Viktoria Kaina · Andrea Römmele (Hrsg.) Politische Soziologie
Viktoria Kaina Andrea Römmele (Hrsg.)
Politische Soziologie Ein Studienbuch
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1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15049-9
Inhaltsverzeichnis
Einleitung Politische Soziologie und der leere Platz im Buchregal – Eine kurze Geschichte von Identitätssuche und Selbstbehauptung............................................................................................ 7 (Andrea Römmele und Viktoria Kaina)
Politische Kultur ............................................................................................................................... 17 (Oscar W. Gabriel)
Politische Legitimität........................................................................................................................ 53 (Daniela Braun und Hermann Schmitt)
Ideologien .......................................................................................................................................... 83 (Kai Arzheimer)
Werte- und Wertewandelforschung............................................................................................. 109 (Christian Welzel)
Politische Partizipation .................................................................................................................. 141 (Jan van Deth)
Soziale Partizipation und Soziales Kapital.................................................................................. 163 (Siegrid Roßteutscher)
Wahlsoziologie................................................................................................................................ 181 (Harald Schoen)
Einführung in das Forschungsfeld der Politischen Kommunikation ...................................... 209 (Sarah Bastgen, Kim Jucknat und Andrea Römmele)
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Inhaltsverzeichnis
Politische Parteien als Gegenstand der Politischen Soziologie................................................. 235 (Uwe Jun)
Verbändeforschung ........................................................................................................................ 267 (Annette Zimmer und Rudolph Speth)
Parlamentssoziologie ..................................................................................................................... 311 (Werner J. Patzelt)
Bürokratieforschung....................................................................................................................... 353 (Dieter Grunow)
Eliteforschung ................................................................................................................................. 385 (Viktoria Kaina)
Die Datengrundlage der Politischen Soziologie in Forschung und Lehre .............................. 421 (Silke I. Keil)
Methoden zur Datenanalyse ......................................................................................................... 447 (Manuela Pötschke)
Vergleichende Politische Soziologie: Quantitative Analyse- oder qualitative Fallstudiendesigns? ........................................................................................................................ 481 (Bernhard Ebbinghaus)
Verzeichnis der Autoren................................................................................................................ 503
Politische Soziologie und der leere Platz im Buchregal – Eine kurze Geschichte von Identitätssuche und Selbstbehauptung Politische Soziologie und der leere Platz im Buchregal
Viktoria Kaina und Andrea Römmele
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Was ist Politische Soziologie und womit beschäftigt sie sich?
Politische Soziologie analysiert Politik im Wirkungszusammenhang der Gesellschaft. Das heißt, sie interessiert sich einerseits für die gesellschaftlichen Bedingungen von Politik und andererseits für die Wirkungen von Politik auf die Gesellschaft. Diese Vorstellung über den Erkenntnishorizont der Politischen Soziologie wurde von Theo Schiller (1997: 413) in einem von Arno Mohr herausgegebenen Band über die Grundzüge der Politikwissenschaft formuliert. Ganz ähnlich sieht Franz Urban Pappi (2002: 396) das Hauptarbeitsgebiet der Politischen Soziologie darin, die Beziehungen zwischen Politik und Gesellschaft anhand von drei zentralen Problemstellungen zu untersuchen:
als Problem der gesellschaftlichen Bedingungen politischen Verhaltens und politischer Ordnungen, als Problem der Einwirkungen der Politik auf die Gesellschaft und als Problem der Struktur von politischen Institutionen und des Ablaufs politischer Prozesse.
Die meisten Forscher, die sich im Lehr- und Forschungsfeld der Politischen Soziologie bewegen, dürften dieser Begriffsbestimmung kaum widersprechen. Allerdings werden sie – wie wohl übrigens auch Schiller und Pappi selbst – hinzufügen, dass es mit einer so allgemeinen Erklärung keinesfalls getan ist. Der Bedingungs- und Wirkungszusammenhang von Politik und Gesellschaft ist viel zu komplex und vielschichtig, als dass sich mit dieser ersten Annäherung verstehen oder gar vermitteln ließe, womit sich Politische Soziologie beschäftigt, zu welchem Zweck und wie sie das tut. Aber wie so oft werden die Dinge umso komplizierter, je mehr wir ihnen auf den Grund gehen wollen. So verhält es sich auch mit dem Versuch, Ort und Gegenstand, Themenkanon und Schlüsselkonzepte der Politischen Soziologie zu bestimmen. Darüber wurden und werden nicht nur ganze Bücher geschrieben (z.B. Stammer/Weingart 1972; Röhrich 1977; Ebbighausen 1981; Lenk 1982; und jüngeren Datums: Faulks 1999; Böhnisch 2006; Kißler 2007). Zyklisch wiederkehrende Debatten über das Selbstverständnis der Politischen Soziologie als Wissenschaftsdisziplin belegen zudem zweierlei: erstens, das wiederkehrende Bedürfnis nach Identitätsfindung und Selbstvergewisserung in einer sich fortwährend wan-
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delnden Wissenschaftswelt; und zweitens, die anhaltenden Verständigungsschwierigkeiten und Auffassungsdifferenzen innerhalb einer Disziplin, die sich Soziologen und Politikwissenschaftler mal in friedlicher Koexistenz teilen, mal in eifersüchtigen Abgrenzungsversuchen für sich allein zu reklamieren versuchen (u.a. Alemann 1998; Meuser 2003; Bach 2004; Borchert 2004). Die Herausgeberinnen dieses Studienbuches haben ihren akademischen „Heimathafen“ in der Politikwissenschaft. Mit den Autoren dieses Bandes, zu denen neben Politikwissenschaftlern auch Soziologen gehören, teilen sie aber ihre Freude an disziplinären Grenzgängen und ihr Interesse an Forschungsfragen, die sich einer eindeutigen Zuordnung entweder zur Politikwissenschaft oder zur Soziologie entziehen. Die gemeinsame Antriebskraft, auf die sich die breite Themenpalette der klassischen und modernen Politischen Soziologie zurückführen lässt, bleibt dennoch die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen von Politik, genauer: die Analyse der gesellschaftlichen Grundlagen und Konsequenzen politischer Herrschaft und Macht „unter den Anforderungen von Demokratie“ (Kißler 2007: 15). Politische Soziologie lässt sich daher auch als Demokratiewissenschaft charakterisieren (Stammer/Weingart 1972: 24; Ebbighausen 1981: 9; Bach 2004: 22ff; Borchert 2004: 29; Kißler 2007: 15). Ihr typisch kritisches Potenzial gewinnt sie aus ihrem spezifischen Anliegen, durch wissenschaftliche Erkenntnissuche Widersprüche zwischen dem normativen Anspruch von Demokratie und der sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Wirklichkeit politischen Handelns aufzudecken (Kißler 2007: 35). Die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen demokratischem Anspruch und politischer Realität veranlasste bereits vor mehr als hundert Jahren zu den ersten Forschungsarbeiten, deren Autoren heute zu den Begründern der modernen Politischen Soziologie gezählt werden (Ebbighausen 1981: 21f). Dazu gehören Moisei Ostrogorski, der offenbar der Erfinder der Bezeichnung „Politische Soziologie“ ist (Ebbighausen 1981: 16), und Robert Michels. Ihre Untersuchungen, in denen sie die Oligarchisierung und Bürokratisierung der entstehenden Massenparteien einer kritischen Analyse unterzogen, begründeten die Soziologie der politischen Parteien. Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca werden demgegenüber als „Väter“ der Elitensoziologie gewürdigt. Und Max Weber gilt vielen als das Schwergewicht der modernen Politischen Soziologie. Seine Arbeiten inspirieren bis in die Gegenwart den Erkenntnisdrang einer Politischen Soziologie, die sich im Kern als eine Macht- und Herrschaftssoziologie im Spannungsverhältnis zwischen dem demokratischen Gleichheitspostulat auf der einen und den Folgen sozialer Ungleichheit für demokratische Politik- und Interessenvermittlung auf der anderen Seite (Kißler, 2007: 248; ähnlich Borchert 2004: 29) zu definieren versucht. Widersprüche zwischen dem demokratischen Ideal und der politischen Wirklichkeit durch systematische, theoriegeleitete und empirisch fundierte Erkenntnissuche aufzudecken sollte eigentlich ein Dauerbrenner sozialwissenschaftlicher Lehre und Forschung sein. Das hat zum einen damit zu tun, dass wir Ideale brauchen, um Tatsachen in Frage zu stellen und Wirklichkeit kritisch zu beurteilen (Sartori 1997: 77ff). Doch Wirklichkeit und Ideal werden einander stets Widerstand leisten. Deshalb muss die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen (demokratischen) Anspruch und (politischer) Realität immer wieder neu gestellt werden. Zum anderen rückte der Zusammenbruch der realsozialistischen Herrschaftsalternative mit den Systemumbrüchen in Mittel- und Osteuropa zu Beginn der 1990er Jahre die
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Defizite, Strukturprobleme und Leistungsschwächen der als etabliert geltenden demokratischen politischen Systeme in ein neues Licht der öffentlichen und akademischen Aufmerksamkeit. Viele Forscher fragen sich seither in verstärktem Maße: Was sind eigentlich „gute“ Demokratien und wodurch unterscheiden sie sich von „schlechten“ demokratischen politischen Systemen (z.B. Beetham 1994, 2004; Diamond/Morlino 2004; Lauth 2004, 2006; Müller/Pickel 2007; Bühlmann et al. 2008; Kaina 2008)? Auch diese Erkenntnisperspektive dreht sich im Kern um die konfliktanfällige Beziehung von (demokratischem) Ideal und (politischer) Realität, deren inhärente Widersprüche durch neue Herausforderungen wie die Globalisierung und Europäisierung weiter zugespitzt werden. Und doch: während alles dafür spricht, dass die zentralen Fragen der Politischen Soziologie niemals „altmodisch“ werden und wir auch nicht damit rechnen sollten, dass dazu irgendwann einmal alles gesagt sein wird, ist der Stellenwert der Politischen Soziologie innerhalb der deutschen Politikwissenschaft strittig.
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Auf unsicherem Stand – Politische Soziologie im Themenkanon der Politikwissenschaft in Deutschland
Im Wintersemester 2005/2006 studierten an deutschen Universitäten laut Angaben des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2007 insgesamt 29490 junge Frauen und Männer das Fach Politikwissenschaft bei 339 Professorinnen und Professoren (Stand: 2005). Und nach einer Zählung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) finden sich an insgesamt 103 Universitäten in Deutschland 70 Fachbereiche und Untergliederungen, an denen Politikwissenschaft unter einer mal dünneren, mal dickeren Personaldecke gelehrt wird (Schüttemeyer 2007: 169). In Übereinstimmung mit den meisten anderen westeuropäischen Ländern und den Empfehlungen europäischer Fachvereinigungen für Politikwissenschaft werden in Deutschland sieben Sub-Disziplinen als notwendige Komponenten des politikwissenschaftlichen Lehr- und Forschungscurriculums betrachtet (Klingemann 2007: 27f; Klingemann 2008: 374):1
Politische Theorie und Ideengeschichte Politisches System des eigenen Landes und der Europäischen Union Öffentliche Verwaltung und Policy-Analyse Politische Ökonomie und Politische Soziologie Vergleichende Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Methoden, einschließlich Statistik2
1 Zu den beiden wichtigsten Fachvereinigungen für Politikwissenschaft auf europäischer Ebene zählen, erstens, das 1970 gegründete ECPR (European Consortium for Political Research) mit gegenwärtig 325 europäischen und assoziierten Mitgliedsinstitutionen in über 40 Ländern von Neuseeland bis Japan; und zweitens epsnet (European Political Science Network), das sich vor allem mit Fragen der politikwissenschaftlichen Lehre und universitären Ausbildung befasst und bislang hinter der Bedeutung des ECPR zurückgeblieben ist. 2 In manchen neuaufgelegten Einführungslehrbüchern in die Politikwissenschaft, die den Studierenden als Handreichung und Orientierungshilfe dienen sollen, werden auch heute noch lediglich drei Teildisziplinen der Politikwissen-
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Danach scheint die Politische Soziologie ein unumstrittener Bestandteil politikwissenschaftlicher Forschung und Lehre. Zumindest legt das die jüngste Bestandsaufnahme der Politikwissenschaft als Wissenschaftsdisziplin in Deutschland und Westeuropa nahe (Klingemann 2007, 2008; Schüttemeyer 2007). Ungeachtet dessen und obwohl sich die Relevanz und Brisanz der Politischen Soziologie mühelos begründen lässt, wird man in deutschen Universitätsbibliotheken in der Abteilung „Politikwissenschaft“ aktuelle deutschsprachige Lehr- und Einführungsbücher zur Politischen Soziologie vergeblich suchen. Die letzten Werke dieser Art, die von Politikwissenschaftlern verfasst wurden, stammen vom Beginn der 1980er Jahre, sind inzwischen also mehr als fünfundzwanzig Jahre alt und haben nunmehr antiquarischen Wert. Will man die Zahl an aktuellen Lehrbüchern als einen Maßstab für Selbstverständlichkeit und Selbstbewusstsein einer Wissenschaftsdisziplin gelten lassen, so scheint der vermeintliche Dauerbrenner Politische Soziologie in den vergangenen beiden Jahrzehnten an Strahlkraft eingebüßt zu haben und manchen Sozialwissenschaftlern nur noch das „Relikt längst vergangener Zeiten“ (Borchert 2004: 28). Über die Gründe dieses eigentümlichen Widerspruchs lässt sich freilich nur spekulieren. Eine Ursache könnte darin zu suchen sein, dass die Politische Soziologie noch immer auf der Suche nach ihrem wissenschaftlichen Standort und ihrem eigenen, unverwechselbaren Profil ist (Kißler 2007: 247). Noch zu Beginn der 1970er Jahre behauptete Otto Stammer, ein ebenso selbstbewusster wie wichtiger Vertreter der Politischen Soziologie in Deutschland, dass sich die Politische Soziologie als eigenständige Disziplin „neben der Politikwissenschaft“ (!) entwickelt und etabliert hat (Stammer/Weingart 1972: 15). Doch offenbar hat Stammer die Entwicklungsdynamik und Integrationsfähigkeit von Soziologie und Politikwissenschaft unterschätzt. Vielleicht würde er sich heute sogar verwundert die Augen reiben, wenn manche Politikwissenschaftler die Politische Soziologie von der Politikwissenschaft gewissermaßen einverlebt sehen, weil Erstere für Letztere irgendwie immer und überall eine Rolle spielt und die Politische Soziologie deshalb als selbständiges Themenfeld der Politikwissenschaft „nicht mehr zu retten“ ist (Alemann 1998: 13). Anderen mag diese Auffassung angesichts der wachsenden Spezialisierung, Fragmentierung und Hybridisierung (Klingemann 2007: 28) der Sozialwissenschaften zwar etwas weltfremd anmuten. Der Punkt ist aber, dass solche Ansichten wenigstens zum Teil eine Folgeerscheinung anhaltender Profilsuche und fortdauernder Identitätskämpfe innerhalb einer sich zunehmend arbeitsteilig organisierenden Fachwissenschaft sind (vgl. auch King/Marian 2008). Die wachsende Ausdifferenzierung der Politikwissenschaft, deren Sub-Gebiete zum Teil auch immer vehementer um die Anerkennung als eigenständige Disziplin ringen, entwickelt somit zentrifugale Tendenzen (Klingemann 2007: 18, 2008: 374), die innerhalb der Politikwissenschaft nicht nur zu Anpassungsleistungen in der Identitätskonzeption als Wissenschaftsdisziplin zwingen. Begleiterscheinung dieser Entwicklung sind auch recht handfeste Interessenkonflikte zwischen Vertretern der Teildisziplinen der Politikwissenschaft. Ein wachsender „Verertungsdruck“ auf die wissenschaftliche Erkenntnissuche (Carrier 2006: 11) nötigt Wissenschaftler nämlich nicht nur zur fortlaufenden Rechtfertigung der eigenen Forschungspersschaft benannt, nämlich (Vergleichende) Regierungslehre, Politische Philosophie und Ideengeschichte sowie Internationale Beziehungen (z.B. Bellers/Kipke 2006: 18). Diese Darstellung stammt jedoch aus der Mottenkiste der Disziplingeschichte und ist nicht mehr „up to date“, wie empirisch unterfütterte Bestandsaufnahmen der Politikwissenschaft als Lehr- und Forschungsdisziplin belegen (u.a. Newton/Vallès 1991; Quermonne 1996; Klingemann 2007, 2008)
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pektiven. Als Folge dessen sind auch längst die disziplinären Schützengräben ausgehoben, um materielle und personelle Ressourcen in den chronisch unterfinanzierten deutschen Hochschulen zu verteidigen. Ein anderer Grund für die schwierige Selbstbehauptung der Politischen Soziologie als Sub-Disziplin der Politikwissenschaft in Deutschland sind wiederkehrende Konjunkturzyklen für bestimmte Themen und Paradigmenwechsel in der Fachdisziplin. Damit sind in der Regel eine Neuausrichtung in den Erkenntnisperspektiven der Forscher und ein Prioritätenwechsel in der universitären Ausbildung im Fach Politikwissenschaft verknüpft. Noch bis Anfang der 1980er Jahre konnte die Politische Soziologie in Deutschland von einem solchen Schwung profitieren, als die Welle des Behaviorismus („Verhaltenswissenschaft“), die in den 1960er und 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten ihren Ausgangspunkt nahm, endgültig nach Europa schwappte. Die traditionell normativ ausgerichtete sowie staats- und institutionenfixierte Politikwissenschaft im Deutschland der Nachkriegszeit wurde nun um eine Erkenntnisperspektive bereichert, die das politische Verhalten (Behaviorismus) von Bürgern und politischen Akteuren, dessen Voraussetzungen und Folgen für demokratische Politik- und Interessenvermittlung sowie für allgemeinverbindliche Entscheidungsfindung ins Zentrum rückte. Damit begann zudem der Siegeszug der quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung, die der Politischen Soziologie als praktisch orientierter Demokratiewissenschaft ein wichtiges und heute dominierendes Handwerkszeug für ihren wissenschaftlichen Zugang zur Wirklichkeit bereit stellte. Als Nachwehe der neo-institutionalistischen „Wende“ in der Politikwissenschaft seit den 1980er Jahren sieht sich der Behaviorismus seiner zeitweiligen Dominanz inzwischen beraubt (u.a. March/Olsen 1984; Koelble 1995; Hall/Taylor 1996; Immergut 1998; Kaiser 1997, 2001; Peters 1999, 2005). In Deutschland war das mit einem neu erwachenden Interesse an der Funktionstüchtigkeit und Eigenlogik von Institutionen, den Steuerungsfähigkeiten des Staates und den Inhalten von Politik (policy) sowie den veränderten Voraussetzungen und Folgen von Regierungstätigkeit (Stichwort: Governance) verknüpft. Im Zuge dieser Neuorientierung, die sich zudem auf alte Traditionsbestände in der Entwicklungsgeschichte der Politikwissenschaft in Deutschland stützen konnte, gerieten die Forschungsfragen und Erkenntnisperspektiven der Politischen Soziologie zumindest vorerst in den Hintergrund. Forciert wird diese Entwicklung auch durch den bereits erwähnten „Verwertungsdruck“ wissenschaftlicher Forschung. Denn damit wird ein „technisches“, vornehmlich an der Lösung funktioneller Probleme (des Regierens) ausgerichtetes Erkenntnisinteresse zu Lasten eines „emanzipatorischen“ Erkenntnisinteresses, wie es in den zentralen Forschungsfragen der Politischen Soziologie angelegt ist, tendenziell privilegiert.3 Doch wie die Wissenschaftsgeschichte lehrt, sind Paradigmen bei aller Beharrlichkeit doch vergänglich (Kuhn 1976). Und die Herausforderungen, denen sich die demokratischen politischen Systeme am Übergang zum 21. Jahrhundert gegenüber sehen, lassen eine Renaissance der Politischen Soziologie und eine Neuaufwertung ihrer Relevanz in der deutschen Politikwissenschaft erwarten. Dafür sprechen noch zwei weitere Gründe: erstens, die zunehmend globale Vernetzung auch der politikwissenschaftlichen Lehr- und Forschungslandschaft, in der die Politische Soziologie einen angestammten Platz hat. Zweitens stellt 3
Zu den unterschiedlichen Arten politikwissenschaftlicher Erkenntnissuche siehe Naßmacher (2004: 5).
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der so genannte Bologna-Prozess zur europäischen Harmonisierung der höheren Bildung neue Herausforderungen an die universitäre Lehre (Klingemann 2007: 25). Auch dieser Prozess erlaubt den optimistischen Schluss, dass die Politische Soziologie als kritische, emanzipatorische und praxisorientierte Demokratiewissenschaft in der Politikwissenschaft neue Beachtung finden wird, weil der Bedarf von Politik und Wirtschaft an empirisch abgesicherter Kritik des Gegebenen als Grundlage innovativer Problemlösung weiter zunehmen wird. Mehr als höchste Zeit also, nach mehr als 25 Jahren ein Studienbuch zur Politischen Soziologie vorzulegen und den all zu lang verwaisten Platz im Buchregal der politikwissenschaftlichen Fachliteratur zu füllen.
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Ziel des Bandes
Die Idee zu diesem Lehrbuch entstand, wie es häufig der Fall und auch gut so ist, aus den Erfahrungen, die eine der beiden Herausgeberinnen im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit im Fach Politikwissenschaft gesammelt hat. Bei der Vorbereitung eines Einführungsseminars in die „Politische Soziologie“ stand einerseits kein aktuelles Lehr- und Einführungsbuch zur Verfügung. Andererseits sollte den Studierenden ein möglichst umfassender Überblick über das Themenspektrum der Politischen Soziologie gegeben werden. Doch auch die Politische Soziologie zeichnet sich durch eine wachsende Spezialisierung und Heterogenität ihrer Teilgebiete aus. Das ist gewissermaßen zwangsläufig, wenn es um den Wirkungszusammenhang von Politik und Gesellschaft geht: Gesellschaftliche Wandlungsprozesse beschleunigen und vervielfachen sich in der Moderne und können nicht ohne Auswirkungen auf eine Disziplin bleiben, in der die gesellschaftlichen Bedingungen und Folgen von Politik im Zentrum der wissenschaftlichen Erkenntnissuche stehen. Zu den als „klassisch“ geltenden Themengebieten der Parteien- und Elitensoziologie, der Bürokratie-, Parlaments- und Verbändeforschng sowie der politischen Partizipations-, Wahl- und Einstellungsforschung gesellten sich im Laufe der Zeit neue Themengebiete, die auch als Folge sozialen Wandels Eingang in das Themenspektrum der Politischen Soziologie gefunden haben. Dazu zählen zum Beispiel die Werte- und Wertewandelforschung, die Forschung zum Sozialkapital und die Politische Kommunikationsforschung. Vor diesem Hintergrund haben die Herausgeberinnen bei der Konzeption dieses Studienbuches zwei Entscheidungen getroffen. Zum Ersten soll im Folgenden kein weiterer Beitrag in der Debatte um Standortbestimmung und Identitätsfindung der Politischen Soziologie innerhalb, neben oder zwischen Politikwissenschaft und Soziologie geleistet werden. Dazu verweisen wir auf das aktuelle Werk von Leo Kißler (2007) und das viel ältere, aber immer noch lesenswerte Buch von Otto Stammer und Peter Weingart (1972). Unser Anliegen ist es vielmehr, den Studierenden der Politikwissenschaft (aber auch der Soziologie) in den neu geschaffenen BA- und MA-Studiengängen einen ersten Eindruck über den Forschungsstand in den verschiedenen Teildisziplinen der Politischen Soziologie zu vermitteln. Mit einem Überblick über Kernfragen, wichtige Begriffe und Kategorien, Konzepte, Analyseinstrumentarien und zentrale Forschungsergebnisse soll den Studierenden der Zu-
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gang zu dem faszinierenden Themen- und Forschungsfeld der Politischen Soziologie erleichtert und ihre Neugier daran geweckt werden. Die Ausdifferenzierung der Politischen Soziologie und ihre Konzentration auf die Methoden der empirischen Sozialforschung haben zu einer erheblichen Professionalisierung und zu einem beeindruckenden theoretisch-konzeptionellen und methodologischen Kompetenzzuwachs innerhalb ihres breiten Themenspektrums beigetragen. In der immer stärker arbeitsteilig organisierten Politischen Soziologie haben sich seit Längerem Experten und Spezialisten herausgebildet, die ihre Forschungsschwerpunkte in bestimmten Unter-Disziplinen der Politischen Soziologie gefunden haben. Deshalb haben die Herausgeberinnen zum Zweiten beschlossen, diese geballte Kompetenz zu nutzen. Wir haben demzufolge ausgewiesene Kenner ihres Gebietes darum gebeten, an diesem Studienbuch mitzuwirken. Es handelt sich bei diesem Lehrbuch also um ein Gemeinschaftswerk in bester Tradition. Dafür sei an dieser Stelle allen mitwirkenden Autoren herzlich gedankt! Unser Dank gilt aber ebenso Monika Kabas und Frank Schindler vom VS Verlag für Sozialwissenschaften. Ohne Frank Schindlers Begeisterung für das Projekt und ohne die Tatkraft von Monika Kabas würde dieses Studienbuch noch immer darauf warten, endlich seinen Weg ins Buchregal zu finden.
Literatur Alemann, Ulrich von, 1998: Wem gehört die Politische Soziologie? Die Brücke zwischen Politikwissenschaft und Soziologie, in: Soziologie 27 (2), 5-16. Bach, Maurizio, 2004: Denken Soziologen anders über Politik als Politikwissenschaftler? Zur Eigenständigkeit der Politischen Soziologie, in: Soziologie 33 (2), 17-34. Beetham, David, 1994: Defining and Measuring Democracy, London: Sage Publications. Beetham, David, 2004: Towards a Universal Framework for Democracy Assessment, in: Democratization 11, 1-17. Bellers, Jürgen/Kipke, Rüdiger, 2006: Einführung in die Politikwissenschaft, München/Wien: Oldenbourg. Böhnisch, Lothar, 2006: Politische Soziologie. Eine problemorientierte Einführung, Opladen: Verlag Barbara Budrich. Borchert, Jens, 2004: Identität kontra Interdisziplinarität? Die Politische Soziologie und der fatale Hang zur Abgrenzung, in: Soziologie 33 (4), 28-35. Bühlmann, Marc/Merkel, Wolfgang/Müller, Lisa/Weßels, Bernhard, 2008: Wie lässt sich Demokratie am besten messen? Zum Forumsbeitrag von Thomas Müller und Susanne Pickel, in: Politische Vierteljahresschrift 49, 114-122. Carrier, Martin, 2006: Wissenschaftstheorie zur Einführung, Hamburg: Junius. Diamond, Larry/Morlino, Leonardo, 2004: The Quality of Democracy. An Overview, in: Journal of Democracy 15, 20-31. Ebbighausen, Rolf, 1981: Politische Soziologie. Zur Geschichte und Ortsbestimmung, Opladen: Westdeutscher Verlag. Faulks, Keith, 1999: Political Sociology. A Critical Introduction, New York: New York University Press. Hall, Peter A./Taylor, Rosemary C. R., 1996: Political Science and the Three New Institutionalisms, in: Political Studies XLIV, 936-957. Immergut, Ellen, 1998: The Theoretical Core of the New Institutionalism, in: Politics & Society 26, 5-34.
