konkretisierungszugewinne erzeugt. Diese münden in Übergänge ein, die ein neues Emergenzniveau der Konfliktentwicklung darstellen. „Die
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Widerspruchskommunikation muss sich dabei als ein erkennbares, mithin dominantes Prinzip der Sinnselektion konsolidieren, das für alle Anschlusskommunikationen Orientierungswert hat“ (ebd.: 90). Im Prozess der Ausdifferenzierung sozialer Konflikte lässt sich ein Vorgang sehen, „der durch wechselseitige Reaktionen gültig gemachte Strukturen und Regeln etabliert“ (ebd.: 91). Zu unterscheiden sind vier Prozessstufen der Transformation, wobei hervorgehoben werden muss, dass eine Konflikttransformation kein Automatismus darstellt, vielmehr jeweils die Möglichkeit der Entdifferenzierung des Konfliktes besteht: die erste Stufe lässt sich in der Differenz von Konfliktvermeidung und Widerspruchskommunikation beschreiben (Konfliktepisode). Die zweite Stufe ist gekennzeichnet durch den Übergang von episodischer Widerspruchskommunikation zu stabilen Strukturen (Sachkonflikt). In der dritten Stufe entwickelt sich der Konflikt von der stabilen Konfliktstruktur zur Verantwortungsattribution (Beziehungskonflikt) und auf der vierten Stufe hin zur Eskalation (Machtkonflikt). Nimmt man diese Modell zur Beschreibung „sozialer Konflikte“, um familiäre Konflikte in den Blick zu nehmen, bedarf es erst einmal der Konkretisierung von Familien als Kommunikationssysteme, die unterschiedliche Aufgaben und Themen in ihrem Alltag zu bearbeiten haben.1 Mit Angela Keppler (1994) lassen sich Familien als kommunikative Vergemeinschaftungen sehen, deren „familiäres Band“ weniger in der gemeinsamen Weltsicht, als vielmehr in gemeinsamen Verfahren der Kommunikation besteht. „Nicht ein Konsens über moralische Grundsätze oder gemeinsame Ziele macht das Rückgrat familiären Lebens aus, sondern vielmehr in erster Linie ein Konsens des Verfahrens: ein Konsens über die Art der kommunikativen Behandlung der Themen und Ereignisse, die für die Beteiligten auf unterschiedliche Weise wichtig sind. Der Konsens, der eine Familie konstituiert, besteht aus erprobten Gesprächsverfahren, die überall dort etabliert sind, wo Handelnde in der gemeinsam verbrachten Zeit ihres Alltags über ein geteiltes kommunikatives Repertoire verfügen“ (ebd.: 10).
Rückbeziehend auf „Mediennutzung“ lassen sich Gemeinsamkeiten in den Verfahren auch auf Konfliktumgangsstrategien beziehen. Dabei ist davon auszugehen, dass Konflikte in Familien eine alltägliche Erscheinung sind. Wie diese gedeutet werden und wie mit ihnen umgegangen wird, ist eine wesentliche Bewältigungsaufgabe in Familien. Mit dem oben angedeuteten Konfliktphasenmodell lassen sich Umgangsstrategien bezüglich der Sach-, Beziehungs- und Machtkonflikte unterscheiden. Im Gegensatz zu dieser an Verfahren orientierten Deutung verweisen Knuth/Sabla/ Uhlendorff (2009) auf differente Bewältigungsthematiken in Familien. Dabei liegen die herausgestellten Thematiken quasi quer zu den Kommunikationsweisen. Im Kontext einer sozialpädagogischen Familienforschung (vgl. Uhlendorff u.a. 2006) stellt die familiäre Konfliktkultur demnach nur eine Dimension dar. Als zentrale Thematiken lassen sich Kindererziehung, die Abstimmung der Zeitstruktur, die Balancierung zwischen Eltern- und Eltern-Kind-System, die familiale Arbeitsteilung, die situative Formen der Zuwendung 1
Wir verstehen unter Familien im Folgenden eine aus einem „Eltern-Kind-System“ bestehende Gemeinschaft, in der es zentral um die Bewältigung von Alltag geht. In Anschluss an Knuth/Sabla/Uhlendorff (2009) lassen sich neben diesem zentralen System noch ein „Elternsystem“ und ein „Kindersystem“ unterscheiden. „Familiäre Konflikte in Familien stellen sich als Interaktionsprobleme innerhalb der Systeme und zwischen den Systemen dar“.
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(Fürsorgementalitäten) und die Auseinandersetzung mit den familialen Rollen bestimmen (vgl. Knuth/Sabla/Uhlendorff 2009: 185f).1 Problematiken ergeben sich, wenn es in Familien nicht gelingt, familiäre Leitbilder, Alltagserfahrungen und biografisch erworbene Referenzmodelle zu vermitteln. Die Autoren sprechen dann von einem belastenden „Modus der Differenz“, wenn Differenzen „in einer oder mehreren der sechs genannten thematischen Dimensionen als unüberwindlich, hartnäckig und beharrlich erlebt“ (ebd.: 187) werden. Aus dieser möglichen beharrlichen Differenz folgt jedoch nicht automatisch eine Trennung des Elternsystems. Insofern sind Inhalt und Umgangsstrategien zu unterscheiden. In Anschluss an die Differenzierung in inhalts- und beziehungsorientierte Konfliktthemen bei Watzlawick u.a. (1969) rekonstruieren Uwe Uhlendorff u.a. (2006: 81) einen empirisch gesättigten Merkmalsraum familiärer Konfliktkulturen, der aus vier Dimensionen besteht:
Leidenschaftliche-verbindende Konfliktkultur (Beziehung) Beziehungsorientiert-destruktive Konfliktkultur Sachbezogen-erfolgreiche Konfliktkultur Sachbezogen-scheiternde Konfliktkultur
Die Autoren heben diesbezüglich abschließend hervor, dass die Mehrzahl der Konflikte auf der Beziehungsebene ausgetragen und nicht bewältigt werden.2 „Die Konflikte werden oft grenzüberschreitend ausgetragen. Entweder wird Gewalt als Konfliktlösungsstrategie eingesetzt oder die Kinder werden unangemessen in die Konflikte einbezogen. Erfolgreicher verlaufen Konflikte, die vorwiegend auf der Sachebene angesiedelt sind“ (ebd.: 84). Mit Hilfe des Konfliktphasenmodells lassen sich hier weitere Differenzierungen einbauen. So deutet Gewalt als Lösungsstrategie auf ein Machtkonflikt hin. Gleichzeitig sind beim Konfliktmuster „sachbezogene-scheiternde Konflikte“ eher Elemente des Beziehungskonfliktes enthalten, der allerdings als ein unterdrückter bzw. vermiedener Machtkonflikt von der Interviewpartnerin gedeutet wird. Nimmt man die Ergebnisse am Beispiel „exzessive Mediennutzung“ von Jugendlichen vor dem bisher dargestellten Hintergrund in den Blick, lässt sich die Nutzung von Medien als familiärer Konflikt im Eltern-Kind-System lokalisieren. Anders als die Möglichkeiten der Trennung im Elternsystem, stehen Kindern nur wenige Möglichkeiten zur Verfügung, sich Konflikten im familiären Kontext radikal zu entziehen. Als „personalisiertes Medium“ bietet der Computer hier Möglichkeiten. Gemäß der von uns oben angedeuteten Unterscheidung von Mediennutzung als Konfliktumgangsstrategie und als Konfliktthema, wäre in diesem Falle von einer Umgangsstrategie zu sprechen. Wie jedoch dieser Entzug im familiären Kontext gedeutet wird, hängt ab von den „Familienkonzepten“ und den darin eingebundenen Erwartungen an die einzelnen Familienmitglieder (vgl. zum Familienkon1
2
Diese Dimensionierung lässt sich als Modifikation der Bestimmung familiärer Grundprobleme durch Robert D. Hess und Gerald Handel (1971) verstehen. Dies hatten das Verhältnis von Getrenntheit/Verbundenheit, die Fremd-/Selbstbilder, das zentrale Familienthema, die Setzung von Familiengrenzen und die Definition des Geschlechter- und Generationenverhältnis als zentrale Aufgaben bestimmt. Die von Uhlendorff u.a. (2006) untersuchten Familien befanden sich zum Zeitpunkt in einer sozialpädagogischen Beratung. Der empirische Zugang über sozialpädagogische Institutionen lässt bereits eine „Vorgeschichte“ vermuten, die sich als die Herausbildung einer spezifischen Problemthematik deuten lässt. Hierfür entscheidend ist die spezifische Institution selbst, die zur Beratung aufgesucht wird, wobei das letztliche Aufsuchen einer spezifischen Beratungssituation bereits Effekt eines familiären Deutungsprozesses darstellt.
Exzessive Mediennutzung – soziales Problem, Konflikt, Abhängigkeit
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zeptmodell Knuth/Sabla/Uhlendorff 2009). In der Differenz von Alltagserfahrung, subjektivem Leitbild und Referenzmodell verändern einzelne Familienmitglieder ihre Konzepte: „Es handelt sich um Bildungsprozesse, bei denen die Individuen ihre Selbst- und Fremddeutungsmuster hinterfragen, verändern und in Aushandlungsprozessen neu ausbalancieren und im Hinblick auf mehr oder weniger gemeinsame Familienkonzepte abstimmen. Dabei wird der Familienalltag, die biografische Familienerfahrung und Referenzmodell neu oder anders interpretiert und mögliche Leitbilder hinterfragt und neu ausgelotet“ (ebd.: 185).
In unseren bisherigen Deutungen sind die Familienkonzepte jene Normalitätsvorstellungen, die beim Problematisieren der „Exzessivität“ zentral werden. In diesem Sinne erscheint das Aushandeln als Konflikt, der im entscheidenden Maße von der familiären Konfliktkultur abhängig ist. Damit ist Mediennutzung nicht mehr nur im Sinne eines Effektes familiärer Konflikte zu deuten, sondern auch als Konfliktthema. Thematisch wird dies vor dem Hintergrund der Normalitätsvorstellungen in Familienkonzepten.
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Zusammenfassung und Ausblick
„Exzessive Mediennutzung“, so lässt sich abschließend festhalten, wird als Problem diskutiert. In einem ersten Schritt haben wir auf einige Strukturen dieser Diskussion hingewiesen. Die Rede über das Problem ist gekennzeichnet durch einen medizinischpsychologischen Blick, eine Verschränkung von wissenschaftlicher und lebensweltlicher Thematisierung, was auf die „Medienkompetenz“ der Betroffenen und die Spezifik des Mediums der Diskussion zurückgeführt werden kann, sowie eine zunehmende Ausrichtung auf ein „Jugendphänomen“. Als auffällig lässt sich hierbei herausstellen, dass insgesamt eine „Erwachsenenperspektive“ auf das Phänomen vorherrscht. Dies ist deshalb verständlich, da die Betroffenen entweder Personen sind, deren langfristige [!] „exzessive“ Nutzung zu körperlichen, psychischen oder sozialen Problematiken geführt hat, bzw. Angehörige und hier besonders besorgte Eltern sind. Ebenfalls auffällig ist die Heftigkeit mit der die Problematik auf Expertenebene thematisiert wird. Auf der einen Seite lässt sich der Versuch nachzeichnen, die Spieler mit ihren Motivationen, in ihren lebensweltlichen Kontexten etc. zu verstehen, auf der anderen Seite wird mit zunehmender Intensität auf die Problematik der Abhängigkeit verwiesen. In beiden Fällen wird auf die prozentual „geringe“ (neuere Studien sprechen von 1,4% jugendlicher Exzessivnutzer gesehen auf die Gesamtpopulation in Deutschland) bzw. die absolut „hohe“ Zahl an Betroffenen (bezogen auf mehrere Millionen Spieler alleine bei WOW) verwiesen. Das zugrunde liegende Kriterium für die „Exzessivität“ der Nutzung wird dabei im Allgemeinen in einer Angabe wöchentlicher Spieldauer festgemacht. Dabei wird jedoch, unserer Ansicht nach, nicht deutlich, ob die Nutzung bzw. das Spielen am Computer ein Problem darstellt. Weil wir davon ausgehen, dass nicht jede dauerhaft hohe Nutzung des Computers ein Problem darstellt. Aus diesem Grunde haben wir vorgeschlagen, die Problematik in die Bestimmung der „exzessiven Nutzung“ aufzunehmen und von der Angabe der Nutzungsdauer zu entkoppeln. Während die Nutzungsdauer eine einfachere quantifizierbare Bestimmung einer Population ermöglicht (und in diesem Sinne auch für eine politische Diskussion genutzt werden kann), erscheint uns eine
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Bestimmung mit Hilfe des Problembezugs für die Konzeption von Beratungsangeboten angemessener. „Exzessive“ ist eine Nutzung, wenn diese als problematisch thematisiert wird. Diese Thematisierung kann sowohl öffentlich als auch privat erfolgen. Wir haben in Anschluss an ein spezifisches Verständnis von „sozialen Problemen“ Strukturen der öffentlichen Diskussion herausgestellt. In Anschluss an Michael Schetsche (2008) haben wir soziale Probleme als solche bestimmt, die öffentlich diskutiert werden. Auffällig an dieser Diskussion ist die Orientierung an der Beziehung Spieler-Spiel, die selbst bei denjenigen Analysen vorherrscht, die das „soziale Umfeld“ in den Blick nehmen (vgl. u.a. Witting 2007). Darüber hinaus sind jedoch auch Aspekte relevant, die nicht personal vermittelt sind. Zu nennen sind hier neben jugendkulturellen Aspekten und situativen Aspekten wie CoAbhängigkeiten auch familiäre Kontexte, die wir konkret an einer unserer Ansicht nach weiterführenden Deutung „sozialer Konflikte“ im familiären Kontext expliziert haben. Abschließend lassen sich die unterschiedlichen Aspekte in einem Modell zusammenfassen, dass explizit über den eher eingeschränkten medizinisch-psychologischen Blick hinausgeht und die thematisierte Problematik der „Exzessivität“ der Mediennutzung aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen kann. Wir hatten diesbezüglich v.a. auf unterschiedliche Dynamiken der Entwicklung einer Abhängigkeit bzw. eines Konfliktes hingewiesen. In der folgenden Systematik sind die thematisierten Aspekte nochmal überblicksartig angedeutet.
Rahmenfaktoren Personenvermitteltete sozialeFaktoren SozialerKonflikt JugendkulturellePhänomene SituativeMomente
PersonaleFaktoren Persönlichkeitsfaktoren Copingstrategien Stresserleben
Spielimmanente Faktoren Mechanik Handlungsspielraum Offenheit FlowErleben
Abb 1.: Faktorielles Bedingungsgefüge zur Herausbildung exzessiver Nutzung Es ist davon auszugehen, dass sich unterschiedliche Faktoren verschränken, wenn es zur Problematik „exzessiver Mediennutzung“ kommt bzw. diese thematisiert wird. Besonders
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in Beratungskontexten ist sensibel auf die unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten und daraus resultierenden Dynamiken einzugehen. Hierzu sind weitere Forschungen notwendig. Dies bezieht sich v.a. auf den Bereich den wir als „private“ Thematisierung der Nutzung bezeichnet haben. Zentrale Frage ist hier, wie in familiären, privaten Kontexten mit Mediennutzung umgegangen wird und wie bzw. wann diese zum Problem wird. Dabei ist darauf zu achten, wie Kommunikation durch Befindlichkeiten geprägt wird, wie das Zulassen von Anerkennung gegenüber anderen von dem eigenen Selbstwertgefühl abhängt, wie Spieler sich mit virtuellen Protagonisten ientifizieren, und wie dies motiviert ist. Ebenfalls beachtet werden muss, welche Bewältigungsstrategien sich in Familien etabliert haben, und wie das Suchen nach alternativen Strategien zu fördern ist.
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Digitale Ungleichheit: Soziale Unterschiede in der Mediennutzung Nadia Kutscher 1
Digitale Spaltung und Digitale Ungleichheit
Soziale Arbeit als Feld der außerschulischen Bildungsarbeit und als Bearbeitung sozialer Ungleichheiten steht im Kontext der neuen Medien vor neuen und alten Herausforderungen. Sie bewegt sich dabei in einem Spannungsfeld von Problematisierungen einerseits und Technikoptimismus andererseits. Im Folgenden werden zunächst die Diskurse um Jugend als Mediengeneration skizzenhaft dargestellt und daran anschließend der Fokus auf die derzeitigen und künftigen Herausforderungen sozialpädagogischer Arbeit angesichts sozialer Ungleichheiten im Kontext der Mediennutzung gerichtet. Öffentliche Debatten zur Mediennutzung Jugendlicher bewegen sich seit langem innerhalb eines Kontinuums von Gefährdungsszenarien bis zur Überzeugung, dass Jugend heute über elaborierte technische Bedienfähigkeiten verfügt und die mediatisierte Generation schlechthin ist. Als Repräsentationen dieser Sichtweise haben Publikationen wie „Netkids“ von Don Tapscott (1998) oder „Born Digital“ von John Palfrey und Urs Gasser (2008) Utopien einer demokratischeren, neue Formen gesellschaftlicher Beteiligung entfaltenden Generation entwickelt (vgl. kritisch zu Tapscotts Entwurf und anderen Buckingham 2005). Andere Akteure sprechen von Jugendlichen als gefährdeten bzw. gefährdenden MediennutzerInnen (vgl. die kritische Analyse hierzu von Selwyn 2003). So warnt der Schulpädagoge Werner Glogauer unter anderem, neue Medien machten Kinder und Jugendliche ernsthaft krank (vgl. Glogauer 1999). Ähnlich positionieren sich u.a. Christian Pfeiffer und Manfred Spitzer, die vor „Medienverwahrlosung“ und den Gefahren des Vor-dem-Bildschirm-Sitzens warnen (vgl. Spitzer 2005, Pfeiffer 2003, Pfeiffer 2005, Pfeiffer/Kleinmann 2005)1. Vor dem Hintergrund dieser divergierenden Perspektiven auf die Mediennutzung Jugendlicher ist Soziale Arbeit mit verschiedenen pädagogischen Herausforderungen konfrontiert. Allerdings stellt sich neben diesen allgemeinen Aspekten auch im Zusammenhang der neuen Medien die Frage, inwiefern sie grundsätzlich – beispielsweise vor dem Hintergrund von Zugangs-, Nutzungs- und Beteiligungsweisen Jugendlicher im Kontext des Internet – Bildungsteilhabe fördernd sein können. Im Sinne der Betrachtung von Medien als „dominante Mittel sozialer Signifikation in modernen Gesellschaften“ (Hall 1982: 83), wird im Folgenden die (Re-)Konstitution von Macht- und Ungleichheitsstrukturen in Form von Nutzungs- und Beteiligungsformen auch im Kontext des Web 2.0 sowie der räumlichen Ausdifferenzierung im Internet analysiert.
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Die hier diskutierten „Mediengefahren“ sind allerdings vielfach mit vereinfachten Kausalitäten und moralischen Zuschreibungen verbunden, die den Großteil dieser Thesen zumindest fragwürdig erscheinen lassen (kritische Beiträge hierzu vgl. u.a. Aufenanger 2005, Vollbrecht 2006, Frank 2005).
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Nadia Kutscher
Die JIM-Studie 2008 zeigt, dass die Frage des Zugangs zu digitalen Medien weitgehend überwunden zu sein scheint. Zwar gibt es immer noch Unterschiede in der Ausstattung von Jugendlichen mit formal niedrigerem Bildungshintergrund und ökonomisch benachteiligten Haushalten (vgl. auch (N)Onliner Atlas 2008: 17), doch insgesamt nähert sich die Verfügbarkeit von Computern und Internet für Jugendliche in Deutschland der Hundertprozentgrenze (vgl. Feierabend/Rathgeb 2008: 8 und 11). Die digitale Kluft als Differenz im Zugang zum Internet scheint also überwunden. Allerdings zeigt sich als kontinuierliches und in problematischer Weise nachhaltigeres Phänomen eine Spaltung zweiter Ordnung1 als „Digitale Ungleichheit“ (vgl. Hargittai/DiMaggio 2001, Mossberger u.a. 2003), d.h. Ungleichheiten innerhalb der Mediennutzung, die auch auf der ungleichen Verfügbarkeit von Ressourcen außerhalb des Netzes wie ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital (vgl. Bourdieu 1997) beruhen, die jedoch Voraussetzungen für die Mediennutzung und Einflussfaktoren für Präferenzen, habituelle Fähigkeiten und strukturelle Möglichkeiten der NutzerInnen darstellen (vgl. u.a. Iske u.a. 2008, Otto u.a. 2007, Zillien 2006, Chen/Wellman 2005, Cleppien/Kutscher 2004, Livingstone u.a. 2004, Otto u.a. 2004, Groebel/Gehrke 2003, Mossberger u.a. 2003, Norris 2001)2.
2
Ungleichheiten in der Nutzung
Die hier genannten – sozial kontextualisierten – unterschiedlichen Nutzungsweisen Jugendlicher sind die Ausdrucksform der beschriebenen Ungleichheiten. Digitale Medien, insbesondere das Internet, stellen so genannte „Pull-Medien“ dar, das bedeutet, die faktische Funktion des Mediums ist abhängig von den Aufmerksamkeits- und Navigationsentscheidungen der NutzerInnen. Erst in der Nutzung selbst entsteht innerhalb der neuen Medien eine kulturelle und soziale Differenzierung entsprechend der Interessen und Motivationen der verschiedenen NutzerInnen (vgl. Lenz/Zillien 2005: 250; Iske u.a. 2007: 66f). Auf diese Weise entwickelt sich durch das Zusammenspiel zwischen NutzerInnenpräferenzen und medialem Arrangement eine Differenz durch Auswahlentscheidungen vor dem Hintergrund der eigenen Interessen, Fähigkeiten und Möglichkeiten sowie auf der Grundlage dessen, was den NutzerInnen als Angebot im Internet bekannt ist bzw. von ihnen wahrgenommen wird. Gleichzeitig bilden sich in diesem Zusammenhang habitualisierte Nutzungspraktiken heraus, die ein jeweils ungleiches realisiertes Nutzungsspektrum zur Folge haben. Diese vermeintlich subjektiven Nutzungspräferenzen lassen sich allerdings erst in Zusammenhang mit dem soziokulturellen Hintergrund der jugendlichen InternetnutzerInnen sinnvoll einordnen. Die materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen der NutzerInnen außerhalb des Internet – wie z.B. im lebensweltlichen Kontext erworbene Kompetenzen im Umgang mit verschiedenen Medien sowie Interessen- und Präferenzmuster, soziale Unterstützung bei der Mediennutzung, Peer-Strukturen und technische Ressourcen – sind ebenso relevant wie die Erfahrungen, die Jugendliche innerhalb des Internet als Feld machen. 1 2
DiMaggio und Hargittai (2001) sprechen von einem „Second Level Digital Divide“ Nicole Zillien (2006: 167ff) unterscheidet in Bezug auf digitale Ungleichheit vier Dimensionen: Technische Bedienkompetenzen, internetbezogenes Wissen zweiter Ordnung, Erfahrung im Umgang mit dem Internet und Computeraffinität des sozialen Umfeldes.
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Hierbei sind die Nutzungsanforderungen bestimmter Internetangebote, die inhaltliche Ausrichtung der Angebote und die sozialen Dynamiken innerhalb verschiedener Angebote relevant. Diese deuten auf strukturelle Aspekte hin, die über individuelle Medienkompetenz der NutzerInnen hinaus gehen (vgl. Iske u.a. 2007: 69; Klein 2008, Tillmann 2008). So zeigt sich unter anderem, dass Nutzungsweisen mit kulturellem Kapital zusammenhängen und spezifische Nutzungsweisen wiederum miteinander korrelieren (vgl. Kutscher 2009). Es bilden also die jeweils verfügbaren Ressourcen aber auch sozial kontextualisierte Anerkennungsstrukturen und lebensweltliche Relevanzen den Rahmen für das medienbezogene Handeln (vgl. Bittlingmayer/Bauer 2006: 215). Beispielsweise kann die Bedeutung seriöser Informationen sekundär sein1, wenn das Hauptziel in der Nutzung der Zeitvertreib ist, während bei einer Nutzung, die sich an bildungsbezogen-institutionell verwertbaren Inhalten und Formen orientiert, die Fokussierung auf gesellschaftlich „legitime“ Praxen in den Vordergrund rückt. Innerhalb eines lebensweltlichen Zusammenhangs können also Nutzungspräferenzen entsprechend dem jeweiligen sozialen Kontext und den damit verbundenen Alltagsrelevanzen als sinnhaft interpretiert werden. Das beobachtbare Handeln der Subjekte ist jedoch Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von Habitus, Feld und Raum (vgl. Bourdieu 1997). Dies wird u.a. daran deutlich, dass die Nutzungspraxen zwischen verschiedenen formalen Bildungsniveaus nicht völlig unterschiedlich, sondern Übergänge und Ausnahmen in Form eines Kontinuums beobachtbar sind. Empirische Daten zu Nutzungsweisen Jugendlicher geben hier vielfach Hinweise auf Ausdifferenzierungen im Medienhandeln. In Hinblick auf eine informationsbezogene Nutzung des Internet zeigen verschiedene Studien Unterschiede, je nach Bildungshintergrund der Jugendlichen, insbesondere dahingehend, dass Jugendliche mit formal niedrigem Bildungshintergrund das Internet zwar auch, aber vielfach seltener für zielgerichtete Recherche und Information einsetzen, als es beispielsweise GymnasiastInnen tun (vgl. Feierabend/Rathgeb 2007: 48; Iske u.a. 2007: 78). Diese Ergebnisse werden auch durch das Medienkonvergenz-Monitoring bestätigt (vgl. Schorb u.a. 2008: 16). Ursache dafür sind unterschiedliche Nutzungsmotive. Jugendliche mit formal niedrigem Bildungsgrad geben als Motive häufig „Zeit vertreiben“, „Spaß haben“ etc. an (vgl. Iske u.a. 2004b: 7). Sie bevorzugen eher unterhaltungsorientierte Angebote, wie z.B. Chats oder Online-Spiele und auch bei der Informationssuche überwiegen Themen aus dem Unterhaltungs- bzw. Fernsehbereich, wie z.B. Informationen zu Lieblingsserien, Lieblingsstars etc. (vgl. Otto u.a. 2004: 14 und 23). Ähnliche Ergebnisse zeigt eine Sonderauswertung der Daten aus der JIM-Studie 20072. Dabei gaben HauptschülerInnen ein höheres Interesse an regionaler Politik (21%, GymnasiastInnen: 19 %), Wirtschaft (23%, GymnasiastInnen: 18%), Mode (65%, GymnasiastInnen: 59%), Musikstars (62%, GymnasiastInnen: 51%), Filmstars (39%, GymnasiastInnen: 30%) und Computerspiele (37%, GymnasiastInnen: 25%) an. Die GymnasiastInnen bevorzugten dagegen eher bundespolitische Themen (19%, HauptschülerInnen: 12%), Nachrichten zu aktuellem Gesche1
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Dabei kann beispielsweise das Motiv Zeitvertreib unterschiedliche Ursachen haben: Die Erfahrung von Chancenlosigkeit bei der Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz stellt einen anderen Begründungszusammenhang dar als das Ziel, sich an einem langweiligen Tag einmal zwischendurch abzulenken. Diese Angaben beruhen auf in dieser Form unveröffentlichten Daten aus der JIM-Studie 2007. Sabine Feierabend vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest wird für die Zurverfügungstellung der Daten herzlich gedankt.
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hen in der Welt (71%, HauptschülerInnen: 53%) und Schule (62%, HauptschülerInnen: 49%). Die Ergebnisse des Medienkonvergenz-Monitoring verweisen darauf, dass Jugendliche mit einem niedrigen formalen Bildungshintergrund häufiger als Jugendliche mit formal hoher Bildung Medien nutzen, um sich mit ihren Musik, Spiel-, Film- und Fernsehpräferenzen zu beschäftigen (vgl. Schorb u.a. 2008: 49). Andere empirische Studien zeigen ebenfalls, dass Jugendliche mit formal höherem Bildungsgrad dagegen eine stärker informationsbezogene Internetnutzung praktizieren und dabei eher nach politischen Informationen, Nachrichten oder auch nach Informationen für Hausaufgaben suchen (vgl. Otto u.a. 2004: 23). Auch die Nutzung von Suchmaschinen zur gezielten Informationssuche zeigt eine deutliche Korrelation mit dem formalen Bildungshintergrund (vgl. Iske u.a. 2007: 78). Dies legt die Interpretation nahe, dass GymnasiastInnen aufgrund ihrer habituellen Orientierung auf der Basis einer anzunehmenden Nähe ihrer Herkunftsmilieus zur „legitimen Kultur“ beispielsweise eine gezielt qualifikationsorientierte Suche nach Informationen eher als zielführend für ihren Alltag einschätzen. Darüber hinaus mögen die Gründe für eine unterhaltungsorientierte Nutzung bei Jugendlichem mit formal niedrigerem Bildungshintergrund möglicherweise auch darin liegen, dass sie vielfach erfahren, dass ihre lebensweltlichen Relevanzen und Kompetenzen nicht anerkannt werden und ihre Teilhabechancen deutlich eingeschränkt sind. In diesem Zusammenhang können dann die Medien die Funktion haben, alternativ Entlastung zu verschaffen (vgl. Welling 2008). Wenn habituelle Praktiken und Lebensentwürfe gesellschaftlich abgewertet werden und Teilhabeperspektiven als prinzipiell benachteiligend erfahren werden, erscheint es konsequent, dass auch der Bereich der Medien zum Feld der Distinktion wird. Dies gilt ebenfalls für den Gebrauchswert von medialen Informationen (vgl. Iske u.a. 2004a: 17). Diese Ausdifferenzierungen sind allerdings – wie auch die Daten bei den Themenpräferenzen zeigen – nicht absolut. GymnasiastInnen spielen ebenfalls Spiele und chatten, so wie auch HauptschülerInnen nicht ausschließlich Spaß und Zeitvertreib suchen und auch zielgerichtete Internetsuche praktizieren. Allerdings sind insgesamt deutliche Divergenzen in der Tendenz festzustellen. Gründe für diese unterschiedlichen Orientierungen liegen allerdings – wie oben dargestellt – in sozialen Kontexten, strukturellen lebensweltlichen Erfahrungen und daraus resultierenden habituellen Prägungen der Jugendlichen. Auch die Daten des Medienkonvergenz-Reports (vgl. Schorb u.a. 2008) und des JFF (vgl. Wagner 2008) sprechen dafür, dass trotz unterschiedlicher Nutzung der Zugang zu gestaltenden Medienpraxen im Internet kein ausschließliches Privileg formal höher gebildeter NutzerInnen ist. Dennoch wird mit diesen Befunden deutlich, dass Internetaktivitäten Jugendlicher durch die Einbettung in lebensweltlich relevante Orientierungs- und Verwertungsmuster vorstrukturiert sind und sich dabei auch die Repräsentanz verschiedener Gruppen im Netz auf formaler und inhaltlicher Ebene ausdifferenziert.
