Gertrud Oelerich · Hans-Uwe Otto (Hrsg.) Empirische Forschung und Soziale Arbeit
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Gertrud Oelerich · Hans-Uwe Otto (Hrsg.) Empirische Forschung und Soziale Arbeit
Gertrud Oelerich Hans-Uwe Otto (Hrsg.)
Empirische Forschung und Soziale Arbeit Ein Studienbuch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17204-0
Inhalt
Gertrud Oelerich/Hans-Uwe Otto Empirische Forschung und Soziale Arbeit – Einführung .................................................................9
I. Empirische Studien Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner Netzwerkforschung mit Kindern. Eine empirische Studie zu Unterstützungsbezügen in Familie, Pflegefamilie und Heim .................................................................................................... 25 Heinz Messmer/Sarah Hitzler Interaktion und Kommunikation in der Sozialen Arbeit. Fallstudien zum Hilfeplangespräch .................................................................................................... 51 Sandra Landhäußer/Holger Ziegler Zur Empirie sozialräumlich orientierter Sozialer Arbeit – Soziales Kapital messen ................... 65 Christoph Beckmann/Katja Maar/Mark Schrödter Vom Professional Commitment zur Corporate Identity? Möglichkeiten der Kombination statistischer, rekonstruktiver und inhaltsanalytischer Forschungszugänge am Beispiel der Managerialisierung der sozialpädagogischen Familienhilfe ...................................................... 77 Ellen Bareis/Claus Reis Frühförderprogramme in Kindertgagesstätten – eine organisationssoziologische Studie.......... 97 Werner Thole/Peter Cloos/Stefan Köngeter/Burkhard Müller Ethnographie der Performativität pädagogischen Handelns. Zu den Möglichkeiten, die Konstitutionsbedingungen sozialpädagogischer Handlungsfelder zu erkunden ................. 115 Andreas Hanses/Petra Richter Die soziale Konstruktion von Krankheit. Analysen biographischer Selbstthematisierungen an Brustkrebs erkrankter Frauen und ihre Relevanz für eine Neubestimmung professioneller Praxis ................................................... 137 Uwe Flick/Gundula Röhnsch „(...) da bin ich eigentlich der Außenseiter, und das ist das Schlimmste.“ Krankheitserleben und -verhalten von chronisch kranken obdachlosen Jugendlichen ............ 151 Alexandra Klein Sexuelle Verwahrlosung oder Moralpanik? Sexuelle Erfahrungen und Beziehungswerte junger Frauen und Männer................................................................................................................ 165
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Inhalt
Nina Thieme Hin-Sichten professioneller Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe. Zur Bestimmung der Kategorie Adressat ......................................................................................... 179 Veronika Magyar-Haas Leibliche Abgrenzung und Positionierung im sozialpädagogischen Raum. Eine videoanalytische Rekonstruktion ............................................................................................ 193 Susann Fegter Die Macht der Bilder – Photographien und Diskursanalyse ........................................................ 207 Kirsten Fuchs-Rechlin/Ana Moya/Matthias Schilling Empirische Forschung auf der Basis der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik zur frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung ................................................................ 221
II. Forschungsessays Stefanie Albus/Heinz-Günter Micheel/Andreas Polutta Der Wirkungsdiskurs in der Sozialen Arbeit und seine Implikationen für die empirische Sozialforschung .................................................................................................. 243 Andreas Walther Konstruktionen von Hilfebedarf im internationalen Vergleich. Lebenslaufregimes als Bezugsrahmen für vergleichende sozialpädagogische Forschung ........ 253
III. Methodische Beiträge Uwe Flick Das Episodische Interview ............................................................................................................... 273 Nina Thieme Repertory Grid Methodik.................................................................................................................. 281 Nadine Lauer Das Paarinterview als Erhebungsinstrument in der sozialpädagogischen (Familien-)Forschung ......................................................................... 293 Anja Tervooren Teilnehmende Beobachtung in medizinischen Vorsorgeuntersuchungen. Frühe Kindheit und generationale Ordnung .................................................................................. 301 Sarah Hitzler/Heinz Messmer Konversationsanalyse......................................................................................................................... 307
Inhalt
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Fabian Kessl Diskursanalytische Vorgehensweisen .............................................................................................. 313 Uwe Flick Triangulation ....................................................................................................................................... 323 Sandra Landhäußer/Holger Ziegler Hauptkomponentenanalyse............................................................................................................... 329 Autorinnen und Autoren ................................................................................................................ 335
Empirische Forschung und Soziale Arbeit – Einführung Gertrud Oelerich/Hans-Uwe Otto Die zunehmende sozialwissenschaftliche Fundierung Sozialer Arbeit hat sich in den vergangenen Jahren auch in Form einer zunehmenden Profilierung im Bereich der empirischen Forschung gezeigt. Unserer Beobachtung nach hat die empirische Forschung in der Sozialen Arbeit inzwischen eine erstaunliche Intensität und Breite gewonnen. Diese Intensivierung fördert die notwendige Wissenschaftsbasierung einer professionalisierten Sozialen Arbeit und ermöglicht, in ihrem sozialwissenschaftlich orientierten Anspruch viele zuvor eher tradierte denn systematisch begründete Vorgehensweisen entweder empirisch zu fundieren oder zu überwinden. Diese Feststellung kann und soll jedoch nicht darüber hinwegsehen, dass die Forschungssituation in der Sozialen Arbeit insgesamt betrachtet auch weiterhin erheblichen Ausbaubedarf signalisiert. Gestützt wird die zunehmend forschende Entwicklung der Sozialen Arbeit mittlerweile durch die Einrichtung von Graduiertenkollegs und Forschungsinstituten, durch eine Vielzahl und Vielfalt an Forschungsprojekten in der Sozialen Arbeit, die fortwährend anwachsende Anzahl an Veröffentlichungen zu empirischen Fragestellungen, die inzwischen selbstverständlich gewordene Etablierung forschungsmethodischer Anteile in den einschlägigen Studiengängen, die fast schon obligatorische Forderung nach eigener empirischer Forschungsleistung als Voraussetzung für die Berufung als ProfessorIn in der Sozialpädagogik/Sozialen Arbeit und nicht zuletzt die zunehmend selbstverständliche Integration empirischer Forschungsmethoden in die Praxis der Sozialen Arbeit, bspw. in Form von Evaluationen, Qualitätsuntersuchungen oder Diagnoseverfahren. All diese Entwicklungen zeigen, dass sich empirische Forschung in der Sozialpädagogik/Sozialen Arbeit in den vergangenen Jahren entfalten, Anerkennung verschaffen und etablieren konnte. Sie hat ihre nachholende Phase hinter sich gelassen und befindet sich in einem Prozess disziplinärer wie professioneller Normalisierung – hinsichtlich ihres quantitativen Umfangs, ihrer Qualität und unbestritten auch hinsichtlich der noch zu überwindenden Defizite. Konsequenter Weise trägt ein Tagungsband der sozialpädagogischen Fachgesellschaft aus dem Jahr 2005 (Sektion Sozialpädagogik der DGfE, vgl. Schweppe/Thole 2005) den Titel „Sozialpädagogik als forschende Disziplin“. Der Titel wird dort als Feststellung formuliert, ohne relativierende Frageform und ohne einschränkende Untertitelung, untermauert anhand von Einschätzungen eines größeren Teils der dort versammelten Beiträge. Dies hindert die HerausgeberInnen allerdings nicht daran, eine erst in Ansätzen vorliegende „innerdisziplinäre, aufeinander bezogene Kommunikation und Verständigung“ zu diagnostizieren, ebenso wie das Fehlen einer kohärenten gesamtdisziplinären Vorstellung über Forschungsaufgaben in der Sozialpädagogik (ebd., S. 8). Demgegenüber fällt ihre Gesamteinschätzung zur Lage der quantitativen wie qualitativen Forschung in der Sozialpädagogik zum Zeitpunkt Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts weniger skeptisch aus als noch bei ihren Kollegen (Rauschenbach/Thole 1998, S. 24) wenige Jahre zuvor. Mittlerweile liegen einige Veröffentlichungen als Überblicke bzw. Reflexionen über die Forschungssituation in der Sozialen Arbeit vor.1 Der dort geführte Diskurs beinhaltet häufig 1
Bock/Miethe 2010; Hornstein 1984, 1998; Jakob/von Wensierski 1998; Lüders 1998; Lüders/ Rauschenbach 2001; Otto/Oelerich/Micheel 2003; Rauschenbach/Thole 1998; Schefold 2002; Schweppe G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Überlegungen zur Existenz sowie zur Legitimität „genuin“ sozialpädagogischer Forschung, konkretisiert in Bezug auf einen spezifisch sozialpädagogischen Gegenstandsbereich und spezifisch sozialpädagogische Forschungsfragestellungen, eine eigenständige sozialpädagogische Forschungskultur sowie zur Frage nach explizit sozialpädagogischen Forschungsmethoden und Forschungsmethodologie. Bezogen auf den zuletzt genannten Aspekt, die Frage nach einer spezifisch sozialpädagogischen Forschungsmethodik, finden sich zwischenzeitlich jedoch kaum mehr kontroverse Positionen. Es überwiegt vielmehr die Einschätzung, dass die eingesetzten Forschungsmethoden, den allgemeinen Standards sozialwissenschaftlicher Forschung folgend, dem jeweiligen Forschungsgegenstand und der Forschungsfragestellung zu entsprechen haben und nicht einer – wie auch immer gearteten – disziplinären Herkunft.2 Die Tatsache, dass mit Blick auf Besonderheiten sozialpädagogischer Themenstellungen bestimmte Forschungsmethoden häufiger eingesetzt werden als andere, bleibt davon freilich unberührt. Wenig kontrovers gestaltet sich auch die Debatte um die Frage nach einer verbindlichen sozialpädagogischen Forschungskultur. Hier wird fast uni sono ihr weitgehendes Fehlen festgestellt (vgl. bspw. Rauschenbach/Thole 1998; Schweppe/Thole 2005, s.o.), was allerdings im Hinblick auf die ausgesprochene Unterschiedlichkeit der Interessen, Strömungen oder Kontexte in der Sozialen Arbeit einerseits und die Verschiedenartigkeit der entsprechenden Studiengänge, Hochschulzuordnungen und Forschungszusammenhänge andererseits kaum verwundern kann. Uneindeutiger gestaltet sich demgegenüber im Fachdiskurs die Einschätzung der Spezifika, die eine Forschungsfragestellung zu einer ausdrücklich sozialpädagogischen werden lässt. Hier dauert die Diskussion weiter an. Ob der vorgeschlagene Rekurs auf den „sozialpädagogischen Blick“ (z.B. Rauschenbach/Thole 1998, S. 19) als innerdisziplinärem Bezugspunkt für Forschung in der Sozialen Arbeit die angezielte Kohärenz schaffen kann, bleibt bis heute vage. Ein anderer Vorschlag zur Bestimmung des „sozialpädagogischen Forschungsfeldes“ setzt an dem Gegenstandsbereich der Forschung an. Er systematisiert die Gegenstandsbestimmung anhand von drei zentralen Eckpunkten, nämlich Institution, Profession und AdressatInnen Sozialer Arbeit (Lüders 1998, S. 120; Lüders/Rauschenbach 2002, S. 564). Diese Eckpunkte nehmen einen Vorschlag zur Strukturierung wesentlicher, konstitutiver Dimensionen sozialpädagogischer Theoriebildung auf, der zu Beginn der 1980er Jahre von Hans Thiersch und Thomas Rauschenbach in der ersten Fassung des Handbuchs Sozialarbeit/Sozialpädagogik (Eyferth/Otto/Thiersch 1984) vorgelegt wurde (Thiersch/Rauschenbach 1984, S. 1000). Bei der mancherorts vorgelegten Übertragung auf den Bereich der empirischen Forschung handelt es sich jedoch letztlich nur um eine Teilanalogie, denn die im Theoriediskurs vorgeschlagene Dimensionierung umfasste neben den drei mit Blick auf den Forschungszusammenhang genannten Dimensionen zwei weitere: die ‘gesellschaftliche Funktion’ und den ‘Wissenschaftscharakter’ von Sozialarbeit/Sozialpädagogik (ebd.). Soll die mit den drei angesprochenen Eckpunkten vorgeschlagene Systematisierung von Forschung in der Sozialen Arbeit mehr sein als eine Heuristik der bestehenden Forschungslandschaft, wäre sie trotz der 2003; Schweppe/Thole 2005; Thole 1999. Darüber hinaus wurden mittlerweile eine Reihe weiterer Veröffentlichungen zur empirischen Forschung in der Sozialen Arbeit vorgelegt, die sich z.T. auf einzelne Handlungsfelder Sozialer Arbeit konzentrieren, z.T. auf Praxisforschungsprojekte (bspw. Heiner 1988; Maykus 2009; Schrapper 2004) oder sich spezifischen methodischen Herangehensweisen verpflichten (bspw. Miethe u.a. 2007; Bock/Miethe 2010), auf deren Vielzahl hier – ohne jeden Versuch eines Anspruchs auf Vollständigkeit – nur verwiesen werden kann. 2 Vgl. Hornstein 1998, S. 71; Lüders 1998, S. 128; Lüders/Rauschenbach 2002, S. 566; Winkler 2005, S. 18.
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damit verbundenen forschungspraktischen Herausforderungen entsprechend zu erweitern. In der Konsequenz ginge es vermehrt darum, empirisch untermauerte Analysen zur gesellschaftlichen Funktion von Sozialer Arbeit zu realisieren. Trotz aller Kontroversen ist die grundsätzliche Notwendigkeit empirischer Forschung in der Sozialen Arbeit jedoch unumstritten, ebenso die Notwendigkeit ihres intensivierten Ausbaus. Neben den theoretischen Analysen ist empirische Forschung einer der konstitutiven, unhintergehbaren Bestandteile der Sozialwissenschaften und Werkzeug systematischer Theoriebildung, Beobachtung, Reflexion wie Weiterentwicklung jeder sozialwissenschaftlichen Disziplin wie Profession. Dies gilt selbstredend auch für die Soziale Arbeit und zwar sowohl mit Blick auf feldunspezifische, allgemeine Aspekte als auch mit Blick auf die spezifischen Aspekte einzelner Handlungsfelder. Vertritt man den Anspruch einer reflexiven, kritischen Sozialen Arbeit, dann besteht nicht nur aus der Perspektive einer aufgeklärten Sozialwissenschaft sondern auch aus der Perspektive einer aufgeklärten Praxis die Notwendigkeit einer entsprechenden empirischen Forschung. Das trifft auch für die Positionierung in der zunehmenden kontroversen Diskussion über Forderungen nach einer angemessenen Evidenzbasierung im Handeln der Sozialen Arbeit zu. Damit Evaluationen und Wirkungsforschungen nicht einem linearen, reduzierten Verständnis von Wirkung und Effektivität wie deren Messung erliegen, welches weder der komplexen Realität von Angeboten und Maßnahmen Sozialer Arbeit gerecht werden kann noch der Unterschiedlichkeit der Einschätzung von Angeboten aus den verschiedenen Perspektiven der beteiligten Akteure, sind elaborierte empirische Untersuchungen zur Rekonstruktion und Analyse dessen, was in der Sozialen Arbeit unter welchen Voraussetzungen geschieht, mit welchen Interessen verbunden ist und unter welchen Perspektiven von wem wie bewertet wird, unerlässlich. Mit dem hier vorgelegten Band knüpfen wir der Intention wie der Struktur nach an unsere Veröffentlichung aus dem Jahr 2003 an (Otto/Oelerich/Micheel 2003). Am Beginn der 2000er Jahre hatten wir die Situation der empirischen Forschung in der Sozialen Arbeit als eine ‘take off Phase’ beschrieben, betrachtet mit einer Mischung aus Zuversicht und Skepsis. Beide Seiten der Einschätzung sind bis heute geblieben, wobei der in der Zwischenzeit zu beobachtende Ausbau sozialpädagogischer Forschung die skeptische Seite etwas verringert hat (s.o.). Wir sehen jedoch weiterhin deutlichen Ausbaubedarf und möchten mit diesem Band einen Beitrag zur weiteren Normalisierung und offensiven Weiterentwicklung empirischer Forschung in der Sozialen Arbeit leisten. Der gemeinsame Fokus der hier versammelten Texte liegt zum ersten in dem Bezug zur empirischen Forschung und zum zweiten in der Sozialen Arbeit, unabhängig davon, ob es bei den Beiträgen thematisch um die Vorstellung einzelner Studien und Forschungsmethoden geht oder um die Reflexion über empirische Forschung. Dabei repräsentieren die Beiträge eine beachtliche inhaltliche wie forschungsmethodische Breite. Im Hinblick auf die untersuchten Handlungsfelder Sozialer Arbeit reicht das Spektrum von den Bereichen der Kindertagesstätten, der Jugendarbeit, der Obdachlosenarbeit bis zu gesundheitlichen Hilfen, wobei ein gewisser Schwerpunkt bei der Jugendhilfe liegt. Ziel dieser Veröffentlichung war es jedoch nicht, Soziale Arbeit in ihrer gesamten Differenziertheit abzubilden. Vielmehr sollte aus der Vielfalt der Handlungsfelder eine exemplarische Auswahl vorgenommen werden. Dabei war ein Kriterium, Forschungsarbeiten zusammenzutragen, die unterschiedliche Akteure und deren spezifische Zugänge zur Sozialen Arbeit fokussieren, also Thematiken aus bzw. zur Sichtweise der AdressatInnen einerseits und der Professionellen andererseits, zum professionellen Handeln wie zu organisatorischen Themen. Hier hat sich eine Schwerpunktsetzung auf die Sichtweise
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der AdressatInnen ergeben. Wenngleich sich die Forschung in letzter Zeit in stärkerem Maße als zuvor adressaten- bzw. nutzerbezogenen Thematiken zugewendet hat, so gibt es unserer Einschätzung nach bis heute zu wenig gehaltvolle Untersuchungen, die explizit die Perspektive der AdressatInnen bzw. NutzerInnen auf die Soziale Arbeit und deren Angebote in einer empirisch gesicherten Form herausarbeiten. Darüber hinaus repräsentieren die Beiträge explizit eine ausgesprochene Breite methodischer Herangehensweisen. Es wurden einige Studien versammelt, die einem qualitativen Vorgehen folgen, andere einem quantitativen oder einer Kombination von beidem. Von ihrer Anzahl her sind in diesem Band qualitative Studien stärker vertreten als quantitative, was tendenziell dem Stand der empirischen Forschung in der Sozialen Arbeit entspricht. Ohne eine einseitige Bewertung vornehmen zu wollen, halten wir einen verstärkten Ausbau gehaltvoller quantitativer Studien in diesem Feld und damit die verstärkte Erarbeitung von Ergebnissen, die generalisierbare Aussagen über Soziale Arbeit in fundierter Weise ermöglichen, Aussagen zu deren quantitativer Verteilung wie zu tiefergehenden Analysen systematischer Zusammenhänge in Zukunft für dringend erforderlich. Jenseits der Zuordnung zum qualitativen bzw. quantitativen Forschungsparadigma spiegeln die Beiträge eine methodische Vielfalt wider, die von häufig eingesetzten Verfahren wie bspw. der klassischen Fragebogen- bzw. Interviewerhebung bis hin zu aktuell weniger üblichen Vorgehensweisen wie der Repetory-Grid-Methodik oder der Konversationsanalyse reichen. Mit dieser inhaltlichen wie methodischen Vielfalt nimmt diese Veröffentlichung im Rahmen der vorliegenden Forschungsliteratur in der Sozialen Arbeit einen besonderen Platz ein und erfüllt gerade deshalb einen innovativen und inspirierenden Charakter für die zukünftige Entwicklung dieses Forschungsfeldes. Es ist und bleibt wichtig, gelungene Beispiele über die anregende Anwendung von Methoden, über gelungene Entwicklungen von Forschungsfragen und über überzeugende Auswertungsverfahren verfügbar zu machen. Die unterschiedlichen Entstehungskontexte der Beiträge und die dabei deutlich werdenden Förderungsstrukturen, z.B. DFG-finanzierte Forschungen, Unterstützung über andere Drittmittelgeber (Stiftungen, Ministerien etc.), Dissertationen/Promotionsstipendien etc. verweisen schließlich noch einmal nachdrücklich auf die zunehmende Vielfalt dieses Forschungsfeldes. Der Band gliedert sich in drei Teile: Ein erster Teil stellt Studien aus dem engeren wie weiteren Kontext Sozialer Arbeit vor, im Konkreten deren Forschungsfragestellung, Forschungskonzeption, methodische Vorgehensweisen sowie einzelne Ergebnisse. Hierbei heben einige Beiträge ihre Befunde in den Vordergrund, andere ihre methodischen Vorgehensweisen. Die Beiträge im zweiten Abschnitt des Bandes beziehen sich nicht auf einzelne Forschungsprojekte, sondern beschäftigen sich als Forschungsessays mit Aspekten von übergreifender Relevanz für die empirische Forschung in der Sozialen Arbeit. Der dritte Abschnitt widmet sich schließlich forschungsmethodischen Fragen. Gestaltet als Supplemente werden hier Verfahrensweisen der Datenerhebung wie der Datenauswertung behandelt. Das Besondere daran ist, dass sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – im unmittelbaren Bezug zu denjenigen Forschungsprojekten erläutert werden, die im ersten Abschnitt ausführlich vorgestellt wurden. Diese Anbindung an eine konkrete Studie erhöht dabei die Anschaulichkeit abstrakter methodischer Vorgehensweisen erheblich. Mit der Aufteilung in die drei genannten Kapitel verlässt der Band bewusst das klassische Muster von Sammelbänden zu Forschungsprojekten eines Handlungsfeldes. Mit den forschungstheoretischen Reflexionen wird der Blick über einzelne Studien hinweg auf grundlegende forschungspolitische und methodologische Fragestellungen geöffnet, die im For-
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schungsalltag nicht selten, wenn überhaupt, nur randständige Aufmerksamkeit erfahren. Mit dem forschungsmethodischen Schwerpunkt nimmt der Band bewusst Elemente eines allgemeinen Forschungshandbuches auf, will jedoch die vorgetragenen Methoden mit Rückgriff auf ausführlicher behandelte Studien wesentlich stärker veranschaulichen und damit besser zugänglich machen, als es üblicher Weise in diesen Handbüchern möglich ist. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die einzelnen Beiträge gegeben werden: Im ersten Beitrag von Julia Günther, Frank Nestmann und Jillian Werner geht es um soziale Netzwerke von Kindern. Diese sind für sie als Sozialisationsinstanzen ebenso von Bedeutung wie als „Begleitschutz und Stresspuffer“, und dies gerade in Bezug auf die vielfältigen spannungs-und konfliktgeladenen Übergänge, die Kindheit und Jugendphase für die Einzelnen bereit halten. Dies gilt generell für alle Kinder, für Kinder in öffentlicher Erziehung jedoch in inbesonderem Maße (S. 25). Ziel der Untersuchung ist es, eine Analyse sozialer Netzwerke von Kindern vorzunehmen, und zwar von Kindern, die im Rahmen stationärer erzieherischer Hilfen in Heimen bzw. Pflegefamilien aufwachsen, im Vergleich zu Kindern, die in ihren Herkunftsfamilien leben. Die qualitativ angelegte Untersuchung orientiert sich an einem Theoriemodell sozialer Beziehungen, das „neben strukturellen Netzwerkparametern die eher funktionalen und prozessual-interaktiven Dimensionen von sozialer Unterstützung, Regulation bzw. Kontrolle sowie sozialer Konflikte als signifikante und voneinander getrennt operationalisierbare Beziehungsaspekte postuliert“ (S. 28). Auf dieser Grundlage sollen Ressourcen wie Belastungen der untersuchten sechs- bis zwölfjährigen Kinder in ihren sozialen Netzwerken erfasst werden. Entsprechend den unterschiedlichen theoretischen Facetten der Fragestellung nutzt die Studie auch unterschiedliche Datenerhebungsmethoden: Die Erstellung von Karten der sozialen Netzwerke sowie strukturierte Befragungen der Kinder, Vignetten mit zu vervollständigenden Geschichten, von denen nur die Anfänge mitgeteilt sind, sowie Aktenanalysen der entsprechenden Jugendamtsakten. Sieht man einmal von der Aktenanalyse ab, dann nimmt die Studie eine eindeutige Positionierung vor: Sie konzentriert sich auf die Erfassung der subjektiven Sicht der befragten Kinder und konfrontiert diese erst im zweiten Schritt mit den professionellen bzw. institutionellen Perspektiven, wie sie in den Amtsakten repräsentiert sind. Die z.T. eklatanten Diskrepanzen, die sich in den Untersuchungsergebnissen zwischen den beiden Sichtweisen zeigen, plädieren überdeutlich für die Notwendigkeit, zur Bearbeitung von Fragestellungen, wie der hier verfolgten, die Sicht der Kinder an prominenter Stelle mit einzubeziehen (S. 45). Hier wird eine Studie vorgestellt, die nicht nur theoretisch und methodisch anspruchsvoll ist, sondern auch ausgesprochen interessante Einblicke in die Lebenswelten von Kindern in öffentlicher Erziehung/Jugendhilfe ermöglicht. Heinz Messmer und Sarah Hitzler beziehen sich in ihrem Beitrag auf das Hilfeplangespräch als einem der zentralen Schlüsselprozesse im Verlauf einer ‘Hilfe zur Erziehung’. Sie zielen mit ihrer Studie darauf ab, „die dem Hilfeplangespräch innewohnenden Rationalitäten institutionellen Handelns systematisch“ zu beschreiben und freizulegen (S. 52). Mit ihrem qualitativen Vorgehen und dem Einsatz der Konversationsanalyse als Datenerhebungsmethode stellen sie ihre Forschungsfragen in einer vergleichweise offenen Form: „Was ist ein Hilfeplangespräch? Was geschieht darin tatsächlich“ und welche Ablauf- und Entscheidungsprozesse vollziehen sich hierbei? (ebd.) Als Datengrundlage dienen ihnen auf Tonträger aufgezeichnete Hilfeplangespräche, ergänzt durch Interviews mit den fallführenden SozialarbeiterInnen und deren Leitungskräften sowie einer Aktenanalyse zu den jeweiligen Fällen.
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Vor dem Hintergrund elaborierter Ausführungen zum methodischen Vorgehen (s. auch den Beitrag vom Hitzler/Messmer zur Konversationsanalyse im dritten Abschnitt dieses Bandes) stellt der Text zentrale Ergebnisse der Studie vor. Trotz der Einzigartigkeit jedes einzelnen Hilfeplangesprächs beschreiben die AutorInnen eindrücklich, dass immer wieder ähnliche Formen von Prozessen der Klientifizierung, von Mechanismen der Entscheidungsfindung oder vergleichbare Muster des Lavierens zwischen inkompatiblen Handlungsanforderungen sichtbar werden (S. 61). Sich der Frage nach der Generalisierbarkeit der Ergebnisse gesprächsanalytischer Forschung stellend macht der Beitrag deutlich, dass trotz aller Besonderheit der einzelnen Interaktionen mithilfe des konversationsanalytischen Vorgehens grundlegende Praxisroutinen der Sozialen Arbeit sichtbar und analysierbar gemacht werden können. Die „Sozialkapitalstudie“ (S. 66) von Sandra Landhäußer und Holger Ziegler schließt an die Diskussionen zur Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit an. Aus dem umfangreichen Spektrum der der Studie zugrunde gelegten Fragestellungen fokussiert dieser Beitrag die quantitative Sozialkapitalanalyse. Sie richtet ihr Augenmerk zum einen auf die Verteilung von kollektivem Sozialkapital auf der lokalen Ebene im Putnamschen Sinne sowie zum anderen auf jenes individuelle Sozialkapital, das auf Ressourcen und Netzwerke der Einzelnen im Bourdieuschen Sinne verweist. Vor dem Hintergrund einer Skizzierung der theoretischen Grundlagen von Putnam und Bourdieu arbeitet die Untersuchung empirisch fundierte Informationen über den Umfang und die Verteilung der genannten Sozialkapitalformen bei „sozial Marginalisierten“ eines „benachteiligten Stadtteils“ heraus und unterlegt damit die bislang schwerpunktmäßig theoretisch geführte Sozialraumdebatte mit empirisch gehaltvollen Informationen. Methodische Grundlage ist eine repräsentative Befragung von ca. 500 BewohnerInnen einer mittelgroßen westdeutschen Großstadt. Anhand einer explorativen Hauptkomponentenanalyse, deren Vorgehen detailliert im dritten Abschnitt dieses Bandes erläutert wird, und einer sich daran anschließenden Clusteranalyse wird eine Gruppierung der Befragten hinsichtlich der Verteilung der von ihnen beschriebenen Sozialkapitalien vorgenommen. Es zeigt sich z.B., dass es der wesentlichen Zielgruppe Sozialer Arbeit keinesfalls, wie häufig unterstellt, per se an Sozialkapital mangelt, bestenfalls an speziellen Formen von Sozialkapital (S. 73). Einfache Reaktionsweisen, in sogenannten Sozialen Brennpunkten vornehmlich Soziales Kapital der Bevölkerung aktivieren zu wollen, scheinen infolgedessen als unangemessen. Will Soziale Arbeit sozialraumorientiert ansetzen, dann ist, so ein Fazit der Studie, ein deutlich differenzierteres Vorgehen gefordert. Im Fokus der Untersuchung von Christof Beckmann, Katja Maar und Mark Schrödter steht das professionelle Handeln in modernen Dienstleistungsorganisationen Sozialer Arbeit. Es geht um den „Zusammenhang zwischen Professions- und Organisationsbindung“ von MitarbeiterInnen (S. 89) und um die Frage, „welche Haltung professionelle Sozialpädagogen in unterschiedlichen organisatorischen Kontexten zu ihrer Einrichtung und zu ihrer Profession einnehmen“ (S. 80). Vor dem Hintergrund institutioneller und organisationeller Modernisierungsprozesse untersuchen die AutorInnen diesen Zusammenhang in Abhängigkeit von unterschiedlichen, mehr oder weniger manageriell bzw. bürokratisch geprägten Einrichtungstypen. Sie greifen hierbei auf „eine Kombination von „quantitativem“ Survey und „qualitativer“ Inhaltsanalyse“ zurück (S. 89). Mittels einer Clusteranalyse lässt sich eine Typologie der beobachteten Einrichtungen als bürokratische, kollegiale oder managerielle Organisation rekonstruieren. Zwei ergänzende qualitative Fallstudien (Gruppendiskussionen) untersuchen die Art und Weise, wie sich die Organisations- und Professionsbindungen darstellen. Die Ergebnisse können Sand in die managerielle Betriebsamkeit von Organisationen Sozialer Arbeit streuen. Denn es deutet sich an, dass für die alltägliche, professionelle Arbeit in Organisationen weniger die
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Qualitätssemantik bestimmend ist als vielmehr „der Konsens in drängenden Fragen über die Maßstäbe der eigenen Arbeit, der durch den Professionshabitus erzeugt wird“ (S. 91). Eben diese Verständigung scheint „Profiorganisationen“ gegenüber „Maschinenorganisationen“ auszuzeichnen und weniger das manageriell abgesicherte Qualitätsprocedere. Der Beitrag von Ellen Bareis und Claus Reis stellt ebenfalls die organisationelle Seite der Sozialen Arbeit in den Mittelpunkt. Unter einer organisationsbezogenen Perspektive wird der Prozess der Implementierung von Frühförderprogammen in Kindertagesstätten in den Blick genommen und die Frage gestellt, was die organisatorischen Voraussetzungen einer erfolgreichen Implementation pädagogischer Programme, hier in Kindertagesstätten, sind. Wie schaffen es Organisationen wie die hier beobachteten Kindertagesstätten und die darin Beschäftigten, in ihrem Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsalltag die unterschiedlichen Ansprüche der beteiligten Akteure in Einklang zu bringen? (S. 98) Vor dem Hintergrund ihres organisationssoziologischen Theorierahmens, verbunden mit Überlegungen zur Strukturierung personenbezogener Dienstleistungen, werden Kindertagesstätten einerseits mittels Befragungen des Personals sowie andererseits anhand von Interaktionsbeobachtungen untersucht. Im Mittelpunkt stehen dabei die Implementations- und Umsetzungsbemühungen der Erzieherinnen bei der Durchführung von zwei Frühförderprogrammen (zum Spracherwerb und Zahlenverständnis). Trotz gleicher bzw. weitgehend ähnlicher Grundbedingungen der untersuchten Organisationen zeigen sich deutliche Unterschiede bei der Implementierung wie Realisierung der Programme, ebenso wie eine Umsetzung anhand unterschiedlicher Formate, die von den AutorInnen als Labor, Schule und soziale Gruppe charakterisiert werden. Die Unterschiedlichkeit, mit der sich die Realisierung identischer und zudem recht schematischer Bildungsprogramme im beruflichen Alltag von Organisationen der Jugendhilfe vollzieht, kann verblüffen und ermöglicht einen empirisch gestärkten Blick auf die Eigenständigkeit organisationeller Entwicklungen. Die Studie von Werner Thole, Peter Cloos, Stefan Köngeter und Burkhard Müller macht unmittelbar das pädagogische Handeln zum Gegenstand empirischer Aufklärung (S. 115). Es geht den Autoren um die Rekonstruktion vorfindbarer Praktiken, Deutungen und räumlicher Bedingungen in der Kinder- und Jugendarbeit, wozu ein sich explizit ethnographisch verstehendes Forschungsprogramm eingesetzt wird. Dieses methodische Vorgehen ermöglicht eine Analyse des Geschehens anhand von teilnehmender Beobachtung,3 von Gesprächsprotokollen, Protokollen von Interaktionssequenzen sowie nachträglichen Befragungen von Beteiligten. Die Skizzierung des Verlaufs der Studie beschreibt den Weg von der vielfältigen Materialgewinnung über die gewählte Methodik zur Rekonstruktion der erhobenen Praktiken, Rahmungen, Regeln etc. bis hin zur Frage, wie mit der Herausforderung der Generalisierung des Gefundenen umgegangen werden kann. Die exemplarisch vorgetragenen Ergebnisse verleihen der Kinder- und Jugendarbeit als pädagogischem Ort Plastizität, illustriert anhand von Regeln professionellen Handelns, die auf anschauliche Weise aus dem Material rekonstruiert werden. Der Beitrag verweist mit seinen Ergebnissen wie seinen methodologischen Reflexionen auf die empirischen Möglichkeiten ethnografischer Forschung, insbesondere mit Blick auf in situ-Forschung zur Rekonstruktion pädagogischer Handlungsvollzüge, aber auch auf die fortwährende performative Herstellung des Handlungsfeldes selbst. Vor dem Hintergrund der vorgetragenen Ergebnisse werden schließlich theoretische Überlegungen zu den bildungsspezifi3
Zum methodischen Verfahren der teilnehmenden Beobachtung vgl. den Beitrag von Anja Tervooren im dritten Abschnitt dieses Bandes.