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Viktoria Kaina und Andrea Römmele
Kaina, Viktoria, 2008: Die Messbarkeit von Demokratiequalität als ungelöstes Theorieproblem. Zum PVS-Forums-Beitrag von Marc Bühlmann, Wolfgang Merkel, Lisa Müller und Bernhard Weßels, in: Politische Vierteljahresschrift 49 [im Erscheinen]. Kaiser, André, 1997: Types of Democracy. From Classical to New Institutionalism, in: Journal of Theoretical Politics 9, 419-444. Kaiser, André, 2001: Die politische Theorie des Neo-Institutionalismus: James March und Johan Olsen, in: Brodocz, André/Schaal, Gary S. (Hrsg.): Politische Theorien der Gegenwart II, Opladen: Leske+Budrich, 253-282. King, Ronald F./Marian, Cosmin Gabriel, 2008: Defining Political Science: A Cross-National Survey, in: European Political Science 7 (2), 207-219. Kißler, Leo, 2007: Politische Soziologie, Konstanz: UVK. Klingemann, Hans-Dieter, 2007: A Comparative Perspective on Political Science in Western Europe around the Year 2005, in: Klingemann, Hans-Dieter (Hrsg.): The State of Political Science in Western Europe, Opladen/Farmington: Barbara Budrich Publishers, 13-40. Klingemann, Hans-Dieter, 2008: Capacities: Political Science in Europe, in: West European Politics 31 (12), 370-396. Koelble, Thomas A., 1995: The New Institutionalism in Political Science and Sociology, in: Comparative Politics 27, 231-243. Kuhn, Thomas S., 1976: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2., revidierte und ergänzte Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp. Lauth, Hans-Joachim, 2004: Demokratie und Demokratiemessung. Eine konzeptionelle Grundlegung für den interkulturellen Vergleich, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Lauth, Hans-Joachim, 2006: Die Qualität der Demokratie im internationalen Vergleich – Probleme und Entwicklungsperspektiven, in: Pickel, Gert/Pickel, Susanne (Hrsg.): Demokratisierung im internationalen Vergleich. Neue Erkenntnisse und Perspektiven, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 89-110. Lenk, Kurt, 1982: Politische Soziologie. Strukturen und Integrationsformen der Gesellschaft, Stuttgart: Kohlhammer. March, James G./Olsen, Johan P., 1984: The New Institutionalism: Organizational Factors in Political Life, in: American Political Science Review 78, 734-749. Meuser, Michael, 2003: Politische Soziologie – Ortsbestimmungen und aktuelle Forschungsgebiete, in: Soziologie 32 (1), 48-65. Müller, Thomas/Pickel, Susanne, 2007: Wie lässt sich Demokratie am besten messen? Zur Konzeptqualität von Demokratie-Indizes, in: Politische Vierteljahressschrift 48, 511-539. Naßmacher, Hiltrud, 2004: Politikwissenschaft, München/Wien: Oldenbourg. Newton, Kenneth/Vallès, Josep M. (Hrsg.), 1991: Political Science in Western Europe. Special Issue of the European Journal of Political Research 20. Pappi, Franz Urban, 2002: Politische Soziologie, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Kleines Lexikon der Politik, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 396. Peters, Guy B., 1999: Institutional Theory in Political Science: The ‘New Institutionalism’, London/New York: Pinter. Peters, Guy B., 2005: Institutional Theory in Political Science: The ‘New Institutionalism’, 2. Aufl., London/New York: Continuum. Quermonne, Jean-Louis (Hrsg.), 1996: La Science Politique en Europe: Formation, Coopération, Perspetives. Rapport Final. Projet realise avec le soutien de la Commission Européenne (DG XII), Paris: Institut d’Ètudes Politiques de Paris. Röhrich, Wilfried, 1977: Politische Soziologie, Stuttgart et al.: Kohlhammer. Sartori, Giovanni, 1997: Demokratietheorie, Darmstadt: Primus Verlag.
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Schiller, Theo, 1997: Politische Soziologie, in: Mohr, Arno (Hrsg.), Grundzüge der Politikwissenschaft, 2. Aufl., München/Wien: Oldenbourg, 413-485. Schüttemeyer, Suzanne S., 2007: The Current State of Political Science in Germany, in: Klingeman, Hans-Dieter (Hrsg.): The State of Political Science in Western Europe, Opladen/Farmington: Barbara Budrich Publishers, 163-186. Stammer, Otto/Weingart, Peter, 1972: Politische Soziologie, München: Juventa.
Politische Kultur Oscar W. Gabriel
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Einleitung: Politische Kultur – Die Entstehung eines Konzepts
1 Einleitung: Politische Kultur – Die Entstehung eines Konzepts Mit der Reformation, der Aufklärung und der industriellen Revolution entwickelten sich die Städte zu Zentren des politischen Lebens. Parlamente, Parteien, Verbände und Zeitungen verschafften sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ihren Platz in der Politik. Herrschaftspositionen wurden nicht mehr vererbt, sondern durch Volkswahlen auf Zeit vergeben. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war der Demokratisierungsprozess in vielen europäischen Ländern zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Auch wenn die Erfolge des Kommunismus (1917), des Faschismus (1922) und des Nationalsozialismus in den großen europäischen Staaten zunächst einen Rückschlag auf dem Weg zu einer demokratischen Staatengemeinschaft bedeuteten, scheint der Siegeszug der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg unaufhaltsam geworden zu sein. Die Errichtung demokratischer Ordnungen in Deutschland, Italien und Japan, das Ende der faschistischen Diktaturen in Spanien, Portugal und den wichtigsten südamerikanischen Staaten sowie der unerwartet schnelle Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa deuten darauf hin, dass die Demokratie aus dem Kampf der Systeme als Sieger hervorgegangen war (vgl. ausführlich: Merkel/ Thiery 2006). Damit bestand die Notwendigkeit, eine Erklärung für den Siegeszug des demokratischen Modells politischer Herrschaft zu finden. Bereits unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann die Politikwissenschaft, sich systematisch mit dieser Frage zu beschäftigen. Hierfür war zunächst die intellektuelle Verarbeitung der unterschiedlichen politischen Entwicklung von Staaten wie England und Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten maßgeblich. Eine ebenso große Rolle als Antriebskraft der empirischen Demokratieforschung spielte allerdings die als „behavioral revolution“ charakterisierte wissenschaftliche Neuausrichtung der Politikwissenschaft, zu deren Errungenschaften auch das Konzept der politischen Kultur gehörte. Es fand sich erstmals 1956 in einem von Gabriel A. Almond veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „Comparative Political Systems“ und wurde von seinem Schöpfer wie folgt charakterisiert: „Every political system is embedded in a particular pattern of orientations to political action. I have found it useful to refer to this as political culture.” (Almond 1956: 396)
In der Folgezeit entwickelte sich die Untersuchung der politischen Kultur zu einem der wichtigsten politikwissenschaftlichen Forschungsfelder und brachte eine Vielzahl konzeptueller und empirischer Studien hervor (Almond 1987). Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, die Bedeutung des Konzepts der politischen Kultur für die moderne Politikwissenschaft aufzuzeigen und zu diskutieren. Dies geschieht in den folgenden Schritten. Am Be-
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Oscar W. Gabriel
ginn steht ein kurzer Überblick über die intellektuellen Vorläufer der Political CultureForschung. Im Anschluss daran stelle ich den klassischen Ansatz der Political CultureForschung vor und gehe auf seine Stärken und Schwächen ein. Dem folgen Hinweise auf die Weiterentwicklung des ursprünglichen Ansatzes in der Werteforschung, der Sozialkapitalforschung und der politischen Psychologie. Der Beitrag schließt mit einigen Feststellungen über die Möglichkeiten und Grenzen der aktuellen Political Culture-Forschung.
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Vorarbeiten zur Political Culture-Forschung
Auch wenn sich der Begriff der politischen Kultur erst nach dem Zweiten Weltkrieg in der politikwissenschaftlichen Forschung durchsetzte, ist der durch ihn bezeichnete Gegenstand nicht neu. Bereits Plato und Aristoteles beschäftigten sich mit der Bedeutung der Bürgertugenden für das Funktionieren von Verfassungen. Seither sind ähnliche Überlegungen in der politischen Ideengeschichte immer wieder zu finden, etwa in den liberalen Theorien des Herrschaftsvertrags, bei Jean Jacques Rousseau oder bei Alexis de Tocqueville. Mit der Kulturanthropologie, der Völkerpsychologie und der Nationalcharakterforschung entstanden im 19. Jahrhundert Disziplinen, die sich mit der Beschreibung der Lebensstile und Weltsichten von Gruppen und Nationen beschäftigten (Almond 1989). Die wichtigsten theoretischen und konzeptuellen Vorarbeiten zur Analyse der politischen Kultur stammen jedoch aus der modernen soziologischen Theorie, der (behavioralistischen) politischen Psychologie und der Wahlverhaltensforschung. Mit dem Interesse an den Gesetzmäßigkeiten im gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen hatte der soziologische Positivismus des 19. Jahrhunderts einen grundlegend neuen Zugang zur Analyse gesellschaftlicher Probleme geschaffen. Neben die traditionelle, historisch-sinnverstehende Forschungsmethode trat ein am Erkenntnisideal der Naturwissenschaften ausgerichtetes Verständnis von Sozialwissenschaften. Als Ziel der sozialwissenschaftlichen Forschung wurde es betrachtet, in Gesellschaft und Politik auftretende Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge mittels empirischer Methoden zu untersuchen. Da dies – anders als in den Naturwissenschaften – nicht durch Experimente zu realisieren war, entwickelte John Stuart Mill die vergleichende Methode (Konkordanz- und Differenzmethode) als quasiexperimentelles Vorgehen bei der Prüfung sozialer und politischer Gesetzmäßigkeiten. Unter den Bezeichnungen „most similar cases design“ und „most dissimilar cases design“ spielen diese Methoden auch heute noch eine wichtige Rolle in der vergleichenden Politikwissenschaft (Kropp/Minkenberg 2005). Die Untersuchung der Bedeutung der Kultur für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen gehörte zu den wichtigsten Themen der soziologischen Theorie Max Webers und Talcott Parsons’. Max Weber hatte in seinen religionssoziologischen Schriften auf die Bedeutung der protestantischen Ethik für das Entstehen einer modernen Wirtschaftsform aufmerksam gemacht. Unmittelbar zu den Fragestellungen der Political Culture-Forschung führte Webers Herrschaftssoziologie, welche die Bedeutsamkeit der politischen Überzeugungen der Bevölkerung für die Legitimität einer Herrschaftsordnung zum Thema hatte.
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Von Talcott Parsons übernahm die Political Culture-Forschung den Kulturbegriff und die Annahmen über die gesellschaftliche Funktion der Kultur. Den Begriff „Kultur“ benutzten Parsons und Edward Shils (1962: 7) in zwei Bedeutungsvarianten, die sie als kulturelle Objekte einerseits und kulturelle Orientierungen auf der anderen Seite bezeichneten. Zu den kulturellen Objekten zählt man sinnstiftende Symbole wie die Nationalflagge, die Nationalhymne, Nationalfeiertage, die Verfassung, bedeutsame historische Ereignisse, Gebäude oder Denkmäler usw. (Dittmer 1977). Da diese kulturellen Objekte nur durch menschliche Interpretationsleistungen einen Sinn für einzelne Personen und Gruppen erhalten, gehören zur Kultur auch die auf kulturelle Objekte bezogenen Einstellungen der in einer Gesellschaft lebenden Menschen. Die Kultur umfasst demnach das Wissen um die Bedeutung von Symbolen, das Gefühl der Verbundenheit mit diesen Symbolen und die Anerkennung kultureller Werte als Grundlage des Zusammenlebens von Menschen in einer Gemeinschaft (Vorstellungen von einer guten Gesellschaft). Für die Political Culture-Forschung waren Parsons’ Arbeiten noch in einer zweiten Hinsicht wichtig. Er betrachtete das Kultursystem als das Steuerungszentrum eines jeden Sozialsystems, also auch der Gesellschaft und des politischen Systems. Im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung erfüllt es nach Parsons die Aufgaben der Strukturerhaltung und Konfliktregulierung. Es enthält all jene Werte, Normen, Verfahrensregeln und Identifikationsangebote, die es Menschen mit konkurrierenden Interessen ermöglichen, sich als Mitglieder einer Gemeinschaft zu fühlen. Auf diese Weise wird die Kultur zum sinnund identitätsstiftenden Teilsystem der Gesellschaft, das den Menschen in einer sich verändernden Welt Leitlinien für ihr Handeln vermittelt. Dadurch verleiht die Kultur der Gesellschaft zugleich ein gewisses Maß an Stabilität. Weitere Impulse für die Erforschung der Beziehungen der Menschen zur Politik kamen aus der politischen Psychologie, die seit den 1930er Jahren eine zunehmend wichtige Rolle im Forschungsbetrieb spielte. In diesem Zusammenhang waren vor allem zwei Forschungsrichtungen bedeutsam. Der psychologische Behavioralismus führte das Konzept der Einstellung in die Erklärung des menschlichen Verhaltens ein und entwickelte die dazu benötigten Forschungsmethoden. Die psychoanalytische Persönlichkeitsforschung als ein zweiter Zweig der modernen Psychologie beschäftigte sich mit den für die Persönlichkeitsbildung maßgeblichen Einflussfaktoren (Sullivan et al. 2002). Für die empirische Forschungspraxis war die Einstellungsforschung der weitaus bedeutsamere Zweig. Ihre Fragestellungen, Konzepte und Methoden gelangten auf dem Weg über die in den 1940er Jahren entstehende empirische Wahlforschung in die Analyse politischer Kultur.1 Anlässlich der amerikanischen Präsidentschaftswahl 1940 fand unter der Leitung von Paul F. Lazarsfeld die erste große empirische Wahlstudie statt. In ihr kamen erstmals die Techniken der empirischen Umfrageforschung und der statistischen Datenanalyse zum Einsatz (Lazarsfeld et al. 1944). Die 1952 und 1956 von Angus Campbell et al. durchgeführten nationalen Wahlstudien in den Vereinigten Staaten knüpften an die von Lazarsfeld et al. begründete Forschungstradition an. Sie dienten als Vorbilder für die Wahlforschung in anderen demokratischen Staaten und gewannen einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Methoden und Konzepte der Political Culture-Forschung (Campbell et al. 1
Zur Wahlforschung vgl. auch den Beitrag von Harald Schoen in diesem Band.
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Oscar W. Gabriel
1954; Campbell et al. 1960). Die im Rahmen der Wahlforschung entwickelten Methoden zur Gewinnung repräsentativer Bevölkerungsstichproben, der Datenerhebung und der statistischen Datenanalyse bildeten unverzichtbare Voraussetzungen für die Etablierung der Political Culture-Forschung (zur Vorgeschichte der Political Culture-Forschung: Almond 1989). Abbildung 1:
Vorläufer der Political Culture-Forschung
Quelle: Eigene Darstellung.
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Der klassische Ansatz der Political Culture-Forschung
3.1 Das Ziel: Die Erklärung der Stabilität politischer Systeme Als Pionierstudie auf dem Gebiet der Political Culture-Forschung gilt das von Gabriel A. Almond und Sidney Verba (1963) publizierte Werk „The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations“2. Der Buchtitel enthielt eine klare Aussage über das Programm dieses neuen Forschungszweiges, dem es darum ging, den Beitrag der politischen Kultur zur Stabilisierung der Demokratie zu klären: „Is there a democratic political culture – a pattern of political attitudes that fosters democratic stability, that in some way fits the democratic political system?“ (Almond/ Verba 1989a: 337-338)
2 Alle folgenden Verweise beziehen sich auf den 1989 veröffentlichten Wiederabdruck der Taschenbuchausgabe von 1965.
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Die Tatsache, dass die empirische Forschung in den beiden ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihr Interesse an den kulturellen Voraussetzungen der Stabilität von Demokratien entdeckte, war kein Zufall. Sie spiegelte die politische Entwicklung der großen europäischen Staaten im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider. Wenn zwischen 1919 und 1945 in Staaten mit einem ähnlich hohen sozioökonomischen Entwicklungsniveau stabile Demokratien (Großbritannien, Schweiz, Schweden), instabile Demokratien (Frankreich) und totalitäre Regime (Deutschland) existierten, musste die Frage nach den für diese Unterschiede maßgeblichen Ursachen gestellt werden. In seiner Studie „Political Man“ hatte Seymour Martin Lipset (1959: 64-86) einen Versuch unternommen, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Seinen Überlegungen zu Folge waren es die Legitimitätsüberzeugungen der Bürger, die in Krisensituationen als Stabilisierungsfaktoren der Demokratie wirkten. Allerdings hatte er diese Annahme nicht durch empirische Daten belegt. In „The Civic Culture“ versuchten Almond und Verba (1989a: 360-365) nunmehr erstmals, einen empirischen Nachweis dafür zu führen, dass die Bürger stabiler Demokratien wie Großbritannien und den Vereinigten Staaten andere Einstellungen aufwiesen als die in instabilen politischen Systemen (Deutschland und Italien) lebenden Menschen. Nur, wenn die politische Kultur eines Landes zu seinen politischen Strukturen passe, sei auf Dauer mit stabilen politischen Verhältnissen zu rechnen. Der Einfluss der politischen Kultur auf die Systemstabilität lässt sich mit Lucian W. Pye (1968: 218) durch die verhaltenssteuernde Funktion der politischen Kultur begründen. Sie enthält die Ziele und Regeln, die als allgemein anerkannte Prinzipien das Verhalten der in einer politischen Gemeinschaft lebenden Menschen steuern. Auf dem Weg über das (kollektive, OWG) politische Verhalten der Bürger beeinflusst die politische Kultur die politische Struktur. Sofern die politische Kultur zur politischen Struktur passt, stabilisiert sie das politische System. Bei einem „misfit“ von politischer Kultur und politischer Struktur entsteht politische Instabilität (Almond/Verba 1989a: 30-35, 41-44, 337-374). Die Grundhypothese der klassischen Political Culture-Forschung lautet demnach: Wenn die politische Kultur und die politische Struktur zueinander passen, dann ist ein politisches System stabil.
Um die Stabilität von Demokratien erklären zu können, muss man folglich die Eigenschaften der zur Demokratie passenden politischen Kultur bestimmen und ihre Verbreitung in den betreffenden Gesellschaften untersuchen.
3.2 Konzept, Dimensionen, Ideal- und Realtypen – Politische Einstellungen, politische Kultur und Civic Culture Der erste Schritt auf dem Weg zu einer kulturalistischen Theorie demokratischer Stabilität war die Formulierung eindeutiger, in der empirischen Forschung verwendbarer theoretischer Konzepte. Welche konkreten Sachverhalte bezeichnet also der Begriff der politischen Kultur und durch welche Eigenschaften zeichnet sich die politische Kultur der Demokratie
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aus? Die klassische Definition des Begriffs politische Kultur stammt von Almond und Verba (1989a: 13) und lautet: „The political culture of a nation is the particular distribution of patterns of orientation towards political objects among the members of the nation.“
Sie enthält die folgenden, für eine Beschreibung politischer Kulturen wichtigen Elemente: Die politische Kultur ist ein Merkmal einer Nation3. Sie setzt sich aus individuellen Einstellungen zusammen, die sich auf politische Objekte beziehen und ein gewisses Ausmaß an Verflechtung, Ordnung und Dauerhaftigkeit („pattern“) aufweisen. Die in einer politischen Gemeinschaft feststellbaren Einstellungen der Bürger sind nicht einheitlich, sondern weisen gewisse Unterschiede auf („distribution“). Die Aussagen der Political Culture-Forschung beziehen sich somit immer auf Kollektive, in der vergleichenden Politikwissenschaft also vornehmlich auf Nationen. Informationen über die Eigenschaften der politischen Kultur gewinnt man allerdings durch die Erhebung individueller Einstellungen zur Politik. Der als Grundlage der Political Culture-Forschung benutzte Einstellungsbegriff bezeichnet die nicht unmittelbar beobachtbare Neigung von Individuen, auf konkrete Objekte kognitiv, gefühlsmäßig oder wertend zu reagieren (vgl. auch die etwas spezifischeren, aber problematischen Definitionen durch Eagly/Chaiken 1993: 1). Politische Einstellungen beziehen sich auf politische Objekte (Symbole, Situationen, Akteure, Handlungen). Als politische Einstellungen bezeichnet man nicht direkt beobachtbare Neigungen von Individuen, auf politische Sachverhalte kognitiv und/oder wertend zu reagieren.
Durch die Zusammenfassung individueller Einstellungen ergibt sich die politische Kultur des Kollektivs. Diese umfasst vor allem diejenigen Einstellungen, die den Mitgliedern einer Gemeinschaft gemeinsam sind. Sie bringen die integrierende Funktion der politischen Kultur zum Ausdruck und machen die Identität der politischen Gemeinschaft aus (Verba 1965: 525526). Um von der Beobachtung individueller politischer Einstellungen zu Aussagen über die politische Kultur eines Landes zu kommen, entwickelten Almond und Verba (1989a: 13-30) ein Beschreibungsraster, das auf den wichtigsten Bestandteilen ihrer Definition politischer Kultur aufbaute. Es handelt sich dabei um die Objekte, auf welche sich die Einstellungen beziehen, die Funktion und die Richtung der Einstellungen. Als Einstellungsobjekte betrachten Almond und Verba das politische System, die Rolle des Bürgers als Teilnehmer am politischen Leben, die Input- (Willensbildungs-) und Output- (Entscheidungs-, Durchsetzungs-) Strukturen und Prozesse. In einer späteren Arbeit vereinfachte Almond (1989: 28) diese Überlegungen und nahm eine Unterscheidung zwischen den drei Einstellungsobjekten System (Polity), politische Prozesse (Politics) und materielle Politikinhalte (Policy) vor. Ihrer Richtung nach können Einstellungen zustimmend, neutral oder ablehnend sein, ihre Funktion lässt sich danach unterscheiden, ob sie der Wahrnehmung oder Bewertung von Objekten dienen. 3 In der Forschung besteht Übereinstimmung darin, dass auch Gemeinden, Regionen, Organisationen oder Großgruppen eine gemeinsame Kultur aufweisen können.
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Auf der Grundlage einer Kombination von Orientierungsarten und -objekten hatten Almond und Verba (1989a: 16) drei „reine“ Typen politischer Kultur bestimmt und diese als „parochial“, „subject“ und „participant“ bezeichnet. In parochialen politischen Kulturen ist keine der vier politischen Objektklassen (System, Bürger, Input, Output) im Bewusstsein der Bevölkerung gegenwärtig. Die Menschen nehmen die Politik nicht als eigenständigen Lebensbereich wahr und demzufolge spielt sie für ihr Leben keine Rolle. In der Untertanenkultur sind den Bürgern alle Aspekte der politischen Wirklichkeit präsent, sie entwickeln aber nur zum System und zu den Outputs (Inhalt, Träger, Prozesse) bewertende Beziehungen. In der partizipativen politischen Kultur kommen Bewertungen der Input-Aspekte des politischen Lebens und der Rolle des Individuums als Teilnehmer am politischen Leben hinzu. Eine positive Bewertung aller politischen Objekte kennzeichnet eine Kongruenz von politischer Kultur und politischer Struktur („allegiance“). Gleichgültigkeit („apathy“) oder Ablehnung bzw. Entfremdung („alienation“) deuten auf eine Inkongruenz von politischer Kultur und politischer Struktur hin. Abbildung 2:
Typisierung politischer Kulturen nach Almond/Verba
System
Inputs (Willensbildung)
Outputs (Entscheidung)
Individuum als Teilnehmer am politischen Leben
keine Einstellungen
keine Einstellungen
keine Einstellungen
keine Einstellungen
Obrigkeitlich
Wahrnehmung und Bewertungen
keine Einstellungen
Wahrnehmung und Bewertungen
keine Einstellungen
Partizipativ
Wahrnehmung und Bewertungen
Wahrnehmung und Bewertungen
Wahrnehmung und Bewertungen
Wahrnehmung und Bewertungen
Objekt Typ
Parochial
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Almond/Verba (1989a: 16)
Die drei Idealtypen politischer Kultur bildeten die Grundlage für die weiteren Überlegungen über die Bedeutung der politischen Kultur als Stabilisierungsfaktor eines politischen Systems. Nach Almond und Verba passt zu jedem dieser Typen politischer Kultur ein bestimmtes politisches System. Wenn dieser „fit“ von politischer Kultur und politischer Struktur vorliegt, ist ein politisches System stabil, denn es findet die Zustimmung der Mitglieder der politischen Gemeinschaft. Der parochialen politischen Kultur entspricht nach Almond/ Verba (1989a: 16-19) ein traditionelles politisches System vom Typus einer afrikanischen Stammesgesellschaft. Die Untertanenkultur bildet die Basis eines autoritären politischen Systems, wie es nach der Auffassung mancher Beobachter bis zum Jahr 1917 in Preußen existiert hatte.
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Abbildung 3:
Oscar W. Gabriel Die Entwicklung der Civic Culture
Quelle: eigene Darstellung.