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Ungleiche Beteiligung
Eine weitere Dimension und die Konsequenz unterschiedlicher Nutzungspräferenzen stellt die Frage der Beteiligung dar. Auch in diesem Feld zeigen sich ähnliche Ungleichheitsstrukturen. Gerade Jugendliche werden vielfach als eine durch Online-Votings, Befragungen, Beteiligungsaktionen etc. über das Netz aktivierbare Gruppe wahrgenommen. Dieser Wahrnehmung liegt jedoch die Annahme zugrunde, dass die Beteiligungsweisen, die bei den meisten Angeboten vorausgesetzt werden, denjenigen vorgeblicher „Durchschnittsjugendlicher“ entsprechen. Dagegen ist aus der Partizipationsforschung und auch aus vorliegenden Studien zu Beteiligung im Netz (vgl. Klein 2008; auch Klein in diesem Band) hinreichend bekannt, dass sich an ‚für alle offenen Partizipationsmöglichkeiten‘ vor allem ein bestimmter Teil der Jugendlichen beteiligt, nämlich diejenigen, die innerhalb und außerhalb des Netzes eher nicht zu den Benachteiligten zu zählen sind. In diesem Zusammenhang wäre zu reflektieren, inwiefern die angebotenen Orte, Formen und Themen tatsächlich so voraussetzungslos sind, wie sie zunächst scheinen. Darüber hinaus finden viele Beteiligungsaktionen zu Themen statt, die in der Regel nicht alle Jugendlichen, sondern zumeist eher ressourcenprivilegierte Zielgruppen betreffen. Auch hier kann von einem sogenannten «cultural capital bias» (vgl. Livingstone/Sawchuk 2003: 47) gesprochen werden. So erfolgen beispielsweise bei Beteiligungsaktionen, die Jugendliche zu zivilgesellschaftlichem Engagement und zur diskursiven Auseinandersetzung mit dem Thema Demokratie aufrufen, überwiegend ‚bildungsbürgerliche‘ Problemthematisierungen, die mit den Alltagsproblemen und -relevanzen sozial benachteiligter Jugendlicher wenig zu tun haben (vgl. Bittlingmayer/Hurrelmann 2005). Alexandra Klein hat gezeigt, dass die Beteiligung Jugendlicher innerhalb virtueller Arrangements, d.h. die „Verfügbarkeit strategischer Fertigkeiten, die es den NutzerInnen erlauben, ihre eigenen Interessen innerhalb der entsprechenden virtuellen Felder zu verwirklichen […] an soziale Bedingungen geknüpft [ist], die sich zum einen aus ihrer Kapitalienausstattung und zum anderen aus der Verfasstheit des jeweiligen Arrangements – des jeweiligen «sozialen Feldes» – ergeben, die auf die Verwertbarkeit der verschiedenen Kapitalien und Fertigkeiten verweisen“ (Klein 2008: 516). Ihre Studie verweist wie verschiedene andere auch darauf, dass durch kommunikative Prozesse Ausdifferenzierung und Schließung und gleichzeitig die Formierung hegemonialer Strukturen im virtuellen Raum stattfinden (vgl. Norris 2001, Stegbauer/Rausch 2001, Tillmann 2008). Das vielfach euphorisch als Verkörperung der technischen Demokratisierung gefeierte Web 2.0 bedarf in diesem Kontext ebenfalls weitergehender Analysen. Bernd Schorb u.a. zeigen in ihren Daten, dass Jugendliche mit formal niedrigem Bildungshintergrund vor allem an Web 2.0 Aktivitäten beteiligt sind, die sich auf die Bereiche Musik, Foto-Uploads und Videos beziehen (vgl. Schorb u.a. 2008, Kießling 2008: 21; auch Schorb/Hartung in diesem Band). Dies bestätigen auch die Befunde der JFF-Studie sowie der JIM-Studie 2008 (vgl. Eggert u.a. 2008: 152 und 167; Brüggen/Wagner 2008: 229; Wagner 2008: 215; Feierabend/Rathgeb 2008: 48). Die von sozial benachteiligten Jugendlichen hierbei realisierte präsentative Nutzung, beispielsweise in Form von Foto-Uploads, unterscheidet sich jedoch im Hinblick auf die Realisierung von Teilhabe deutlich von einer aktiv-gestaltenden Mitgliedschaft in Communities, die Interessen organisier- und durchsetzbar macht, oder bei-
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spielsweise von einer mit materiellem Einsatz und Software-Kenntnissen verbundenen Beteiligung in der virtuellen Welt von „Second Life“. Es kann also auch bezüglich des Web 2.0 eine soziale Stratifizierung in Form von kommunikativen Prozessen und ungleichen Teilhabechancen beobachtet werden.
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Räume als Strukturen der digitalen Ungleichheit
Die dargestellten unterschiedlichen Nutzungsweisen und ungleichen Teilhabeformen sowie die damit verbundene ausdifferenzierte Verortung im Internet, legen die Interpretation einer Ausdifferenzierung von Räumen innerhalb des Virtuellen nahe. Das heißt, InternetnutzerInnen bewegen sich mit unterschiedlichen Motiven, unter unterschiedlichen Voraussetzungen und verorten sich in verschiedenen sozialen Netzwerken im virtuellen Raum (vgl. Kutscher 2009). Dies kann zunächst in praktischer Hinsicht anhand des Erfordernisses einer EMail-Adresse gezeigt werden, die mittlerweile für die Registrierung an und die Nutzung von Internetangeboten, die vielfach eine E-Mail-Adresse und -nutzung voraussetzen unerläßlich ist (z.B. Newsletter, Messenger-Dienste oder Communities). So zeigt die Erhebung des JFF, dass unter bildungsbenachteiligten Jugendlichen 23 Prozent über keine eigene EMailadresse verfügen (vgl. Gebel 2008: 80). In der Folge bedeutet dies, dass sie entsprechende Dienste zumindest nicht unabhängig nutzen können und aus solchen „Räumen“ exkludiert sind. Darüber hinaus spielen in der Nutzung virtueller Kommunikationsangebote, in die eine Vielzahl von TeilnehmerInnen involviert sind, symbolische Repräsentationen von Zugehörigkeit und Identitätsverbalisierungen eine bedeutende Rolle (vgl. Klein 2008; Tillmann 2008). Diese Formen der kommunikativen Repräsentation von Gruppenzugehörigkeit lassen sich auch als Formen der Distinktion begreifen. Dies wird beispielsweise dadurch deutlich, dass der soziale Status oder die soziale oder ethnische Herkunft benannt oder durch die gezielte Wahl von Chaträumen zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Schäfer/Lojewski 2007: 121). Verschiedene AutorInnen verweisen auf weitere Distinktionsformen im Rahmen der Online-Kommunikation, die sich sowohl auf inhaltlicher Ebene als auch durch kommunikative Formen vollziehen (vgl. Gebhardt 2001: 9; Henke u.a. 2008: 474). Alexandra Klein hat dies beispielhaft an einem Beratungsforum verdeutlicht, in dem sich Themen von HauptschülerInnen innerhalb einer primär durch RealschülerInnen und GymnasiastInnen dominierten NutzerInnenschaft nicht etablieren konnten (vgl. Klein 2005: 15f). Soziale Grenzüberschreitungen finden insgesamt auch im Internet kaum statt und somit stellen virtuelle Kommunikationsräume vielfach „exklusive Gemeinschaften“ dar (vgl. Schönberger 2000: 35ff; Klein 2008: 145ff; Tillmann 2008). Adressiert also ein Internetangebot durch seine Inhalte, die darin verfügbaren medialen Formen oder die soziale Zusammensetzung implizit oder explizit eine spezifische NutzerInnenschaft, so kann dies dazu führen, dass das Angebot faktisch nicht mehr für alle offen ist und ein „Voice Divide“ (Klein 2004) entsteht. In der Konsequenz führt die Erfahrung, mit den eigenen Interessen nicht gehört zu werden, dazu, dass bestimmte NutzerInnengruppen Internetseiten dominieren und andere von diesen Seiten abwandern bzw. sich dort nicht als NutzerInnengruppe etablieren. Auf diese Weise findet eine Homogenisierung von Räumen im Netz statt. Somit
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sind es informelle Prozesse und Praxen, die Räumlichkeit strukturieren, d.h. auch in digitalen Medien bedingen soziale Strukturen Handlungen und Handlungen aktualisieren soziale Strukturen (vgl. Löw 2001, auch Deinet in diesem Band). In diesem Zusammenhang haben mediale, inhaltliche und personale Passungsverhältnisse (vgl. Klein 2004) für das Zusammenspiel zwischen Nutzung und Angebot hohe Bedeutung, d.h. innerhalb dieser drei Dimensionen entscheidet sich die Frage, inwiefern das jeweilige Internetangebot einen nutzbaren Raum darstellt. Wenn nun ein Internetangebot eine bestimmte Nutzungsweise oder bestimmte Inhalte vornehmlich bedient und ermöglicht, so werden implizit diejenigen exkludiert, die andere Nutzungsweisen oder Inhalte bevorzugen bzw. alltagskontext- oder ressourcenbedingt andere Nutzungsgewohnheiten haben. Somit wird deutlich, dass Verortungen von spezifischen NutzerInnengruppen innerhalb digitaler Medien kein Resultat zufälliger individueller Präferenzen sind, sondern das Ergebnis komplexer ressourcenabhängiger relativer Positionierungen im sozialen Raum, die gleichzeitig im virtuellen Raum so etwas wie Orte konstitutieren, die mit Bourdieu als Felder oder mit Harvey und Lefebvre (vgl. Macher 2007) als relativer und relationaler Raum bzw. Raumrepräsentationen bezeichnet werden können. Daher stellen auch Internetseiten Felder dar, innerhalb deren Machtverhältnisse verhandelt werden. Je nach Habitus und Kapitalausstattung bestehen für die NutzerInnen ungleiche Mobilitätsoptionen. Innerhalb vieler Internetseiten, die Jugendliche quer durch alle Schichten erreichen wollen, zeigt sich, dass sich dort jedoch häufig vor allem formal höher gebildete Jugendliche wieder finden und andere Gruppen sich darin nicht (mehr) etablieren (können) (vgl. Kutscher 2009).
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Fazit
Für Soziale Arbeit stellt sich somit vor dem Hintergrund der beschriebenen Phänomene und Ursachen digitaler Ungleichheit die Frage, inwiefern und auf welche Weise pädagogisch, aber auch darüber hinausgehend das Teilhabeproblem im Kontext der Mediennutzung bearbeitet werden kann. Die Grundlegung der Ungleichheiten im Kontext der Herkunft und der lebensweltlichen Zusammenhänge verweist auf die Notwendigkeit eines breiten Zugangs, der sowohl individuelle Fähigkeiten und Verwirklichungschancen (vgl. Sen 1999, Sen 2000, Nussbaum 1999) in den Blick nimmt, wie auch die damit verbundenen strukturellen Möglichkeiten, die erstere wiederum beeinflussen. Für eine Soziale Arbeit im medienpädagogischen Kontext gilt es, bisherige Problematiken wie z.B. die eingeschränkte Lebensweltorientierung und unzureichende Perspektivenübernahme, die Diskrepanz zwischen pädagogischen Erwartungen und Handlungspraxen der AdressatInnen, Produkt- vs. Prozessorientierung, einen restringierenden Umgang mit Freiheit und Kontrolle in der medienpädagogischen Praxis, etc. in der medienbezogenen Arbeit zu überwinden (vgl. Kutscher u.a. 2009). Vielmehr geht es darum, die Anerkennung der vorhandenen Praxen als entscheidende Ausgangsbasis wahrzunehmen, mehr spielerische und präsentative Zugänge zu eröffnen sowie personelle und strukturelle Kontinuität zu realisieren und entsprechende pädagogische Arrangements zu realisieren (vgl. Kutscher u.a. 2009, Brüggemann/Welling 2006, Welling 2008, Niesyto 2000, Niesyto 2007, Brüg-
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gen/Wagner 2008). Sofern also die Ausgangsbedingungen, Möglichkeiten, Interessen und Notwendigkeiten der AdressatInnen und ihre Anerkennung im Mittelpunkt des medienpädagogischen Handelns in der Sozialen Arbeit stehen, besteht die Option einer faktischen Eröffnung von Teilhabechancen, auch im Kontext der Nutzung neuer Medien. Dafür ist allerdings auch die Reflexion der eigenen habituellen Prägungen der PädagogInnen erforderlich um nicht Handlungsweisen zu realisieren, die wiederum implizit Ungleichheit reproduzieren. Eine Soziale Arbeit, die den medialen Alltag ihrer AdressatInnen einbezieht und dabei die Frage sozialer Ungleichheit ausdrücklich mit fokussiert, kann so Benachteiligung überwinden und Teilhabe in medialen Zusammenhängen ermöglichen.
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Bin ich schon drin oder was? Partizipation und Internet Alexandra Klein 1
Einleitung
Rund zehn Jahre ist es mittlerweile her, dass der Internetbotschafter Boris Becker für AOL ausgerufen hat, wie einfach es sei „drin“ zu sein, sprich am Internet und seinen vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten zu partizipieren. Wurde das Internet in diesen Jahren vor allem noch von einem kleinen, akademisch gebildeten Personenkreis genutzt, steht dieser Werbespot für eine Zeit der massiven Verbreitung der neuen Technologien in der Bevölkerung um die Jahrtausendwende. 1998 waren weniger als sieben Millionen Deutsche online, zwei Jahre später mehr als 18 Millionen. Für 2009 weist die ARD/ZDF-Online-Studie mehr als 43 Millionen Internetnutzer/innen aus (vgl. van Eimeren/Frees 2009). Obgleich es noch immer Ungleichheiten im Zugang zum Internet gibt, wird das Internet zunehmend auch von denjenigen genutzt, die als „internetferne Bevölkerungsgruppen“ gelten. Das Internet hat sich als gesellschaftliches „Muss“ etabliert. Die Frage nach der Partizipation an diesem neuen Medium ist jedoch durch die Auflistung derer, die „drin“ und jenen, die „draußen“ sind nur unzureichend zu beantworten. Dies ist auch deshalb der Fall, da sich das Internet mehr als andere Medien gerade durch eine immense Vielfalt und Heterogenität der Nutzungsoptionen auszeichnet. Das Internet bietet nicht nur unzählige Möglichkeiten zur Information in unterschiedlichsten Formen, sondern ebenso vielfältige Möglichkeiten zur Unterhaltung, zur Kommunikation und zum Austausch. Der formale Zugang zum Internet – „drin“ sein – verweist nur auf eine unabdingbare Voraussetzung virtueller Partizipation. Die Frage des effektiven Zugangs, also die Frage danach, was diejenigen, die das Internet nutzen, dort machen, an welchen virtuellen Angeboten und Ressourcen sie partizipieren, ist damit nicht zu beantworten (vgl. Wilson 2000). Die Thematisierung von Partizipation und Internet verweist dementsprechend auf eine doppelte Perspektive: Zum einen bezieht sich die Frage nach Partizipation auf die prinzipiellen und realisierbaren Möglichkeiten des Zugangs zu internetbasierten Angeboten und zum anderen auf die Bedingungen der Möglichkeiten, sich solche Angebote anzueignen und zu gestalten. Diese Thematisierungsweise von Partizipation lässt sich darüber hinaus auch auf Angebote Sozialer Arbeit im Internet übertragen. Mit Blick auf Soziale Dienste kann man ebenfalls generell formulieren, dass sich Partizipation zum einen auf die prinzipiellen und realisierbaren Möglichkeiten des Zugangs zu diesen bezieht und zum anderen auf die Bedingungen der Möglichkeiten, sich solche Dienste anzueignen und zu gestalten (vgl. Schnurr 2001). Ausgehend von diesem Verständnis von Partizipation wird in dem Beitrag zunächst dargestellt, in welchem Ausmaß unterschiedliche soziale Gruppen an verschiedenen Angeboten und Nutzungsmöglichkeiten des Internet partizipieren. Darauf aufbauend werden am Beispiel virtueller Communities differente Formen der Nutzung und Beteiligung herausgearbeitet. Schließlich wird diese Perspektive auf virtuelle Soziale Dienste übertragen und
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dabei argumentiert, dass auch internetbasierte Teilhabe trotz seiner medialen Verortung vorrangig ein soziales und kein technisches Projekt darstellt.
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Zugang, Nutzung und Beteiligung im Internet
Die ARD/ZDF-Onlinestudie zeigt, dass in bestimmten sozialen Gruppen der Anteil der Internetnutzer/innen bereits annähernd 100 Prozent beträgt. 98 % der 14- bis 19-Jährigen nutzen das Internet zumindest gelegentlich und auch in der Altersgruppe der 20- bis 29Jährigen sind es über 95%. Bei den 30- bis 39-Jährigen wird die 90 Prozent-Marke nur knapp verfehlt. Gleiches gilt für die Differenzierung nach Erwerbstätigkeit bzw. Ausbildungsstatus. In der Gruppe derer, die sich zurzeit in Ausbildung befinden, gehören 98 Prozent zu den zumindest gelegentlichen Internetnutzer/innen, in der Gruppe der Erwerbstätigen sind es 82%. In anderen Bevölkerungsgruppen ist dies keinesfalls in einem vergleichbaren Umfang der Fall. In der Gruppe der „Nicht(mehr)Berufstätigen“ verfügt gerade einmal ein Drittel über Internetzugang. Diese Unterschiede in der Teilhabe unterschiedlicher sozialer Gruppen verstärken sich, je differenzierter der Zugang betrachtet wird. Wird beispielsweise der heimische Zugang und die Art des Internetzugangs bzw. die Ausstattung der Computer als einen erweiterten Aspekt hinzugezogen, tritt die ungleiche Teilhabe noch deutlicher hervor: „Die Chance zu Hause über einen Internetzugang zu verfügen ist dabei für die statushöchsten Onliner fast viereinhalb mal so hoch wie für jene der niedrigsten der sieben Gesellschaftsschichten […]; die Chance auf eine gute bis hervorragende Internetausstattung ist […] etwa dreimal so hoch“ (Zillien 2006: 166). Gleichzeitig ist es jedoch nicht nur der Anteil der Internetnutzer/innen, der in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Auch auf der Ebene der Nutzung zeichnet sich eine entsprechende Entwicklung ab. Mittlerweile macht mehr als 70% der Internetnutzer/innen täglich von verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten und -angeboten des Internet Gebrauch. In der Altersgruppe der bis 29-Jährigen sind es sogar Dreiviertel der Nutzer/innen (vgl. van Eimeren/Frees 2009: 336). In allen Bevölkerungsteilen lässt sich nicht nur eine gestiegene Partizipation an dem Medium selbst, sondern auch eine Intensivierung der Nutzung feststellen. Doch wie auch auf der Ebene des Zugangs ergibt sich ein verändertes Bild, wenn die Nutzung differenzierter betrachtet wird. Unterschiede in der Nutzung des Internet verweisen in dem Maße auf ungleiche Teilhabe, wie sozial unterschiedliche Internetnutzer/innen im Rahmen ihrer Internetnutzung mit ungleichen Interaktions- und Machtmöglichkeiten ausgestattet sind. Dabei verweisen Interaktionsmöglichkeiten zum einen auf das Spektrum, die Quantität der genutzten Dienste (WWW, Email, Foren, Chat) und Internetangebote als auch zum anderen auf die Qualität der Nutzung: Wer nutzt welche virtuellen Arrangements wie intensiv? Wie nutzen unterschiedliche Nutzer/innen diese Arrangements? Mit wem interagieren unterschiedliche Nutzer/innen innerhalb der Nutzung? Wird mit Pierre Bourdieu (1990, Koller 2004) Macht als die Verfügungsmöglichkeiten über Ressourcen zur Durchsetzung eigener Bedürfnisse und Interessen definiert, lässt sich diesbezüglich in dem Maße von digitaler Ungleichheit bzw. ungleicher Teilhabe in virtuellen Arrangements sprechen, wie sozial heterogene Internetnutzer/innen über ein geringeres Ausmaß an Chancen
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verfügen, ihre Interessen und Bedürfnisse innerhalb der Nutzung zu realisieren (vgl. auch Kutscher in diesem Band). Die ARD/ZDF-Onlinestudie erweist sich mit Blick auf diese differenzierten Fragen nur eingeschränkt aufschlussreich, da sie sich bei der Analyse der Nutzungsweisen nahezu ausschließlich auf die Variable Alter beschränkt. Grundsätzlich zeigen diese Daten jedoch, dass sich innerhalb des möglichen Nutzungsspektrums in den letzten Jahren konstant populäre Anwendungen herausgebildet haben: Suchmaschinen nutzen, Emails versenden und empfangen, zielgerichtet Angebote suchen, im Internet surfen und Homebanking. Mehr als 80% der Internetnutzer/innen nutzen mindestens einmal wöchentlich Suchmaschinen und Emaildienste, knapp die Hälfte sucht ebenso häufig gezielt nach Informationen oder ‚surft‘ umher. Homebanking nutzt ein Drittel der Nutzer/innen regelmäßig. Insbesondere die jüngeren Nutzer/innen sind es, die auf ein besonders breites Spektrum an Diensten zugreifen. Dies ist nicht nur der Nutzung von Unterhaltungsangeboten wie Musik- und Videoangeboten oder Onlinespielen geschuldet, die bei jüngeren Internetnutzer/innen weiter verbreitet ist als bei älteren Internetnutzer/innen. Es sind vor allem auch die unterschiedlichen Möglichkeiten virtueller Kommunikation, die sich nicht auf den Austausch von Emails beschränken, die umso häufiger und intensiver genutzt werden, je jünger die Nutzer/innen sind (vgl. van Eimeren/Frees 2009: 341). Knapp 80% der 14- bis 19-Jährigen besuchen mindestens einmal wöchentlich Onlinecommunities, Gesprächsforen, Newsgroups oder Chats. In der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen gilt dies noch für etwa die Hälfte der Onliner/innen. Wird die online verbrachte Zeit jedoch nach der Nutzung verschiedener Anwendungen und Dienste aufgeteilt, zeigt sich, dass den virtuellen Kommunikations- und Austauschmöglichkeiten mittlerweile über alle Altersgruppen hinweg eine zentrale Bedeutung zukommt. Auf keine anderen Dienste verwenden Nutzer/innen regelmäßig so viel Internetzeit wie für Kommunikation, also das Schreiben von Emails, der Nutzung von Gesprächsforen, Chats und Onlinecommunities. Durchschnittlich knapp 40% der Internetzeit entfallen auf diese Nutzungsformen. Unterhaltungsangebote machen etwa 30% der Zeit aus, etwa ein Fünftel entfällt auf die Suche nach Informationen und die restliche Zeit auf ‚kommerzielle‘ Aktivitäten wie Online-Shopping, Onlinebanking oder Auktionen (vgl. ebd.: 340). Darüber hinaus gewinnt Kommunikation als „zentrale Säule des Onlinemediums“ (Busemann/Gscheidle 2009: 356) nicht zuletzt durch jene Entwicklungen an Bedeutung, die unter dem Begriff „Web 2.0“ thematisiert werden. Darunter fallen eine Vielzahl neuerer Dienste und Nutzungsoptionen, die sich durch vergleichsweise hohe Interaktivität und ein hohes Gestaltungspotential auf Seiten der Nutzer/innen auszeichnen. Wesentlich für all die unterschiedlichen Dienste – egal ob Blogs, Wikis, Foto-, Video- oder so genannte „Social Communities“ – ist, dass sie nicht ohne die aktive Beteiligung der Nutzer/innen, ohne „user generated content“ auskommen. Die Videoplattform YouTube ist nur so lange attraktiv, wie sich Nutzer/innen finden, die dort kontinuierlich neue Videos einstellen und damit die Plattform maßgeblich mitgestalten. Gleiches gilt auch für Wikipedia, jene Onlineenzyklopädie, bei der prinzipiell jede/r Nutzer/in Beiträge abrufen, aber auch eigene Beiträge einstellen kann. Die Nutzungsdaten zu Wikipedia zeigen jedoch auch, wie relevant die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Formen medialer Partizipation ist. Während 65% aller Internetnutzer/innen zumindest gelegentlich auf diese Informationsressource zugreifen
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und dort Artikel abrufen, beträgt der Anteil derer, die dort bereits eigene Artikel eingestellt vier Prozent (vgl. ebd.: 363). In der Gruppe der Jugendlichen ist diese Differenz zwischen ‚passiver‘ und ‚aktiver‘ Teilhabe sogar noch größer. Obgleich bei Wikipedia die Differenz zwischen den verschiedenen Partizipationsformen am größten ist, zeigen sich vergleichbare Diskrepanzen in nahezu sämtlichen Web 2.0 Anwendungen.1 Die Feststellung der ARD/ZDF-Online-Studie, wonach knapp die Hälfte der 14- bis 19-jährigen Internetnutzer/innen die Möglichkeit „interessant“ findet innerhalb dieser Angebote eigene Beiträge erstellen zu können, besitzt demnach nur begrenzte Aussagekraft. Ob das Interesse an der aktiven Mitgestaltung der Angebote eine hinreichende Bedingung für die Realisierung einer entsprechenden Beteiligungsweise darstellt, ist damit nicht beantwortet. Mittels empirischer Analysen zu virtuellen Kommunikationsforen können jedoch die auch diese Dynamiken zwischen unterschiedlichen Nutzungs- und Beteiligungsformen in virtuellen Arrangements erhellt werden und sich auch für die Analyse des ‚Mitmachnetzes‘ Web 2.0 weiterführend erweisen. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, da ungeachtet der neuen Möglichkeiten des Web 2.0, die sich vor allem auf die einfachere Einbindung multimedialer Anwendungen bezieht, die Bedeutung von „user-generated content“ für sämtliche Kommunikations- und Interaktionsplattformen im Internet gilt, also kein Chat und kein Forum ohne die Beiträge aktiver Nutzer/innen bestehen kann.
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Partizipation in virtuellen Communities
Im Vergleich mit realweltlichen Gemeinschaften wird in der Thematisierung virtueller Communities häufig geäußert, dass sie durch das weitgehende Fehlen askriptiver Merkmale soziale Egalisierungstendenzen begünstigen und dementsprechend über das Potential verfügen „to avoid stratification by focusing exclusively on common identities and interests” (Brint 2001: 15). Es sind also gerade virtuelle Communities, denen erhöhte Partizipationschancen für sozial heterogene Akteure und die Relativierung von sozialen Schließungsprozessen zugesprochen werden. Folgt man etwa den Analysen des Protagonisten der Netzwerkgesellschaft, Manuel Castells (2005), führt die Offenheit der technischen wie institutionell-organisatorischen Architektur des Internet dazu, dass es die Nutzer/innen selbst sind, die die Technologie ihren Anwendungs- und Wertvorstellungen anpassen und – in einer permanenten „nutzbringenden Rückkopplungsschleife“ – im Sinne einer „Gestaltung durch Nutzung“ hervorbringen. Dabei hätten sich zwei wesentliche Grundwerte etabliert: Der Wert der horizontalen, freien Kommunikation und der der „selbstgesteuerten Vernetzung“, definiert als die „Fähigkeit für jede und jeden, ihr eigenes Ziel im Netz zu finden und wenn es nicht gelingt, die eigenen Informationen ins Netz zu stellen und so die Bildung eines Netzwerks einzuleiten“ (ebd.: 38). Im Zusammenfallen von Konsumtion und Produktion scheinen so eine späte technische und soziale Realisierung der Brecht’schen Radiotheorie und damit die Grundlage für eine Demokratisierung des Wissens gelungen. 1
Ausschließlich in den so genannten Social Communities wie studivz, facebook, myspace etc. ist das Verhältnis zwischen passiver und aktiver Beteiligung nahezu ausgewogen. Eine Besonderheit, die nicht zuletzt darauf zurück zu führen sein mag, dass die Nutzung dieser „Social Communities“ das Anlegen eines eigenen Profils und damit das Einstellen eigener Inhalte und eine aktive Beteiligung voraussetzt.
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In empirischen Studien kann sich diese Perspektive auf virtuelle Gemeinschaften jedoch nicht bestätigen. Eine Vielzahl von Untersuchungen zeigt, dass auch in virtuellen Arrangements, in denen Kommunikation und Austausch im Zentrum stehen, Prozesse sozialer Schließung stattfinden (vgl. Höflich 2003, Schönberger 1999, Stegbauer/Rausch 2006; zum Überblick: Klein 2008). Während sich eine erste Demarkationslinie auf die Unterscheidung zwischen ‚drinnen’ und ‚draußen’, also Nutzung und Nicht-Nutzung virtueller Communities bezieht, vollziehen sich innerhalb dieser Arrangements weitere Grenzziehungsprozesse, die mit ungleichen Chancen zur Verwirklichung der eigenen Interessen und zur Gestaltung dieser sozialen Räume einhergehen und damit die technikdeterministischen „Entstrukturierungsfiktionen“ (Stegbauer 2001) grundlegend in Frage stellen. So hat etwa Sonja Livingstone (2005) in ihren Analysen zur Internetnutzung britischer Jugendlicher deutliche Zusammenhänge zwischen soziodemographischen Merkmalen und internetbasierten Formen der Beteiligung nachgezeichnet. Jugendliche, die hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft und ihrer Bildung eher privilegiert sind, verfügen nicht nur über eine längere Erfahrung mit dem Internet und eine größere Expertise, sondern nutzen auch ein breiteres Spektrum der Nutzungsoptionen. Hierzu gehören auch solche, die sich unmittelbar auf die aktive Beteiligung an und Interessenartikulation in virtuellen Arrangements beziehen. Das Ausmaß, in dem jugendliche Internetnutzer/innen von den „interaktiven Optionen“1 Gebrauch machen, wird maßgeblich durch den sozialen Status der Nutzer/innen beeinflusst. Diese Befunde decken sich weitgehend mit jenen Ergebnissen, die das Kompetenzzentrum informelle Bildung für deutsche Jugendliche vorgelegt hat (vgl. Iske u.a. 2007, Kutscher u.a. 2009). Es ist davon auszugehen, dass auch virtuelle Formen der Interessenverwirklichung und Interessenartikulation und die Castell’sche „Gestaltung durch Nutzung“ sich entlang der klassischen Kategorien sozialer Ungleichheit konstituieren. Es bilden sich auf dieser Basis durchgängig Zentrum-Peripherie-Muster heraus, die sich „vor allem durch Differenzen hinsichtlich der Aufmerksamkeit gegenüber Akteuren dieser Positionen und unterschiedlichen Kompetenzzuschreibungen auszeichnen“ (Stegbauer 2001: 279). Das Sozialgefüge virtueller Kommunikationsforen wird von einigen zentralen Akteuren in knapp bemessenen Positionen mit zahlreichen Kontakten dominiert. In sämtlichen von Stegbauer und Rausch (2006) analysierten Kommunikationsarrangements – Mailinglisten, Foren und Chats – konkretisiert sich die Zentrum-Peripherie-Struktur folgendermaßen: Die Mehrheit der aktiv schreibend Nutzer/innen verfasst nur einen einzigen Beitrag, nur eine sehr kleine Minderheit schreibt sehr viele Beiträge. Demgegenüber schreibt die deutliche Mehrheit aller Nutzer/innen der virtuellen Arrangements überhaupt keine eigenen Beiträge („Lurker“). Der Anteil derer, die zusammen mehr als die Hälfte aller Beiträge geschrieben haben und damit dem Zentrum zugerechnet werden können, beträgt durchschnittlich 6 Prozent. Der Anteil der Lurkenden liegt demgegenüber im Durchschnitt bei 70 Prozent (vgl. ebd.: 88). Das heißt, dass im Schnitt weniger als ein Drittel derer, die ein virtuelles Kommunikationsarrangement mehr oder weniger regelmäßig lesend verfolgen, dort überhaupt zu den schrei1
Als interactive Nutzungsoptionen klassifizierten sie folgende Praktiken: “send an email/SMS to a site, vote for something online, use message boards, send pictures/stories to a site, access others’ personal webpages, offer advice to others online, fill in an online form about yourself, sign a petition online” (Livingstone et al. 2005, 11).