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schen Besonderheiten der Kinder- und Jugendarbeit – nicht zuletzt in Abgrenzung zur Schule – zur Diskussion angestellt. Der Beitrag von Petra Richter und Andreas Hanses thematisiert einen bislang eher randständigen Bereich Sozialer Arbeit, nämlich Soziale Arbeit im Gesundheitswesen. Er tut dies jedoch anhand einer grundlegenden, auch für weitere Bereiche relevanten Fragestellung, nämlich die soziale und biographische Konstruiertheit von Problemlagen und die Herstellungspraxis professioneller Bezugnahmen, hier am Beispiel von Krankheit (S. 138). Grundlage ihrer Arbeit sind die Ergebnisse einer qualitativen Studie zum Thema Brustkrebserkrankungen. Die biografischen Interviews rekonstruieren unterschiedliche Haltungen zur eigenen Erkrankung, zum Gesundheitssystem sowie zu den machtvollen Deutungen der Ärzte. Im Mittelpunkt stehen die mit ungleicher Macht ausgestattete Arzt-Patient-Interaktion, die empirische Rekonstruktion unterschiedlicher Wissensordnungen und die Relationierung zwischen ihnen. Eben dies bildet auch die Klammer zur Sozialen Arbeit: „Biographie ist somit nicht als alleiniger Verweis auf das Eigene, Erstpersönliche, das Subjektive zu sehen, sondern immer auch als die Hervorbringung eines sozialen Akteurs, der das Eigene vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wissens produziert“ (S. 148). Als Fazit der Studie deutet sich an: „Klassische Konzepte expertokratischer Perspektiven auf professionelles Handeln“ scheinen selbst in der Medizin nicht wirklich produktiv zu halten zu sein (S. 149). Mit der Thematisierung von Gesundheit und Krankheit befasst sich auch der Beitrag von Uwe Flick und Gundula Röhnsch. Sie untersuchen in ihrer qualitativen Studie die Situation von obdachlosen chronisch kranken Straßenjugendlichen im Hinblick auf deren gesundheitliche Situation. Es geht um die Frage, was diese Jugendlichen unter Gesundheit verstehen und welches Gesundheitsverhalten sie zeigen. Als Grundlage dienen Informationen aus 24 Interviews mit obdachlosen kranken Jugendlichen, ergänzt um Informationen aus systematischen Beobachtungen der jugendlichen Obdachlosenszene. Die so gewonnenen Einblicke in die Lebenswelt, die Perspektiven und Umgangsweisen der betroffenen Jugendlichen mit ihren gesundheitlichen Problemen werden um die Sichtweisen von Professionellen, die im Kontakt zu diesen Jugendlichen stehen (Ärzte wie Sozialarbeiter), erweitert. Methodisch setzt die Datenerhebung mit drei unterschiedlichen Verfahren an: Zur Befragung der Jugendlichen wird das episodische Leitfaden-Interview genutzt, dessen Vorgehensweise als Supplement im dritten Teil dieses Bandes näher erläutert wird. Weiterhin werden eine Beobachtungsstudie sowie schließlich leitfadengestützte Experteninterviews zur Befragung der Professionellen eingesetzt. Die Studie trianguliert die verschiedenen Perspektiven auf die Lebenssituation und -weise der Jugendlichen, ein Vorgehen, das ebenfalls als Supplement im letzten Abschnitt dieses Bandes näher erläutert wird. Anhand des gewonnenen Datenmaterials kann eine Gruppierung der Jugendlichen entlang von Gemeinsamkeiten wie Unterschieden der einzelnen Fälle vorgenommen werden, welche wiederum fallübergreifende Deutungs- und Handlungsmuster der Jugendlichen analysierbar werden lassen (S. 154). Die bislang wenig beachtete Untersuchungsthematik (obdachlose Straßenjugendliche und soziale Verarbeitung chronischer Erkrankungen im Jugendalter) einerseits wie die explizite forschungsmethodische Orientierung an einer Triangulation andererseits stellen hohe Anforderungen an eine Studie und einen empirisch begründeten Zugang zu dieser komplexen Thematik. Die quantitative Untersuchung von Alexandra Klein will ebenfalls jugendliche Sichtweisen auf deren Alltag rekonstruieren. Sie untersucht das Sexualverhalten und sexuelle Wertvorstellungen von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen und bezieht sich in kritischer Weise auf einen öffentlichen Diskurs, der von sexueller Verwahrlosung junger Menschen heute ausgeht.
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Die empirisch erhobenen Aussagen zu sexuellen Beziehungserfahrungen, Beziehungswerten und Beziehungspraxen werden in den Zusammenhang mit der ungleichen Verteilung von Verwirklichungsmöglichkeiten gestellt. Die repräsentativ angelegte telefonische Befragung zeigt, dass im Mittelpunkt der sexuellen Einstellungen der jungen Menschen der Wunsch nach sexueller Treue steht und dass somit auch im „21. Jahrhundert die sexuell monogame Beziehung das übergreifende Beziehungsideal junger Männer und Frauen“ ist (S. 176). Öffentlich geführte Reden von sexueller Verwahrlosung der Jugend lassen sich damit als „moral panic“ entlarven. Nicht zuletzt mit Blick auf die Soziale Arbeit wird hier offensichtlich, dass „sexuelle Handlungs- und Daseinsmöglichkeiten im Kontext ungleicher materieller und symbolischer Begrenzungen sowohl empirisch als auch theoretisch zu analysieren“ sind (S. 177). Will sich Soziale Arbeit, beispielsweise im Zusammenhang der Debatten um die „neue Unterschicht“, nicht unkritisch an dieser moralischen Panikmache beteiligen, sind die Ergebnisse dieser Studie höchst aufschlussreich. Die Forschungsarbeit, die dem Beitrag von Nina Thieme zugrunde liegt, richtet ihren Blick ebenfalls auf die Adressaten der Sozialen Arbeit, allerdings vermittelt über die Sichtweise der Professionellen. Es geht um die empirische Erfassung von „Hin-Sichten“ auf die Adressaten, die die Autorin als Praxen der Zuschreibung versteht, als „Sprechen-Über“ und als machtvollen Modus der Bestimmung des Adressaten in den Interaktionen der Sozialen Arbeit. Ihr Vorgehen der empirischen Analyse setzt, anders als es vielleicht zu erwarten wäre, nicht als in situForschung an, sondern mit dem ausgefeilten kategorisierenden Datenerhebungsinstrument des Repetory-Grid-Verfahrens. Hierbei handelt es sich um ein systematisierendes Interviewverfahren, in dem den InterviewpartnerInnen – hier den Professionellen der Sozialen Arbeit – der Gesprächsgegenstand – nämlich die Kategorie Adressat – als Bestandteile einer Diskriminationsaufgabe vorgelegt wird, bei der die Gruppierung von Adressaten anhand von Gemeinsamkeiten und Unterschieden vorzunehmen ist (S. 185). Weitergehende Ausführungen zu diesem ebenso interessanten wie wenig genutzten Datenehebungsverfahren finden sich ebenfalls als Supplement im dritten Teil dieses Bandes. Als eines der zentralen Ergebnisse stellt sich heraus, dass die Professionellen die Adressaten als „defizitäre Wesen“ betrachten (S. 189), und dies notwendigerweise, weil ansonsten Hilfegewährung, ein zentraler Fokus Sozialer Arbeit, nicht gerechtfertigt zu sein scheint.4 Auch wenn sich dieses Ergebnis letztlich mit dem ‘Alltagsverstand’ in der Sozialen Arbeit deckt, kann die Studie, insbesondere aufgrund der systematisierenden empirischen Rekonstruktion, einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Professionsforschung liefern. Die Studie von Veronika Magyar-Haas fokussiert, ebenso wie weitere Beiträge in diesem Band (z.B. Günther/Nestmann/Werner; Hanses/Richter; Flick/Röhnsch oder Klein), konsequent die Seite der AdressatInnen oder NutzerInnen von Angeboten Sozialer Arbeit – hier von Angeboten der Jugendarbeit. Die Forschungsfrage lautet: Wie positionieren sich Jugendliche in einem sozialpädagogisch arrangierten Setting körperlich-leiblich? Wie schaffen sie in sozialen Situationen ihre ‘plastischen’ Grenzen in der Abgrenzung selbst und in der Aushandlung mit anderen? (S. 196) Von besonderer Bedeutung ist hierbei, wie und mit welchen Mitteln Nähe und Distanz sowie Zuwendung und Abwendung inszeniert und performiert werden. Als Datenerhebungsmethode setzt die Autorin die Videografie ein, die zum methodischen Ausgangspunkt der Datengenerierung wie deren Auswertung wird. Sie greift damit auf eine interessante allerdings bislang wenig genutzte empirische Vorgehensweise zurück und kann aufzei4
Vgl. hierzu auch die Untersuchung von Heinz Messmer und Sarah Hitzler in diesem Band.
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gen, wie sich diese für spezifische Fragestellungen der Sozialen Arbeit produktiv nutzbar machen lässt. Der Artikel von Susann Fegter ist, ähnlich dem von Veronika Magyar-Haas, weniger die Präsentation eines abgeschlossenen Forschungsprojekts als vielmehr die Entfaltung von Überlegungen mit dem Ziel, „diskursanalytische Perspektiven auf Photographien und deren Einbezug in entsprechende Untersuchungen zur Herstellung sozialpädagogischen Wissens in öffentlichen Diskursen“ (S. 217) zu entfalten. Beiden Beiträgen ist zudem gemeinsam, dass sie auf visuelle Daten rekurrieren. Susann Fegter verweist zunächst auf die Anschlussfähigkeit von Photographien für diskursanalytische Forschung,5 um vor diesem Hintergrund Ansätze zur Analyse von Photographien vorzunehmen. Als Beispiel dient ihr eine Zusammenstellung einer Reihe von Photographien von Jungen, die von einer Zeitschrift als Aufmacher für einen Artikel über „die Krise der Jungen“ genutzt wurde. Wie die einzelnen Photos in einem Gesamtdiskurs eingesetzt werden, wie das Bild von „den Jungen“ gezeichnet wird und welche methodischen Herangehensweisen die Diskursanalyse hierzu bereitstellt, veranschaulicht diese Arbeit in innovativer Weise. Im Mittelpunkt des Beitrags von Kirsten Fuchs-Rechlin, Ana Moya und Matthias Schilling steht der Datenkorpus der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik, der der Forschung in der Sozialen Arbeit/Jugendhilfe seit geraumer Zeit in verbesserter Form zur Verfügung steht. Üblicherweise – nicht selten aus Unkenntnis über die Tatsache bereits vorliegender Daten – arbeiten empirische Forschungsprojekte im Feld Sozialer Arbeit mit Datensätzen, die eigens zum Zweck der jeweiligen Studie erhoben wurden. Vorliegende Daten wie z.B. die der statistischen Landesämter werden dagegen häufig lediglich als Rahmendaten oder als ergänzende Daten verwendet. Die AutorInnen schlagen demgegenüber vor, die Informationen der amtlichen Statistik – hier am Beispiel der Kindertagesbetreuung – als eigenständige Datengrundlage wissenschaftlicher Forschung zu nutzen. Sie geben zunächst einen Überblick über die Informationsbasis, die die entsprechenden amtlichen Statistiken liefern können, um dann anhand zweier exemplarischer Forschungsfragestellungen zu demonstrieren, welche Möglichkeiten für bivariate wie multivariate Analyseverfahren mit diesen Daten tatsächlich gegeben sind. Der Beitrag wirbt mit Nachdruck für die Nutzung des sekundäranalytischen Potenzials amtlicher Statistiken in der empirischen Forschung der Sozialen Arbeit. Die beiden Forschungsessays, die den zweiten Abschnitt dieses Bandes bilden, wollen jenseits der Präsentation einzelner Studien oder methodischer Verfahrensweisen Reflexionen über verallgemeinerbare Fragestellungen empirischer Forschung in der Sozialen Arbeit anregen und beschäftigen sich mit relevanten Querschnittsthemen. Um ein solches Thema handelt es sich zweifelsohne bei der Frage nach den Wirkungen, der Effektivität und der Effizienz Sozialer Arbeit, die in den vergangenen Jahren immer offensiver auf die Agenda empirischer Forschung wie Praxis Sozialer Arbeit gesetzt wurde. Stefanie Albus, Heinz-Günter Micheel und Andreas Polutta fragen in ihrem Forschungsessay danach, welche Forschungszugänge Soziale Arbeit in der Wirkungsfrage benötigt und wie die Ergebnisse sinnvoll und professionell genutzt werden können. Die AutorInnen geben zunächst einen kritischen Überblick über die verschiedenen Facetten des Wirkungsdiskurses in der Sozialen Arbeit, um dann feststellen zu können, welche ambivalenten Konsequenzen sich in den Auswirkungen der Wirkungsforschung für Wissenschaft, Profession und Gesellschaft ergeben können. Dies beziehen sie jedoch nicht auf die Generierung von Wissen über Wirkungen an sich, 5
Zu diskursanalytischen Vorgehensweisen vgl. den Beitrag von Fabian Kessl im Supplement dieses Bandes.
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also nicht auf das, was empirisch getan wird, sondern vielmehr auf das, was nicht getan wird. Dabei geht es u.a. darum, dass die „Frage der Normativität sozialpädagogischer Forschung und Praxis“ häufig nicht oder nicht offensiv genug gestellt wird (S. 250). Diese normative Perspektive einzunehmen und darüber „Bewertungsprozesse mit unterschiedlichen Akteuren anzustoßen, sind zentrale Haltungen und Anliegen einer notwendigen kritischen Wirkungsdebatte“ (ebd.). Es gehe nicht um die vielfach vorgenommene simplifizierende Untersuchung einzelner Programme – so die kritische Beurteilung eines größeren Teils der vorliegenden Wirkungsstudien – sondern um „methodologisch und methodisch adäquate Forschungsdesigns“, um das Zurverfügungstellen von Wissen zur „Unterstützung von Professionalisierungebestrebungen und Entscheidungsspielräumen“ der Praktiker sowie um die „Rückbindung der Forschungsinhalte an fachtheoretische Auseinandersetzungen über Ziele, Werte und Aufgaben Sozialer Arbeit“ (ebd.). Damit wird keine geringe aber eine notwendige Anforderung gestellt, wenn der Anspruch auf reflektierte, kritische Forschung aufrecht erhalten werden soll. Das zweite Forschungsessay von Andreas Walther rückt eine Frage in den Vordergrund, von der man vorschnell annehmen könnte, sie sei bereits ausreichend beantwortet, nämlich die Frage nach der Begründung internationaler Vergleichsstudien in der Sozialen Arbeit. Walther verdeutlicht hingegen, dass hier noch manches ungeklärt ist. Er zeigt drei wesentliche Desiderata auf: Die Klärung der Funktion vergleichender Forschung, die Bestimmung des Gegenstands sozialpädagogischer Vergleichsforschung sowie die Entwicklung eines Modells, anhand dessen Unterschiede wie Gemeinsamkeiten verschiedener Figurationen Sozialer Arbeit in unterschiedlichen Ländern überhaupt erst sinnvoll analysierbar werden können. Er wählt als Analysemodell ein Verständnis von Sozialer Arbeit als ‘Hilfe bei der Bewältigung des Lebenslaufs’ (Böhnisch) und damit eine Vorstellung von Lebenslaufregimes, die er am Beispiel von Übergangsprozessen bei Jugendlichen aus dem Bildungssystem in Arbeit ausführt. Unter der Überschrift: „Wozu Vergleich, was vergleichen und wie die Befunde erklären?“ (S. 254) führt er vier denkbare Funktionen empirischer sozialpädagogischer Vergleichsforschung an, die von ‘reiner’ Beschreibung des Fremden bis zur Übertragung erfolgreicher Praxisansätze aus dem Ursprungs- in andere Kontexte reichen. Als Vorschlag dessen, was – mit Blick auf das zweite Desiderat – Gegenstand sozialpädagogischer Vergleichsforschung, also das tertium comperationis eigentlich sein soll, schlägt er die ‘Organisierung des Lebenslaufs‘ vor (Schefold) und als Schlüssel für den Vergleich in der Sozialpädagogik die Untersuchung, „wie sich gesellschaftliche Normalitätsannahmen und Normalisierungsweisen in jeweils unterschiedlichen Konstruktionen von Hilfebedarf niederschlagen, aus denen sich wiederum unterschiedliche Zugänge zu sowie Formen und Ziele von Hilfe ableiten lassen“ (S. 256). Fundiert auf einer breiten Grundlage an Erfahrung und Wissen über vergleichende Forschung füllt Walther – zum dritten – sein analytisches Gerüst mit Überlegungen, die ein Bild der notwendigen Komplexität solcher Vergleichsperspektiven bei dennoch guten Realisierungsmöglichkeiten empirischer Vergleichsforschung aufscheinen lassen. Er erweckt damit die zunächst vielleicht als etwas ‘trocken’ anmutende internationale Vergleichsarbeit zu analytischem wie erfahrungsreichem ‘Leben’. Das Reflexionspotential von Vergleichsstudien zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass mit jeder neuen Perspektive auf Soziale Arbeit, die vermittels des „Wissens über andere“ entsteht, zugleich eine kritische Reflexion der eigenen Perspektive angestoßen wird. Dieses Forschungsessay motiviert förmlich, häufiger als bislang (international) vergleichende Studien in der Sozialen Arbeit durchzuführen. Die acht im dritten Abschnitt dieses Bandes zusammengestellten methodischen Beiträge konzentrieren sich auf die Darstellung, Erläuterung und Analyse methodischer Vorgehensweisen
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bzw. Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung. Die vorgenommene Zusammenstellung berücksichtigt solche Verfahren, die im Forschungskontext Sozialer Arbeit bislang eher weniger bekannt sind wie bspw. das Paarinterview oder die Repetory Grid Methodik, ebenso aber auch häufiger eingesetzte Verfahren wie etwa die teilnehmende Beobachtung oder die Hauptkomponentenanalyse. Alle methodischen Beiträge entfalten ausführlich das jeweils vorzustellende Verfahren und erläutern es im Rückgriff auf exemplarische Studien. Hierbei beziehen sie sich größtenteils unmittelbar auf die im ersten Teil dieses Bandes vorgestellten Studien, in den wenigen übrigen Beiträgen werden die dargestellten Verfahren anhand exemplarisch vorgestellter Untersuchungen aus dem weiteren Kontext Sozialer Arbeit erläutert. Die Beiträge zeigen die empirischen Möglichkeiten und Grenzen der methodischen Vorgehensweise auf und diskutieren die theoretischen wie methodologischen Grundlagen. Wenngleich sich die hier versammelten Aufsätze auf übergreifende forschungsmethodische Ausführungen konzentrieren, so bleiben sie dennoch sämtlich im engen Bezug zur Sozialen Arbeit. Bei drei der vorgestellten Verfahren handelt es sich um Methoden der Befragung. So zielt das episodische Interview im ersten Beitrag dieses Abschnittes darauf, sowohl semantisches als auch episodisches, also situativ-gestütztes Wissen von InterviewpartnerInnen zu erfassen. Erläutert wird es von Uwe Flick unmittelbar in Ergänzung zu seiner oben zusammen mit Gundula Röhnsch präsentierten Studie zum Gesundheitsverhalten von Straßenjugendlichen. Das zweite hier aufgezeigte Interviewverfahren, die Repetory Grid Methodik, wird von Nina Thieme mit Bezug auf ihre hier ebenfalls veröffentlichte Studie ausgeführt. Dabei geht es um die Herausarbeitung persönlicher Konstrukte – in diesem Kontext um Adressatenkonstrukte aus der Sicht von Professionellen. Die Repetory Grid Methodik ermöglicht eine Verbindung zwischen einem quantitativen Vorgehen bei der Erfassung der Konstrukte mit einem qualitativen Vorgehen zu deren narrativer Fundierung. Das Paarinterview, die dritte hier aufgenommene Interviewvariante, wird von Nadine Lauer am Beispiel einer Studie zur Sozialpädagogischen Familienhilfe erörtert. Es betont den Zugang zu kollektiven Konstruktionsleistungen von Paaren resp. von Familien bzw. Gruppen und die Möglichkeiten, über die erweiterte Gesprächssituation im Paarinterview den damit entstehenden performativen Raum für die Forschung in der Sozialen Arbeit zu nutzen. Anja Tervooren setzt sich mit den Möglichkeiten der teilnehmenden Beobachtung auseinander, einem zwar klassischen Verfahren der Datenerhebung, auf das sich jedoch, zumindest in einer elaborierten Weise, das Interesse der empirischen Forschung zu Fragestellungen im engeren wie weiteren Kreis Sozialer Arbeit nach wie vor eher selten richtet. Sie stellt das Vorgehen der teilnehmenden Beobachtung in den Kontext ethnografischer Forschung, veranschaulicht es anhand der Diagnostik bei medizinischen Vorsorgeuntersuchungen von Kindern und lässt damit die Möglichkeiten eines kulturanalytischen Zugangs zu sozialen Praktiken nachhaltig deutlich werden. In gewisser Weise schließt hier der Beitrag von Sarah Hitzler und Heinz Messmer zur Konversationsanalyse an. Ihnen geht es ebenfalls um die Erfassung sozialer Praktiken und um die Beobachtung von Situationen, was sie in Anknüpfung an ihre Studie zu Hilfeplangesprächen in der Jugendhilfe ausführen (s.o.). Im Gegensatz zu klassischen Beobachtungsverfahren konzentriert sich die Analyse hier jedoch auf die systematische Rekonstruktion des Gesprächs, und zwar mit dem Grundanliegen, „soziale Ordnung in ihrer Produktion im Miteinander von Individuen zu beschreiben“ (S. 307). Eine Rekonstruktion Sozialer Praktiken steht, neben einem textanalytischen Fokus, auch im Zentrum der Ausführungen von Fabian Kessl zu diskursanalytischen Vorgehensweisen. Auf
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der Grundlage von drei skizzierten Studien zeigt er die Vielfalt diskursanalytischen Vorgehens, ebenso die analytischen Spielräume wie Begrenzungen, die damit verfügbar werden. In unmittelbarer Bezugnahme auf die von ihm und Gundula Röhnsch oben vorgestellte Studie zum Gesundheitsverhalten von Straßenjugendlichen stellt der Beitrag von Uwe Flick verschiedene Herangehensweisen bei der Kombination unterschiedlicher methodischer Zugänge zu einem komplexen Forschungsgegenstand, der Triangulation, dar. Anhand einer kritischen Reflexion der Optionen, die sich in der Triangulation eröffnen, plädiert er aus forschungspraktischen wie aus ethischen Gründen für ein methodologisches wie methodisches Vorgehen, das sich immer der jeweils verfolgten Fragestellungen anzupassen hat. Der abschließende Beitrag von Sandra Landhäußer und Holger Ziegler zur Hauptkomponentenanalyse beschäftigt sich mit einer Auswertungsmethode für quantitative Datensätze und verfolgt das Ziel, eine Strukturierung von Einzelvariablen vorzunehmen. Schritt für Schritt erläutern sie das Vorgehen anhand eines konkreten Beispiels aus ihrer oben vorgestellten Studie zur Analyse von Sozialem Kapital. Mit ihren detaillierten Ausführungen lassen sie das quantitative Auswertungsverfahren nachvollziehbar werden, welches zwar häufig eingesetzt wird aber für die AnwenderInnen nicht selten lediglich eine beliebige Operation eines Statistikprogramms bleibt, ohne konkret nachzuvollziehen, was hierbei eigentlich mit Blick auf die Aufbereitung und Auswertung der erhobenen Daten geschieht. Ihr Beitrag geht einen Schritt weiter und veranschaulicht, wie anhand der Hauptkomponentenanalyse aus den erhobenen Daten die darin ggf. enthaltenen Muster und Regelmäßigkeiten herausgearbeitet werden können. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren ausdrücklich und herzlich für ihr hohes Engagement, ihre ausgesprochen inspirierenden Beiträge und nicht zuletzt für ihr Verständnis, dass es bei dem doch recht komplexen Produktionsprozess eines solchen vielfältigen Bandes leider zu nicht unerheblichen zeitlichen Verzögerungen gekommen ist. Wir sind aber der festen Überzeugung, dass sich die Mühe für alle Beteiligten am Ende gelohnt haben wird. Den LeserInnen wünschen wir eben jene vielfältigen Anregungen und forschungspraktischen Einsichten, für die die Beiträge in ihrem jeweiligen Diskurskontext stehen wollen. Literatur Bock, Karin; Miethe, Ingrid (Hrsg.) (2010): Handbuch Qualitative Methoden in der Sozialen Arbeit. Opladen und Farmington Hills, Barbara Budrich Cloos, Peter; Thole, Werner (2005): Qualitativ-rekonstruktive Forschung im Kontext der Sozialpädagogik. Anmerkungen zu einigen Fragen und Problemen der sozialpädagogischen Forschungskultur. In: Thole, Werner; Schweppe, Cornelia (Hrsg.): Sozialpädagogik als forschende Disziplin. Theorie, Methode, Empirie. Weinheim und München, Juventa, S. 71 – 96 Eyferth, Hanns; Otto, Hans-Uwe; Thiersch, Hans (Hrsg.) (1984): Handbuch zur Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied und Darmstadt, Luchterhand Heiner, Maja (Hrsg.) (1988): Praxisforschung in der sozialen Arbeit. Freiburg i.Br., Lambertus Hornsten, Walter (1984): Forschung/Forschungspolitik, In: Eyferth, Hanns; Otto, Hans-Uwe; Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch zur Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied und Darmstadt, Luchterhand, S. 371 – 388 Jakob, Giesela; Wensierski, Hans-Jürgen von (Hrsg.) (1997): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Methoden sozialpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. Weinheim und München, Juventa
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Lüders, Christian (1998): Sozialpädagogische Forschung – was ist das? Eine Annäherung aus der Perspektive qualitativer Sozialforschung. In: Rauschenbach, Thomas; Thole, Werner (Hrsg.): Sozialpädagogische Forschung. Gegenstand und Funktionen, Bereiche und Methoden. Weinheim und München, Juventa, S. 113 – 132 Lüders, Christian; Rauschenbach, Thomas (2001): Forschung: sozialpädagogische. In: Otto, Hans-Uwe; Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied, Luchterhand, 2. völlig überarbeitete Auflage, S. 562 – 575 Maykus, Stephan (Hrsg.) (2009): Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe. Theorie, Beispiele und Entwicklungsoptionen eines Forschungsfeldes. Wiesbaden, VS Verlag Miethe, Ingrid; Fischer, Wolfram; Giebeler, Cornelia; Goblirsch, Martina; Riemann, Gerhard (Hrsg.) (2007): Rekonstruktion und Intervention. Interdisziplinäre Beiträge zur rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung. Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit, Band 4. Opladen und Farmington Hills, Barbara Budrich Otto, Hans-Uwe; Oelerich, Gertrud; Micheel, Heinz-Günter (Hrsg.) (2003): Empirische Forschung und Soziale Arbeit. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. München, Luchterhand Thiersch, Hans; Rauschenbach, Thomas (1984): Sozialpädagogik/Sozialarbeit: Theorie und Entwicklung. In: Eyferth, Hanns; Otto, Hans-Uwe; Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch zur Sozialarbeit /Sozialpädagogik. Neuwied und Darmstadt, Luchterhand, S. 984 – 1016 Rauschenbach, Thomas; Thole, Werner (1998): Sozialpädagogik – ein Fach ohne Forschungskultur? In: Dies. (Hrsg.): Sozialpädagogische Forschung. Gegenstand und Funktionen, Bereiche und Methoden. Weinheim und München, Juventa, S. 9 – 28 Schefold, Werner (2002): Sozialpädagogische Forschung. Stand und Perspektiven. In: Thole, Werner (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Opladen, Leske und Budrich, S. 875 – 896 Schrapper, Christian (Hrsg.) (2004): Sozialpädagogische Forschungspraxis. Positionen, Projekte, Perspektiven. Weinheim und München, Juventa Schweppe, Cornelia (Hrsg.) (2003): Qualitative Forschung in der Sozialpädagogik. Opladen, Leske und Budrich Schweppe, Cornelia; Thole, Werner (2005): Sozialpädagogik als forschende Disziplin – Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Sozialpädagogik als forschende Disziplin. Theorie, Methode, Empirie. Weinheim und München, Juventa, S. 7 – 14 Schweppe, Cornelia; Thole, Werner (Hrsg.) (2005): Sozialpädagogik als forschende Disziplin. Theorie, Methode, Empirie. Weinheim und München, Juventa Thole, Werner (1999): Die Sozialpädagogik und ihre Forschung. Sinn und Kontur einer empirisch informierten Theorie der Sozialpädagogik. In: neue praxis, 29.Jg., H.3, S. 224 – 245
I. Empirische Studien
Netzwerkforschung mit Kindern. Eine empirische Studie zu Unterstützungsbezügen in Familie, Pflegefamilie und Heim Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner Die Netzwerk- und Unterstützungsforschung – einer der größten sozialwissenschaftlichen Forschungsbereiche der letzten 30 Jahre – hat sich erst relativ spät in seiner Entwicklung auch den Netzwerken und Unterstützungsbeziehungen von Kindern und Jugendlichen zugewandt. Die entwicklungspsychologische und sozialpädagogische Kindheits- und Jugendforschung andererseits hat auch erst spät die potenzielle Bedeutung sozialer Netzwerke für Entwicklung, Sozialisation und Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen erkannt. Lange standen hier die Mutter-Kind-Beziehung einerseits (in der frühen Kindheitsforschung) und die Gleichaltrigenbeziehung (Peers; in der späten Kindheits- und Jugendforschung) ganz im Mittelpunkt des Interesses, kaum eingebunden in eine komplexere Sicht auf die gesamten Beziehungssysteme der untersuchten Populationen. Erst in den 80er/90er Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen einflussreichere Sammelpublikationen, die soziale Netzwerke und soziale Unterstützung im Kindes- und Jugendalter in ihren viel fassettigen Dimensionen und Effekten zum Thema machten (Belle 1989, Nestmann & Hurrelmann 1994). Diese langjährige empirische (aber auch theoretische und anwendungsbezogene) Zurückhaltung bleibt verwunderlich. Zum einen scheinen soziale Netzwerke als sich im Lebenslauf und in der Personen-Umwelt-Interaktion verändernde und doch auch beständige soziale Einbindungen, die das Leben und Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen vielfältig und nachhaltig beeinflussen. Die Personen verändern sich in und mit ihren Netzwerken und viele entwicklungspsychologische und (sozial-)pädagogische Phänomene sind vor diesem sozialen Beziehungshintergrund analysierbar und rekonstruierbar. Objektive Strukturen und subjektive Interpretationen sozialer Netzwerke sowie die in ihnen ablaufenden Interventionen und Interaktionen liefern neue Erklärungsmöglichkeiten für die Entwicklung persönlichen Denkens, Fühlens und Handelns. Soziale Netzwerke sind zentrale Sozialisationsinstanzen – generell und insbesondere hinsichtlich der Entwicklung sozialer Kompetenzen, sozialer Beziehungen und Interaktionen sowie sozialer Verantwortung (Salzinger, Antrobus & Hammer 1988; Gödde, Walper & Engfer 1996; von Aken, Asendorf & Wilpers 1996). In sozialen Netzwerken entwickeln Kinder und Jugendliche Selbstbild und Selbstwert, persönliche Identität und Autonomie im Spannungsfeld von Integration und Bindung, sozialer Regulation und sozialer Kontrolle andererseits. Soziale Netzwerke und deren soziale Unterstützungsleistungen sind Begleitschutz und Stresspuffer im Leben und gerade in spannungs- und konfliktreichen Lebensübergängen, die Kindheit und Jugendalter reichlich bereithalten (Nestmann & Hurrelmann 1994; Svedham 1994). Gerade dort, wo individuelle Bewältigungskompetenzen, persönliche Erfahrungen der Problembearbeitung und -lösung noch wenig entwickelt, unausgereifter als im Erwachsenenalter sind, liegt es nahe, entsprechende Schutzfunktionen im Netzwerk zu recherchieren (und wo nötig zu implementieren). Sicher haben auch veränderte und rasch wechselnde Beziehungsverhältnisse im Leben vieler Kinder und Jugendlichen heute und die darin liegenden erhöhten Verarbeitungs- und Handlungsanforderungen, die Belastungs- und Konfliktpotenziale, die Risiken und Gefahren der Entwicklungs- und Gesundheitsbeeinträchtigung dazu geführt, dass sich der Blick der Kindheits- und Jugendforschung sozialen Netzwerken und sozialer Unterstützung verstärkt zuwendet. Zunehmend offene und oft G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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nicht vorhersehbare sowie nicht selbst beeinflussbare Beziehungsveränderungen (z.B. durch Trennung und Scheidung der Eltern, durch Leben in allein erziehenden Familien oder durch Familien mit wechselnden erwachsenen Partnern und Geschwistern), horizontale (Orts-) und vertikale (Status-)Veränderungen in Familien, aber auch das Aufwachsen in verschiedenen Formen öffentlicher Erziehung tragen dazu bei, dass komplexere soziale Netzwerke und ihr potenziell entwicklungsflankierender Begleitschutz zum Gegenstand von Kindheits- und Jugendforschung werden. Für die Erforschung und Gestaltung der Sozialisations- und Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen, denen erzieherische Hilfen gewährt werden – vor allem, wenn diese in stationärer Form erfolgen und mit einem Lebensortwechsel verbunden sind –, stellen diese Konzepte eine einzigartige methodisch-theoretische Basis dar, da nicht nur alle (formellen und informellen) sozialen Beziehungen eines Kindes/Jugendlichen unabhängig von Kontaktort und -häufigkeit sowie der Aktualität oder Latenz der Beziehungen erfasst und analysiert werden können, sondern auch deren Zusammenwirken auf das Kind/den Jugendlichen in Form von Kooperation oder Konflikten, Unvereinbarkeiten in Normen und Erwartungen etc. Es können gleichzeitig soziale Ressourcen erschlossen und Defizite bzw. Unterstützungsbedürfnisse aufgedeckt werden, was den professionellen Helferinnen und Helfern neue Handlungsziele eröffnen und bei Nutzung entsprechender Ressourcen auch wesentliche Entlastungen schaffen könnte (Drees 1998). Es konnten positive Zusammenhänge festgestellt werden zwischen der Beschaffenheit und Funktion sozialer Netzwerke (v. a. der Unterstützungsfunktion) und: der Sprachentwicklung von Kindern (Salzinger & Hampson 1988), ihrem Schulerfolg (Cochran & Bø 1989; Cochran & Riley 1990; Dubow & Tisak 1989), ihrer sozialen Kompetenz (Gödde, Walper & Engfer 1996; Vondra & Garbarino 1988), wie auch der kognitiven und motorischen Kompetenz (Gödde, Walper & Engfer 1996), der sozio-emotionalen Entwicklung (Bryant 1985), und dem Selbstkonzept (van Aken & Asendorpf 1997; van Aken, Asendorpf & Wilpers 1996; Blyth & Traeger 1988). Mehrfach nachgewiesen wurden außerdem Zusammenhänge zwischen Merkmalen des sozialen Netzwerks/der sozialen Unterstützung und dem Sozialverhalten bzw. Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen (Cochran & Bø 1989; Dodge, Pettit & Bates 1994; Dubow & Tisak 1989; Gödde & Engfer 1994; Gödde, Walper & Engfer 1996; Kashani et al. 1994; Svedhem 1994; Vondra & Garbarino 1988) sowie der Anzahl selbst berichteter krimineller Aktivitäten (Cochran & Bø 1989). In Bezug auf Kinder, die nicht von Fremdunterbringung betroffen sind, hat die Netzwerk- und Unterstützungsforschung bisher eine ganze Reihe aufschlussreicher Befunde erbracht. Studien mit Kindern und Jugendlichen, die bei ihren Eltern leben, kommen z.B. übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Mütter für Heranwachsende die wichtigste Unterstützungsressource darstellen. Sie stellen im Vergleich zu anderen Netzwerkmitgliedern die größte Bandbreite an Unterstützungsformen bereit (Roos et al. 1995), werden von den Kindern am häufigsten als wichtige und wichtigste Beziehungspartnerinnen angegeben (Roos, Lehmkuhl & Kral 1989; Zinnecker & Strzoda 1996) oder hinsichtlich des Ausmaßes an Unterstützung am höchsten von ihnen bewertet (van Aken, Asendorpf & Wilpers 1996). Insgesamt sind Mütter die am häufigsten genannten Ansprechpersonen bei Problemen (Belle & Longfellow 1984; Furman 1989; Freitag 1995; Meeus 1989).