In der Abfolge von Modernisierungsschritten läge es nahe, die partizipative politische Kultur als Grundlage der modernen Demokratien zu bezeichnen. Diesen Weg gingen Almond und Verba aber nicht. Sie begnügten sich mit einer knappen und allgemeinen Beschreibung dieses Idealtyps und führten als den einer Demokratie entsprechenden Typ der politischen Kultur die „Civic Culture“ ein. In diesem Realtyp vermischen sich Elemente einer parochialen, obrigkeitlichen und partizipativen Kultur (Almond/Verba 1989a: 30). In einer Konkretisierung dieser noch sehr allgemeinen Beschreibung stellten Almond und Verba das Zusammenspiel von politischer Involvierung (kognitives Engagement und politisches Selbstbewusstsein) und politischer Unterstützung (Zustimmung zu den demokratischen Strukturen, Prozessen und Akteuren) als wichtigste Eigenschaft der Civic Culture dar. Eine solche Balance von Unterstützung („allegiance“, „loyalty“), Aktivismus und Kritikbereitschaft stelle sicher, dass eine Demokratie zugleich den Erfordernissen einer effektiven und einer gegenüber den Bürgern verantwortlichen Herrschaftsordnung genüge. Eine Schlüsselrolle für die Stabilität des politischen Systems schrieben sie der generalisierten Unterstützung des politischen Systems zu, die dieses auch in Krisenzeiten gegen Bedrohungen schütze. Aber auch die Institutionen und Repräsentanten des politischen Systems seien auf politische Unterstützung angewiesen. Nur sie verschaffe der politischen Führung den für ein effektives Handeln erforderlichen Spielraum. Beim Fehlen eines ausreichenden „good will Reservoirs“ sei die Bevölkerung kaum dazu bereit, politische Entscheidungen zu akzeptieren, mit deren Inhalt sie nicht einverstanden ist. Das Gegengewicht zur Unterstützung bilde die politische Involvierung. Sie sorge dafür, dass die Bevölkerung das Handeln derer, denen sie die Ausübung politischer Herrschaft anvertraut hat, kritisch und wachsam begleite und aktiv werde, wenn sie dies für notwendig halte (Almond/Verba 1989a: 337-360). Diese beiden Komponenten der politischen Kultur der Demokratie wurden in der Forschung unterschiedlich gut ausgearbeitet und untersucht. Während die wichtigsten Arbeiten über die politische Involvierung außerhalb der Political Culture-Forschung, in der Einstellungs-, Kommunikations-, Partizipations- und Wählerverhaltensforschung, entstan-
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den (Neuman 1986), existiert eine umfangreiche theoretische und empirische Literatur über die Rolle politischer Unterstützung in der politischen Kultur. Die grundlegenden Arbeiten zu diesem Thema stammen von David Easton (1965, 1975), der die politische Unterstützung als einen auf der Verhaltens- und der Einstellungsebene ablaufenden Austauschprozess zwischen dem politischen System und seinen Umwelten beschreibt. Zur politischen Kultur gehören nur die unterstützenden Einstellungen. Im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Stabilität des politischen Systems unterschied Easton diese Formen politischer Unterstützung nach ihrer Art (Motivationsgrundlage) und ihrem Objektbezug. Die Motive, aus denen Individuen politischen Objekten Unterstützung gewähren, könnten entweder in deren speziellen Leistungen (spezifische Unterstützung) oder in deren allgemeinen Eigenschaften (diffuse Unterstützung) begründet sein. Im ersten Fall entstehen positive Einstellungen deshalb, weil ein politisches Objekt vom Bürger positiv bewertete Leistungen erbringt. Im zweiten Fall basieren die positiven Einstellungen auf allgemeinen, von konkreten Leistungen unabhängigen Erwägungen. Ein Objekt wird z.B. als sympathisch und vertrauenswürdig bewertet. Man schätzt es, weil es derselben politischen Gemeinschaft angehört wie man selbst oder man der Auffassung ist, dass die von ihm repräsentierten Werte sich mit den eigenen Wertvorstellungen decken. Adressaten politischer Unterstützung können nach Easton die politische Gemeinschaft (Nation, Gemeinde), das politische Regime (die gesamte politische Ordnung, die Verfassung, die politischen Institutionen und Verfahrensregeln) sowie die amtierenden Inhaber politischer Führungspositionen sein. Seiner Auffassung nach kann sich die diffuse Unterstützung auf alle drei Objekte, die spezifische Unterstützung dagegen nur auf die amtierenden Autoritäten richten. Neben den Arbeiten von Almond, Verba und Easton, welche die theoretische Basis für die empirische Analyse der politischen Kultur moderner Demokratien schufen, sind vor allem die Beiträge Pyes (1965, 1968) zu erwähnen. Sie unterscheiden sich nur in Nuancen, aber nicht in der Grundkonzeption und in den maßgeblichen Hypothesen, von den Überlegungen Almonds und Verbas. Gemeinsam ist allen diesen Forschern die Sichtweise der politischen Kultur als „psychologische Dimension der Politik“.
3.3 Die Eigenschaften der politischen Kultur der Demokratie Aus der Typologie politischer Kulturen ergeben sich einige Hinweise darauf, welche Einstellungen die politische Kultur der Demokratie ausmachen. Wie gezeigt wurde, nehmen die politische Involvierung und die politische Unterstützung in dieser Hinsicht eine Schlüsselrolle ein. Sie bilden die Grundlage für die Beschreibung der politischen Kultur der Demokratie, müssen aber durch andere Attribute ergänzt werden. Da die hierzu vorliegenden theoretisch-konzeptuellen Überlegungen sehr abstrakt blieben und – abgesehen von den einflussreichen Arbeiten Eastons – für die empirische Forschung relativ unergiebig waren (vgl. als Beispiel: Pye 1968: 221-224), ist es sinnvoller, die Eigenschaften der politischen Kultur der Demokratie aus den in der empirischen Forschung konkret untersuchten Einstellungen herauszufiltern. Almond und Verba hatten in „The Civic Culture“ die folgenden Einstellungen als Beschreibungsmerkmale einer politischen Kultur der Demokratie eingeführt, sie aber nicht klar mit dem Gesamtkonzept verbunden:
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Oscar W. Gabriel politische Kognitionen: Wissen, Informationsbeschaffung, Einschätzung der Bedeutsamkeit der Politik für das eigene Leben und das der politischen Gemeinschaft, positive Gefühle gegenüber dem politischen System (Stolz auf nationale Errungenschaften), den Output Institutionen (Erwartung einer fairen Behandlung durch Polizei und Behörden) und den Input Prozessen (Gefühl, frei mit anderen über Politik kommunizieren zu können), „patterns of partisanship“: gefühlsmäßige Distanz zwischen den Anhängern konkurrierender Parteien bzw. eine offene, gemäßigte Form von Parteibindungen, die Befürwortung eines aktiven sozialen und politischen Engagements als staatsbürgerliche Pflicht (Unterstützung von Partizipationsnormen) und die positive Bewertung der eigenen Chancen, auf politische Entscheidungen oder auf deren Vollzug Einfluss ausüben zu können (Staatsbürger- und Untertanenkompetenz).
Eine engere Verbindung von Theorie und empirischer Forschung finden wir in den Arbeiten über das Konzept der politischen Unterstützung. Easton (1965, 1975) behandelt die Beziehung zwischen den einzelnen Formen politischer Unterstützung ebenso wie ihre Bedeutung für die Stabilität des politischen Systems. Demnach ist die diffuse Unterstützung wichtiger für den Systembestand als die spezifische Unterstützung. Der Unterstützung der politischen Gemeinschaft und des politischen Regimes kommt eine größere Bedeutung zu als positiven Einstellungen zur amtierenden Regierung. In ein empirisches Forschungskonzept übersetzt bedeutet dies: Zu einer demokratischen politischen Kultur gehört eine breite diffuse Unterstützung der Demokratie als Modell staatlicher Ordnung und der Nation als moderner Ausdrucksform einer politischen Gemeinschaft. Einer weniger breiten diffusen Unterstützung bedarf die amtierende Regierung und noch geringer kann deren leistungsabhängige, spezifische Unterstützung ausfallen (vgl. auch die Weiterentwicklung des Konzepts durch Gabriel 1986; Fuchs 1989; Westle 1989). Auf der Grundlage der Arbeiten Eastons entstand eine breite, international vergleichende und auf einzelne Nationen bezogene empirische Forschung über die folgenden Aspekte des Verhältnisses der Bürger zur Politik: die Bindung an die Nation (diffuse Unterstützung der politischen Gemeinschaft); die Unterstützung der Demokratie als Ordnungsmodell und der für sie typischen Werte und Verfahren (diffuse Unterstützung des politischen Regimes), das Vertrauen zu den politischen Institutionen und zu den Inhabern politischer Führungspositionen (Übergangsbereich zwischen Regime und Autoritäten), die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der in einem Lande bestehenden Demokratie (spezifische Unterstützung des politischen Regimes), mit den Leistungen der politischen Führung und einzelner politischer Führer (spezifische Unterstützung der politischen Führung) sowie mit den vom politischen System produzierten Outputs und den von diesen ausgelösten Outcomes. Die Relevanz dieser Unterscheidungen für das Verhältnis der Bürger zur Politik wurde mehrfach empirisch belegt (z.B. Klingemann/Fuchs 1995; Norris 1999a; Gabriel et al. 2002; Dalton 2004).
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3.4 Kritik Ungeachtet einiger Schwächen gehört „The Civic Culture“ zu den großen Werken der Politikwissenschaft. Die Studie erschloss für die international vergleichende Forschung ein neues, wichtiges Themenfeld, dessen Relevanz nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa erneut deutlich wurde. Sie lieferte ein Beispiel für den Ertrag einer Öffnung der Politikwissenschaft zu methodisch weiter fortgeschrittenen Disziplinen, insbesondere zur Soziologie und zur Psychologie, sie etablierte die Einstellungsforschung als wichtiges Teilgebiet der Politikwissenschaft, sie stellte eine inhaltliche Verbindung von Mikro- (Einstellungs- und Verhaltensforschung) und Makroanalyse (Demokratieforschung) her, sie verdeutlichte die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung der Umfrageforschung in der vergleichenden Politikwissenschaft und gab den Anstoß für zahlreiche Folgestudien, teils auf dem Gebiet der nationalen und teils auf dem Gebiet der international vergleichenden Einstellungsforschung. Dass ein neues Forschungskonzept nicht allein auf Zustimmung, sondern auch auf Kritik stößt, versteht sich fast von selbst (vgl. auch: Reisinger 1995; Pickel/Pickel 2006: 101-146; Westle 2006: 273-277). Schon früh entstanden Arbeiten, die sich gegen die psychologische Verengung des Political Culture-Konzeptes auf politische Einstellungen wandten. Unter Berufung auf die Kulturanthropologie bzw. das Kulturkonzept Parsons’ forderten sie eine Erweiterung, wenn nicht gar eine völlige Revision des Kulturbegriffes von Almond und Verba. In erster Linie ging es darum, diejenigen Komponenten aufzunehmen, die Parsons als „kulturelle Objekte“ bezeichnet hatte, politische Symbole und Artefakte wie Flaggen, Hymnen, Gebäude, politische Ereignisse und die Inhalte politischer Kommunikation (Devine 1972; Dittmer 1977; Rohe 1994). Übersehen wurde dabei allerdings, dass diese Sachverhalte ohne weiteres in das von Almond und Verba entwickelte Konzept integriert werden können, weil es sich um kulturelle Objekte handelt, auf die sich politische Orientierungen richten. Ungeachtet ihrer Bedeutung innerhalb der Kultur einer Gesellschaft müssen politische Symbole und Artefakte von Individuen wahrgenommen, bewertet und interpretiert werden, um eine Bedeutung für das Zusammenleben von Menschen zu erhalten. Ein zweiter – schwerer wiegender – Einwand richtete sich gegen die unklare Beschreibung der Eigenschaften der Civic Culture (Lijphart 1989; Reisinger 1995: 334-336). Zwar lieferten Almond und Verba eine überzeugende, aus den Funktionsprinzipien der Effektivität, der Legitimität und der Responsivität abgeleitete Begründung ihrer Darstellung der politischen Involvierung und der politischen Unterstützung als Kernelemente der politischen Kultur der Demokratie. Auf die von ihnen selbst gestellte Frage nach dem Inhalt dessen, „what has to be diffused“ und nach dem „how much of what must be present in a country“ (Almond/Verba 1989a: 8) blieben sie eine Antwort schuldig. Die Beziehung zwischen den konkret untersuchten Einstellungen und dem Konzept der Civic Culture war von Anfang an unklar und ist es auch heute noch. Hieraus ergeben sich zwei Folgeprobleme, die das Konzept seiner Erklärungskraft berauben. Erstens ist unklar, welche konkreten Eigenschaften eine demokratische politische Kultur ausmachen und zweitens bleibt offen, wie weit verbreitet diese Eigenschaften in einer politischen Gemeinschaft sein müssen, damit von einer Kongruenz von politischer Kultur und politischer Struktur die Rede ein kann.
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Ebenso wichtig wie die Kritik an der fehlenden Verbindung zwischen den untersuchten Einzeleinstellungen und dem Konzept der Civic Culture sind Einwände, die sich auf den ungeklärten Status des Konzeptes politischer Kultur in politikwissenschaftlichen Erklärungszusammenhängen richteten (z.B. Elkins/Simeon 1979; Lijphart 1989; Reisinger 1995: 343-346). Die Civic Culture-Studie hatte das Ziel verfolgt, die Stabilität politischer Ordnungen (abhängige Variable) durch die Kongruenz von individuellen Orientierungen und politischen Strukturen (unabhängige Variable) zu erklären. Dieses Anliegen wirft einige Folgeprobleme auf, weil die damit unterstellte Ursache-Wirkungs-Beziehung nicht eindeutig ist (Rohrschneider 1999: 1-51). Die Erklärung für das Scheitern der Weimarer Republik liefert ein typisches Beispiel für die Verwendung der Kongruenz von politischer Kultur und politischer Struktur als unabhängige und der Stabilität der politischen Ordnung als abhängige Variable. Der Zusammenbruch der Weimarer Republik wird üblicherweise auf die fehlende Kongruenz von demokratischer Verfassung und politischer Kultur zurückgeführt. Es ist aber ebenso plausibel, diese Inkongruenz auf eine unzulängliche Leistungsfähigkeit der politischen Institutionen und damit verbundene Prozesse negativen institutionellen Lernens zurückzuführen. Demnach entwickelte das 1919 in Deutschland eingeführte Institutionensystem nicht die integrative und legitimierende Kraft, die in einer Krisensituation seinen Bestand hätten sichern können. Almond und Verba (1989a: 6-9) selbst liefern Argumente für diese Sichtweise, indem sie das Entstehen einer Civic Culture in England und deren Nichtentstehen in Deutschland auf die divergierenden politischen Entwicklungen beider Länder zurückführen. Die Rolle der politischen Kultur in politikwissenschaftlichen Erklärungszusammenhängen muss noch unter einem anderen Gesichtspunkt beleuchtet werden. Wir können nicht sicher sein, dass der politischen Kultur zugeschriebene Effekte nicht durch andere Sachverhalte bedingt sind. David Elkins und Richard Simeon (1979) sprechen sich in diesem Zusammenhang dafür aus, strukturelle und kulturelle Erklärungen sauber voneinander abzugrenzen und empirisch zu prüfen, welche von beiden für einen bestimmten Systemzustand verantwortlich sind. Ihren Vermutungen zufolge sind vermeintlich kulturelle Effekte häufig auf die Verteilung bestimmter Gruppen in einer Gesellschaft zurückzuführen und verschwinden bei einer Kontrolle struktureller Faktoren. Als Beispiel hierfür nennen sie die Verteilung des Gefühls staatsbürgerlicher Kompetenz in modernen Demokratien, die sie nicht auf länderspezifische kulturelle Traditionen, sondern auf die unterschiedlichen formalen Bildungsniveaus der Bevölkerung der untersuchten Länder zurückführen. Kontrolliere man das Bildungsniveau, dann schwächten sich die Unterschiede deutlich ab. Dieses Argument ist zwar ernst zu nehmen, aber das Beispiel ist schlecht gewählt, denn die Civic Culture-Studie hatte nachgewiesen, dass nationale Unterschiede im Gefühl staatsbürgerlicher Kompetenz auch dann fortbestehen, wenn man Befragte mit einem gleichen Bildungsniveau miteinander vergleicht (Almond/Verba 1989a: 161-185). Zwei weitere Defizite seien abschließend erwähnt: das Fehlen genauer Aussagen über die Bedeutung des politischen Verhaltens als Vermittlungsgröße zwischen der politischen Kultur und der politischen Struktur, und die Vernachlässigung der Rolle politischer Eliten in diesem Beziehungsmuster (vgl. auch: Reisinger 1995: 336, 344).4 In ihrer Darstellung der
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Mehr zur Elitenforschung bei Viktoria Kaina in diesem Band.
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politischen Kultur als Brücke zwischen der mikro- und der makropolitischen Forschung betonten Almond und Verba (1989a: 30-35): „ … we can relate political psychology to political system performance by locating attitudinal and behavioral propensities in the political structure of the system.“ (Hervorh. OWG)
Mit anderen Worten: Die politische Kultur eines Landes wirkt sich nicht unvermittelt auf die Stabilität und Leistungsfähigkeit seines politischen Systems aus. Derartige Konsequenzen treten nur auf, wenn Individuen bestimmte Zustände des politischen Systems als problematisch betrachten, diesen eine Bedeutung für das eigene Leben zusprechen, dazu bereit sind, etwas zu ihrer Beseitigung zu unternehmen und sich zu diesem Zweck mit anderen zusammenschließen. Solche Formen kollektiven Handelns kommen häufig erst dann zustande, wenn politische Eliten es organisieren. Ohne die Existenz der NSDAP und der KPD und die von ihnen betriebene Massenmobilisierung wäre die negative Einstellung der Deutschen zur Weimarer Republik politisch möglicherweise folgenlos geblieben oder hätte ganz andere politische Entwicklungen in Gang gesetzt. Bei einer stärkeren Unterstützung der Weimarer Republik durch die gesellschaftlichen Eliten wäre Hitler unter Umständen nicht durch die Hugenbergpresse und durch eine konservativ-nationalsozialistische Koalition unterstützt und vom Reichspräsidenten zum Kanzler ernannt worden. Die große strategische Bedeutung der Einstellungen und Verhaltensweisen politischer Eliten zeigt sich auch beim Zusammenbruch des Kommunismus. Die Perestroika war ein von einer kleinen Funktionärselite in Gang gebrachter Prozess, der zunächst eine Liberalisierung in der Sowjetunion einleitete und dann Ausstrahlungseffekte auf andere kommunistische Staaten hatte. In der DDR führte dieser Prozess vermutlich vor allem deshalb zum Regimewechsel, weil sich die neu ins Amt gekommene SED-Führung unter Egon Krenz gegen eine gewaltsame Niederschlagung der Bürgerproteste entschied. Hätte eine weiterhin von Honecker geführte Parteielite ähnlich gehandelt? Zwischen der Kongruenz von politischer Kultur und Struktur einerseits und der Stabilität des politischen Systems andererseits liegen demnach zahlreiche Handlungssituationen, in denen Individuen Entscheidungen über ihr Verhalten treffen müssen. In jeder dieser Entscheidungssituationen existieren Alternativen zu der von der Political Culture-Forschung unterstellten quasi automatischen Umsetzung von Orientierungen in Handlungen. Nicht die Verteilung der Einstellungen, sondern die durch sie beeinflussten Formen kollektiven Handelns sind für das Funktionieren und die Stabilität des politischen Systems entscheidend. Die Beziehung zwischen politischer Kultur und politischer Struktur erweist sich somit als viel komplexer als es die klassischen Beiträge zur Political Culture-Forschung erkennen lassen.
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In einer Auseinandersetzung mit dem Stand der Political Culture-Forschung machte William Reisinger (1995: 347) die folgenden ungelösten Probleme aus: (1) Eine unklare Definition des Konzepts; (2) eine unpräzise Festlegung der Trägergruppe der politischen Kultur; (3) eine fehlende Klärung der Beziehung des Konzept politische Kultur zu den es konstituierenden Einzelelementen; (4) die Ableitung des Systemcharakteristikums politische Kultur aus individuellen Einstellungen; (5/6/7) die Formulierung (und Prüfung, OWG) von Hypothesen über die Beziehungen zum individuellen politischen Verhalten, die politischen Institutionen und andere Charakteristika der politischen Ordnung.
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Weiterentwicklungen
Die Veröffentlichung von „The Civic Culture“ schuf ein fruchtbares, neues Forschungsfeld und löste zahlreiche Folgestudien aus. Die theoretische Diskussion über das Konzept der politischen Kultur blieb jedoch bis in die jüngste Zeit unergiebig und wies zwei Tendenzen auf: Einige Forscher unterbreiteten Vorschläge, das zunächst relativ klar definierte Forschungskonzept zu erweitern – um den Preis einer weitgehend beliebigen Verwendung. Andere bemühten sich um eine Weiterentwicklung des von Almond/Verba bzw. von Easton entwickelten Begriffsapparates, aber nicht um die Entwicklung von Erklärungsmodellen (vgl. kritische Bestandsaufnahme des Forschungsstandes durch Kaase 1983). Ein substanzieller Erkenntnisfortschritt kam auf diese Weise nicht zustande. Interessante Beiträge zur Beschreibung und Erklärung der Charakteristika demokratischer politischer Kulturen entstanden zunächst außerhalb der Political Culture-Forschung und waren nicht ausdrücklich mit dieser verbunden. Als Beispiele solch innovativer Forschungsansätze wollen wir in den folgenden Abschnitten die Wertewandel- und Sozialkapitalforschung sowie die neuere politische Psychologie vorstellen.5
4.1 Werte, Wertewandel und politische Kultur: Die Integration zweier Forschungsperspektiven Seit der Mitte der 1960er Jahre zeichnete sich in den westlichen Demokratien ein grundlegender Wandel im Verhältnis der Bürger zur Politik ab, der sich im Aufkommen einer Protestbewegung in Europa, den USA und Japan manifestierte. Offenkundig waren die politisch ruhigen Jahre des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Ende gekommen. Die westlichen Demokratien standen vor der Herausforderung, auf veränderte Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung zu reagieren und es war keineswegs klar, ob und wie sie diesen Wandel bewältigen würden. Krisen- und Regierbarkeitsdebatten wurden zu einer Modeerscheinung der Politikwissenschaft der 1970er Jahre (Crozier et al. 1975).
5 Zur Werteforschung vgl. den Beitrag von Christian Welzel, zur Sozialkapitalforschung siehe Sigrid Roßteutscher in diesem Band.
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Als einer der ersten versuchte Ronald Inglehart (1971) mit seiner „Theorie der Stillen Revolution“ die Veränderung des politischen Lebens in den westlichen Demokratien zu erklären. Die Ursache des Einstellungs- und Verhaltenswandels sah er in einem mit dem Übergang von industriellen zu postindustriellen Gesellschaften verbundenen Prozess des Wertewandels. Zunächst enthielten seine Arbeiten keine direkten Bezüge zur Political Culture-Forschung. Die Relevanz seiner Überlegungen für die Weiterentwicklung dieses Forschungsfeldes wird jedoch klar, wenn man die Rolle von Wertorientierungen im Gesamtzusammenhang der politischen Kultur beleuchtet. Schon in dem von Almond und Verba entwickelten Konzept der politischen Kultur waren Wertorientierungen („evaluative orientations“) enthalten, sie hatten aber bei der Anwendung des Konzepts in der empirischen Forschung keine Rolle gespielt. In der einschlägigen Literatur bezeichnet man Werte als kulturelle Symbole, die einer Gesellschaft ihre Identität verleihen und die Menschen in die gesellschaftliche und politische Gemeinschaft integrieren. Sie verkörpern die von den Mitgliedern eines Gemeinwesens als Grundlage ihres Zusammenlebens akzeptierten Vorstellungen von einer „guten Gesellschaft“ (Kluckhohn 1962: 395). Werte legen die Ziele des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft fest („terminal values“) und definieren die zu deren Erreichung als erlaubt und angemessen eingeschätzten Mittel („instrumental values“, Rokeach 1968). Wenn ein Mensch die in einer Gesellschaft als verbindlich festgelegten Werte anerkennt und damit zum Teil seines individuellen Orientierungssystems macht, sprechen wir von Wertorientierungen (vgl. auch: van Deth/Scarbrough 1995). Gerade aufgrund ihres abstrakten Charakters finden gesellschaftliche Werte wie Freiheit, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, Solidarität und individuelle Selbstverwirklichung bei den Menschen Anerkennung als Grundlage des Zusammenlebens. Sie sind so allgemein gehalten, dass ihnen fast alle zustimmen können. Gerade deshalb können sie in konkreten Handlungssituationen unterschiedlich interpretiert werden und zur Rechtfertigung des eigenen Denkens und Handelns dienen. Da sie auch bei sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihre Gültigkeit behalten, bilden sie den stabilen, nur schwer zu verändernden Kern der Kultur einer Gesellschaft. Auf der anderen Seite können Werte zueinander in Widerspruch stehen. Deshalb sind Menschen mitunter dazu gezwungen, eine Entscheidung zu treffen, welchen von mehreren für ihr Handeln und Zusammenleben bedeutsamen Werten sie in einer konkreten Entscheidungssituation den Vorrang vor anderen einräumen. Unter anderem auf der Grundlage ihrer Wertorientierungen bilden Menschen ihre Einstellungen zu konkreten politischen Objekten und treffen ihre Entscheidungen zwischen Handlungsalternativen (Sniderman et al. 1996: 235-257). Als politische Wertorientierungen bezeichnen wir die von den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft als gemeinsam anerkannten Vorstellungen von den anzustrebenden Zielen des politischen Zusammenlebens und den zur Erreichung dieser Ziele angemessenen Mitteln. Sie bilden die zentralen und stabilen Elemente des individuellen Orientierungssystems, verleihen der politischen Gemeinschaft ihre Identität, integrieren die Menschen in die politische Gemeinschaft und beeinflussen ihre politischen Einstellungen und Verhaltensweisen.