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bend Aktiven gehört. Im Vergleich von Mehrfachmitgliedschaften, also der Nutzung mehrerer virtueller Kommunikationsarrangements durch ein und dieselben Nutzer/innen kommen Stegbauer und Rausch weiterhin zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit derer, die von ihnen in dem einen Kommunikationsarrangement als „Lurkende“ identifiziert wurden, in anderen virtuellen Arrangements durchaus als aktiv Schreibende partizipieren (vgl. Stegbauer/Rausch 2001: 59). Ob jemand in einem virtuellen Kommunikationsarrangement eine ‚aktive‘ oder ‚passive‘ Position besitzt, ist vor diesem Hintergrund nicht zuletzt von der sozialen Verfasstheit und Ausgestaltung des jeweiligen virtuellen Arrangement abhängig und weniger von übergreifenden individuellen Präferenzen im Sinne einer allgemeinen Zurückhaltung in virtuellen Kommunikationsarrangements oder dem Fehlen substanzieller Medienkompetenz. Mit Blick auf diese soziale Strukturierung virtueller Kommunikationsplattformen hat auch Klaus Schönberger (2000) aufgezeigt, dass sich soziale Schließungs- und Distinktionsprozesse dort sowohl auf der Ebene der Inhalte als auch auf der Ebene der kommunikativen Praxen identifizieren lassen. Als Zugangs- und Partizipationsvoraussetzung sind bloße inhaltliche Interessenkonvergenzen offenbar nicht ausreichend, sondern es Bedarf auch Konvergenzen in sozialer, ökonomischer, kultureller und weltanschaulicher Hinsicht. Die informellen Manifestationen solcher Konvergenzen lassen sich im Anschluss an die Arbeiten von Joachim R. Höflich (2003) als „prozedurale Regeln“ beschrieben. Nutzer/innen verständigen sich auf gemeinsame Nutzungsweisen, machen damit ihre Interaktionen vorhersehbar und ermöglichen damit schließlich die Teilhabe an der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft. Die „Gestaltung durch Nutzung“ ist demnach auch durch eine von den deutungsmächtigsten und zentralen Akteuren eingeforderte grundlegende Konvergenz mit sozial hervorgebrachten, informellen Ordnungsmustern beschränkt. Sie sind Ausdruck der Kräfteverhältnisse innerhalb virtueller Kommunikationsgemeinschaft und können beispielsweise zur Verwehrung des Zutritts oder zur Nicht-Beachtung von Akteuren mit nicht mehrheitsfähigen Interessen führen. So hat sich selbst bei virtuellen Selbsthilfeangeboten in empirischen Analysen gezeigt, dass Ratsuchende nur eine Antwort auf ihr Anliegen bekommen, wenn sie ihre Zugehörigkeit zur Gruppe und ihre Identifikation mit den verhandelten Problemen in ihrem Anliegen explizit machen. Anliegen, die dem nicht genügen, werden schlicht ignoriert (vgl. Galagher u.a. 1998, Klein 2008). Die Binnendifferenzierung in durchsetzungsfähige und schwächere Positionen, die Erzeugung von sozialem Druck, die prozessuale Generierung, Zurechtweisung und Ausgrenzung von Außenseiter/innen sind auf der Basis vorliegender empirischer Befunde als konstitutive Elemente virtueller Arrangements zu verstehen. Partizipation, verstanden als die Artikulation und Verwirklichung der eigenen Interessen, ist auch in virtuellen Arrangements für sozial heterogene Akteure unterschiedlich voraussetzungsvoll. Der gegenwärtige affirmative Diskurs um virtuelle Communities unterstellt universelle Teilhabemöglichkeiten unter der Ausblendung der hierzu erforderlichen Ressourcen sowie der strukturellen Begrenzung und ignoriert damit nicht zuletzt genau jene sozialstrukturelle Selektivitäten, wie sie auch aus realweltlichen nahräumlichen Gemeinschaften bekannt sind (vgl. Otto/Ziegler 2005).
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Interessenartikulation und Interessenverwirklichung in virtuellen Arrangements Sozialer Arbeit
Im Kontext Sozialer Arbeit besitzen diese Befunde insofern eine besondere Relevanz, da in den letzten Jahren eine immense Zahl professioneller Angebote Sozialer Arbeit den Weg ins Internet gefunden hat und diese konzeptionell mehr oder weniger explizit auf die vermeintlichen Potentiale und Vorzüge virtueller Communities rekurrieren. Beratungsangebote, die nun nicht mehr (ausschließlich) Hilfe und Unterstützung in niedergelassenen Beratungsstellen, sondern auch in virtuellen Arrangements anbieten, sind hierbei sicherlich die prominentesten Vertreterinnen (vgl. auch Gehrmann in diesem Band). Die Etablierung professioneller Beratungsangebote im Internet hat sich in den letzten Jahren rasant vollzogen. So haben etwa die beiden größten deutschsprachigen Onlineberatungsangebote für Jugendliche Mitte 2009 mehr als 50.000 registrierte Nutzer/innen. Diese Arrangements sozialer Dienstleistungen werden gerade mit Blick auf die erhöhten Partizipationschancen der Nutzer/innen als technisch induzierte Lösung vieler Probleme verhandelt, die die Professionen bei der Auseinandersetzung um an Interessen der Nutzer/innen ausgerichtete Angebote seit langem plagen: Formelle und informelle Zugangsbarrieren wie Öffnungszeiten, Abhängigkeit von der infrastrukturellen Versorgung, Scham vor der Offenbarung von Angesicht zu Angesicht in asymmetrischen Beziehungskonstellationen, die Verhaftung in einer unangemessenen, expertokratischen Sprache und weitere Zumutungen, die ehemals als die „geheime Moral der Beratung“ (Thiersch 1990) problematisiert wurden, scheinen schon alleine aufgrund der medialen Verortung der Angebote obsolet. Die Angebote seien strukturell in einem Medium angesiedelt, in dem Regeln weniger in einer starren und herrschaftlichen Form von den Beratenden gesetzt werden, sondern auf medialer Ebene als technisch induziert und damit als unhintergehbar und auf sozialer Ebene als idiosynkratisch und damit als durch die Nutzer/innen, deren Anforderungen und Nutzungsweisen selbst hervorgebracht erscheinen. Die dominante Perspektive lautet daher, dass „bei der virtuellen Beratung gesellschaftliche und soziale Hierarchien nivelliert werden [und] mittels der Anonymität, durch die sich ein Beratungsinteressent decken kann, […] Barrieren des realen Leben, wie Alter, Titel, Qualifikation oder Ansehen der Personen eine minimale Rolle [spielen]“ (Götz 2003: 36) und gleichzeitig „Einschränkungen durch […] Bedenken der Ratsuchenden nicht ernst genommen zu werden [wegfallen und] das Medium Internet das Medium der Jugendlichen [ist], in dem sie sich geben können wie sie sind oder wie sie sein möchten“ (Zimmermann 2004: 26). Problematisch ist dies bereits insofern, als diese Argumentation unmittelbar an die Entstrukturierungsfiktionen anschließt, ohne deren empirische Schwächen zu reflektieren. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass die entsprechenden Arrangements durch ihre Lokalisierung innerhalb des Internet so niedrigschwellig seien, dass die Nutzer/innen per se nahezu selbstverständlich in der Lage seien, sich die Angebote in ihrem Sinne anzueignen. Zugangsbarrieren, die nicht in einem substanziellen Fehlen jener Fähigkeiten liegen, die es den Ratsuchenden erlauben das Internet per se zu nutzen, sondern etwa in der sozialen Verfasstheit auch professioneller Arrangements virtueller Unterstützung zu finden wären, bleiben hierbei ausgeblendet.
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Mit Stefan Schnurr kann praktizierte Partizipation in Institutionen des Sozial- und Bildungssystems als Lern- und Übungsfeld begriffen werden, in dem Jugendliche „ihre subjektiven und kollektiven Ressourcen zur Entdeckung, Artikulation und Durchsetzung ihrer Interessen optimieren“ (Schnurr 2001: 1336). Das Ausmaß, in dem Nutzer/innen professioneller Arrangements im Internet ihre Interessen artikulieren und verwirklichen können, kann vor diesem Hintergrund für die weiterführende Professionalisierung virtueller Unterstützungsangebote einen analytisch tragfähigen Indikator für das Ausmaß niedrigschwelliger Beteiligungs- und Teilhabemöglichkeiten darstellen. Demgegenüber erweist sich der affirmative Rekurs auf die technikdeterministischen Entstrukturierungsfiktionen innerhalb virtueller Communities als empirisch nicht haltbar. In einer eigenen empirischen Studie zur Zugänglichkeit, Nutzung und Bewertung eines der größten deutschsprachigen Onlineberatungsangebote für Jugendliche (vgl. Klein 2008) hat sich gezeigt, dass gerade eine vergleichende Analyse zwischen „Lurkern“, also denjenigen Nutzer/innen, die das Angebot zwar besuchen und die Beiträge dort lesen, jedoch noch nie einen eigenen Beitrag geschrieben haben und „Postern“, also den ‚aktiven‘ Nutzer/innen, die ihre Anliegen in eigenen Beiträgen artikulieren, vielfältige soziale Zugangsund Beteiligungsbarrieren offenbart. Empirisch zeigt sich hierbei, dass die Gründe für eine nur lesende Nutzungsweise weder ausschließlich in dem fehlenden Interesse dieser Jugendlichen noch in ihrer fehlenden „Medienkompetenz“ liegen. Gerade einmal ein Fünftel der ‚passiven‘ Nutzer/innen gibt die Begründung „Lesen genügt“ als alleinigen Grund an. Insgesamt überwiegen soziale Gründe über technische Gründe oder Erklärungen, die in der persönlichen Internetkompetenz begründet liegen. Clusteranalytisch lassen sich auf der Basis der von den ausschließlich lesenden Nutzer/innen genannten Gründe sechs Gruppen identifizieren. Die bereits genannte Gruppe der „genügsamen Leser“, die „Beschämten“, die angeben, dass es ihnen zu peinlich sei, die „Skeptischen“, die nicht glauben, dass es ihnen was bringen würde, die Gruppe der „Ungroups“, die glauben, dass die anderen involvierten Akteure ihr Anliegen nicht interessiert, die „medial Unwissenden“, die nicht wissen, wie man Beiträge schreibt und die „Diffusen“ mit eher individuellen Gründen. Die „medial Unwissenden“ bilden mit einem Anteil von sieben Prozent der ‚passiven‘ Nutzer/innen die kleinste Gruppe. Offenbar werden bislang die technischen Möglichkeiten und individuellen Fähigkeiten als Bedingungen des effektiven Zugangs zu professionellen internetbasierten Diensten überschätzt, die soziale Figuration der Angebote jedoch unterschätzt. Hierfür spricht auch die Bewertung der Qualitätsdimensionen durch die verschiedenen NutzerInnengruppen. Vor allem den „Respekt“ in dem Angebot, das „Vertrauen in die involvierten Akteure“, das „antizipierte Verständnis für das eigene Anliegen“ sowie die „Verständlichkeit der Antworten“ und – selbstredend – die „antizipierte Problemoffenbarung“ bewerten die ‚passiven‘ Nutzer/innen deutlich schlechter. Letztlich ist es also in Analogie zu den traditionellen Zugangs- und Nutzungsbarrieren professioneller sozialer Dienste die qualitative Bewertung der sozialen Dimension eines Angebots, die Bewertung der Umgangsformen innerhalb desselben, das wahrgenommene Klima der Anerkennung bzw. Missachtung, die entscheidend dazu beiträgt, dass Nutzer/innen das Angebot nur eingeschränkt nutzen (können). Spezifische mediale Zugangs- und Nutzungsbarrieren wie die Notwendigkeit einer Registrierung und die Erfordernis spezifischer Medienkompetenzen im Umgang mit dem konkre-
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ten Angebot können darüber hinaus auch bei einer jugendlichen Zielgruppe als zusätzliche Barrieren fungieren.
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Gleichberechtigte Teilhabe als professionelles Projekt
In den vorangegangenen Ausführungen wurde argumentiert, dass durch technikdeterministischen Verkürzungen in der gegenwärtig dominierenden Perspektive auf virtuelle Formen der Partizipation, die Tendenz besteht, die technischen Möglichkeiten und individuellen Fähigkeiten als Bedingungen der Interessenartikulation und -verwirklichung deutlich zu überschätzen, während die soziale Strukturierung der Arrangements kaum Beachtung erfährt. Empirisch zeigt sich jedoch, dass sich virtuelle Kommunikationsarrangements im Allgemeinen ebenso wie professionelle Unterstützungsarrangements im Internet im Besonderen erst in der systematischen Verwobenheit von medialen und sozialen Aspekten konstituieren. Auch in professionellen Unterstützungsarrangements im Internet werden plurale, sozial selektierende Zugangsbarrieren bedeutsam, die die Teilhabechancen an und Verwirklichungsmöglichkeiten in diesen maßgeblich beschränken. Mit Nancy Fraser (2003) kann vor diesem Hintergrund festgestellt werden, dass die Bedingungen für „gleichberechtigte Teilhabe“ sozial heterogener Nutzer/innen auch in virtuellen Arrangements über den formalen Zugang zum Internet deutlich hinausgehen. Die effektive Zugänglichkeit und Nutzbarkeit dieser Arrangements und damit auch die Möglichkeit in diesen Angeboten die eigenen Interessen verwirklichen zu können, verweist unmittelbar auf die Relevanz jener sozialen Bedingungen, die der Realisierung einer „gleichberechtigten Teilhabe“ bzw. einer „partizipatorischen Parität“ entgegenstehen und soziale Ungleichheiten perpetuieren. Die analytische Perspektive von Fraser auf Teilhabe eröffnet für die Soziale Arbeit das Potential, politisch-ökonomische, lebensführungspraktische, symbolische und sozio-moralische Aspekte sozialer Ungleichheiten zusammen zu denken und systematisch nach der Beteiligung Sozialer Dienste und deren Intervention bei der Reproduktion bzw. Kompensation sozialer Ungleichheit zu fragen (vgl. Heite u.a. 2007, Landhäußer/Klein 2007 zum Überblick: Heite 2008). Obgleich bislang erst wenige Versuche unternommen wurden, die Überlegungen zur „partizipatorischen Parität“ für die Soziale Arbeit fruchtbar zu machen, zeigt eine entsprechende Einordnung, dass eine solche Verortung auch für den virtuellen Raum im Allgemeinen und die Teilhabe an professionellen Arrangements sozialer Unterstützung im Internet im Besonderen eine weiterführende Perspektive eröffnet, in der auch virtualisierte Formen ungleicher Teilhabe angemessen reflektierbar werden. Der Ansatz der gleichberechtigten Teilhabe bezeichnet eine Strategie, die sowohl gegen politisch-ökonomische wie kulturell-evaluative Formen sozialer Ungleichheit gerichtet ist. Grundlegend lässt sich mit diesem Modell nach der Bedeutung fragen, die institutionalisierten, kulturellen Wertmustern bei der Einordnung sozialer Akteure zukommt und nach den sozialen Regelungen und Maßnahmen, die es ermöglichen bzw. verhindern, dass sich Akteure als Ebenbürtige begegnen. Damit wird mit dem Modell die systematische Erweiterung der Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Nutzer/innen fokussiert. In dem Maße, wie diese analytische Perspektive danach fragt, in welchem Umfang, „Institutionen die soziale Interaktion nach Maßgabe kultureller Normen strukturieren, die partizipatori-
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sche Parität verhindern“ (Fraser 2003: 45), lässt sich für Soziale Arbeit die Frage stellen, „inwieweit sie selber Interaktionen im Erbringungsverhältnis und im Erbringungskontext nach kulturellen Normen strukturiert, die für die Nutzer_innen partizipatorische Parität ermöglichen oder verhindern“ (Heite 2008: 27). Grundlegend setzt „partizipatorische Parität“ Interventionen auf drei Ebenen voraus, die sich jedoch nicht gleichermaßen für die Soziale Arbeit als zugänglich und gestaltbar erweisen: Erstens sind die sozialen Verhältnisse so zu gestalten, dass Formen der ökonomischen Ungleichheit ausgeschlossen sind, „die Verelendung, Ausbeutung und schwerwiegende Ungleichheiten in Sachen Wohlstand, Einkommen und Freizeit institutionalisieren und dabei einigen Menschen die Mittel und Gelegenheiten vorenthalten, mit anderen als Ebenbürtige zu interagieren“ (Fraser 2003: 45). Zweitens ist sicherzustellen, dass der Status einer gleichberechtigten Interaktionsteilnehmer/in nicht durch institutionalisierte kulturelle Wertmuster, Normen und Regulationen in Frage gestellt wird, die bestimmte Personen oder Gruppen als defizient definieren und ihnen so den Status als gleichberechtigte/r Interaktionspartner/in verwehren. Neben diesen ökonomischen und kulturellen Aspekten geht es schließlich um Fragen von politischer Repräsentation und Einflussnahme, deren Verweigerung den dritten Aspekt von Missachtung darstellen. Diese Formen der Missachtung, die „partizipatorische Parität“ verhindern, sind innerhalb Sozialer Arbeit, in der Auseinandersetzung mit den Nutzungs- und Verwirklichungschancen von Nutzer/innen auch in virtuellen Angeboten zur Kontextualisierung zu reflektieren. Mit Blick auf die ökonomische Dimension zeigen empirische Analysen, dass Angehörige unterer sozialen Klassen noch immer über deutlich beschränkte Mittel, Gelegenheiten und Fertigkeiten verfügen, um in virtuellen Arrangements interagieren zu können und dort ihre Interessen zu verwirklichen. Hierbei ist beispielsweise die Einsicht einer Vielzahl nationaler und internationaler von Internetnutzungsstudien zu berücksichtigen, wonach die Ausstattung mit Computern, ebenso wie die Möglichkeit, in einem eigenen Zimmer das Internet selbstständig nutzen zu können, bei jugendlichen Nutzer/innen in einem deutlichen Zusammenhang mit der materiellen Situation der Familie steht (vgl. zum Überblick KIB 2007). In dem Maße, wie darüber hinaus der Bildungsabschluss von Jugendlichen maßgeblich durch die soziale Herkunft und materielle Situation ihrer Familie bestimmt wird, zeigen Studien weiterhin, dass Jugendliche aus unteren sozialen Klassen seltener Zugang zur Vielfalt der interaktiven Nutzungsoptionen des Internet haben als privilegiertere Nutzer/innen. Auch in sämtlichen virtuellen Unterstützungsarrangements im Internet sind sie deutlich unterrepräsentiert (vgl. Klein 2008). Damit kann festgehalten werden, dass zwischen dem Zugang zu professionellen Unterstützungsarrangements und dem sozialen Status der Nutzer/innen ein deutlicher Zusammenhang besteht und die These von einer heterogenen Zugänglichkeit virtueller Unterstützungsarrangements empirisch nicht aufrecht zu erhalten ist. „Gleichberechtigte Teilhabe“ von Angehörigen unterschiedlicher Klassen ist auch in professionellen Unterstützungsarrangements im Internet bereits auf der Ebene des formalen Zugangs zu diesen Arrangements nicht gegeben. Gleichzeitig finden die ungleichen Zugangs-, Nutzungs- und Gestaltungschancen durch sozial heterogene Akteure bislang nur unzureichende Berücksichtigung in der professionellen Auseinandersetzung mit diesen Arrangements. Empirisch zeigt sich dagegen, dass nicht nur auf der Ebene des formalen Zugangs, sondern auch auf der Ebene der effektiven
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Nutzbarkeit, Bewertung und Einflussnahme deutliche Unterschiede zwischen den Nutzer/innen bestehen. Somit kann mit Blick auf professionelle Arrangements sozialer Unterstützung im Internet argumentiert werden, dass in dem Maße wie die ungleichen Zugangs-, Nutzungs- und Verwirklichungschancen Jugendlicher innerhalb dieser Arrangements systematisch ausgeblendet werden, neuartige virtualisierte Form einer „geheimen Moral der Beratung“ evoziert wird. Indem in einer „fatale[n] Verkürzung und Vereinfachung von Wirklichkeit“ (Thiersch 1990: 143) eine „geheime Moral der Beratung“ den Widerspruch zwischen einer Rhetorik, die Freiwilligkeit, Niedrigschwelligkeit und Adressat/innenorientierung fokussiert und die vielfältigen und sozial ungleich wirkmächtigen Barrieren, die einer heterogenen Zugänglichkeit und Aktivierbarkeit virtueller Ressourcen entgegenstehen, ignoriert. In dieser systematischen Ausblendung lassen sich mit Fraser kulturelle Wertmuster erkennen, die innerhalb professioneller Dienste „partizipatorische Parität“ verhindern. In der bislang dominierenden Perspektive werden die Gründe des eingeschränkte formalen und effektiven Zugangs bestimmter Nutzer/innengruppen entweder in der Motivation oder in ihrer defizitären Medienkompetenz verortet. Gegenüber dieser empirisch nicht aufrecht zu haltenden Interpretation besitzt die Perspektive der „partizipatorischen Parität“ den Vorteil, dass sie mit „dem Fokus auf strukturelle Privilegierungen und Deprivilegierungen, Vorenthaltungen und Bevorzugungen, Diskriminierungen und Prozessen der Statuspositionierung […] individualisierend-moralisierende (Schuld)Zuschreibungen an die von Benachteiligungen Betroffenen“ vermeidet (Heite 2008: 207). Mit dieser Orientierung werden die ungleichen Zugangs-, Nutzungs- und Verwirklichungschancen sozial heterogener Nutzer/innen zur wesentlichen Bezugsgröße einer ungleichheitssensiblen und reflexiven Professionalität, die in dem Maße zu professionellen Interventionen und Transformationen aufgefordert ist, wie es nicht gegeben ist, dass auch machtschwächere Akteure innerhalb dieser Arrangements ihre Interessen verwirklichen können. Damit werden die ungleichen Verwirklichungschancen innerhalb professioneller Arrangements nicht unzulässigerweise in den Verantwortungsbereich der Nutzer/innen gelegt, sondern zur zentralen Herausforderung reflexiv agierender Professioneller. Anders formuliert liegt mit dieser Perspektive die zentrale professionelle Herausforderung in der Bearbeitung der Frage, in welcher Wechselwirkung die effektive Zugänglichkeit virtueller Arrangements mit der personalen Ausstattung unterschiedlicher Nutzer/innen mit jenen materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen stehen, die auch netzbasierte Unterstützungsräume erst als soziale Realitäten konstituieren. Die Etablierung niedrigschwelliger virtueller Arrangements, in denen sozial heterogene Nutzer/innen ihre Interessen artikulieren und verwirklichen können, bleibt demnach auch in Zeiten des Internet vorrangig kein technisches, sondern ein professionelles Projekt.
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Handy – Potenziale und Probleme des Jugendmediums Nr. 1 Kati Struckmeyer
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Medium jugendkulturellen Ausdrucks – das Handy
Kein anderes Medium ist unter Jugendlichen so weit verbreitet und wird so vielseitig genutzt wie das Handy (vgl. Mpfs 2008: 63). Ob als Spielgerät, Foto- oder Filmkamera, zum Lernen oder Musikhören, das Handy ist immer und überall dabei und einsatzbereit. In erster Linie ist das Handy für Jugendliche ein Individualmedium, das sie zur Kommunikation per Telefon und via SMS mit der Peer Group, der Partnerin bzw. dem Partner oder der Familie nutzen. Über die Kommunikationsfunktion hinaus organisieren sie aber auch ihren Alltag damit (z.B. als Wecker und Kalender) und genießen die Vorzüge des Handys als Spiel-, Unterhaltungs- und Produktionsgerät eigener Medieninhalte (z.B. Fotos oder kurzen Videoclips) sowie als jederzeit verfügbare Schnittstelle zum Internet. Aus dieser Multimedialität heraus ergeben sich vielseitige Potenziale und Möglichkeiten des pädagogischen Einsatzes, aber auch neue Aufgaben- und Problemstellungen. Denn das Handy kann auch eine Kostenfalle sein, die für die jugendlichen Nutzenden weitreichende Konsequenzen hat und fungiert unter Heranwachsenden gelegentlich auch als Tatwerkzeug bei Gewalthandlungen (vgl. ebd.: 66). Der Besitz und die Weitergabe gewalthaltiger oder pornografischer Inhalte mit dem Handy unter Jugendlichen führte 2006 auch zu einem grundsätzlichen Nutzungsverbot von Handys und sonstigen digitalen Speichermedien, wie z.B. mp3-Playern, an bayerischen Schulen.1 Damit wurde das Problem zwar aus der Schule ausgelagert, jedoch nicht gelöst, weshalb andere Bundesländer es der Eigenverantwortung der Schulen überlassen, über ein Handyverbot zu verfügen oder Alternativen zu finden. Die Kriminalisierung dieses von Jugendlichen so hoch geschätzten Mediums erschwert mit Sicherheit den Dialog zwischen PädagogInnen und Heranwachsenden. Nur wenn das Handy als Gegenstand und Ausdrucksmittel aktueller Jugendkultur wahr- und ernstgenommen wird, ist auch ein Benennen und Diskutieren seiner Potenziale und Probleme zwischen PädgogInnen und Jugendlichen möglich. Dann kann seine Eigenschaft als ständig verfügbares Medienproduktionsmittel auch kreativ genutzt werden, um Gefahren, die bestehen, aufzuzeigen und zu diskutieren und sie trotzdem mit Spaß zu umgehen oder zu vermeiden. Was machen nun Heranwachsende mit ihren Handys? Woher kommt die immense Faszination der kleinen Geräte, die so oft mit Verschuldung und Gewalthandlungen einhergeht? Im vorliegenden Artikel wird zuerst ein Blick auf Ergebnisse und Erkenntnisse der empirischen Jugendmedienforschung geworfen. Im abschließenden Teil wird der medienpädagogische Handyclipwettbewerb „Ohrenblick mal!“, den das JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis gemeinsam mit jugendonline sowie LizzyNet seit 2005 deutschlandweit durchführt, samt seiner flankierenden pädagogischen Maßnahmen vorgestellt. 1
Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000, zuletzt geändert am 26.7.2006, BayGVBI 2006, S. 397
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Das Handy – mehr als nur ein Telefon
Das Mobiltelefon hat mittlerweile einen festen Platz im Alltag der meisten Jugendlichen gefunden und ist für sie Statussymbol und wichtigstes Medium überhaupt. Als fast schon absolute Selbstverständlichkeit wird die Frage nach dem Besitz eines Handys mittlerweile von 95 Prozent der Jugendlichen mit ja beantwortet, während es noch vor zehn Jahren nur knapp zehn Prozent waren, die ein Handy besaßen (vgl. Mpfs 2008: 59). Was macht das Handy für Jugendliche so attraktiv, dass eine derartig rasante Entwicklung möglich wurde? Die häufigste und für Jugendliche wichtigste Form der Handynutzung sind der Empfang und das Schreiben von SMS sowie das Telefonieren. Aber direkt auf die Möglichkeiten der sprachlichen Kommunikation folgt die Aufnahme von Fotos und Videos mit dem Handy. Fast die Hälfte aller Jugendlichen nutzt diese kreativ-produktiven Funktionen mehrmals pro Woche (vgl. ebd.: 63). 2.1 Immer dabei – Jugendliche und ihre Handys Auch in der Organisation des Alltags junger Menschen hat das Handy mittlerweile eine dominante Rolle eingenommen. So dient es nicht nur dazu, sich morgens wecken zu lassen, um nicht zu spät zur Schule zu kommen, sondern trägt mit seiner Erinnerungsfunktion auch dazu bei, Geburtstage oder Einkaufserledigungen nicht zu vergessen und bietet über einen möglichen Internetzugang zudem eine schnelle Möglichkeit, sich auch kurz vor knapp noch über das Abendprogramm im Kino zu informieren. Darüber hinaus werden die meisten Verabredungen unter Jugendlichen mit dem Handy vereinbart, verschoben oder auch abgesagt – wer es da mal vergisst, ist schnell von den Aktivitäten der Peer Group abgeschnitten. Das Handy wird zudem durch seine Eigenschaft als ständiger Begleiter – meist nah am Körper – als Individualmedium wahrgenommen und gestaltet (Farbe, Klingelton, Verzierungen) wie bisher kein anderes Medium. „Zeig mir dein Handy, und ich sage dir, wer du bist“ – Fotos, Handybändchen, Klingeltöne, Aufkleber und abgespeicherte Lieblingsfernsehsendungen machen das Handy zum Spiegel seines Besitzers bzw. seiner Besitzerin nach außen, mit der Botschaft zu zeigen, wer man ist, wofür man sich interessiert und was einem wichtig ist – oder auch nicht. Im Kontext der Identitätsbildung Jugendlicher spielt das Handy somit eine bedeutende Rolle bei der Profilierung und Selbstdarstellung in der Peer Group, in der Familie und gegenüber dem Partner bzw. der Partnerin und beeinflusst dadurch auch die Beziehungen und Rollenverteilungen untereinander. Dabei kennzeichnet die Marke bzw. Gestaltung des Handys als Statussymbol auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bzw. die Ablehnung oder Abgrenzung zu anderen. Auch das Initiieren von Kontakten und Beziehungen sowie deren Pflege ist mit dem Handy möglich und wird von Jugendlichen intensiv genutzt. Dabei entsteht gerade im SMS-Kontakt häufig eine ganz eigene, „codeartige“ Kommunikation, die nur jene Jugendlichen verstehen und beherrschen, welche einer bestimmten Gruppe angehören. Weiterhin ermöglicht die SMS – durch das Fehlen des realen Gegenübers – eine mutigere Kommunikation, gerade was das Ausdrücken von positiven oder negativen Gefühlen betrifft. Nicht selten wird jedoch später bereut, was im Eifer des Gefechts am Abend zuvor getippt wurde. Das Fehlen von Mimik, Gestik und Intonation der Stimme führt zu „Enthemmungseffek-
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ten“, welche sowohl impulsive, unüberlegte Handlungen wie auch z.B. das Anbahnen bzw. Beenden von Beziehungen erleichtern können (vgl. Grimm/Rhein 2007: 27ff). Schließlich dient das Handy Jugendlichen zur Unterhaltung unterschiedlicher Art. Als multifunktionales Gerät bietet das Handy zahlreiche Möglichkeiten, Bilder, Filme, Musik und Spiele zu nutzen und über Schnittstellen wie Bluetooth und Infrarot auch weiterzuverteilen und untereinander zu tauschen. Das regt zwar zu kreativen Prozessen an, erleichtert teilweise sogar das Lernen und macht Spaß, birgt aber auch Risiken und Gefahrenpotenziale, die eine Herausforderung für die Pädagogik darstellen. So gilt es, mit den Jugendlichen über den Besitz von gewalthaltigem oder pornografischem Bildmaterial ins Gespräch zu kommen, das Handy als Kostenfalle zu thematisieren, sie für die Freigabe persönlicher Daten zu sensibilisieren und das Handy unter gesundheitlichen Aspekten zu beleuchten. Informationsmaterial zu vielen dieser Aspekte bieten verschiedene Websites (siehe Linkliste im Anhang). Im Folgenden wird aufgrund des sozialpädagogischen Zuschnitts vor allem auf den Kostenaspekt sowie die Gewaltaspekte in Verbindung mit Handynutzung eingegangen. 2.2 Das Handy als Kostenfalle Logos, Klingeltöne oder Spiele lassen sich oft ganz einfach per SMS anfordern. Zwar müssen die Kosten dafür in der Werbung angegeben sein, häufig sind die Preisangaben aber unübersichtlich oder werden übersehen, weil sie gut im Kleingedruckten versteckt sind. Wie teuer der Service tatsächlich war, erfahren Heranwachsende oft erst beim Blick auf die Handyrechnung, wenn es bereits zu spät ist. Richtig teuer kann es werden, wenn mit dem angeblich gratis bestellten ersten Klingelton oder Logo ein Abo verbunden ist, für das daraufhin regelmäßig Geld abgebucht wird. Teil des Problems ist oft, dass die Jugendlichen sich mit ihrer Sorge niemandem anvertrauen und stattdessen ihren Schuldenberg wachsen lassen oder vergeblich zu verkleinern versuchen. Dabei sind viele von Kindern oder Jugendlichen getätigte „Verträge“ oder Kaufhandlungen gar nicht gültig.1 Eltern können ihre Zahlungsverweigerung und die entsprechenden Gründe dem Anbieter per Einschreiben mit Rückschein mitteilen. Wenn das Abonnement bestätigt ist, man es aber später nicht mehr in Anspruch nehmen möchte, kann man dem Anbieter per SMS mit dem entsprechenden Stopcode (die Worte „Stop Dienstename“ bzw. „Stop alle“ an die Nummer schicken, von der das Angebot regelmäßig kommt)2 zum nächstmöglichen Zeitpunkt kündigen. Für diese oder ähnliche Schritte ist es vor allem wichtig, über die Probleme der Heranwachsenden bzw. des Heranwachsenden überhaupt Bescheid zu wissen. Deshalb sind sowohl die Thematisierung solcher Fallen und Gefahren, als auch das Gesprächsangebot zu bereits bestehenden Kostenfallen eine Grundvoraussetzung, um Jugendliche als attraktive Zielgruppe der Werbung im Bereich mobiler Kommunikation kompetent im Umgang mit den sie umgebenden Angeboten zu machen.