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Väter werden in den meisten Untersuchungen ebenfalls als wesentliche Unterstützungsquellen identifiziert, stehen aber in der Regel deutlich hinter den Müttern zurück (van Aken & Asendorpf 1997; van Aken, Asendorpf & Wilpers 1996; Roos, Lehmkuhl & Kral 1989; Zinnecker & Strzoda 1996), mitunter sogar noch hinter den Freunden (Freitag 1995; Frey & Röthlisberger 1994; Meeus 1989; Zelkowitz 1989). Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass niedrige Unterstützung durch die Mutter durch keine andere Unterstützungsquelle als den Vater signifikant kompensiert werden konnte und umgekehrt niedrige Unterstützung durch den Vater nur durch hohe Unterstützung durch die Mutter ausgleichbar war. Obwohl sich die Bedeutung einzelner Unterstützungsquellen mit dem Alter der Kinder verändert und auch mit deren Geschlecht variiert, bleiben Eltern, vor allem aber Mütter, über die ganze Kindheit und das Jugendalter hinweg konstant wichtige Unterstützungspersonen (Belle & Longfellow 1984; Hunter 1985; Hunter & Youniss 1982; Furman 1989; Freitag 1995). Als bedeutsame Unterstützerinnen und Unterstützer gelten jungen Menschen außerdem Freunde. Wie Zelkowitz (1989) zeigen konnte, sehen bereits vier- bis fünfjährige Kindergartenkinder in ihren Freundinnen oder Freunden eine wichtige Unterstützungsquelle. Mit zunehmendem Alter scheint ihre Bedeutung weiter zu steigen und andere Unterstützungsquellen wie z.B. Eltern „einzuholen“ oder in Teilbereichen sogar zu „überholen“ (Belle & Longfellow 1984; Hunter 1985; Hunter & Youniss 1982; Furman 1989; Freitag 1995). Auch weitere Netzwerkmitglieder wie Geschwister, Großeltern, Verwandte oder Klassenkameraden konnten als Unterstützungspersonen identifiziert werden, jedoch meist nachrangig nach Eltern und Freunden oder in eher spezifischer Form bzw. in spezifischen Bereichen. Bezogen auf Kinder, die Fremderziehung in Anspruch nehmen, existierte hingegen kaum empirisch gesichertes Wissen. Zielgruppen bisheriger Netzwerk- und Unterstützungsstudien waren fast ausschließlich Kinder und Jugendliche, die bei ihren Eltern bzw. bei wenigstens einem Elternteil leben. Sieht man von einigen wenigen Untersuchungen mit Klientinnen und Klienten kinder- und jugendpsychiatrischer Einrichtungen ab, standen „fremd untergebrachte“ Kinder und Jugendliche bisher so gut wie nie im Mittelpunkt des Interesses. Die wenigen Netzwerk- und Unterstützungsstudien zu aktuell oder ehemals in Heimen lebenden Jugendlichen zeigen hinsichtlich der Bedeutung verschiedener Beziehungsrollen, dass Eltern und wiederum in erster Linie Mütter auch von diesen Jugendlichen als wichtige und unterstützende Personen wahrgenommen werden (Buysse 1999; Buysse & Laird 1992; Colten 1992; Jansma & van de Vorde 1992; Kolip 1993; Smit & Laird 1992). Doch obwohl Mütter in den beiden Studien, die das gesamte Netzwerk der Jugendlichen erfasst haben, mit größter Häufigkeit als wichtige Netzwerkmitglieder genannt wurden (Buysse 1999; Buysse & Laird 1992), erreichten sie insgesamt nicht die höchsten Unterstützungsbewertungen, sondern wurden i.d.R. von der Liebesbeziehung der Jugendlichen, z. T. aber auch von den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ‚überboten’. Mehr als 60% der aktuell und 34% der ehemals in Heimen lebenden Jugendlichen zählten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zu ihren wichtigsten Beziehungspartnerinnen und Beziehungspartnern. Ein zentraler Mangel der genannten wie der Mehrzahl empirischer Netzwerk- und Unterstützungsstudien überhaupt besteht aber darin, dass im Rahmen rein quantitativer Erhebungsverfahren (Skalen zu wahrgenommener Unterstützung) in korrelativen Mittelwertsvergleichen keine qualitativen Profile und personenspezifischen Verteilungsmuster von Unterstützungsrollen innerhalb der Netzwerke rekonstruiert werden konnten (s. Nestmann 1991).
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Zudem erscheint es als eine wesentliche Aufgabe, nicht nur nach den Unterstützungsressourcen des Netzwerks von Kindern zu fragen, sondern auch nach den Dimensionen sozialer Regulation und Kontrolle sowie nach den Belastungen durch soziale Konflikte (Kolip 1993; von Aken, Asendorff & Wilpers 1996). Was in all diesen Untersuchungen nicht berücksichtigt wurde, ist, wie die Kinder selbst ihre Beziehungssituation innerhalb der Familie im Hinblick auf Unterstützung und Belastungen erleben und wie die Kinder ihre außerfamilialen Beziehungen charakterisieren. Es fehlen eine zusammenfassende Analyse der Ressourcen und Belastungen des gesamten Netzwerks und das Verteilungsmuster dieser Funktionen in den spezifischen Netzwerksektoren der Kinder und Jugendlichen. Zielsetzung der Untersuchung „Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung von Kindern in Heimerziehung“ Hauptziel der als vergleichende qualitative Untersuchung konzipierten Studie ist die erstmalige Analyse der sozialen Netzwerke von Kindern, die stationäre erzieherische Hilfe in einem Heim oder in einer Pflegefamilie in Anspruch nehmen im Vergleich zu Kindern, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen. Im Vordergrund steht dabei neben der Erfassung struktureller Netzwerkdimensionen die vergleichende Analyse qualitativer Netzwerkcharakteristika, in dem die sozialen Unterstützungsleistungen, sozial kontrollierende und regulierende Effekte aber auch Belastungen und Konflikte, die von für das Kind signifikanten Personen ausgehen, erhoben werden. Die Studie bezieht sich in ihrer Empirie hier auf ein von House, Umberson & Landis (1988) vorgeschlagenes Theoriemodell sozialer Beziehungen, das neben strukturellen Netzwerkparametern die eher funktionalen und prozessual-interaktiven Dimensionen von sozialer Unterstützung, Regulation bzw. Kontrolle sowie sozialer Konflikte als signifikante und voneinander getrennt operationalisierbare Beziehungsaspekte postuliert. Ein zentrales Forschungsanliegen ist die Erfassung von Ressourcen, aber auch Belastungen, die Heim- und Pflegekinder in ihren gesamten sozialen Netzwerken erfahren. Damit soll ein Beitrag zur Klärung der sozialen Situation von Kindern geleistet werden, deren familiäre Situation erzieherische Hilfe als stationäre Unterbringung außerhalb ihres Elternhauses notwendig macht. Die Studie geht über die bisher im Kontext von Heimerziehungsforschung und Forschung zum Pflegekinderwesen geleisteten Analysen hinaus, da sie sich nicht nur auf einzelne Beziehungskontexte wie Familie oder Pflegefamilie, sondern auf das Gesamtsystem der für das Kind signifikanten Personen, sein soziales Netzwerk, bezieht und gleichzeitig die einzelnen Unterstützungsleistungen, sozial regulierenden Effekte wie auch Belastungen detailliert erhebt. Um die ermittelten strukturellen Netzwerkmerkmale und die erhobenen Ressourcen und Belastungen der in Heimen und Pflegefamilien fremdplatzierten Kinder in Relation stellen zu können zur sozialen Situation von Kindern, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, wird das Forschungsvorhaben als vergleichende Untersuchung angelegt. Erstmals wendet sich die Untersuchung mit der Analyse sozialer Netzwerke sechs- bis zwölfjähriger Kinder dabei auch einer Altersgruppe zu, die von der Jugendhilfeforschung bislang nur wenig beachtet wurde (BMFSJ 1998). In drei Untersuchungsgruppen von Kindern im Grundschulalter werden die persönlichen sozialen Netzwerke der Kinder in wichtigen Struktur- und Qualitätsdimensionen vergleichend analysiert:
29
Netzwerkforschung mit Kindern
1. 2. 3.
Kinder, die seit mindestens einem Jahr Heimunterbringung als Hilfe zur Erziehung außerhalb des Elternhauses ohne Unterbrechung in ein und demselben Heim in Anspruch nehmen; Kinder, die stationäre erzieherische Hilfe seit mindestens einem Jahr in ein und derselben Pflegefamilie in Anspruch nehmen; Kinder, die in ihren Herkunftsfamilien leben oder bei mindestens einem leiblichen Elternteil aufwachsen und keine erzieherischen Hilfen erhalten.
Untersuchungsdesign und methodisches Vorgehen Gesamtstichprobe 60 Kinder im Alter von 6-12 Jahren
Untersuchungsgruppe I
Untersuchungsgruppe II
Untersuchungsgruppe III
20 Kinder,
20 Kinder,
20 Kinder,
die seit mindestens einem Jahr
die seit mindestens einem Jahr in einer
die bei mindestens einem ihrer
Heimerziehung
Pflegefamilie
Eltern leben und voraussichtlich
ohne Unterbrechung und in ein
Leben (ohne Unterbrechung und in
keinerlei Form von
und
ein und derselben Familie als Hilfe zur
Hilfe zur Erziehung
erstmalige Hilfe zur Erziehung, die
Erziehung
in Anspruch nehmen
außerhalb
Elternhauses)
demselben des
Heim
als
Elternhauses
außerhalb
des
(Kontrollgruppe)
stattfindet, in Anspruch nehmen
10
10
10
10
10
10
Jungen
Mädchen
Jungen
Mädchen
Jungen
Mädchen
Querschnittserhebung der aktuellen persönlichen sozialen Netzwerke der Kinder mittels teilstandardisierter Interviews
mit 6 Kindern
mit 6 Kindern
mit 6 Kindern
davon
davon
davon
Einzelfallstudien: Standardisierte Fallvignetten
Standardisierte Fallvignetten
Standardisierte Fallvignetten
Aktenanalysen
Aktenanalysen
Aktenanalysen
30
Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner
Die Kinder sind zwischen 6,3 und 12,7 Jahren alt. Das Durchschnittsalter der Kinder liegt bei 10,1 Jahren. Der Studie liegen (abgesehen von den Aktenanalysen) ausschließlich Kindinformationen zu Grunde. Die untersuchten Kinder werden nicht, wie in der Netzwerk- und selbst in der Kindheitsforschung bislang vorwiegend als zentraler ‚Forschungsgegenstand’ betrachtet, der über Erwachsenenaussagen zu rekonstruieren ist, sondern vielmehr als aktiv handelnde Subjekte im Forschungsvorhaben begriffen. Somit gelingt es, ihre persönlichen Sichtweisen und Perspektiven auf die infrage stehenden sozialen Beziehungsdimensionen ihres Lebens zu erforschen und die kindliche Lebenswelt sowie das soziale Umfeld der Heranwachsenden in ihrer Wahrnehmung und in ihrem Verständnis zu analysieren. Für das vorliegende Forschungsprojekt werden qualitative Verfahren der Netzwerk- und Supportforschung konstruiert und eingesetzt (s.a. Wehner & Werner 2008; Stiehler & Werner 2008). Der Einsatz qualitativer Verfahren erscheint notwendig, da diese (im Gegensatz zu standardisierten Befragungen) ein auf den jeweils unterschiedlichen Entwicklungsstatus der Kinder abgestimmteres Vorgehen erlauben. Zudem kann durch ihren Einsatz der Verzerrung von Antworten im Sinne einer „sozialen und personalen Wünschbarkeit“ besser entgegengewirkt werden (Kränzl-Nagl & Wilk 2000), was besonders dann angezeigt scheint, wenn Lebensbereiche erhoben werden, die für Kinder einen hohen Wert besitzen und emotional stark belegt sind (ebd., S. 68) und worunter sicher auch Bereiche wie „Familie“, aber ebenso „Pflegefamilie“ und „Heim“ fallen. Die Struktur- und Qualitätsdimensionen der kindlichen Netzwerke werden mit Hilfe teilstrukturierter Interviews erfasst, die Visualisierungstechniken mit Hilfe von Moderationskarten und Spielfiguren einschlossen. Konzeptionelle Grundlagen für den Interviewleitfaden und die Visualisierungstechniken bildet der „Soziale Beziehungstest für Kinder“ (SOBEKI), einem in der bzw. für die klinische Diagnostik entwickelten Skulpturverfahren für sechs- bis zwölfjährige Kinder, das der Erfassung sozialer Beziehungsstrukturen sowie Netzwerkfunktionen mittels eines strukturierten Interviews zu spezifischen Netzwerkfunktionsbereichen sowie der Anzahl, Häufigkeit und Intensität von Sozialkontakten dient (s. a. Roos, Lehmkuhl, Berger & Lenz 1995; Berger 1996). Die Network Map nach Svedham (1994), ein standardisiertes Verfahren für 11- bis 13jährige, ermöglicht die Analyse sozialer Beziehungsstrukturen von Kindern insbesondere hinsichtlich der vorhandenen Netzwerksektoren, der Netzwerkdichte, der Verbundenheit der einzelnen Netzwerkmitglieder bzw. -sektoren sowie der generationalen Zugehörigkeit der Beziehungspersonen mittels einer graphischen Darstellung und Verwendung spezifischer Symbole. Die Interviews gliedern sich in drei einzelne Erhebungsverfahren: 1. Erstellen einer Netzwerkkarte: Die visuelle Darstellung sozialer Beziehungen der interviewten Kinder mit einer Netzwerkkarte, auf der mit Hilfe von Moderationskarten alle für das Kind signifikanten Lebensräume (Familie, Heim, Schule, Nachbarschaft etc.) erhoben werden sowie zusätzlichen Holzfiguren, die einzelne Personen symbolisieren, ermöglicht die Erfassung quantitativ-struktureller Netzwerkdaten. Dazu gehören beispielsweise die Größe der kindlichen Netzwerke, ihre Zusammensetzung im Hinblick auf bestimmte Rollenkategorien wie Verwandte, Freunde, Nachbarn usw. sowie Verknüpfungen zwischen einzelnen Netzwerkmitgliedern und –sektoren. Anhand der auf der Netzwerkkarte abgebildeten sozialen Beziehungen und Netzwerksektoren ist es zudem möglich, die kindlichen Sozialbeziehungen primären und sekundären Kontakten (Wirth 1974) zuzuordnen und somit das Verhältnis
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Netzwerkforschung mit Kindern
primärer, traditioneller und nicht freiwilliger Bezüge gegenüber sekundären, eher freiwilligen und selbst gewählten Beziehungskontexten zu ermitteln. 2. Interview zu qualitativ-funktionalen Aspekten der Kindernetzwerke: Die zweite Phase des Interviews, die das eigentliche Kernstück der Untersuchung bildet, besteht in der Befragung der Kinder zu funktionalen Merkmalen ihrer sozialen Netzwerke. Die anhand eines teilstrukturierten Leitfadens durchgeführten Interviews beinhaltet insgesamt 27 Fragen zu a) unterstützenden Funktionen der sozialen Beziehungen, die in Anlehnung an ein support-Modell von House (1981) die vier Unterstützungsformen instrumentelle, emotionale, interpretative und informative Hilfe sowie zusätzlich Begleitung und Geselligkeit umfassen, b) zu kontrollierend-regulativen Dimensionen und c) zu belastenden und konflikthaften Aspekten der kindlichen Beziehungssysteme. Tabelle 1:
Beispielitems des Interviews zu qualitativ-funktionalen Netzwerkaspekten
Funktionsbereich Soziale Unterstützung (instrumentell)
Soziale Regulation/soziale Kontrolle
Sozialer Konflikt/Belastung
Beispiel-Item Manchen Kindern hilft jemand bei den Hausaufgaben, manchen Kindern hilft niemand. Hilft dir jemand bei den Hausaufgaben? Wer hilft dir dabei? Manchen Kindern wird oft etwas verboten, anderen Kindern wird ganz selten etwas verboten. Verbietet dir jemand etwas? Wer tut das? Was wird dir verboten? Manche Kinder haben oft Streit mit anderen. Andere Kinder haben keinen Streit. Streitest du dich mit jemandem? Mit wem streitest du dich? (Mit welchen Kindern? Mit welchen Erwachsenen?)
3. Verortung der Netzwerkmitglieder auf dem Beziehungsbrett: Durch die Platzierung erfasster Netzwerkangehöriger (symbolisiert durch Spielfiguren) auf dem Beziehungsbrett gelingt es, die emotionale Nähe bzw. Distanz der Kinder zu den Mitgliedern ihrer sozialen Beziehungssysteme abzubilden (zur ausführlichen Darstellung der Erhebungsmethoden s. Wehner & Werner 2008). Die Auswertung der Interviews erfolgt inhaltsanalytisch in Anlehnung an das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse von Mayring (1991, 1993). Zusätzlich dazu werden quantitative Netzwerkmerkmale unter Verwendung des Programmpaketes SPSS deskriptiven und interferenzstatistischen Analysen unterzogen und die Ergebnisse mit denen der qualitativen Analysen in Beziehung gesetzt, um Zusammenhänge zwischen quantitativ-strukturellen und qualitativfunktionalen Netzwerkcharakteristika beschreiben zu können. Auswertungen erfolgten sowohl gruppenübergreifend als auch getrennt nach den einzelnen Untersuchungsgruppen und dem Geschlecht der Kinder. Im Rahmen von Einzelfallstudien werden Fallvignetten (Werner et al. 2006) konstruiert und erhoben. Jungen und Mädchen werden über Skizzen und Geschichten alltagsnaher, bewältigungs- und unterstützungsträchtiger Anforderungs-, Belastungs- und Konfliktsituationen zur
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Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner
Identifikation mit einem abgebildeten oder beschriebenen (männlichen oder weiblichen) Protagonisten zu einer Projektion eigener Be- und Verarbeitungstendenzen angeregt. Es handelt sich insofern um ein kontextualisiertes sozialwissenschaftliches Erhebungsverfahren, das zudem eng an der kindlichen Lebens- und Erfahrungswelt orientiert ist. Über den Einsatz von verbalisierten Vignetten (Geschichtenanfänge) und visualisierten Vignetten (Bildergeschichten) werden die subjektiven Bewältigungsperspektiven und die subjektiven Hilfeverständnisse von 6-12jährigen Kindern erhoben. An der Vignettenuntersuchung nehmen 18 der zuvor an der Hauptuntersuchung beteiligten Kinder (je Untersuchungsgruppe drei Mädchen und drei Jungen) teil. Die Untersuchungsdurchführung gliedert sich entsprechend der beiden Vignettenformen (Geschichtenanfänge/Bildvervollständigung) in zwei Abschnitte. Im Rahmen der Einzelfallstudien werden auch Aktenanalysen durchgeführt. Hier soll primär die subjektive Netzwerkwahrnehmung der ausgewählten Kinder einer subjektiven Sicht professioneller Jugendamtsmitarbeiter/innen auf deren informelle und formelle soziale Beziehungen sowie objektiven Kennzeichen der Lebens- und Beziehungssituation der Kinder gegenübergestellt werden. Mit Hilfe der Aktenanalyse sollen zudem Verlaufsdaten über die Entwicklung der Beziehungssituation der Kinder gewonnen werden (s. Stiehler 2008). Ergebnisse und Interpretationen der Netzwerk- und Supportanalyse Netzwerkstruktur Hinsichtlich der Netzwerkgröße zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Heimkindern, Pflegekindern und nicht fremdplatzierten Kindern. Im Durchschnitt haben die Pflegekinder die größten sozialen Beziehungssysteme. Sie zählen durchschnittlich 40,7 Personen zu ihrem sozialen Netzwerk. Heimkinder, die im Durchschnitt 37,2 Netzwerkangehörige nennen, liegen auf einem mittleren Rangplatz. Die in ihren Herkunftsfamilien lebenden Kinder weisen mit nur 35,2 Netzwerkmitgliedern die kleinsten sozialen Beziehungssysteme auf. Während sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen der stationären Unterbringung in einem Heim oder einer Pflegefamilie beziehungsweise dem Aufwachsen in der Herkunftsfamilie und der Netzwerkgröße feststellen lässt, zeigen die Untersuchungsergebnisse einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Netzwerkgröße und dem Geschlecht der Kinder. Über alle drei Untersuchungsgruppen hinweg zählen die Mädchen im Durchschnitt deutlich mehr Personen auf, die zu ihrem sozialen Netzwerk gehören, als die Jungen. Ein Wert von .007 zeigt einen hoch signifikanten Unterschied zwischen Mädchen und Jungen hinsichtlich der Größe ihrer sozialen Netzwerke. Tabelle 2:
Gruppenmittelwerte zur Anzahl der Netzwerkmitglieder in Abhängigkeit vom Geschlecht der Kinder
N Mittelwert Standardabweichung
männlich 30 32.53 (10.34)
Zwischen den Gruppen
F 7.704
weiblich 30 42.87 (17.58) Signifikanz .007**
gesamt 60 37.7 (15.22)
33
Netzwerkforschung mit Kindern
Die größten sozialen Beziehungssysteme haben die in Pflegefamilien lebenden Mädchen. Sie zählen im Durchschnitt 48,5 Personen zu ihrem sozialen Netzwerk, gefolgt von den nicht fremdplatzierten Mädchen, die 41 Netzwerkmitglieder haben. Heimbewohnerinnen nennen mit durchschnittlich 39,1 Personen von den weiblichen Befragten die wenigsten Netzwerkangehörigen. Bei den Jungen finden sich die größten Netzwerke mit durchschnittlich 35,3 Mitgliedern bei den Heimkindern gefolgt von den Pflegejungen, die 32,9 Personen zu ihrem Netzwerk zählen. Nicht fremdplatzierte Jungen haben die wenigsten sozialen Beziehungen. Sie nennen nur 29,4 bekannte Personen. Geschlechtsspezifische Unterschiede in den sozialen Netzwerken sind in der Vergangenheit vielfach vor allem für Erwachsene, aber auch für Kinder nachgewiesen worden (z.B. Belle 1989). Danach zeigen sich bereits bei jungen Kindern geschlechtsspezifische Unterschiede in den sozialen Netzwerkbeziehungen. Betrachtet man die Geschlechterdifferenzen hinsichtlich der Netzwerkgröße innerhalb der einzelnen Untersuchungsgruppen, lässt sich feststellen, dass diese in den einzelnen Untersuchungsgruppen sehr unterschiedlich ausfallen. Am stärksten von Geschlechterdifferenzen geprägt sind die Netzwerke der Pflegekinder. Im Durchschnitt zählen Mädchen in Pflegefamilien 15,6 Personen mehr zu ihrem sozialen Netzwerk als die Jungen dieser Gruppe. Auffällige Geschlechterunterschiede bestehen diesbezüglich auch in der Kontrollgruppe der nicht fremdplatzierten Kinder. Hier zählen die Mädchen durchschnittlich 11,6 Netzwerkmitglieder mehr auf als die Jungen. Deutlich geringere Differenzen zeigen sich bei den Heimkindern. Mädchen in Heimunterbringung zählen nur 3,8 Personen mehr zu ihrem sozialen Netzwerk als die in Heimen lebenden Jungen. Die sozialen Netzwerke der Kinder aller drei Untersuchungsgruppen sind von einer deutlichen Geschlechterhomogenität geprägt. Statistisch hoch signifikante Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen bestehen hinsichtlich der Anzahl weiblicher Netzwerkmitglieder. In den sozialen Beziehungssystemen der Mädchen finden sich nahezu doppelt so viele weibliche wie männliche Personen. Zudem zählen die Mädchen fast doppelt so viel Mädchen und Frauen zu ihrem Netzwerk wie die Jungen. Tabelle 3:
Gruppenmittelwerte zur Anzahl weiblicher Netzwerkmitglieder in Abhängigkeit vom Geschlecht der Kinder
N Mittelwert Standardabweichung
männlich 30 13.50 (5.55)
Zwischen den Gruppen
F 36.587
weiblich 30 26.6 (10.48)
gesamt 60 20.05 (10.6)
Signifikanz .000**
Die Jungen zählen ebenfalls mehr Personen des gleichen Geschlechts auf. Jedoch erscheinen ihre Netzwerke weniger geschlechtshomogen als die der Mädchen, und der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen hinsichtlich der Anzahl von männlichen Netzwerkmitgliedern bleibt nicht signifikant. Unter Berücksichtigung der Zugehörigkeit der Kinder zu einer der drei Untersuchungsgruppen fällt auf, dass die geschlechtshomogene Zusammensetzung kindlicher Netzwerke wie
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Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner
auch die diesbezüglichen Differenzen zwischen Jungen und Mädchen in den einzelnen Gruppen unterschiedlich ausgeprägt sind. Bei den in ihren Herkunftsfamilien lebenden Kindern haben durchschnittlich 62% der Netzwerkangehörigen das gleiche Geschlecht wie das befragte Kind, wobei der Wert der Jungen geringfügig unter dem der Mädchen liegt. In den Netzwerken der männlichen als auch der weiblichen Pflegekinder findet sich ein durchschnittlicher Anteil gleichgeschlechtlicher Personen von 59%. Völlig anders erscheinen dagegen die Beziehungssysteme der Heimkinder. Die sozialen Netzwerke der in Heimen lebenden Mädchen weisen mit 66% den höchsten Anteil gleichgeschlechtlicher Personen auf. Dagegen lässt sich bei den Jungen in Heimunterbringung eine nahezu ausgewogene Zusammensetzung ihres sozialen Netzes feststellen, da sie im Durchschnitt nur 51% männliche Netzwerkangehörige aufzählen. Die auffälligen strukturellen Unterschiede in den kindlichen Netzwerken sind vor allem auf den geringen Anteil von männlichen Erwachsenen im sozialen Umfeld der Heimkinder zurückzuführen. Männer sind in den Beziehungssystemen der Heimkinder deutlich unterrepräsentiert, was sich bei den Mädchen, bei denen nur 10% der Netzwerkmitglieder Männer sind, noch deutlicher zeigt als bei den Jungen (12%). Ein Grund für die geringe Präsenz männlicher Erwachsener in den sozialen Beziehungssystemen der Heimkinder ist, dass überwiegend Frauen in Institutionen der stationären Jugendhilfe arbeiten und Männer hier deutlich unterrepräsentiert sind. Im Hinblick auf das Alter der Kontaktpersonen ist sowohl bei den Jungen als auch bei den Mädchen aller drei Untersuchungsgruppen ein recht ausgewogenes Verhältnis von Erwachsenen und Kindern zu beobachten. Durchschnittlich haben alle Kinder geringfügig mehr Beziehungen zu gleichaltrigen oder altersähnlichen als zu erwachsenen Personen. Dabei fällt auf, dass insbesondere gleichgeschlechtliche Peers eine zentrale Bedeutung in den kindlichen Netzwerken haben. In der Regel haben Mädchen die meisten sozialen Beziehungen zu anderen Mädchen, während Jungen die meisten Kontakte zu anderen Jungen haben. Somit bilden Kinder gleichen Geschlechts die anteilig größte Gruppe an Netzwerkmitgliedern in den sozialen Beziehungssystemen der Mädchen und Jungen aller drei Untersuchungsgruppen. Diese Ergebnisse entsprechen denen zahlreicher anderer Studien. So fanden beispielsweise Krappmann & Oswald (1995) bei zehn- bis zwölfjährigen Kindern vorwiegend gleichgeschlechtliche Freundschaften und Gruppen und weniger geschlechterübergreifende enge Beziehungen. Auch Maccoby (2000) arbeitet heraus, dass Kinder im Grundschulalter fast ausschließlich Angehörige des eigenen Geschlechts als Freunde wählen und bevorzugt mit gleichgeschlechtlichen Peers interagieren. Nicht nur hinsichtlich des Gesamtumfanges der kindlichen Netzwerke, sondern auch bezüglich der Verteilung der Personen auf die einzelnen Netzwerksektoren zeigen sich Differenzen zwischen den stationär untergebrachten Kindern und denen in Herkunftsfamilien. Bei nicht fremdplatzierten Kindern dominieren neben familiären und verwandtschaftlichen Bindungen soziale Beziehungen, die dem schulischen Sektor zugeordnet werden können. Ähnlich verhält es sich bei den Pflegekindern. Auch für sie ist die Schule der zentrale Ort bei der Rekrutierung von Netzwerkmitgliedern. Generell spielt die Schule für Jungen und Mädchen aller drei Untersuchungsgruppen eine zentrale Rolle für die Entstehung sozialer Beziehungen, insbesondere zu Gleichaltrigen. Dementsprechend zeigen sich hier keine Gruppen- und Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Anzahl schulischer Kontakte. Hoch signifikante Gruppenunterschiede lassen sich hingegen für die Anzahl verwandtschaftlicher Kontakte nachweisen. Die meisten Beziehungen zu Verwandten, etwa Großeltern,
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Netzwerkforschung mit Kindern
Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, haben nicht fremdplatzierte Familienkinder. Heimkinder zählen die wenigsten Verwandten auf. Tabelle 4:
Gruppenmittelwerte zur Anzahl verwandtschaftlicher Beziehungen in Abhängigkeit von der Unterbringungsform
N Mittelwert Standardabweichung
Heimkinder 20 3.60 (2.98)
Zwischen den Gruppen
F 10.183
Pflegekinder 20 5.35 (5.04)
Familienkinder 20 9.95 (5.40)
gesamt 60 6.30 (5.26)
Signifikanz .000**
Festzuhalten ist andererseits, dass in den Beziehungssystemen der Pflegekinder sehr häufig zwei nebeneinander existierende Verwandtschaftsnetzwerke zu finden sind (s.a. Günther 2008). So berichten Pflegekinder oft über Kontakte zu leiblichen Verwandten, insbesondere zu Großeltern, und sind darüber hinaus aber auch meist sehr gut in das Verwandtschafts- und Bekanntschaftsnetzwerk der neuen Pflegefamilie integriert, was ein Grund dafür sein könnte, dass Pflegekinder die umfangreichsten sozialen Netzwerke haben. Betrachtet man die Netzwerke der Heimkinder, fällt auf, dass hier soziale Beziehungen zu Mitbewohnern und HeimerzieherInnen neben schulischen Kontakten eindeutig dominieren. Während für Pflege- und nicht fremdplatzierte Kinder weiterhin die Nachbarschaft und der Freizeitbereich, wie beispielsweise Sportvereine, zentrale Anknüpfungspunkte für soziale Beziehungen darstellen, haben die befragten Heimkinder keine Nachbarschaftsbeziehungen und nur sehr selten Kontakte im Freizeitbereich. Die diesbezüglichen Gruppenunterschiede sind sehr signifikant. Auffällig ist die fehlende Integration der Heimkinder in das nachbarschaftliche Umfeld. Pflegekinder zählen die meisten nachbarschaftlichen Kontakte1 auf. Tabelle 5:
1
Gruppenmittelwerte zur Anzahl nachbarschaftlicher Beziehungen in Abhängigkeit von der Unterbringungsform
N Mittelwert Standardabweichung
Heimkinder 20 0.05 (0.22)
Zwischen den Gruppen
F 6.654
Pflegekinder 20 3.95 (5.30)
Familienkinder 20 2.90 (2.94)
gesamt 60 2.30 (3.82)
Signifikanz .003**
Nachbarschaft bezieht sich bei den Pflegekindern auf die der Pflegefamilie, nicht der Herkunftsfamilie. Nachbarschaftsbeziehungen von Heimkindern umfassen Kontakte, die im räumlichen Umfeld des Heimes bestehen.