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Wenn man sich die Funktionen von Werten und Wertorientierungen vor Augen führt, werden die tiefgreifenden Folgen eines Wandels politischer Wertvorstellungen deutlich. Nach Inglehart (1971, 1977, 1990, 1997) setzte in den 1970er Jahren in den westlichen Demokratien ein Prozess ein, in dessen Verlauf traditionelle, materialistische Werte allmählich durch moderne, postmaterialistische Werte verdrängt werden. Zur ersten Gruppe zählt er auf die Existenzsicherung gerichtete Werte wie physische und soziale Sicherheit und materielles Wohlergehen, zur zweiten Gruppe gehören Selbstverwirklichungswerte wie der Wunsch nach mehr politischer Mitbestimmung, nach einer lebenswerten Umwelt und harmonischen sozialen Beziehungen. Auf den ersten Blick liefert Inglehart eine bestechende, in vielen Bereichen der empirischen Forschung brauchbare Erklärung der Veränderung des politischen Lebens in den Demokratien des 20. Jahrhunderts. Seine Theorie der Stillen Revolution leistete einen Beitrag zur Erklärung der Beteiligung an Protestaktionen (Barnes/Kaase et al. 1979), des Engagements in neuen sozialen und politischen Bewegungen (Dalton/Küchler 1990) und der Präferenz für neue, links-alternative Parteien (Dalton et al. 1984). Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang allerdings die Frage, welche Eigenschaften die politische Kultur einer an postmaterialistischen Zielen ausgerichteten Gesellschaft auszeichnen und in welchem Maße diese Kultur dem Leitbild der Civic Culture entspricht. In dieser Frageperspektive wird die Verteilung politischer Einstellungen (ohne Wertorientierungen) nun zur abhängigen Variablen, deren Eigenschaften von den in einer Gesellschaft vorherrschenden Wertvorstellungen bestimmt werden. Schon in seinen frühen Arbeiten formulierte Inglehart Annahmen über die politischkulturellen Wirkungen der Stillen Revolution. In seinen Augen läuft in den westlichen Demokratien parallel zum Übergang von materialistischen zu postmaterialistischen Wertorientierungen ein Prozess „kognitiver Mobilisierung“ ab, in dessen Verlauf die Politik für die Menschen einen höheren Stellenwert erhält (Inglehart 1990: 335-355). Verbindet man dies mit den von Almond und Verba (1989a) angestellten Überlegungen, dann ergibt sich ein noch etwas umfassenderes und differenzierteres Bild. Demnach stärkt der Wertewandel die partizipative Komponente der politischen Kultur. In postmaterialistisch ausgerichteten Gesellschaften interessieren sich die Menschen stärker für politische Angelegenheiten als in von materialistischen Werten dominierten Gesellschaften, ihr politisches Wissen ist umfassender und tiefer, sie sind besser zur Beurteilung politischer Sachverhalte in der Lage und fühlen sich dazu befähigt, ihre eigenen Interessen in der Politik durchzusetzen. Zugleich fühlen sie sich in besonderem Maße demokratischen Prinzipien verpflichtet. Neben diesen demokratiestützenden Effekten des Wertewandels glaubt Inglehart aber auch Einstellungsänderungen entdeckt zu haben, die mit dem von Almond und Verba vorgestellten Typ einer Civic Culture nicht ohne weiteres vereinbar sind. Die begrenzte Möglichkeit, in einer von materialistisch eingestellten Eliten beherrschten Gesellschaft ihre Ziele durchzusetzen und ihre Skepsis gegenüber hierarchischen und auf soziale Kontrolle ausgerichteten Prinzipien begründet bei den Postmaterialisten eine kritische Einstellung zum politischen Status Quo. Dieser manifestiert sich nicht allein in einer Unzufriedenheit mit dem politischen System und den von diesem produzierten Outputs, sondern darüber hinaus in einem tiefen Misstrauen gegenüber hierarchischen, für die Aufgabe der Verhaltenskontrolle und -regulierung zuständigen sozialen und politischen Institutionen, zu denen die
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Polizei, die Gerichte, das Militär und die Kirchen zählen (Inglehart 1979, 1997: 293-323). Insofern würde die Ausbreitung postmaterialistischer Wertorientierungen die partizipative Komponente der politischen Kultur stärken, die regulative, auf das Ziel effektiven Regierens ausgerichtete Komponente aber schwächen. Der Typ des Bürgers, der sich mit dem Übergang von materialistischen zu postmaterialistischen Wertvorstellungen durchsetzte, wurde in der Literatur mit dem Begriff des kritischen Demokraten bezeichnet (Norris 1999b: 7-9, 25-26; Klingemann 1999: 54-56; Gabriel 2000: 50-67). Während Inglehart seine Aufmerksamkeit zunächst den Folgen des Wertewandels für die Einstellungen der Bürger zur Politik widmete, griff er in seinen späteren Arbeiten die traditionellen Fragestellungen der Political Culture-Forschung auf. Insbesondere versuchte er herauszufinden, welche Bedeutung kulturellen Variablen für die Erklärung des Demokratisierungsgrades politischer Systeme zukommt. In einer mehr als 40 Länder umfassenden Makroanalyse wies er einen Effekt kultureller Variablen (interpersonales Vertrauen und persönliches Wohlbefinden) auf die Stabilität und Qualität der Demokratie nach, der allerdings bei einer Kontrolle von Drittvariablen nicht immer erhalten blieb. Das ursprünglich im Zentrum seiner Arbeiten stehende Postmaterialismuskonzept blieb in diesen Erklärungsmodellen unberücksichtigt (Inglehart 1997: 160-215; Inglehart/Welzel 2005). Das große Verdienst Ingleharts liegt darin, die zuvor vernachlässigten politischen Wertorientierungen zu einem Thema der politikwissenschaftlichen Forschung gemacht zu haben. Als Kernelemente der politischen Kultur haben Wertorientierungen einen großen Einfluss darauf, wie Menschen ihre eigene politische Rolle und ihr Verhältnis zu ihrer politischen Umwelt definieren. Ungeachtet dieses wichtigen Beitrags zur Weiterentwicklung der Analyse der politischen Kultur entwickelte sich in der Forschung eine umfassende und intensive Debatte über das Konzept der Stillen Revolution, die nahezu alle Aspekte seiner Theorie und der Messung der Schlüsselvariablen betraf und hier nur in groben Zügen angesprochen werden kann. Kritik richtete sich zunächst auf seine eindimensionale Sicht des Werteraums moderner Gesellschaften, die sich in mehreren empirischen Studien als unhaltbar erwies. Materialistische und postmaterialistische Orientierungen umfassen jeweils eine Reihe getrennter Teildimensionen. Theoretisch unplausibel und empirisch unzutreffend ist auch seine Vorstellung, eine Entscheidung für ein gesellschaftliches Leitbild bedeute automatisch eine Entscheidung gegen ein anderes. Die Literatur enthält zahlreiche Hinweise auf die Existenz von Wertepluralismus und Wertesynthese. Vorbehalte wurden weiterhin gegen sein Konzept zur Messung materialistischer und postmaterialistischer Präferenzen, seine Verbindung von Sozialisations- und Mangelhypothese und gegen seine Interpretation der Daten über die Ausbreitung postmaterialistischer Wertorientierungen erhoben, die mit der Annahme eines langfristig stattfindenden Wertewandels auf keinen Fall vereinbar sind. Die in unserem Zusammenhang besonders wichtigen Annahmen über Auswirkungen des Wertewandels auf die politische Kultur der Demokratie konnten zum Teil empirisch bestätigt werden, zum Teil wurden sie widerlegt. Das erste gilt für die Beziehung zwischen postmaterialistischen Wertorientierungen und der politischen Involvierung, das zweite für die Aussagen über die kritische Haltung der Postmaterialisten zum politischen System, seinen Institutionen und Repräsentanten (Gabriel 1986: bes. 232-319; van Deth/Scarbrough 1995; Dalton 2004: 97-110; Ester et al. 2006).
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Als Ertrag der Wertewandeldebatte bleibt die Erkenntnis, dass ein breiter und differenzierter gefasstes Verständnis von Wertorientierungen die Analyse der politischen Kultur bereichert. Beispiele hierfür liefern die Arbeiten über die politischen Effekte der Säkularisierung sowie des kulturellen und ökonomischen Liberalismus (van Deth/Scarbrough 1995), die Fairness- und Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen (Tyler et al. 1997), das Problem der politischen Toleranz (Nevitte 1996), die Unterstützung demokratischer Prinzipien (Gibson/Duch 1993) und die Wertegrundlagen der Einstellungen zum modernen Wohlfahrtsstaat (McClosky/Zaller 1984).
4.2 Sozialkapital, politische Kultur und Good Governance: Was hält die moderne Gesellschaft zusammen? Etwa zwanzig Jahre nach dem Beginn der Wertewandeldebatte erhielt die Analyse der politischen Kultur durch Robert Putnams Studie „Making Democracy Work“ (Putnam et al. 1993) einen weiteren neuen Impuls. Der in dieser Arbeit entwickelte Sozialkapitalansatz beruht auf der einfachen Grundidee, dass Menschen ihre Ziele durch Zusammenarbeit mit anderen besser erreichen können als durch isoliertes Handeln. Die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft und eines politischen Systems hängt dieser Sichtweise zu Folge maßgeblich davon ab, ob und in welchem Umfang eine Gesellschaft vom Geist sozialer Kooperation geprägt ist und welche Rolle soziale Netzwerke bei der Verwirklichung gemeinschaftsbezogener Werte und Normen spielen. Für die Analyse politischer Kultur ist der Sozialkapitalansatz in mehrerlei Hinsicht bedeutsam: In der Tradition von „The Civic Culture“ verweist er auf die Bedeutung kultureller Faktoren für das menschliche Handeln und das Funktionieren von Staat und Gesellschaft. Dadurch trat er dem modischen neoliberalen Trend entgegen, den Menschen auf die Summe seiner materiellen Interessen zu reduzieren (Newton 1999: 170). Zum zweiten führt er mit den „Civic Virtues“ ein Konzept in die politikwissenschaftliche Forschung ein, das in der politischen Philosophie traditionell eine wichtige Rolle spielt, bis in die Gegenwart aber nur wenig Interesse in der empirischen Politikforschung findet. Drittens stellt er mit seinen Hinweisen auf die Rolle von Freiwilligenorganisationen und informellen sozialen Netzwerken als „Trainingsplätzen“ für den Erwerb staatsbürgerlicher Orientierungen und Kompetenzen eine Verbindung zu sozialisationstheoretischen Erklärungsansätzen in der Political Culture-Forschung her. Der Begriff des Sozialkapitals wird in der Literatur nicht einheitlich benutzt (Hooghe/ Stolle 2003: 3-7). Putnam definiert das Konzept wie folgt: „Social capital … refers to features of social organization, such as trust, norms, and networks, that can improve the efficiency of society by facilitating coordinated actions.“ (Putnam et al. 1993: 167)
Konkret sind damit die folgenden Sachverhalte gemeint: die Mitgliedschaft und aktive Mitarbeit in Vereinen, die Einbindung in informelle Netzwerke wie Nachbarschaftsgruppen
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oder Aktionsgruppen zur Lösung gemeinschaftlicher Probleme (Netzwerkkapital), das Vertrauen zu den Mitmenschen und die Unterstützung gesellschaftlicher Werte und Normen, die den Menschen Solidarität, soziales Verantwortungsbewusstsein und aktive Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben abverlangen (kulturelles Kapital). Diese beiden Komponenten stehen in einer engen Wechselbeziehung zueinander. Die Einbindung in soziale Netzwerke fördert soziales Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein, umgekehrt zieht die Mitarbeit in Freiwilligenorganisationen vor allem solche Menschen an, die anderen vertrauen und sich für deren Schicksal und für das Wohlergehen der Gesellschaft verantwortlich fühlen. Diese Form gesellschaftlicher Integration steigert die Effektivität zwischenmenschlicher Zusammenarbeit. In dem Maße, in dem man sich auf die Vertrauenswürdigkeit seiner Kooperationspartner verlassen kann, kann man auf kostspielige vertragliche Regelungen der Zusammenarbeit oder die Kontrolle anderer verzichten. Dies wiederum stärkt das in der Umwelt vorhandene Vertrauen in die eigene Person (Putnam et al. 1993: 163-176; vgl. auch: Putnam 2000). Nicht alle Komponenten des Sozialkapitals sind der politischen Kultur zuzurechnen. Zu dieser gehören die von den Bürgern als verbindlich anerkannten politischen Wertorientierungen und Verhaltensnormen wie das Gefühl der Verantwortung für die Gesellschaft und die Mitbürger, die Einsicht, dass das gesellschaftliche Zusammenleben ohne das Einhalten politischer Regeln wie die Beteiligung an Wahlen, das Zahlen von Steuern oder das Befolgen von Gesetzen nicht funktioniert und, dass die Bürger in einer Gesellschaft nicht allein das Recht, sondern auch die Pflicht haben, sich am politischen Leben zu beteiligen (z.B. Conover et al. 1991; Gabriel et al. 2002: 68-80; Pattie et al. 2004: 48-56; Roßteutscher 2004; Denters et al. 2007a). Diese Einstellungen werden von der Political Culture-Forschung bis heute vernachlässigt. Die übrigen Sozialkapitalkomponenten gehören nicht zur politischen Kultur, können diese aber beeinflussen. In etlichen Arbeiten wurden die möglichen Effekte der Mitgliedschaft in Organisationen und des zwischenmenschlichen Vertrauens auf die Einstellungen zur Politik untersucht. Allerdings treten bei der Anwendung des Sozialkapitalkonzepts in der empirischen Forschung zahlreiche konzeptuelle, theoretische und methodische Probleme auf, die durch eine unbefriedigende Datenlage verschärft werden. Die das Sozialkapital bildenden Einzelkomponenten sind konzeptuell unterschiedlich gut ausgearbeitet, und dementsprechend sind ihre Indikatoren für die empirische Forschung mehr oder weniger gut brauchbar. Im Zentrum der bisherigen Forschung stand das soziale Vertrauen, weniger überzeugend fallen die Überlegungen über die spezifischen Effekte des sozialen Engagements aus. Die Konzeptualisierung, Messung und Erforschung der staatsbürgerlichen Tugenden ist am wenigsten weit entwickelt. Die Beziehung zwischen dem Sozialkapital als einer gesellschaftlichen Größe und der Rolle von Individuen als Produzenten und Konsumenten von Sozialkapital ist theoretisch noch nicht zufrieden stellend geklärt und die auf der Mikro- und der Makroebene ermittelten Effekte des Sozialkapitals stellen sich sehr uneinheitlich und zum Teil widersprüchlich dar (z.B. Dekker/van den Broek 1996; Newton 1999; Newton/Norris 2000; Gabriel et al. 2002; Uslaner 2002: 190-253; Denters et al. 2007a; 2007b). In ihrem gegenwärtigen Zustand kann man die Sozialkapitalforschung als eine Ansammlung interessanter Überlegungen und Hypothesen bezeichnen, die allerdings konzep-
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tuell noch weiter entwickelt, für die empirische Forschung besser operationalisiert und breiter und systematischer erforscht werden müssen. Die Sozialkapitalforschung untersucht die Bedeutung von sozialen Netzwerken und prosozialen Orientierungen für das Verhältnis der Menschen zur Politik und geht von der Annahme aus, dass eine reiche Ausstattung einer Gesellschaft mit Sozialkapital das Entstehen und die Aufrechterhaltung einer Civic Culture fördere.
4.3 Politische Psychologie Ein weiterer, in der Political Culture-Forschung bislang kaum aufgegriffener Forschungszweig ist die moderne politische Psychologie. Die ersten Arbeiten auf diesem Gebiet wurden in den 1980er Jahren veröffentlicht und lösten eine Fülle von Forschungsaktivitäten aus (vgl. den Überblick bei Sears et al. 2003). Aus dem breiten Spektrum interessanter Überlegungen sollen hier beispielhaft einige behandelt werden, aus denen sich neue Perspektiven für die Political Culture-Forschung ergeben könnten. Zwischen der neueren politischen Psychologie und der klassischen Political CultureForschung bestehen enge Verbindungen, die man allerdings explizit machen muss. Der von Almond und Verba (1989a) entwickelte Ansatz der Political Culture-Forschung wird zu Recht als psychologisch oder einstellungsorientiert bezeichnet. Er verwendet das Einstellungskonzept als Grundbegriff, nimmt bei der Typologisierung politischer Kulturen die in der psychologischen Einstellungsforschung entwickelte Unterscheidung zwischen Kenntnissen (Kognitionen, Beliefs) und Gefühlen auf und fügt als weitere Kategorie die Wertorientierungen hinzu. In der Praxis der Political Culture-Forschung stand allerdings stets die Frage im Vordergrund, wie Individuen ihre Beziehungen zu verschiedenen politischen Objekten definieren. Weniger Aufmerksamkeit fand die Frage, ob diese Beziehungen kognitiver, affektiver oder evaluativer Art sind und wie diese miteinander zusammenhängen. Die Bedeutung von Kenntnissen und Gefühlen für die individuelle Urteilsbildung ist das wohl wichtigste Thema der modernen politischen Psychologie (z.B. Sniderman et al. 1991; Lodge/Taber 2000; Marcus 2003). Bemühungen um eine systematische Klärung der Frage, welche Rolle Informationen, Gefühle und moralische Urteile für die Beziehungen der Menschen zur Politik spielen, kommen an einer Aufarbeitung der Erkenntnisse der neueren politischen Psychologie nicht vorbei. Noch in einem zweiten Punkt liegen die Überlegungen von Almond/Verba und jene der modernen politischen Psychologie dicht beieinander. Beide stellen die aus der Ökonomie in die Politikwissenschaft importierte Vorstellung vom „rational-aktivististischen“ Bürger in Frage, der sich für politische Fragen interessiert, sich die zur Lösung politischer Probleme erforderlichen Informationen beschafft und seine politischen Entscheidungen auf eine sorgfältige Auswertung dieser Informationen stützt. Almond und Verba (1989: 337-341) brachten dies in ihrer Beschreibung der politischen Kultur als gemischte politische Kultur zum Ausdruck, in der traditionelle, parochiale und obrigkeitsgläubige Orientierungen auf der Individual- und der Kollektivebene mit partizipativen Elementen verschmelzen. Nicht
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nur die Bürger einer modernen Demokratie weisen „gemischte“ Einstellungen auf, die je nach Sachlage für ihr Verhältnis zur Politik bedeutsam werden, auch die Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit besteht aus mehreren Teilgruppen mit unterschiedlichen Einstellungen zur Politik. In der politischen Psychologie findet sich eine ähnliche Vorstellung. In seinem Konzept des „geschichteten Pluralismus“ gliedert Neuman (1986: 30-39) die politische Öffentlichkeit in mehrere horizontal und vertikal definierte politische Schichten bzw. Gruppen (Teilpublika). Auf der Vertikalen lassen sich die Menschen vier politischen Schichten mit einem variierenden politischen Urteilsvermögen zuordnen: dem nicht in die Politik involvierten Massenpublikum, den Besorgten oder Betroffenen, den Aktivisten und den Eliten. Als Basis dieser Einteilung verwendet Neuman (1986: 52-57) das politische Urteilsvermögen („sophistication“), das die folgenden drei Teildimensionen umfasst: die Bedeutsamkeit der Politik (Interesse, kognitives Engagement, Aufmerksamkeit), die politischen Kenntnisse (Vertrautheit mit politischen Fragen, Kenntnis der wichtigsten politischen Akteure) und die Fähigkeit zum ideologischen Denken (kognitive Organisation, Fähigkeit, abstrakte Konzepte zur Beurteilung politischer Sachverhalte zu verwenden). Das Massenpublikum betrachtet Neuman als eine nicht weiter differenzierte Gruppe. Von den Besorgten oder Betroffenen aufwärts vollzieht sich dagegen eine weitere Differenzierung nach dem Interesse an bestimmten politischen Themen. Demnach sind die Menschen nicht an allen substanziellen Fragen der Politik gleichermaßen interessiert oder von ihnen betroffen. In denjenigen Angelegenheiten, die sie für bedeutsam halten, verschaffen sie sich die zur Meinungsbildung erforderlichen Informationen und bilden auf dieser Basis ihre Urteile, in anderen Angelegenheiten dagegen tun sie dies nicht (Neuman 1986: 35-39; vgl. auch: Popkin 1991: 28-30). Neumans Aussagen über die Struktur des Publikums moderner Demokratien bleiben insoweit hinter den Erkenntnissen der neueren politischen Psychologie zurück, als sie mehr oder minder klare Trennlinien zwischen den vier politischen Schichten annehmen und der weitaus größten Gruppe, dem „Massenpublikum“, eine zu wenig differenzierte Beziehung zur Politik unterstellen. Auch wenn der größte Teil der Bürger nicht über komplexe und kohärente politische Überzeugungssysteme („belief systems“) verfügt und diese systematisch zur Beurteilung politischer Sachverhalte heranzieht (Converse 1964; Klingemann 1979), ist dies nicht mit einem völligen Fehlen politischer Urteilsfähigkeit zu verwechseln. Vielmehr sind in der Bevölkerung verschiedene Formen der politischen Urteilsbildung anzutreffen. Auch wenig politisierte Menschen bilden sich eine Meinung über politische Fragen. Sie tun dies aber auf eine andere, weniger anspruchsvolle Weise als die kognitiv stark engagierten Bürger. Zum besseren Verständnis der Beziehung der Durchschnittsbürger zur Politik muss man zwei Gesichtspunkte heranziehen: erstens das Konzept der Rationalität bei geringem Informationsniveau („low information rationality“) und zweitens die Überlagerung von Kenntnissen und Gefühlen bei der Beurteilung politischer Sachverhalte. Nach einer Grundannahme der modernen politischen Psychologie bilden große Teile des Publikums ihre politischen Urteile – oder in der Sprache der Political Culture-Forschung: ihre Einstellungen zu politischen Objekten – nicht auf der Grundlage einer systematischen Beschaffung, Auswertung und Abwägung aller relevanten Informationen. Je nach Sach- und Interessenlage entwickeln die Menschen unterschiedliche Entscheidungsstile, in die Kenntnisse, Gefühle und Wertorientierungen einfließen. Nicht jedes Mal, wenn sie mit
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einem neuen politischen Sachverhalt konfrontiert werden, bilden sie neue Einstellungen zu politischen Objekten (Institutionen, Akteuren, Policies, speziellen Verhaltensweisen). Vielmehr rufen sie im Bedarfsfall mehr oder weniger komplexe, umfassende und spezielle, im Langzeitgedächtnis gespeicherte politische Erfahrungen ab, um einen speziellen Sachverhalt zu beurteilen. Diese Interpretationen der politischen Wirklichkeit werden auch als Schemata bezeichnet (Conover/Feldman 1984) und wie folgt definiert: „A schema may be defined as a cognitive structure of ‘organized prior knowledge, abstracted from experience with specific instances’ that guides ‘the processing of new information and the retrieval of stored information’.“ (Fiske/Linville 1980: 543, zit. nach Conover/Feldman 1984: 96)
Schemata organisieren Erfahrungen, steuern die Aufnahme neuer Informationen, erleichtern die Verknüpfung neuer mit bereits vorhandenen Wissensbeständen und erleichtern die Lösung politischer Probleme (Conover/Feldman 1984: 96-97). Beispiele hierfür sind Parteischemata als eine Art Sammelkonten für mit Parteien vorliegenden Erfahrungen, Kandidatenschemata oder Institutionenschemata. Bei der Verwendung dieser Schemata zur Bewertung neuer politischer Sachverhalte spielen etliche Faktoren eine Rolle. Hierzu gehört die Relevanz einer neuen Information, ihre Vereinbarkeit mit den bereits vorhandenen Dispositionen, die Aktualität bzw. Verfügbarkeit früher gemachter Erfahrungen usw. (Zaller 1992: 6-52). Die Übertragung von Elementen aus dem Langzeit- ins Kurzzeitgedächtnis verläuft von Person zu Person und von Situation zu Situation unterschiedlich. Lodge und Taber (2000) verwenden zur Charakterisierung dieses Prozesses zwei Arten von Zielen, die sie als Richtungsziele („directional goals“) bzw. als Korrektheitsziele („accuracy goals“) bezeichnen und die in jeder Entscheidungssituation mehr oder weniger stark vorhanden sind. Aus der Mischung dieser beiden Arten von Zielen ergeben sich vier Typen von Entscheidern. Der parteiisch Urteilende (schwache Korrektheitsziele, starke Richtungsziele) bemüht sich um die Rechtfertigung einer bereits feststehenden Einstellung, wertet systematisch alle den vorhandenen Dispositionen widersprechenden Informationen ab und sucht nach bestätigenden Informationen. Der intuitive Wissenschaftler (starke Korrektheits- und Richtungsziele) bemüht sich um sachlich korrekte Orientierungen, optimiert seine Informationssuche, bemüht sich, Verzerrungen und Einseitigkeiten zu vermeiden und aktualisiert im Rahmen seiner Möglichkeiten seine vorhandenen Wissensbestände. Die beiden anderen Merkmalskombinationen, die den klassisch-rationalen Akteur (schwache Richtungs- und starke Korrektheitsziele) bzw. den politisch Apathischen (schwache Richtungs- und Korrektheitsziele) auszeichnen, sind in unserem Zusammenhang von untergeordnetem Interesse, da sie im Mittelpunkt der klassischen Analysen standen. Nach Lodge und Taber (2000: 187) versuchen die Menschen immer einigermaßen sachgerecht zu entscheiden, sie können sich dabei aber von ihren vorhandenen Überzeugungen nicht freimachen. Das Mischungsverhältnis von Kognitionen, Affekten und Evaluationen bei der Beurteilung politischer Sachverhalte lässt sich nur durch empirische Untersuchungen klären. Wie Sniderman et al. (1991: 79-89) am Beispiel der Einstellungen zu Maßnahmen zur Rassengleichstellung zeigten, spielen Gefühle gegenüber den begünstigten Gruppen, die Einschätzung des Verhaltens dieser Grup-
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pen und ideologische Denkmuster bei Personen unterschiedlicher Bildungsniveaus eine unterschiedliche Rolle als Bestimmungsfaktoren der betreffenden Einstellungen. Während eine kleine Gruppe von Bürgern im klassischen Sinne „rational“ urteilt und entscheidet, greifen viele Menschen bei der Interpretation der politischen Wirklichkeit auf sehr einfache Hilfsmittel oder Heuristiken zurück. Sie übernehmen politische Positionen, die andere Menschen aus dem sozialen Umfeld vertreten (Carmines/Huckfeldt 1996; Conover/Searing 2002). Sie orientieren sich an den tatsächlichen oder vermeintlichen Standpunkten von Politikern oder Parteien, die sie sympathisch finden oder beurteilen politische Probleme auf der Basis ihrer Bedeutung für bestimmte Gruppen. In diesen Prozessen verfügen die politischen Eliten über verschiedenartige Möglichkeiten, den Einstellungsraum der Bürger vorzustrukturieren und „frames“ für deren Urteilsbildung zu setzen (Chong 1996). Eine wesentliche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Massenmedien. Sie setzen bestimmte Themen auf die politische Agenda und definieren den Bezugsrahmen innerhalb dessen diese Themen diskutiert werden. Die Massenmedien sind für die Bildung individueller politischer Einstellungen vor allem deshalb sehr bedeutsam geworden, weil sie Elitendiskussionen in die Bevölkerung transportieren und ihre eigenen Relevanzkriterien in die Berichterstattung einfließen lassen (Chong 1996; Zaller 1996). Den Menschen stehen zahlreiche „cues“ oder „shortcuts“ zur Verfügung, welche ihnen die Notwendigkeit abnehmen, sich selbst über eine Sache zu informieren, die sie beurteilen und in der sie entscheiden müssen. Es ist überraschend, dass die Political Culture-Forschung bei ihren Versuchen, das Zustandekommen politischer Einstellungen zu erklären, bislang kaum auf die erwähnten Arbeiten zurückgegriffen hat. Anregungen für eine Stärkung der theoretischen Grundlagen ihrer empirischen Analysen könnte die Political Culture-Forschung vor allem durch eine systematische Beschäftigung mit der Rolle kognitiver, affektiver und evaluativer Komponenten bei der Einstellung zu politischen Objekten gewinnen. Es gibt viele Beispiele, an denen sich die Bedeutsamkeit dieser Forschungsfrage festmachen lässt. Beruht beispielsweise der in vielen Demokratien empirisch nachgewiesene Rückgang des Vertrauens in die Institutionen des Parteienstaates auf einer informationsgesteuerten Bewertung ihrer Leistungen (kognitive Orientierung), resultiert er aus einer bloßen Abneigung gegen die Politiker, die mittlerweile auf die politischen Institutionen übergegriffen hat (affektive Orientierungen) oder hat er damit zu tun, dass die politischen Institutionen und ihre Repräsentanten ihre Entscheidungen an Werten orientieren, die denen der Bevölkerung widersprechen – etwa im Hinblick auf den Wert der sozialen Gerechtigkeit (evaluative Orientierungen)? Weitere interessante und innovative Forschungsfelder stellen die systematische Analyse der Bedeutung des Elitehandelns, der Medienberichterstattung und der Rolle sozialer Kontexte für die Bildung politischer Einstellungen dar. Allerdings sind diese Fragen mit den in der Political Culture-Forschung eingesetzten Standardmethoden der repräsentativen, standardisierten Bevölkerungsumfrage nur bedingt zu bearbeiten. Wenn man ihnen systematisch nachgehen will, benötigt man neue Forschungsmethoden wie Experimente, Inhaltsund Netzwerkanalysen, die mit konventionellen Umfragetechniken zu verbinden wären. Dies ist nicht nur ein aufwändiges und anspruchsvolles, sondern auch ein extrem kostspieliges Forschungsprogramm.