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Siehe §110 BGB (der so genannte „Taschengeldparagraph“) Siehe weitere Informationen auf www.handysektor.de
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2.3 Gewalt auf dem Handy – Motive und Problemlagen Als besonders problematisch im Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Medien werden schon immer Gewalt und Pornografie gesehen. Da das Handy in unserer Gesellschaft eine Ware ist, die – wie andere Medien auch – samt ihrer Inhalte und Funktionen auf dem freien Markt gehandelt wird, muss man sich auch mit den Problemlagen auseinandersetzen, die sich durch Anbieter auftun, welche, oft am Rande der Legalität, problematische Inhalte präsentieren und zu deren Verbreitung beitragen bzw. sie kommerziell nutzen. Dabei sind derartige Inhalte nicht neu (bis auf handyspezifische Ausnahmen der Eigenproduktion, auf die später noch eingegangen wird), sondern bereits im Fernsehen, in Zeitschriften und vor allem auch im Internet zu finden und zu konsumieren. Deshalb sollte eine Debatte über gewalthaltige Inhalte auf Handys im Kontext der bereits bestehenden Diskussion um Gewalt in den Medien geführt werden (vgl. Schell 2005: 36ff). Unterschieden werden kann bei der Rezeption gewalthaltiger Inhalte auf Handys zwischen realen Darstellungen von Unfällen, Verbrechen etc. sowie sogenannten SnuffVideos, bei denen Gewalt möglichst real inszeniert wird. Die meisten Jugendlichen (84 %) wissen von gewalthaltigen Inhalten auf Handys, unabhängig von ihrem Geschlecht. Deutlich mehr Jungen (37 %) als Mädchen (24 %) geben aber an, dass Bekannte oder Freundinnen und Freunde solche Filme auch erhalten haben. 11 % der Jungen haben sogar selbst schon einmal entsprechende Filme erhalten. Im Verhältnis dazu fällt die Zahl der Mädchen mit 4% deutlich geringer aus.1 Nahezu unstrittig ist, dass mediale Gewaltdarstellungen ein negatives Wirkungsrisiko bedeuten können (vgl. Grimm/Rhein 2007: 33). Monokausale Zusammenhänge der Rezeption mit der Wirkung („Wer zuviel Gewalt in den Medien konsumiert, wird selbst zum Gewalttäter“) greifen aber deutlich zu kurz, da die Medienaneignung von Kindern und Jugendlichen immer in soziale Kontexte eingebettet ist. Sie ist z.B. von der Medienkompetenz der Heranwachsenden sowie verschiedenen anderen Faktoren abhängig, wie etwa dem soziokulturellen Milieu, dem Bildungsstand sowie Alter und Geschlecht der Nutzenden (vgl. Röll in diesem Band). Auch inhaltsbezogene Faktoren wie die Intensität der Gewaltdarstellung, der Realitätscharakter sowie fehlender Kontext von Gewalthandlungen in oft kurzen Handyclips spielen eine Rolle, wenn es darum geht, wie Heranwachsende mit Gewalt, die sie über das Handy konsumieren, umgehen (vgl. Kunczik/Zipfel in diesem Band). Die Motive für den Konsum dargebotener Inhalte sind vielfältig. Ein erstes mögliches Motiv ist die Neugier und Entdeckungsfreude, die Heranwachsende veranlasst, sich mit vielerlei Angeboten auseinander zusetzen und das Medienspektrum in seiner gesamten Breite zu erforschen. In ihrer Weltaneignung und Identitätsarbeit spielen dabei sowohl zielgerichtete, als auch ergebnisoffene Entdeckungstouren eine wichtige Rolle, was durch die Faszination, die Medien auf Heranwachsende ausüben, noch befördert wird. Dabei stoßen sie natürlich auch auf problematische oder darüber hinaus verbotene Inhalte. Ein zweites Motiv, das zur Auseinandersetzung mit Gewaltdarstellungen motiviert, lässt sich mit den Begriffen Grenzüberschreitung bzw. Mutprobe beschreiben. Heranwachsende gehen in der Entwicklung ihrer Identität an ihre Grenzen bzw. testen diese aus, auch, was moralische Grundsätze und Einstellungen betrifft. Dazu gehört es mittlerweile, auch vor 1
Zu den Zahlen über Kenntnis oder Besitz gewalthaltiger oder pornografischer Filme vgl. JIM 2008, S. 65
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allem unter Jungen, sich die Gewaltvideos, die von Freunden auf das eigene Handy geschickt werden, anzuschauen bzw. das Anschauen als Mutprobe z.B. zur Aufnahme in eine Clique festzulegen. Diese Tatsache leitet zum dritten möglichen Motiv über, nämlich seinen eigenen Status in der Peer Group durch die Rezeption Jugend gefährdender Inhalte zu bestätigen. Je extremer die Darstellungen sind, umso stärker ist die erhoffte Wirkung nach außen: Was kann ich aushalten, was finde ich cool und wie hart bin ich im Nehmen. Besonders Jugendliche, die Defizite in anderen Bereichen (Kunst, Hobbys, Sport, Soziale Kontakte etc.) haben, sind versucht, sich durch derartig geleitete Handlungen einen Ausgleich zu verschaffen (vgl. Schell 2005: 39f). Aus pädagogischer Sicht gilt es, diese Aspekte aufzugreifen, zu thematisieren und zu bearbeiten. Darüber hinaus spielen diese Motivationen auch eine Rolle, wenn es darum geht, eigene gewalthaltige Inhalte zu inszenieren und zu produzieren. 2.4 Gewalt mit dem Handy – Happy Slapping und Mobile Bullying Bisherige Foschungen zum Thema medialer Gewalt und deren Wirkung betreffen vor allem das Fernsehen sowie in geringerem Maße auch Computerspiele. Die noch nicht so intensiv erforschte Gewaltproblematik beim Handy erweitert sich um den Aspekt, dass reale und mediale Gewalt miteinander verschmelzen – wenn es zum „Happy Slapping“ oder „Mobile Bullying“ kommt. Die sogenannten „Happy Slapping“-Videos (wörtlich übersetzt etwa: fröhliches Zuschlagen) entstehen beim Filmen von Schlägereien – sowohl beiläufig also auch durch eigens für die Filmaufnahme herbeigeführte oder inszenierte Schlägereien, denen man allerdings im Ergebnis selten ansehen kann, ob es sich um Schauspiel oder echte Gewalttaten handelt. Die Videos, auf denen nicht nur die Opfer, sondern meist auch die Täter zu sehen sind, werden im Anschluss an die Produktion meist per Bluetooth1 an andere Jugendliche verschickt oder auf Webseiten zur Rezeption gestellt. Oft handelt es sich dabei um strafrechtlich relevante Ausübungen von Gewalt. Knapp 30% der 12- bis 15-Jährigen haben bereits Szenen von „Happy Slapping“ mitbekommen. Auffällig ist der hohe Anteil an Hauptschülern, die Zeuge von „Happy Slapping“ waren (41 % im Verhältnis zu 22% auf Gymnasien) (vgl. Mpfs 2008: 66). Die Erniedrigung und Bloßstellung anderer hat auch das „Mobile Bullying“ zum Ziel. „Mobile Bullying“ bedeutet bspw., dass Jugendliche andere Heranwachsende in intimen, peinlichen oder unangenehmen Situationen, z.B. beim Sex oder auf der Toilette, filmen und die Aufnahmen anschließend im Internet veröffentlichen und sie an andere per Bluetoothschnittstelle verbreiten. Außerdem zählen dazu das Drohen, Schikanieren, Beleidigen oder sexuelle Belästigen per SMS, Foto oder Video. Zu den Opfern von „Mobile Bullying“ zählen sowohl Mädchen als auch Jungen. Ein Blick in die Praxis zeigt zudem, dass Mädchen das Handy oft für Beschimpfungen oder Drohungen per SMS nutzen. Auch falsche Gerüchte, üble Nachreden oder Verleumdungen können via Handy ohne das Wissen des Opfers leicht verbreitet werden. Durch die Verwendung des mobilen Mediums Handy bleibt das Opfer für Angriffe auch nach der Schule erreichbar und der Handlungsraum wird 1
Bluetooth ist eine Schnittstelle am Handy, mit der kostenlos und mit einer Reichweite von ca. 12 m Daten von Handy zu Handy sowie von Handy zu Computer und umgekehrt übertragen werden können.
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über den Schulraum hinaus ins Private hinein ausgedehnt, was für das Opfer zusätzliche psychische Belastungen bedeutet. Beim Erstellen und Verteilen von „Happy Slapping“- und „Bullying“-Videos geht es den Jugendlichen oft sowohl darum, Spaß und Action zu haben als auch darum, Stärke und Macht zu zeigen, um nicht selber Opfer solcher Taten zu werden (vgl. Grimm 2008: 31). Die Jugendlichen wollen soziale Anerkennung erreichen, indem sie sich selbst als Täter, nicht als Opfer inszenieren und präsentieren. Die Vielfalt der Möglichkeiten und Fälle zeigt, dass nicht nur die Darstellung von Gewalt auf Handys diskutiert werden muss, sondern dass das Thema Gewalt in unserer Gesellschaft an sich sowie der Umgang damit immer wieder im Gespräch mit den Heranwachsenden aufgegriffen und diskutiert werden müssen.
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Pädagogische Konsequenzen und Anregungen
Zahlreiche Jungen und Mädchen wachsen in einem Umfeld auf, in dem Gewalt und Aggressionen präsent und als Mittel zur Lösung von Konflikten sowie zur Durchsetzung eigener Interessen anerkannt sind. Jugendliche übertragen diese Erfahrungen auch auf ihren Umgang mit dem für sie privatesten und intimsten Medium – ihr Handy. Pauschale Verbote des Handys greifen zu kurz, sie verlagern eher das Problem. Aufgabe der Pädagogik ist es vielmehr, für Ursachen und verschiedene Formen von Gewalt zu sensibilisieren, alternative Handlungsformen aufzeigen und Heranwachsende in die Lage zu versetzen, stark genug zu sein, um auf Gewalthandlungen verzichten zu können sowie sich gegen Gewalt zu engagieren. Um für Jugendliche als Ansprechpartner für Handygewalt ernstgenommen zu werden, sollte man sich allerdings auch dahingehend qualifizieren oder zumindest die Bereitschaft dazu zeigen. Denn nur wer sich mit den Möglichkeiten des Mobiltelefons auskennt, wird auch als kompetenter Ratgeber bei Problemen damit wahrgenommen. In diesem Kontext eröffnen sich Möglichkeiten zu erfragen, welche Motive bei den Jugendlichen hinter der jeweiligen Art der Handyvideonutzung stehen, was sie wie und warum nutzen, und was gewalthaltige Clips für sie bedeuten bzw. wie sie damit umgehen. Darauf aufbauend können ihnen Handlungsalternativen sowie Orientierungs- und Identifikationsmöglichkeiten präsentiert werden, die von den Jugendlichen erschlossen werden können. Ein eigenes Medienprodukt – z.B. ein musikclipähnliches Handyvideo – trägt dazu bei, sich auf neuen Wegen mit den kreativen Potenzialen des Handys auseinander zu setzen und bisherige Verhaltensmuster zu reflektieren bzw. eventuell zu ändern. 3.1 Potenziale des Handys in medienpädagogischen Projekten kreativ nutzen „Ohrenblick mal!“ – Handyclipwettbewerb und Projektarbeit Im Folgenden soll anhand des Handyclipwettbewerbs Ohrenblick mal! samt seiner flankierenden Projektarbeit in Jugendeinrichtungen ein Beispiel aktiver Medienarbeit zum Thema Handy exemplarisch vorgestellt werden. Das JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis – befasst sich seit mehreren Jahren eingehend mit dem Medium Handy und seiner Bedeutung für Heranwachsende (vgl. Anfang u.a. 2005). In vielen Projekten
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medienpädagogischer Praxis mit unterschiedlichen Themen kommt das Handy dabei als kreatives Werkzeug zum Einsatz, so auch im deutschlandweiten Handyclipwettbewerb „Ohrenblick mal!“, den das JFF seit 2005 gemeinsam mit LizzyNet und jugendonline durchführt (www.ohrenblick.de). Flankierend zum Wettbewerb werden jedes Jahr auch medienpädagogische Projekteinheiten zum Thema Handy an Schulen, Freizeit- und weiteren Jugendeinrichtungen durchgeführt. Zielgruppe dieser Projekte sind in erster Linie bildungsbenachteiligte Jugendliche. In diesen Workshops versuchen wir, eine informierend-beratende sowie eine darauf folgende, kreativ-produktive Phase miteinander zu verbinden. Im ersten Teil des circa 6stündigen Inputs ist es uns wichtig, die Jugendlichen über die finanziellen Probleme und gesellschaftliche Diskussion rund um das Handy zu informieren und aufzuklären. Sie sollen Gelegenheit erhalten, sich auszutauschen und Tipps bekommen, wo sie sich weitergehend informieren und beraten lassen können, wenn sie in eine Kostenfalle getappt sind bzw. wie diese vermieden werden kann. Außerdem können Fragen geklärt werden, mit denen fast jeder Jugendliche schon einmal konfrontiert wurde: Was sind Flirt-SMS und wie geht man damit um? Wie erkenne ich, was mir über Bluetooth geschickt wird? Sollte ich mein Handy wegen der Strahlung nachts abschalten? Die Antworten der Jugendlichen sowie die daraus entstehende Diskussion können auch als Input für eine intensivere inhaltliche Beschäftigung mit dem Handy in weiteren Unterrichtseinheiten dienen: Wo stört es? Was bedeutet das Handy als Statussymbol? Was sind „Happy Slapping“-Videos und welche rechtlichen Grundlagen gelten dazu? Wie geht man damit um und was bedeutet die mediale Darstellung von Gewalt? Gefilmt wird, was vor das Handy kommt Während der zweiten Einheit der Handyworkshops wollen wir den Jugendlichen neue Zugänge zu den kreativen Potentialen ihres Handys ermöglichen. Es sollen sich Erfahrungsräume öffnen, in denen mehr mit dem Handy möglich wird, als nur teure Klingeltöne, Spiele oder gewalthaltige Inhalte herunterzuladen. So können damit beispielsweise Fotos und kurze Videos aufgenommen werden. Die Schülerinnen und Schüler sollen die kreativen Chancen, die ihr Handy bietet, kennen lernen und die Möglichkeit erhalten mit Unterstützung von MedienpädagogInnen einen ersten eigenen Clip zu produzieren sowie am Laptop zu schneiden und zu vertonen. Jugendliche können mit dem Handy in den meisten Situationen ihres Lebensalltags filmen. Damit liefert das Handy mehr als alle anderen Bildmedien Zugänge und Einblicke in die Lebenswelt Jugendlicher. Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem entstehenden Filmclip kann besonders die Handlichkeit des Handys als Filmkamera und seine vielseitige Einsetzbarkeit sowie die dadurch entstehende neue Ästhetik in den Mittelpunkt gestellt und ausprobiert werden. Besonders ist darüber hinaus, dass neue Perspektiven eingenommen werden können, die eine normale Filmkamera nicht ermöglicht. Eine weitere technische Raffinesse der meisten aktuellen Handys bietet ebenfalls viel Potential: die Bluetoothschnittstelle. Mit ihr lassen sich Dateien kostenlos in einem Umfang von ca. 12 Metern verschicken. Somit können direkt im Anschluss an den Workshop nicht nur die FilmproduzentInnen selbst, sondern auch ihre MitschülerInnen, Freunde und even-
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tuell Eltern den fertigen Film auf ihr Handy senden und ihn somit jederzeit wieder präsentieren und anschauen. Exemplarischer Ablauf eines Handyprojekts mit Jugendlichen Im Folgenden wird der Ablauf eines Handyprojekts mit Jugendlichen exemplarisch dargestellt. Ein derartiges Projekt kann mit Heranwachsenden ab der 5. Klasse bis hin zu Berufsschülern durchgeführt werden. Er ist in drei Einheiten von zwei Schulstunden gegliedert, die sich natürlich, falls das Projekt in einer Einrichtung der Jugendarbeit durchgeführt wird, in Zeitstunden aufgliedern lassen. Unabhängig vom Handyclipwettbewerb kann man in dieser Form über das Handy informieren und aufklären, seine Potenziale positiv und kreativ nutzen und trotzdem vor bestehenden Gefahren warnen bzw. ein Bewusstsein für eine selbstbestimmte Nutzung schaffen. 1./2. Schulstunde: Jugendmedium Handy – Interessen und Probleme (Material: Notebook, Beamer, Stifte) Handyclips: Wer kann sich vorstellen, was ein Handyclip ist? Wer hat ein Handy? Wer hat ein Handy, das Handyclips abspielen/aufnehmen kann? Wer hat schon mal selbst mit dem Handy gefilmt? Etc. Rund ums Handy: "Mein Wunschhandy" (Plakat mit dem Handy der Träume zum Selbstgestalten) Was sind Eure Erfahrungen mit dem Handy? Wenn Ihr kein Handy habt, wie sollte dann Euer Wunschhandy aussehen? Ihr könnt malen, schreiben etc. Einsammeln der Plakate und evtl. Aufgreifen wichtiger Aspekte, wie bspw: Bei uns gibt es oft Streit wegen des Handys! Das Handy muss eine tolle Kamera haben! Etc. Beantworten von SchülerInnenfragen PowerPoint-Präsentation zum Thema Handy und Kosten, Handy und Gesundheit, Handy und Übertragungsmöglichkeiten, kreative Möglichkeiten des Handys
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3./4. Schulstunde: Produktion von eigenen Handyclips (Material: Handys, Notebooks (je Gruppe à 4 SchülerInnen 1 Handy+1 Notebook mit Bluetoothport), Beamer, Plakate, Papier, Stifte, Software (Konvertierungsprogramm, Windows Moviemaker) Vorstellen des Handyclip-Themas Vorstellen des jeweiligen Jahresmottos des Handyclipwettbewerbs Die Jugendlichen erhalten Plakate zum Assoziieren mit dem Motto. Auf der Vorderseite assoziieren sie in Gruppenarbeit frei zu dem Begriff, dann werden sie dabei unterstützt einen Begriff auszuwählen und zu diesem auf der Rückseite des Plakats Ideen zu sammeln. Die Jugendlichen stellen der Klasse ihre Plakate und Ideen vor. Wie könnte ein Handyclip aussehen? Welche Ideen haben die Jugendlichen? Wie sind Video- und Musikclips im Fernsehen aufgebaut? Welche Stimmung soll ihr Clip vermitteln? Evtl. können hier bereits Ideen für Musik gesammelt werden. Erstellen eines kurzen Drehplans in Gruppenarbeit Welche Bilder brauchen wir für unseren Clip? Wo finden wir die Bilder? Können wir evtl. arbeitsteilig arbeiten? Welche Technik (Handy, Fotoapparat, Licht ...) wird benötigt? Drehen des Handyclips maximale Cliplänge: 2:00 Minuten => maximal 4:00 Minuten Rohmaterial aufnehmen evtl. zusätzlich mit Fotos arbeiten 5./6. Schulstunde: Schneiden der Handyclips und Präsentation (Material: Handys, Notebooks, Beamer) Übertragen der Daten auf einen PC 1. Verbindung via Datenkabel oder Bluetooth 2. Umwandeln der 3gp- bzw. mp4-Clips in avi-Clips mit einem Konvertierungsprogramm Schnitt mit Moviemaker 1. Grobschnitt 2. Musikauswahl (nur freie Musik wegen der Veröffentlichung im Internet) 3. parallel dazu Titelgestaltung 4. Feinschnitt Präsentation der fertigen Clips und Übertragung der Clips auf die Handys 1. Zurückverwandeln der Clips von wmv in 3gp und Versenden auf die vorhandenen Handys der Jugendlichen 2. Präsentation aller Clips in der Gruppe per Beamer und Leinwand
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Kati Struckmeyer
3.2 Sich dem Handy zu nähern heißt auch, von Jugendlichen zu lernen Die Notwendigkeit von medienpädagogischem und -technischem Knowhow für die Durchführung eines Medienprojekts zum Thema Handy setzt die Vernetzung von PädagogInnen an Schulen oder Jugendeinrichtungen mit Institutionen der außerschulischen Medienarbeit voraus. Trotzdem können sie sich zuerst auf ihre eigenen Potentiale besinnen und diese nach und nach sowohl in Zusammenarbeit mit der außerschulischen Medienarbeit, als auch durch die Potentiale der Jugendlichen selbst ergänzen. Der Wechsel zwischen den Rollen als Inputgeber und als Lernender ist eine Bereicherung. Den Jugendlichen gibt die Rolle als Lehrende Verantwortungsgefühl, macht stolz, setzt bei Stärken statt Defiziten an und nimmt sie ernst. Ihnen dabei zuzusehen, wie sie mit ihrem Handy umgehen und welche Funktionen sie kreativ nutzen, kann in eigene pädagogische Zusammenhänge gebracht und mit weiteren Zugängen und Methoden, z.B. aus der Spielpädagogik, dem Theater und der Musik ergänzt werden. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt!
Zitate von Jugendlichen zum Thema Handy „Ich habe schon einmal schlechte Erfahrungen beim Download gemacht, die ich nicht wollte.“ (Volkan, 16 Jahre) „Ich wollte nur einen Klingelton herunterladen, und plötzlich wurde jede Woche Geld abgebucht.“ (Nina, 14 Jahre) „Ich hatte schon mal Ärger wegen meines Handys, weil meine Rechnung viel zu hoch war!“ (Lisa, 16 Jahre) „Die wichtigsten Funktionen an meinem Handy sind Bluetooth und mp3.“ (Dardan, 11 Jahre) „Ich wünsche mir ein Handy mit Biogasantrieb und Solarzellen, und einem Spiegel mit Bürste und Geltube!“ (Steffi, 14 Jahre)
Nützliche Links www.gewaltig-daneben.de Internetseite des Projekts mit allen Produkten, Anleitungen und Tipps www.jff.de/handy Informationen zu aktuellen Aktivitäten des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis zum Thema Handy www.ohrenblick.de Internetseite des bundesweiten Handyclipwettbewerbs für Jugendliche mit vielen Tipps und Anleitungen für Jugendliche www.handysektor.de
Handy – Potenziale und Probleme des Jugendmediums Nr. 1
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Informationsangebot für Jugendliche zur sicheren Nutzung von von WLAN, Mobiltelefon, Notebook u.a. www.zappen-klicken-surfen.de Materialbörse für Erziehende zum Leben mit Medien www.netzcheckers.de Bundesweite Jugendplattform mit vielen Anleitungen und Tipps zur Handynutzung, u.a. auch Software für Eigenproduktion von Klingeltönen und Handylogos www.jugend-und-bildung.de/unterrichtsmaterial_arbeitsblaetter Arbeitsblätter zum Thema Handy für den Unterricht www.handy-in-kinderhand.de Informationen und Tipps für Eltern www.handywissen.info Die Landesstelle Kinder- und Jugendschutz Sachsen-Anhalt e.V. stellt sich kinder- und jugendschutzrelevanten Fragen und entwickelt kreative Möglichkeiten für die pädagogische Arbeit
Literatur Anfang, G. u.a. (Hrsg.): Handy – Eine Herausforderung für die Pädagogik, München 2005. Grimm, P./Rhein, St. (2007): Slapping, Bullying, Snuffing! – Zur Problematik von gewalthaltigen und pornografischen Videoclips auf Mobiltelefonen von Jugendlichen. Berlin. Hilgers, J./Erbeldinger, P. (2008): Gewalt auf dem Handydisplay. In: Schorb, B./Theunert, H./JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (Hrsg.): merz – medien + erziehung, 1/ 2008, S. 57-63. Gutknecht, Sebastian (2007): Gewalt auf Handys. Köln/ Essen. Mpfs (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest) (Hrsg.): JIM-Studie – Jugend, Information, (Multi-)Media. Stuttgart 2008. Jahrgangsangabe befindet sich im Text (www.mpfs.de) Schell, Fred (2005): Jugendmedium Handy – Motive und Problemlagen im Zusammenhang mit der Nutzung gewalthaltiger und pornografischer Inhalte. In: Anfang, G. u.a. (Hrsg.): Handy – Eine Herausforderung für die Pädagogik. München, S. 24-34. Grimm, Petra (2008): Prügeln vor der Kamera. Über den Umgang Jugendlicher mit Gewaltvideos auf dem Handy. In: Pöttinger, I./Ganguin, S. (Hrsg.): Lost? Orientierung in Medienwelten – Konzepte für Pädagogik und Medienbildung. Bielefeld, S. 24-34.
Aktive Medienarbeit als Integrationschance Peter Holzwarth „Fremd und anders ist etwas immer für jemanden.“ (Mecheril 2004: 122)
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Interkulturelle Medienarbeit mit Fotografie, Video und Audio
Medienkompetenz ist für moderne Gesellschaften von zentraler Bedeutung. Neben Familie und Schule ist es auch Aufgabe der Sozialen Arbeit Menschen für die Anforderungen einer global vernetzten Weltgesellschaft vorzubereiten. Insbesondere in der außerschulischen Jugend- und Kulturarbeit und in der Kooperation von schulischer und außerschulischer Bildung bieten sich gute Möglichkeiten für medienpädagogische Projekte. Dies gilt auch für „interkulturelle Medienarbeit“. In deren Rahmen können sich junge Medienproduzenten verschiedene Kompetenzbereiche aneignen: soziales Lernen, in Produktionsgruppen, ästhetische und technische Lernprozesse, Sprach-/Kommunikationskompetenz und themenbezogene Lernprozesse. Aktive, interkulturelle Medienarbeit mit Fotografie, Video und Audio kann sowohl in relativ homogenen Gruppen, als auch in Konstellationen mit unterschiedlichen sozialen, kulturellen und sprachlichen Hintergründen praktiziert werden. Für die Integration von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund kann Medienarbeit auf mehreren Ebenen relevant sein1:
Integrationsprozesse innerhalb einer Gruppe, die medienpädagogisch arbeitet Integrationsmöglichkeiten durch Kontakte von Migranten und Nichtmigranten, bzw. Mitgliedern heterogener Gruppen Integrationspotenziale durch Aneignung berufsrelevanter Kompetenzen (Medienkompetenz, Sprachkompetenz, soziale Kompetenz). Integrationsprozesse durch Öffentlichkeit für Medienproduktionen und Partizipation.