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Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner
Dabei bestehen tendenzielle Differenzen zwischen Mädchen und Jungen bezüglich ihrer nachbarschaftlichen Integration. Ohne Berücksichtigung der Untersuchungsgruppenzugehörigkeit zählen die Mädchen mit durchschnittlich 3,2 Personen mehr als doppelt so viel Nachbarn zu ihrem sozialen Netzwerk wie die Jungen, die im Durchschnitt nur 1,4 Nachbarschaftskontakte nennen. Dabei zeigen sich, wie bereits bei den verwandtschaftlichen Bindungen, diese Unterschiede nur in den Gruppen der Kinder, die bei ihren Eltern und in Pflegefamilien leben. In der Gruppe der Pflegekinder erreichen die Geschlechterunterschiede bezüglich der Anzahl von Nachbarschaftsbeziehungen ein signifikantes Niveau (.034). Mit 6,4 Personen zählen die in Pflegefamilien aufwachsenden Mädchen signifikant mehr Nachbarn zu ihrem sozialen Netzwerk als die Jungen, die durchschnittlich nur 1,5 nachbarliche Beziehungen haben. Ähnliche Befunde ergeben sich bei der Betrachtung der sozialen Netzwerkbezüge, die im Freizeitsektor bestehen. Darunter fallen etwa Beziehungen zu Kindern und Erwachsenen, die über gemeinsame außerschulische Aktivitäten z. B. in Vereinen, Verbänden oder Kirchen entstanden sind. Auch hier besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen einer stationären Unterbringung und der Anzahl von sozialen Beziehungen im Freizeitbereich. Heimkinder haben nur eine sehr geringe Anzahl an Freizeitbekanntschaften, etwa zu Vereinskameraden. Kinder in Herkunftsfamilien haben die meisten sozialen Kontakte im Freizeitsektor, jedoch nur geringfügig mehr als die in Pflegefamilien lebenden. Tabelle 6:
Gruppenmittelwerte zur Anzahl von Freizeitbekanntschaften in Abhängigkeit von der Unterbringungsform
N Mittelwert Standardabweichung
Heimkinder 20 1.00 (1.72)
Zwischen den Gruppen
F 4.995
Pflegekinder 20 2.90 (3.93)
Familienkinder 20 4.40 (4.06)
gesamt 60 2.77 (3.63)
Signifikanz .010**
Geschlechterdifferenzen sind hier wesentlich schwächer ausgeprägt als bei den verwandtschaftlichen und insbesondere nachbarschaftlichen Beziehungen. Somit zeigt sich deutlich, dass bei den Heimkindern institutionelle Netzwerksektoren und -beziehungen gegenüber freiwillig geschaffenen dominieren, wobei auffällt, dass professionelle Mitarbeiter der Jugendhilfe, abgesehen von den im Heim beschäftigten, sowohl in den Netzwerken der Heim- als auch der Pflegekinder keine Rolle spielen. Freunde sind zentrale Personen in den sozialen Netzwerken von Kindern und Jugendlichen. Analysiert man die Angaben der untersuchten Kinder dahingehend, wie viele Freunde unterschiedlicher Sektoren diese zu ihrem Netzwerk zählen, zeigt sich, dass Kinder in Fremdunterbringung, insbesondere in Heimen lebende, etwas weniger Freunde haben als Kinder in Herkunftsfamilien. Diese bezeichnen im Durchschnitt 7,0 Personen als Freunde und haben somit zwar kleinere Netzwerke, aber mehr Freundschaften als die Pflegekinder, die 6,6 Freunde aufzählen. Heimkinder haben trotz größerer sozialer Bezugssysteme mit nur 4,9 Gleichaltrigen weniger Freunde als die bei ihren Eltern lebenden Kinder. Die Gruppenunterschiede bezogen auf die Anzahl der Kinderfreundschaften sind statistisch jedoch nicht signifikant. Ungeachtet der Zugehörigkeit zu einer der drei Untersuchungsgruppen haben Mädchen mit durchschnittlich 7,1 Personen etwas mehr Freunde als die Jungen, die 5,2 Freunde aufzäh-
Netzwerkforschung mit Kindern
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len. Der Effekt des Geschlechts auf die Anzahl der Freundschaftsbeziehungen wird in der vorliegenden Untersuchung statistisch jedoch nicht signifikant. Zu Gleichaltrigen- und Freundschaftsbeziehungen von Kindern, die stationäre erzieherische Hilfe in Anspruch nehmen, s.a. Günther 2008. Nähe und Distanz von Netzwerkmitgliedern Durch den Einsatz des Beziehungskreises kann festgestellt werden, dass alle Kinder unabhängig von Geschlecht und Gruppenzugehörigkeit sich den meisten Personen ihres sozialen Netzwerkes sehr verbunden fühlen. In der Regel haben sie mehr als 50% ihrer Netzwerkmitglieder ‚sehr lieb’. Pflegekinder zählen mehr Personen auf, die sie sehr lieb oder lieb haben als Heimkinder und Kinder in Herkunftsfamilien. In allen drei Untersuchungsgruppen nennen die Mädchen mehr Personen, denen sie sich sehr verbunden fühlen und die sie lieb haben als die Jungen. Auffällig ist, dass Mädchen in Heimunterbringung kaum erwachsene männliche Netzwerkmitglieder haben, zu denen eine intensive Bindung besteht. Mädchen in Pflegefamilien nennen auffallend viele Erwachsene, die sie sehr lieb haben. Fragt man danach, wer die Personen sind, die Kinder sehr lieb haben, lässt sich feststellen, dass Kinder in Herkunftsfamilien immer die Eltern und Kinder in Pflegefamilien in der Regel immer beide Pflegeeltern oder mindestens ein Pflegeelternteil aufzählen. Auffallend ist der Befund, dass sich mehr als 50% der Pflegekinder ihren leiblichen Eltern stark verbunden fühlen und diese sehr gern haben, auch wenn sie in alltäglichen Interaktionsund Hilfeprozessen keine Rolle spielen. Offenbar besitzt die Beziehung zu leiblichen Elternteilen trotz des Aufenthaltes in einer Pflegefamilie einen hohen emotionalen Wert für die Pflegekinder (s.a. Günther 2008). Heimkinder zählen vorwiegend Erzieherinnen und Erzieher auf, die sie sehr gern haben. Kinder fühlen sich den Personen, die eine Vielzahl von Funktionen erfüllen, nicht unbedingt verbundener als denjenigen, die nur wenig oder gar nicht funktional sind. Das Unterstützungs- und Regulationspotential der Netzwerkmitglieder korreliert somit nicht generell mit der emotionalen Nähe beziehungsweise Distanz in der Beziehung. Auch umgekehrt sind für die Kinder Beziehungen zu Netzwerkangehörigen, von denen Belastungen ausgehen, nicht zwangsläufig distanziert oder feindselig. So gehen beispielsweise von Eltern oder Geschwistern oft zahlreiche Belastungen aus; trotzdem fühlen sich die Kinder ihnen mehr verbunden als vielen anderen Personen, mit denen es nicht zu belastenden Interaktionen kommt. Gruppenunterschiede bestehen auch hinsichtlich der Häufigkeit, mit der die Kinder Personen aufzählen, die sie nicht mögen und zu denen kein positiver Kontakt existiert. Heimkinder geben diesbezüglich sowohl häufiger als auch mehr Netzwerkmitglieder an als die bei ihren Eltern lebenden Kinder der Vergleichsgruppe. Insbesondere die in Heimen lebenden Jungen nennen eine auffallend hohe Zahl von Personen, zu denen offenbar Beziehungen negativer Qualität bestehen, die von den Kindern als problematisch und belastend erlebt werden. Pflegekinder zählen am seltensten ungemochte Personen auf und nennen – obwohl sie die größten Netzwerke haben – die geringste Anzahl von Netzwerkangehörigen, denen sie sich nicht verbunden fühlen. Während in den Gruppen der nicht fremdplatzierten und der in Pflegefamilien lebenden Kinder die Mädchen mehr Personen aufzählen, zu denen ein distanziertes Verhältnis besteht, liegt bei den Heimkindern ein umgekehrtes Verhältnis vor.
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Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner
Qualitativ-funktionale Netzwerkdimensionen Die Befunde zur sozial unterstützenden Qualität der kindlichen Netzwerke, zu Funktionen sozialer Regulation und Kontrolle sowie zu belastenden und konflikthaften Dimensionen ihrer Beziehungssysteme machen deutlich, dass Heim-, Pflege- und nicht fremdplatzierte Kinder unterschiedlich viel soziale Unterstützung erhalten. Dabei erstaunt vor allem, dass Kinder in Pflegefamilien, die die größten sozialen Netzwerke haben, sich subjektiv am wenigsten sozial unterstützt fühlen. Auffallend ist, dass die nicht in stationärer Unterbringung aufwachsenden Kinder mit den kleinsten Beziehungssystemen angeben, die meiste soziale Unterstützung zu erhalten. Differenzen zeigen sich auch zwischen Mädchen und Jungen hinsichtlich der Gesamtmenge sozialer Unterstützung. Jungen erhalten danach weniger Hilfeleistung als Mädchen, was auch ihren kleineren Netzwerken entspricht. Tabelle 7:
männlich weiblich gesamt
Menge sozialer Unterstützung in Abhängigkeit vom Geschlecht der Kinder und der Unterbringungsform (Standardabweichungen in Klammern) Heimkinder 52.8 (21.85) 59.2 (16.3) 56 (19.04)
Pflegekinder 53.4 (29.68) 57.7 (31.58) 55.5 (29.91)
Familienkinder 70.2 (39.34) 70.7 (25.79) 70.45 (32.38)
gesamt 58.8 (31.13) 62.53 (25.17) 60.67 (28.13)
Unter Berücksichtigung der Netzwerkgröße zeigt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Untersuchungsgruppenzugehörigkeit und der Menge der Unterstützungsleistungen. Zudem korreliert die Netzwerkgröße signifikant mit der Anzahl der erhaltenen sozialen Unterstützungen. Der Einfluss des Geschlechts der Kinder auf die Gesamtsumme erhaltener Unterstützungen ist statistisch nicht signifikant. Tabelle 8:
Tests der Zwischensubjekteffekte mit Kovariate „Netzwerkgröße“
Netzwerk Geschlecht Gruppe Geschlecht * Gruppe
F 16.798 .804 3.610 .467
Signifikanz .000** .374 .034** .630
Partielles Eta-Quadrat .241 .015 .120 .017
Interessanterweise zeigt sich nicht nur eine signifikante Interaktion von Netzwerkgröße und Unterstützungsmenge; es lassen sich auch signifikante Unterschiede zwischen den Untersuchungsgruppen hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen der Anzahl an Netzwerkmitgliedern und der Menge sozialer Unterstützung nachweisen. Am stärksten zeigt sich die Beeinflussung der Unterstützung durch die Netzwerkgröße in der Gruppe der Pflegekinder (Beta=0,651). Die Heimkindergruppe liegt in der Mitte (Beta=0,489). Der geringste aber trotzdem signifikante (Beta=0,303) Effekt der Netzwerkpersonenmitglieder auf die Gesamtsumme sozialer Unterstützung lässt sich in der Gruppe der nicht fremdplatzierten Kinder feststellen.
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Die Unterschiede zwischen Heim-, Pflege- und nicht stationär untergebrachten Kindern hinsichtlich der von ihnen wahrgenommenen sozialen Unterstützung können dabei nicht ausschließlich darauf zurückgeführt werden, dass die fremdplatzierten Kinder viel weniger unterstützende Personen in ihren sozialen Netzwerken haben als die Kinder in Herkunftsfamilien. Ein Mittelwertvergleich macht deutlich, dass Heim- und Pflegekinder mit durchschnittlich 20,7 beziehungsweise 21,6 Netzwerkangehörigen, die in irgendeiner Form soziale Unterstützung leisten, nur geringfügig weniger Unterstützer haben als die nicht fremdplatzierten Kinder, bei denen 23,7 Personen sozial unterstützende Funktionen erfüllen. Die Ergebnisse deuten vielmehr darauf hin, dass die Netzwerke der Kinder in Herkunftsfamilien einen höheren Anteil von multiplexen sozialen Beziehungen aufweisen und ein größerer Teil der Netzwerkmitglieder mehrere Hilfefunktionen erfüllt. Jungen zählen etwas weniger Netzwerkangehörige auf, die sie sozial unterstützen, als Mädchen. Unter Berücksichtigung der einzelnen Netzwerksektoren zeigt sich aber ein erstaunlicher Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. Nur im schulischen Kontext haben die Jungen signifikant weniger Personen (Mitschüler und Lehrer), die sie sozial unterstützen, als die Mädchen (p=.030). Zentrale Personen, die den Hauptteil sozialer Unterstützung leisten, sind in den Netzwerken der nicht fremdplatzierten Kinder die Eltern, wobei Mütter durchschnittlich höhere Unterstützungswerte aufweisen als Väter. Pflegeeltern übernehmen den Großteil sozialer Unterstützung für die bei ihnen lebenden Pflegekinder. Auch hier werden Pflegeväter im Durchschnitt als etwas weniger unterstützend charakterisiert als Pflegemütter. Diese Befunde stimmen überein mit denen von Holler et al. (1990), wonach von den Eltern Mütter stärker als unterstützende Personen wahrgenommen werden als Väter. Auch Frey & Röthlisberger (1994) fanden bei einer Längsschnittstudie mit Schülerinnen und Schülern 7. und 9. Klassen heraus, dass Väter insbesondere für Mädchen eine geringere Bedeutung für soziale Unterstützung haben und teilweise von Mädchen überhaupt nicht unterstützend wahrgenommen werden. Für die Heimkinder übernehmen Erzieherinnen zentrale Unterstützungsfunktionen. Tendenziell leisten Eltern und Pflegeeltern jedoch mehr soziale Unterstützung als HeimerzieherInnen. In den Gruppen der Kinder in Herkunfts- sowie in Pflegefamilien lässt sich dabei beobachten, dass die Mütter von den Kindern unterstützender wahrgenommen werden als die Väter. Dieser Befund bestätigt auch Ergebnisse anderer Studien. Freitag (1995) kommt nach einer Längsschnittstudie mit Heranwachsenden 7. und 9. Schulklassen zu dem Schluss, dass für Jungen bei persönlichen Problemen die Mutter Hauptansprechpartnerin vor dem Vater ist. Auch Mädchen finden Unterstützung bei Problemen häufiger bei der Mutter und noch eher bei Geschwistern als beim Vater. Geschlechtsspezifische Differenzen finden sich auch auf der Empfängerseite sozialer Unterstützung. Mädchen in Pflege- und insbesondere in Herkunftsfamilien erhalten nach eigener Auskunft mehr Unterstützung sowohl von (Pflege-)Müttern als auch von (Pflege-)Vätern als Jungen. Im Hinblick auf die Unterstützung durch Mütter bzw. Pflegemütter werden diese geschlechtsspezifischen Differenzen signifikant: Mädchen in Ursprungs- und in Pflegefamilien nehmen signifikant mehr mütterlichen Support wahr als die Jungen (p=.021). Im Heim hingegen leisten nach Angaben der Kinder ErzieherInnen im Durchschnitt für die Jungen geringfügig mehr Hilfe als für die Mädchen. Da die Ergebnisse deutlich machen, dass a) nicht alle HeimerzieherInnen gleich stark unterstützen, teilweise nur geringe Unterstützungswerte zeigen oder von den Heimkindern gar
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nicht unterstützend wahrgenommen werden und b) die verschiedenen HeimerziehrInnen zum Teil gleiche Hilfefunktionen erfüllen, ist davon auszugehen, dass fehlende Unterstützung durch Eltern nicht vollständig durch Heimmitarbeiter kompensiert werden kann. Zudem bestehen auch signifikante Unterschiede zwischen den Heimkindern und den anderen Untersuchungsgruppen im Hinblick auf Hilfeleistungen, die von anderen Teilbereichen der sozialen Netzwerke ausgehen. Heimkinder haben signifikant weniger unterstützende Verwandte als Pflege- und insbesondere als nicht fremdplatzierte Kinder (p=.001). Betrachtet man die verschiedenen Unterstützungsdimensionen, fällt auf, dass es insbesondere Gruppenunterschiede im Bereich emotionaler Unterstützung gibt. Heimkinder nennen deutlich weniger Personen, die sie als emotional unterstützend erleben, als die in Pflegefamilien lebenden und insbesondere die nicht fremdplatzierten Kinder. Emotionaler Rückhalt und Geborgenheit, die z. B. darin bestehen, dass Personen existieren, deren Anwesenheit und Zuwendung sich das Kind sicher sein kann, die seine Probleme und Traurigkeit bemerken und in problematischen Situationen Zuhörer und Ansprechpartner sind, erscheinen bei Heimkindern weniger gewährleistet als bei Pflegekindern und Kindern in Herkunftsfamilien. Geringe emotionale Unterstützung und Geborgenheit zeigt sich bei den in Heimen lebenden Jungen noch stärker als bei den Mädchen. So äußern mehr als die Hälfte der Heimbewohner, niemanden zu haben, mit dem sie über Belastungen und Probleme sprechen können. Heimkinder zählen zudem auch weniger Personen auf, von denen sie ‚lieb gehabt’ werden, als Pflege- und nicht fremdplatzierte Kinder. Mädchen in Heimen aber auch in Pflegefamilien nennen weniger Netzwerkangehörige, auf die sie sich verlassen können, als Kinder, die in ihren Herkunftsfamilien leben. Während bei den nicht fremdplatzierten Kindern vor allem Mütter und Väter zentrale Quellen emotionaler Hilfe und Geborgenheit sind, erleben Heimkinder diese häufig durch Peers, durch die im Heim lebenden Geschwister und durch weibliches Heimpersonal. Pflegeeltern aber auch gleichgeschlechtliche Freunde sind für die Pflegekinder zentrale Ressourcen emotionaler Unterstützung und Geborgenheit. Andere Unterstützungsdimensionen, beispielsweise instrumenteller Support, Hilfe im schulischen Bereich, Geselligkeit sowie Anerkennung und Lob scheinen bei Jungen und Mädchen aller drei Untersuchungsgruppen gleichermaßen gewährleistet. Im Bereich der sozialen Unterstützung zeigen sich spezifische Zuständigkeitsprofile der unterschiedlichen Netzwerkmitglieder für verschiedene Supportfunktionen. Unterstützungsfunktionen Erwachsener liegen vorwiegend im Bereich instrumenteller und schulischer Unterstützung, der Vermittlung von Anerkennung und Lob. Kinder erfüllen insbesondere Geselligkeitsfunktionen, unterstützen bei Schwierigkeiten mit Dritten und ermöglichen reziprokes Hilfeverhalten. Im Bereich sozialer Regulations- und Kontrollfunktionen lassen sich signifikante Unterschiede zwischen den Untersuchungsgruppen nachweisen. So wird deutlich, dass Heimkinder trotz ihrer kleineren Netzwerke mehr als doppelt soviel Kontrolle und Regulation wahrnehmen wie die Pflegekinder, die hier die geringsten Werte zeigen. Kinder in Herkunftsfamilien erleben trotz kleinerer Beziehungssysteme geringfügig mehr Regulation und Kontrolle als die Pflegekinder. Kinder in Heimunterbringung erhalten insbesondere mehr Verbote als Kinder in Pflegeund Herkunftsfamilien. Sie erleben mehr regulierende Eingriffe, die sich auf einen geregelten Tagesablauf beziehen, nehmen dagegen aber weniger Anleitung und Führung wahr als die nicht fremdplatzierten und die in Pflegefamilien aufwachsenden Kinder.
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Mädchen zeigen geringfügig höhere Werte als Jungen hinsichtlich sozialer Regulation und Kontrolle. Ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Geschlecht des Kindes und der von ihm wahrgenommenen sozialen Kontrolle besteht jedoch nicht. Im Gegensatz zur sozialen Unterstützung, die sich als signifikant abhängig von der Anzahl sozialer Beziehungen erwies, besteht kein Zusammenhang zwischen der Netzwerkgröße und dem Ausmaß wahrgenommener sozialer Regulation und Kontrolle. Tabelle 9:
Tests der Zwischensubjekteffekte – abhängige Variable: Menge der Regulationen
Netzwerk Geschlecht Gruppe Geschlecht * Gruppe
F 1.608 .019 16.241 1.332
Signifikanz .210 .891 .000** .273
Partielles Eta-Quadrat .029 .000 .380 .048
Generell erweist sich der Bereich sozialer Regulations- und Kontrollfunktionen als Domäne von Erwachsenen und insbesondere von Frauen. Eltern und Pflegeeltern sind zentrale Instanzen für Regulationen und Kontrolle. Bei den Heimkindern übernehmen Erzieherinnen und Erzieher diese Funktionen. Vergleicht man die Angaben der Kinder zu erlebten sozialen Belastungen und Konflikten, zeigen sich signifikante Zusammenhänge sowohl zwischen der Untersuchungsgruppenzugehörigkeit als auch zwischen dem Geschlecht und dem Ausmaß wahrgenommener Belastungen und Konflikte. Im Gegensatz zur formulierten Hypothese fühlen sich Heimkinder durch ihr Netzwerk nicht stärker belastet als Kinder, die bei ihren Eltern leben. Interessant ist der gegenteilige Befund, dass gerade die nicht fremdplatzierten Kinder mit den kleinsten sozialen Beziehungssystemen sehr viel mehr Belastungen aufzählen als die Pflege- und insbesondere die Heimkinder. Familienkinder zählen mehr als die anderthalbfache Anzahl von Belastungen auf als die Heimkinder. Mädchen fühlen sich durch ihre sozialen Beziehungen erheblich stärker belastet als Jungen. Die Netzwerkgröße hat keinen signifikanten Einfluss auf die Gesamtmenge sozialer Belastungen und Konflikte im Gegensatz zu erhaltenen Hilfeleistungen, die signifikant mit der Anzahl der sozialen Beziehungen der Kinder korrelieren. Das Geschlecht des Kindes sowie seine Zugehörigkeit zu einer der drei Untersuchungsgruppen haben einen signifikanten Einfluss auf das Gesamtausmaß wahrgenommener Belastungen. Tabelle 10:
Tests der Zwischensubjekteffekte – abhängige Variable: Menge der Belastungen
Geschlecht Gruppe Geschlecht * Gruppe
F 4.182 3.304 .742
Signifikanz .046** .044** .481
Partielles Eta-Quadrat .072 .109 .027
Kinder ohne erzieherische Hilfe zählen trotz ihrer kleineren Beziehungssysteme etwas weniger Personen auf, von denen Belastungen ausgehen, als die Pflege- und insbesondere als die Heimkinder. Belastungen gehen von unterschiedlichen Netzwerkmitgliedern aus. Kinder in
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Herkunfts- und Pflegefamilien fühlen sich am häufigsten durch Mitschüler belastet. Heimkinder haben belastete Beziehungen am häufigsten zu Mitbewohnern und Heimmitarbeitern. Einzelne Belastungsdimensionen treten in den Untersuchungsgruppen unterschiedlich häufig auf. Heimkinder erhalten mehr Bestrafungen als andere Kinder. Nicht fremdplatzierte und Pflegekinder fühlen sich dagegen deutlich häufiger durch Normkonflikte belastet. Belastungen erleben Kinder aller Gruppen vor allem in Form von Streit mit anderen Kindern oder indem sie von diesen geärgert werden. Belastungen durch Erwachsene erfahren Kinder vorwiegend als Schimpfen oder Bestrafung. Angst und Gewalt spielen für alle befragten Kinder als Belastungsdimensionen nahezu keine Rolle. Die Vignettenuntersuchung2 In den Sozialwissenschaften dienen Vignetten dazu, über prägnante Geschichtenanfänge oder visuelle Abbildungen eine stimulierende Aufforderungssituation herzustellen, die die befragten Personen zu Beurteilungen oder zu weiterführenden Handlungsentwürfen anregt. Sie erzeugen über Identifikations- und Projektionsprozesse mit den Protagonisten der Geschichten und Skizzen eine soziale Wirklichkeit, in der die situativen Realitätserzeugungen der Kinder rekonstruiert werden. Ziel der Vignettenuntersuchung ist es aufzuzeigen, wie der subjektive Handlungssinn in imaginierten Situationen (Vignettendarstellungen) hervorgebracht wird, d.h. Prozesse nachzuvollziehen, in denen die Akteure (Kinder) ihre soziale Wirklichkeit herstellen. Theoretische Zugänge zur Entwicklung des Erhebungsverfahrens ergeben sich u. a. aus sozialkonstruktivistischen (Rauchfleisch 1989; Fisseni 1990) und kognitionspsychologischen Ansätzen (Skripttheorie in Anlehnung an Abelson 1976) sowie aus tiefenpsychologischen Konzepten (Scripts nach Simon & Gagnon 1973) der Projektion, die insbesondere in der traditionellen Persönlichkeitsdiagnostik eine Rolle spielen. Der inhaltlichen Gestaltung der Vignettensituationen liegt ein Modell von Unterstützungsdimensionen (emotionale, instrumentelle, informative und interpretative) nach House (1981) zu Grunde. Zu jeder Unterstützungsdimension werden ein verbalisierter Geschichtenanfang und zwei visualisierte Bildgeschichten entwickelt. Eine zusätzlich konstruierte visuelle Vignette soll Aufschluss über die Veröffentlichungsbereitschaft der Kinder geben. Mit dem Einsatz der Fallvignetten werden die subjektiven Bewältigungsperspektiven und die subjektiven Hilfeverständnisse der 6- bis 12jährigen Kinder erhoben. 18 der zuvor an der Hauptuntersuchung beteiligten Kinder (je Untersuchungsgruppe 3 Jungen und 3 Mädchen) nehmen an der Vignetten-Erhebung teil. Die verbalisierten Vignetten (Geschichtenanfänge) bilden eine alltagsnahe Problemsituation ab, die jeweils eine dieser Unterstützungsformen notwendig machen könnte. Aufgabe der Kinder ist es, ihre Form der Bewältigung darzustellen und diese zu bewerten. Aus der Beschreibung ihrer Bewältigungsstrategien wird auch deutlich, inwieweit sie davon ausgehen, dass sie die jeweilige Unterstützungsform benötigen oder nicht. 2