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Die politische Psychologie verfeinert die bereits im Civic Culture-Konzept angelegte Vorstellung von einer Aufgliederung des Publikums in mehrere Teilschichten mit einem unterschiedlich intensiven und komplexen Verhältnis zur Politik. Sie betont das Ineinandergreifen von Kognitionen und Gefühlen bei der Beurteilung politischer Sachverhalte und geht davon aus, dass die meisten Menschen sehr einfache Mittel verwenden, um sich ein Urteil über politische Fragen zu bilden.
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Methoden, Daten, empirische Befunde
In den bisherigen Teilen dieses Beitrages standen die Konzepte und Erklärungsprobleme der Political Culture-Forschung im Vordergrund. Die Erkenntnisse über die Eigenschaften der politischen Kultur moderner Demokratien wurden allenfalls zur Illustration der theoretischen und konzeptuellen Probleme herangezogen. Hierfür waren theoretisch-systematische und forschungspraktische Gründe maßgeblich. Solange Unklarheit über die Eigenschaften der politischen Kultur der Demokratie besteht, lassen sich empirische Befunde nicht eindeutig interpretieren. Dementsprechend befassen sich empirische Untersuchungen des Verhältnisses der Bürger zur Politik in der Hauptsache mit Einzelaspekten, deren Bedeutung für das Vorhandensein einer Civic Culture nicht immer klar ist. Ein zweiter Grund hat mit der Datenlage zu tun. Nach der Civic Culture-Studie wurden nur wenige umfassende international vergleichende Umfragen über die Einstellungen der Bürger zum politischen System moderner Demokratien durchgeführt. Diese fanden zudem oft in unterschiedlichen Nationen statt und enthielten unterschiedliche Einstellungsindikatoren. Kein einziges Land ist in allen relevanten international vergleichenden Umfragen vertreten, relativ häufig wurden die USA, Deutschland und die Niederlande untersucht. Außerdem variieren die in diesen Studien eingesetzten Erhebungsfragen zum Teil recht deutlich.
5.1 Datenbestände Ungeachtet der kritischen Bemerkungen über die Situation der international vergleichenden Umfrageforschung haben sich die Möglichkeiten vergleichender Analysen des Verhältnisses der Bürger zur Politik in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert (vgl. auch: Pickel/ Pickel 2006: 31-40; Westle 2006: 277-281). Zu den speziell für die Zwecke der politikwissenschaftlichen Einstellungs- und Verhaltensforschung durchgeführten großen, international vergleichenden Umfrageprojekten (Almond/Verba 1989a; Verba et al. 1978; Barnes/Kaase et al. 1979; Klingemann et al. 2006; van Deth et al. 2007), auf deren Grundlage allein kumulative empirische Political Culture-Forschung nicht möglich wäre, entstanden in den 1970er und 1980er Jahren weitere mehr oder minder kontinuierlich durchgeführte Umfrageprojekte.6 Zu den umfangreichen, mittlerweile einem breiten wissenschaftlichen Publikum für Sekundäranalysen zur Verfügung stehenden Datenquellen dieser Art gehören die Eurobarometer, die seit 1976 in mindestens halbjährlichem Turnus in allen Mitgliedsstaaten der EU 6
Vgl. auch den Beitrag von Silke Keil in diesem Band.
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erhoben werden. Ähnliche Umfragen fanden nach 1990 in den postkommunistischen Staaten Mittel-Osteuropas sowie in Lateinamerika statt. Im Jahr 1981 ging der World Values Survey ins Feld. Er wurde 1990, 1995/1997 und 1999/2000 sowie 2005 wiederholt und deckt mittlerweile über 50 Länder der Erde ab. 1985 kam das International Social Survey Programme hinzu, das seit 1990 im Zweijahresrhythmus in mehr als zwanzig Ländern mit wechselnden Themenschwerpunkten durchgeführt wird. Die neueste Errungenschaft auf diesem Gebiet stellt der European Social Survey dar. Er wurde erstmals 2002/2003 realisiert, bisher zweimal wiederholt und erhebt den Anspruch, an höchsten methodischen Qualitätsstandards ausgerichtet zu sein. Diese international vergleichenden Projekte werden durch eine Fülle nationaler Umfragen ergänzt, wobei die Datenlage in den USA, Großbritannien, den skandinavischen Ländern, den Niederlanden, Deutschland und Spanien besonders gut ist. Mittlerweile stehen für international vergleichende Political Culture-Studien zufriedenstellende Daten zur Verfügung.
5.2 Forschungsschwerpunkte und -ergebnisse Die verbesserte Datenlage fand allerdings nur bedingt ihren Niederschlag in der vergleichenden empirischen Forschung. Abgesehen vom Beliefs in Government Projekt (Kaase/ Newton 1995), etlichen Untersuchungen auf der Basis der World Values Surveys (Ester et al. 1994; Halman/Nevitte 1996; Inglehart 1997; Norris 1999a; Gabriel et al. 2002; Dalton 2004; Gerhards 2005; Ester et al. 2006) und einigen Area-Studies (Gunter et al. 1995; Plasser/Ulram 1991; Andersen/Hoff 2001; Klingemann et al. 2006), liegen kaum international vergleichende Studien vor, aus denen sich systematische empirische Erkenntnisse über das Verhältnis der Bürger zur Politik in modernen Demokratien gewinnen ließen.
5.2.1
Einstellungsmuster im internationalen Vergleich
Vergleichsweise gut erforscht sind die Einstellungen der Bürger zur Demokratie. Wie alle vorliegenden empirischen Untersuchungen zeigen, verfügt die Demokratie als Ordnungsmodell in den westlichen Staaten über eine außerordentlich breite Unterstützung, deren Ausmaß in manchen Ländern als Konsens charakterisiert werden kann. In den postkommunistischen Ländern ist diese Einstellung weniger weit verbreitet, der Wunsch nach einem starken politischen Führer findet in einzelnen dieser Länder noch etliche Anhänger. Deutlich niedriger und instabiler fällt die Zufriedenheit mit der aktuell existierenden Form der Demokratie und ihrem Funktionieren in der Praxis aus. In diesem Bereich zeigt sich ein beträchtliches Gefälle zwischen den nordwesteuropäischen Staaten, insbesondere den skandinavischen Ländern, und den Transitionsstaaten Mittel- und Osteuropas. Von einigen Ausnahmen abgesehen, rangieren die mittel- und südeuropäischen Länder zwischen diesen beiden Polen. Eine generelle Zu- oder Abnahme der Demokratiezufriedenheit lässt sich nicht feststellen, vielmehr verlaufen die Entwicklungstrends von Land zu Land unterschiedlich (Fuchs et al. 1995; Thomassen 1995; Klingemann 1999; Gabriel et al. 2002; Gerhards 2005; Gabriel 2008).
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Zum zweiten wichtigen Feld der vergleichenden empirischen Political Culture-Forschung entwickelten sich Analysen des Vertrauens zu den politischen Institutionen. Diese Einstellung wurde allerdings unterschiedlich konzeptualisiert. Einige Forscher stellten die Unterschiede zwischen privaten und öffentlichen Institutionen in den Vordergrund, andere die zwischen Einrichtungen des gesellschaftlichen (privaten) und des politischen (öffentlichen) Lebens. Wieder andere interessierten sich für die Unterscheidung zwischen parteienstaatlichen und rechtsstaatlichen Institutionen. Auch in diesem Bereich existieren die oben beschriebenen Unterschiede: Das Vertrauen zu den politischen Institutionen ist in Nordeuropa am stärksten entwickelt, gefolgt vom westlichen Mitteleuropa und Westeuropa, Südeuropa und den Staaten Mittel-Osteuropas. Die rechtsstaatlichen Institutionen genießen in fast allen Ländern in der Öffentlichkeit mehr Vertrauen als die Institutionen des Parteienstaates. Zudem ist das Vertrauen zum Rechtsstaat stabiler als das zum Parteienstaat. Ein langfristiger Rückgang des Vertrauens zu den parteienstaatlichen Institutionen lässt sich in Westeuropa nicht nachweisen, in den postkommunistischen Staaten ist dies allerdings der Fall (Listhaug/Wiberg 1995; Newton 1999; Klingemann 1999; Newton/Norris 2000; Gabriel et al. 2002; Dalton 2004; Gabriel/Zmerli 2006; Denters et al. 2007b; Gabriel 2008). Im Vergleich mit den Einstellungen zur Demokratie und zu den politischen Institutionen ist die politische Involvierung der Bürger deutlich schlechter erforscht, jedenfalls in komparativer Perspektive. Die wenigen international vergleichenden Studien lassen weder beim politischen Interesse noch beim politischen Kompetenzbewusstsein eine so klare regionale Gruppierung der Länder erkennen wie es beim politischen Vertrauen und der politischen Unterstützung der Fall war. Allerdings finden sich auch hier die meisten nordeuropäischen Länder in der Spitzengruppe, während die politische Involvierung der Bürger der süd- und mittelosteuropäischen Staaten im internationalen Vergleich schwach entwickelt ist (vgl. van Deth 1996; van Deth/Neller 2006; Martin/van Deth 2007; Gabriel 2008). Trotz aller Vorbehalte, die sich aus den Schwächen des Civic Culture-Konzeptes und der lückenhaften Datenlage ergeben, lassen die vorliegenden Befunde der empirischen Forschung zwei Schlussfolgerungen zu. Wenn man von der Prämisse ausgeht, dass die identitätsbestimmenden Merkmale einer Civic Culture in allen demokratisch regierten Staaten auftreten müssen und ein politisches Regime beim Fehlen dieser Merkmale das Attribut demokratisch nicht in Anspruch nehmen kann, dann existiert nur ein universelles Kernelement der politischen Kultur der Demokratie. In allen demokratisch verfassten Staaten gehört die Unterstützung der Demokratie als Ordnungsmodell einschließlich ihrer tragenden Werte und Verfahrensweisen zum Basiskonsens. Unterhalb dieses unstreitigen Sektors (Fraenkel 1964) variieren die Einstellungen der Bevölkerung zur Politik teilweise so stark, dass von einem einheitlichen Modell einer demokratischen politischen Kultur nicht die Rede sein kann (Gabriel 2008). Anders als im ersten Nachkriegsjahrzehnt können die Vereinigten Staaten und Großbritannien heute nicht mehr als die Modellfälle einer Civic Culture bezeichnet werden, insofern ein solcher Modellfall überhaupt existiert. Am ehesten findet man ein derartiges Einstellungsmuster in den kleinen nord- und mitteleuropäischen Ländern, insbesondere in Norwegen, Dänemark, Schweden und der Schweiz. Auf Grund der Datenlage lässt sich über die Dauerhaftigkeit dieser Konstellation in den kleinen europäischen Demokratien keine verlässliche Aussage machen. Klar ist jedoch, dass sich seit den
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1950er Jahren in den USA und Großbritannien ein Zerfall der Civic Culture vollzogen hat (u. a. Abramowitz 1989; Kavanagh 1989; Hibbing/Theiss-Morse 2001; Curtice/Jowell 1995). Die Unterstützung der Demokratie als Ordnungsmodell sowie der für sie typischen Werte und Verfahrensregeln macht den Identitätskern der politischen Kultur der Demokratie aus. Unterhalb dieses Basiskonsenses unterscheidet sich das Verhältnis der Bürger zur Politik von Land zu Land ganz beträchtlich.
5.2.2
Bestimmungsfaktoren politischer Einstellungen
Welche Faktoren sind dafür maßgeblich, dass die politische Kultur einiger Länder eher dem Leitbild der Civic Culture entspricht als die anderer Nationen und welche Folgen ergeben sich hieraus für das Funktionieren des politischen Systems? In den frühen Beiträgen zur Political Culture-Forschung führte man das Entstehen einer Civic Culture auf einen kontinuierlich verlaufenen gesellschaftlichen und politischen Modernisierungsprozess zurück, während eine Häufung von Modernisierungskrisen die Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems überfordere und das Entstehen einer Civic Culture erschwere. England galt als Beispiel für den ersten Pfad zu einer modernen Demokratie, Deutschland als Beispiel für den zweiten. Diese Annahmen sind zwar plausibel, empirische Belege für ihre Gültigkeit allerdings schwer zu finden. Zwar wies die Modernisierungsforschung einen Zusammenhang zwischen dem Grad der Industrialisierung und Verstädterung, dem Bildungsniveau der Bevölkerung, dem Entwicklungsgrad des Massenkommunikationssystems und dem Vorhandensein demokratischer Institutionen und Prozesse nach (Lipset 1959: 27-62; Cutright 1969), als Bestätigung der Hypothesen über die Entstehungsbedingungen einer Civic Culture können diese Erkenntnisse aber nicht gewertet werden. Die Rolle kultureller Faktoren im politischen Modernisierungsprozess war in den genannten Arbeiten nicht geprüft worden. Auch die bisher durchgeführten empirischen Tests der Hypothese über den Einfluss der politischen Kultur auf die Stabilität demokratischer Regime vermögen schon allein im Hinblick auf die als Maße einer Civic Culture gewählten Indikatoren nicht zu überzeugen (z.B. Lipset et al. 1993; Muller/Seligson 1994; Inglehart 1997: 160-215). Ergiebiger waren die Versuche, die Verteilung politischer Involvierung und politischer Unterstützung in einzelnen Ländern und im internationalen Vergleich zu erklären. Neben den in der Regel als Sozialisationsindikatoren benutzten Variablen Alter, Geschlecht und Bildung, die vor allem zur Erklärung der politischen Involvierung beitragen, erwiesen sich in der Forschungspraxis die folgenden Faktoren als wichtige Bestimmungsfaktoren politischer Unterstützung: die Zufriedenheit mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Landes bzw. mit der eigenen Lebenssituation, die soziale und institutionelle Integration durch Berufstätigkeit, partnerschaftliche bzw. familiäre Bindungen sowie die Einbindung in soziale Netzwerke (Vereine, Verbände, Glaubensgemeinschaften, politische Parteien), das soziale Vertrauen und die Verbundenheit mit einer der regierenden Parteien (Norris 1999a; Gabriel et al. 2002; Dalton 2004; Denters et al. 2007b). Diese Faktoren beeinflussen in den meisten Ländern das Vertrauen zu den politischen Institutionen und
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Akteuren und die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie, aber nicht die generelle Akzeptanz der Demokratie als Ordnungsmodell. Diese ist bei den formal gut gebildeten und politisch involvierten Bevölkerungsgruppen besonders stark entwickelt. Die politische Involvierung ist bei ressourcenstarken, sozial gut integrierten Menschen stärker ausgeprägt als bei Personen, denen diese Merkmale fehlen. Auch die geschlechtsspezifischen Sozialisationsprozesse hinterlassen in fast allen modernen Demokratien noch immer ihre politischen Spuren: Frauen sind politisch weniger involviert als Männer, selbst wenn beide Gruppen das gleiche Bildungsniveau aufweisen (van Deth 2004; Martin/van Deth 2007). Bis heute existiert keine allgemeine Theorie, welche die Bestimmungsfaktoren der politischen Kultur der Demokratie benennen könnte. Einige Annahmen mittlerer Reichweite (Ressourcenlage, positive Leistungsbewertung, institutionelle Integration) haben sich aber bei der Erklärung einzelner Einstellungen als erklärungskräftig erwiesen.
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Zusammenfassung und Folgerungen
Seit der Veröffentlichung der ersten Arbeit, in der die Bezeichnung „politische Kultur“ auftauchte, ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. In diesem Zeitraum entwickelte sich die Political Culture-Forschung zu einem fest etablierten Teilgebiet der Politikwissenschaft. Es entstanden zahlreiche Publikationen, die zu intensiven wissenschaftlichen Debatten, aber kaum zu theoretischen Fortschritten führten. Auf Grund der deutlich verbesserten Datenlage haben sich neue, zunehmend genutzte Möglichkeiten für die empirische Forschung eröffnet. Dies findet seinen Niederschlag darin, dass international vergleichende Untersuchungen der politischen Kultur moderner Demokratien in den letzten Jahren häufiger wurden. Trotz einer insgesamt positiv zu würdigenden Entwicklung des Forschungsgebietes blieben viele wichtige Fragen bis heute ungelöst. Welche Merkmale eine Civic Culture auszeichnen ist nach fast fünfzig Jahren intensiver Forschung ebenso unklar wie am Beginn. Theoretisch überzeugende, empirisch bewährte Erklärungsmodelle, wie wir sie in anderen Bereichen der politischen Soziologie finden, wurden bisher nicht entwickelt. Erklärungen des Verhältnisses der Bürger zur Politik haben allenfalls den Status sachlich eng eingegrenzter Hypothesen mittlerer Reichweite. Insofern ist es auch nicht erstaunlich, dass die Relevanz und Erklärungskraft politisch-kultureller Ansätze in den letzten Jahren zunehmend in Frage gestellt wurde (z.B. Jackman/Miller 1996; Campbell 2004). Diese Konsequenz ist insbesondere in Anbetracht der alternativen Erklärungsangebote nicht überzeugend. Allerdings verweist die kritische Diskussion über den Political Culture-Ansatz auf die dringende Notwendigkeit, weiter an der Beseitigung der konzeptuellen und theoretischen Schwächen zu arbeiten.
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Politische Kultur
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Testfragen 1.
Welche Faktoren waren für die Einführung des Konzepts der politischen Kultur in die Politikwissenschaft maßgeblich? 2. Wie definieren Almond und Verba den Begriff „politische Kultur“ und in welcher Beziehung steht dieses Konzept zu dem der politischen Einstellungen? 3. Wie lautet die Grundhypothese der Political Culture Forschung? 4. Welche Merkmalsdimensionen sind für die Beschreibung politischer Kulturen wichtig? 5. Wie lässt sich die „Civic Culture“ von den Idealtypen politischer Kultur unterscheiden und welche Annahmen über den Zusammenhang dieser verschiedenen Typen politischer Kultur mit den Strukturen eines politischen Regimes machen Almond und Verba? 6. Welche Einwände wurden gegen das von Almond/Verba entwickelte Konzept der politischen Kultur und seine Verwendung in der Forschungspraxis vorgetragen? 7. Welchen Beitrag leisten die Analysen des Wertewandels und des Sozialkapitals sowie der Untersuchungen auf dem Gebiet der politischen Psychologie zur Weiterentwicklung der Political Culture-Forschung? 8. Wie kann man die auf Ernst Fraenkel zurück gehende Unterscheidung zwischen einem kontroversen und einem nicht kontroversen Sektor für die Analyse politischer Kultur verwenden? 9. Welche Probleme treten bei einer Prüfung der Hypothese über die systemstabilisierende Funktion der politischen Kultur auf? 10. Welche Ansätze zur Erklärung des Verhältnisses der Bürger zur Politik spielen in der empirischen Forschung eine wichtige Rolle und wie ist ihre Erklärungskraft zu beurteilen?
Politische Legitimität Daniela Braun und Hermann Schmitt
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Einleitung: Begriff und Konzept der Legitimität
Der Begriff Legitimität stammt aus dem Lateinischen legitimus, was mit „rechtmäßig“ übersetzt werden kann (vgl. Französisch légitimité für „Rechtmäßigkeit“). Auch der Begriff Legitimation hat seinen Ursprung im Lateinischen legitimus, wobei dieser stärker auf einen Prozess oder ein Ergebnis verweist. In den Sozialwissenschaften steht Legitimität in enger Verbindung mit anderen Konzepten, wie Macht und Herrschaft oder Institution und Staat. Eine Abgrenzung der Begriffe Legitimität und Legalität erscheint sinnvoll, auch wenn diese nicht immer klar vollzogen wird. So schließt die Definition von Legitimität häufig auch Legalität mit ein (Schmidt 2004). Die Legitimität ist ein mehrdeutiges und mehrdimensionales Konzept (Greiffenhagen 1997; Nohlen 2002; Schmidt 2004). Schmidt (2004) unterscheidet drei Bedeutungen: Erstens, die Rechtmäßigkeit einer Herrschaftsordnung im Sinne der Bindung staatlichen und individuellen Handelns an Gesetz und Verfassung (Legalität); zweitens, die Rechtmäßigkeit einer Herrschaftsordnung im Sinne ihrer durch allgemein verbindliche Prinzipien begründeten Anerkennungswürdigkeit; sowie drittens, der faktischen Anerkennung einer Herrschaftsordnung seitens der Herrschaftsunterworfenen als rechtmäßig und verbindlich (Legitimitätsüberzeugung). Nohlen (2002) hingegen verzichtet auf die Einbeziehung von Legalität und unterscheidet nur zwischen dem Legitimitätsanspruch einer politischen oder gesellschaftlichen Ordnung und dem Legitimitätsglauben der Herrschaftsunterworfenen. Zudem nennt er die Möglichkeit einer Verknüpfung beider als dritte Alternative. Kasten 1:
Zur Definition von Legitimität
Legitimität wird meist über zwei Dimensionen definiert: 1. Legitimitätsanspruch: - Rechtmäßigkeit der Herrschaftsordnung durch allgemein verbindliche Prinzipien, - wichtig für normativ-theoretische Herangehensweisen. 2. Legitimitätsüberzeugung: - die Anerkennung der Herrschaftsordnung als rechtmäßig und verbindlich; - wichtig für empirisch-analytische Herangehensweisen.
Politische Legitimität wird demnach als die Rechtmäßigkeit einer politischen Ordnung oder einer politischen Herrschaft verstanden. Während über Jahrhunderte hinweg nicht-demokratische Herrschaftsformen dominierten, hat sich die Demokratie mittlerweile als häufigste
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Daniela Braun und Hermann Schmitt
Form der politischen Herrschaft etabliert. Im Vergleich zu Demokratien sind autokratische, beispielsweise autoritäre oder totalitäre, Regime weniger auf Legitimität angewiesen. Sie können einen Mangel an Legitimitätseinverständnis durch Repression ausgleichen. In demokratischen Systemen steht die Option der Repression nicht zur Verfügung. Deshalb sind sie in besonderer Weise auf das Legitimitätseinverständnis ihrer Bürger angewiesen. Fehlt es daran, gerät das demokratische Regime in Gefahr. System-oppositionelle Kräfte (etwa Antisystem-Parteien, vgl. Sartori 1976) und system-transzendierende Mechanismen der Interessenartikulation (z.B. unkonventionelle, nicht-verfasste Formen der politischen Teilhabe, vgl. Barnes/Kaase 1979) drohen dann, überhand zu nehmen.
2
Forschungstraditionen
2.1 Normativ-theoretische und empirisch-analytische Forschungstraditionen Die begriffliche Unterscheidung zwischen Legitimitätsanspruch und Legitimitätsüberzeugungen verweist gleichzeitig auf zwei divergierende Forschungstraditionen. Legitimitätstheorien unterscheiden sich darin, ob sie sich ihrem Forschungsgegenstand normativtheoretisch oder empirisch-analytisch nähern. Der normative Legitimitätsbegriff betrifft den Legitimitätsanspruch einer Herrschaftsordnung, während die empirische Herangehensweise den Legitimitätsglauben im Blick hat. Die Theoretiker kümmern sich darum, was legitime politische Herrschaft auszeichnen soll. Die Empiriker sind hauptsächlich daran interessiert, wie es mit dem Legitimitätseinverständnis der Subjekte politischer Herrschaft bestellt ist. In der politischen Soziologie steht jedoch die empirisch-analytische Forschungstradition im Mittelpunkt, während die normativ-theoretische Forschungstradition eher in der politischen Philosophie oder der politischen Ideengeschichte daheim ist. Allerdings ist die empirische Richtung ihrerseits recht heterogen. Ein früher Strang der Debatte erörtert die Ursachen, oder Voraussetzungen, legitimer Herrschaft. Deutsche Soziologen sind hier prominent vertreten.