In diesem Beitrag werden verschiedene Formen und Konzepte aktiver interkultureller Medienarbeit vorgestellt. Im ersten Teil werden unterschiedliche Kontexte, Potentiale und Fallstricke angedeutet (1), die im zweiten Teil an konkreten Beispielen veranschaulicht werden (2). Abschließend werden einige medienpädagogische Prinzipien herausgestellt, die in der aktiven interkulturellen Medienarbeit relevant sind (3).
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Integration ist auf drei Ebenen zu beziehen: Aktivitäten der Allochtonen (Migranten) (sich integrieren wollen), Aktivitäten der Autochtonen (Nicht-Migranten) (Integration ermöglichen) und politische/ strukturelle Bedingungen (Rahmenbedingungen für gelingende Integration zur Verfügung stellen) (vgl. Holzwarth 2008).
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Peter Holzwarth
Kontexte, Potentiale und Fallstricke interkultureller Medienarbeit
Aktive interkulturelle Medienarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen mit unterschiedlichen Sprachen, Deutungsmustern oder Werten in Interaktion treten. Zu unterscheiden sind verschiedene Kontexte und Konstellationen. So kann eine gemischtkulturelle Gruppe (Migranten und Nicht-Migranten oder Migranten mit verschiedenen kulturellen Hintergründen) vor Ort mit Medien arbeiten (vgl. Zientek/Schenk/Holzwarth 2006) oder zwei Gruppen von Jugendlichen aus Land A und Land B sich gegenseitig besuchen und Etwas (parallel oder gemeinsam) mit Medien produzieren (vgl. Holzwarth 2001). Des Weiteren können sich Jugendliche aus verschiedenen Ländern im Rahmen einer Jugendbegegnung an einem dritten Ort treffen, um mit Medien zu arbeiten (vgl. Leiprecht/Riegel/Held 1999). Auch vorstellbar ist, dass zwei (oder mehr) Gruppen von Jugendlichen aus verschiedenen Ländern (Migranten und Nicht-Migranten oder Migranten mit verschiedenen kulturellen Hintergründen) sich gegenseitig Medienproduktionen (Fotos und kleine Videos) zukommen lassen (per Email-Attachment oder in eine Website eingebunden) und per Internet, Email, Chat, Messageboard oder Internettelefon darüber kommunizieren (vgl. Holzwarth/Maurer/Niesyto 2002). Eine weitere Möglichkeit ist, dass eine relativ homogene Gruppe (ohne kulturelle Überschneidungssituationen im engen Sinn) interkulturelle Themen mit Medien bearbeiten (z. B. „Migration und Fremdheit in meinem Viertel beziehungsweise in meiner Stadt“ oder „Typisch Deutsch“) und, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund Jugendliche ohne Migrationserfahrung aus ihrem Ursprungsland beziehungsweise aus dem Ursprungsland ihrer Eltern besuchen und umgekehrt (z. B. Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund aus Deutschland besuchen Jugendliche in der Türkei; vgl. Tomforde/Holzwarth 2006). In all diesen Fällen ist eine Verbindung von virtueller mit Face-to-Face Kommunikation sinnvoll. Da in interkulturellen Situationen häufig Differenz- und Fremdheitserfahrungen gemacht werden, bieten sich visuelle Medien wie Fotografie und Video und auditive Medien in diesem Kontext an:
Wenn Sprachbarrieren vorhanden sind, kann man sich über Bilder und Töne leichter mitteilen als über Sprache (vgl. Borgnini/Crivelli 2003). Oft sind visuelle Symbole universell verständlich. Fotografie und Video bieten die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Lebenswelt von außen aus der Perspektive des Fremden zu sehen. Medien erlauben spielerische und selbstreflexive Formen des identitätsbezogenen Probehandelns (Wie wirke ich in dieser Pose? Wie wirke ich in diesem Outfit?). Selbstdarstellung, Selbstinszenierung und Selbstfindung sind wichtige Bedürfnisse im Jugendalter (vgl. Netzwerk Migration in Europa 2003: 9). Differenzen zwischen Deutungen und Ideen der Produzierenden einerseits (Selbstbild) und Interpretationen und Assoziationen der Betrachtenden andererseits (Fremdbild) können vor allem in interkulturellen Kontexten bereichernd sein. Bilder lassen sich leicht über Email-Attachments oder das Internet austauschen. Dies ist wichtig bei Projekten, die Kommunikation zwischen Kindern und Jugendlichen an verschiedenen Orten beinhalten. So kann beispielsweise vor oder nach einer Jugendbegegnung virtuell kommuniziert werden.
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Reflexive Prozesse wie Nachdenken, Erzählen, Diskutieren und Schreiben lassen sich insbesondere bei sprachlichen Begrenzungen leichter anstoßen, wenn von konkreten Aspekten wie Fotos und Videos ausgegangen wird. Durch Bilder, Töne und Musik wird die emotionale Ebene angesprochen. Bilder sagen oft mehr als 1000 Worte. Die Mehrdeutigkeit von Bildern ermöglicht auch spielerische Formen der Deutung und Bedeutungsproduktion. Wirklichkeit über die Produktion von Bildern oder Tönen anzueignen ist eine aktive kreative Form der Auseinandersetzung. Der produktive Umgang mit Medien kann niederschwellig gestaltet sein, er kann motivierend sein und macht Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Regel Spaß. Durch Medienarbeit manifestieren sich Lernprozesse in Form von Produkten, die Kinder und Jugendliche mit nach Hause nehmen und anderen zeigen können. Über die Präsentation von fertigen Medienprodukten können die Macher Anerkennung und positives Feedback erfahren. Medien lassen sich ohne großen finanziellen, zeitlichen und logistischen Aufwand im Rahmen einer Ausstellung oder eines Filmabends präsentieren.
Dabei ist zu beachten, dass es Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht immer angenehm sein muss, auf ihre Herkunftskontexte angesprochen zu werden. Dies hat damit zu tun, dass Menschen mit Migrationshintergrund in machen Kontexten Ausgrenzung und Abwertung erfahren. Interkulturell orientierte Projekte sollten sich der Ambivalenz von Differenzbetonung und Betonung von Gleichheit (Differenzblindheit) immer bewusst sein. Werden von Seiten der pädagogischen Begleitung kulturelle Besonderheiten betont, kann das einerseits eine willkommene Wertschätzung des Anders-Seins bedeuten, andererseits fühlen sich Menschen unter Umständen gegen ihren Willen als „Andere“ oder „Exoten“ hervorgehoben. Interkulturelle Medienprojekte sollten Menschen mit Migrationshintergrund nicht auf ihre andere Herkunft festlegen (z.B. „Du bist doch der Türkeiexperte, du musst das doch wissen“) oder sie auf eine ethnische speaking-position reduzieren („Jetzt kannst du mal ausdrücken, was dir als ‘Ausländer’ in Deutschland wichtig ist.“). Herkunft ist nur eine mögliche Ebene der Fremd- und Selbstdefinition neben Geschlecht, Alter, jugendkultureller Zugehörigkeit, regionaler Zugehörigkeit und Anderem. Oft wird bei allzu starker Betonung von Kultur und kulturellen Unterschieden übersehen, dass auch andere herkunftsübergreifende Faktoren das Leben von Menschen prägen, wie z.B. die sozioökonomischen Lebensverhältnisse (Einkommen der Eltern, Bildungschancen etc.), die Persönlichkeit eines Menschen (z.B. Extrovertiertheit oder Introvertiertheit), das Geschlecht oder das Ausmaß an Partizipationsmöglichkeiten. Wichtig ist, den Teilnehmenden im Rahmen eines Medienprojekts Raum für eigene Selbstdefinitionen zu geben, diese können durchaus auch mehrere Aspekte beinhalten (Mehrfachzugehörigkeit), z.B. sowohl Deutscher/Schweizer sein, als auch sich der Herkunftskultur nahe fühlen oder Moslem sein und HipHop mögen. Dabei ist Sprache neben Musikgeschmack und Medienvorlieben allgemein eine wichtige Ausdrucksform für Mehrfachzugehörigkeiten (vgl. Holzwarth 2007).
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Peter Holzwarth
Bewährte Mediengenres und Projektbeispiele
Herauszustellen ist, dass manche Genres sich in interkulturellen Kontexten eignen, weil keine Sprache benötigt wird und schnelle Erfolgserlebnisse möglich sind. Andere hingegen sind geeignet, weil interkulturelle Aspekte thematisiert werden können. 3.1 Projektbeispiele Video Bei Videoprojekten bieten sich verschiedene Einsatzmöglichkeiten an:
Rückwärts-Clip: Eine kurze Handlung, die sich effektiv rückwärts zeigen lässt, wird abgefilmt, in ein Videoschnittprogramm eingespielt und in umgekehrter Richtung abgespeichert. Geeignet sind sportliche Aktivitäten, Essen oder Trinken. Close-up-rhythm-Clip: Mit einer Videokamera wird nah an Objekte herangegangen, die Geräusche machen (Close-up). Durch die große Nähe zur Geräuschquelle kann der Ton gut über das eingebaute Mikrophon aufgenommen werden. Aus den verschiedenen kurzen Bild-Ton-Aufnahmen wird ein rhythmischer Videoclip zusammen geschnitten (rhythmclip). Videoclip ohne Schnitt: Die Produzierenden bringen ihre eigene Musik mit, die auf einem „Ghetto-Blaster“ abgespielt wird. Sie bewegen sich zu ihrer Musik, während eine Person mit einem bereits vorher eingestellten Kameraeffekt (z. B. Wipe-Modus) filmt. So entsteht ein Musikvideo ohne Nachproduktion.
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Stopptrick-Animation (z.B. Playmobil, Lego, Knetfiguren, Papierfiguren, Objekte etc.): Eine kurze Geschichte wird erzählt, indem im Stopp-Trick-Verfahren immer wieder Einzelbilder von Figuren aufgenommen werden. Zwischen den Aufnahmen werden die Figuren so verändert, dass beim Abspielen der Einzelbilder ein kontinuierlicher Handlungsablauf wahrgenommen werden kann (vgl. Amman & Fröhlich 2008).
Stopptrick-Filme: Stück für Stück (Aufnahme – Stopp – Aufnahme -Stopp – Aufnahme – Stopp usw.) wird eine Handlung aufgenommen, die nach „Zauberei“ aussieht, z. B. Person greift nach einer Flasche, die immer wieder an einer anderen Stelle erscheint, ca. 15 Personen steigen nacheinander in ein Auto ein, ohne dass es zu voll wird, ca. 15 Menschen steigen nacheinander aus einer Kiste, in die nur eine Person passen würde. Besonders leicht kann man auf diese Weise auch Personen oder Objekte verschwinden lassen. Wichtig ist, dass ein Stativ verwendet wird, damit der Bildausschnitt immer gleich bleibt. Umfrage mit Video: Eine Umfrage bedeutet, verschiedenen Menschen eine oder mehrere kurze Fragen zu stellen (z. B. zum Thema „Was gefällt ihnen in Deutschland? Was gefällt ihnen nicht?“ / „Was fällt ihnen zum Stichwort Schweiz ein?“ / „Was ist typisch schweizerisch?“ / „Was verstehen Sie unter multikulturell?“ / „Wie gut integriert fühlen Sie sich?”). Projekte dieser Art eigenen sich hervorragend, um Meinungen von Passanten (z. B. Menschen mit und ohne Migrationshintergrund) zu sammeln, die später zusammen mit den Teilnehmenden diskutiert werden können. Auf unbekannte Menschen zuzugehen und erfolgreich Fragen zu stellen, stärkt das Gefühl der Selbstwirksamkeit und eignet sich als Übungsfeld für die Entwicklung von Sprachkompetenz. Ob sich auch provokante oder ironische Fragen für eine Umfrage eignen, muss je nach Kontext geklärt werden: „Und was sollten die Deutschen ihrer Meinung nach tun, um sich besser in die Gesamtgesellschaft zu integrieren?“ (Frage aus dem Film „Weißes Ghetto“, Umfrage in Köln Lindenthal, Kanak attak TV, http://www.kanak-tv.de/popup/weisses_ghetto.html (Zugriffsdatum: 7.1.2008)). Dabei ist Respekt im Umgang mit audiovisuellen Medien generell ein wichtiges Thema. 3.2 Projektbeispiele Fotografie Auch für das Genre der Fotografie lassen sich einige Projektmöglichkeiten beschreiben.
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Fremdes und fremdes Eigenes in unserer Stadt (ethnographische Fotoexkursion): Diese Projektform ermöglicht eine forschende Haltung und einen ethnographischen Blick auf fremde Aspekte in der eigenen Lebenswelt. „Fremd“ kann Aspekte aus anderen Ländern bedeuten, aber auch fremd gewordene Dinge aus dem eigenen Land oder der eigenen Region, z. B. traditionelle Feste, religiöse Rituale, fahrende Handwerker, fremde Milieus oder Jugendkulturen. Wichtig ist, dass es nicht primär darum gehen soll, Menschen mit Migrationshintergrund zu fotografieren. Wo sich dies mit dem Einverständnis der Fotografierten ergibt, sollte auch angeboten werden, die entstandenen Fotos zu zeigen. Fotosafari: Verschiedene Gruppen müssen Fotoaufgaben lösen, die auf einem Papier aufgelistet sind, z. B. einen Polizisten fotografieren, ein Liebespaar fotografieren, eine Froschperspektive fotografieren, ein Werbeplakat mit einer Frau fotografieren oder fünf Bilder mit der Farbe Blau fotografieren. Gewonnen hat die Gruppe, die am meisten Aufgaben gelöst hat (vgl. Zientek/Schenk/Holzwarth 2006).
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Fotos mit Bildunterschriften: Zu bestimmten Themen werden Fotoserien erstellt und die Produzierenden formulieren zu einem oder mehreren Fotografien Bildunterschriften (vgl. Zientek/Schenk/Holzwarth 2006). Sich kennen lernen über Bilder: Eine Sammlung von unterschiedlichen Postkarten und Bildern eignet sich auch hervorragend für eine Vorstellungsrunde und gegenseitiges Kennen lernen (vgl. Borgnini/Crivelli 2003). Die Sammlung wird auf dem Fußboden oder auf dem Tisch ausgebreitet und jeder Teilnehmer darf sich ein Bild aussuchen. Anhand des ausgewählten Bildes stellen sich alle der Reihe nach vor. Erfahrungsgemäß haben diese bildgestützten Vorstellungen einen relativ persönlichen Charakter. Es werden persönliche Vorlieben deutlich und teilweise laden Bilder zu projektiven und identifikatorischen Prozessen ein. Ich und mein Bild: Portrait-Fotografie und Selbstportrait-Fotografie: Social-networkPlattformen und Medienplattformen (bspw. Netlog, Schüler-VZ, meinbild.ch, Facebook, Flickr oder Youtube) stellen für Jugendliche eine attraktive Bühne für Selbstdarstellung dar. Medialer Selbstausdruck im Netz bedeutet aufgrund der Anonymität des Publikums oft eine riskante Chance. Auf der einen Seite besteht die Möglichkeit, Anerkennung für die eigenen Selbstdarstellungen zu erhalten, auf der anderen Seite droht das Risiko der Ablehnung oder der Beschädigung des eigenen Selbst. Publikumsbewusstheit und Abschätzung der Folgen sind daher wichtige Dimensionen: Wie können mögliche negative Auswirkungen von medialen Selbstdarstellungen abgeschätzt und verhindern werden (Cyber Mobbing bzw. Cyber Bullying, sexuelle Belästigung im Netz, Missbrauch von persönlichen Daten, soziale Kontrolle durch Eltern, Einschränkung von Berufschancen aufgrund unpassender Bilder im Netz). Viele Jugendliche gehen relativ sorglos und unvorsichtig mit persönlichen Daten im Netz um, sowohl in Bezug auf Informationen zur eigenen Person als auch im Zusammenhang mit Bildern von sich selbst und Freunden bzw. Bekannten (vgl. MpFS 2008). Abbildung 1:
Screenshot von http://www.meinbild.ch/ (Der Name wurde entfernt)
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Peter Holzwarth
Im Rahmen eines Portrait-Fotografie und (Selbst-)Portrait-Fotografie-Workshops kann auf die Chancen und Risiken einerseits und auf Bildgestaltungsstrategien andererseits eingegangen werden. Dies wird im Folgenden am Beispiel eines Workshops über riskante Chancen der Selbstdarstellung im Netz mit Berufsschülerinnen und Berufsschülern angedeutet. Es wurde über Fotos von jungen Frauen und Männern im Internet diskutiert. Viele bezeichneten Fotos mit leicht bekleideten Frauen als „billig“. Folgende weitere Einschätzungskriterien wurden in diesem Zusammenhang von den Jugendlichen hervorgehoben:
Tendenziell: je mehr nackte Haut desto „billiger“. Bilder von leicht bekleideten Frauen sehen öfter „billig“ aus als Fotos von leicht bekleideten Jungen. Schwarz-Weiß und Sepia wirken eher künstlerisch, edel, niveauvoll, Farbbilder können eher „billig“ wirken. Es kommt auch auf die Körperhaltung und den Gesichtsausdruck an. Auch der Kontext der Aufnahme spielt eine Rolle: Es macht einen Unterschied, ob ein Junge am Strand mit nacktem Oberkörper fotografiert wird oder ob es sich selbst mit hochgezogenem T-Shirt fotografiert.
Daran anschließend wurde mit der Kamera ausprobiert, welche Körperhaltungen, Perspektiven und Gesichtsausdrücke welche Wirkung erzielen. Dabei konnten die Teilnehmenden sich selbst fotografieren, ihr Spiegelbild abfotografieren, sich mit Selbstauslöser aufnehmen oder sich von einer anderen Person fotografieren lassen. Im Zusammenhang mit fotografischen Gestaltungsmöglichkeiten wurden – anknüpfend an die Erfahrungen der Teilnehmenden – folgende Dimensionen thematisiert werden: Beleuchtung (Innen, oder Außenaufnahme, frontales Licht oder nicht, Blitz oder ohne Blitz (weichere Formen und Farben)), Hintergrund (ein neutraler Hintergrund lässt die Person am besten zur Geltung kommen), Perspektive (Frosch-, Normal- oder Vogelperspektive: Vogelperspektive: jung, schutzlos, Froschperspektive: mächtig) sowie Schwarz-Weiß (wirkt bei Hautunebenheiten oft besser) und Helligkeit und Kontrast (uneinheitlichen Hautflächen können ausgeglichen werden).
3.3 Projektbeispiele Audio Im Folgenden werden einige Audio-Projekte beispielhaft genannt:
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Ich liebe Dich international: Zwei Kleingruppen treten gegeneinander an. Diejenige Gruppe hat gewonnen, die innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums mehr Sprach-Versionen von „Ich liebe Dich“ gesammelt hat. Zur Überprüfung und Zuordnung der Audioaufnahmen kann auf Internetseiten zurückgegriffen werden (z. B. http://ichliebedich.woxikon.de/). „Unsere Klasse spricht viele Sprachen“: Das Projektkonzept „Unsere Klasse spricht viele Sprachen“ wurde von der Zürcher Radioschule „Klipp & Klang“ entwickelt und gewann 2006 den unicef Orange Award („Preis zur Förderung des interkulturellen Dialogs“).1 Zungenbrecher und Witze in verschiedenen Sprachen stellen den Ausgangspunkt für Audioarbeit und spielerischen Umgang mit Sprachen dar. Das Projekt wurde für schulische Kontexte entwickelt, kann aber auch im Rahmen von Jugendarbeit durchgeführt werden. „Unter Anleitung von Lehrpersonen üben die Kinder zunächst bereitgestellte Beispiele von Zungenbrechern, sammeln dann in ihrer Familie und bei Freunden weitere Zungenbrecher und Witze, präsentieren diese deutschen und fremdsprachigen Ausdrücke in der Schulklasse und erklären ihren Mitschülerinnen und Mitschülern den jeweiligen kulturellen Hintergrund. Auf humorvolle Art erfahren Kinder sprachliche Unterschiede, werden für kulturelle Besonderheiten sensibilisiert und zu einem Gespräch über interkulturelle Verständigung angeregt. Alle neuen Zungenbrecher und Witze werden auf eine Webseite geladen. Dort soll im Laufe der Zeit ein grosses Archiv von Zungenbrechern und Witzen entstehen, das von weiteren Schulklassen genutzt werden kann.“ (http://www.klippklang.ch/projekte/PR_Orange_Award_061122_de.pdf; Zugriffsdatum: 12.3.2008)
Das Projekt kann auf mehreren Stufen durchgeführt werden: Gegenseitiges Lehren und Erklären von Zungenbrechern / Witzen und verschiedene Formen des kreativen und spielerischen Umgangs Zungenbrecher / Witze aufnehmen und anhören Aufgenommene Zungenbrecher / Witze im Internet als „Podcast“ veröffentlichen Vernetzung von zwei oder mehreren Schulklassen, die füreinander Zungenbrecher / Witze produzieren und sich darüber austauschen.2 Am Beispiel dieses Projekts wird im Folgenden aufgezeigt, welche Kompetenzbereiche im produktiven Umgang mit auditiven Medien entwickelt werden können: Sprachkompetenz Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache und mit Fremdsprachen Aussprache und Eloquenz in eigenen und fremden Sprachen trainieren (z.B. „Je cherche Serge.“ (Ich suche Serge), „No, non ho un nonno.“ (Nein, ich habe keinen Grossvater)) Reflexion der eigenen Sprachkompetenzen Wirkung der eigenen Sprache auf andere bewusst machen und weiterentwickeln Potenziale der eigenen Stimme erkunden (laut – leise, schnell – langsam, hoch – tief, betont – unbetont, dialektgefärbt – dialektfrei, deutlich – undeutlich, fröhlich – traurig, emotional – sachlich, Bewusste Strukturierung durch Pausen (vgl. Gutzeit 2003) 1
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In Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Zürich entstand eine Handreichung mit Audio-CD für Lehrpersonen (klipp & klang radiokurse 2007). Sie kann über „klipp & klang radiokurse“ bezogen werden (http://www.klippklang.ch). Vgl. http://www.etwinning.de (Zugriffsdatum: 12.3.2008)
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Medienkompetenz Medienwissen im Bereich Audio/Podcasting Web 2.0 Anwendungswissen für Rezeption und Produktion von Audiobeiträgen (z.B. Podcasts auf iTunes abonnieren, Audiobeiträge gestalten) Manipulationsmöglichkeiten im Kontext von Audio kennen lernen (z.B. verschiedene Aussagen kombinieren und damit neue Bedeutungen produzieren, einzelne Worte ausschneiden und den Sinn entstellen) Interkulturelle Kompetenz / soziale Kompetenz Mehrsprachigkeit wertschätzen lernen Anerkennung für Mehrsprachigkeit erfahren Aushandlungsprozesse in der Gruppe erfahren („mini-democracy“, Buckingham) Feedback geben und empfangen lernen Selbstwirksamkeit erfahren: Stolz auf fertiges Produkt Dezentrierungskompetenz: sich von Außen wahrnehmen / hören
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Ausblick
Interkulturelle Medienarbeit mit Kindern und Jugendlichen kann im Rahmen kleiner, übersichtlicher Projekte realisiert werden, niedrigschwellig sowohl für die Organisatoren, als auch für die Produzierenden (vgl. Maurer 2004). Medienarbeit ermöglicht vielversprechende Lernprozesse für kulturell-heterogene Zielgruppen. Sie bietet ein großes Potential an spielerischen Formen für Spracherwerb und Sprachentwicklung. Abschließend gilt es auf einige medienpädagogische Prinzipien hinzuweisen, die bei der Entwicklung und Anwendung praktischer Medienarbeit in heterogenen Kontexten können verschiedene Dimensionen von großer Bedeutung sein: Subjektorientierung kann bedeuten, Impulse und Ideen der Beteiligten aufzugreifen. An den lebensweltlichen Bezügen der Kinder und Jugendlichen ansetzen (Lebensweltorientierung) kann heißen, zur Veranschaulichung medienästhetischer Gestaltungsmöglichkeiten Videoclips von Musikstücken zu zeigen, die die Kinder und Jugendlichen kennen und mögen. Körperlichkeit und körperbezogene Bedürfnisse berücksichtigen bedeutet in medienpädagogische Angebote, auch das Bedürfnis nach Köperausdruck und körperbezogenem Aktionismus aufzugreifen (z. B. zu selbst mitgebrachter Musik tanzen bzw. vor der Kamera raufen und kämpfen, Fußball spielen oder auch mit der Kamera auf die Straße gehen und Passanten befragen). Anschaulichkeit/Visualisierung kann bedeuten, sprachzentrierte Phasen relativ kurz zu halten, langsam, einfach, anschaulich und deutlich zu sprechen und den Umgang mit Medien nicht nur verbal zu erklären, sondern auch anschauliche Lernmaterialien anzubie-
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ten, die für sich sprechen, z.B. Veranschaulichung der Bildausschnittwahl anhand eines großen Papprahmens (vgl. ebd.). Abbildung 2:
Veranschaulichung der Bildausschnittwahl
Strukturierung bzw. Bedürfnissen nach Strukturierung entgegenkommen kann bedeuten, Aufgabenstellungen für konkrete Kameraübungen auf einem Arbeitsblatt genau zu erklären und zu visualisieren. Minimierung von Frustrationserfahrungen kann bedeuten, gerade in der ersten Phase stärker auf Medienproduktionen zu setzen, die relativ schnell Erfolgserlebnisse und positive Feedbacks möglich machen, geeignete Sozialformen zu finden (z. B. verhindern, dass zu viele Kinder/Jugendliche am Schnittrechner sitzen, Leerlauf vermeiden), beim digitalen Videoschnitt am Computer die zu bearbeitenden Szenen bereits vorher auszuwählen und zu digitalisieren und Schnittprogramme zu verwenden, die die gefilmten Szenen beim Digitalisieren direkt und in der Reihenfolge der Aufnahmen ins Storyboard/Schnittfenster einfügen. So kann ein Film entstehen, in dem unerwünschte Szenen gelöscht werden. Dieses subtraktive Schneiden ist weniger anspruchsvoll als das additive Schneiden, bei dem Szenen gesichtet, ausgewählt und in einer bestimmte Reihenfolge eingefügt werden müssen.
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Abbildung 3:
Peter Holzwarth
Jugendliche filmen vom Dach eines Bankgebäudes
Maximierung von Erfolgserlebnissen/Stärkung des Selbstwertgefühls und der Selbstwirksamkeit kann bedeuten, den Kindern/Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, an ungewöhnlichen und interessanten Orten zu filmen, an denen sie sich sonst nicht aufhalten und die sie nur wegen der Kamera und des Medienprojekts betreten dürfen. motivierende Clips aus dem Material der Kinder zu schneiden, um die Möglichkeiten des Schnitts und die Wirkungskraft der Aufnahmen zu veranschaulichen (vgl. Holzwarth/Maurer 2003). Filmmaterial der Kinder/Jugendlichen zusammen mit (unterschiedlicher) Musik präsentieren, um die Wirkungskraft von Bild und Ton zu veranschaulichen. den Kindern/Jugendlichen eine Videokamera mit eingestelltem Spezialeffekt (z. B. Verwischungseffekt oder Stroboskop) zu geben damit sie ungewöhnliche ästhetische Erfahrungen machen können (vgl. ebd.). dafür zu sorgen, dass die Produzierenden auch Rückmeldungen zu ihrer Arbeit von einem Publikum (Eltern, Freude, Lehrer) bekommen (vgl. Buckingham/Harvey 2003, Holzwarth 2004). vor dem Publikum fertige Filme zu präsentieren, zu kommentieren und Fragen zu beantworten. im Rahmen von Interviews auf der Straße, mit der Kamera auf Leute zugehen und sie zu befragen. Subjekten Raum für eigene mediale Selbstdefinitionen geben kann bedeuten, sie thematisch nicht auf Migration, Anders-Sein oder Exotik einzuengen und sie nicht in ein „Entweder-Türkei-oder-Deutschland-Identifikationsdilemma“ zu bringen. Balance zwischen Produktorientierung und Prozessorientierung kann bedeuten, sowohl die Qualität der Produkte, die für Erfahrungen der Selbstwirksamkeit wichtig ist als auch Lernprozesse in der Gruppe im Blick zu haben und je nach Fall zu gewichten.
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Balance zwischen medienästhetischen Zielsetzungen und pädagogischen Zielen kann bedeuten, Medienarbeit nicht pädagogisch zu funktionalisieren sondern beide Dimensionen (z.B. Wirklichkeitskonstruktion durch Perspektiven und Einstellungsgrößen einerseits und Sensibilisierung für Gewalt andererseits) im Blick zu haben und je nach Zielgruppe zu gewichten. Balance zwischen Öffentlichkeit für Medienproduktionen und Respekt vor der Privatsphäre kann bedeuten, medienpädagogische Projekte verschiedenen Öffentlichkeiten zugänglich zu machen (z.B. Präsentation/Ausstellung im Jugendhaus, im Internet (z.B. Youtube)) und gleichzeitig zu thematisieren, was die Teilnehmenden von sich zeigen wollen und zeigen sollten. Balance zwischen Struktur (Themen und Ausdrucksformen vorgeben) und Offenheit (Themen und Ausdrucksformen wählen lassen) kann bedeuten, je nach Alter, Motivation, Hintergrund und Vorerfahrungen herauszuspüren für welche Aspekte und in welcher Phase im Prozess ein höheres Maß an Strukturierung notwendig ist und in welchen Kontexten Offenheit von den Teilnehmenden ausgefüllt werden kann. Manche Menschen arbeiten gerne mit viel Offenheit, andere benötigen eine stärkere Struktur. Das Bedürfnis nach Struktur und Offenheit kann auch im Projektverlauf variieren. Themen, die lediglich ein Feld vorgeben, das eine individuelle Ausgestaltung erlaubt, ermöglichen beides (Strukturierte Offenheit). Bei thematischen Vorgaben ist darauf zu achten, dass Kinder und Jugendliche eine lebensweltliche Relevanz erkennen können. Tabelle 2: Themen und Ausdrucksformen im Spannungsfeld von Offenheit und Geschlossenheit Thema Ausdrucksform Ausdrucksform offen
Ausdrucksform vorgegeben
Thema ganz offen
Lediglich Vorgabe der Produktionszeit oder Länge des Produktes (z.B. Innerhalb von 2 Tagen soll ein Film von 3 Minuten entstehen) z.B. Close-up-rhythmclip Filmessay zu einem selbst gewählten Thema
Thematischer Rahmen als strukturierte Offenheit z.B. „Jung sein“ oder „Gegensätze ziehen sich an“
Thema konkret vorgegeben
z.B. „Fremdes und fremdes Eigenes“ als Fotoserie
z.B. Mein Tagesablauf als Fotoserie
Fotoserie zum Thema „Blau“
Umfrage „Wie gut integriert fühlen Sie sich?”