S. a. Stiehler & Werner 2008.
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Beispiel: Geschichtenanfang „Freunde“ (interpretativ) „Martin spielt jeden Tag mit seinen 2 besten Freunden. Als er heute zum Spielplatz kommt, möchten die beiden nicht mehr mit ihm spielen. Martin weiß nicht warum. Er …“ „Melanie spielt jeden Tag mit ihren 2 besten Freundinnen. Als sie heute zum Spielplatz kommt, möchten die beiden nicht mehr mit ihr spielen. Melanie weiß nicht warum. Sie …“ Die visuellen Vignetten (Bildgeschichten) stellen, in Anlehnung an den Picture- FrustrationTest (PFT) von Rosenzweig (1957), situativ jeweils eine der Unterstützungsdimensionen dar und werden von den Kindern dahingehend bewertet, ob sie diese Unterstützung (emotional, instrumentell, informativ, interpretativ) subjektiv als Hilfe wahrnehmen und interpretieren oder nicht. Auf diese Weise soll das Hilfeverständnis der Kinder erschlossen werden. Beispiel: Bildgeschichte „Teddy“ (emotional)
Als Auswertungsverfahren wird eigens ein vignettenspezifisches Kategoriensystem entwickelt, das den Fragestellungen, den methodischen Zielsetzungen sowie dem qualitativen Potential der
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Vignettentechnik entsprechen soll. Dazu wird eine Kombination aus kategoriengenerierender und theoriegeleiteter Auswertung zur Bildung der Auswertungskategorien gewählt. Die verbalisierten Vignetten zur Erhebung der Bewältigungsstrategien von Kindern in Heim, Pflege und Familie erbringen u.a. folgende Ergebnisse: Die Kinder bewältigen in der Regel problemlöseorientiert und aktiv. Diejenigen Kinder, die im Heim leben, bewältigen vorgegebene Problemsituationen am häufigsten aktiv. Die Jungen bewältigen häufiger aktiv als die Mädchen. Die Kinder suchen in der Mehrzahl der Konstellationen Unterstützung. Heimkinder fragen am häufigsten Unterstützung nach und begründen ihre Unterstützungssuche am häufigsten damit, dass sie ihre eigenen Interessen durchsetzen möchten. Familienkinder geben diese Begründung am seltensten an. Als Unterstützungsperson wird am häufigsten, vor allem von den Heimkindern, die Mutter angegeben. Insgesamt ist eine positive Bewertung der eigenen Bewältigungsstrategie durch die Kinder festzustellen. Die Heimkinder schätzen ihre Bewältigungsstrategien selten und die Familienkinder nie negativ ein. Die visualisierten Vignetten zur Erhebung des Hilfeverständnisses führen u. a. zu folgenden Erkenntnissen: Generell überwiegt die Annahme der angebotenen Unterstützung. Dabei nehmen die Familienkinder mit Abstand am häufigsten und die Pflegekinder am seltensten Hilfe an. Jungen und Mädchen unterscheiden sich diesbezüglich nur geringfügig. Fast alle Hilfen werden von den Kindern als „angeboten“ charakterisiert. Insgesamt bewerten die Kinder die in den Bildvignetten dargestellten Hilfen überwiegend positiv. Familienkinder schätzen die Hilfen am häufigsten, Pflegekinder am seltensten positiv ein. Hinsichtlich des Hilfeverständnisses können keine Geschlechterunterschiede festgestellt werden. Die Aktenanalyse Die Aktenanalyse ist eine empirische Methode zur Untersuchung von sozialpädagogischen Einzellfallakten und zur Gewinnung von empirischem Datenmaterial. Im Rahmen der Aktenanalysen soll der subjektiven Netzwerkwahrnehmung der ausgewählten Kinder eine subjektive Sicht professioneller JugendamtsmitarbeiterInnen auf deren informelle und formelle soziale Beziehungen sowie auf objektive Kennzeichen der Lebensund Beziehungssituation gegenübergestellt werden. Mit Hilfe der Aktenanalyse sollen zudem Verlaufsdaten über die Entwicklung der Beziehungssituation der Kinder gewonnen werden. Sozialpädagogische Einzelfallakten werden in Jugendämtern von Sachbearbeiterinnen geführt, um Prozesse und Begründungen zur Entscheidung der Hilfegewährung im Amt festzuhalten und diese gleichzeitig überprüfbar und nachvollziehbar zu machen (vgl. Baur, Finkel, Hamberger & Kühn 1998). Jugendamtsakten können als „Schnittstelle“ zwischen den AdressatInnen der Hilfe, den betreuenden Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, der Institution und der rechtlichen und sozialpolitischen Legitimation der Arbeit gesehen werden. Die zentra-
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len Prinzipien administrativer Aktenführung sind Schriftlichkeit, Objektivität und Vollständigkeit. Jugendamtsakten sind entscheidungsrelevante fach- und fallspezifische Dokumente im Jugendamtshandeln und enthalten u. a. Diagnosen, Einschätzungen, Begründungen, Hilfepläne und Informationen über Jugendhilfeverläufe. Anhand der kontinuierlich stattfindenden Hilfeplangespräche und deren Dokumentation sollten sozialpädagogische Jugendamtsakten Auskunft über spezifische Ereignisse im Lebenslauf des Kindes sowie über individuelle Entwicklungs- und Hilfeverläufe geben. Mittels (Längsschnitt- oder Verlaufs-)Analysen von Jugendamtsakten werden für die aus den Untersuchungsgruppen I und II ausgewählten Kinder Informationen zur Netzwerkentwicklung ermittelt. Es wird herausgearbeitet, welche Veränderungen es in den informellen sozialen Beziehungen der Kinder in der Vergangenheit gegeben hat (z. B. Trennung der Eltern, Heimeinweisung eines Geschwisterkindes) und welche formellen Hilfen sowie damit verbundenen Beziehungswechsel bisher stattfanden. Zweites Analysekriterium ist die professionelle Sicht der JugendamtsmitarbeiterInnen auf die formellen und informellen sozialen Beziehungen und die Beziehungsqualitäten der Kinder. Es wird angestrebt, aus dem Datenfundus Informationen über den Verlauf und die Entwicklung des sozialen Netzwerkes der Kinder unter Beachtung folgender Aspekte zu gewinnen: a. Veränderungen in den formellen und informellen sozialen Beziehungen des Kindes, Gewinnung von Verlaufsdaten/Informationen zu Netzwerkentwicklungen der Klientel, b. Erhebung bereits stattgefundener bzw. stattfindender formeller Hilfen sowie Analyse damit verbundener Beziehungs- und Ortswechsel, c. die professionelle Sicht der Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter auf die formellen und informellen sozialen Beziehungen sowie d. die professionelle Sicht der Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter auf das Beziehungsverhalten der Kinder. Zur Analyse der Jugendamtsakten wird ein Auswertungsraster entwickelt, worin spezifische Ereignisse im Lebens- und Hilfeverlauf der Klienten in Abhängigkeit von der Zeit dokumentiert werden können. Entsprechend dienen die einzelnen Lebensjahre der Kinder als Untergliederungseinheiten im Auswertungsraster, weil sich der Hilfebeginn, der Hilfeverlauf sowie das Hilfeende und die damit verbundenen Veränderungen im Netzwerk meist individuell und zeitlich verschieden einstellen. Die Kinder, deren Jugendamtsakten im Rahmen des Projektes analysiert werden, sind zum Erhebungszeitraum im Alter von 8 bis 13 Jahren. Die insgesamt 14 Aktenanalysen werden zu gleichen Anteilen bei Mädchen und Jungen durchgeführt. Von den 7 Mädchen, deren Akten untersucht wurden, leben 3 im Heim und 4 in Pflegefamilien. Gleiches gilt für die ausgewählte Jungenpopulation. Eine querschnittliche Betrachtung der aktendokumentierten Verläufe zeigt insbesondere Netzwerke und Verlaufsdaten der Kinder als äußerst inhomogen ein hohes Maß an instabilen Beziehungen zur Herkunftsfamilie eine hohe Anzahl von Beziehungsabbrüchen und -zugängen (vor allem zu professionellen HelferInnen) insgesamt einen verbreiteten Ortswechsel aufgrund neuer institutioneller Einbindung und/oder eine geringe Sesshaftigkeit der Herkunftsfamilie
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einen schwierigen Einstieg in die Schulbildung, meist begleitet durch einen Wechsel in einen niedrigeren Schultyp, was den Beziehungsabbruch zu Mitschülern beinhaltet.
Trotz der aufwendigen Analyse der Sicht der professionellen HelferInnen wird insgesamt deutlich, dass die Akten nur wenige Beziehungs- und Netzwerkaspekte enthalten und den Personen, die über Helfer und Kernfamilie hinausgehen, nur eine geringe Berücksichtigung schenken. Zum anderen stellt sich heraus, dass jedes Jugendamt eine andere Aktenführung praktiziert, was erhebliche Unterschiede u. a. bei der Soziogrammerstellung und den Hilfeplanformularen bzw. -inhalten zur Folge hat. Aufgrund der unterschiedlichen Datenqualität war die Vergleichbarkeit der zur Verfügung stehenden Daten sehr eingeschränkt. Durch die Kombination der einzelfallbezogenen Auswertung der Aktenanalyse mit den Angaben der Kinder zu inhaltlichen und personellen Funktionen sozialer Unterstützung, Regulation und Belastung ist es zudem möglich, folgende Zusammenhänge zu rekonstruieren: Ältere Geschwister, die mit in Heimunterbringung leben, werden mit zahlreichen umsorgend/beschützenden „mütterlichen“ Funktionen (z. B. der Vermittlung von Anerkennung und Lob, instrumentellen Hilfen, der Übernahme einer „Beschützerrolle“) konfrontiert. Steht eine zentrale Person zur Verfügung (wie die ältere Schwester im Heim oder die Einzelbetreuerin), wird diese meist auch durch die Heimkinder mit Funktionen der Sicherung umfassender Geborgenheit assoziiert. Im Hilfeplan in den Vordergrund gestellte Netzwerkpersonen und als wichtig erachtete Rollenträger finden seitens der Kinder oft keine weitere Erwähnung. Durch die befragten Kinder wird ausgewählten (meist gleichaltrigen) Netzwerkpersonen eine große aktuelle Bedeutung zugeschrieben. Von den JugendamtsmitarbeiterInnen werden diese Personen und ihre Funktionshäufigkeit nicht wahrgenommen bzw. sie finden keine Erwähnung in den Akten. Eine ausführliche Darstellung der Studie „Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung von Kindern in Heimerziehung“ einschließlich ihrer Erhebungsmethoden und einer ausführlichen Ergebnispräsentation auch zu den einzelnen Untersuchungsgruppen sowie daraus resultierende Folgerungen für Forschungsvorhaben mit Kindern und die sozialpädagogische Praxis der Heimerziehung bzw. Fremdplatzierung enthält das Buch „Kindernetzwerke. Soziale Beziehungen und soziale Unterstützung in Familie, Pflegefamilie und Heim“ (Nestmann et al. 2008). Literatur Abelson, R.P. (1976). Script processing in attitude formation and decision making. In: J.S. Carroll, J.W. Payne (Eds.), Cognition and social behaviour. Hillsdale: Lawrence Erlbaum, 33-67 Aken, M.A.G. van, Asendorpf, J.B. & Wilpers, S. (1996). Das soziale Unterstützungsnetzwerk von Kindern: Strukturelle Merkmale, Grad der Unterstützung, Konflikt und Beziehungen zum Selbstwertgefühl. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 43 (2), 114-126 Baur, D., Finkel, M., Hamberger, M. & Kühn, A.D. (1998). Leistungen und Grenzen von Heimerziehung: Ergebnisse einer Evaluationsstudie stationärer und teilstationärer Erziehungshilfen (Forschungsprojekt Jule; Projektleitung Hans Thiersch). Herausgegeben vom Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Stuttgart: Kohlhammer Belle, D. (1989). Gender differences in children’s social networks and supports. In: D. Belle (Ed.). Children’s social networks and supports. New York: Wiley, 173-188
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Interaktion und Kommunikation in der Sozialen Arbeit. Fallstudien zum Hilfeplangespräch Heinz Messmer/Sarah Hitzler Einleitung Hilfeplanung wird im Fachdiskurs der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe als ein Schlüsselprozess für die Qualitätsentwicklung im Kinder- und Jugendhilferecht angesehen und seit bald zwanzig Jahren intensiv diskutiert. Sie ist der Versuch, unter komplexen und prinzipiell kontingenten Hilfeverläufen im zeitlichen Vorgriff eine Entscheidung über die erwartbar beste Handlungsoption vorzubereiten und gedanklich zu strukturieren (Merchel 1999, 75). An die Stelle obrigkeitsstaatlicher Reaktionen und expertokratischer Diagnoseverfahren sollen multilateral strukturierte Verfahrensentscheidungen treten, bei denen sich Fachkräfte und Entscheidungsbetroffene gemeinsam über ihre individuellen Problemdefinitionen verständigen können und hinsichtlich Art und Umfang von Hilfen zu angemessenen Entscheidungen finden. Obwohl über die konzeptionellen und normativen Verfahrensvoraussetzungen der Hilfeplanung ein breites fachliches Einvernehmen besteht, klaffen Anspruch und Wirklichkeit der Hilfeplanung weit auseinander. Im Kern verweisen die bisherigen Studien auf ein hohes, von allen Beteiligten anerkanntes Kooperationsideal, das jedoch durch unklare Rollendefinitionen, übergangene oder verzerrt dargestellte Vereinbarungsinhalte sowie durch kollektive Meidung besonders belastender Themen unterlaufen oder außer Kraft gesetzt wird (Modellprogramm 2003; Messmer 2004). Vor allem aber liegen die konkreten Praxisabläufe der Hilfeplanung empirisch im Dunkeln. Auch nach Jahren intensiver Diskussion sind empirisch fundierte Aussagen „deutlich zu selten“ (Pies/Schrapper 2003, 86). Die bisherigen Untersuchungen zu diesem Thema leiden zudem an der Schwäche, dass sie lediglich auf indirektem Wege (ex post facto) Rückschlüsse auf die tatsächlichen Verfahrensabläufe der Hilfeplanung ziehen. Generell werden die praktisch realisierten Handlungsvollzüge in der Sozialen Arbeit empirisch nur langsam erschlossen (vgl. beispielsweise Petko 2004; Wigger 2007). Infolgedessen stehen die zentralen Problemstellungen des professionellen Handlungssystems und seine Strukturlogiken weithin noch unverbunden nebeneinander (Schütze 2000; Dewe/Otto 2005). An diesem Defizit setzt auch die vorliegende Studie an. Die nachfolgenden Ausführungen entstammen einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt mit dem Titel „Reflexive Hilfeplanung als kommunikativer Aushandlungs- und Entscheidungsprozess“, das im Zeitraum zwischen Dezember 2004 und Juni 2008 an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld durchgeführt wurde. Zielsetzung dieses Forschungsvorhabens war, ein Kernelement der Ressourcensteuerung in der Kinder- und Jugendhilfe empirisch detailliert zu rekonstruieren. Konversationsanalyse als Methode Der methodologische Schwerpunkt der vorliegenden Studie liegt in den Grundannahmen der Ethnomethodologie begründet (vgl. dazu den Beitrag Konversationsanalyse im Supplement des G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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vorliegenden Bandes). Diese zeichnet sich durch eine methodische Haltung aus, welche die soziale Wirklichkeit als eine situierte, das heißt kontextgebunden und interaktiv konstituierte Ordnung betrachtet. Die Konversationsanalyse, die unserer Forschung methodisch zugrunde lag, greift diese Grundhaltung auf. Dabei setzt sie an Kommunikation als dem zentralen Medium einer sozial produzierten Wirklichkeit an. In diesem Verständnis dient eine Kommunikation nicht nur der Übertragung von Information; vielmehr produziert sie diejenige Situation, die dem Informationsaustausch zugrunde liegt, indem die Teilnehmenden gemeinschaftlich diejenigen Ordnungsprinzipien generieren, von denen sie annehmen, dass sie für die vorliegende Situation wesentlich sind. Auch für institutionelle Kontexte ist Kommunikation konstitutiv. Diese wären ohne die Vermittlungsleistung von Sprache kaum denkbar, was für Gerichte oder Arztpraxen ebenso gilt wie für die Einrichtungen der Sozialen Arbeit: Ob Fachkräfte Aktennotizen lesen oder verfassen, andere Institutionen kontaktieren, sich kollegial beraten oder mit ihren Klienten befassen – immer ist Kommunikation mit im Spiel. Jedoch wird die zentrale Rolle von Sprache im praktischen Alltag der Professionellen nur selten bewusst reflektiert (vgl. Juhila/Pösö 1999, 276). Wie selbstverständlich fließt Sprache in die täglichen Arbeitsabläufe ein, sodass ihr wirklichkeitsproduzierender Charakter zumeist unbemerkt bleibt. Aus konversationsanalytischer Sicht ist Sprache jedoch dasjenige Instrument, das Soziale Arbeit als faktische Wirklichkeit erst hervorbringt. Soziale Arbeit ist wesentlich sprachlich fundiert. Und die Art und Weise, wie Sprache eingesetzt wird, hat unmittelbar Einfluss darauf, was in der Sozialen Arbeit als objektiv ‚wirklich’ erscheint. Aus diesem Blickwinkel betrachtet lässt sich über die genaue Analyse von Kommunikation einiges über die Faktizität der Sozialen Arbeit selbst in Erfahrung bringen. Sich damit zu befassen heißt, die Bausteine ihrer Wirklichkeitskonstruktionen zu ergründen (Hall/Slembrouck/Sarangi 2006). Die Analyse regelmäßig wiederkehrender Aktivitäten ist demgemäß gut geeignet, um die Strukturlogiken institutioneller Praxis unter ihren Herstellungsgesichtspunkten zu begreifen. Diese lassen sich anschließend auf den institutionellen Kontext zurück beziehen, der diese Handlungen strukturiert und ermöglichen dadurch Aussagen, die weit über die Ausgangsaktivitäten hinausweisen. Untersuchungsdesign In der Anlage unserer Untersuchungen wurde von vornherein ein klarer Schwerpunkt auf die durch die Form des Gesprächs sichtbar werdenden Strukturen gelegt. Das Untersuchungsinteresse bezog sich insofern nicht auf die spezifische Bearbeitung einzelner Fälle; vielmehr sollten die dem Hilfeplangespräch innewohnenden Rationalitäten institutionellen Handelns systematisch beschrieben und freigelegt werden. Entsprechend war auch die der Untersuchung zugrunde liegende Forschungsfrage ex ante vergleichsweise offen gestellt: Was ist ein Hilfeplangespräch? Was geschieht darin tatsächlich? Welche empirisch nachweisbaren Ablaufprozesse sind mit welchen Funktionslogiken der Hilfeplanung wie verknüpft? Und welche weiterführenden Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen? Im Vordergrund dieser Untersuchung standen somit sehr grundlegende und daher über das einzelne Gespräch hinausgehende Fragen. Wertende oder urteilende Aussagen in Bezug auf das fachliche Handeln waren dagegen nicht von Belang. Es ging uns nicht darum herauszufinden, ob ein bestimmtes Gespräch gut oder schlecht verlaufen war oder ob sich die einzelnen Fachkräfte in einer Situation angemessen oder unangemessenen verhielten; ebenso wenig woll-
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ten wir die Auswirkungen von spezifischen Hilfeplangesprächen auf einzelne Hilfeverläufe eruieren. Stattdessen wollten wir durch unsere Untersuchung Aufschluss darüber gewinnen, was sich über den Eigensinn institutionellen Handelns im Rahmen von Hilfeplangesprächen allgemein aussagen lässt. Datenerhebung Der Kern unseres Datenkorpus wird durch vierzehn Hilfeplangespräche gebildet, die wir in vier verschiedenen Institutionen erhoben, zwei Jugendämtern und zwei stationären Kinderund Jugendhilfeeinrichtungen in NRW. Die Gespräche wurden in drei typischen Hilfephasen erhoben: erstens der Falleingangsphase, also das erste Hilfeplangespräch nach der Unterbringung in einer Einrichtung; zweitens der Fortschreibungsphase, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Hilfe bereits etabliert, ihr Ende aber noch nicht absehbar ist; drittens schließlich der Fallabschlussphase, in der die Beendigung der Hilfe zum entscheidenden Thema wird (im Allgemeinen das letzte oder vorletzte Hilfeplangespräch einer Hilfe). Alle vierzehn Gespräche entstammten verschiedenen Hilfeverläufen. Auf diese Weise erreichten wir mit einem recht kleinen Sample eine vergleichsweise hohe Datenvariabilität. Alle Hilfeplangespräche unseres Korpus wurden von einem/r MitarbeiterIn des Projekts beobachtet und aufgezeichnet. Neben der Tonaufzeichnung der Gespräche wurden diese auch im Hinblick auf allgemeine Eindrücke bzw. auf Auffälligkeiten protokolliert. Zusätzlich zu den Gesprächsdaten erhoben wir zu jedem Hilfeplangespräch die zugehörige Fallgeschichte, indem wir die Fallakten exzerpierten. Zwar waren wir an Schriftdokumenten analytisch nur randständig interessiert, sie halfen uns jedoch, die Hintergründe der zu analysierenden Gespräche besser zu verstehen und einzuordnen. Einen ähnlichen Zweck verfolgten wir mit den Interviews, die wir entweder vor oder nach den Gesprächen mit der jeweils fallzuständigen Fachkraft führten. Durch deren Einschätzung, inwieweit das jeweilige Gespräch eher typisch oder eher außergewöhnlich für ein Hilfeplangespräch war, ließ sich die Gefahr, Ausnahmefälle wie Standardfälle zu behandeln, begrenzen Im Rahmen der Erschließung des Feldes wurden außerdem ausführliche Experteninterviews mit den Leitungspersonen der jeweiligen Einrichtungen geführt. Diese vermittelten uns hilfreiche Einblicke in die organisatorischen Besonderheiten der jeweils agierenden Institution. Zudem boten diese Interviews erste grundlegende Einsichten in die Schwierigkeiten, Probleme und Vorzüge des Hilfeplangesprächs aus Sicht von Leitungsexperten. Datenaufbereitung Die Aufzeichnungen der Hilfeplangespräche wurden in Anlehnung an das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem GAT (Selting et al. 1998) vollständig transkribiert und anonymisiert. Da für gesprächsanalytische Verfahren eine genaue und fehlerfreie Transkription von ausschlaggebender Bedeutung ist, wurden die Transkripte mit Bezug auf die Audioaufnahme mehrfach gegengelesen.1 Dennoch wirft die Arbeit an Transkripten, so detailliert sie sein mögen, immer auch Probleme einer interpretativ gefärbten Sichtweise auf. Dies lässt sich an der unscheinbaren Frage von anonymisierten Sprecherbezeichnungen illustrieren. Denn mit jeder Sprechersigle, mit der etwas über die Person ausgesagt wird, ist immer auch eine Relevantsetzung der so 1
In der Konversationsanalyse wird bei der Transkription auf eine möglichst umfassende und realitätsgetreue Abbildung aller Phänomene im aufgezeichneten Gespräch geachtet, um vorschnelle Interpretationen zu vermeiden (vgl. dazu näher die Ausführungen im Supplement). Im Anhang zu diesem Beitrag findet sich eine verkürzte Übersicht über die in den Beispielen verwendeten Transkriptionskonventionen.
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eingebrachten Information enthalten. Die Zuschreibung einer Äußerung auf eine ‚Mutter’ legt beispielsweise nahe, dass möglicherweise Geschlecht, Alter und sozialer Status für das Verständnis dieser Äußerung wesentlich sind. Wird die Äußerung hingegen der Person ‚A’ zugeschrieben, müssen sich solche Relevantsetzungen aus der Form und dem Inhalt des Gesagten selbst erst erschließen. In der klassischen Konversationsanalyse werden Sprechersiglen daher oft in möglichst neutralen Formen gebraucht (Schegloff 1992). Aus Orientierungs- und Lesbarkeitsgründen haben wir in der vorliegenden Untersuchung dagegen statusanzeigende Sprechersiglen bevorzugt: So ist beispielsweise über alle Transkripte hinweg den Jugendamtsfachkräften die Sigle JA zugeteilt. Aufgrund der empirisch deutlich unterschiedlich geprägten Kommunikationskulturen (zumindest zwischen Professionellen und Klienten) erschien uns die Gefahr einer punktuell gefärbten Analyse verhältnismäßig gering. Die einheitliche Anonymisierung einer nicht geringen Anzahl an Beteiligten hat dagegen den Vorteil, dass in der Darstellung nicht jede/r GesprächsteilnehmerIn detailliert beschrieben werden muss, um die Analyse verständlich zu machen. Solche Entscheidungen müssen im Prozess der Datenaufbereitung jedoch reflektiert und im Prozess der Datenanalyse im Bewusstsein behalten werden: Wenn einzelne Dimensionen der Gesprächsdaten bereits interpretiert worden sind, besteht prinzipiell die Gefahr einer unreflektierten Überinterpretation. Auch die Experten- und Fachkräfteinterviews wurden transkribiert, jedoch war der Detaillierungsgrad hier deutlich geringer. Die Aktenexzerpte und Beobachtungsprotokolle der Gespräche wurden zu Fall- und Gesprächsprofilen verdichtet, die einen schnellen Ein- und Überblick auf die Besonderheiten der einzelnen Fälle und Gespräche erlaubten. Datenauswertung Die konversationsanalytische Auswertung ist grundsätzlich datengeleitet. Das bedeutet, dass die kategoriale Relevanz der Analyse in den Gesprächsdaten selbst angelegt sein muss. Hierzu werden zunächst die Gesprächsaufzeichnungen und -transkripte im Hinblick auf auffällige Phänomene untersucht. Jede konversationsanalytische Auswertung beginnt mit einem Entdeckungsmoment, das zum ursprünglichen Forschungsinteresse in Beziehung gesetzt wird. So wird eine Forscherin, die an interkultureller Kommunikation interessiert ist, im gleichen Gespräch vermutlich auf andere Phänomene aufmerksam als ein Forscher, der sich für Probleme kooperativer Aufgabenbewältigung interessiert. Unsere eigenen Suchbewegungen wurden zunächst durch die allgemeine Frage geleitet, ob und wie das Hilfeplangespräch das leistet, was ihm programmatisch von außen zugedacht wird. Daraus ergaben sich zunächst eine Reihe grundsätzlicher Fragen: Beispielsweise, wie ein Hilfeplangespräch zum Hilfeplangespräch wird, welche Rolle die einzelnen Teilnehmer dabei spielen, wie Entscheidungen getroffen werden oder wie in diesem Zusammenspiel das gesetzlich vorgeschriebene Partizipationspostulat berücksichtigt wird. Zum Teil waren die ersten Suchbewegungen unserer Datenanalyse auch durch die Ergebnisse anderer Studien inspiriert. Die konversationsanalytische Auswertung großer Gesprächskorpora (in unserem Fall: 14 voll transkribierte Gespräche mit einem Umfang von insgesamt mehr als eintausend Seiten) bereitet in methodischer Hinsicht Probleme (vgl. auch Meier 1997, 48 f.), da diese Methodik ursprünglich für die Analyse kürzerer Gesprächsausschnitte bzw. zur Beschreibung mikroskopischer Ordnungselemente konzipiert worden ist. Vor diesem Hintergrund lag unsere eigene Herangehensweise in einer wechselnden Abfolge von weiten und engen Suchbewegungen. Anfänglich haben wir uns mit dem gesamten Gesprächsmaterial zunächst ungerichtet auseinandergesetzt, das wir mehrfach ohne ein spezifisch definiertes Erkenntnisinteresse lasen bzw. hörten, um mit den Daten vertraut zu werden und erste Auffälligkeiten zu notieren. Als
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ein zentraler analytischer Fokus kristallisierte sich jedoch schon bald die Beziehung zwischen Klienten und Professionellen heraus. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass in den vorliegenden Gesprächsdaten ein zunächst willkürlich erscheinender Wechsel der Adressierung auffällig war. Wenn die Fachkräfte im Gespräch sich auf die anwesenden Klienten bezogen, sprachen sie entweder mit ihnen (in der zweiten Person) oder über sie (in der dritten Person), wobei diese Anredeformen einander häufig sogar im selben Redezug ablösten, wie beispielsweise im folgenden Bericht einer Heimleiterin über die 14jährige Janet: [1] Janet 270-7 HL: .hhh auch die Dinge mh:= Æ =weshalb sie in der ANderen Einrichtung aufgefallen ist, also äh SCHNELL (.) Kontakte zu Jungs aufzunehmen, (--) war hier zunächst AUCH? Æ und dann hast du ähm auch mal ne Beziehung zu einem Jungen gehabt, die dann schnell zu Ende war, und da warst du sehr traurig drüber, und und hast dann (--) WEICHspüler getrunken,
Diese Beobachtung brachte uns schließlich dazu, das Phänomen wechselnder Adressierungen über das gesamte Datenkorpus hinweg zu verfolgen und in seinen Auswirkungen genauer zu analysieren. An diesem Punkt wurde somit eine zunächst unspezifische Suchbewegung methodisch spezifiziert, um ein singuläres Phänomen selektiv weiterverfolgen zu können. Nach einer vergleichenden Analyse dieser Auffälligkeit (In welchen Gesprächskontexten tritt sie auf? Welche Effekte zeigen sich an den unmittelbar nachfolgenden Interaktionen? Welches Interaktionsproblem wird damit gelöst?), flankiert durch das Sichten und Auswerten vergleichbarer Analysen,2 wurde die Suchbewegung schließlich wieder erweitert, um verwandte Phänomene in die Analyse mit einbeziehen zu können. Angestrebt wurde ein gewisser analytischer Sättigungsgrad, der empirisch soweit belastbar ist, dass sich daraus ‚generative Prinzipien’ ableiten ließen: Wenn die Analyse in der Lage ist, das Auftreten verwandter Phänomene im gleichen Kontext bzw. das Auftreten von gleichen Phänomenen in verwandten Kontexten vorherzusagen, so ist sie hinreichend verdichtet (Bergmann 1988, 42; ten Have 1999, 154 f.). Die intensive Beschäftigung mit einzelnen Phänomenen im Zuge der Engführung der Analyse birgt allerdings auch eine gewisse Gefahr. Durch die beliebige Verlangsamung und Detaillierungsmöglichkeit von Phänomenen, die sonst flüchtig, unwiederbringlich und oft auch unbemerkt an uns vorübergehen, entsteht nicht selten ein „Detaillierungssog“ (Bergmann 1985, 316), in dem sich die Analyse leicht verlieren kann: Wie bei einer Zwiebel zeigt sich in Gesprächsdaten unter jeder freigelegten bzw. sichtbar gemachten Schicht eine weitere, feinere Ebene mit einer Fülle neuer Elemente, die das ursprünglich anvisierte Phänomen wiederum unterteilen, relativieren oder im Hinblick auf seine Funktion im Gespräch analytisch höher auflösen kann. Wer sich auf der Suche nach den ursächlichen Strukturen komplexer Gesprächsabläufe auf immer weitere Tiefenschichten einlässt, verliert mitunter schnell die ursprünglichen Zielsetzungen aus den Augen. Entsprechend sind reflektierte bzw. pragmatische Selbstbegrenzungen unabdingbar. Vor den hier nur beispielhaft skizzierten Verfahren einer konversationsanalytischen Forschung wollen wir nun (in notwendigerweise stark verkürzter Form) ausgewählte Befunde 2
So stießen wir etwa auf die Untersuchung von Meike Schwabe, der die Bedeutung dieses Äußerungsformats in medizinischen Gesprächskontexten ebenfalls aufgefallen war (Schwabe 2004, 82 ff.).