2.2 Frühe Arbeiten aus dem Bereich der empirisch-analytischen Forschungstradition Frühe und grundlegende Arbeiten zur Legitimität stammen von dem deutschen Soziologen Max Weber, der zunächst die enge Verknüpfung von Legitimität und Herrschaft verdeutlicht hat. Herrschaft ist nach Weber die Chance, „für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden“ (Weber 1980: 122). Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen hier weniger die Gründe, warum Menschen bereit sind, sich Befehlen zu fügen, sondern die Frage auf welchen Prinzipien diese Bereitschaft basiert. Erst wenn diese Prinzipien von Volk und Herrschenden geteilt werden, handelt es sich um eine legitime Form der Herrschaft. Laut Weber verfolgt zwar jede Herrschaft das Ziel der Legitimität, die Art der Legitimität hingegen ist in Abhängigkeit vom Charakter der Herr-
Politische Legitimität
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schaft zu bewerten. So identifiziert er die drei Idealtypen rationale, traditionale und charismatische Legitimation der Herrschaft. Kasten 2:
Legitimation der Herrschaft nach Max Weber
Max Weber unterscheidet drei Idealtypen der legitimen Herrschaft: rationale, traditionale und charismatische Herrschaft. Die Legitimität der rationalen Herrschaft – auch legale oder bürokratische Herrschaft genannt – beruht auf dem Glauben an die Legalität der Herrschaftsordnung. Der Geltungsgrund für die Herrschaft ist bei der rationalen Legitimation die Tatsache, dass der Herrschende als Vertreter des Volkes gewählt wurde. Auch der Herrschende verpflichtet sich in diesem Fall dem Gesetz. Diese legale Form der Herrschaft gilt heute als legitime Herrschaftsform. Dem stehen die beiden verbleibenden Idealtypen der Herrschaft gegenüber: Während die Legitimität traditionaler Herrschaft aus geltender Tradition entspringt, beruht die Legitimität der charismatischen Herrschaft auf der Außergewöhnlichkeit einer Person und der durch sie geschaffenen Regeln.
Niklas Luhmann (1989) wirft die Frage auf, ob sich Webers Legitimitätsbegriff tatsächlich für die Untersuchung fortgeschrittener industriell-kapitalistischer Gesellschaften verwenden lässt. Im Zuge seiner systemtheoretischen Konzeption von Legitimität zeigt er auf, dass dies schwer möglich sei (Heidorn 1982: 71) und betont seinerseits die legitimierende Funktion des Entscheidungsverfahrens. Legitimität ist bei Luhmann zu verstehen, „als eine generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen“ (Luhmann 1989: 28; kursiv im Original). Neue Gesellschaftsstrukturen sind der Grund für die Betonung des Verfahrens. In hochkomplexen Gesellschaften, die stetem Wandel und Wachstum unterworfen sind, ist der traditionelle Legitimitätsbegriff nicht mehr brauchbar. Politische Herrschaft kann hier nur über das politische System selbst legitimiert werden. Luhmann betont dahingehend, dass es sich nicht etwa um eine Rechtfertigung durch Verfahrensrecht handelt, sondern um „wirkliches Geschehen und nicht um eine normative Sinnbeziehung“ (Luhmann 1989: 37). Jürgen Habermas (1973, 1976) entwickelt einen Gegenentwurf zu Luhmanns Legitimitätstheorie, in dem er Normen und Weltbildern, die in einem System vorherrschend sind, einen zentralen Stellenwert einräumt (Heidorn 1982: 120). Er definiert: „Legitimität bedeutet, daß [sic.] der mit einer politischen Ordnung verbundene Anspruch, als richtig und gerecht anerkannt zu werden, gute Argumente für sich hat; eine legitime Ordnung verdient Anerkennung. Legitimität bedeutet die Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung“ (Habermas 1976: 39; kursiv im Original). Habermas argumentiert, dass spätkapitalistische Gesellschaften in zunehmende Legitimationsnöte geraten und sieht die Klassenstruktur dieser Gesellschaften als die wesentliche Ursache von Legitimationsdefiziten (Habermas 1976: 103; Heidorn 1982: 121).
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Daniela Braun und Hermann Schmitt
2.2 Integration der Forschungstraditionen Versuche, die normativ-theoretische und die empirisch-analytische Forschungsrichtung zusammenzuführen, sind vergleichsweise rar. David Beetham, einer der wenigen, der sich um die Integration beider Forschungstraditionen bemüht hat, kommt zu dem Schluss, dass die beiden Ansätze zwar unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen, sich jedoch nicht wechselseitig ausschließen (Beetham 1991). Eines der Hauptprobleme liegt dabei im vielschichtigen Legitimitätskonzept selbst. Durch die Einbeziehung beider Traditionen sollen Defizite des Legitimationskonzepts beseitigt werden. Einerseits will er sich mit seinem Zugang von der rein normativen Suche nach idealen Bedingungen lösen. Andererseits soll auch von der missverstandenen Weber’schen Konzeption, die die Legitimität von Herrschaft auf den Legitimitätsglauben der Bevölkerung reduziert, Abstand genommen werden (Beetham 1991: 37f). Eine adäquate Konzeptualisierung ist demnach nur möglich, wenn man den multidimensionalen Charakter des Konzepts anerkennt. Aus dieser Erkenntnis heraus identifiziert Beetham drei Voraussetzungen der Legitimität politischer Herrschaft: a. b. c.
sie muss mit etablierten Regeln (etwa der Verfassung) übereinstimmen; sie muss sich mit Bezug auf allgemein geteilte Werte rechtfertigen lassen; und sie muss sich auf die ausdrückliche Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen stützen (Beetham 1991: 19; Übersetzung der Verf.).
Was die ersten beiden Bedingungen angeht, stützt sich die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland auf eine oft angerufene und gut funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit und auf einen weit verbreiteten demokratischen Grundkonsens.1 Im Zuge unserer nachfolgenden Erörterung der Legitimationsprobleme der Mehrebenenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland im zweiten Teil dieses Kapitels werden wir uns deshalb auf die dritte Bedingung Beethams konzentrieren und untersuchen, inwieweit der Herrschaftsanspruch des politischen Systems der Bundesrepublik von seinen Bürgern als richtig und gerecht angesehen wird.
3
Konzeptualisierung von Legitimität
Wenn wir uns dem Konzept der Legitimität politischer Herrschaft in der empirischen Forschung nähern, stützen wir uns größtenteils auf die Arbeiten von David Easton und Seymour M. Lipset aus den 1960er und 1970er Jahren. Beiden Konzeptualisierungen gemeinsam ist die Frage, wie ein politisches System es schafft, einen Legitimitätsglauben bei seiner Bevölkerung zu erzeugen und auch zu erhalten. Der Fokus liegt auf der Stabilität politischer Systeme – dies tritt bei Lipset deutlicher in Erscheinung als bei Easton – wobei beide davon ausgehen, dass die Unterstützung durch die Bevölkerung der entscheidende Faktor für die Stabilität eines politischen Systems ist. „Thus legitimacy is a micro concept which concerns 1 Dieser ist freilich unter Bürgern der alten Bundesrepublik weiter verbreitet als unter jenen der ehemaligen DDR, vgl. z.B. Westle (1994) und Arzheimer/Klein (2000).
Politische Legitimität
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individual beliefs about macro features of the political system“ (Kaase/Newton 1995: 168; kursiv im Original). Obwohl wir uns hier Legitimitätstheorien im engeren Sinne zuwenden, soll an dieser Stelle kurz auf die politische Kultur-Forschung verwiesen werden. Die Legitimität politischer Systeme ist nämlich auch in der politischen Kultur-Forschung ein zentrales Thema. Die Anfänge dieses Forschungsbereichs sind in der Civic Culture-Studie von Gabriel A. Almond und Sidney Verba (1965) zu verorten. Die Autoren verdeutlichen die Querverbindung anhand eines Beispiels aus der deutschen Geschichte: „[…] while Germany developed both a Rechtsstaat and a subject political culture, the experiments with democratic participation in the late nineteenth century and in the Weimarer period never developed a participant political culture necessary to sustain these democratic institutions and give them force and legitimacy” (Almond/Verba 1965: 36; kursiv im Original).
In ihrer umfassenden Studie untersuchen und vergleichen Almond und Verba (1965) anhand von Umfrageergebnissen die politische Kultur der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Mexikos und Westdeutschlands. Auch hier standen Fragestellungen, wie die Persistenz des politischen Systems, die Einstellungen der Bevölkerungen gegenüber den Regierenden, das Ansehen oder die Kompetenz der Institutionen im Mittelpunkt. „When we speak of political culture of a society, we refer to the political system as internalized in the cognitions, feelings, and evaluations of its population“ (Almond/Verba 1965: 13). Kasten 3:
Kategorien der politischen Kultur bei Almond und Verba
Die beiden Autoren unterscheiden drei Grundtypen politische Kultur: Kennzeichnen für die parochiale politische Kultur (parochial culture) ist, dass die Bürger weitgehend ohne Beachtung des Staates handeln und leben. In der Untertanenkultur (subject culture) unterwerfen sich die Bürger den Entscheidungen des Staates fast ausnahmslos ohne jedoch aktiv an der Politik teilzunehmen. Die partizipative politische Kultur (participant culture) hingegen zeichnet sich durch die aktive Partizipation und Einflussnahme der Bürger am politischen Leben aus. Die Staatsbürgerkultur, die Civic Culture, stellt demgegenüber eine Mischform aus den genannten Typen dar. Sie war zum Zeitpunkt der Untersuchung nach Almond und Verba (1965) in den USA und Großbritannien vorhanden und ist der Typ politischer Kultur, der einem demokratischen politischen System am besten entspricht. Die Kongruenz mit einem stabilen demokratischen System ist bei der Staatsbürgerkultur am stärksten gegeben (Almond/Verba 1965: 366).2
3.1 Legitimität und Effektivität bei Seymour M. Lipset Seymour M. Lipset (1962, 1981), einer der prominentesten Vertreter der demokratischen Elitentheorie, erklärt die Stabilität politischer Systeme aus der Koinzidenz ihrer Legitimität und Effektivität. Er (1962: 70) geht davon aus, dass die Stabilität einer Demokratie nicht nur
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Ausführlicher zur Arbeit von Almond und Verba siehe den Beitrag von Oscar W. Gabriel in diesem Band.
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Daniela Braun und Hermann Schmitt
von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängt, „sondern auch von der Funktionsfähigkeit und der Legitimität ihres politischen Systems“. Effektivität ist dabei als aktuelle Performanz, das heißt Leistungsfähigkeit des Systems in politischer sowie wirtschaftlicher Hinsicht zu verstehen. Während der Performanz eine in erster Linie instrumentelle Komponente zugrunde liegt, ist Legitimität eher über Bewertungen zu fassen: „Die Legitimität ist vorhanden, wenn es dem politischem System gelingt, im Volke die Überzeugung zu schaffen und zu erhalten, daß [sic.] die bestehenden politischen Institutionen für die betreffende Gesellschaft die bestmöglichen sind“ (1962: 70, 1981: 64). Sind Legitimität und Effektivität defizitär, gerät die demokratische Regierungsform in Gefahr. Gleichwohl schreibt Lipset der Legitimitätsdimension eine bedeutendere Rolle zu. Wenn die Performanz eines politischen Systems kritische Werte erreicht, tritt die Legitimität in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Ausgeprägte Legitimitätsüberzeugungen können in diesem Fall die Krise des gesamten politischen Systems abwenden. Lipset verdeutlicht die Beziehung zwischen Effektivität und Legitimität beispielhaft anhand einer Vierfeldertabelle (vgl. Schaubild 1). Feld A zeichnet sich gleichermaßen durch den hohen Grad an Legitimität und Effektivität aus. Es handelt sich um stabile politische Systeme wie USA, Schweden und Großbritannien. Um vollkommen instabile politische Systeme (Feld D) handelt es sich nach Lipset z.B. bei der Regierung Ungarns oder Ostdeutschlands zu Zeiten des Kalten Krieges, da weder die Legitimität noch die Effektivität sonderlich stark ausgeprägt ist. Geringe Legitimität mit gleichzeitig relativ gut ausgeprägter Effektivität (Feld C) ist eher seltener. Eine solche Situation war beispielsweise in Deutschland in den 1930er Jahren vorhanden: Das System funktionierte, war jedoch sehr instabil und endete schließlich in einem autokratischem Regime. Schaubild 1:
Die Beziehung von Effektivität und Legitimität nach Lipset Effektivität +
-
+
A
B
-
C
D
Legitimität Quelle: Lipset (1981): 68.
Lipset (1959, 1981) nennt zudem einige Faktoren, die den Grad der Legitimität eines politischen Systems beeinflussen können. Dazu gehört die ökonomische Situation eines Landes sowie wichtige Größen, die in Zusammenhang mit gesellschaftlicher Modernisierung und wirtschaftlicher Entwicklung stehen: Urbanisierung, Bildungsexpansion, Massenkommunikation und zunehmender Wohlstand.
Politische Legitimität
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3.2 Unterstützung politischer Systeme bei David Easton Das heute wohl einflussreichste Legitimitätskonzept, das als Grundlage zahlreicher empirischer Arbeiten dient, stammt von David Easton (1965a, 1965b, 1975). Die nachhaltige Bedeutung dieses Konzepts ergibt sich aus seiner einfachen Operationalisierbarkeit (auch wenn diese nicht unumstritten ist; wir kommen hierauf zurück) sowie der Möglichkeit, die Ebene der individuellen Einstellung mit der des politischen Systems zu verknüpfen (Fuchs 1989: 12). Im Vergleich zu Lipsets Konzept ist die Ausdifferenzierung des politischen Systems in verschiedene Objektgruppen hervorzuheben. Easton geht mit seinem systemtheoretischen Ansatz davon aus, dass ein System seine Stabilität durch die Unterstützung der Bevölkerung erhält. Er schlägt vor, dass für die Persistenz eines politischen Systems inputs und outputs notwendig sind. Die Gesellschaft liefert den input in Form von Forderungen (demands) und Unterstützung (support). Den output des politischen Systems stellen die für die Gesellschaft verbindlichen Entscheidungen (decisions) dar, die in einem Rückkopplungsprozess wiederum Forderungen beeinflussen sowie positive oder negative Unterstützung hervorrufen. Easton geht davon aus, dass die Persistenz, also Überlebensfähigkeit des politischen Systems eher gewährleistet ist, wenn die Erwartungen der Gesellschaft mit den Leistungen des Systems einigermaßen in Einklang stehen. So definiert Easton Legitimität als Übereinstimmung der eigenen Werte und Vorstellungen mit den Objekten des politischen Systems: „[…] the conviction on the part of the member that it is right and proper […] to accept and obey the authorities and to abide by the requirements of the regime. It reflects the fact that in some vague or explicit way he sees these objects as conforming to this own moral principles, his own sense of what is right and proper in the political sphere“ (Easton 1965b: 278).
Forderungen & Unterstützung
Politische Gemeinschaft Politisches Regime Politische Herrschaftsträger
Entscheidungen & Handlungen
OUTPUTS
Das politische System nach Easton
politisches System
INPUTS
Schaubild 2:
Quelle: Easton (1965b): 32.
Easton nimmt in seinem Ansatz zur Unterstützung politischer Systeme eine für zahlreiche weitere Arbeiten zu diesem Thema einflussreiche Systematisierung der Objekte der Systemunterstützung vor. Er schlägt vor, diese Gegenstände nach abnehmender Reichweite und Allgemeinheit zu sortieren und zwischen der politischen Gemeinschaft (political community), dem Regime (political regime), und den politischen Herrschaftsträgern (political authorities) als
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Daniela Braun und Hermann Schmitt
Objekte der politischen Unterstützung zu unterscheiden. Die Idee dahinter ist, dass die abstrakteren Objekte – etwa die politische Gemeinschaft – eine andere, stabilere Art von politischer Unterstützung erfahren als die konkreteren – also die Tagespolitik und die Politiker, die sie machen. Diese Objektdifferenzierung wurde so auch in anderen theoretischen Arbeiten vorgenommen (vgl. u.a. Gamson 1968). Trotz der breiten Akzeptanz der Differenzierung nach den genannten Objektklassen besteht keine Einigkeit hinsichtlich der Frage, ob die Bevölkerung überhaupt zwischen diesen Objekten unterscheiden kann. Zudem unterscheidet Easton zwei Arten der politischen Unterstützung. Er nennt die stabilere Variante politischer Unterstützung diffus, die volatilere spezifisch. Die spezifische Unterstützung ist abhängig von konkreten Leistungen, die durch das politische System erbracht werden müssen. Werden die Forderungen nach konkreten Leistungen erfüllt, wird spezifische Unterstützung bereitgestellt, im gegenteiligen Falle nicht. Die diffuse Unterstützung hingegen ist weitgehend unabhängig von konkreter Systemperformanz, wird über allgemeinere Eigenschaften des politischen Systems generiert und ist damit langfristiger und stabiler in ihrer Ausprägung. Diffuse Unterstützung bezieht sich auf alle drei o.g. Objekte des politischen Systems, während spezifische Unterstützung nur hinsichtlich der Herrschaftsträger oder Autoritäten auftritt. Easton betont die Rolle der politischen Sozialisation für den Erwerb von Orientierungen, die der diffusen Unterstützung zugrunde liegen. Darüber hinaus könne aber ein über die Zeit angehäuftes Reservoir an spezifischer Unterstützung auch „diffundieren“, d.h. sich in diffuse Unterstützung für das politische Regime und die politische Gemeinschaft übertragen. Auf dieser Grundlage kann ein eigentlich erfolgreiches politisches Regime auch Krisen überstehen, ohne dass das Legitimitätseinverständnis gleich vollends wegbricht. In Hinblick auf Legitimität ist insbesondere die diffuse Systemunterstützung von Bedeutung, die in späteren Arbeiten von Easton (1975) weiter ausdifferenziert wird in die Kategorien Vertrauen und Legitimitätsüberzeugungen. Daraus ergibt sich ein Schema, das einerseits den Typen und andererseits den Objekten der Unterstützung Rechnung trägt (vgl. Schaubild 3). Auch wenn man der Unterscheidung zwischen spezifischer und diffuser Unterstützung wegen offensichtlichen Schwierigkeiten des empirischen Zugriffs skeptisch gegenüber stehen kann, wird die grundlegende Easton’sche Hierarchie der Unterstützungsobjekte – die politische Gemeinschaft, das Regime, und seine Akteure – regelmäßig zur Strukturierung der politischen Komplexität herangezogen. Dennoch wurden einige Vorschläge gemacht, um die Schwächen der Easton’schen Typologie zu beheben. Insbesondere hinsichtlich der Unterscheidung zwischen spezifischer und diffuser Unterstützung wurden Modifikationen vorgeschlagen; als wichtige Vertreter können Dieter Fuchs (1989), Bettina Westle (1989) sowie Pippa Norris (1999) genannt werden.
Politische Legitimität
Schaubild 3:
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Eastons Konzept politischer Unterstützung nach Fuchs
Unterstützungstypen
Unterstützungsobjekte
Diffus
Quellen:
Politische Gemeinschaft
Regime
Autoritäten
Normen/ Werte
Identifikation mir der politischen Gemeinschaft
Legitimität des Regimes
Legitimität der Autoritäten
Vertrauen in das Regime
Vertrauen in die Autoritäten Zufriedenheit mit den alltäglichen Outputs
Generalisierter Nutzen Spezifisch
Kurzfristiger Nutzen
Quelle: Fuchs (1989): 18.
Fuchs (1989) hält grundsätzlich an der Differenzierung hinsichtlich der drei Unterstützungstypen fest, verändert Eastons Modell aber in Bezug auf die Unterstützungsmotive. Er geht davon aus, dass es sich bei Unterstützung um eine Einstellung handelt, die als sozialpsychologisches Konzept behandelt werden müsse. Auf Parsons’ Handlungstheorie (1951) gestützt spezifiziert er, der Vorgehensweise von Almond und Verba (1965) ähnlich, drei weitere Handlungsorientierungen: die instrumentelle, die expressive sowie die moralische Orientierung (vgl. Schaubild 4). Die instrumentelle Unterstützung orientiert sich an dem Nutzen, der daraus erwächst, so dass die Performanz oder auch die Effektivität in Beziehung zur Handlung gesetzt wird. Expressive Handlungsorientierungen hingegen betreffen die emotionalen Bedürfnisse, die durch das Unterstützungsobjekt geweckt werden: es handelt sich um affektive Bindungen wie Stolz oder Identifikation. Die moralischen Orientierungen zielen schließlich auf die Übereinstimmung zwischen dem Charakter des Regimes und den moralischen Vorstellungen des Einzelnen ab. Auch Bettina Westle (1989) entwickelt Eastons Konzept weiter. Sie übernimmt die Unterscheidung der drei Unterstützungsobjekte politische Gemeinschaft, Herrschaftsordnung und Herrschaftsträger, interpretiert diese jedoch neu und präzisiert sie. Eine weitere Modifizierung des Modells ist Fuchs’ Vorschlag konzeptionell sehr ähnlich – es handelt sich um die Problematik der Unterscheidung zwischen diffuser und spezifischer Unterstützung, die allgemein als unzureichend betrachtet wird. Da es sowohl für die Bürger als auch für die sozialwissenschaftliche Messung kaum möglich ist, die idealtypische Trennung von outputabhängiger und outputunabhängiger Bewertung vorzunehmen, hat Westle das Modell um zwei Unterstützungsarten erweitert: die diffus-spezifische und die spezifisch-diffuse Unterstützung. Durch diese Erweiterung des Konzepts besteht die Möglichkeit die Komponenten der Unterstützungsarten nach Outputbewertung und Outcomebewertung zu präzisieren. Während die Outputbewertung der diffus-spezifischen Unterstützung zuzurechnen ist, drückt sich die spezifisch-diffuse Unterstützung über Outcomebewertungen aus.
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Schaubild 4:
Analytisches Schema politischer Unterstützung nach Fuchs
OrientierungsModi
Orientierungs-Objekte Politische Gemeinschaft
Regime
Autoritäten
Expressiv
IDENTIFIKATION mit der politischen Gemeinschaft
Identifikation mit dem Regime
Identifikation mit den Autoritäten
Moralisch
Legitimität der politischen Gemeinschaft
LEGITIMITÄT des Regimes
Legitimität der Autoritäten
Instrumentell
Effektivität der politischen Gemeinschaft
Effektivität des Regimes
EFFEKTIVITÄT der Autoritäten
Quelle: Fuchs (1989): 26.
Kasten 3:
Outputbewertung und Outcomebewertung
Westle (1989) merkt kritisch an, dass Eastons Unterscheidung zwischen Output und Outcome nicht klar erfolgt. Insbesondere Outcome wird wechselnd als Bewertung der Performanz der politischen Herrschaftsträger oder aber als Bewertung der Handlungsergebnisse beschrieben. Aus Gründen dieser fehlenden Präzisierung bietet sie eine eindeutigere Definition an. Unter Output ist demnach die Leistung politischer Herrschaftsträger (Performanz) zu verstehen während mit Outcome Handlungsergebnisse gemeint sind (1989: 184f).
Pippa Norris (1999) plädiert ebenfalls für eine Überarbeitung von Eastons Unterstützungsarten, wobei sie ein Kontinuum von diffuser zu spezifischer Unterstützung vorschlägt. Auf der ersten Ebene befindet sich die diffuse Unterstützung hinsichtlich der politischen Gemeinschaft während sich die zweite Ebene auf allgemeine Prinzipien des Regimes bezieht – meist handelt es sich hierbei um die Einstellung der Bürger zur Demokratie allgemein oder auch um spezifische Werte (wie Freiheit oder Toleranz), die einem demokratischen System entsprechen. Eine dritte, mittlere Ebene betrifft die Bewertung der Systemperformanz; bei der vierten Ebene liegt der Fokus auf den Institutionen des Regimes und damit auf dem Vertrauen, das den politischen Institutionen entgegengebracht wird. Die fünfte Ebene gilt schließlich der spezifischen Unterstützung der politischen Akteure oder Autoritäten. Kasten 4:
Wichtige Aspekte in den Legitimitätskonzepten von Lipset und Easton
Ausgangspunkte beider Konzepte: Frage nach der Persistenz eines politischen Systems Der entscheidende Faktor für die Stabilität eines politischen Systems ist die Unterstützung durch die Bevölkerung Frage nach der Erzeugung und Erhaltung des Legitimitätsglaubens der Bevölkerung Eastons systemtheoretischer Ansatz zur Unterstützung politischer Systeme: Ausdifferenzierung des politischen Systems in die Objektgruppen politische Gemeinschaft, politisches Regime und politische Herrschaftsträger oder Autoritäten Unterscheidung in die diffuse und spezifische Art politischer Unterstützung Fazit: Deutlich stärker ausdifferenziertes Konzept (drei Objekte politischer Unterstützung), verknüpft mit einigen konzeptuellen Unklarheiten, die verschiedene Überarbeitungen des Konzepts zur Folge hatten (Westle 1989; Fuchs 1989; Norris 1999)
Politische Legitimität
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Lipsets Ansatz zur Erklärung der Stabilität politischer Systeme: Unterscheidung zwischen der Effektivität und der Legitimität des politischen Systems Konstruktion einer Typologie über die dichotome Beziehung zwischen Effektivität und Legitimität zur Veranschaulichung der Stabilität politischer Systeme Fazit: Verwendung eindeutiger Faktoren zur Beurteilung des politischen Systems, allerdings ein wenig ausdifferenziertes Konzept (da nur eine Objektebene)
3.3 Legitimität und europäische Integration Mit dem Fortschreiten der europäischen Integration gewinnt die Frage nach der Legitimität der Europäischen Union (EU) neben der Legitimität der Nationalstaaten zunehmend an Bedeutung. Dies betrifft einerseits die Problematik des „demokratischen Defizits“ der EU, andererseits aber auch die Frage nach der Legitimität der Nationalstaaten, die durch die stetig voranschreitende europäische Integration beeinträchtigt werden kann. Eine wichtige Sichtweise der Legitimation der Politik der europäischen Union wird von Fritz Scharpf (1970, 1999, 2007) vertreten. Er unterscheidet prinzipiell zwei Arten der Rechtfertigung politischer Herrschaft: die input-orientierte und die output-orientierte Legitimität. Mit Input-Legitimität meint Scharpf die „Herrschaft durch das Volk“, die sich auf die Akteure und Mechanismen der politischen Willensbildung und Interessenvermittlung stützt und wesentlich von einer bereits existierenden kollektiven Identität abhängt. OutputLegitimität als „Herrschaft für das Volk“ hingegen braucht diesen „demokratischen Apparat“ nicht und ist auch nicht von einer kollektiven Identität abhängig, sondern setzt ausschließlich die Existenz gemeinsamer Interessen voraus (Scharpf 1999: 16ff; Kraus 2004: 560f). Die Dichotomie von Output- und Inputlegitimität kennzeichnet die Scharpf’sche Bestimmung der Legitimationsgrundlagen der europäischen Mehrebenenpolitik. Da sich die (frühe) EU durch das Fehlen einer breiten Öffentlichkeit auszeichnet, kommt er zu dem Schluss, dass ihre Politik nicht über Input-Mechanismen legitimiert werden kann. Wenn dem so ist, kann nur die effektive Problemlösung durch die Institutionen der Europäischen Union im gemeinsamen Interesse der Mitgliedsländer eine Legitimitätsgrundlage darstellen. So hält er im Falle der EU die Output-Legitimität im Zweifel für die entscheidende. Hinsichtlich der Legitimation der nationalstaatlichen Politik erscheint ihm zwar plausibel, dass die EU Druck auf die Mitgliedsstaaten ausübt; er teilt jedoch nicht die Annahme, dass dieser Druck die Legitimität der Nationalstaaten untergraben könnte – und zwar gerade weil (und solange) die Mechanismen der Input-Legitimation auf EU-Ebene unterentwickelt bleiben. David Beetham und Christopher Lord (1998) gehen der Frage nach der Legitimität der Politik der Europäischen Union unter Rückgriff auf die allgemeine Legitimitätstheorie von Beetham (1991) nach. Sie unterscheiden zwischen der prozeduralen Legitimität, die sich von den Verträgen ableitet, und der über die Mitgliedsstaaten vermittelten indirekten Legitimität. Gleichzeitig erkennen sie jedoch die Notwendigkeit einer direkten Legitimation der Politik der Europäischen Union, die sich an den Kriterien der liberalen Demokratie messen lassen muss (Beetham/Lord 1998: 32). Den Schlüssel sehen sie in der Interaktion der verschiedenen Legitimitätsdimensionen: die Interaktion zwischen den direkten und indirekten Legitimationsarten, den drei normativen Kriterien Performanz, Identität und Demokratie
64
Daniela Braun und Hermann Schmitt
sowie zwischen den politischen Herrschaftsträgern der nationalen und europäischen Ebene (Beetham/Lord 1998: 129). Allgemein hat die Problematik des Legitimationsdefizits und des damit verbundenen Demokratiedefizits der Politik der Europäischen Union in den vergangenen Jahr(zehnt)en zu einer regelrechten Flut von theoretischen und auch empirischen Arbeiten geführt. Meist wird auf Basis von Eurobarometer-Daten und unter Rückgriff auf Eastons Ansatz der Frage nachgegangen, ob das politische System der EU ausreichend legitimiert ist. Als eines der zentralen Ergebnisse kann festgehalten werden, dass – wie auch immer man sich der Frage nähert – ein gewisses Legitimationsdefizit der EU nicht zu verkennen ist (vgl. u.a. Schmitt/ Thomassen 1999; Kohler-Koch et al. 2004). Kasten 5:
Gemeinsamkeiten verschiedener Konzepte
Die unterschiedlichen Sichtweisen schließen sich wechselseitig nicht aus. So ist etwa die Lipset’sche „effectiveness“ nicht weit weg von der Scharpf’schen Output-Legitimität. Lipset versteht unter Effektivität die aktuelle (politische und wirtschaftliche) Performanz des Systems. Auch die Scharpf’ sche Output-Legitimität ist in diese Richtung zu interpretieren. Voraussetzung dieser sind gemeinsame Interessen, nicht jedoch die Existenz eines demokratischen Apparats oder kollektiver Identitäten. Damit rückt auch hier die Performanz des Systems in den Vordergrund.