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Peter Holzwarth
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IV. Öffentliche und organisatorische Herausforderungen der Nutzung von Medien
Wer sich wie ein Bild macht Ute Straub
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Zum Image der Sozialen Arbeit und des Jugendamtes
Soziale Arbeit hat ein Imageproblem. Obwohl dies schon mit den ersten Modernisierungsschüben in Richtung Dienstleistung in den 1960er Jahren ein Thema war (Image-Studie von Skiba und Bergneustädter Gespräche)1, ist eine angemessene, die Fachlichkeit widerspiegelnde Selbstdarstellung der Profession und eine entsprechende Rezeption in der Öffentlichkeit bislang nicht erfolgt. Unterschiedliche Standpunkte in der Diskussion um Professionalisierung, die unentschiedene Frage nach einer Sozialarbeitswissenschaft, die verschiedenen Schulen der Bezugswissenschaften und die enorme Vielfalt der Praxis – all dies erleichtert es nicht, ein konsistentes Bild von Sozialer Arbeit zu entwerfen und nach außen zu vertreten. In der Sozialen Arbeit spielen Medien in mehrfacher Hinsicht eine Rolle und werden häufig eingesetzt: das Internet bei der Online-Beratung, Videotechnik in der aktiven Medienarbeit in der Jugendarbeit oder Bücher in einer Lesenacht mit Kindern. Es kann um PR (Public Relations)/Öffentlichkeitsarbeit2 gehen, also um aktive Kontaktaufnahme mit jeweils relevanten Teilöffentlichkeiten (u.a. KlientInnen, Bürgerschaft, Politik, Presse und Rundfunk). Schließlich wird Soziale Arbeit selbst zum Thema in den Medien und diese beeinflussen das Fremdbild, das sich „die Öffentlichkeit“3 von der Profession macht. Thema dieses Beitrags sind einerseits das Image der Sozialen Arbeit und der SozialarbeiterInnen und andererseits das des Jugendamtes und der Jugendhilfe. Unter Bezug auf Imagestudien, Befragungen verschiedener Zielgruppen und Analysen von Presseartikeln wird ein „Bild vom Bild der Sozialen Arbeit“ entworfen. Zur Datenlage: Die repräsentativ angelegten Imagestudien (vgl. Skiba 1969, Flösser 1994, DBSH 1999) sind nicht fortgeführt worden , was Rückschlüsse sowohl auf den niedrigen gesellschaftlichen „Marktwert“ als auch auf das geringe Eigeninteresse des Berufsstandes an einer Eigenevaluation zulässt. 1
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Vgl. zu Skiba 1969 s.u.; die „Bergneustädter Gespräche“ waren eine vom Bundesinnenministerium veranstaltete Seminarwoche mit ExpertInnen aus Sozialbehörden, Wohlfahrtsverbänden und Medien zum „Thema Öffentlichkeitsarbeit in der Sozialarbeit“ (vgl. Puhl 2004: 94ff; Bundesministerium 1969) Öffentlichkeitsarbeit und Public Relations (PR) werden weitgehend synonym verwendet, auch wenn sich historisch gesehen PR eher auf den Profit-Bereich bezieht, Öffentlichkeitsarbeit hingegen auch das Kommunikationsmanagement von Non-Profit-Einrichtungen einbezieht. Die deutsche Public Relations Gesellschaft (DPRG) definiert PR wie folgt: „PR sind das bewusste und legitime Bemühen um Verständnis sowie um Aufbau und Pflege von Vertrauen in die Öffentlichkeit auf der Grundlage systematischer Erforschung. PR streben den Interessenausgleich zwischen einander zugeordneten Gesellschaftsbereichen durch Verbesserung der Informations- und Kommunikationsbasis an.“ Zur Definition von PR im Kontext Sozialer Arbeit vgl. Hamburger 2002 und Puhl 2002 „Die Öffentlichkeit“ besteht immer aus Teilöffentlichkeiten: u.a. AdressatInnen, MitarbeiterInnen, PolitikerInnen, SponsorInnnen, MedienvertreterInnen, KollegInnen anderer Einrichtungen, FernsehzuschauerInnen. Im Kommunikationsmanagement muss geklärt werden, wer mit welchem Medium und welcher Botschaft am ehesten zu erreichen ist.
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Mit ihnen kann aber ein Licht auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten geworfen werden, die die Profession bei der Außendarstellung hat. Weitere kleinere Studien sind explorativ angelegt, wodurch allenfalls Tendenzen aufgezeigt werden können, und haben unterschiedliche Foci, was die Vergleichbarkeit erschwert.
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PR in der sozialen Praxis
Die soziale Praxis tut sich schwer im Umgang mit Massenmedien, was auf verschiedene Gründe zurückzuführen ist. Eine über viele Jahre gepflegte mediale Scheu war durchaus beabsichtigt, um sich öffentlicher Kritik und Kontrolle gar nicht erst auszusetzen. Insofern sind die Versäumnisse und Defizite in der Selbstdarstellung zahlreich (vgl. Thiersch 1999: 126ff), obwohl es bis Mitte der 1970er Jahre in engagierten Fachkreisen Bemühungen gab, PR in der Sozialen Arbeit zu institutionalisieren (vgl. Puhl 2004a: 88ff). Ein strukturelles Hemmnis in der Kommunikation zwischen Sozialer Arbeit und Massenmedien sind ihre entgegen gesetzten Funktionslogiken. Zählt für die Medien Tagesaktualität und Ereignischarakter und ist interessant, was von der Normalität abweicht, baut Soziale Arbeit auf Langfristigkeit und Kontinuität (vgl. Hamburger 1999: 91; Straub 2001: 266f). Spektakulär sind allenfalls die Fälle von Kindesmisshandlung und -tötung , auf deren Berichterstattung man in mehrerer Hinsicht gern verzichten würde. Nicht nur, dass es schwierig ist, medienadäquate Aufhänger zu finden, SozialarbeiterInnen müssen immer auch die Interessen ihrer KlientInnen wahren. Personalisierung, Dramatisierung und Skandalisierung als Stilelemente der medialen Berichterstattung verkomplizieren den Balanceakt, den die Fachkräfte ohnehin bewältigen müssen. Sie bewegen sich auf dem schmalen Grad „zwischen dem Bemühen, Personengruppen und ihre problematischen Lebensentwürfe zu entstigmatisieren, andererseits aber genau über die Lebenssituation dieser Personengruppen aufzuklären, um Bedarfe abzusichern, was wiederum die Gefahr der gesellschaftlichen Stigmatisierung in sich trägt“ (Puhl 2004b: 17). Mag für einige die Enthüllung ihrer schwierigen Lebensumstände in den TV-Nachmittagstalkshows den gewissen Kick bringen, so ist es etwas anderes, wenn Personen in der „Obhut“ Sozialer Arbeit ihre Hilfsbedürftigkeit in Berichterstattungen in einer Weise dramatisiert sehen, die sie als beschämend empfinden (vgl. Boettner 2004). Opferschutz, „moralischer Datenschutz“, so zeigt die Praxis, steht häufig dem Bedarf der JournalistInnen nach verwertbaren Informationen über Einzelschicksale und intime Details entgegen (vgl. Kurz-Adam 2009: 25). Sich allzu lautstark mit der Sozialpolitik anzulegen und Kampagnen zum Mittel der Wahl zu machen, um fachpolitische Standpunkte nach außen zu tragen, vermeidet, wer von (knappen) öffentlichen Geldern abhängig ist (vgl. Simon 2005). War unter der gesellschaftskritischen Perspektive der 1960er und 1970er Jahre die „Herstellung von Öffentlichkeit“ in der Sozialen Arbeit ein Weg, um auf Missstände aufmerksam zu machen und sozialpolitische Veränderungen einzufordern (u.a. Gegenöffentlichkeit als Alternative zur „Kultur- und Bewusstseins-Industrie“), wurde ab den 1990er Jahren aus dem proaktiv-offensiven Vorgehen ein reaktiv-defensives. Erst auf negative Schlagzeilen, wie den Vorwurf der Ineffizienz, des Mangels an Durchsetzungskraft und an Konzepten, erfolgen Reaktionen (vgl. Schaarschuch 1999: 38ff). Lösungen für soziale
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Probleme werden am ehesten von der Sozialpolitik angeboten, dann aber weniger unter fachlichen als unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Als Erbe aus der Geschichte Sozialer Arbeit wirkt nach, dass selbstlose Mildtätigkeit, Soziale Mütterlichkeit und Nähe zu hausarbeits- und familiennahen Tätigkeiten nur bedingt zu lautstarker Werbung in eigener Sache taugen. Allenfalls Spendeneinwerbung über „Moral und Mitleid“ hat Tradition (vgl. Hamburger 2002: 756). Ein großer Anteil an der Unsicherheit im Umgang mit Medien ist darauf zurückzuführen, wie PR in der Ausbildung vermittelt wird. Das zentrale Ergebnis einer repräsentativen Studie von Ria Puhl und Ute Straub (2002) ist, dass Öffentlichkeitsarbeit in den Curricula der Fachhochschulen bzw. Fachbereiche für Soziale Arbeit flächendeckend angeboten wird und als Merkmal von Professionalität einen hohen Stellenwert besitzt. Doch beschränkt sich die Vermittlung von PR in der Lehre entweder auf die technisch-methodische Seite der Öffentlichkeitsarbeit (Verfassung von Pressetexten, Adressenverwaltung, Lay-Out) oder darauf, sie als Instrument für Sozialmanagement, Sponsoring und Fundraising einzusetzen. Diese einzelnen Bereiche werden in einer gewissen Beliebigkeit als isolierte Versatzstücke angeboten, ohne dass Öffentlichkeitsarbeit als dialogorientiertes, systematisch geplantes Kommunikationsmanagement in Erscheinung tritt. Eine Betrachtung auf der Meso- oder Makroebene, nämlich wie soziale Themen in den Medien dargestellt werden und welche Rückwirkung dies auf die Soziale Arbeit hat, zielgruppenorientierte Kommunikation nach innen und mit KlientInnen, Vernetzung und Kontaktpflege, Interessenvertretung der eigenen Berufsgruppe und die Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit werden nur in Ausnahmen vermittelt (ein Konzept für Öffentlichkeitsarbeit in der Lehre vgl. ebd.: 57). Untersuchungen zur (Einstellung zu) PR in sozialen Einrichtungen, die im Abstand von gut zehn Jahren erstellt wurden (vgl. Puhl 1994, Buestrich/Gützlaff 2006), zeigen wenig Dynamik. PR in sozialen Einrichtungen, besonders in Behörden, ist oftmals schwerfällig und wird überwiegend als Marketinginstrument verstanden. Es mangelt an langfristiger Planung, Konzeptionen und adäquat ausgebildeten MitarbeiterInnen. Gleichwohl ist Öffentlichkeitsarbeit integraler Bestandteil und wird mit „engagiertem Voluntarismus“ betrieben. Doch kann aus einer Befragung von Enders (2007) von neun Großstadtjugendämtern ausschnittweise eine positive Tendenz in Richtung Kommunikationsmanagement abgelesen werden. Die Mehrheit ist in den Medien präsent und betreibt PR aktiv und kontinuierlich, einige präsentieren ihre Angebote umfangreich und verständlich im Internet. Die Darstellung der vielfältigen Leistungen gelingt, wenn auch in vielen Fällen nur ereignisbezogen (vgl. ebd.: 65).
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Warum PR in der Sozialen Arbeit?
Es gibt viele gute Gründe, warum Soziale Arbeit in den Dialog mit der Öffentlichkeit treten sollte. Soziale Arbeit hat einen öffentlichen Auftrag und operiert im öffentlichen Raum. Körperschaften des öffentlichen Rechts haben eine Informationspflicht, u.a. gegenüber JournalistInnen, die eine Rolle als objektivierende VermittlerInnen gegenüber der Öffentlichkeit spielen. Als Dialog mit den BürgerInnen ist Öffentlichkeitsarbeit ein ureigenes Handlungsfeld sozialer Arbeit (vgl. u.a. Puhl 1998: 68) und Voraussetzung dafür, sich an
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der Meinungsbildung über soziale Veränderungsprozesse beteiligen zu können (vgl. Bader 2005). Die Jugendhilfe ist nach dem KJHG, ihren Handlungsmaximen (wie Partizipation und Ko-Produktion) und ihrer Struktur (bspw. dem Jugendhilfeausschuss) eine Institution, die vielfältig kooperiert (vgl. Santen/Seckinger 2003). Gute Öffentlichkeitsarbeit ist also Beziehungspflege, „Beziehungsarbeit mit der Öffentlichkeit“ (vgl. Straub 2001). Damit wird das Fremdbild mitbestimmt. Wie entsteht nun Image? Nach systemischen wie konstruktivistischen Ansätzen der Kommunikationstheorie dient PR der Imageexplikation in der System-Umwelt-Interaktion oder intentionaler Konstruktion erwünschter Wirklichkeiten (vgl. Hoffjann 2008: 77ff). Image wird definiert als ein konsonantes Schema kognitiver und emotional bestimmter Strukturen, das der Mensch von einem Objekt (Person, Organisation, Produkt, Idee, Ereignis) entwirft (vgl. Merten/Westerbarkey 1994). Dies kann durch unmittelbare Wahrnehmung bestimmter Eigenheiten oder Relationen des Objektes zu anderen Objekten selbst geschehen oder durch die Information anderer Personen oder Medien über das Objekt. Images brauchen Zeit und Wiederholungen (bspw. ständig erneuerte Botschaften), um sich herauszubilden und zu verfestigen. Sie sind jedoch weder objektiv noch statisch, sondern – wie die Öffentlichkeit, in der sie erzeugt und diffundiert werden – instabil. Da Erfahrungen zunehmend durch Medien vermittelt werden, beruhen Images vor allem auf medial vermittelten Wahrnehmungen (vgl. Merten/Westerbarkey 1994: 206ff). Im Kontext von PR wird „Imagebildung“ als zentrale Zielkategorie angesehen und bereits in den Klassikern der PRPraktiker werden „Werbung um Vertrauen“ und „Aufbau positiver Images“ benannt (vgl. Faulstich 2001: 14).
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Das Image der Sozialen Arbeit und der SozialarbeiterInnen
Die Sandalen des Guten. Ortstermin: In München tüfteln die Sozialarbeiter der Welt an der Veredelung des Menschen.(Spiegel 32/2006: 72) Thema ist der Weltkongress Sozialer Arbeit, der anlässlich des 50-jährigen Bestehens der International Federation of Social Workers (IFSW) am Gründungsort München im August 2006 stattfand. Rund 1500 KollegInnen aus aller Welt nutzen um die 600 Angebote an Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Workshops, um sich zu informieren, auszutauschen, Netzwerke aufzubauen und sozialpolitische Positionen zu entwickeln: Die SozialarbeiterInnen, so Spiegel-Autor Jochen-Martin Gutsch „tüfteln“, versuchen, mit einer bunten Palette von Ansätzen und zweifelhaften Erfolgsaussichten weltweit Menschen zu helfen: Maltherapie zur Traumabewältigung bei Tsunami-Überlebenden oder Rollenspiel im Kongo zur Konfliktlösung bei Paaren, in denen die Frauen nach einer Vergewaltigung von ihren Männern verstoßen wurden. Viele kleine Hilfsmaßnahmen gegen gigantische globale Probleme. Werden der Profession vom Autor gar Allmachtsphantasien unterstellt? „Maltherapie hilft sehr schnell. Maltherapie hilft Traumapatienten, Opfern von Naturkatastrophen und Vergewaltigungen, HIV-Patienten, Drogenabhängigen, Leuten mit Sprachbarriere und emotionsgestärten Männern. Eigentlich jedem. Vielleicht sind nur die Probleme groß und die Antworten klein“. Zumindest SozialarbeiterInnen scheinen nach Auffassung von Gutsch dieser Meinung zu sein: „Ihre Waffen sind so winzig, sie wollen
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malen und reden und damit das Böse bezwingen“. Reden ist wichtig in diesem Beruf und Sozialarbeiter sind wortgewaltig, wenn sie auch in einer Art Parallelgesellschaft etabliert sind: „Worte rollen durch den Raum: Assoziation, Träume, Seele, Befreiung, BodyFeelings, Group Support. Alles gute Worte, Hoffnungsworte, geboren in der Sozialarbeiterwelt“. Und diese Worte haben etwas Sakrales: „Es geht immer weiter, sagen die Worte, auch nach einem Tsunami, auch wenn du alles verloren hast, auch wenn alles schwarz ist“. Bemerkenswert findet der Autor auch den mit Zetteln behängten „Wunschbaum“. „Wahrscheinlich gibt es keine andere Berufsgruppe, die Wunschbäume aufstellt auf ihren Tagungen“ mutmaßt Gutsch und auch das Schuhwerk scheint ihm professionstypisch: „Viele Konferenzteilnehmer tragen Sandalen. Sandalen sind die Besohlung des Weltgewissens“ (siehe Titel). Und wie werden die Fachkräfte vom Autor charakterisiert? „Sozialarbeiter gehen in die Ecken der Welt, in die sonst niemand will, sie sind unentbehrlich, werden lausig bezahlt, sie bringen die Dinge in Ordnung, die unser schönes Erste-Welt-Leben in der Dritten Welt hinterlässt.“ Zum Schluss bemüht Gutsch das Bild des missionarisch beseelten Gutmenschen: „Sie laufen von einem Raum in den nächsten, von einem Weltproblem zum anderen. Kinderarmut, sexuelle Gewalt, Drogen, Rassismus. Es hört nie auf.... Man kann sagen, es hat sich nichts getan (seit dem Kongress vor 50 Jahren, Anm. d. V.). Der Mensch ist schlecht, dunkel und verloren. Man kann aber auch sagen, dass es glücklicherweise ein paar Leute gibt, die daran arbeiten, ihn besser zu machen“. Die erste Public Image-Studie darüber, wie Soziale Arbeit und SozialarbeiterInnen von außen wahrgenommen werden, erstellt Skiba (1969) in den Jahren 1963/64. Skiba weist nach, dass es dem Berufsstand nicht gelungen ist, das Image eines Nachfolgeberufes von Armenvogt und Armenpfleger abzuwerfen und wirft ihm vor, durch eigene Konzeptionslosigkeit und unzureichende Profilierung wenig dazu beigetragen zu haben, „dem Bild von einem primär restaurativ wirkenden Beruf entgegenzuwirken“ (ebd: 231). Soziale Arbeit wird von fast Dreiviertel aller Befragten als Frauenberuf angesehen, u.a. weil Frauen mit ihrer stärkeren Gefühlsbetontheit besonders dafür geeignet seien. Das führt weiter zu der Annahme, dass in der Sozialen Arbeit „insgesamt dem Gefühl als Handlungsprinzip ... der Vorzug gegeben wird“ (ebd.: 226). Hartnäckig hält sich auch die klischeehafte Meinung, Sozialarbeit sei „kein Beruf wie jeder andere“, weil die Arbeit als besonders schwer und aufopferungsvoll gilt und ein besonderes hohes Maß an Idealismus erfordere. Die Orientierung an Idealen findet zwar gesellschaftliche Anerkennung, gilt aber als berufliches Leitbild für überholt. Somit tendiert das Image der SozialarbeiterInnen ins Antiquierte und Unmoderne (vgl. ebd.: 227). Diese Ergebnisse werden im Wesentlichen in der vom Deutschen Berufsverband für Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und Heilpädagogen (vgl. DBSH 1999) in Auftrag gegebenen Nachfolgestudie 30 Jahre später bestätigt. Ein klassischer Imagetest zur Einschätzung der Sozialen Arbeit, ihrer Institutionen und nicht zuletzt der SozialarbeiterInnen zeigt, dass Soziale Arbeit in der Bevölkerung in erster Linie als Hilfeangebot in besonderen Lebenslagen und als Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte verstanden wird. Der Aussage „Ich bewundere den Einsatz von Sozialarbeitern für die Sache der Schwachen und Benachteiligten” stimmt eine überwältigende Mehrheit der Befragten zu. Allerdings liegt die Bedeutung Sozialer Arbeit nicht darin, anwaltschaftlich für verschiedene Zielgruppen aktiv zu
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sein oder aufgrund von Fachkompetenz bei sozialpolitischen Themen mitzubestimmen, sondern in der „Vermeidung sozialer Konflikte, der Milderung der Folgen des Konkurrenzkampfes in der Gesellschaft und der Vermeidung von Kriminalität” (DSBH 1999: 2). Hier bestätigt sich die bereits von Skiba identifizierte sozialstabilisierende Funktion. Ebenfalls unverändert ist die ambivalente Einstellung in der Bevölkerung. Soziale Arbeit wird einerseits als notwendig erachtet und die Fachkräfte sind für ihre Arbeit in hohem Maße anerkannt. Die AdressatInnen allerdings werden überwiegend diskreditiert, was wiederum Rückwirkungen auf das Fremdbild der Profession hat (vgl. auch Hamburger 2002: 767). Nun hat sich Soziale Arbeit in der Zeit zwischen den Studien stark verändert, angefangen von gesetzlichen Neuerungen wie dem KJHG, über theoretische Fachdiskurse wie den um Sozialarbeitswissenschaft und konzeptionelle Ansätze, bei denen Partizipation und Ressourcenorientierung im Vordergrund stehen, bis hin zu einer Praxis, die quantitativ und qualitativ gewachsen ist und die sich zunehmend professionalisiert hat. Davon scheint in der Öffentlichkeit wenig angekommen zu sein, wie weitere Untersuchungen mit unterschiedlichen Foci zeigen. Eine Analyse der Darstellung Sozialer Arbeit in Lokalpresse und überregionalen Tageszeitungen der Projektgruppe Öffentlichkeitsarbeit am Pädagogischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zeigt, dass hauptsächlich über Tagesaktivitäten berichtet wird, kontinuierliche Leistungen aber wenig erscheinen (vgl. Projektgruppe 1997: 20). Wird über Angebote der Kinder- und Jugendarbeit berichtet, so werden diese „in den Funktionskreis wohltätiger Freizeitarbeit eingeordnet, deren methodisches Anspruchsniveau unter die Ebene professioneller Standards gerückt ist“. Aufhänger ist weniger die Arbeit an sich als die Imagewerbung Dritter wie der Einsatz von KommunalpolitikerInnen für eine Initiative oder die Schecküberreichung einer Firma (vgl. ebd.: 29). Die Vermittlung zwischen der Sozialen Arbeit und der Öffentlichkeit übernehmen die JournalistInnen, deren Sichtweisen Einfluss auf die Berichterstattung haben. Nach dem konstruktivistischen Framing-Ansatz in der Kommunikationstheorie wird angenommen, dass JournalistInnen Informationen aufgrund eigener kognitiver Vorstellungen und redaktioneller Erwartungen auswählen und strukturieren. Diese schlagen sich als Interpretationsrahmen in Bild- oder Textform niederschlagen und legen den RezipientInnen bereits eine bestimmte Deutung nahe (vgl. Scheufele 2003). Eine Untersuchung von Gurzeler und Landergott (2006: 2) bestätigt, dass unter anderem die Auswahl der GesprächspartnerInnen oder die Gewichtung der Aussagen vom subjektiven Bild der Schreibenden abhängen. Es wurden sieben JournalistInnen von Schweizer Zeitungen befragt, die über ein breites Wissen zu den verschiedenen Tätigkeitsfeldern Sozialer Arbeit verfügen, da sie entsprechende Themen häufiger behandeln. Doch selbst bei dieser Gruppe ist das althergebrachte Bild unverändert: die Befragten sehen die Einzelfallarbeit und den Auftrag, Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, im Vordergrund. In ihrer Wahrnehmung ist die Professionalität der SozialarbeiterInnen unterbelichtet, so „dass in der Kooperation mit anderen Berufsgruppen wie Ärzten und Psychologen sozialarbeitswissenschaftlichem Wissen wenig Gewicht beigemessen wird. Hingegen sind aus der Sicht der JournalistInnen Sozialtätige auf Informationen aus anderen Berufsgruppen angewiesen“ (Gurzeler/Landergott 2006: 3, zu den Erwartungen von MedienvertreterInnen an die Kommunikation mit sozialen Organisationen vgl. Konken 2009, Baumbusch 2002).
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Festzuhalten ist, dass es der Sozialen Arbeit in vier Jahrzehnten nicht gelungen zu sein scheint, sich von dem Bild einer wenig professionalisierten „Hilfstätigkeit“ – sowohl im Hinblick auf die AdressatInnen als auch auf die Bezugsdisziplinen – zu befreien. Das Missverhältnis zwischen internen, grundlegenden Veränderungen und öffentlicher Wahrnehmung ist eklatant. An der Ambivalenz des Images hat sich wenig geändert: Soziale Arbeit genießt eine hohe Reputation als Konflikte mindernder und unverzichtbarer Bestandteil des Gemeinwesens, wird aber im Hinblick auf Professionalität gering geschätzt, wobei die wissenschaftliche Fundierung und der spezifischer Methoden-Kanon ignoriert werden. Im Folgenden wird die öffentliche Wahrnehmung des Jugendamtes wiederum am Beispiel eines Zeitungsartikels als einer zentralen Institution der Sozialen Arbeit in den Blick genommen.