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unserer Analysen zum Hilfeplangespräch präsentieren. Diese betreffen zum einen Fragen der klientelen Identität, zum anderen Anmerkungen zu den Entscheidungsprozessen in einer heterogen zusammengesetzten Gruppenstruktur, die wiederum weiterführende Hinweise auf die interaktiven Dilemmata in der Sozialen Arbeit vermitteln. Ergebnisse Die soziale Produktion von Klienten Aus ethnomethodologischer Perspektive werden im Rahmen der Interaktion nicht nur soziale Situationen, sondern gleichzeitig auch die für die Situation relevanten Identitäten konstituiert. Um ein Hilfeplangespräch führen zu können, müssen die Anwesenden hinsichtlich Status und Rolle hinlänglich unterscheidbar und füreinander in ihrer Verschiedenheit wahrnehmbar sein. Grundlegend dafür ist die Rollenbeziehung zwischen Klientel und Professionellen. Wie in institutionellen Gesprächskontexten überhaupt zeichnet sich diese Rollenbeziehung auch hier durch den Umstand aus, dass die eine Seite ein Problem hat, für das die andere Seite über die erforderlichen Ressourcen zu seiner Abhilfe verfügt. Eine in diesem Sinne komplementäre Rollenbeziehung ließ sich auch in den Hilfeplangesprächen erwarten. Vor diesem Hintergrund haben wir uns gefragt, wie und durch wen die für diese Rollenbeziehung notwendigen Identitäten hergestellt bzw. sichtbar gemacht werden: Welche institutionellen Zwecksetzungen werden damit erfüllt? Welche Interaktionsprobleme dadurch gelöst? Die interaktionsförmige Sichtbarmachung dieser Rollenbeziehung haben wir als Prozesse der Klientifizierung interpretiert. Begrifflich ist damit ein Vorgang bezeichnet, der sich auf die interaktive Herstellung erwartbarer institutioneller Rollenidentitäten bezieht. In unserer Studie haben wir vier Varianten der Klientifizierung im Rahmen von Hilfeplangesprächen unterschieden (vgl. ausführlich Messmer/Hitzler 2007). Die erste und offensichtlichste Variante der Klientenproduktion findet sich in der sozialen Adressierung, in der Tatsache also, dass Klienten anders bezeichnet und mit anderen Attributen versehen werden als Professionelle. Dies lässt sich vor allem in den Einleitungsphasen von Hilfeplangesprächen beobachten, wenn beispielsweise eine Fachkraft die bisherige Fallgeschichte zusammenfassend darstellt, wie im Gespräch ‚Janine’: [2] Janine 76-82 JA:
ja vorausgeschickt war ja das Hilfeplangespräch bei uns im Amt? (1.0) ne?= =wo auch ähm: .hhh ähm – (---) die Mutter, (--) Janine; als auch Fachkräfte vom Dienst, teilgenommen haben-
An dieser kurzen Sequenz lässt sich die Form sozialer Adressierung gut illustrieren. So werden die beiden anwesenden Klientinnen (Janine; die Mutter) in ihrer lebensweltlichen Beziehung zueinander beschrieben, während bei den Professionellen ihre institutionelle Zugehörigkeit im Vordergrund steht (bei uns im Amt; Fachkräfte vom Dienst). Zusätzlich fällt auf, dass sich die professionellen Identitäten häufig als Gruppenidentitäten präsentieren, was etwa durch die zweite Person Plural sprachlich zum Ausdruck gebracht wird (bei uns im Amt). Professionelle nehmen im Gespräch somit bevorzugt Stellvertreterrollen ein, die grundsätzlich austauschbar sind und
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auch von anderen Fachkräften als den hier Anwesenden ausgefüllt werden könnten. Klienten werden demgegenüber vorzugsweise über ihre individuellen Rollenbezüge identifiziert. Dies unterstreicht mithin ihre Nicht-Austauschbarkeit in Bezug auf den Fortbestand der professionellen Beziehung. Eine zweite Variante der Klientenproduktion geschieht in Form der Objektivierung bzw. der Verdinglichung von Klienten, die über das bereits weiter oben angedeutete Format des ‚Reden mit/Reden über’ umgesetzt wird. Indem Professionelle über anwesende Klienten sprechen, behandeln sie diese interaktiv wie Abwesende. Gleichzeitig erscheinen sie primär als das Thema, weniger hingegen als Adressat der betreffenden Äußerung. Auf diesem Wege können die Professionellen indirekt auch deren Partizipationsstatus kontrollieren: Werden Klienten lediglich als Thema einer Äußerung adressiert (Reden über), bleiben sie im Allgemeinen still und kommentieren das Gesagte nicht. Werden sie dagegen im Gespräch direkt adressiert (Reden mit), so werden sie dadurch zu Gesprächspartnern in der Interaktion und reagieren entsprechend öfter auf die an sie gerichteten Redebeiträge. Auch dieser Sachverhalt lässt sich anhand des oben bereits zitierten Gesprächsausschnitts aus dem Gespräch ‚Janet’ gut illustrieren: [3] Janet 270-80 HL: .hhh auch die Dinge mh:= =weshalb sie in der ANderen Einrichtung aufgefallen ist, also äh SCHNELL (.) Kontakte zu Jungs aufzunehmen, (--) war hier zunächst AUCH? Æ und dann hast du ähm auch mal ne Beziehung zu einem Jungen gehabt, die dann schnell zu Ende war, und da warst du sehr traurig drüber, und und hast dann (--) WEICHspüler getrunken, (lacht auf)) KJ:Æ HL: naja. KJ:Æ s(t)immt gar nicht.
Der hier gezeigte Ausschnitt stammt aus einem längerem, durch die Heimleiterin vorgetragenen Entwicklungsbericht, den sie vorher ausschließlich im Modus des ‚Redens über’ gehalten hat. Dabei behält sie unangefochten das alleinige Rederecht, bis sie vom ‚Reden über’ in den Modus des ‚Redens mit’ transferiert. Damit ändert sich gleichzeitig Janets Gesprächsstatus in bedeutsamer Weise: Als Adressatin der Kommunikation ist sie ihrerseits nun befugt, ihre Haltung zu den Inhalten des Berichts bzw. auch anders lautende Sachverhaltsversionen zum Ausdruck zu bringen. Eine dritte Form der Klientifizierung ist mit dem Begriff der sozialen Kategorisierung umschrieben. Damit eine Person zum Klient werden kann, muss ein Problem bestehen, das sie aus eigener Kraft nicht bereinigen kann. Wo ein solches Problem nicht besteht, gibt es weder für eine Hilfe, noch für ein Hilfeplangespräch eine Berechtigung. Weil für alle Beteiligten das zu lösende Problem ersichtlich sein muss, ist im Hilfeplangespräch die kommunikative Etablierung des Hilfebedarfs ein unverzichtbarer Bestandteil des Entscheidungsverfahrens. Dies geschieht über die Feststellung eines Defizits, das auf die Differenz zwischen gesellschaftlichem Soll- und Ist-Zustand aufmerksam macht. Im Gespräch ‚Janine’ beispielsweise wird die Vierzehnjährige durch Hinweise darauf als Klientin kenntlich gemacht, dass sie sich durch mehrfache ‚Außerhäusigkeit’ selbst in Gefahr bringt, ein frühreifes Interesse am anderen Geschlecht demonstriert und sich dem Einfluss ihrer überforderten Mutter entzieht.
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Die letzte von uns identifizierte Form der Klientifizierung vollzieht sich schließlich im Rahmen der institutionellen Passung. Dieses Muster dient der logisch nachvollziehbaren Verknüpfung der Identität des Klienten, des ermittelten Hilfebedarfs und der verfügbaren Ressourcen der Institution. Im Gespräch ‚Janine’ suggeriert der Begriff der ‚Außerhäusigkeit’ Selbstgefährdung und Schutzbedarf, da die Jugendliche weder selbst in der Lage ist, sich eigenverantwortlich zu verhalten, noch ihre Mutter als Autoritätsperson anerkennt. Heimunterbringung ist darauf die institutionell passende Antwort. Auf dem Wege der Passung wird die Klientin als eine legitime Adressatin institutioneller Hilfen konstruiert, deren Probleme durch die Mittel der Sozialen Arbeit bearbeitet werden können. Gemäß den vorliegenden Analysen ist Klientenproduktion ein Kernbestandteil professioneller Aktivitäten: Wo Klient und Professionelle einander begegnen, werden zwangsläufig auch die der Interaktion zugehörigen Identitäten (re-)produziert. Wann immer in institutionellen Kontexten lebensweltliche Problemlagen definiert, bewertet und im Hinblick auf ihre institutionelle Bearbeitbarkeit eingeschätzt werden, differenziert sich dabei ein komplementäres Rollengefüge aus, das mit dieser Funktionsbestimmung korrespondiert. In diesem Sinne sind Klienten das Produkt eines institutionellen Strukturarrangements, das sich in den Interpretationen des Hilfeplangesprächs lokal reproduziert. Entscheidungsfindung im Hilfeplangespräch Ein zweiter Themenkomplex, mit dem wir uns analytisch ausführlicher beschäftigt haben, hatte die Untersuchung von Entscheidungsfindungsprozessen zum Ziel. Ausgangspunkt war hier die Beobachtung, dass Entscheidungsabläufe im Hilfeplangespräch merkwürdig unsichtbar bleiben, obwohl sie ihrem Anspruch nach transparent gestaltet sein sollten und in den daraus resultierenden Hilfeplanprotokollen durchaus klare Formulierungen zu finden sind, was Gegenstand und Ergebnis der Entscheidungen war. Ausgehend von dieser Beobachtung haben wir nachzuzeichnen versucht, welchen Prämissen die Teilnehmer im Hilfeplangespräch folgen (Hitzler/Messmer, 2010). Entscheidungsfindung hat zum Ziel, alternative Lösungen für eine Problemstellung zu entwickeln und die bestmögliche Alternative auszuwählen. Vor dem Hintergrund heterogener und teilweise auch widersprüchlicher Entscheidungskriterien haben die Fachkräfte im Hilfeplangespräch Entscheidungsfindungsstrategien entwickelt, deren Zweck darin besteht, die Entscheidungskomplexität in der jeweiligen Interaktion auf ein bearbeitbares Maß zu reduzieren, das die zeitlichen und kognitiven Ressourcen der Beteiligten nicht überfordert. In diesem Zusammenhang ist die Etablierung von Entscheidungsrelevanz von zentraler Bedeutung. Schon die Art und Weise, wie ein Thema in das Gespräch eingeführt wird, ist maßgeblich für seine weitere Bearbeitung. Generell gilt, dass Entscheidungsrelevanz dann entsteht, wenn die Entwicklung des Kindes negativ dargestellt wird oder Bedürfnisse zur Sprache kommen, auf die im Zuge der Hilfeplanung bislang noch nicht reagiert worden ist. Dagegen wird Entscheidungsrelevanz vermindert, wenn die Entwicklungen eines Kindes positiv dargestellt oder Sachverhalte als unbedeutend eingeschätzt werden. Ob ein Thema als entscheidungsrelevant eingestuft wird, ist diesem selbst nicht intrinsisch. Entscheidungsrelevanz hängt vielmehr davon ab, in welcher Gesprächsphase das Thema eingebracht, mit welchen Formulierungen es zum Ausdruck gebracht wird und welche expliziten oder impliziten Bewertungen es dadurch erfährt. Für den Fall, dass Entscheidungsrelevanz etabliert und daraufhin ein Entscheidungsfindungsprozess eingeleitet wird, zeigen unsere Daten im Weiteren, dass Professionelle Zugang zu einer Anzahl Praktiken haben, die an der Oberfläche Klienten in den Entscheidungsprozess mit einbeziehen, während sie in der Entscheidung selbst unberücksichtigt bleiben (vgl. Hofste-
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de et al. 2001 mit zum Teil ähnlichen Ergebnissen). Ferner werden Klienten oftmals im Unklaren darüber gelassen, an welchem Punkt des Entscheidungsfindungsprozesses sich das Gespräch gerade befindet, was ihre Beteiligungsmöglichkeiten entsprechend erschwert. Mitunter werden auch diejenigen Themen, die bei Klienten vermutlich auf Widerspruch stoßen, von den Professionellen aber als zentral eingeschätzt werden, von diesen bereits im Vorfeld erörtert und im Hilfeplangespräch lediglich als ein Entscheidungsprozess reinszeniert. Mit dem folgenden Beispiel wollen wir diese letztere Strategie kurz illustrieren. Hier haben die Professionellen vor dem eigentlichen Hilfeplangespräch ein kurzes Treffen arrangiert. Dabei haben sie sich darauf geeinigt, dass die Besuchskontakte der (geschiedenen) Eltern eingeschränkt werden sollen, da die im Heim untergebrachten Geschwisterkinder Mark und Ivonne nach Einschätzung ihrer Bezugsbetreuerinnen unter den um Sympathie konkurrierenden Elternbesuchen leiden. Im anschließenden Hilfeplangespräch wird die zuvor erreichte Einigung vom Erziehungsleiter der Einrichtung in Form eines ,Vorschlags’ thematisiert, den die Fachkraft des Jugendamtes in dieser Form aufgreift und durch ihre ausdrückliche Zustimmung ratifiziert: [4] Geschwister 3344-9 JA:
Besuchskontakte zuKÜNftig würd ich an der Stelle halt auch erstmal: ä:hm::- (--) ja ne, also: e:ntsprechend dem Vorschlag von Herrn Hermann dann halt auch ä::hm: ne, (1.0) EINschränken in der Form-
In den von uns untersuchten Hilfeplangesprächen bestätigt sich die durch explizite Verbalisierung transparent gemachte Entscheidungsfindung eher als Ausnahme denn als Regel, während implizite oder undurchsichtige Entscheidungsprozesse das Hilfeplangespräch strukturell dominieren. Solche Ausnahmen finden sich vorzugsweise im Hinblick auf diejenigen Themen, die als wenig relevant oder als nicht konfliktträchtig eingeschätzt werden oder für deren Umsetzung die Kooperation der Klientin zwingend notwendig ist (vgl. Hall et al. 1999 sowie Hall/Slembrouck/Sarangi 2006 mit ähnlichen Befunden). Interaktive Dilemmata und Paradoxien Die hier skizzierten Ergebnisse bilden lediglich einen Ausschnitt aus den Befunden, die im Zuge unserer Beschäftigung mit den Gesprächen unseres Korpus entstanden sind. In vergleichbarer Form ließen sich noch zahlreiche andere Phänomene aus der unmittelbaren Interaktion zwischen Klienten und Fachkräften im Hilfeplangespräch herausdestillieren. Auffällig ist beispielsweise das Phänomen, dass die klare Benennung von Hilfe auslösenden Problemen den Fachkräften im Hilfeplangespräch wiederkehrend Schwierigkeiten bereitet. Durchgängig in unseren Daten zeigt sich eine auffällige Zurückhaltung der Professionellen in der Zuschreibung eindeutiger Problemeigenschaften auf die anwesende Klientel. Die weiter oben schon angesprochene ‚Außerhäusigkeit’ in Janines Verhalten ist beispielsweise lediglich ein Euphemismus für die tatsächliche Einschätzung der Professionellen, wonach Janine in die Straßenprostitution abgleiten könnte. Die Vermeidung eindeutiger, möglicherweise aber stigmatisierender Begrifflichkeiten lässt sich zum einen mit dem Bestreben erklären, dass die moralische Integrität der Klientin geschützt werden soll; zum anderen ist man bemüht, die Arbeitsbeziehung dadurch nicht zu gefährden. Wenn es darum geht, den Hilfebedarf über die Feststellung
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negativer Verhaltensauffälligkeiten für Dritte plausibel, präzise und nachvollziehbar zu begründen, geraten fachliche und moralische Zuschreibungen mithin in Konflikt. Ein anderes Beispiel, das wir hier ebenfalls nur kursorisch anführen können, betrifft die für das Programm der Hilfeplanung nicht unwesentliche Frage der Partizipation. Teilhabe im Kontext professioneller Hilfeentscheidungen ist als eigenständiger Wert zu begreifen, weil sie die Anerkennung der Bedürfnisse und Interessen jener Personen zum Ausdruck bringt, auf die die Entscheidungen zielen. Deswegen stellt sie hohe Anforderungen an ihre praktische Umsetzbarkeit. Es entsteht das Dilemma zwischen notwendiger Empathie und dem fachlich begründeten Wissen darüber, was im Hinblick auf die festgestellte Problemstellung die ‚richtige’ Vorgehensweise ist (so auch Pluto 2007). Professionelle müssen im Hilfeplangespräch als Experten agieren, gleichzeitig aber auch in einer nichthierarchischen und beteiligungsorientierten Beziehung interagieren. Die Spannung zwischen dem normativ gesetzten Partizipationspostulat und den handlungspraktischen Möglichkeiten seiner Realisierung lässt sich an kommunikativen Doppelstrategien der Professionellen – wie schon mit Blick auf die Definitions- und Entscheidungsfindungsprozesse im Hilfeplangespräch angedeutet – gut illustrieren. Vor diesem Hintergrund spiegeln unsere Daten ein Bild divergenter Spannungsfelder zwischen verschiedenen, im Programm der Hilfeplanung selbst angelegten Anforderungen wider, denen die Fachkräfte mit widersprüchlichen, ambivalenten oder kompromissbehafteten Kommunikationsstrategien entgegenzutreten versuchen. Generalisierbarkeit gesprächsanalytischer Forschung Die Beweiskraft jeder Forschung steht und fällt mit der Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse. Forschungsmethoden, die einen qualitativen Zugang wählen, stehen dabei häufig im Verdacht, Einzelfälle ungerechtfertigt zu Regelfällen zu erklären und beliebige Ergebnisse zu produzieren. Wie die qualitative Forschung überhaupt muss also auch die Konversationsanalyse das Thema der Generalisierung anders bearbeiten als Forschung, die auf die Aussagekraft großer Zahlen zurückgreifen kann. Generalisierung ist der Versuch, in einem eingeschränkten Untersuchungsfeld bestätigte Annahmen auf eine größere Einheit zu übertragen, die außerhalb der Reichweite der verfügbaren Daten liegt (Wolff 2000). Aus Sicht der Konversationsanalyse ist eine solche Übertragbarkeit unzulässig, da ihr streng genommen nur solche Annahmen als bestätigt gelten, die sich in den empirischen Daten schlüssig widerspiegeln. Der Dreh- und Angelpunkt, an dem in der Konversationsanalyse Generalisierung dennoch ansetzen kann, ist durch ihr Grundsatzinteresse an den basalen Prinzipien sozialer Ordnung begründet. Ihr Interesse an den systematisch, regelhaft und methodisch (re)produzierten Sinnstrukturen sozialer Interaktion führt direkt zu den elementaren Mechanismen, die für den Aufbau intrinsischer Ordnungsstrukturen und Prozesslogiken sozialer Aktivitäten maßgeblich sind (Pomerantz 1990). Wenn wir davon ausgehen, dass die strukturellen Realisierungsbedingungen unseres Samples (wie beispielsweise das Partizipationspostulat oder die Forderung nach Entscheidungstransparenz) für die Hilfeplanung allgemein gelten, so ist auch die umgekehrte Annahme plausibel, dass die von uns isolierten Muster in ähnlicher Weise auch in anderen Gesprächen dieser Art zu finden sein werden. Diese Annahme lässt sich durch die Beobachtung stützen, dass die Hilfeplangespräche in unserem Korpus durch ein hohes Maß an Diversität gekennzeichnet sind. Tatsächlich erweckte jedes Gespräch zunächst den Eindruck, dass es für ein begrenztes, in sich abgeschlossenes und einzigartiges Universum der Sinnproduktion steht. Jedes Hilfeplangespräch repräsentiert eine
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individuell einmalige Fallgeschichte, die sich zu einer einzigartigen Verfahrensgeschichte auskondensiert und in der sich Themen, Beteiligte, Formalitätsgrad oder Gesprächsklima etc. auf jeweils höchst spezifische Weise verknüpfen. Trotz aller Einzigartigkeiten sind wir dennoch immer wieder auf dieselben Formen der Klientifizierung, dieselben Mechanismen der Entscheidungsfindung bzw. auf vergleichbare Muster des Lavierens zwischen inkompatiblen Handlungsanforderungen gestoßen. Ähnlich gelagerte Anforderungen und Probleme unter gleichen Bedingungen rufen scheinbar ähnlich gelagerte Bearbeitungsstrategien hervor. John Heritage (1997) hat für derartige Routinisierungen im professionellen Handeln den Begriff des ‚Windkanaleffektes’ (wind tunnel effect) geprägt. Dieser Begriff impliziert, dass die wiederholte Auseinandersetzung mit gleichartigen Herausforderungen Professionelle dazu bringt, ihre Handlungsstrategien so zu gestalten, dass diese in den entsprechenden Interaktionssituationen den geringsten Widerstand produzieren. Da Fachkräfte in Hilfeplangesprächen hinsichtlich ihrer strukturellen Einbettung regelmäßig weitgehend ähnlichen Voraussetzungen unterliegen, ist es wahrscheinlich, dass auch ihre Interaktionstrategien gleichförmig ausgeprägt sind. Obwohl im Feld der Sozialen Arbeit aus dem deutschen Sprachraum erst wenige konversationsanalytische Studien vorliegen und wir daher nur annehmen können, dass unsere Ergebnisse in verwandten Situationen ähnlich reproduzierbar sind, so können wir dennoch auf eine Reihe vergleichbarer Studien im internationalen Kontext verweisen. Ungeachtet der jeweils spezifischen Rahmenbedingungen – unterschiedliche Länder, unterschiedliche Wohlfahrtsprogramme, verschiedene Settings – lassen sich über diese Unterschiede hinweg erstaunliche Analogien in den Ergebnissen konstatieren (für einen umfassenden Überblick vgl. Hall et al. 2006; Hitzler/Messmer 2008). Unabhängig von den jeweiligen nationalen, kulturellen, politischen und institutionellen Kontexten scheinen die aus unseren Fallanalysen extrahierten Themenstellungen generell von Bedeutung zu sein. Während Kontexte variieren, Ziele sich ändern oder wohlfahrtspolitische Programme fortwährenden Reformprozessen unterliegen, weisen die Herstellungsbedingungen sozialarbeiterischer Interaktionen demgegenüber eine bemerkenswerte Beständigkeit auf. Insofern ist die Frage der Generalisierbarkeit nicht nur wissenschaftlich, sondern darüber hinaus auch unmittelbar handlungspraktisch bedeutsam. Denn in dem Maße, wie diese Strukturlogiken bei der Konzeption oder Beurteilung von Programmen in ihren interaktiven Auswirkungen unreflektiert und unberücksichtigt bleiben, wächst die Gefahr, dass an den Realisierungsbedingungen der Praxis vorbeigeplant wird. Zur richtigen Einschätzung von Implementierungsvoraussetzungen neuer Programme gehört mithin auch ein Verständnis und Mitdenken der Effekte, die eine solche Interaktionssituation immer mit sich bringt. Schluss Konversationsanalytische Forschung in der Sozialen Arbeit macht grundlegende Praxisroutinen sichtbar, indem sie die gängigen und vordergründig unscheinbaren Selbstverständlichkeiten im Handeln von Fachkräften analysiert. In diesem Sinne reflektiert sie nicht zuletzt auch die Wurzeln des fachlichen Tuns. Insofern bieten unsere Analysen möglicherweise Ansatzpunkte für eine Diskussion, die über das unmittelbare Thema der Hilfeplanung weit hinausführt. Die hier angedeuteten Befunde, dass sich Professionelle in der Durchführung von Hilfeplangesprächen quer durch diverse Spannungsfelder bewegen, die möglicherweise Ausdruck einer Programmüberlast sind, werfen grundsätzlichere Fragen nach dem Umgang der Sozialen Arbeit mit ihren immanenten Strukturwidersprüchen auf (so auch Schütze 1996; 2000). Fragen
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nach der Klientenbeteiligung bzw. dem Zusammenspiel von fachlicher und lebensweltlicher Expertise nehmen in der aktuellen Debatte professionellen Handelns einen zentralen Stellenwert ein. Dieser mangelt es jedoch noch in grundlegenden Hinsichten an empirisch validen Beschreibungen darüber, was die treibenden Kräfte institutioneller Praxis tatsächlich sind. Vor diesem Hintergrund gibt die Konversationsanalyse der Forschung ein methodologisch feinmaschiges Instrument an die Hand, das die vielfach verdeckten, auf den ersten Blick unscheinbaren, gleichwohl aber wirkmächtigen Eigenlogiken in der Praxis Sozialer Arbeit aufdecken kann, welche die Aktivitäten von Fachkräften auf interaktiver Ebene in bedeutsamer Weise bestimmen. Der language turn in der Sozialen Arbeit ist insofern gleichbedeutend mit einem Schritt zurück zu deren tatsächlicher Praxis, der die normativen Prämissen fachlichen Handelns mit ihren Realisierungsbedingungen in grundsätzlicher Weise konfrontiert. Transkriptionskonventionen und Sprechersiglen Sprechersiglen KJ: Kind/Jugendliche JA: Vertreterin des Jugendamts HL: Heimleiterin Transkriptionskonventionen in Anlehnung an GAT Tonhöhenbewegung ? hoch steigend , mittel steigend gleichbleibend ; mittel fallend . tief fallend Sonstige Konventionen akZENT Hauptakzent ( ) unverständliche Passage vermuteter Wortlaut (solche) ((hustet)) para- und außersprachliche Handlungen u. Ereignisse sprachbegleitende para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse (mit Reichweite) ach> interpretierende Kommentare (mit Reichweite) weil [ich Überlappungen und Simultansprechen [sonst gehts schneller, unmittelbarer Anschluss = (.) Mikropause (-), (--), (---) kurze, mittlere, längere Pausen von ca. 0.25-0.75 Sek. (2.0) geschätzte Pause, bei 1 Sek. Dauer und länger :, ::, ::: Dehnung, Längung .h, .hh, .hhh Einatmen h, hh, hhh Ausatmen
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Zur Empirie sozialräumlich orientierter Sozialer Arbeit – Soziales Kapital messen Sandra Landhäußer/Holger Ziegler Der folgende Beitrag nimmt die sozialräumliche Orientierung und den damit verbundenen Relevanzgewinn der Kategorie des Sozialen Kapitals in den Blick. Es werden zwei Formen von Sozialkapital nachgezeichnet, Möglichkeiten ihrer empirischen Operationalisierung und Messung vorgeschlagen und die Relevanz und Implikationen dieser Kategorien für die Soziale Arbeit diskutiert. Auf dieser Basis endet der Beitrag mit einer kritischen Perspektive auf die gegenwärtige sozialräumliche Orientierung in der Sozialen Arbeit. Soziale Arbeit und die Konjunktur einer sozialräumlichen Orientierung Professionelle Soziale Arbeit ist durch eine lange Tradition der kontroversen Selbstvergewisserung über ein angemessenes methodisches Vorgehen geprägt. Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich eine Einteilung der grundlegenden Handlungsmethoden Sozialer Arbeit in Einzelfallhilfe, soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit durchgesetzt, wobei der Einzelfallhilfe die tendenziell größte Bedeutung zukam. Diese Einteilung basiert im Wesentlichen auf dem Ausmaß, in dem sich Soziale Arbeit auf Individuen oder auf Kollektive als ihre wesentliche Zielgruppe richtet. Gleichwohl ist diese klassische Unterteilung unter anderem aufgrund ihrer mangelnden Trennschärfe kritisiert worden: Denn schließlich fänden sich kaum professionelle Formen der Einzelfallhilfe in der Sozialen Arbeit, welche die sozialen Kontexte, in die ihre AdressatInnen eingebunden sind, nicht mitberücksichtigen (vgl. Galuske 1998) und auch gruppenbezogene Vorgehensweisen zielen typischerweise auf eine Verbesserung der Situation der einzelnen Beteiligten1 (vgl. Vinter 1970). Weitgehend unabhängig von ihrer Handlungsmethode im Einzelnen gehe es der Sozialen Arbeit grundlegend um die Vermittlung im spannungsreichen und widersprüchlichen Verhältnis von gesellschaftlichen Ansprüchen und individuellen Interessen und damit immer um gesellschaftlich verortete AkteurInnen. Nichtsdestoweniger lassen sich gegenwärtig programmatische Entwicklungen feststellen, die die unterschiedlichen Linien individualisierender und gemeinschaftsbezogener Interventionen in die Lebensführungen wieder schärfer konturieren. So zeigt sich einerseits eine Renaissance individualistischer, behavioural ausgerichteter Trainingsmaßnahmen in der Sozialen Arbeit, bei denen von der Frage nach sozialen Verortungen und Kontextuierungen weitgehend abstrahiert wird. Andererseits finden sich insbesondere unter dem – im einzelnen sehr heterogene Ideen, Konzepte und Ansätze umfassenden – Label einer sozialräumlichen Orientierung zunehmend Vorgehensweisen, die Sozialräume und die in ihnen lebenden BewohnerInnen – als lokale Kollektive – ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rücken (dazu: Kessl/Otto 2007). Teilweise anknüpfend an Traditionen der methodenübergreifenden Gemeinwesenarbeit dienen dabei insbeson1
Auch gemeinwesenorientierte Methoden werden von ihren VertreterInnen als Ansätze charakterisiert, die vor allem den Willen und die Rechte der Betroffenen in den Vordergrund stellen (vgl. Hinte 2002), wenngleich diese häufig als Gesamtheit der BewohnerInnen eines Stadtteils in den Blick genommen werden. G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Sandra Landhäußer/Holger Ziegler
dere „überschaubare soziale Beziehungen in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft […] als wesentliche Ressource und als Gradmesser des sozialen Zusammenhalts“ (Bartelheimer/Schmitt 2002: 2). Diese gelte es entsprechend – zum individuellen und kollektiven Nutzen – zu aktivieren. Zeitgleich mit dieser Konjunktur an sozialräumlichen Vorgehensweisen gewinnt die zunächst im internationalen Entwicklungsdiskurs und in politikwissenschaftlichen Debatten um die Potentiale der so genannten ‚Zivilgesellschaft’ etablierte Kategorie des sozialen Kapitals an Bedeutung. Soziales Kapital wird dabei sowohl als Ressource von einzelnen AkteurInnen als auch als Qualitätsmerkmal und kollektives Gut beschrieben, das Gemeinschaften, Stadtteile oder gar ganze Nationen ‚besitzen’ können (vgl. Landhäußer/Ziegler 2006). Mit der Kategorie des sozialen Kapitals sollen vor allem die Vorteile in den Blick genommen werden, die sich für Individuen und Gemeinschaften durch die Einbettung und Vernetzung von individuellen AkteurInnen in Gemeinschaften ergeben. Entsprechend entwickelt sich diese Kategorie zunehmend zu dem analytischen Instrument des Lokalen und Kleinräumigen (vgl. Karstedt 2004). „Die Ressourcen sozialen Raums“, so schreiben etwa einschlägige Protagonisten einer Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit, bestünden gerade auch „als soziales Kapital der Menschen. Denn was diese in ihrem Sozialraum stark macht ist mehr als kulturelles, ökonomisches und infrastrukturelles Kapital. Zum Beispiel Menschen zu kennen, die Planungshilfen, Beratung oder Bestärkung darstellen, in Netzwerke eingebunden und in Normensysteme integriert zu sein und so Orientierung in Entscheidungssituationen zu erfahren, bis hin zu der Erfahrung ein gefragter Nachbar zu sein […]“ (Budde/Früchtel 2006: 35). Als sozialwissenschaftliche Kategorie findet sich ein in diesem Verständnis verwendeter Begriff des sozialen Kapitals zwar vereinzelt bereits Mitte des 20. Jahrhunderts. Eine breite Diskussion um das Konzept setzt vor allem seit den 1990er Jahren ein. Die komplexe Sozialkapitaldebatte lässt sich grob in zwei breite Stränge unterteilen, die häufig mit den Namen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu und des amerikanischen Politikwissenschaftlers Robert D. Putnam verbunden werden. Diese beiden Stränge werden im Folgenden überblicksartig vorgestellt. Sie bilden die theoretische Grundlage für eine Sozialkapitalstudie, die anschließend skizziert wird und aus der ausgewählte Ergebnisse zum Ausmaß und zur Verteilung von sozialem Kapital in einem untersuchten Stadtteil vorgestellt werden. Die hieraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für eine sozialräumlich orientierte Vorgehensweise der Sozialen Arbeit machen auf eine zentrale Blindstelle in der Sozialraumorientierungsdebatte aufmerksam. Kontroverse Bestimmungen sozialen Kapitals: Pierre Bourdieu und Robert D. Putnam Eine insbesondere in ungleichheitstheoretischen Analysen wichtige Bestimmung sozialen Kapitals findet sich bei Pierre Bourdieu. In einem viel beachteten Aufsatz konzeptualisiert er Sozialkapital als „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von […] Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983: 190f.). Soziales Kapital ist demnach überindividuell eingebunden, wird aber individuell ‚verwertet’.2 Über wie viel Sozialkapital einE AkteurIn verfügt hängt aus dieser Perspektive zum einen – quantitativ – davon ab, wie ausge2
So stellt etwa die Bekanntschaft mit einer Person, die bei einem Umzug helfen oder die einen Tipp bezüglich der eigenen Einkommensteuererklärung geben kann, soziales Kapital dar.