4
Exkurs: Legitimationskrise und der Rückgang des politischen Vertrauens
Eine (tatsächliche oder vermeintliche) Legitimationskrise, die sich in zahlreichen Krisenbzw. Unregierbarkeitstheorien widerspiegelt, beschäftigte die Politikwissenschaft insbesondere in den 1970er und frühen 1980er Jahren. Kern dieser Krisentheorien ist die Verringerung der Zustimmung der Bürger zur politischen Ordnung sowie schwindender Konsens und rückläufiges Vertrauen gegenüber den Institutionen des Staates. Beides wirft grundlegende Fragen für die Legitimität des politischen Systems auf (Kielmannsegg 1976; Kaase 1984; Westle 1989; Arzheimer 2002). Der Rückgang des Vertrauens in politische Institutionen, insbesondere in die Regierung, spielt in Zusammenhang mit der behaupteten Legitimationskrise eine wichtige Rolle. Ausgangspunkt der lange andauernden Diskussion über das abnehmende politische Vertrauen und damit auch der späteren Krisendebatten (Arzheimer 2002: 50) war die in den siebziger Jahren in den USA geführte Debatte zwischen Arthur H. Miller und Jack Citrin. Miller (1974) hat als Ursache für den Rückgang des politischen Vertrauens die politische Spaltung der Öffentlichkeit erkannt. Citrin (1974) hingegen bestreitet grundsätzlich die Validität der Miller’schen Messinstrumente und weist damit auf die Notwendigkeit der Unterscheidung in die Easton’schen Unterstützungsobjekte hin. Der Problematik des rückläufigen politischen Vertrauens wird bis heute in zahlreichen Arbeiten nachgegangen (Crozier et al. 1975; Lipset/Schneider 1983; Weil 1989; Torcal/Montero 2006; eine Zusammenfassung ist zu finden bei Kaase/Newton 1995: 17-39 sowie bei Arzheimer 2002: 50ff).
Politische Legitimität
5
65
Legitimationsprobleme der Mehrebenenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland
Wir wenden uns nach diesen konzeptuellen Überlegungen der Empirie der Entwicklung der Legitimitätsüberzeugungen der Deutschen zu, für die alte Bundesrepublik und – wo möglich – auch für die so genannten „neuen Bundesländer“. Wie so oft wird uns auch hier die Easton’sche Hierarchie der Unterstützungsobjekte als heuristisches Raster dienen. Entwicklung braucht Zeit, deshalb konzentrieren wir uns auf die (wenigen) verfügbaren langen Datenreihen.
5.1 Die politischen Autoritäten Was die Einstellungen der Deutschen gegenüber politischen Autoritäten angeht, verfügen wir über drei Indikatoren, die die Entwicklung des öffentlichen Ansehens der Abgeordneten, der Kanzlerkandidaten und schließlich der Regierungen beschreiben. Die längste Zeitreihe misst das Ansehen der Bundestagsabgeordneten. Wenn auch in unregelmäßigen Intervallen erhoben, reicht die Zeitreihe doch mittlerweile über ein halbes Jahrhundert zurück. Allerdings stammt die bisher letzte Beobachtung aus dem Jahr 2001, sodass uns für diesen Indikator über die letzten Jahre keine Informationen vorliegen. Das Ansehen der Abgeordneten
Schaubild 5:
Das Ansehen der Abgeordneten
% 80
West 60
40
20
Ost
0 53
57
61
64
72
78
87
9192
Fragetext: "Glauben Sie, man muß große Fähigkeiten haben, um Bundestagsabgeordneter zu werden?" Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach (2002).
96
99 01
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Daniela Braun und Hermann Schmitt
Das Institut für Demoskopie Allensbach hat über Jahrzehnte hinweg in einem Dutzend Erhebungen gleichlautend gefragt, ob „man große Fähigkeiten haben [muss], um Bundestagsabgeordneter zu werden.“ Diese Frage misst in einer sehr allgemeinen und deshalb vermutlich besonders validen Weise die generalisierte Wertschätzung der Amtsinhaber durch die Bürger. Auf die gestellte Frage kann man mit ja oder nein antworten; wir stellen die Anteile der „ja“-Antworten an allen gültigen Antworten dar (Schaubild 5). Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages konnten demnach in den Anfangsjahren der deutschen Nachkriegsdemokratie, d.h. in den 1950er und 1960er Jahren, öffentliches Ansehen hinzugewinnen. 1972 waren zwei von drei Bundesbürgern der Ansicht, „man müsse große Fähigkeiten haben, um Bundestagsabgeordneter zu werden“. In den drei Jahrzehnten danach geht das öffentliche Ansehen der Abgeordneten jedoch unmissverständlich zu Bruch. Im Jahr 2001 äußerten sich in den alten Bundesländern gerade noch 28 Prozent positiv, in den neuen Ländern waren es noch weniger. Im Vergleich der alten mit den neuen Ländern ergibt sich eine Beobachtung, die wir in den Daten öfter wiederfinden werden: Die Bürger der ehemaligen DDR sind der Politik der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung am Anfang der 1990er Jahren zunächst mit gewissen Vorschusslorbeeren gegenübergetreten, die sie dann jedoch bald aufgebraucht haben. Die Abgeordneten sind das Fußvolk der Politik. Anders als das Führungspersonal der Parteien geraten sie selten ins Scheinwerferlicht. Deshalb könnte die zunehmende Konzentration politischer Kommunikation auf das Medium Fernsehen diesen Ansehensverfall mit verursacht haben. Wir können diesem Verdacht nachgehen, indem wir die Entwicklung der öffentlichen Wertschätzung der Abgeordneten jener der Kanzlerkandidaten entgegenhalten. Im Anlauf auf eine Bundestagswahl stehen Kanzlerkandidaten im Zentrum der politischen Auseinandersetzung: niemand kann sie übersehen. Tatsächlich geht die vergleichende Forschung schon eine ganze Weile der Frage nach, ob der Einfluss solcher Spitzenpolitiker auf die Wahlentscheidung nicht „über Gebühr“ angewachsen ist und was das gegebenenfalls für das Funktionieren repräsentativer Demokratien bedeutet (McAllister 1996; Brettschneider 2002; King 2002; Marsh 2007). Im gegenwärtigen Kontext interessieren wir uns für die vorgelagerte Frage, wie die Bürger das Spitzenpersonal der Parteien beurteilen. Seit der ersten akademischen Wahlstudie aus dem Jahr 1961, das heißt über nahezu ein halbes Jahrhundert deutscher Wahlgeschichte hinweg, verfügen wir hierzu mit den so genannten „Sympathiefragen“ über einen recht guten Indikator. Wir betrachten nur die Spitzenkandidaten der beiden großen Parteien, CDU/CSU und SPD, da nach den bisherigen parlamentarischen Kräfteverhältnissen nur ein Kandidat dieser Parteien Kanzler werden kann. Dass sich gelegentlich auch ein Spitzenkandidat einer kleineren Partei „Kanzlerkandidat“ nennt, soll uns dabei nicht irritieren.3 Schaubild 6 zeigt die Entwicklung der öffentlichen Wahrnehmung der Kanzlerkandidaten nach der jeweiligen Bundestagswahl. Wir konzentrieren uns dabei auf die Darstellung der westdeutschen Bewertungen, da sich die entsprechenden Werte für die neuen Länder (ab 1994) nicht signifikant unterscheiden.
3 Dies wurde zum Beispiel von Jürgen Möllemann betrieben, der mit seinem „Projekt 18%“ im Anlauf auf die Bundestagswahl 2002 die FDP aus der Enge der „Funktionspartei“ herausführen wollte.
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Das Ansehen der Kanzlerkandidaten
Schaubild 6: 5
4
3
2
1
0
-1 1961
1965
1969
1972
1976
1980
1983
1987
1990
1994
1998
2002
2005
Legende: Dargestellt ist der Durchschnitt der mittleren Sympathiewerte der Spitzenkandiaten der beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD. Die Frage lautet jeweils, "Und was halten Sie von den folgenden Politikern?" Die Antwortskala reicht von +5="halte ich viel davon" bis -5 = "halte ich nicht viel davon". Es werden nur Ergebnisse für Westdeutschland dargestellt. Die analysierten Datensätze sind Recall-gewichtet. Quelle: Nachwahlumfragen aus der Serie der deutschen Wahlstudien.
Es zeigt sich, dass der Ansehensverlust der Abgeordneten keineswegs eine Ausnahmeerscheinung darstellt. Die Entwicklung bei den Spitzenpolitikern ist vielleicht etwas weniger dramatisch, aber dennoch vergleichbar. Ihr Ansehen erreichte 1976, als Helmut Schmidt gegen Helmut Kohl antrat, einen Höhepunkt, um danach mehr oder weniger kontinuierlich bis 1994 abzuschmelzen. Zur Erinnerung: 1994 standen sich Helmut Kohl und Rudolf Scharping gegenüber. Erst mit den Kandidaturen des Wahljahres 1998 (Helmut Kohl gegen Gerhard Schröder) und noch deutlicher bei der stark Kandidaten-zentrierten Wahl des Jahres 2002 (Gerhard Schröder gegen Edmund Stoiber) hat sich hier so etwas wie eine kleine Trendwende ergeben. Diese hielt jedoch nicht lange vor. Die vorzeitige Wahl des Jahres 2005 (Gerhard Schröder gegen Angela Merkel) markiert den einstweiligen Tiefpunkt des öffentlichen Ansehens der deutschen Kanzlerkandidaten: nun rangieren beide auf der Skala von +5 (halte sehr viel von diesem Politiker) bis –5 (halte nichts von diesem Politiker) nahe 0. Man kann daraus nur schließen, dass das öffentliche Ansehen der politischen Autoritäten in Deutschland dramatisch abgenommen hat. Dies gilt sowohl für die Spitzenkandidaten wie für die hinteren Ränge. Es gilt, wie sich zeigen lässt, auch für den kollektiven Akteur „Bundesregierung“. Die Politbarometer-Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen haben über die vergangenen 25 Jahre ermittelt, dass die Bundesbürger mit ihrer Regierung immer weniger zufrieden sind. Erneut fallen die Unterschiede in den Ergebnissen für West- und Ostdeutschland (nach der Wiedervereinigung) kaum ins Gewicht, sodass wir in der Darstellung auf die ostdeutsche Verlaufskurve verzichten können. Schaubild 7 zeigt die Ergebnisse. Bei diesem Indikator fluktuieren die Monatswerte beträchtlich. Die Entwicklung der Jahresmittelwerte zeigt jedoch, dass die Zufriedenheit mit der Regierung zwischen 1977 und 2004 um 1,5 Skalenwerte abgefallen ist (dies jedenfalls ergibt die Trendanalyse auf der Grundlage einer linearen Regression: der Vorhersagewert für 1977 liegt bei +1, jener für 2004
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Daniela Braun und Hermann Schmitt
bei -0,5). Ab der Mitte der 1990er Jahre bewegt sich das Ansehen der Bundesregierung fast durchgehend im negativen Bereich. Schaubild 7:
g
Das Ansehen der Bundesregierung
g
3 2,5 2 1,5 1 0,5 0 -0,5 -1 -1,5 -2 -2,5 -3 1980
1983
1987
1990
1994
1998
2002
Legende: Dargestellt sind die Jahresmittelwerte des Ansehens der Regierung auf einer Skala von +5 = "halte ich viel davon" bis -5 = "halte ich nicht viel davon". Es werden nur Ergebnisse für Westdeutschland dargestellt. Die analysierten Datensätze sind repräsentativ-gewichtet. Quelle: Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen.
5.2 Das politische Regime Mit den politischen Parteien wenden wir uns einem weiteren kollektiven politischen Akteur zu, der in der Parteiendemokratie der Bundesrepublik aber auch als eine der zentralen Säulen des politischen Regimes betrachtet werden kann (Wildenmann 1989) und insofern irgendwo zwischen die Easton’schen Kategorien fällt (Schmitt 1983). Es ist bekannt: in vielen entwickelten Demokratien schwindet das Ansehen der Parteien. Die These vom säkularen Niedergang der Parteibindungen der Bürger, die zuletzt von Russell Dalton und Martin Wattenberg (2002) empirisch untermauert wurde, findet allerdings ernsthaften Widerspruch hinsichtlich der dort vorgebrachten soziologischen Begründung der beobachteten Phänomene. In den Augen der Kritiker ist es nicht so sehr die gesellschaftliche Modernisierung, die für den Niedergang der Parteibindungen verantwortlich ist, sondern der zunehmende Verlust inhaltlich-politischer Unterschiede und Konflikte zwischen den Parteien (Schmitt/ Holmberg 1995; Berglund et al. 2005; Schmitt/Wüst 2006). Die Daten zeigen deutlich, dass auch die Deutschen ihren Parteien über die vergangenen Jahrzehnte hinweg reservierter gegenüber treten (Schaubild 8). Die Serie der deutschen Wahlstudien enthält keine über die ganze Zeit vergleichbare Formulierung der Parteiidentifikationsfrage. Deshalb greifen wir hier zunächst auf die so genannten Parteienskalometer für die national relevanten Parteien zurück. Hier werden die Befragten gebeten, auf einer Skala von „-5“ bis „+5“ anzugeben, was sie so ganz allgemein von den politischen Parteien
Politische Legitimität
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halten. Die Zeitreihe umfasst die Wahljahre von 1961 bis 2005. „Trend A“ stellt den Anteil der Befragten dar, die ihre am besten bewertete Partei mit einem der zwei höchsten Punktwerte (auf einer 11er Skala) auszeichnen. Wir sehen hier, dass die Parteien in der Frühphase der Bundesrepublik, in den 1960er und 1970er Jahren, einiges an stabiler Unterstützung aufbauen konnten. Die Parteibindungen der Deutschen haben in der stark politisierten „Willy-Wahl“ des Jahres 1972 und dann noch einmal in der Schmidt-Strauß-Wahl des Jahres 1980 ein Hochplateau erreicht (so schon Schmitt/Holmberg 1995). Rund 70 Prozent der (West-) Deutschen fühlten sich in beiden Wahljahren einer Partei so eng verbunden, dass sie ihr den höchsten oder zweithöchsten Sympathiewert zuerkannten. Von da an ging es mehr oder weniger kontinuierlich bergab. Nach einem Zwischenhoch im Wiedervereinigungsjahr 1990 wurde der bisherige Tiefstwert mit etwas mehr als 40 Prozent im Jahr 1994 erreicht – das entspricht nahezu einer Halbierung im Vergleich des 1980er Wertes. Danach – d.h. in den Wahljahren 1998, 2002 and 2005 – hat sich die Kurve wieder etwas nach oben gewendet, was wohl nicht zuletzt dem Wirken des SPD-Wahlkämpfers Gerhard Schröder in diesen Jahren zuzuschreiben ist. Das Ansehen der Parteien
Schaubild 8: 100 90 80
Trend B
70
Trend A
60
Trend C
50 40 30 20 10 0 1961
1965
1969
1972
1976
1980
1983
1987
1990
1994
1998
2002
2005
Legende: Trend A ist der Anteil der Befragten, die ihre meistpräferierte Partei auf einer Skala von +5 bis -5 bei +4 oder +5 plazieren. Es werden die Ergebnisse für Westdeutschland dargestellt. Quelle: Nachwahlumfragen aus der Serie der deutschen Wahlstudien (recall-gewichtet).Trend B ist der Anteil der Befragten, die "über längere Zeit einer Partei zuneigen, obwohl Sie auch ab und zu eine andere Partei wählen." Es werden Ergebnisse für Westdeutschland dargestellt. Quelle: Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen (repräsentativ gewichtet). Trend C: wie Trend B, nur für Ostdeutschland.
Schaubild 8 enthält zwei weitere Trendreihen, die den Politbarometern der Forschungsgruppe Wahlen entnommen sind. Seit 1976 werden in dieser Umfrageserie monatlich repräsentative Stichproben der deutschen Wahlbevölkerung mit einem identischen Instrument nach ihrer Parteineigung gefragt.4 Wir konzentrieren uns hier auf Jahresmittelwerte für 4 Die Frage lautet: „In Deutschland neigen viele Leute längere Zeit einer bestimmten politischen Partei zu, auch wenn sie ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie – ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten politischen Partei zu?“ Folgefragen ermitteln die Richtung und die Stärke der Parteineigung.
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Daniela Braun und Hermann Schmitt
Westdeutschland (Trend B, seit 1976) und Ostdeutschland (Trend C, seit 1992). Am Anfang der westdeutschen Serie neigen vier von fünf Deutschen einer politischen Partei zu. Ein Vierteljahrhundert später sind es im Westen der Republik nur noch zwei von dreien, d.h. die Parteien haben hier die affektive Unterstützung von rund 20 Prozent der Bürger eingebüßt. Die Bürger im Osten Deutschlands begannen ihr Verhältnis mit dem bundesrepublikanischen Parteiensystem auf erstaunlich hohem Niveau; rund 50 Prozent standen schon 1992 einer politischen Partei nahe (Schmitt 1992). Dieser Anteil hat sich seither eher der 60Prozentlinie angenähert. Die Niveaus der Parteineigung im Osten und Westen der Bundesrepublik bewegen sich langsam aufeinander zu. Der Vergleich der Trendlinien zeigt, dass der globale Parteineigungs-Indikator der Politbarometer erkennbar stabiler ist als das sensiblere Instrument der Attraktivität der meistpräferierten Partei, das wir aus den Parteienskalometern der deutschen Wahlstudien ermittelt haben. Die Differenz zwischen allgemeiner Parteineigung und Attraktivität der meistpräferierten Partei wächst über unseren Beobachtungszeitraum leicht an: sie betrug am Ende der 1970er Jahre etwa 10 Prozent, 1994 waren daraus mehr als 20 Prozent geworden, und im Jahre 2002 lag die Differenz schließlich bei etwa 15 Prozent.5 Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Demokratie-Zufriedenheit, einem zentralen Indikator der Wertschätzung des demokratischen Systems der Bundesrepublik (vgl. Schaubild 9). Zwar reichen unsere Sensoren hier nicht in die Frühphase der Republik zurück und wir wissen nicht, in welchen Schritten sich die breite Zufriedenheit aufgebaut hat, die wir in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre vorfinden. 1977 jedenfalls sind vier von fünf Westdeutschen mit ihrer Demokratie „sehr“ oder „eher zufrieden“. Danach erkennen wir zwei deutliche Einbrüche, den einen in den politischen Turbulenzen, die zur Abwahl von Bundeskanzler Helmut Schmidt geführt haben,6 und den zweiten in der Folge der deutschen Wiedervereinigung. Beide Ereignisse haben langfristig jeweils rund zehn Prozent Demokratiezufriedenheit „gekostet“, auch wenn die Werte sich nach den Einbrüchen teilweise wieder etwas erholt haben. So liegt die Demokratiezufriedenheit im Westen heute etwa 20 Prozent unter den Startwerten unserer Zeitreihe, und sie liegt im Osten noch einmal beträchtliche 20 Prozent darunter. Die Bürger in den neuen Bundesländern waren über die erste Dekade nach der Vereinigung mehrheitlich unzufrieden mit dem politischen Regime der Bundesrepublik. Nebenbei bemerkt: gleiches gilt nicht für die Zufriedenheit der Ostdeutschen mit ihrem privaten Leben, die in dieser Periode deutlich angestiegen ist. Für die Demokratiezufriedenheit verfügen wir neben den hier herangezogenen Politbarometern der Forschungsgruppe Wahlen über eine weitere Zeitreihe, die in den international-vergleichenden Umfragen der Eurobarometer erhoben worden sind. Die Zeitreihen 5 Dennoch ist festzuhalten, dass beide Trendreihen – obwohl aus unterschiedlichen Datenquellen gewonnen und auf unterschiedlichen Frageformulierungen basierend – sich erfreulich parallel entwickeln, was deutlich für die Validität der Messinstrumente spricht. 6 Zur Auffrischung der historischen Fakten: Die FDP hat im Sommer 1982 die Regierungskoalition mit der SPD aufgekündigt, um am 1. Oktober gemeinsam mit der CDU/CSU Helmut Kohl in einem konstruktiven Misstrauensvotum zum Kanzler zu wählen. Der hat sich dann in einer vorgezogenen Neuwahl im März 1983 dem Urteil der Wähler gestellt. Die Vorgänge um den Koalitionswechsel in der Mitte der Legislaturperiode sowie um die vorzeitige Auflösung des Bundestages waren damals quer durch die Fraktionen als den Regeln der parlamentarischen Demokratie und dem Verfassungsrecht zuwiderlaufend betrachtet worden.
Politische Legitimität
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sind etwa gleich lang,7 und führen ganz allgemein zu den gleichen Erkenntnissen über die Entwicklung der Regime-Unterstützung in Deutschland in der beobachteten Zeitspanne (Scheuer/Schmitt 2007). Allerdings unterscheiden sich die Frageformulierungen geringfügig. Die Eurobarometer-Frage betont stärker den Output-Aspekt des demokratischen Prozesses,8 was plausiblerweise zu einem stärkeren und länger anhaltenden Einbruch der Demokratiezufriedenheit in den ökonomisch und politisch schwierigen Jahren nach der Wiedervereinigung führt. Schaubild 9:
Die Zufriedenheit mit der Demokratie
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1977
1980
1985
1990
1995
2000
2004
Legende: Dargestellt ist der Anteil der Befragten, die mit "... der Demokratie in Deutschland (sehr bzw.) eher zufrieden sind ...". 1989 wurden die Antwortkategorien der Frage geändert: anstelle der bisherigen 4er-Skala (sehr zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden, sehr unzufrieden) wurden von nun an nur noch zwei Antwortkategorien vorgegeben: "eher zufrieden" und "eher unzufrieden". Die Ergebnisverteilungen scheinen davon wenig berührt worden zu sein. Es werden repräsentativ gewichtete Jahresmittelwerte für Westdeutschland (lange Trendreihe) und für Ostdetschland (kurze Reihe) dargestellt. Quelle: Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen.