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Das Image des Jugendamtes
„Alle murksen vor sich hin“. Stirbt wieder mal ein Kind -verhungert, von den Eltern getötet-, dann fragen wir uns: was machen die eigentlich im Jugendamt?Tenor dieses Artikels ist, dass die Jugendämter ihren primären Aufgaben, allem voran dem Kinderschutz, nicht gerecht werden (können), da die MitarbeiterInnen aufgrund des Subsidiaritätsprinzips nicht ausreichend Einblick in die Familien bekämen. Lange waren Jugendämter kein Thema in den Medien, arbeiteten eher im Verborgenen, doch: „Seit Kevin sind wir wer“ (ein Mitarbeiter des Jugendamtes Bielefeld). Mit jedem getöteten Kind stünden die Jugendämter erneut im Scheinwerferlicht. Die 600 Jugendämter in Deutschland sind, da in kommunaler Zuständigkeit, unterschiedlich organisiert. Hinzu kommt, so der Autor Walter Wüllenweber, das „Casemanagement“ das Amt von den Familien fern hält. „Das Jugendamt trifft die Entscheidungen und zahlt. Die eigentliche Sozialarbeit wird nicht vom Staat geleistet sondern von Unternehmen. Vom freien Markt. Im Bürokratendeutsch heißen diese Unternehmen ‚Leistungserbringer’. In vielen Kommunen wird erbittert darüber gestritten, ob der öffentliche Nahverkehr oder die Müllabfuhr von der Privatwirtschaft übernommen werden darf. Doch eine der sensibelsten Aufgaben der staatlichen Handelns überhaupt, der unmittelbare Eingriff in die Intimsphäre der Familien, ist in Deutschland komplett privatisiert“. Die Delegierung an freie Träger hat zur Folge, dass deren MitarbeiterInnen mehr Einblick und damit eine höhere Entscheidungskompetenz als das Amt haben. Nun sind die ökonomischen Ziele des Trägers, des Jugendamtes oder der Familie nicht unbedingt identisch. Welches Interesse soll ein Leistungserbringer haben, einen Fall früher abzugeben, als frühestens beim nächsten Hilfeplangespräch nach einem halben Jahr, selbst wenn es sich herausstellt, dass die Krise nur kurzzeitig war? Nach der Recherche von Wülleneber geben einige freien Träger ihren MitarbeiterInnen Anweisungen, niemals einen Auftrag zurückzugeben. Gleichzeitig „...hat sich in Deutschland eine regelrechte Kinder- und Jugendhilfeindustrie entwickelt. Die Mitarbeiter in den Jugendämtern ersticken in Werbebroschüren und -Mails von Einrichtungen“, ebenso Kindergärten und Schulen, von wo aus dann teure Maßnahmen beim Jugendamt beantragt werden. Außerdem: Zu wenig Zeit, zu viele Fälle – dies führt dazu, dass Jugendamtsmitar-
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beiterInnen (meist wirkungslose) Überlastungsanzeigen schreiben, so der Artikel. Immer weniger würde in Prävention investiert, immer mehr in Rehabilitation. „... wenn viele Jugendämter nicht einmal in der Lage sind, ihre Pflicht zu erfüllen, wie sieht es dann wohl mit den Aufgaben aus, die sinnvoll und notwendig sind, zu denen die Kommune aber nicht absolut verpflichtet ist?“ Wie für Soziale Arbeit allgemein, existiert auch für die Jugendhilfe eine repräsentative Public Image-Studie, durchgeführt von Flösser (1994) an der Universität Bielefeld mit folgenden Ergebnissen: Der schon 1961 im Zuge der Novellierung des Jugendwohlfahrtsgesetzes eingeführte Begriff „Jugendhilfe“ hat kaum Eingang in den alltäglichen Sprachgebrauch gefunden, statt dessen ist „Jugendamt“ die gängige Metapher (vgl. ebd.: 52). Ein überraschend hoher Anteil kann mit Jugendhilfe keine konkretisierten Problemlagen verbinden, sondern nennt unspezifische Hilfeleistungen wie „allgemeine Hilfe, Förderung, Unterstützung“. Jugendhilfe wird nicht im Kontext mit den Organisationsformen sozialer Hilfe genannt. Auch als sozialpolitische, in einen rechtlichen Rahmen eingebundene Dienstleistung verfügt sie über einen nur geringen Bekanntheitsgrad. Innovative Konzepte sind unbekannt, was sich ebenfalls bei der Abfrage des Leistungsspektrums der Jugendhilfe ergibt. Auch hier fällt der ausgeprägte Problembezug auf und „konkreter genannte Problemlagen, die als Gegenstandsbereich der Jugendhilfe genannt werden, bleiben eng einem konventionellen Interventions- und Handlungsspektrum verbunden“ (ebd.: 55). Zehn Jahre später bestätigt eine explorative Studie von Straub (2004) zur Präsenz des Begriffes Jugendhilfe in der Lokalpresse dieses Ergebnis aus einer anderen Perspektive. Ausgangspunkt war die These, dass bei den lokalen JournalistInnen ein hohes Maß an Vorverständnis und Kenntnissen der örtlichen sozialen Einrichtungen vorausgesetzt werden kann, was zu einer fundierteren Darstellung der Dienstleistungen der Jugendhilfe führen müsste. Diese Annahme wurde nicht bestätigt: Obwohl es in allen Artikeln um nichts anderes als Kinder- und Jugendhilfe geht, bleibt sie als Begriff in achtzig Prozent der Artikel ungenannt, in den anderen Fällen erscheint sie in untergeordnetem Kontext. Der Gegenstandsbereich der Jugendhilfe wird auf wenige Ausschnitte beschränkt, vor allem Kindertagesbetreuung und offene Jugendarbeit, hier besonders die Ferienangebote im Sommerloch (vgl. Projektgruppe 1997: 7; Hamburger 1999: 88). Das breite Leistungsspektrum wird in unzusammenhängenden Einzelaktionen und -angeboten präsentiert. Darüber hinaus ist es für die LeserInnen schwer nachvollziehbar, in welchem institutionellen Rahmen die dargestellten Angebote und Maßnahmen stehen und auf welcher gesetzlichen Grundlage die Einrichtungen arbeiten. So bleibt undurchschaubar, dass der Ausflug der Kindergartengruppe zur Feuerwehr, die Basketball-Nite im Jugendhaus und die angekündigte Sitzung des Jugendhilfeausschusses irgendetwas miteinander zu tun haben. Darüber hinaus ist die polarisierte Darstellung der Leistungen und Aktivitäten des Jugendamtes auffallend, die zwischen „Verharmlosung“ und „Skandalisierung“ wechselt (vgl. Straub 2005). Steht Verharmlosung zum Teil im Zusammenhang mit der „Normalisierung“ Sozialer Arbeit vor allem bei Aktivitäten im Rahmen von Kinderbetreuung und (offener) Jugendarbeit, so wird das Jugendamt eher als Eingriffsbehörde angesprochen und die (nicht) erfolgenden Interventionen werden negativ konnotiert. Diese Unterscheidung findet sich auch im Hinblick auf die Berichterstattung in regionalen und überregionalen Medien. Regional wird eher kontinuierlich und positiv oder neutral über die Arbeit des Jugendamtes
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berichtet, überregional vervielfachen sich die Pressemeldungen dann, wenn Einzelfälle dramatisiert werden können. Dies belegt eine Studie von Enders (2007) zur Berichterstattung über das Jugendamt in den Online-Ausgaben von Printmedien im Kontext des Falls Kevin. Das Versagen des Jugendamtes steht im Vordergrund und – unabhängig davon, ob ein strukturelles Systemversagen oder die Fehlleistungen einzelner Personen dafür verantwortlich gemacht werden – es wird ein Bild von einem Amt gezeichnet, das nicht aktiv oder inadäquat aktiv bzw. überfordert ist (vgl. Enders 2009: 83). Positiv gezeichnete Personen, deren Glaubwürdigkeit im Gegensatz zu der des Amtes nicht in Frage gestellt wird (Heimleiter, Polizisten und der Bürgermeister von Bremen), werden kontrastierend eingesetzt, um die Kritik am Jugendamt noch deutlicher werden zu lassen (vgl. ebd.: 83). Andererseits wird auch die mögliche Konsequenz, Kinder früher aus den Familien herauszunehmen, negativ dargestellt. In wenigen Artikel wird über den Zusammenhang von Kinderschutz und Familienunterstützung aufgeklärt, dann aber nicht von SozialarbeiterInnen, sondern vor allem von fachfremden Personen (vgl. Enders 2007: 35, vgl. Straub 2004: 33f). Im Kontext der Verbreitung bestimmter Sichtweisen durch (neue) Medien ist interessant, dass Zeitungswebsites häufig weitere Links zu dem Thema anbieten und dadurch einen Verstärkungseffekt erreichen. Nicht zu unterschätzen bei der Bildung von Images sind Selbsthilfeforen wie die „Initiativgruppe Jugendamtsgeschädigter“. Ein Spotlight darauf, wie die (Mannheimer) BürgerInnen „ihr“ Jugendamt sehen, wirft eine Befragung von 110 Personen von Ensinger/Haiss/Winterer (2008). Nur acht Prozent geben an, viel Wissen über die Einrichtung zu haben, wobei die gleich häufig genannten Informationsquellen Zeitung und Fernsehen deutlich an erster Stelle stehen. Ein Drittel hat ein positives Bild und von denjenigen, die angeben, selbst Kontakt mit dem Jugendamt gehabt zu haben, ist die Hälfte mit der Zusammenarbeit zufrieden. Nachdem die Befragten ihr Wissen durch ein Informationsblatt über die Leistungen des Jugendamtes erweitern konnten, hat sich bei der Hälfte derjenigen, die zuvor ein schlechtes Bild hatten, die Sichtweise zum Positiven verändert. Wenn die Aussagekraft auch begrenzt ist, so kann festgehalten werden, dass sich die Bewertung durch geeignete Aufklärung verbessern lässt. Bislang kaum berücksichtigt wird dass Image des Jugendamtes bei der primären Zielgruppe, den AdressatInnen selbst. Eine Umfrage, ob die Qualitätsentwicklung im Sozialen Dienst auch von den KlientInnen wahrgenommen wird, hat die Stadt Mannheim durchführen lassen (vgl. Forschungsgruppe Kundenbefragung der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen 2002) und zwar getrennt zu Trennungs- und Scheidungsberatung, Erzieherischen Hilfen und Eingriffen in die elterliche Sorge. Unterschiedlich hohe Anzahlen bei den Befragten und bei den Rückläufen der Fragebögen lassen keine Vergleichbarkeit zu. Bemerkenswert ist, dass die Beratung bei Trennung und Scheidung bei der Bewertung am schlechtesten abgeschnitten hat und dennoch die Hälfte die Beratung weiterempfehlen würde. Hieraus lässt sich folgern, dass Eltern und SozialarbeiterInnen unterschiedliche Bewertungslogiken in die Beratungssituation einbringen, was stärker berücksichtigt werden muss. Bemerkenswert positiv ist das Ergebnis bei den erzieherischen Hilfen: vier Fünftel fühlen sich ernst genommen und zwei Drittel zeigen sich mit den erarbeiteten Lösungen zufrieden. Selbst bei den Eingriffen in die elterliche Sorge (die Befragten lebten überwiegend mit den eigenen Kindern in einem Haushalt und hatten bereits andere Leistungen der Jugendhilfe in Anspruch genommen) und in den Fällen der Herausnahme des Kindes wurde
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die vom Jugendamt getroffene Entscheidung von zwei Dritteln als richtig angesehen. Insgesamt ist eine positive Grundstimmung gegenüber den Professionellen zu konstatieren. Wichtige Anregungen für die Praxis gehen von der Tagung „Das Jugendamt im Spiegel der Medien“ (Deutsches Institut für Urbanistik, April 2009) aus. In einer Art Neuauflage der Bergneustädter Gespräche versammelten sich VertreterInnen von Jugendämtern, der Polizei und der Medien, um sich über die unterschiedlichen Ansätze und Arbeitsbedingungen der Akteurinnen, aber auch die Ansatzpunkte für Kooperation auszutauschen. Einige Jugendämter beginnen, wenn auch nicht ganz freiwillig, sondern auf Grund öffentlichen Drucks, Konzepte für Informationsmanagement und Krisen-PR zu entwickeln, in der Ablauf, Zuständigkeiten und Strategien festgelegt sind (Beispiele für Best Practice sind die Jugendämter der Stadt München, Stuttgart und der ASD Leipzig, vgl. Institiut für Urbanistik 2009). Deutlich wurde, dass ein Verständnis von Öffentlichkeitsarbeit weit von reaktivem Krisenaktionismus entfernt ist und auf dialogische Kommunikation gesetzt wird.
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Fazit
Wie in den zur Illustration herangezogenen Artikeln abzulesen ist, wird hinter der sozialen Praxis eher ein „Murksen“ und „Tüfteln“ vermutet, als eine fachlich fundierte Handlungsweise. SozialarbeiterInnen wirken weltfremd und inkompetent und schlimmstenfalls vernachlässigen sie ihre eigentlichen Aufgaben. Sicherlich können diese beiden Magazinbeiträge nicht verallgemeinert werden und wie sich aus den einzelnen Studien schließen lässt, bestätigt sich auch für die Soziale Arbeit, dass die veröffentliche Meinung nicht unbedingt mit der (teil-)öffentlichen Meinung übereinstimmt. Und zweitens: Der Blick auf das Image der Sozialen Arbeit ist (noch) Stückwerk aus unterschiedlich fokussierten, repräsentativen und explorativen Studien. Nachweisen lässt sich, dass sich das Image der Sozialer Arbeit und der Jugendhilfe über vier Jahrzehnte kaum verändert hat. Problemanalysen gibt es zahlreiche, wesentlich ist nun die Frage, welche Strategien entwickelt werden müssen, damit die Veränderungen (in) der Sozialen Arbeit „draußen“ wahrgenommen werden und wie sich der Berufsstand in der Triade von Sozialer Arbeit, AdressatInnen und Öffentlichkeit positionieren kann. Festzuhalten ist, dass für die Thematisierung sozialarbeiterischer Themen Kriterien entwickelt werden müssen, die nicht blind den Gesetzen der Medien nachempfunden sein können (vgl. Puhl 2004b). Ratschläge, wie mit den Medien umzugehen ist, reichen von der Kontinuität der Kontakte und der differenzierten Berücksichtigung der unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten/Zielgruppen über die Herausstellung der zivilgesellschaftlichen Aspekte der Sozialen Arbeit gegenüber den staatlich-repressiven bis hin zu einer gut strukturierten Krisen-PR. Eine immer wieder zu vermittelnde Botschaft im Sinne von langfristiger Imagebildung muss sein, dass die ethischen Grundlagen Sozialer Arbeit und damit auch ihre Handlungslogik einerseits die Bereitschaft beinhalten, der Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit nachzukommen, auf der anderen Seite aber anwaltschaftlichem Eintreten für die AdressatInnen und dem Schutz ihrer Daten verpflichtet sind. Ich möchte an dieser Stelle auf eine bislang nur punktuell diskutierte Perspektive aufmerksam machen: Die Art der Kommunikation mit den einzelnen Zielgruppen, die Präsentation von Sozialer Arbeit als Dienstleistung und die Demonstration sozialpolitischer Fach-
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kompetenz erfordern eine Erweiterung der Medienpräsenz. Die Mediatisierung Sozialer Arbeit in TV-Talk-Runden und Doku-Soaps ist nicht zu übersehen. Andere Professionen bemächtigen sich dort der Arena des Sozialen Feldes (vgl. Meyer 2004). SozialarbeiterInnen sind unter anderem deshalb wenig präsent, weil sie besonders die Formate im Privatfernsehen zu Recht kritisieren und als Bezugsfeld ablehnen. Doch die RezipientInnen bilden sich (nicht nur im „Unterschicht-Fernsehen“) ihre Meinung. Hier werden Images gemacht. Und so stellt sich nachdrücklich die Frage, in welcher Form eine Einmischung unter Beachtung der Risiken möglich ist. Wie kann zum Beispiel eine Kooperation mit professionellen MedienmacherInnen als Win-Win-Situation gestaltet werden, um präventive Arbeit oder eine sozialpolitisch orientierte Kampagne zu unterstützen? Das Internet ermöglicht eine Präsentation von Angeboten aber auch interaktive Kommunikationen. Nicht nur im Sozialmanagement oder der traditionellen Online-Beratung machen die sogenannten neuen Medien Sinn (vgl. Karsten 1999). Sie ermöglichen Formen der Partizipation, die bisher kaum genutzt sind (vgl. Klein in diesem Band), zum Beispiel in Chat-Rooms mit Adressatinnen. Jugendserver oder Netz-Communities junger Menschen bieten sich zur Verlinkung oder zur Präsentation aktueller Informationen an. Ein Beispiel aus den Niederlanden ist das Einbeziehen von Familien-Home-Pages in der Familienhilfe (vgl. Straub 2009: 41). Hier besteht ein enormes Entwicklungspotential, um sozialarbeiterische und sozialpädagogische Themen, Leistungen und Angebote „unters Volk“ zu bringen. Für die Imageexplikation sind stringente Strategien des Kommunikationsmanagements zweifelsohne unerlässlich, aber ein wenig Phantasie kann nicht schaden. Literatur Bader, C. (2005): Was kann Öffentlichkeitsarbeit angesichts der sozialen Umbrüche und des gesellschaftlichen Wandels zur Gemeinwesenentwicklung beitragen? Überlegungen zu Aufgaben, Funktionen und Leistungen einer Öffentlichkeitsarbeit im Kontext Sozialer Arbeit. In: Sozial Extra 29, 2/3, S. 7-10. Baumbusch, K. (2002): Die Journaille. Die Sozialarbeit aus der Sicht einer Lokalredakteurin. In: Sozialmagazin 27, 7/8, S. 28-29. Boettner, J. (2004): Öffentlich oder diskret: Klienten zwischen Scham und Selbstdarstellung. In: Sozialmagazin 29, 4, S. 18-24. Buestrich, M./Gützlaff, K. (2006): „Muddling through“. Eine Momentaufnahme der betrieblichen Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Einrichtungen. In: Sozialmagazin 31, 5, S. 40-46. Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Zum Thema: Öffentlichkeitsarbeit in der Sozialarbeit. Bergneustädter Gespräche. Bonn 1969. Deutscher Berufsverband für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik (DBSH) (o.J., erschienen 1999): Die Zustimmung zur Sozialen Arbeit ist höher, als von der Politik vermutet. Erste Ergebnisse einer empirischen Befragung zum Stellenwert der Sozialarbeit in der Bevölkerung und Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse. Essen. Enders, S. (2007): Das Jugendamt im Spiegel der Medien – explorative Studie zu Medienpräsenz und Öffentlichkeitsarbeit. Koblenzer Schriften zur Sozialpädagogik. Universität Koblenz-Landau. Enders, S. (2009): Das Jugendamt im Spiegel der Medien. Aktuelle Forschungsergebnisse. In: Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.): Das Jugendamt im Spiegel der Medien. Hilfen und Hinweise im Umgang mit Medien/ Krisenmanagement. Dokumentation der Fachtagung am 23. und 24. 4. 2009 in Berlin. Berlin, S. 71-86. Faulstich, W. (2001): Grundwissen Öffentlichkeitsarbeit. München.
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„Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“ Oder: Zur Konstruktion des sozialpädagogischen Falles in computerisierten Arbeitsumgebungen1 Thomas Ley 1
Einleitung
Im Jahr 1882 schreibt der kurzzeitig erblindete Friedrich Nietzsche an seinen Sekretär Heinrich Köselitz kurz nach dem Eintreffen einer Schreibkugel – einem Vorläufer der Schreibmaschine – folgende Worte: „SIE HABEN RECHT – UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN“ (Nietzsche 2002: 18). Illustriert wird damit – schon in den Anfängen der Mediengeschichte – die Ko-Konstitution von Arbeit und Technik auf der einen und die Konstruktion dessen Gegenstandes durch (sachliche) Artefakte auf deren anderen Seite. Dies geschieht in einer Zeit in der die Computerisierung von berufsförmigen Organisationen noch undenkbar war. Diese Einsicht einer Koproduktion von Subjektivität und Technik scheint in der derzeitigen Debatte um Informationstechnologien (IT) in sozialpädagogischen Institutionen kaum geführt. Entweder steht eine Reduktion auf neutrale oder aber herrschende Werkzeuge im Raum. Die zeitdiagnostisch geprägten Szenarien der Entwicklung Sozialer Arbeit im Kontext von Informationstechnologien (IT) reichen von der Vision des papierlosen Büros (vgl. Kreidenweis 2002), dem Abbilden vollständiger „Workflows Sozialer Arbeit“ (Kreidenweis 2005), „Hilfeplänen per Mausklick“ auf der einen Seite und dem „Statistik- und Controllingfanatismus“ (Ames 2008) oder gar der Desavouierung des Professionellen in der zugespitzten Frage „Wozu noch Bewährungshelfer?“ (Kipp 2008) auf der anderen Seite. Diese Metaphern und Bilder stehen für technizistische oder kulturalistische Sichtweisen auf den Gegenstand.2 Ist die Technik vielleicht subversive Kraft und demzufolge Treiber und Träger des gesellschaftlichen Wandels? Oder bestimmen vielmehr die Akteure bzw. die Gesellschaft Gang und Richtung der technischen Entwicklung? Problematisch an diesen deterministischen Szenarien ist, dass sie sich allzu oft auf dem Abstraktionsniveau philosophischer Totaldeutungen bewegen und sich empirischer Differenzierungen weitestgehend entziehen (vgl. Degele 2002: 31f). Sie blenden daher den mikrologischen Blick auf „Technik in Aktion“ aus. Im folgenden Beitrag wird daher der Versuch unternommen IT als Arbeitsmittel und Organisationstechnologie (vgl. Braukowitz 1996: 49) in sozialpädagogischen Institutionen zu konzeptionalisieren (und nicht als pädagogisches oder pädagogisch problematisches Medium).3 Diesem Doppelcharakter (hier v.a. des Computers) liegt die These zugrunde, dass Informationstechnologien einerseits auf die Wissensbasis von Professionellen Einfluss 1 2
Für skeptische Einwände und weiterführende Hinweise danke ich Udo Seelmeyer und Georg Cleppien. Zum sogenannten Technik- und Sozialdeterminismus vgl. ausführlich Rammert 2007, Degele 2002, Belliger/Krieger 2006, Passoth 2006
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Thomas Ley
nehmen und andererseits das Verhältnis von ‚Organisation und Profession’ neu gestalten (vgl. hierzu auch Ley/Seelmeyer 2008). Diese wird in drei Schritten ausgearbeitet: Nach einem kursorischen Einblick in praktische Entwicklungen des sozialpädagogischen Feldes (1) werden Dokumentationssysteme in ihren Funktionszuschreibungen dechiffriert (2). Daraufhin werden technikbezogene Prozesse des bzw. im pädagogischen Handeln(s) in den Blick genommen (3). Fokussiert wird neben der organisatorischen Transformation insbesondere die technische Vermittlung des sozialpädagogischen Falles. Anliegen des Beitrages ist also die Entwicklung eines erweiterten Technikverständnisses in der Sozialen Arbeit; er rekurriert daher auf techniktheoretische Zugänge und begreift „Technisierung als eine besondere Form sozialer Praktiken und Prozesse unter anderen und Technostrukturen als besondere soziale Tatsachen und Konstellationen“ (Rammert 2007: 7).
2
Problemaufriss – Oder der (nichtbeachtete) Alltag mit Akten
„Fachsoftware“ in der Sozialen Arbeit ist bereits seit Mitte der 80er Jahre ein Thema. Dies gilt v.a. für Bereiche, in denen es um Zahlbarmachung von Hilfen oder Auswertung statistischer Daten geht (z.B. in der Sozialhilfe, in der Arbeitsverwaltung oder auch in der wirtschaftlichen Jugendhilfe) (exemplarisch für viele Kreidenweis 2004: 49ff; zum Diskurs in der frühen Fachliteratur Bolay/Kuhn 1993: 11ff1). Implementationen branchenspezifischer Software in der Sozialen Arbeit finden jedoch selten aus einem selbstinduzierten professionellen oder gar disziplinären Impetus heraus statt (vgl. jedoch Bolay/Kuhn 1993). Vielmehr sind sie vor einem spezifischen legitimatorischen Hintergrund zu verstehen, der insbesondere auf eine Technologisierung der Arbeitsorganisation zielt (vgl. Pfeiffer 2003).2 Die damit verbundenen Intentionen lassen sich auf mindestens fünf Ebenen unterscheiden (vgl. Merchel 2004: 17ff): Dokumentation firmiert erstens in einer Situation des politisch erzeugten und finanziell begründeten Drucks der Öffentlichkeit gegenüber der Sozialen Arbeit, der sich insbesondere in der Leistungsdokumentation und Wirkungskontrolle manifestiert (vgl. hierzu auch die aktuell geführte Debatte zur Wirkungsorientierung Albus u.a. 2008). Dokumentation soll zweitens auf der Ebene des Einzelfalls eine Zunahme an Professionalität ermöglichen, indem sie den methodischen Charakter des Handelns qualifiziert (vgl. hierzu auch die neueren Diskussionen zur Neodiagnostik, exemplarisch Heiner 2004). Bestrebungen zur Evaluation dieser generierten Daten zielen drittens auf eine „Professionalisierung des Organisationsrahmens“ (Merchel 2004: 19), um auf Grundlage dieser systematischen Prozesse die Qualitätsentwicklung der Organisation in Gang zu bringen und ihre 1
2
Auf den anwendungsorientierten Diskurs der Sozialinformatik soll hier aufgrund der gebotenen Kürze nicht weiter rekurriert werden. Es hat sich darüber hinaus in den letzten Jahren ein eigenständiger Markt entwickelt, auf dem in Praxiskontexten entwickelte, idiosynkratische Einzellösungen den kommerziellen Produkten zahlreicher Anbieter von Softwareprodukten gegenüber stehen. Derzeit kann man von weit über 200 Produkten für den Bereich Sozialer Arbeit ausgehen (vgl. als Übersicht Social Software 2009 sowie Kreidenweis/Halfar 2008). Kreidenweis und Halfar schätzen im „IT-Report Sozialwirtschaft“ einen deutschlandweiten wirtschaftlichen Umsatz der IT-Anbieter für den sozialen Sektor von rund 210 Millionen Euro pro Jahr (ebd., S. 60). Es gehört also mindestens zur symbolischen Innovation einer sozialpädagogischen Organisation ihre institutionellen Pfade - seien es bürokratische oder fachliche Verfahren - im informationstechnischen „state of the art“ abzubilden.
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Lernfähigkeit zu steigern. Viertens soll Dokumentation die organisatorischen Rahmenbedingungen des Handelns sicherstellen, indem sie – bspw. im Entgegenwirken zur Personalfluktuation – Organisationswissen speichert. (vgl. Konzepte des Wissensmanagement) Schließlich soll damit fünftens eine individuelle – auch rechtlich relevante – Zurechenbarkeit von Verantwortung in Einzelfällen, z.B. bei sozialpädagogischen Kunstfehlern, ermöglicht werden. Man kann das Paradox der Dokumentation dahingehend zuspitzen, „dass eine Einrichtung und dass dort handelnde Personal in dem Maße angreifbar wird, in dem der Grad der Gründlichkeit einer Dokumentation steigt. Insbesondere erzeugt eine hohe Präzision der Dokumentation, dass jener Grad an Vagheit verloren geht, der erforderlich ist, um bei – nicht vorhersehbaren und nicht planbaren Anlässen – das eigene Handeln rechtfertigen zu können“ (Studer/Hildenbrand 2000: 131). Gleichwohl fehlt es aber an einer theoretischen (reflexiven) Konzeptualisierung der Dokumentation im sozialpädagogischen, professionellen Handeln wie auch an empirischen Betrachtungen, die sich dem „Alltag mit Akten“ in mikrologischer Perspektive hinwenden (vgl. etwa Muckel 1997).1 Wie also werden diese Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten im Dokumentieren der Sozialpädagogin2 verhandelt und gestaltet? Was wird wie und wann (nicht) thematisiert, präzisiert, aber auch im Vagen gehalten? Blickt man auf die Potentalität des Einflusses der IT auf professionelles Handeln – also die Mediatisierung der Dienstleistung oder die Virtualisierung der professionellen Beziehung (vgl. Pfeiffer 2003) – kommen unterschiedliche Ansätze in den Blick. Zu nennen sind:
methodische Ansätze – prominent ist hier das Case Management vertreten, nicht zuletzt aufgrund seiner Affinität zu standardisierter Diagnostik (vgl. bspw. PoguntkeRauer u.a. 2007), fachliche Verfahren – bspw. die Hilfeplanung in der Jugendhilfe (vgl. Kreidenweis 2005, von Spiegel/Middendorf 2007), evaluative Verfahren zur Messung von Erfolgs- und Wirksamkeitskriterien (vgl. für viele Evas 2009. Wimes 2009), diagnostische Instrumente (vgl. exemplarisch die Sozialpädagogischen Diagnosetabellen: Bayerisches Landesjugendamt 2001), Screeninginstrumente – insbesondere im Bereich des Risiko-Assessment (vgl. z.B. die „Stuttgarter Kinderschutzbögen“ Kindler/Lukasczyk/Reich 2008; eine detaillierte Übersicht zu Instrumenten der Einschätzung von Kindeswohlgefährdung in Deegener/Körner 2008; kritisch dazu Webb 2006, Ziegler 2003).
Die empirisch wie theoretisch offene – und zudem äußerst komplexe – Frage ist allerdings, ob, wie und in welcher Weise diese Techniken sich nun in der sozialpädagogischen Praxis 1
2
Auf die notwendige Diskussion, wie, ob und in welcher Form Dokumentation Teil professionellen Handelns ist, kann hier nicht weiter eingegangen werden. (vgl. grundlegend Schütze 1996, Henes/Trede 2004, Elstner/Hildenbrand/Sachse 2007) Der sprachlichen Einfachheit halber wird hier die weibliche Form verwendet, die männliche Form aber immer mitgemeint. Gleichwohl ist sich der Autor bewusst, dass die Verquickung von Männlichkeit und Technik in „traditionellen Frauenberufen“ eine doppelte Brisanz erfährt, hier aber nicht weiter ausgeführt werden kann (vgl. grundlegend Wajcman 1994, Degele 2002: 103ff).
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manifestieren. Auch wenn diese Instrumente im ursprünglichen Sinne nicht für Software konzipiert waren, lassen sie sich in einem historischen Kontinuum der Informatisierung Sozialer Arbeit (vgl. Pfeiffer 2003) respektive einer Formalisierung der sozialpädagogischen Wissensapplikation verorten (vgl. Abschnitt 3). Dies darf aber nicht zu einseitig gedeutet werden, gibt es doch in praktischen Entwicklungen durchaus mehrgleisige Bestrebungen diese auf einer informationstechnischen Plattform abzubilden und zu konvergieren. Damit stellt sich die Frage, wo denn nun der Unterschied der „traditionellen“ Handakte zur digitalen Klientenakte liegt. In kurzen Worten beantwortet: er liegt sowohl in der avancierten Form der Technik als auch in der Differenz der Medien, also dem Unterschied von sachlichen und symbolischen Artefakten (vgl. Rammert 1998a). Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die digitale Klientenakte einen ausgeprägteren „Zwang zur Exaktheit“ hat, den sie den Sozialpädagoginnen abverlangt. Demzufolge ist ihr auch ein eindeutigeres und konfliktträchtigeres Nutzungskonzept eingeschrieben (vgl. ebd.: 95). Des Weiteren bietet das digitale Trägermedium „ungeahnte“ Möglichkeiten organisatorischer Vernetzung und fungiert als Transformationsriemen für organisatorische Innovationen (vgl. eindrücklich für die Aspekte der Standardisierung und Ökonomisierung durch die medizinische Patientenakte: Manzei 2007, 2009). Schon hier wird deutlich, dass Dokumentation als ein vieldeutiges „Grenzobjekt“ (Strübing 2005) fungiert. Dabei werden Interessen der Organisation wie auch der Professionellen (und vermittelt auch der Klienten und der Öffentlichkeit) verhandelt. Dabei werden diese heterogenen Interessen – so die weiterführende These des Beitrages – in der digitalisierten Form noch mal deutlich verschoben, zugespitzen und transformiert.
3
Expertensysteme für Experten? Oder von Assistenten und vernetzen Klienten
Was aber sind nun Funktionszuschreibungen von Dokumentationsystemen in der Sozialen Arbeit? Welche Logiken und Rationalitäten sind ihnen eingeschrieben? Schon allein die Wahl der Sprache zeigt eine erste Zieldefinition und einen Nutzungskorridor dieser technischen Dinge auf. Sprechen wir – wie in internationalen Kontexten üblich – von Management-Informations-Systemen, so scheint ein deutlicher Fokus auf der Steuerung und organisatorischen Prozessierung der Fallarbeit auf. Sprechen wir, wie in ingenieurswissenschaftlichen, aber auch professionsorientierten Diskussionen bzw. der Medizin, von Expertensystemen (vgl. für die sozialwissenschaftliche Diskussion: Degele 1996, Degele 2000, Rammert 1998, Reichertz 1994) steht die Wissensapplikation und Wissensmodellierung der Experten und der Professionellen im Vordergrund.1 Allerdings ist (derzeit) im Bereich Sozialer Arbeit der deskriptive Charakter der Dokumentationssysteme im Gegensatz zu prospektiven und diagnostischen Systemen deutlich präsenter. Dies hängt auch mit ihrem historischen Ausgangspunkt der Zahlbarmachung von Hilfen zusammen, steht aber im Gegensatz bspw. zu bildgebenden Verfahren in der Medizin oder auch zum 1
Die Diskussion nehmen zumindest im Ausgangspunkt immer Bezug auf Prämissen Künstlicher Intelligenz (zur kritischen Diskussion der Künstlichen Intelligenz, beispielhaft Degele 1994, Rammert 1998, Rammert 2007: 147ff).
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computer-assisted decision-making im therapeutischen Kontext. Man könnte daher die Frage stellen, ob überhaupt von ‚Expertensystemen’ und nicht eher von konventioneller Datenverarbeitung (vgl. Degele 1994: 15ff) oder von „Anfängersystemen“ (Reichertz 1994) gesprochen werden sollte. Letztlich geht es aber immer auch um die Verarbeitung und Generierung von Wissen respektive dem Druck zur Explikation von Wissen. Für die Analyse für IT-Dokumentationssystemen können insofern Anleihen bei Forschungen zur Sozionik gemacht werden. Danach lassen sich zwei Entwürfe bzw. Idealkonstruktionen unterscheiden: der „vernetzte Klient“ und der „Assistent“ (vgl. Rammert 1998a). Im Folgenden steht weniger die zweite als vielmehr die für die Soziale Arbeit derzeit relevanter scheinende erste Konstruktion im Zentrum.1 Der vernetze Klient Die in der Praxis dominierende Idee von Dokumentationssystemen findet sich in dem Bild des „vernetzten Klienten“ wieder. In dem ‚Netz’ von dem hier die Rede ist, werden den (professionellen) Akteuren bestimmte Positionen zugewiesen. Die technische Architektur mit dem Dokumentationssystem im Zentrum, in dem alle Informationskanäle zusammenlaufen (sollen), ist ein soziales (!) Arrangement, das manche der bisherigen Akteure ausschließt, anderen Akteuren neue Kompetenzen überträgt, neue Verbindungen zwischen Akteuren schafft, institutionelle Pfade legt, rationalisierende Effekte intendiert und (un)erwünschte Nebeneffekte erzielt (vgl. Rammert 1998: 94ff). Zu fragen ist, wie sich in dieser sozio-technischen Konstellation die Positionsverschiebungen der Akteure gestalten. Dies lässt sich an einem illustrativen Beispiel2 aus dem Jugendamt in acht Perspektiven nachzeichnen. Die digitale Akte wird dabei in das Zentrum des Netzwerkes der Akteure gerückt. 1. Der Fall wird im organisatorischen Gefüge vernetzt, neu angeordnet: Die Leitung, das Management hat nunmehr direkten Zugriff auf den dokumentierten Fall und wie Günter Ortmann (1984) treffend beschreibt: sie kann sehen, ohne gesehen zu werden. Die Handakte als eigenständiges aber auch expertokratisches Relikt der Professionellen steht zur Disposition. Mikropolitisch ließe sich hier von der Kontrolle durch Transparenz sprechen (vgl. Ortmann 1990). Die hierarchische Ordnung muss unter diesen Vorzeichen neu ausgehandelt werden. Zumindest aus Sicht der Sozialarbeiterinnen wächst die „gefühlte Kontrolle“. 2. Der Fall wird ökonomisch vernetzt, neu angeordnet: Lange Wege der bürokratischen Hilfegewährung, der Leistungsabrechnung werden neu zusammengeführt. Die wirtschaftliche Jugendhilfe und der Allgemeine Soziale Dienst werden auf einer gemeinsamen Plattform neu verknüpft. Die Eingaben der Professionellen 1
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Die Idealkonstruktion eines artifiziellen Assistenten findet sich nur in Ansätzen in der derzeitigen Praxis wieder; auch Diagnoseinstrumente werden bemerkenswerterweise eher im organisatorischen als im professionellen Kontext diskutiert. Sie geht nicht nur mit einem geänderten Professionsbild einher, sondern stellt noch mal sehr explizitere (theoretische wie empirische) Fragen nach dem professionellem Wissen, seiner Verortung und seinen Vermittlungsformen. Eine detaillierte Analyse von „Technikwissen vs. Professionswissen“ kann hier also nicht geleistet werden kann und fehlt ohnehin in sozialpädagogischen Debatten. Die folgenden Beobachtungen sind aus dem aktuellen Dissertationsvorhaben des Autors entnommen.