Zur Empirie sozialräumlich orientierter Sozialer Arbeit
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dehnt das Netz der tatsächlich für die Interessen der AkteurInnen mobilisierbaren Beziehungen ist und zum anderen – qualitativ – vom ökonomischen, ‚kulturellen’ und ‚symbolischen’ Kapital der Personen, die über soziales Kapital erreich- und mobilisierbar sind. Sofern Beziehungen nicht aktual oder potentiell verwertbar sind, stellen sie aus dieser Perspektive kein soziales Kapital dar. In der eher normativen Bestimmung von Robert D. Putnam steht zwar auch der Nutzen von sozialen Netzwerken im Vordergrund, dieser Nutzen ergibt sich jedoch nicht ausschließlich aus dem wechselseitigen (Aner-)Kennen, wie bei Bourdieu. Neben dem Vorteil, den soziales Kapital für Angehörige im Netzwerk hat, ergeben sich ebenfalls (positive) Auswirkungen für unbeteiligte Personen: Wenn eine starke, nachbarschaftliche Solidarität im Stadtteil die Zahl an Einbrüchen sinken lässt, so ist das Eigentum auch geschützt, wenn man gerade nicht im Stadtteil anwesend ist oder wenn man (noch) nicht Teil der lokalen Netzwerke ist, weil man z.B. erst neu in den Stadtteil gezogen ist. Genauer bestimmt wird soziales Kapital nach Putnam durch „eine ‚knappe und kleinliche’ Definition: Soziale Netzwerke und die damit zusammenhängenden Normen von Reziprozität und Vertrauenswürdigkeit“ (Putnam 2007: 137, Übers. d. Verf.). Es repräsentiert vor allem eine Möglichkeit zur Lösung von Problemen des kollektiven Handelns durch soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen, Gemeinschaft und Vertrauen und bezeichnet „Charakteristika des sozialen Lebens – Netzwerke, Normen, Vertrauen – das die TeilnehmerInnen dazu befähigt, effektiver zusammen zu arbeiten und gemeinsame Ziele zu verfolgen. […] Soziales Kapital […] bezieht sich auf soziale Verbindungen und die Existenz von Normen und Vertrauen und es kann die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft erhöhen indem es koordiniertes Handeln erleichtert” (Putnam 1995: 664f., Übers. d. Verf.). Je besser eine Gesellschaft oder Gemeinschaft mit solchem sozialen Kapital ausgestattet sei, umso besser könne sie Probleme in unterschiedlichen Bereichen lösen. Soziales Kapital, schreibt Putnam (2000: 290) entsprechend, mache „klüger, gesünder, sicherer, reicher und besser fähig eine gerechte und stabile Demokratie zu lenken“ (Übers. d. Verf.). Anhand dieser theoretischen Bestimmung sozialen Kapitals lassen sich zwei wesentliche Aspekte ausmachen: die Vermittlung von Ressourcen für die Akteure durch ihre Einbettungen in Gemeinschaften und Netzwerke sowie die Erhöhung der kollektiven Problemlösungsfähigkeit und Zielerreichung von (lokalen) Communities durch eine Etablierung vertrauensvoller solidarischer Arrangements. Beide spielen im – unverkennbar durch die Ideen des Kommunitarismus geprägten – Diskurs um eine sozialräumliche Orientierung in der Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle. Diese zwei Formen von Sozialkapital stehen auch im Mittelpunkt dieses Beitrags. Es schließen sich drei Fragen an, die auf der Basis von Ergebnissen eines durch die DFG geförderten Forschungsprojekts diskutiert werden können: Erstens, ob sich bei den ‚sozial Marginalisierten’ eines so genannten benachteiligten Stadtteils ein Mangel an diesen Sozialkapitalformen findet. Häufig beziehen sich sozialräumliche Strategien auf so genannte ‚benachteiligte’ Stadtteile, so dass es gerechtfertigt ist zu fragen, ob diese Stadtteile bzw. seine BewohnerInnen tatsächlich ein geringeres Ausmaß an sozialem Kapital aufweisen. Hieran ist – zweitens – die Überlegung gekoppelt, ob die empirische Differenzierung der beiden Sozialkapitalvarianten eine Auswirkung auf die Sozialraumdebatte hat, d.h. ob die Stadtteile bzw. BewohnerInnen mit wenig Bourdieu’schem Sozialkapital auch diejenigen sind, die wenig Putnam’sches aufweisen. Drittens stellt sich nach einer genaueren Betrachtung der Verteilung von Sozialkapital im Stadtteil die Frage, inwiefern ein solcher Mangel sozialräumlich basierte bzw. community-orientierte Ansätze nahe legt. Eine Orientierung auf einen kollektiv geteilten, sozialen Raum unterstellt zwangsläufig eine kollektiv geteilte Ausstattung von sozialem Kapital. Ob diese Unterstellung empirisch untermauert werden kann, wird
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sich im Folgenden zeigen. Die Studie richtet sich entsprechend auf ein wesentliches Desiderat im Kontext einer sozialpädagogischen Sozialraumorientierung. Denn diese lebt nach wie vor primär von der – mehr oder weniger – überzeugenden Plausibilität ihrer eher axiomatisch gesetzten Annahmen. Demgegenüber sind jedoch bislang „weder die Mechanismen, vermittels derer benachteiligte Quartiere benachteiligend wirken, noch die von ihnen [den Fachkräften der Sozialen Arbeit, S.L./H.Z.] zu mobilisierenden Ressourcen […] präzise und erfahrungsorientiert beschrieben“ worden (Bartelheimer 2001: 213). Fragestellung und Aufbau der Studie Die Daten dieses Beitrags wurden im Kontext des Forschungsprojekts „Räumlichkeit und soziales Kapital in der Sozialen Arbeit – Zur Governance des sozialen Raums“3 erhoben. Dieses Projekt richtete sich auf die Rekonstruktion, Analyse und empirische Prüfung der Raumperspektiven und Raummodelle, die innerhalb einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit in den Mittelpunkt professionellen Handelns rücken.4 Dabei wurden drei Konstitutionsebenen von Sozialräumlichkeit systematisch unterschieden: Die der politischen und fachlichen Sozialraumprogramme, die der VertreterInnen Sozialer Arbeit und die der BewohnerInnen. Die Untersuchung des Zusammenlebens der BewohnerInnen erfolgte in einer Analyse der Verteilung und des Gebrauchs verschiedener Formen ihres sozialen Kapitals auf der Basis eines Sozialkapital-Surveys.5 Unsere Diskussion in diesem Beitrag fokussiert auf diese quantitative Sozialkapitalanalyse. Sie fand in einem Wohngebiet statt, das als ‚sozialer Brennpunkt’ bezeichnet wird und die typischen Merkmale aufweist, die für solche Gebiete als kennzeichnend gelten (vgl. Landhäußer 2008b). Laut Einwohnermeldeamt wohnten im ausgewählten Gebiet – einem statistischen Bezirk einer mittelgroßen westdeutschen Großstadt – zum Befragungszeitpunkt 5269 Personen. Ohne Personen unter 14 und über 75 Jahren, die aus methodischen Gründen in der Befragung nicht berücksichtigt werden sollten, blieb eine Grundgesamtheit von N=3973 BewohnerInnen. Auf der Grundlage von Daten aus dem Einwohnermelderegister wurde eine personenbezogene Zufallsstichprobe gezogen. Auf dieser Basis wurden zunächst 350 sowie in einer Nacherhebung 141 weitere Interviews realisiert. Für die Analyse liegen insgesamt somit n=491 beantwortete Fragebögen vor. Die Datenerhebung fand in Form von Telefoninterviews mittels CATI (d.h. ‚computer assisted telephone interviewing’) statt. Auf der Basis von Beobachtungen und Analysen vor Ort hat es sich als sinnvoll erwiesen, den statistischen Bezirk geographisch anhand von Straßenzügen in zwei Teilgebiete zu differenzieren. Das Gebiet 1 stellt das eigentliche ‚sozial benachteiligte Gebiet’ dar, das Gebiet 2 entspricht sozialstatistisch etwa dem Durchschnitt der Gesamtstadt. Diese Unterschiede zeigen sich auch in der von uns befragten Stichprobe der BewohnerInnen. 3
In diesem Forschungsprojekt waren beide VerfasserInnen unter der Leitung von Hans-Uwe Otto, zusammen mit Birte Klingler und Diana Sahrai für drei Jahre beschäftigt. Es wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und wurde zwischen dem 1.12.2003 und dem 30.11.2006 durchgeführt. 4 Diesbezüglich waren insbesondere geographisch, administrativ und sozialstrukturell vermittelte Praxisund Deutungsweisen, die Sozialräume konstituieren, Gegenstand der Untersuchung. 5 Auf dieser empirischen Grundlage ging es um eine multidimensionale Analyse der sozialräumlichen Orientierung in der Sozialen Arbeit, die systematisch die verschiedenen Ebenen sozialräumlicher Konstitutionsprozesse einbezieht.
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Zur Empirie sozialräumlich orientierter Sozialer Arbeit
Staatsangehörigkeit zu Hause gesprochene Sprache Muttersprache Alter
erreichter/angestrebter Bildungsabschluss6
Gesamt
Deutsch andere deutsch andere deutsch andere 14-25 Jahre 26-40 Jahre 41-65 Jahre 66-75 Jahre Niedrig Mittel Hoch
Gültige Prozente (Häufigkeit) ‘sozial ‘nichtbenachteiligtes benachteiligtes Gebiet’ Gebiet’ 79,2% (225) 89,3% (183) 20,8% (59) 10,7% (22) 53,5% (152) 82,9% (170) 46,5% (132) 17,1% (35) 44,1% (126) 78,0% (160) 55,9% (160) 22,0% (45) 33,5% (95)) 14,7% (30) 21,8% (62) 25,5% (52) 36,3% (103) 44,4% (90) 8,5% (24) 15,7% (32) 41,2% (115) 33,2% (67) 24,0% (67) 29,7% (60) 34,8% (97) 37,1% (75) 100% (279-286) 100% (202-205)
Die Befragung der BewohnerInnen zielte insbesondere auf die Frage, wie diese ‚ihre Sozialräume’ gestalten. Auf dieser Grundlange erfolgte u.a. eine Analyse ihrer Verfügung über soziales Kapital. In dieser ging es insbesondere darum, die verfügbaren Macht- und Handlungsressourcen der AkteurInnen unter Berücksichtigung ihrer sozialen und räumlichen Positionierung und Vernetzung empirisch zu erfassen. Auf der Grundlage einer analytischen Rekonstruktion gängiger Bestimmungen von sozialem Kapital wurden folgende Kernelemente dieses Konzeptes identifiziert und in die Fragebogenkonstruktion einbezogen: Vertrauen, Assoziabilität, Zugehörigkeit, (lokale) Einbettung und (lokale) Solidarität, Werte und Normen, (kollektive) Aktionen, (ehrenamtliches) Engagement, Netzwerke und Ressourcen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich vornehmlich mit einem ganz bestimmten Aspekt dieser Sozialkapitalanalyse, und zwar der Verteilung von kollektivem Sozialkapital auf der lokalen Ebene im Putnam’schen Sinne und jenem individuellem Sozialkapital, das auf die Ressourcen verweist, welche die Befragten über Netzwerke – gleich ob lokaler oder über-lokaler Natur – mobilisieren können. Lokales und individuelles Sozialkapital messen – eine Typisierung Zur Analyse dieser Verteilung wurden erstens Variablen herangezogen, mit denen sich kollektives Sozialkapital übertragen auf den lokalen Zusammenhang im Stadtteil messen lässt. Mittels einer explorativen Hauptkomponentenanalyse konnten als ‚lokales Kapital’ acht Einzelvariablen zusammengefasst werden, die auf lokale Solidarität, die Abwesenheit von Konflikt und die persönliche Einbindung in den Stadtteil verweisen. Im Rekurs auf die Formulierung von individuellem Sozialkapital in der Tradition von Pierre Bourdieu wurde darüber hinaus eine Komponente gebildet, die ressourcenstarke, statushohe Kontakte vereinigt, so etwa jemanden persönlich zu kennen, der netto mehr als 3000 Euro im Monat verdient, auf Ämtern und Behör6 In der Kategorie ‚niedrig’ wurden die Antwortmöglichkeiten ‚kein Schulabschluss’ sowie ‚Volks/Hauptschulabschluss’ zusammengefasst. In der Einteilung ‚mittel’ befinden sich Befragte mit mittlerer Reife. In der Kategorie ‚hoch’ wurden die Antwortmöglichkeiten ‚(Fach-)Abitur’ sowie ‚(Fach-)Hochschulabschluss’ zusammengefasst.
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Sandra Landhäußer/Holger Ziegler
den arbeitet, in einer Partei aktiv ist, viel über gesetzliche Vorschriften weiß und/oder Arbeitgeber ist. Auf eine andere Ressource, nämlich Alltagshilfe, verweist eine dritte Hauptkomponente, die das persönliche Bekanntsein mit Menschen beinhaltet, die im Alltag anfallende Unterstützungsleistungen geben können. Hierzu gehört etwa die Bekanntschaft mit Menschen, die ein Kind babysitten könnten, die den Einkauf erledigen, wenn man krank ist, denen man die Hausschlüssel gibt, wenn man weg fährt und/oder bei denen man u.U. für eine Woche wohnen könnte. Abbildung 1:
Ergebnis der Hauptkomponentenanalyse
lokales Kapital
ressourcenstarke Zugänge
Alltagshilfe
Zustimmung zur Aussage …
Persönliches Bekanntsein mit Menschen, die …
Persönliches Bekanntsein mit Menschen, …
(-)7 Die Menschen hier kommen schlecht miteinander aus.
…netto mehr als 3000 Euro im Monat verdienen?
…die Ihren Einkauf erledigen können, wenn Sie krank sind?
Die Menschen hier halten zusammen.
…in Ämtern oder Behörden arbeiten?
…denen Sie Ihre Hausschlüssel geben, wenn Sie weg fahren?
Die Menschen hier helfen sich gegenseitig.
…in einer Partei aktiv sind?
…die Ihr Kind babysitten können?
Man kann den Menschen in der Nachbarschaft vertrauen.
…viel über gesetzliche Vorschriften und Verordnungen wissen?
…bei denen Sie unter Umständen für eine Woche wohnen können?
(-) Die Menschen hier haben keine gemeinsamen Werte.
…Arbeitgeber sind?
Ich lebe gerne in [Ort]. (-) Die Menschen hier haben keinen Respekt vor Gesetz und Ordnung. Ich fühle mich in [Ort] ‚zu Hause’.
Basierend auf diesen drei Dimensionen einer Hauptkomponentenanalyse wurden die Befragten mittels einer Clusteranalyse8 in fünf Gruppen typisiert. Diese Cluster lassen sich wie folgt beschreiben: Cluster 1 (138): Viel lokales Alltagskapital Die 138 Personen, die diesem Cluster zugeordnet wurden, gehören in eine der beiden Gruppen, die am meisten „lokales Kapital“ aufweisen. Sie sind sehr stark in den Stadtteil eingebunden und berichten von einem hohen Ausmaß an Solidarität zwischen den BewohnerInnen des Stadtteils. Außerdem weisen sie ein überdurchschnittliches Maß an potentieller, alltäglicher 7
Mit dem Minuszeichen wird ausgedrückt, dass diese drei Items revers zu den anderen vier formuliert sind. Vier Aussagen enthalten eine positive Formulierung, die drei übrigen (-) eine negative. 8 Methodisch wurde dabei zunächst eine Clusteranalyse nach dem Ward-Verfahren gerechnet und darauf aufbauend eine iterative, K-means Analyse gewählt (zur methodischen Vorgehensweise vgl. das Supplement zur Hauptkomponentenanalyse in diesem Band).
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Unterstützung auf, d.h. sie besitzen ein Netzwerk an Personen, die Hilfestellung im Alltag geben können. Sehr deutlich unterdurchschnittlich ausgestattet ist diese Gruppe hingegen mit Kontakten zu statushohen, ressourcenstarken Personen, d.h. solchen, die über ein hohes ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen. Mit Blick auf die Befragten in diesem Cluster fällt zunächst ein überproportional hoher Anteil an Frauen (64% vs. 52%9) sowie an Befragten mit minderjährigen Kindern (39% vs. 28%) auf. In soziodemographischer Hinsicht findet sich ein vergleichsweise hoher Anteil an Befragten mit niedriger sozialer Lage (41% vs. 35%). Ihre Mutter- (57% vs. 42%) und zu Hause gesprochene Sprache (49% vs. 34%) ist häufig eine andere als die deutsche Sprache. Dies verweist auf eine große Zahl an Menschen mit Migrationshintergrund. Im Stadtteil wohnen sie der Tendenz nach erst seit einer kurzen Zeit. Gleichzeitig gehören die Befragten in diesem Cluster am seltensten einer Gruppe, Vereinigung oder Assoziation an und wenn doch, dann sind sie eher wenig aktiv am Vereinsleben beteiligt. Auch ihre politische Beteiligung ist vergleichsweise gering. Cluster 2 (76): Viel lokales, wenig individuelles Sozialkapital Die 76 Personen dieses Clusters zeichnen sich – vergleichbar mit dem zuvor beschriebenen Cluster – durch ein hohes lokales Kapital aus, wobei insbesondere die lokalen Solidaritätspotentiale sehr hoch eingeschätzt werden. Dieses lokale Kapital geht noch deutlicher als bei Cluster 1 mit wenig individuellem Sozialkapital einher. Dies gilt sowohl mit Blick auf statushohe, ressourcenstarke Kontakte als auch mit Blick auf ihren Zugang zu Alltagshilfe. Diese Gruppe erhält also verhältnismäßig wenig alltägliche Unterstützung aus ihrem Netzwerk und ist selten mit Personen bekannt, die über ein hohes Maß an ökonomischem und kulturellem Kapital verfügen. Im Gegensatz zu Cluster 1 finden sich in dieser Gruppe vor allem Männer (59% vs. 48%). Auch Befragte, die älter als 40 Jahre sind, sind überrepräsentiert (63% vs. 51%). Die Befragten in Cluster 2 wohnen überdurchschnittlich häufig im so genannten sozialen Brennpunkt (67% vs. 58%). Befragte mit niedriger sozialer Lage sind – im Vergleich zu allen anderen Gruppen – in diesem Cluster am häufigsten vertreten (55% vs. 35%) und auch insgesamt haben die Befragten in diesem Cluster den niedrigsten sozioökonomischen Status. Cluster 3 (131): Viel gesamtes Sozialkapital Diese aus 131 Personen bestehende Gruppe zeichnet sich insgesamt durch ein hohes Sozialkapital aus. Hierzu gehört vor allem der deutliche Zugang zu Personen mit ökonomischem und kulturellem Kapital. Bezüglich lokalem Kapital und Alltagshilfe liegen sie leicht über dem Mittelwert. Insofern stellen sie die einzige Gruppe dar, die in allen drei Kategorien positive Werte zu verzeichnen hat, so dass für sie die Bezeichnung „viel gesamtes Sozialkapital“ gewählt wurde. Die Menschen in diesem Cluster – ebenfalls überdurchschnittlich häufig Männer (61% vs. 48%) – weisen überproportional häufig eine hohe soziale Lage auf (54% vs. 32%), haben nur selten Migrationshintergrund (zu Hause gesprochene Sprache: 89% vs. 66%, Muttersprache: 82% vs. 58%), wohnen vergleichsweise lange Zeit im Stadtteil (über 10 Jahre: 55% vs. 42%) und dabei typischerweise im ‚nicht-benachteiligten’ Teil des untersuchten Gebiets (72% vs. 42%). Gleichzeitig handelt es sich hierbei um die Befragten, die am meisten von allen einer Gruppe, Vereinigung oder Assoziation angehören, sich am häufigsten beteiligt haben, um im Stadtteil etwas zu verändern und auch die größte politische Beteiligung zeigen, sei es durch die 9
Im Text vermerkte Prozentzahlen sind auf ganze Zahlen gerundet. Die Referenzgröße stellt jeweils die Prozentzahl aller Befragten dar.
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Teilnahme an Wahlen oder die Wahrnehmung anderer Formen von Einflussnahme. Damit geht einher, dass diese Befragten das höchste Maß an generalisiertem Vertrauen besitzen, mit ihrem Leben zufrieden sind und im Vergleich am häufigsten berichten, im Alltag viel Einfluss auf Entscheidungen zu haben, die das eigene Leben betreffen. Die Befragten in diesem Cluster haben also eine gute Ausstattung an sozialem Kapital im Sinne Putnams wie im Sinne Bourdieus. Cluster 4 (124): Wenig lokales Sozialkapital Diese Gruppe mit 124 zugehörigen Personen besitzt relativ geringes lokales Sozialkapital. Mit Blick auf ihre Kontakte zu ressourcenstarken AkteurInnen liegen sie nur leicht unter dem Mittelwert aller Cluster. Über Alltagshilfe, die sie durch ihr Netzwerk erhalten, verfügen sie leicht über dem Durchschnitt. In Cluster 4 finden sich überproportional häufig Frauen (62% vs. 52%), Menschen, die tendenziell eher seit kurzer Zeit im Stadtteil und im ‚armen’ Gebiet wohnen (79% vs. 58%) sowie Befragte jüngeren Alters (14-25jährige: 37% vs. 26%). Cluster 5 (22): Wenig lokales Sozialkapital und wenig Alltagshilfe Die Befragten in diesem Cluster stellen eine zweite Gruppe dar, die sich durch ein geringes lokales Kapital auszeichnet. Ihre schwache lokale Einbindung geht mit einem extrem unterdurchschnittlichen Maß an Alltagshilfe einher. Während insgesamt fast alle Befragten über ein recht hohes Ausmaß an Alltagshilfe verfügen, weisen die Befragten in Cluster 5 hier nicht nur relativ, sondern auch in absoluten Zahlen sehr stark unterdurchschnittliche Werte auf. Sie stellen damit eine klare Ausnahme dar. Hierzu passt auch das Ergebnis, dass ihre Anzahl relativ klein ist.10 Da ihr lediglich 22 Personen angehören, sind statistische Ausführungen über diese Gruppe in ihrem Aussagewert beschränkt. Nichtsdestoweniger lässt sich sagen, dass die Befragten in Cluster 5 tendenziell folgende sozialstrukturellen Merkmale aufweisen: Sie haben relativ häufig eine andere als die deutsche Muttersprache (55% vs. 42%), sie sind tendenziell eher älter (66-75jährige: 23% vs. 12%) und haben selten minderjährige Kinder (86% vs. 72%). Auch wenn sie überproportional häufig im so genannten benachteiligten Gebiet (77% vs. 58%) wohnen, gehören sie ökonomisch und mit Blick auf ihren eigenen Bildungsabschluss keinesfalls zu den besonders benachteiligten Gruppen. Innerhalb des so genannten ‚benachteiligten Gebiets’ stellen die Befragten in Cluster 5 eine sozioökonomisch eher begünstigte Gruppe dar. Wie auch mit Blick auf ihr verhältnismäßig geringes lokales Sozialkapital erwartbar ist, berichten vor allem die Befragten in Cluster 4 und Cluster 5 in hohem Maße von Problemen im Zusammenleben zwischen den BewohnerInnen ihres Stadtteils und davon, dass der Ruf ihrer Nachbarschaft insgesamt als schlecht gelte. Aber auch unabhängig von stadtteilbezogenen Fragen weisen die Befragten in diesen beiden Clustern ein eher niedriges Maß an jenem generalisierten Vertrauen auf, das für viele TheoretikerInnen einen Kernaspekt sozialen Kapitals darstellt (vgl. Hartmann/Offe 2001, Warren 1999). Zugleich berichten sie – im Vergleich zu den anderen drei Clustern – eher von geringen Einflussmöglichkeiten auf die Sachverhalte ihres Alltagslebens. Gleichzeitig ist jedoch bemerkenswert, dass die Befragten in diesen beiden Gruppen – nach den überdurchschnittlich stark sozial und ökonomisch privilegierten Befrag10 Wenn man insgesamt von sozial isolierten bzw. von Menschen mit wenig Sozialkapital sprechen möchte, würde dies vor allem auf diese Gruppe zutreffen. Allerdings geben auch von dieser Gruppe mehr als zwei Drittel an sich eher nicht oder überhaupt nicht einsam zu fühlen. Gar keine Zeit mit Freunden verbringen auch von den Befragten in diesem Cluster nur zwei Personen und diese sind (ironischerweise) in Vereinen aktiv und treffen sich durchaus regelmäßig mit anderen Vereinskollegen.
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ten, die sich in Cluster 3 finden – die zweithöchste politische Beteiligung aufweisen. Eindeutig am wenigsten politisch beteiligen sich indes die Befragten in Cluster 1 und 2, die deutlich überdurchschnittlich mit lokalem sozialem Kapital ‚gesegnet’ sind. Wie sich auch durch regressionsanalytische Berechnungen zeigen lässt, finden sich keine systematischen Beziehungen zwischen lokaler Einbindung und politischer Beteiligung, wohl aber zwischen dem Zugang zu ressourcenstarken AkteurInnen und politischer Beteiligung: Zumindest das lokale soziale Kapital ist also eher nicht als jener Treibstoff zu betrachten, der die Demokratie funktionieren lässt („making democracy work“ Putnam 199311). Mittels regressionsanalytischer Berechnungen lässt sich auch zeigen, dass sozialstrukturelle Variablen wie soziale Lage, Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund sowie die Frage, in welchem Wohngebiet man lebt, eine systematische Auswirkung sowohl auf das Ausmaß an Verfügung über die verschiedenen Sozialkapitalarten haben, als auch auf die Wahrscheinlichkeit zu einem bestimmten Cluster zugeordnet zu werden. Die Verteilung sozialen Kapitals wird demnach von zwei wesentlichen Faktorenbündeln beeinflusst: Es finden sich auf der einen Seite Einflussfaktoren auf der individuellen Ebene, wie z.B. die sozialstrukturelle Verortung der Befragten. Auf der anderen Seite verweist aber der Einfluss des Wohngebiets auf Auswirkungen, die unter anderem auf das Zusammenleben von BewohnerInnen eines lokalen ‚Sozialraums’ verweisen und in diesem Sinne auf einer kollektiven Ebene zu verorten sind. Fassen wir zunächst noch einmal zusammen: Grundlage der Clusteranalyse waren die drei Dimensionen ‚lokales Kapital‘, ‚Zugang zu ressourcenstarken bzw. statushohen AkteurInnen‘ sowie ‚Alltagshilfe’. Bei der Clusterbildung wurde bezüglich der inhaltlichen Trennschärfe und Interpretierbarkeit einer Fünf-Clusterlösung der Vorzug gegeben. Was lässt sich aber nun aus den inhaltlichen Ergebnissen für eine sozialräumlich orientierte Soziale Arbeit schlussfolgern? Diskussion der Ergebnisse Ein wichtiges Ergebnis ist, dass es der wesentlichen Zielgruppe der ‚konventionellen’ Sozialen Arbeit keinesfalls per se an Sozialkapital, sondern bestenfalls an spezifischen Sozialkapitalformen mangelt (dazu: Otto/Ziegler 2004). So ist es auffällig, dass beide Gruppen, in denen AkteurInnen mit niedriger sozialer Lage am meisten vertreten sind (Cluster 1 und 2), jeweils überproportional viel lokales soziales Kapital aufweisen. Diese Ergebnisse legen gleichsam nahe, dass gerade diese ‚sozial benachteiligten’ Gruppen wohl eher keine Problemlagen aufweisen, deren Ursache oder Lösung in einem messbaren Maße mit einer Schaffung oder Aktivierung von lokalem Sozialkapital zu tun haben. Woran es den Befragten in diesen Clustern fehlt, ist eher das individuelle Sozialkapital, wie es insbesondere von jenen SozialkapitalanalytikerInnen betont wird, die eher in der ungleichheitstheoretischen Tradition Pierre Bourdieus stehen. Die Gruppe mit der niedrigsten sozialen Lage, Cluster 2, hat insgesamt eine deutlich unterdurchschnittliche Ausstattung an individuellem Sozialkapital, den Befragten in Cluster 1 fehlt es vor allem an Zugängen zu ressourcenstarken AkteurInnen. Über das individuelle Sozialkapital ‚Alltagshilfe’ verfügen sie demgegenüber in einem überproportional hohen Maße. Sofern soziale Ungleichheit im Sinne des Problems niedriger sozialer Lagen ein Bezugspunkt für die Soziale Arbeit ist, wäre das zu aktivierende Sozialkapital in Bezug auf diese beiden Gruppen eher das individuelle als das kollektive, sozialraumbezogene Sozialkapital. Ein Mangel besteht 11 Putnam selbst hat dies auch weniger den lokalen Communities als vielmehr dem Vereinswesen zugeschrieben, wofür empirisch etwas mehr spricht.
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dabei vor allem auch im Zugang zu ressourcenstarken und symbolisch durchsetzungsfähigen Akteurinnen, der häufig als wesentliche Ressource für sozialen Aufstieg dient. Dieser Zugang ist – auch mit Blick auf so genannte soziale Brennpunke – weitgehend unabhängig von der lokalen Verortung und den Zugehörigkeitsgefühlen zu lokalen Gemeinschaften, sondern vor allem über die eigene sozialstrukturelle Lage der einzelnen AkteurInnen vermittelt. Die Unabhängigkeit von kollektivem und individuellem Sozialkapital (vgl. Landhäußer/Micheel 2005) findet sich nicht nur mit Blick auf sozialstrukturell benachteiligte Gruppen. So gehören die Befragten in den beiden Clustern 4 und 5, die sich durch wenig kollektives Sozialkapital auszeichnen, eher nicht zu den Befragten mit der niedrigsten sozialen Lage. Ihr Zugang zu individuellem Sozialkapital korrespondiert – mit Ausnahme des bereits diskutierten deutlichen Mangels an Alltagshilfe der 22 Befragten in Cluster 5 – mit ihrer eigenen sozialstrukturellen Verortung. Sofern Soziale Arbeit eine geringere lokale Einbindung bzw. die niedrige Solidarität in der Nachbarschaft als ein wesentliches sozialpädagogisches Problem in den Blick nimmt, würden vor allem die Befragten in den Clustern 4 und 5 zu ihren AdressatInnen zählen. Dies ist eine durchaus begründbare Ausrichtung, die sich auch mit Blick auf individuelle AdressatInnen u.a. damit rechtfertigen ließe, dass eine Wahrnehmung von Konflikten und mangelnder Solidarität in der Nachbarschaft empirisch negativ mit der Lebensqualität zusammenhängt, wenn auch nicht unbedingt mit der ‚objektiven’, wohl aber mit der ‚subjektiven’. John Helliwell und Robert D. Putnam (2005) zeigen beispielsweise auf, in welch engem Verhältnis Wohlempfinden mit Sozialkapital zu sehen ist. Beeinflussende soziale Faktoren des Wohlbefindens sind neben der Einbindung in die Community auch andere Aspekte des Sozialkapitals, etwa der Familienstatus, Freundeskreise, Mitgliedschaft in Vereinen und Assoziationen, zivilgesellschaftliches Engagement sowie das Ausmaß an Vertrauen. So ist die subjektive Lebensqualität umso besser, je eher man in einer festen Beziehung und noch besser, wenn man verheiratet ist, da sich negative Effekte für geschiedene oder verwitwete Menschen zeigen, je häufiger man sich mit Nachbarn und Freunden trifft und sich zivilgesellschaftlich engagiert sowie je stärker man Vertrauen in andere Menschen hat. Das vergleichsweise niedrige generalisierte Vertrauen der Cluster 4 und 5 in Verbindung mit dem geringen lokalen Sozialkapital passt zu dem Ergebnis, dass die Befragten in diesen Clustern in der Tat das geringste Maß an subjektiver Zufriedenheit mit ihrem Leben insgesamt aufweisen. Es stützt prima facie auch die These, dass sich das subjektive Wohlergehen dieser Befragten durch eine Aktivierung lokalen Sozialkapitals erhöhen könnte. Angesichts der Tatsache, dass insbesondere zwischen dem hohen Maß an ressourcenstarken Zugängen und der hohen sozialen Lage ein direkter Zusammenhang besteht (vgl. Landhäußer 2008a), wundert es nicht, dass auch die Wahrscheinlichkeit zu Cluster 3 zu gehören, in einem hohen Maß mit der eigenen sozialen Lage korrespondiert. Kennzeichnend für die Befragten dieser Gruppe ist ihr insgesamt deutlich überdurchschnittlich hohes Sozialkapital. Das bei dieser Gruppe im Vergleich zu allen anderen Merkmalen am stärksten ausgeprägte Merkmal sind ihre mannigfachen Kontakte zu (anderen) statushohen, ressourcenstarken bzw. einflussreichen Personen.12 Weniger für die sozialstrukturell benachteiligten AkteurInnen als vielmehr für die eher besser gestellten Befragten ist die Wahrscheinlichkeit zu einem sowohl individual- als auch kollektivsozialkapitalreichen Cluster deutlich ‚ortsabhängig’. So gehören im ‚durchschnittlichen’ Gebiet 63% der Befragten aus dem sozialstrukturell oberen Drittel der Befragten zum indivi12 In Bezug auf das Cluster 3, das mit beiden Sozialkapitalsorten vergleichsweise gut ausgestattet ist, besteht weder aus einer ‚konventionellen’ noch aus einer ‚sozialräumlichen’ Perspektive sozialpädagogischer Handlungsbedarf.