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dienen der Abrechnung in der wirtschaftlichen Jugendhilfe und nicht selten wird den Sozialpädagoginnen wirtschaftliche Verantwortung im technischen Gewand der Hilfeplansoftware übertragen. Gleichwohl bedarf der digitale Antrag weiterhin der analogen Unterschrift des Vorgesetzten und nimmt so eine Extraschleife außerhalb des digitalen Workflows auf den altbekannten bürokratischen Pfaden. 3. Es schwinden Akteure: Scheinbar werden die Schreibkräfte nicht länger benötigt – die Delegation von Verwaltungstätigkeiten ist ein nicht zu verachtendes Indiz einer (etablierten) Profession – und den Sozialpädagoginnen wird nicht selten ein erhöhter, zuweilen restriktiver Dokumentationsaufwand übertragen. Dies führt hier und da zu schmerzlichen Erfahrungen „Alteingessener“. Seckinger u.a. (2008: 39f) weisen in einer bundesweiten Befragung des ASD darauf hin, dass in der Dokumentation eine besondere Quelle für die Zunahme der Arbeitsbelastung liegt. 4. Die Fallgeschichte, das „digitale Abbild“ des Klienten wird vernetzt, neu angeordnet: „Man pflegt eine Datenbank.“ Dies stellt eine Anthropomorphisierung technischer Handlungen dar. (Der eine pflegt die Oma, der andere die Datenbank.) Dabei wird der Modus der Dateneingabe wie auch der Datenauswertung handlungsrelevant. Der Klient in seinen sozioökonomischen Daten bildet den Startpunkt und nun „klickt“ man sich durch die „beteiligten Personen“, die „beteiligten Organisationen“, den „Problem- und Ressourcenkatalog“, die rechtliche Einordnung in Kategorien des KJHG, den Hilfeplan und die Grobziele und Feinziele und last but not least die „Kosten-Leistungsdokumentation“ der Hilfe. Der rationalistische Ablauf eines Assessments, der Eingangsdiagnose, des Hilfeplans, dessen Fortschreibung in Zielen und deren Erreichung sowie schlussendlich der Beendigung und Evaluation des Falles wird hier manifestiert und hakt nicht selten an verquerten, nicht eindeutigen, komplexen Fällen. 5. Wann wird der Fall zu einem (digitalen) Fall? Die digitale Dokumentation der kostenintensiven und zeitaufwendigeren Hilfen zur Erziehung (HzE) hat sich in den meisten Jugendämtern etabliert. Die Sozialarbeiterinnen unterscheiden hierbei in bürokratisch-technischen Begrifflichkeiten zwischen „losen Vorgängen“ und „installierten Hilfen“. Während Beratungsgespräche handschriftlich in der gewöhnlichen Akte dokumentiert, in der Obhut der Sozialarbeiter bleiben und lediglich per Strichliste im institutionellen Rahmen quantifiziert werden, wird eine „digitale Akte angelegt“, wenn eine erzieherische Hilfe gewährt werden muss, also ein responsiver Akt vollzogen wird, der sich den institutionellen Anweisungen und Regeln fügt. Gleichwohl ist die digitale Akte der HzE „kein komplettes Abbild“ der traditionellen Handakte, hier werden nur die Daten eingegeben um „die Hilfe zum Laufen zu bringen“, inhaltlich weiterführende, qualitative Informationen (insbesondere zum Hilfeverlauf) werden allenfalls im Hilfeplan „versteckt“. Die Sozialpädagoginnen arbeiten immer noch mit der „doppelten Buchführung“: eine Handakte die handlungsrelevant ist und eine digitale Akte die steuerungsrelevant wird. Der ganzheitliche Arbeitsbogen, der bspw. durch Teamgespräche, Helferkonferenzen, Telefonate, Hausbesuche etc. ausgestaltet wird, bleibt also digital verdeckt. Was in dieser Weise nicht vergegenständlicht wird, gerät aus dem Blick und wird zur unsichtbaren Arbeit (vgl.
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zur Dualität von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit aus pragmatistischer Sicht Star/Strauss 1999). 6. Neue Aktanten, neue Aufmerksamkeiten: Die Software als Aktant1 in dieser sozio-technischen Konstellation bittet um pflichtbewusste Pflege und Fütterung der psychometrischen und sozio-ökonomischen Daten des Klienten. Dies spiegelt sich beispielsweise in sogenannten Pflichtfeldern wider. Je restriktiver und weiträumiger diese verbindlich auszufüllenden Felder sind, desto ausführlicher ist das Berichtswesen und desto höher der Zwang zur Exaktheit. Bei „schlechter Datenlage“ (z.B. fehlendes Geburtsdatum, fehlende Versicherungsnummer der Krankenkasse etc.) helfen sich Sozialpädagoginnen mit fiktiven Daten aus und schaffen an anderer Stelle somit ein ganz eigentümliches, statistisches Artefakt. Als paradigmatisch kann hier die Äußerung eines Sozialpädagogen im Allgemeinen Sozialen Dienst gelten: „Ich mache das nur um sozusagen die Software zu beruhigen“ (Kreidenweis 2005: 45f). Hier liegt eine zweite Anthropomorphisierung vor: der eine beruhigt den Klienten, der andere den Computer. 7. Wo ist der Klient? Im Beisein der Klienten wird augenscheinlich nicht mit der Software gearbeitet. Dadurch entsteht eine „klassische“ aber auch zeitaufwendigere Ex-post Dokumentation. Vielmehr wird es geradezu als moralisch undenkbar angesehen, im Gegenwart der Klienten in der „Tastatur zu klimpern“. Im Jobcenter (vgl. den konversationsanalytischen Zugang in Böhringer 2009), beim Arzt wie auch bei der Bankkauffrau hat man sich da schon längst daran gewöhnt. In der Jugendhilfe hat die kalte Maschine in der Zwischenmenschlichkeit (noch) keinen Platz. (Obschon der Wunsch nach einem Notebook für den Hausbesuch erstaunlich oft erwähnt wird. Die räumliche Einbettung der machtvollen Technologie scheint also nicht unwichtig.) Der Klient erscheint hier lediglich als sekundärer Nutzer der Software, wenn er im Beratungsgespräch nach seinen sozio-ökonomischen Daten befragt wird oder aber den neuen Ausdruck des IT-gestützten Hilfeplans erhält. 8. Manifestierte oder verwischte (interorganisationale) Grenzen? Schließlich sind Softwaregrenzen (noch) gleichbedeutend mit Organisationsgrenzen. Erste zaghafte Versuche der öffentlichen und freien Träger in der Jugendhilfe versuchen sich an einer virtuellen Kooperation und Kommunikation, die allerdings nicht selten (und zuweilen zu Recht) an datenschutzrechtlichen Barrieren scheitert. Darüber hinaus offenbaren solche Versuche jedoch auch die divergenten Interessen der unterschiedlichen Träger.
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Die Akteur-Netzwerk-Theorie behandelt Menschen und Maschinen (in methodoligscher Hinsicht) als „Aktanten“, „die wirken und widerständig sein können, einem Programm folgen und durch die Einbindung und Allianzbildung zu einer heterogen gemischten Handlungseinheit, dem Hybrid, werden. Demnach ,handelt' auch eine einfache Bodenschwelle in der Tempo 30 Zone, ein so genannter „schlafender Polizist“ (…), wenn sie den Autofahrer ebenso wie ein wachsamer menschlicher Polizist oder wie ein symbolischer Polizist auf einem Schild oder wie eine sichtbare Überwachungskamera dazu bringt, im Schritttempo zu fahren“ (vgl. Rammert 2007: 33). In dieser Perspektive ist die Software also kein unveränderbares Artefakt, das durch verschiedene Nutzungsweisen variiert werden kann, sondern vielmehr ein Aktant, der eigensinnig in den Alltag der NutzerInnen eingreift, ihn verändert und sie zu Handlungen provoziert.
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Was zeigt uns nun dieser kursorische Blick auf soziotechnische Konstellationen im Jugendamt? Entgegen einer dualistischen Sicht bei der nur Menschen „handeln, d.h. Zwecke setzen, Mittel wählen, Zweck-Mittel-Beziehungen intelligent abwägen, während Maschinen eben nur funktionieren, d.h. nach einem festen Schema operieren“ (vgl. Rammert 2007: 32, Hervorhebungen des Autors), lassen sich drei gute Gründe der Revision beschreiben: Erstens handeln Menschen häufiger als angenommen mechanisch und automatisiert, sie haben die Fähigkeit – insbesondere in professionellen Kontexten – zu habitualisieren, routinisieren und formalisieren und eröffnen damit – gewollt oder ungewollt – auch das Tor zur maschinenmäßigen Bearbeitung in Computerprogrammen. Zweitens lassen sich Maschinen immer weniger auf den Status eines passiven Instrumentes reduzieren (vgl. hierzu bspw. auch die Entwicklung der Telematik, also der unterstützenden Technologien in der Altenund Behindertenhilfe). Der avancierten Technik1 muss man daher immer mehr den Status eines pro-aktiven und kooperativen Aktanten einräumen. Damit fällt es aufgrund ihrer wechselseitigen Umformung und Übersetzung schwer, Phänomene als „sozial“ oder „technisch“ zu qualifizieren. Daraus folgt drittens, dass sich das Verhältnis von Menschen und Maschinen nicht mehr einseitig als ein instrumentelles Verhältnis im Sinne eines Werkzeuges, sondern im Sinne einer interaktiven Beziehung deuten lässt (vgl. ebd.). Von Interaktivität (nicht Interaktion) kann man immer dann sprechen, „wenn die Beziehung zwischen Mensch und technischem Objekt durch Komplexitat, durch Kontingenz und durch symbolisch vermittelte Kommunikation gekennzeichnet ist“ (ebd.: 32).
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Der Sinn ist nicht vor der Technik da – Oder: Prozesse der Technisierung und soziotechnische Konstellationen
Damit wird die Frage aufgeworfen, welchen Stellenwert wir der Technik einräumen. Und Konkreter: Wie viel Handlungsträgerschaft gestehen wir dem Artefakt in sozialpädagogischen Institutionen zu? Unter Technik im weiten Sinne2 sind ganz allgemein „alle künstlich hervorgebrachten Verfahren und Gebilde, symbolische und sachliche Artefakte, zu verstehen, die in soziale Handlungszusammenhänge zur Steigerung ausgewählter Wirkungen eingebaut werden“ (Rammert 1993: 10). Insofern würde hier das Hilfeplanformular wie auch die bayerischen Diagnosetabellen als sachliche Artefakte ebenso darunter fallen, wie auch das Manual einer evidenzbasierten Sozialen Arbeit oder eines Qualitätsmanagementsystems als formalisierte Verfahren und dezidierte Organisationstechnologie. Im Folgenden soll allerdings ein Fokus auf symbolische Artefakte – im Speziellen auf Software – gelegt werden.3 Damit kann
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Rammert/Schulz-Schaeffer (2002) differenzieren zwischen einfachen (Werkzeuge, Apparate, Maschinen) und avancierten Techniken (Hochtechnologien, intelligente Systeme, smarte Objekte, Expertensysteme). Technik und Technologie soll hier weitestgehend synonym verstanden werden. In der Terminologie der Akteur-Netzwerk-Theorie ließe sich hier auch von technowissenschaftliche Skripten sprechen (vgl. Akrich/Latour 2006, Latour 2006). „Technowissenschaftlich“ sind sie insofern, da sie weder ausschließlich technisch noch wissenschaftlich sind. In „Skripte“ wiederum sind Eigenschaften in das sachliche Artefakt eingeschrieben, die in ihrem Bedeutungszusammenhang über das Formular hinausweisen
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anlehnend an Werner Rammert auf einen umfassenderen und zweiteiligeren Technikbegriff zurückgegriffen werden: „erstens Technisierung als eine besondere Form der praktischen Herstellung Sinn entlasteter und Wirkung erzielender Schemata und zweitens Konstellationen von Trägermedien, in welche die Technisierungsformen verkörpert (Organe, Bewegungen), versachlicht (physische Artefakte) oder eingeschrieben (Zeichensysteme) sind“ (Rammert 2007: 7). „Seit den Zeiten des Aristoteles wurden vier Elemente unterschieden, die Technik konstituieren: Das erste Element ist der Stoff oder das Material, aus dem eine Technik besteht („causa materialis“); das zweite Element ist die Form oder Gestalt, die ihr gegeben wird („causa formalis“); das dritte Element ist der Zweck oder Nutzen, für den sie bestimmt ist („causa finalis“); das vierte Element ist die bewirkende Handlung, die der Mensch vollbringt („causa efficiens“)“ (Rammert 1998: 293; vgl. kritisch auch Heidegger 1963: 7ff).
Man kann nun unterschiedliche Technikkonzepte und -auffassungen – in theoretischer wie praktischer Hinsicht – nach ihrer jeweiligen Relationierung der vier o.g. Elemente hin untersuchen. Wer ihre Instrumentalität in den Vordergrund rückt (vgl. etwa Marcuse 1967, differenzierter auch Habermas 1968) reduziert diese auf Funktionalität in einem ZweckMittel Verhältnis. Wer ihre Materialität betont, charakterisiert Technik als „Härter“, der soziale Regeln übernimmt und auf Dauer stellt bzw. in einen dauerhaften Zustand überführt. „Jedes Artefakt hat sein Skript, seinen Aufforderungscharakter, sein Potenzial“ (Latour 2006: 485). Wer ihre (positivistische) Wirkung akzentuiert, vergisst all zu schnell ihre „interpretative Flexibilität“ (Pinch/Bijker 1987: 40), ihre Fehlfunktionen und ihre Verquickung von erwünschten Folgen und unerwünschten Nebenwirkungen. Technik ist also keineswegs eindeutig und wird weder durch ein spezifisches der angegebenen vier Elemente noch durch ihre einfache Aggregation bestimmt. Technik kann man in diesem Sinne auch als „eine sachlich zwingende Form und eine zeitlich wiederholbare Form ansehen, die sozial als Vermittler zwischen Wünschen und Wirklichkeit eingesetzt wird“ (Rammert 1998: 296). Dabei dient die Differenzierung der Technisierung als Prozess und die Perspektive auf soziotechnische Konstellationen der Annäherung an den vorliegenden Gegenstand, andererseits kann sie durchaus der Theoriebildung Sozialer Arbeit zuträglich sein. Ein komplex ausformulierter, konkreter Technikbegriff fehlt in der sozialpädagogischen Methodendiskussion (vgl. Galuske 2001: 27ff; Geißler/Hege 1995).1 Eine handlungs- wie reflexionstheoretische Konzeptualisierung der Techniken als Mittel und Mittler bleibt weitgehend aus. Folgt man mit Bernd Dewe und Hans-Uwe Otto (2001) einem Projekt reflexiver Sozialpädagogik, bedarf es einer Analyse der kategorischen Abwehr instrumentellen Wissens wie auch einer Relationierung der Wissensformen und ihrer Relativierung in sozialen Prozessen.
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und dennoch immer wieder interpretativ hergestellt und lokal situiert werden (vgl. Kissmann 2008, Timmermann/Berg 1997). Neben der Ausblendung der Materialität (wie auch deren Beziehung zur Sozialität) wird also die Instrumentalität, deren Zweck oder Nutzen in den Vordergrund gestellt; ein Blick auf „Technik(en) in Aktion“ wird hier jedoch unterminiert. (auch wenn hier erstmal Moderationstechniken oder Gesprächstechniken gemeint sein könnten) Sie scheinen per se Mittel oder Verfahren zu sein, ihre Verknüpfung zur Fertigkeit und dem Geschick der „Technikerin“ bleibt jedoch nebulös.
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Techniken sind überdies keine fertigen Produkte. Sie lassen sich verstehen als Projekte der Technisierung, der Technikgenese (vgl. Rammert 2007: 27ff). „In Ermangelung eines Tätigkeitswortes für ‚Technik tun‘ oder ‚etwas technisch machen‘ bezeichnen wir mit Technisierung die besondere formgebende Praxis, Elemente, Ereignisse oder Bewegungen, kunstfertig und effektiv in schematische Beziehungen von Einwirkung und notwendiger Folge zusammenzusetzen. Handlungen, natürliche Prozessabläufe oder Zeichenprozesse sind dann technisiert, wenn sie einem festen Schema folgen, das wiederholbar und zuverlässig erwartete Wirkungen erzeugt“ (ebd. S. 16). Diese Schematisierbarkeit, also wie Beziehungen zwischen den Elementen kreiert und angeordnet werden, ist – neben Schriftlichkeit und Interpretationsfreiheit – das zentrale Kriterium des zugrunde liegenden Prozess der Formalisierung (vgl. Heintz 1993, Krämer 1988, siehe ausführlicher auch Ley/Seelmeyer 2008). Formalisierung – hier verstanden als eine symbolische Technisierung – bezieht sich spezieller auf die Formgebung des Wissens (vgl. Degele 2000: 63). „Ein Weltausschnitt wird durch formalisierende Abstraktion auf seine (wesentlichen?) Strukturen reduziert. Als wesentlich können von vornherein nur formale Bezüge erscheinen. Was als wesentlich gilt, ist also auf dieser fundamentalen Ebene nicht etwa ein Ergebnis des Modellierungs- und Formalisierungsaktes, sondern eine Entscheidung, die ihm bereits zugrundeliegt. Daher ist zu fragen: Welche Implikationen (Vorentscheidungen) enthält Modellierung durch Formalisierung? Antwortversuch: Alles am zu modellierenden Weltausschnitt, das sich der Formalisierung entzieht, also was daran material ist, was individuell und einzig ist, erscheint von vornherein als unwesentlich. (…) Formale Modelle sind sinnfrei und menschenleer. (Informatiker sprechen vielleicht eher von Kontextfreiheit.) Bzw. Sinn ist in ihnen ersetzt durch Funktion“ (Sesink 2003: 59 Hervorhebungen im Original).
Um diese formalen Modelle nun in Software zu überführen findet ein letzter Prozess der der Transformation in Algorithmen statt. Ein Algorithmus ist eine exakte Vorschrift, die „in einer endlichen Anzahl von elementaren Operationsschritten, deren Abfolge im voraus in einer endlich langen Beschreibung eindeutig festgelegt ist, die Lösung eines (mathematischen) Problems erlaubt“ (Heintz 1993: 72). Mit der Algorithmisierung schließt also ein Prozess der Reduktion und Abstraktion komplexer Wirklichkeit mit dem Ziel der Automatisierung von Handlungen und Arbeit. Das also ist der Sinn der Abstraktion von Sinn (vgl. Sesink 2003). Gleichwohl ist diese Abstraktion wiederum Grundlage für Sinnproduktion. Durch diese Selbstbezüglichkeit kann nicht mehr von einer schlichten Anwendung der Technik gesprochen werden. Vielmehr geht es um die praktische Auseinandersetzung, die Aneignung von Technik. Software übt unweigerlich Gestaltungszwänge auf die „Anwender“ aus, eröffnet gleichzeitig aber auch Aneignungsspielräume. Der Begriff „Soft – Ware“ fängt dies metaphorisch ein. Begrifflich wie theoretisch sind hier zwei Konzepte impliziert: Erstens das Konzept des formbaren, ermöglichenden Mediums (soft) und zweitens das Konzept der strukturgebenden, restriktiven Maschine bzw. des Werkzeugs (ware). Software kann insofern auch als „weicher Strukturbildner“ begriffen werden (vgl. Degele 2000). Bei der Aneignung von Software erkunden die Nutzer Spielräume. Sie erfinden neue idiosynkratische Regeln, tarieren Grenzen aus und überschreiten diese. Dies stellt einen kreativen
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Akt dar.1 Angesichts konkreter Problemkonstellationen in unterschiedlichsten (begrenzten) Praxiskontexten wird erdacht und gemacht, kombiniert und ausprobiert, reagiert und verweigert. Die Aneignung von Dokumentationssoftware muss immer in ihrer organisatorischen Einbettung, der soziotechnischen Konstellation – sozusagen in ihrer Zuweisung und Wahrnehmung im Netz der Akteure – verstanden werden. Dabei „ist“ der Computer nicht die Organisation, er fungiert zuweilen als mediatisierte Repräsentation derselben, andererseits ‚verschwindet’ aber auch die Organisation hinter dem scheinbar autonomen Arbeitsmittel (vgl. Pfeiffer 203: 201ff). Hinter der (kreativen) Aneignung verbirgt sich ein Zwang, den man auf der Mikroebene als technisch, auf der Makroebene als sozial verursacht, entschlüsseln kann (vgl. Degele 1997: 57). Während auf der institutionellen Ebene Anforderungen, abzubildende Routinen, Techniknutzungspfade und Kompetenzen neu ausgehandelt werden, muss der primäre Nutzer bzw. die Sozialpädagogin den Einzelfall im Rahmen der Technik überhaupt erst situieren, rekontextualisieren und interpretativ herstellen. Was aber vermag so ein Dokumentationssystem aus Sicht der Sozialpädagogin dann zu leisten, wo sind Nutzen und insbesondere Grenznutzen dieser Systeme? Von einem linearen Nutzen zu sprechen („Je mehr ich mit dem System arbeite, desto höher ist der Nutzen“) wäre in diesem Kontext zu trivial. Bei einem Blick auf die Aneignungsprozesse der Sozialpädagoginnen wird offenbar, das bei einem zu geringen fachlichen Wissen die Nutzerin das System nicht nachvollziehen und kontrollieren kann, bei einer zu hohen Fachkompetenz nützt ihr aufgrund ihres Mehr-Wissens das System nichts. In beiden Fällen nehmen die Nutzerinnen das System nicht als Hilfsmittel sondern als Hindernis wahr (vgl. Degele 1997: 59). Insofern erscheint es sinnvoll von Techniknutzungspfaden auf organisatorischer Ebene und Nutzungskorridoren auf subjektiver Ebene zu sprechen, die derzeit allerdings in ihren situativen Spezifizität und ihren projektierten (idealen) Nutzertypen in den Dokumentationssystemen unterkomplex behandelt und zudem empirisch kaum erfasst sind.
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Abschließend: Aufgaben einer (selbst)reflexiven Sozialpädagogik
Dokumentationssysteme versuchen sozialpädagogische Arbeitsprozesse symbolisch abzubilden, neu anzuordnen. Dabei machen sie spezifische Prozesse in der „digitalen Wirklichkeit“ sichtbar (bspw. quantifizierbar) und verdecken andere. In interaktionistischer Diktion kann hier auch von einer Vereinheitlichung des Arbeitsbogens gesprochen werden (vgl. Strübing 2005, Schütze 1996). Dieser (digitale) Arbeitsbogen wird qua Artefakt technisiert und in Bezug auf die Wissensbasis der Professionellen formalisiert. Die Vereinheitlichung wiederum offenbart sich auf der Ebene der Softwareentwickler als Kategorisierung, auf der Ebene der Organisation als Standardisierung und auf der Ebene der Professionellen als 1
Techniken sind im pragmatistischen Sinne (vgl. auch Joas 1996) also wiederum das Resultat und der Ausgangspunkt von unterschiedlichen Handlungen: (1) dem kreativen Handeln auf der Suche nach UrsacheWirkungs-Beziehungen (Kausalität); (2) dem experimentellen Handeln zur Steigerung der Wirksamkeit (Effektivität); (3) dem rationalisierenden Handeln zur Maximierung des Nutzens im Verhältnis zum Aufwand (Effizienz); (4) dem kultivierenden Handeln zur Markierung von Eigenheit und Besonderheit (Prestige) (vgl. Rammert 2007: 20).
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Routinisierung. In dieser Vieldeutigkeit manifestieren sich Dokumentationssysteme als Grenzobjekte, als Verhandlungsort unterschiedlicher Interessen (vgl. Strübing 2005). Die Akteure adressieren ihre Zielvorstellungen zunächst an das Grenzobjekt und versuchen, wiederum andere Akteure für ihre Perspektive zu gewinnen. Mit Hilfe von Grenzobjekten können die Repräsentanten verschiedener sozialer Welten miteinander kommunizieren und ihre Interessen verfolgen. Sie dienen zur Übersetzung der wechselseitigen Bedürfnisse, Erwartungen und Anforderungen und ermöglichen gleichzeitig die Aufrechterhaltung der Grenzen zwischen den sozialen Welten sowie eine Öffnung handlungspraktischer Grenzüberschreitungen. Softwareentwicklerinnen, Managerinnen und Professionelle agieren in dieser soziotechnischen Konstellation, handeln ihre Positionen aus und kooperieren ohne (zwingend notwendigen) Konsens.1 Man könnte dies auch in der These von Nina Degele (1997: 55) zuspitzen: „Softwareentwickler kreieren Software und Softwarenutzer kreieren Aneignung. Manager machen sich schließlich beides zunutze“. In Fachsoftware ist qua Technisierungsprozess aber auch immer eine Vorstellung des primären Nutzers, sprich der Sozialpädagogin, wie auch ein Bild des Klienten als sekundärer Nutzer eingeschrieben. Die Vereinheitlichung des Arbeitsbogens kann man auf der Ebene der Adressaten daher auch als Normierung des Klienten beschreiben. Die Rekonstruktion damit geschaffener Bilder von Personen, des Sozialpädagogen und des Klienten, die durch Software transportiert, quasi „objektiviert“ werden, und deren Rückwirkung auf die sozialpädagogische Praxis, ist eine Aufgabe sozialpädagogischer Forschung, die sich der „Technik in Aktion“ verschreibt. Die techniktheoretische Begründung dieser Aufgabe einer reflexiven Sozialpädagogik habe ich deutlich gemacht. Als Aufgabe kommt dies nur in den Blick, wenn Abstand genommen wird, von einem „klassischen“ Technikverständnis und man auch die Arbeit mit IT-Dokumentationssystemen als „Konstruktion sozialer Wirklichkeit“ versteht, an der Entwickler und Nutzer der IT-Systeme beteiligt sind. Literatur Akrich, M. (2006): Die De-Skription technischer Objekte. In: Belliger, A./Krieger, D.J. (Hrsg.): ANThology – Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld, S. 407-428. Akrich, M./Latour, B. (2006): Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nicht-menschlicher Konstellationen. In: Belliger, A./Krieger, D.J. (Hrsg.): ANThology – Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld, S. 399-406. Albus, St. u.a. (2008): Wirkungsorientierte Jugendhilfe Band 06. Zwischenberichte der Regiestelle und der Evaluation zum Modellprogramm. Münster. Ames, A. (2008): ''dieser Statistik- und Controllingfanatismus hier.''. Die Rolle von ''Kennzahlen'' in der Arbeit der persönlichen Ansprechpartner/-innen nach § 14 SGB II In: Forum Sozial, Jg. Nr. 4, S. 17-20.
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Wie lässt sich nun aber die Diskrepanz (und nicht selten das Scheitern) zwischen Entwicklung und Anwendung von symbolischen Artefakten - im speziellen Software - erklären? „EntwicklerInnen wenden Verfahren an, um Artefakte zu entwickeln und NutzerInnen entwickeln Verfahren, um Artefakte anzuwenden. Damit üben EntwicklerInnen einen Gestaltungszwang auf die NutzerInnen aus. Die von den NutzerInnen generierten Verfahren der Technikaneignung perzipieren sie dann folgerichtig als Störung eines komplikationslosen, linearen Technologietransfers. Obwohl die Entwicklung die spätere Nutzung antizipieren muß, hinkt sie ihr immer hinterher“ (Degele 1996: 65).
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„Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“
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Autorinnen und Autoren
Dr. Georg Cleppien, vertritt die Professur für Sozialpädagogik an der Universität Rostock. Prof. Dr. Ulrich Deinet, Professor für Didaktik und methodisches Handeln/Verwaltung und Organisation an der Fachhochschule Düsseldorf. Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrmann, Professor für Soziologie und Sozialpolitik an der Hochschule Darmstadt. Dr. Anja Hartung, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Prof. Dr. Bernward Hoffmann, Professor für Medienpädagogik an der Fachhochschule Münster. Dr. Peter Holzwarth, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Dr. Alexandra Klein, vertritt die Professur für Sozialpädagogik und Jugendhilfe an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Prof. Dr. Michael Kunczik, Professor für Publizistik an der Johannes-Gutenberg Universität Mainz. Prof. Dr. Nadia Kutscher, Professor für Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Aachen. Ulrike Lerche, Dipl. Pädagogin, ehem. wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Rostock, derzeit: Studium der Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin. Thomas Ley, Dipl. Sozialpädagoge, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld. Prof. Dr. Frans Josef Röll, Professor für Neue Medien und Medienpädagogik an der Hochschule Darmstadt. Dr. Detlef Scholz, Mitarbeiter am Kompetenzzentrum und der Beratungsstelle für exzessive Mediennutzung und Medienabhängigkeit Schwerin. Prof. Dr. Ute Straub, Professorin für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Fachhochschule Frankfurt am Main.
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Autorinnen und Autoren
Kati Struckmeyer, Dipl. Kulturpädagogin, Medienpädagogische Referentin am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Dr. Astrid Zipfel, Akad. Rätin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.