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dual- und kollektivsozialkapitalreichen Cluster 3, im ‚benachteiligten Gebiet’ jedoch lediglich 31%. Zum individualsozialkapitalreichen aber kollektivsozialkapitalarmen Cluster 4 gehören im ‚benachteiligten Gebiet’ hingegen 36% des sozialstrukturell oberen Drittels der Befragten, im ‚durchschnittlichen Gebiet’ aber lediglich 6%. Es scheint, als würde das Maß an lokalem Sozialkapital der sozio-ökonomisch besser gestellten Befragten tendenziell mit wachsender (räumlicher) Nähe zu sozial fern- und d.h. unten-stehenden Personen sinken. Wenn es in so genannten ‚sozialen Brennpunkten’ darum gehen sollte, ‚lokales Sozialkapital’ zu aktivieren, dann wären weniger die sozial Benachteiligten, sondern eher die relativ Privilegierten die wesentliche Zielgruppe, die es zu aktivieren gelte. Konsequenzen für die Soziale Arbeit Unabhängig von solchen eher ungleichheits- und schließungstheoretisch als ‚sozialraumorientiert’ zu adressierenden Fragen lässt sich auf Basis der Dimensionenbildung mit Hilfe von Hauptkomponentenanalysen sowie mit Blick auf Variationen im Sozialkapital der fünf Cluster verdeutlichen, dass zwischen den drei unterschiedenen Komponenten sozialen Kapitals notwendigerweise zu differenzieren ist. Je nachdem, welcher Mangel an Sozialkapital in den Vordergrund gerückt wird, geraten auch unterschiedliche Gruppen in den Mittelpunkt. Von daher könnte es Sozialer Arbeit um folgende Ziele gehen: Erstens kann die Aktivierung und Stärkung der lokalen Einbindung anvisiert werden. Zweitens könnte sie – und damit scheint sie aber ganz andere Gruppen im Stadtteil anzusprechen – von einer niedrigen sozialen Lage ausgehend, ein geringes Sozialkapital im Sinne des Zugangs zu statushohen, ressourcenstarken Personen als Ausdruck sozialer Ungleichheit in den Mittelpunkt rücken. Als dritter Anknüpfungspunkt bietet sich – damit spricht sie insgesamt zwar eine geringere, aber dennoch nicht zu vernachlässigende Zahl an – ein geringes Ausmaß an Unterstützung in alltäglichen Aufgaben an. Hierbei wäre Kompensation oder Abbau das Ziel. Letztendlich wird jedoch an der vorliegenden Clusteranalyse deutlich, dass Soziale Arbeit damit jeweils unterschiedliche AdressatInnen anspricht und die drei unterschiedlichen Strategien nicht untereinander subsumierbar sind. In jedem Fall handelt es sich aber bei der Aktivierung von kollektivem und individuellem Sozialkapital um unterschiedliche Strategien. Das eine Mal geht es darum, Kontakte zu Personen herzustellen, die bestimmte Ressourcen darstellen können. Diese Ressourcen könnten alternativ zur lebensweltlichen Vernetzung auch Professionelle der Sozialen Arbeit im Sinne von ‚linking social capital’ bieten. Dabei stehen die Charakteristika der AkteurInnen, mit denen vernetzt werden soll, im Vordergrund und die dadurch akquirierbaren Ressourcen finden Berücksichtigung. Im Falle der Aktivierung von lokalem Sozialkapital liegt der Fokus hingegen auf dem Wohngebiet, in dem Menschen leben. Der Bezugspunkt für die Aktivierung von Zusammenhalt ergibt sich dabei aus der Nachbarschaft, das heißt durch die Menschen, mit denen man im gleichen Stadtteil wohnt. Vor diesem Hintergrund wird (erneut) deutlich, dass die Aktivierung individuellen und lokalen Sozialkapitals unterschiedliche AkteurInnen in einem Sozialraum anspricht. Von daher ist Soziale Arbeit dazu aufgefordert, eine bewusste Auseinandersetzung mit diesen Alternativen zu führen und auf der Basis empirischer Ergebnisse und theoretischer Grundlegungen eine reflektierte Entscheidung über ihre Ausrichtung zu treffen.
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Vom Professional Commitment zur Corporate Identity? Möglichkeiten der Kombination statistischer, rekonstruktiver und inhaltsanalytischer Forschungszugänge am Beispiel der Managerialisierung der sozialpädagogischen Familienhilfe Christof Beckmann/Katja Maar/Mark Schrödter Einleitung Die sozialpädagogische Welt ist im Wandel begriffen. Der Begriff des „Managerialismus“, der zu Beginn der 1990er Jahre in die Debatte eingeführt worden war, um die vielfältigen Prozesse des Umbaus sozialstaatlicher Erbringungskontexte Sozialer Arbeit zu beschreiben, hat sich inzwischen in sehr unterschiedliche Diskussionsstränge aufgefächert. Zu nennen sind hier die Diskurse zur Qualität Sozialer Arbeit und zum Management derselben, die öffentlich gestellten Fragen nach ihren Wirkungen und danach, was diese ausmachen und wie man sie effektiver hervorrufen kann, sowie die neuere Diskussion um standardisierte Formen der Diagnostik und Fallbearbeitung. In all jenen Diskussionen gehen die Befürworter dieser Techniken davon aus, dass es möglich ist, durch die besondere Gestaltung organisationaler Programmatiken und Rahmenbedingungen die Erbringung personenbezogener sozialer Dienstleistungen effektiver, steuer- und kontrollierbarer und damit auch transparenter und billiger zu machen. Während in den 1970er und 80er Jahren der Fokus der Debatte auf der Erhöhung der Binnenrationalität Sozialer Arbeit durch Professionalisierung lag, der sich die Rahmenbedingungen anzupassen hätten (vgl. Flösser/Otto 1992), geht es nun um eine Modernisierung der Sozialen Arbeit „from the outside“: Dem Handeln der professionellen Sozialpädagogen traut man nun nicht mehr so recht über den Weg. Es soll durch organisationale Maßnahmen so eingerahmt werden, dass vereinbarungs- und vertragsgemäß gearbeitet, d.h. den Prinzipien der „Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit“ (vgl. § 78b SGB VIII) gefolgt wird.1 Diese Modernisierung ist dabei eingebettet in eine sowohl rhetorische als auch praktische Delegitimierung professionellen Handelns insgesamt, in der über den Zweifel an der Leistungsfähigkeit professionellen Handelns auch dessen Legitimation, dessen Status und seine Handlungsspielräume in Frage gestellt werden (vgl. z.B. Freidson 2001). Im Rahmen dieser Delegitimierung kommt es schließlich zu praktischen Überformungsprozessen professionellen Handelns durch divergierende Handlungslogiken – durch im Kern managerielle Steuerungsmechanismen, respektive konsumeristische Formen der Steuerung von Angebot und Nachfrage – denen sich die Professionellen zu unterwerfen haben (zur Differenzierung vgl. Freidson 2001; zum Zusammenhang vgl. Harris 2003). Für die Soziale Arbeit lassen sich diese Prozesse auf zwei unterschiedlichen Ebenen untersuchen: Erstens auf der Ebene der konkreten Handlungsbedingungen, d.h. auf der Ebene der Koordination und Kontrolle des Handelns (vgl. dazu ausführlich Beckmann et. al. 2009; 2007a; 2007b). Hier haben Studien gezeigt, dass – trotz der teils unkritischen Übernahme ökonomischer und managerialistischer Semantiken bei einigen Fach- und Führungskräften Sozialer 1
„Gemein ist den einzelnen Ansätzen die Auffassung, durch eine Veränderung organisatorischer Rahmenbedingungen […] eine veränderte sozialpädagogische Praxis herbeizuführen, zumindest aber in weitreichender Weise begünstigen zu können“ (Markert 2003, S. 209). G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Arbeit (vgl. Thole/Cloos 2000) – „[d]ie Einführung betriebswirtschaftlich orientierter Steuerungsinstrumente gegenwärtig noch nicht so weit fortgeschritten [ist], dass damit eine tatsächliche inhaltliche Steuerung der Berufsvollzüge möglich wäre“ (Dahme/Wohlfahrt 2003, S.47). Allerdings zeichnen sich auf der Ebene der Arbeitsteilung Tendenzen ab, die im Sinne einer „technischen Proletarisierung“ (Derber 1983) Sozialer Arbeit zu interpretieren sind (vgl. z.B. Beckmann et. al. 2007b; Messmer 2007; Dahme 2008). Eine zweite Ebene – die im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen soll – ist, um mit Derber zu sprechen, diejenige der „ideologischen Proletarisierung“: Es geht bei dieser Frage um die Haltung, die die Professionellen zu ihrer Organisation einnehmen und in ihrer Praxis umsetzen sollen. Organisationsbindung vs. Professionsbindung in der Sozialen Arbeit: Von der „Amtsloyalität“ zum „professional commitment“ zur „corporate identity“? Dieser Topos, die Frage nach der Haltung der Professionellen im Beruf, hat in der Professions- und Organisationssoziologie eine recht lange Tradition. Ausgehend von der Weberschen Bürokratietheorie hatte Alvin Gouldner anhand von empirischen Studien in den 1950er Jahren die These aufgestellt, dass Professionelle sich von Bürokraten auch im Hinblick auf die Bindung an eine spezielle „peer-group“ unterscheiden, denen sie sich zugehörig fühlen.2 Während Bürokratien eine „Amtsloyalität“ (Weber) einfordern, Bürokraten sich also an die „lokale“ Organisation binden, nehmen Professionelle eine „kosmopolitische“ Haltung ein: Sie sind der Profession und ihren ethischen Normen verpflichtet, die sie im Zuge ihrer meist akademischen Ausbildung internalisieren und durch die Zugehörigkeit zu Berufsverbänden, dem Lesen von Fachpublikationen, dem Besuch von Fachtagungen und Konferenzen aktualisieren. Über die Bindung an die Organisation hinaus verschreibt sich der Professionelle auch Bezugsgruppen und -werten außerhalb der Organisation (vgl. Gouldner 1957, S.288ff.; Blau/Heydebrand/ Stauffer 1968, S.99ff.). Dies führt dazu, dass ihm in bürokratischen Kontexten von Seiten der hierarchisch Höhergestellten strukturell misstraut wird (vgl. Gouldner 1954, S.225; Mintzberg 1992, S.258ff.). Die Bindung an die Profession ist ein Moment dessen, was Blau und Scott als das „grundlegende Unterscheidungsmerkmal“ („basic distinguishing feature“, 1970, S.62) zwischen Bürokratien und professionellen Organisationen hervorheben. Die Form der kollegialen Kontrolle der Arbeit unterscheidet sich maßgeblich von dem hierarchischen Aufbau von Bürokratien. Kollegiale Kontrolle ist aber nur in einem Kontext möglich, den Parsons als eine „company of equals“ bezeichnet hat, bei der die Gleichheit von der gemeinsamen Bindung an die Professionsethik herrührt, die eine Gemeinsamkeit der Maßstäbe in der Beurteilung der eigenen Tätigkeit und der anderer garantiert. Die Soziale Arbeit in Deutschland hat diese Perspektive des „schroffen Gegensatzes“ (Merten/Olk 1996, S.580, vgl. auch Schütze 1996, S.222ff.) von Profession und bürokratischer Organisation während ihrer disziplinären Konstitutionsphase im wesentlichen reflexiv nachvollzogen. Die Einbindung in die administrativen Kontexte der Sozialverwaltung galt hier als ein wesentliches Professionalisierungshindernis Sozialer Arbeit. Hier ging es aber vor allem um 2
Blau und Scott (1970) können die Ergebnisse von Gouldner in ihrer eigenen Untersuchung verifizieren und kommen zu dem Schluss: „Professionals tend to be cosmopolitans and not locals“ (ebd., S.69). Umgekehrt gilt dasselbe: “When a given organization curtails opportunities for professional development, the locals who express strong loyalty to the organization do so at the expense of a weakened affiliation with their profession” (ebd., S.71).
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die Ebene, die oben als Koordination und Kontrolle der Handlungsvollzüge gekennzeichnet worden war: Demnach würden in diesen bürokratisch überformten Handlungssettings von Sozialpädagogen staatliche Ordnungsinteressen dominieren (vgl. z.B. Dippoldsmann 1982, S.171ff.; Böhnisch/Lösch 1973; Hollstein 1973), Sozialarbeiter würden hier als „sanfte Kontrolleure“ Herrschaftsinteressen durchsetzen (vgl. Cremer-Schäfer/Peters 1975) und die Adressaten klientifizieren (vgl. Knieschewski 1978; Kasakos 1980; Jungblut 1983). Diese Diskussion fand mit der – vor dem Hintergrund weitreichender Reformen in eben diesen Kontexten durchgeführten – Studie von Otto (1991) gewissermaßen seinen Abschluss, in der gezeigt wird, wie Soziale Arbeit „pragmatische Arrangements“ (ebd., S.112) mit den bürokratischen Grundstrukturen eingeht, in denen „eine gewisse Kompatibilität zwischen Bürokratie und Profession“ (ebd., S.98; vgl. auch Flösser/Otto 1992, S.10ff.; Olk 1986, S.123) hergestellt wird. Eine solche konzeptuelle Gegenüberstellung der Bindung des Professionellen an die Organisation respektive an die Profession, wie sie Gouldner vorgenommen hat, macht allerdings nur Sinn für diejenigen Professionellen, die sich in bürokratischen Organisationen bewegen. Letztere fordert eine „Amtsloyalität“ (Weber) von den Mitarbeitern. In kollegialen Organisationsformen (vgl. dazu Klatetzki 2005; Lazega 2005; Waters 1989), in denen die Bindung an die „kosmopolitische“ Professionsethik mit der lokalen „Ideologie“ der Einrichtung korrespondiert, ist ein solcher Gegensatz nicht zwingend notwendig, eine Bindung an die Profession schließt also hier eine Bindung an die Organisation durchaus nicht aus. Wie sich diese beiden Aspekte zueinander verhalten, ist also stark abhängig von dem jeweiligen Organisationstypus. In den Diskussionen um den „Managerialismus“ wird in jüngerer Zeit davon ausgegangen, dass sich die gewandelten Kooperationsstrukturen zwischen Kostenträgern und sozialen Dienstleistungsorganisationen auch auf das „Innenleben“ der leistungserbringenden Einrichtungen auswirken. Im Sinne isomorphischer Prozesse führen diese Veränderungen in der Organisationsumwelt, so die These, auch zu einer veränderten internen Steuerung der leistungserbringenden Einrichtungen, durch die die professionelle Handlungslogik überformt zu werden droht. Managerialistische Organisationen lassen sich dabei eher als hybride Organisationen beschreiben, die sich nicht eindeutig in die Kategorien der Weberschen Herrschaftssoziologie einordnen lassen. Obwohl es eine Reihe von Übereinstimmungen gibt – vor allem im Hinblick auf die interne Arbeitsteilung – können managerielle Organisationen nicht ausschließlich als Bürokratien verstanden werden. Bürokratien sind strukturell auf überschau- und kontrollierbare Außenbeziehungen angewiesen. Wo dies nicht der Fall ist, können die sehr drastisch ausfallenden organisationalen Maßnahmen zur Reduktion von Umweltkomplexität dysfunktionale Wirkungen zeitigen. Die Beherrschung oder doch zumindest die Vermittlung ständig reproduzierter, weil außerhalb der Reichweite der Organisation liegender Quellen von Ungewissheit, ist hier eine der wesentlichen Aufgaben des Managements. So ist z.B. für die Organisation unklar, wie viele Klienten zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Problemlagen Dienstleistungen nachfragen. Aus diesem Grund muss die Gleichsetzung von Management als Bürokratie (so etwa Freidson 2001) korrigiert werden: Management ist rationale, bürokratische Herrschaft, bei der die durch den „Kosmos gesetzter Regeln“ (Weber 1972, S.125) nicht geregelten, ungewissen Bereiche durch Charisma substituiert werden. Eine solche Unterscheidung macht sich auch im Bereich der von den Mitarbeitern geforderten Haltung bemerkbar: In bürokratischen Organisationen basiert die „Amtsloyalität“ gegenüber der Behörde auf utilitaristischen Nützlichkeitserwägungen, in der sich die Mitarbeiter an die Organisation binden, weil es ihnen einen Nutzen verschafft (Prestige, Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit, etc.). In managerialistischen Organisationen wird dagegen die Loyalität der Mitarbeiter gegenüber der Organisation durch
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charismatische Gefolgschaftsbildung ergänzt. Hier wird also zusätzlich eine emotionale Bindung der Mitarbeiter an die Organisation in Form einer „corporate identity“ gefordert, in der gerade von utilitaristischen Überlegungen abgesehen werden soll (vgl. dazu Beckmann/Otto/Schrödter 2009): „[D]ie Seele der Beschäftigten muss Teil des Unternehmens werden“ (Lazzarato 1998, S.41), „doch niemals anders als zum Zweck, sie mit den Produktionszielen in Übereinstimmung zu bringen“ (ebd., S.44; vgl. auch Türk/Lemke/Bruch 2002, S.218f.).3 Eine solche, auf strategische Interessen beruhende „corporate identity“ steht im Widerspruch zu der Idee einer kollegialen Organisation, deren Entscheidungsfindung – idealtypisch gesprochen – auf einem dialogischen Verfahren beruht, deren Arbeitsteilung auf Kompetenz, Erfahrung und kollegialer Kontrolle aufbaut und dessen Zusammenhang sich über die bewusste Zustimmung zu ethischen Prinzipien und geteilten Handlungs- und Bewertungsmaßstäben herstellt (siehe Tabelle 1). Tabelle 1:
Idealtypen bürokratischer, kollegialer und managerieller Organisation
Organisationstyp Haltung organisationale Herrschaftsform
Bürokratische Organisation Amtsloyalität Rationale Herrschaft
Kollegiale Organisation
Managerielle Organisation
Professional Commitment
Corporate Identity Hybride Mischung rationaler und charismatischer Herrschaftsformen
Autorität auf Basis von Expertise und Erfahrung
Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der Frage empirisch nachgegangen werden, welche Haltung professionelle Sozialpädagogen in unterschiedlichen organisatorischen Kontexten zu ihrer Einrichtung und zu ihrer Profession einnehmen, indem die relevanten Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zur Dienstleistungsqualität in der Sozialen Arbeit dargestellt werden. Ein empirischer Zugang zur Professions- und Organisationsbindung in der Sozialen Arbeit Die Frage nach der Organisations- und Professionsbindung wurde bislang in der sozialpädagogischen Forschung eher als Sekundärphänomen betrachtet (vgl. z.B. Böhnisch/Lösch 1973), als Anpassungsleistung und Assimilation der Sozialpädagogen an die administrativen Gegebenheiten, unter denen sich die Bindung an die Professionsethik kaum entwickeln konnte. Auf internationaler Ebene findet sich dagegen eine Reihe von Beiträgen, in denen verschiedene Umgangsformen professioneller Sozialpädagogen mit den administrativen Kontexten (vgl. z.B. Pollitt u.a. 1991; Clarke/Newman 1997, S.76ff.; Harris 2003, S.60f.; Clarke 2004, S.121) beschrieben werden und die im Wesentlichen ebenfalls der oben skizzierten „Überformungsthese“ zuzurechnen sind. Allerdings bewegen sich diese Studien zum großen Teil auf der Ebene theoretischer Konzeptualisierungen und sind selten empirisch fundiert. Das Verhältnis zwischen den Haltungen der Fachkräfte und der Organisation, in der sie tätig sind, wird allerdings in der deutschsprachigen organisationskulturellen Forschung sehr wohl implizit betrachtet: Es 3
Aus einer kritischen Perspektive beschreibt Clarke (2004) “the tendency to shift what were occupational/professional identities to ones that are organization centred. The organization […] seeks to become the point of identification, loyalty and commitment, with externally orientated professionalism being treated as suspect and as a special interest that distracts from the organization as a common purpose.”
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geht hier um die Frage der mehr oder weniger gelingenden Einsozialisation in die Berufsrolle (vgl. z.B. Thole/Küster-Schapfl 1997) oder darum, wie im Rahmen kollegialer Interaktionen wenn auch nicht Professionalität, so doch zumindest fachlich erfolgreiches Handeln hergestellt werden kann (vgl. Klatetzki 1993). Die organisationskulturelle Perspektive umfasst dabei sowohl die Form der organisationalen Arbeitsteilung – der Koordination und Kontrolle der Tätigkeiten – als auch die Haltung – die Einsozialisation (oder deren Scheitern) in die Berufsethik und deren normative Grundlagen – und untersucht deren wechselseitige Herausbildung. Es soll nun der Frage nachgegangen werden, ob in Einrichtungen, in denen restringierende Arbeitsbedingungen vorherrschen, die oftmals mit der Einführung managerialistischer Steuerungsmethoden entstehen, seitens der Organisation verstärkt Maßnahmen der ideologischen Vereinnahmung der Fachkräfte vonnöten sind, um die Arbeitsmotivation und die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter zu erhalten bzw. zu fördern. Diese These ist in der kritischen Literatur zum Managerialismus vor allem in Großbritannien weit verbreitet (vgl. insb. Clarke 2004; Harris 2003), wurde aber für die deutsche Situation bislang empirisch noch nicht untersucht. Dabei wird auf die – vor allem in der englischsprachigen Literatur – weit verbreitete Diskussion und Forschung zum „organizational commitment“,4 bzw. dem „professional commitment“ als „Sonderform“ des „career/occupational commitments“ eingegangen (zur Differenzierung vgl. Mueller/Wallace/Price 1992, S.214ff.).5 In der Organisationssoziologie und -psychologie wird die Bindung an die Organisation als wichtiger Faktor für Performance, Leistungsfähigkeit und Outcome der Einrichtung angesehen.6 Die vorliegenden Forschungsergebnisse zeigen, so Meyer und Allen (1997, S.38), dass Mitarbeiter, die sich an die Organisation gebunden fühlen, „wertvoller“ („more valuable“) seien, als solche, die nur eine schwache Bindung an die Organisation haben. Da nun die Wahrnehmung der Mitarbeiter „wichtiger ist als die Realität“ und „Mitarbeiter so auf Arbeitsbedingungen reagieren, wie sie sie wahrnehmen“ (ebd., S.88),7 ist es eine der wichtigen Aufgaben des Managements, die Wahrnehmung der Mitarbeiter systematisch zu beeinflussen (vgl. ebd., S.66). Dabei wird die These der inversen Beziehung zwischen Organisations- und Professionsbindung, die zwischen beiden eine Art Nullsummenspiel postuliert (vgl. Gouldner 1954; Knapp 1962; Blau/Scott 1970, 1973; für die Soziale Arbeit: Mannheim 2000)8 mittlerweile in Zweifel gezogen: Andere Forscher sehen in dieser Gegenüberstel4
Das Konzept des „organizational commitment“ wird im Rahmen der Forschungen zum „work commitment“ verwandt und ist vergleichsweise solide theoretisch begründet und hat sich in zahlreichen Studien empirisch bewährt (vgl. Morrow 1983). 5 “Common to all of these is the critical notion of being committed to one’s career or occupation rather than to the organization in which one is employed” (Mueller/Wallace/Price 1992, S.215). 6 Vergleiche in diesem Zusammenhang die Übersichten über den Forschungsstand von Mathieu/Zajac (1990), Meyer/Allen (1997, S.25ff.), Felfe (2008) sowie Camilleri (2007), Madsen (2005). Auch in der internationalen Forschung zur Sozialen Arbeit wird dem Konzept der Organisationsbindung zunehmend mehr Beachtung zuteil, wie eine ganze Reihe von Studien seit den 1990er Jahren belegen (vgl. z.B. Baker 2006; Freund 2005; Glisson 1988; McDonald 1995; Styskal 1980; Freund 2005; Kats 1986; Giffords 2003; Landsman 2008). 7 „Another important consideration in attempting to foster commitment through HRM (Human Ressource Management; Anm. d.V.) practices is that perception is more important than reality. Employees will react to conditions as they perceive them” (Meyer/Allen 1997, S.88). 8 Wobei konfliktförmige Verhältnisse nicht unbedingt ausschließlich auf die Beziehung der Bindung an Organisation, resp. Profession zutreffen muss, sondern als eine Form widersprüchlicher Bindungen an unterschiedliche Bezugsgruppen innerhalb einer Organisation und deren Umwelten gefasst werden kann (vgl. Reichers 1985): „Perhaps the most significant question that the present approach to commitment
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lung eine Simplifizierung des Verhältnisses zwischen Professionellen in Organisationen; „Konflikt“ sei nur eine Form der Beziehung des Professionellen zu seiner Organisation, die aber nicht notwendig sei (vgl. Gunz/Gunz 1994). Diese Position geht davon aus, dass beide Orientierungen unter bestimmten Umständen – etwa in Abhängigkeit des Professionalisierungsgrades des Berufs, der Beschäftigungsform, den wahrgenommenen Karrieremöglichkeiten oder der Position der Professionellen in der organisationalen Berufshierarchie – durchaus miteinander vereinbar sind (vgl. etwa Wallace 1993, 1995a/b; vgl. auch für die Soziale Arbeit: Kats 1986). Forschungsdesign Dem Zusammenhang von Profession- und Organisationsbindung soll auf Basis der Daten eines Forschungsprojekts zur Dienstleistungsqualität in der Sozialen Arbeit nachgegangen werden.9 Ziel des Forschungsprojekt war es, Dienstleistungsqualität anhand eines exemplarischen Arbeitsfeldes, der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) zu erheben und in Bezug zu organisationalen Kontextbedingungen zu setzen. Dafür wurden verschiedene Konstrukte gebildet, wie der Grad der Formalisierung der Arbeitsbedingungen, der Grad der Implementierung von Qualitätssicherungsmaßnahmen, der Grad der Professionalität der Fachkräfte, die Zufriedenheit der Nutzer und ihre Möglichkeiten zur Partizipation an organisationalen Entscheidungsprozessen etc. Diese Konstrukte wurden operationalisiert und in Form einer standardisierten Befragung der Fachkräfte und der Nutzer der Familienhilfe erhoben. Es wurden Einrichtungen untersucht, die in Nordrhein-Westfalen Leistungen nach § 31 SGB VIII (SPFH) anbieten. Da die Anbieter der Familienhilfe in NRW nicht zentral erfasst werden, ist die Grundgesamtheit nicht bekannt (N = 370, Schätzung Statisches Bundesamt). Daher wurden im „Schneeballverfahren“ alle Jugendämter in NRW (N=173) elektronisch und postalisch angeschrieben. Gleichzeitig wurden Familienhilfe-Einrichtungen durch Internetrecherchen, durch persönliche Kontaktaufnahme mit den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege, den Landesjugendämtern von NRW sowie mit allen Großstadtjugendämtern in NRW ausfindig gemacht und die Kontaktpersonen jeweils um weitere Kontaktadressen gebeten. Auf diesem Weg konnten insgesamt 102 Einrichtungen gefunden werden, die die erforderlichen Kriterien (Einrichtungsgröße, geringer Flexibilisierungsgrad etc.) für die Auswahlstichprobe erfüllen (vgl. Beckmann/Schrödter 2006). Aus dieser Population wurde eine zweifach geschichtete Zufallstichprobe (öffentlicher/freier Träger und Existenz eines formalen QMSystems ja/nein) gezogen. Die so ausgewählten Einrichtungen wurden schriftlich und darauf folgend fernmündlich kontaktiert. Sämtliche Interviews wurden telefonisch durchgeführt. Im Erhebungszeitraum von Herbst 2005 bis Mai 2006 konnten insgesamt 30 Leitungskräfte, 261 Fachkräfte und 435 Familien in 30 Einrichtungen befragt werden. Datengrundlage für die hier vorgelegte Untersuchung stellen also zum einen die Antworten von 30 Leitungskräften und 261 Fachkräften aus 30 Einrichtungen der SPFH in NRW dar. Zum anderen wurden in ausraises deals with the potential for conflict that may exist among commitments. To the extent that organizations pursue to conflicting goals of multiple constituencies, individuals who are committed to these constituencies may suffer from conflicts over the direction that their energies and loyalties should take. That is, commitment to one group may imply the necessary abandonment of other identifications with other groups.” (ebd. S.473; vgl. auch Golden-Biddle/Rao 1997; Zaccaro/Dobbins 1989) 9 Es handelt sich um das DFG-Projekt „Dienstleistungsqualität in der Sozialen Arbeit“ unter Leitung von Hans-Uwe Otto und Andreas Schaarschuch.
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gewählten Einrichtungen Gruppeninterviews mit den Fachkräften und Experteninterviews mit der Leitung geführt.10 Instrumente zur Messung der Bindung der Mitarbeiter an die Profession sind relativ selten (zur Übersicht vgl. UGME 2004; Swailes 2003, S.139ff.). In der Studie wurde auf die weit verbreitete Professionalization Scale von Hall (1961; vgl. auch Snizek 1972, 1985) in der Version von Swailes (2003) zurückgegriffen (Beispielitem: „Ich bin dieser Profession zu sehr verbunden, um sie aufzugeben.“). Zur Messung der Bindung der Mitarbeiter an die Organisation wird auf die ebenfalls weit verbreitete „Organizational Commitment Scale“ (OCQ) von Porter u.a. (1974, 1975) in der Übersetzung von Maier (2002) zurückgegriffen.11 Porter und Mitarbeiter definieren „organizational commitment“ dabei als die „relative strength of an individual’s identification with and involvement in a particular organization“ (Mowday/Steers/Porter 1979, S. 226), die OCQ fokussiert also vor allem die Einstellungen und Haltungen der Mitarbeiter zu der Organisation (z.B. „Freunden gegenüber lobe ich diese Einrichtung als besonders guten Arbeitgeber“) und damit weniger andere Formen der Bindung an die Organisation.12 Zum statistischen Zusammenhang von Professions- und Organisationsbindung Nimmt man Häufigkeitsauszählungen über die Organisations- und Professionsbindung der Fachkräfte vor (siehe Tabelle 2), so zeigt sich, dass in den untersuchten Einrichtungen sowohl die mittlere Bindung an die Profession als auch die Bindung an die Organisation relativ hoch ausgeprägt ist. Sie liegt bei 3,18 resp. 3,09 von 4 möglichen Punkten.13 Dies ist auch im Hinblick auf Vergleichsstudien hoch (vgl. z.B. Giffords 2003), in denen in der Regel niedrigere Werte gemessen werden. Die Mittelwerte von Professions- und Organisationsbindung sind gleichermaßen hoch, eine Korrelation zwischen den Konstrukten besteht nicht. Empirisch schließen sich also Professions- und Organisationsbindung nicht aus. Würden sie sich ausschließen, hätte sich eine negative Korrelation ergeben müssen. Die Ausgangshypothese einer inversen Beziehung zwischen Professions- und Organisationsbindung konnte also nicht verifiziert werden. Denkbar ist allerdings, dass die Ausprägung des Verhältnisses von Professions- und Organisationsbindung vom Organisationstyp abhängt. Die Vertreter der These einer inversen Beziehung zwischen Organisations- und Professionsbindung gehen in der Regel von einer bürokratischen Organisation aus, in der diese als Beschränkung, als Restriktion der Handlungsmöglichkeiten wirkt. In der bisherigen Forschung zur Bindung an die Organisation, resp. die Profession wird nur selten explizit die Organisationsform empirisch in die Untersuchung mit einbezogen. Die wenigen relevanten Studien (vgl. z.B. Wallace 1995a, b) legen aber nahe, dass in einer professionellen Organisationsform („autonomous professional organizations“, nach Scott 1965), in denen die Professionellen über Ermessensspielräume verfügen und in denen Karrierechancen auf der 10 Darüber hinaus wurden Gruppeninterviews mit Familien dieser ausgewählten Einrichtungen durchgeführt, die nicht Gegenstand dieses Beitrags sind. 11 „This measure, because of its popularity and continued use, has in a sense become ‘the’ approach to organizational commitment.“ (Reichers 1985, S.467; vgl. auch Felfe 2008, S.75; Mowday/Steers/Porter 1979; Mathieu 1991; Commeiras 2001; in gewinnorientierten Organisationen: Bartol 1979; Chang 2007; Randall 1988; im Bereich öffentlicher Dienstleistungen: Welsch/LaVan 1981; in der Sozialen Arbeit: Giffords 2003; Mannheim 2000) 12 Zu den verschiedenen Formen und Foci der Bindung an die Organisation vgl. die Differenzierungen in Allen/Meyer (1990), Mueller/Wallace/Price (1992), Meyer/Allen (1997). 13 Die Standardabweichung bei der Professionsbindung beträgt 0,23327, bei der Organisationsbindung 0,19238.
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Basis von professionellen Maßstäben vergeben werden, beide Formen des „commitments“ hoch ausgeprägt sein können. Dies scheint das hier vorliegende Projekt zu bestätigen. Zur Professionsbindung in Abhängigkeit von einzelnen Organisationstypen Um diese These zu prüfen, inwieweit die Professionsbindung von Organisationstyp abhängt, wurden mittels einer Kombination aus Faktoren- und Clusteranalyse (vgl. Micheel 2003) verschiedene Organisationstypen differenziert, die sowohl statistisch trennscharf (zwei Dimensionen mit p