5.3 Die politische Gemeinschaft Wir schließen diese Skizze der Entwicklung des Legitimitäts-Einverständnisses der Deutschen ab, indem wir uns einem gängigen Indikator der Identifikation mit der politischen Gemeinschaft zuwenden: dem Nationalstolz (vgl. u.a. Westle 1997). Aufgrund der größeren Distanz zur Tagespolitik erwarten wir hier deutlich stabilere Trendverläufe: Das Objekt der Identifikation ändert sich kaum, und auch die Deutungskontexte – etwa der geschichtliche Rahmen oder die Einbindung in die Europäische Union – sind längerfristig stabil. Es zeigt sich, dass diese gegenüber der Tagespolitik resistent geglaubte Dimension des Legitimitätseinverständnisses in der Tat nur moderaten langfristigen Veränderungen unterliegt (vgl. Schaubild 10). Die Eurobarometer-Zeitreihe beginnt im Jahr 1976 und reicht damit ein Jahr weiter zurück. Die Eurobarometer-Frage lautet: „Sind Sie im allgemeinen sehr zufrieden, etwas zufrieden, etwas unzufrieden oder sehr unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland?“ 7 8
72
Daniela Braun und Hermann Schmitt
Der Nationalstolz war in der Bundesrepublik aufgrund der Hybris des deutschen Nationalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach dem zweiten Weltkrieg immer schwächer ausgeprägt als in vergleichbaren Nationalstaaten. Nach zwei verlorenen Weltkriegen und der nahezu vollständigen Auslöschung der europäischen Juden im deutschen Namen war die Nation als Identifikationsobjekt in Misskredit geraten. Viele Menschen, gerade auch auf der Linken, hatten in der Europäischen Union eine Art Ersatz-Vaterland gesucht und gefunden. 1982, zu Beginn der Eurobarometer-Zeitreihe, waren nur etwa 60 Prozent der Bürger der damaligen Bundesrepublik stolz, Deutsche zu sein. Zwar verfügen wir über die Zeit zwischen 1988 und 1998 über keine validen Erhebungen, die uns Auskunft über die Entwicklung dieses Indikators in dieser Periode geben könnte. Danach sind jedoch wieder Trendinformationen vorhanden und es scheint, als ob über das Vierteljahrhundert seit Beginn der Zeitreihe der Nationalstolz der Westdeutschen langsam aber kontinuierlich auf über 70 Prozent angewachsen ist. Von allen bisher betrachteten Trends ist dies der erste mit einem leicht positiven Verlauf: mit zunehmendem Abstand zum Naziregime und zum 2. Weltkrieg sind wieder mehr Bundesbürger stolz, Deutscher oder Deutsche zu sein. Besonders eindrucksvoll sind hier die Zuwächse im Osten der Republik, wo zuletzt in einer Reihe von Umfragen mehr Nationalstolz zu finden ist als in Westdeutschland. Auch dies hat es in den bisher inspizierten Trendläufen nicht gegeben. Schaubild 10:
Nationalstolz
90
West
Ost
80
70
60
50
40 1982
1984
1986
1988
1990
1992
1994
1996
1998
2000
2002
2004
2006
Quelle: Eurobarometer. Dargestellt ist der Anteil derer, die stolz sind, Deutsche/r zu sein. Es gibt zwei weitere Beobachtungspunkte in den Eurobarometer-Umfragen, die hier nicht berücksichtigt sind. 1994 wurde eine modifizierte Frage gestellt, die nicht direkt vergleichbar ist. 1997 ist die Antwortverteilung durch einen sehr hohen Anteil fehlender Werte („weiß nicht“) verfälscht.
In der Mehrebenenpolitik der Bundesrepublik gibt es neben der Nation weitere Strukturen, die politische Gemeinschaften definieren, etwa die historisch gewachsenen Bundesländer (man denke z.B. an den Freistaat Bayern) und mit zunehmender Reichweite ihrer politischen Regelungskompetenz immer mehr auch die Europäische Union, die nicht zuletzt
Politische Legitimität
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aufgrund der Serie von Erweiterungen als eine „Gemeinschaft in Entwicklung“ angesehen werden muss. Zwar sind die Orientierungen der Deutschen insbesondere gegenüber der Europäischen Union recht gut erforscht (u.a. Scheuer 2005; Scheuer/Schmitt 2007), allerdings fehlen für die Identifikation mit Europa als politischer Gemeinschaft die langen Zeitreihen9 und damit die Möglichkeit, Entwicklungen über die Zeit zu dokumentieren.
5.4 Zwischenbilanz Wenn wir die Ergebnisse der bisherigen Trendanalysen zusammenfassen, ergibt sich das folgende Bild: (1) Das Ansehen der politischen Autoritäten in Deutschland nimmt dramatisch ab. Das Ansehen der Bundestagsabgeordneten ist tief gesunken, und auch die Kandidaten der Parteien für das wichtigste politische Amt, das die Republik zu vergeben hat, haben erheblich an Wertschätzung verloren. Die Bürger sind zunehmend unzufrieden mit den Leistungen der Bundesregierung. (2) Auch das politische Regime verliert kontinuierlich an Zustimmung, allerdings weisen die Trends hier etwas weniger steil nach unten. Das zeigt sich zunächst bei den Parteien. Nach deutlichen Zuwächsen in der Frühphase der Bundesrepublik geht die Intensität der Parteineigung und etwas moderater auch der Anteil der Parteianhänger seit dem Beginn der 1980er Jahre zurück. Im Osten der Republik finden die Parteien weniger Unterstützung als im Westen, allerdings können sie dort langsam Boden gut zu machen. Die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland war im Beobachtungszeitraum gelegentlichen Schocks unterworfen, erholte sich danach aber jeweils wieder auf niedrigerem Niveau. Sie ist im Osten deutlich niedriger als im Westen. (3) Die Wertschätzung der politischen Gemeinschaft der Nation hat in Deutschland über die vergangenen 20 Jahre leicht zugenommen und ist heute im Osten weiter verbreitet als im Westen.
6
Zu den Ursachen dieser Entwicklungen
Die Deutungsansätze hinsichtlich der möglichen Ursachen dieser Entwicklungen unterscheiden sich gravierend. Ein Ursachenbündel, auf das in der Literatur häufig abgehoben wird, resultiert aus dem grundlegenden und fortdauernden Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung (z.B. Zapf 1994). Auf der Mikroebene ist es insbesondere die Bildungsexpansion und ein damit einhergehender Wertewandel, welche die Bürger politisch kompetenter und dadurch unabhängiger gegenüber politischen Vermittlungsstrukturen und kritischer gegenüber politischen Autoritäten machen. Auf der Meso-Ebene entspricht dem die wachsende Bedeutung von Internet und Massenmedien für die politische Information und Kommunikation (auf Kosten der interpersonalen Kommunikation). Auf der Makro-Ebene schließlich äußert sich dieser Prozess in einem rasanten Wandel der Technologie der Politik, wie sich am Beispiel der politischen Bedeutung der professionellen Umfrageforschung und 9 Die Eurobarometer-Umfragen etwa haben im Jahre 1992 den Indikator für die Identifikation mit der EG/EU gewechselt, sodass es in diesen Datenbeständen nun zwei etwa gleich lange 10-Jahres-Trends gibt, die nicht aneinander anschließen.
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am Einsatz neuer Wahlkampf-Techniken erkennen lässt (Dalton 1984; Dalton/Wattenberg 2000; Inglehart 1998; Römmele 2002).10 Ein weiteres Ursachenbündel resultiert aus den sich verschärfenden ökonomischen Strukturproblemen und der offensichtlichen Unfähigkeit der Politik, diese zu beheben. Nehmen wir das Beispiel der Arbeitslosigkeit. Bei der wahrgenommenen Wichtigkeit politischer Probleme nimmt sie in der Bundesrepublik seit Jahren einen Spitzenplatz ein. Sieht man sich die Entwicklung der Arbeitslosenquote an, versteht man die Ursachen: Im Jahr 1960 war einer von hundert Erwerbstätigen arbeitslos, im Jahr 2000 war es einer von zehn. Zum Erstaunen auswärtiger Beobachter akzeptiert die deutsche Politik die Aufgabe, Arbeit zu schaffen, ohne dazu freilich in der Lage zu sein. Die plausible Folge nicht eingelöster Versprechen ist Vertrauensentzug (für die Bundesrepublik: Cusak 1999; mit Blick auf die EU: Castles 1998). Der relative Niedergang des Legitimitätseinverständnisses der Deutschen hat aber nicht zuletzt auch politische Ursachen. Diese sind darin begründet, dass die deutsche Politik im Zeitverlauf mehr und mehr in die Zwänge der Mehrebenen-Politik eingebunden worden ist. Die Folge davon ist die zunehmende „Fremdbestimmung“ nationaler Politik (durch subund supra-nationale Herrschaftsstrukturen), die jedoch in der Hauptsache nach wie vor national verantwortet und legitimiert werden muss. Dies ist kein spezifisch deutsches Problem. Die Mehrebenenpolitik ist so weit verbreitet wie die Globalisierung. Allerdings bekommen die Länder der Europäischen Union eine Extra-Dosis davon ab. Gary Marks und Lisbeth Hooghe (2001: xi) definieren die Mehrebenen-Politik als „die Verteilung autoritativer politischer Entscheidungen über mehrere territoriale Ebenen hinweg“ [Übersetzung der Verfasser]. Vom 17. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war die europäische Geschichte durch die Zentralisierung wirtschaftlicher Effizienz und politischer Autorität in Nationalstaaten gekennzeichnet. Seit der Mitte der 1950er Jahre jedoch wird die politische Autorität der Nationalstaaten – ihre Fähigkeit, rechtlich bindende politische Entscheidungen zu treffen – durch die Prozesse der Regionalisierung und der Supranationalisierung drastisch reduziert. Dabei ist die Regionalisierung der Politik in der föderalen Struktur der Bundesrepublik besonders stark ausgeprägt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Deutschland und Österreich von den Alliierten als Bundesstaaten konzipiert, auch um das neu zu schaffende politische Zentrum beider Staaten nicht zu mächtig werden zu lassen. Dies führte dazu, dass sich Bundestag und Bundesrat in die Macht teilen müssen. Dies sollte in der Regel unproblematisch sein, wenn die parteipolitischen Mehrheiten in beiden Häusern übereinstimmen. Bis zur Wahl 1972 war dies der Fall: die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat hatten dieselbe politische Couleur (vgl. die graue Schattierung in Schaubild 11). 1972 jedoch war die damalige sozial-liberale Bundesregierung erstmals gezwungen, sich mit der CDU/CSUMehrheit im Bundesrat als einer Art Nebenregierung auseinander zu setzen. Dies hat sich während der Kohl-Regierungen III und IV (1990 - 1998) und dann wieder während der Regierung Schröder II (2002 - 2005) wiederholt. Etwas verkürzt kann man sagen, dass die frühen Jahre der Bundesrepublik – bis hin zur ersten sozialdemokratischen Regierungsführung im Jahr 1972 – durch gleiche Mehrheiten in beiden Häusern gekennzeichnet waren, wäh10
Siehe auch den Beitrag von Andrea Römmele, Sarah Bastgen und Kim Jucknat in diesem Band.
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rend die Politik danach zumeist mit unterschiedlichen Mehrheiten mehr schlecht als recht auskommen musste. Diese vertikale Politikverflechtung (Scharpf 1985) hat nicht nur zu einem beträchtlichen Immobilismus in vielen Politikbereichen geführt (vgl. etwa König 2001). Was Fritz Scharpf und andere aufgrund ihrer Policy-Fokussierung weniger interessiert, ist der Ansehensverlust der Abgeordneten, Kanzlerkandidaten und schließlich der Bundesregierung, die in permanente Kompromisse mit der oppositionellen Mehrheit des Bundesrates gezwungen werden.11 Es bleibt abzuwarten, ob die Föderalismusreform der sich auf eine große Koalition stützenden Regierung Merkel hier deutlich Abhilfe schaffen kann – Zweifel am Erfolg der Grundgesetzänderung sind nicht zu überhören (Burkhart/Manow 2006). Divided Government
Schaubild 11: % 100
80
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0 1949
53
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2002 2005
Legende: Die graue Schraffur zeigt den Zeitanteil (in %) einer Legislaturperiode, in der die Parteien der Bundesregierung eine Mehrheit in beiden Häusern haben. Dieser Anteil wird näherungsweise nach der Parteizugehörigkeit der Ministerpräsidenten bestimmt, wobei in den frühen Jahren die DVP mit zur Union gerechnet wird. Die Linie zeigt den Anteil (in %) der Bundestagsgesetze, die im Vermittlungsausschuss verhandelt werden. Quelle: Statistiken des Bundesrates.
Ein weiterer Indikator für den strukturellen Konsenszwang ist der erhöhte Anteil der Gesetzesvorlagen des Bundestages, die im Bundesrat angehalten wurden und im Vermittlungsausschuss gelandet sind (vgl. erneut Schaubild 11). In der sozialliberalen Periode wurde etwa jedes fünfte Gesetz in diesem Gremium umformuliert. Die ersten beiden Kohl-Regierungen (1983 und 1987) konnten sich zumeist auf eine Mehrheit in beiden Häusern stützen und der Vermittlungsausschuss trat in dieser Phase kaum zusammen. Danach, also nach der Vereinigungswahl des Jahres 1990, nimmt der Anteil der Bundestagsgesetze, die im Vermittlungsausschuss landen, wieder zu – und zwar, wie es scheint, etwas unabhängiger von der Frage 11 Wir haben an anderer Stelle argumentiert, dass diese Strukturzwänge zu einer fortdauernden ideologischen Annäherung der Bundestagsparteien führen. Wiederum auf der Grundlage von Politbarometer-Daten kann gezeigt werden, dass die ideologische Bandbreite der deutschen Parteienkonkurrenz sich zwischen 1986 und 2005 nahezu halbiert hat – jedenfalls ist dies in der Wahrnehmung der Parteipositionen durch die Bevölkerung der Fall (Schmitt/Wüst 2006).
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einer parteilich „passenden“ Bundesratsmehrheit. Dies mag, wie Benz (2003) argumentiert, mit der schwindenden politischen Integrationskraft und Verpflichtungsfähigkeit der extraparlamentarischen Parteiorganisationen im wiedervereinigten Deutschland zu tun haben. Die politisch-strukturellen Herausforderungen der Legitimität der deutschen Mehrebenenpolitik enden jedoch nicht mit der zunehmend häufigeren informellen „großen Koalition“ zwischen gegensätzlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Die wachsende politische Autorität der Europäischen Union bringt es mit sich, dass mehr und mehr politische Entscheidungen in Brüssel und nicht in Berlin fallen. Dies verdeutlicht eine Grafik, die auf den Expertenurteilen dreier Generationen von Europaforschern basiert. Diese Experten haben die Regelungskompetenz der EU in jedem einzelnen von 28 Politikbereichen für fünf Beobachtungsjahre (1950, 1957, 1968, 1992 und 2000) ermittelt. Wir bilden für jedes Beobachtungsjahr den arithmetischen Kompetenz-Mittelwert (über alle 28 Bereiche) und stellen die Entwicklung dieser mittleren EU-Kompetenz als Trendverlauf dar (vgl. Schaubild 12). Schaubild 12:
Policy-Kompetenzen der EU
alle Policies europäisch 5 bestimmt
4
3
2
alle Policies national 1 bestimmt 1950
1957
1968
1992
2000
Legende: Die Kurve zeigt die mittlere Policy-Kompetenz der EU in 28 Politikfeldern aus den Bereichen der Wirtschafs- AußenRechts- und Sozialpolitik. Die Einstufungen beruhen auf Expertenurteilen (vgl. Hooghe/Marks 2001, 187-189).
Noch 1950 war alle Politik in Europa – in Deutschland muss man hinzufügen: soweit sie nicht durch die Besatzungsmächte diktiert wurde – nationale Politik. Ein halbes Jahrhundert später hat der Nationalstaat seine Autonomie verloren. In ihren Mitgliedsländern ist die Europäische Union zu einem ebenbürtigen Akteur in der Politikformulierung geworden, jedenfalls in den hier berücksichtigten 28 Politikfeldern aus so unterschiedlichen Bereichen wie der Wirtschafts-, Außen-, Rechts- und Sozialpolitik. Sicher gibt es weiterhin Politikbereiche, die rein national bestimmt bleiben. Es kann jedoch kein Zweifel bestehen, dass die politische Autorität der Europäischen Union deutlich zunimmt. Zugleich bewirkt die fortschreitende Demokratisierung der Politik der Union nach der Logik des föderalen Modells (das heißt im wesentlichen: die Mehrheitsentscheidung im Ministerrat als Regel und die Stärkung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlamentes), dass die nationalen
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Exekutiven – und mit ihnen die diese kontrollierenden nationalen Parlamente – mehr und mehr an Veto-Macht verlieren. Es ist davon auszugehen, dass dieser zunehmende Kompetenzverlust der nationalen Politik zum relativen Niedergang des Legitimitätseinverständnisses in Deutschland beiträgt. Wir fassen die Argumente zusammen. Offenbare Defizite im Legitimitätseinverständnis der Deutschen können (1) aus dem umfassenden Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung verstanden werden; sie können (2) gedeutet werden als Resultat der ökonomischen Probleme – insbesondere der Massenarbeitslosigkeit – , gegen die die deutsche Politik bisher machtlos geblieben ist; und sie können (3) aus Strukturproblemen des politischen Mehrebenensystems der Bundesrepublik und ihren Folgen verstanden werden. Bei letzteren spielt die Frage der Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen eine entscheidende Rolle. Es gehört zum Kern der repräsentativen Demokratie, dass sich auf Zeit gewählte Regierungen bei regelmäßig wiederkehrenden Wahlen für ihre Erfolge wie für ihre Misserfolge gegenüber dem Souverän verantworten. In der „blockierten“ Republik, in der alle mitregieren, ist aber am Ende niemand verantwortlich, und Schuld sind immer die anderen. Gleiches gilt für die über ihre europäische Einbindung „fremdbestimmte“ Republik, in der die politische Autorität der EU heute so viel gilt wie die der Bundesregierung. Es ist wohl vor allem diese zunehmende Unübersichtlichkeit der politischen Verantwortung, die neben gesellschaftlicher Modernisierung und ökonomischer Entwicklung für die beobachteten Einbrüche im Legitimitätseinverständnis der Deutschen verantwortlich ist.
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Ausblick
Probleme der Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen und der Verfügbarkeit von systemkonformen Alternativen haben sich in der jüngeren Vergangenheit in unseren unmittelbaren Nachbarstaaten als Sprengsatz der Wahlpolitik erwiesen. Die Erfolge des Jean-Marie le Pen im ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl des Jahres 2002 waren vor allem ein Ergebnis der „cohabitation“ zwischen rechtem Präsidenten (Jacques Chirac) und linker Regierung (geführt von dem Sozialisten Lionel Jospin). Gleiches gilt für die Erfolge der LPM – der Liste Pim Forteyn – in der niederländischen Parlamentswahl des Jahres 2002, die ohne die ideologisch „über-breite“ Koalitionsregierung zwischen PvdA (Partij van de Arbeid) und VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie) in der vorhergehenden Legislaturperiode nicht zu verstehen ist. In beiden Fällen haben die Regierungen die Wahl nicht wegen möglicher Performanz-Defizite verloren, im Gegenteil: beide waren außerordentlich erfolgreich. Es war die mangelnde Zurechenbarkeit politischer Verantwortung und das Fehlen einer politischen Alternative im System, die zur Stärkung von Anti-Systemkräften geführt hat. Vergleichbares hat die Bundesrepublik bisher nur auf Landesebene und in der Europapolitik erfahren. Die rechtsextreme NPD saß und sitzt in einer Reihe von Landtagen insbesondere in Ostdeutschland; 1989 schaffte sie sogar den Einzug ins Europäische Parlament. Herr Schill hat mit seiner „Partei Rechtstaatliche Offensive (PRO)“ im Jahr 2000 mit 19,8 Prozent der gültigen Stimmen aus dem Stand den Sprung in den Hamburger Senat ge-
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schafft. Solche punktuellen Erfolge verpufften bisher allerdings regelmäßig im parlamentarischen Alltag. Allerdings haben sich im Jahr 2007 mit dem Zusammenschluss von post-kommunistischer PDS und den alt-linken und gewerkschaftsnahen Sozialdemokraten der WASG in der neuen Partei Die Linke auch bundespolitische Auswirkungen der beschriebenen politisch-strukturellen Probleme ergeben. Diese sind wohl dauerhafter Natur, wie es auch das Motto der Rede von Lothar Bisky auf dem Vereinigungsparteitag andeutet: „Wir sind gekommen, um zu bleiben.“ Ob diese „neue Kraft“ in Parteienspektrum der Bundesrepublik allerdings die weitverbreitete Unzufriedenheit der Bundesbürger mit der Politik dauerhaft wird beseitigen können, darf bezweifelt werden. Neben solchen Veränderungen auf der Angebotsseite der Wahlpolitik kann die Erosion der politischen Unterstützung natürlich auch das demokratische System insgesamt gefährden. Das jedenfalls ist die ursprüngliche Perspektive, die rein negative Assoziationen mit solchen Prozessen verknüpft (Huntington 1968; Crozier et al. 1975). Heute werden jedoch vermehrt auch die positiven Konsequenzen hervorgehoben. Eine zunehmende Anzahl an „critical citizens“ kann danach auch zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen Bürgern und Repräsentanten beitragen (Kaase/Newton 1995; Klingemann/Fuchs 1995; Norris 1999). Abnehmendes Vertrauen und geringere Unterstützung durch die Bürger führen nicht zwangsläufig zu einer Bedrohung der demokratischen Ordnung oder zu einer Unregierbarkeit des politischen Systems. „Alienation of course may be a threat to the political order but as a rule it helps assure the stability and quality of a democratic politics” (Sniderman 1981: 12).
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Testfragen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Wie wird politische Legitimität definiert? Wie ist die Verknüpfung von Legitimität und Herrschaft bei Max Weber zu verstehen? Nennen und erläutern Sie kurz die gängigen Konzepte, die in der empirischen Erforschung der politischen Legitimität herangezogen werden! Erläutern Sie Eastons Konzept der Unterstützung politischer Systeme und die daran geäußerte Kritik! Stellen Sie die Konzepte von Easton und Lipset einander gegenüber! Welche Unterschiede sind gegeben? Warum kann nach Scharpf die Politik der Europäischen Union nicht auf Input-Legitimität gegründet werden? Fassen Sie die großen Entwicklungslinien der Unterstützung politischer Autoritäten, des politischen Regimes und der politischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik zusammen! Was sind die potenziellen Ursachen für die zunehmende Unzufriedenheit der Deutschen mit der Politik?
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Einleitung: Die Bedeutung von Ideologien für die Politische Soziologie
Der Begriff der „Ideologie“ bzw. „Ideologien“ ist ein zentrales, zugleich aber auch kontroverses und vielschichtiges Konzept der Politikwissenschaft, das mit zahlreichen Konnotationen aufgeladen ist. Im nachrevolutionären Frankreich als eine erklärtermaßen neutrale Bezeichnung entwickelt, um eine „objektive“ Geschichte der politischen Ideen zu begründen, avancierte es unter dem Einfluss von Karl Marx und Friedrich Engels zu einem politischen Kampfbegriff, der vor allem auf die herrschaftsstabilisierende Funktion der etablierten politischen Philosophien abzielte. Erst im frühen 20. Jahrhundert findet sich im Werk Karl Mannheims ein neuer Versuch, einen positiven bzw. neutralen Ideologiebegriff für die Soziologie fruchtbar zu machen. Unter dem Eindruck der totalitären Diktaturen in Deutschland und der UdSSR wurde „Ideologie“ jedoch bald wiederum in erster Linie mit sinistren philosophischen Systemen assoziiert, die ein verzerrtes Bild der Welt zeichnen, um die Menschen im Sinne der Politik zu beeinflussen und deren Herrschaft zu legitimieren. Erst als in den frühen 1960er Jahren das „Ende der Ideologien“ ausgerufen wurde (Bell 1960), konnte sich der Begriff in der Wissenschaft als allgemeine Bezeichnung für die großen politischen Strömungen der Gegenwart etablieren. Zugleich entwickelte sich gerade dort, wo (in diesem Sinne) ideologische Konflikte scheinbar wenig Einfluss auf die Politik hatten, nämlich in den USA, eine neue Forschungsrichtung, die kaum Bezug zur ideengeschichtlichen Betrachtungsweise hat, sondern vielmehr – wenn auch in völlig veränderter Form – die von Marx und Engels begründete soziologische Perspektive wieder aufnimmt. Inspiriert durch die „behavioralistische Revolution“ in der Politikwissenschaft, die weniger an politischen Ideen und Institutionen als vielmehr an politischen Einstellungen und Handlungsmustern interessiert war, begann man nun damit, die politischen Grundüberzeugungen individueller Akteure und insbesondere der Bürger empirisch zu untersuchen. Ziel dieses Kapitels ist es, einen Überblick über die Grundannahmen und die Hauptergebnisse dieses Teilgebiets der Politischen Soziologie zu geben. Die weitere Entwicklung des Ideologiebegriffes innerhalb der politischen Theorie kann hingegen nicht berücksichtigt werden.
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Kai Arzheimer
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ideologien
2.1 Der Beitrag der Politischen Theorie 2.1.1
Die Entwicklung des Ideologiebegriffs
In hohem Maße traditionelle Gesellschaften bedürfen keiner Ideologien, weil in ihnen die grundsätzlichen gesellschaftlichen und politischen Arrangements nicht in Frage gestellt werden. Erst dann, wenn überkommene religiöse und philosophische Anschauungen sowie das schiere Gewicht der etablierten politischen Praxis nicht mehr ausreichen, um Herrschaft zu legitimieren, entstehen Ideologien (Geertz 1973: 217). Dennoch wurden in Europa seit der griechischen Antike politische Theorien entwickelt, die den Wert oder Unwert bestimmter Herrschaftsformen begründen sollten. Von den späteren Ideologien unterscheiden sich diese Theorien aber vor allem dadurch, dass sie in ihrer Wirkung im Wesentlichen auf die Eliten ihrer Zeit beschränkt waren. Ideologien im modernen Sinne hingegen richten sich an die Massen und entstanden deshalb erst, als am Ende des 18. Jahrhunderts erstmals größere Teile der Bevölkerung in den politischen Prozess involviert wurden. Die frühesten Anfänge der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit politischen Ideen liegen in Francis Bacons „Novum Organon“ (1620), in den Schriften der Aufklärung und nicht zuletzt in der berühmten Enzyklopädie von Denis Diderot und Jean-Baptiste d’Alembert (1751-1772). Charakteristisch für diese Epoche war die revolutionäre Vorstellung, dass Politik und Gesellschaft in gleicher Weise untersucht, erklärt und letztlich auch gestaltet werden können wie die belebte und unbelebte Natur. Traditionelle Lehrmeinungen galten als Hindernis auf dem Weg zu neuen Erkenntnissen. Insbesondere der (katholischen) Kirche unterstellte man, dass sie sich aus wohlverstandenem Eigeninteresse gegen das rationale Denken sperre, um ihre eigene Autorität und die unumschränkte Macht der Fürsten und Könige zu schützen. Auf diese Weise begründeten die Aufklärer einerseits die Tradition der Ideologiekritik, andererseits eine erste moderne Ideologie, nämlich die des Liberalismus. Als eigentlicher Erfinder des Ideologiebegriffs gilt der französische Politiker und Philosoph Antoine Destutt de Tracy (1754-1836), der unter dem Einfluss des Positivismus in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts den Versuch unternahm, die politischen Ideen seiner Zeit zu erfassen, zu systematisieren und zu bewerten. Ziel de Tracys war es, auf diese Weise eine Wissenschaft von den Ideen (=„Ideologie“) zu begründen, die schließlich in der Lage sein würde, die objektiv richtigen, d.h. optimalen Lösungen für ein gegebenes politisches Problem zu finden. Größeren Einfluss auf die Entwicklung des modernen Ideologiebegriffs hatten jedoch Karl Marx und Friedrich Engels, die rund 25 Jahre später in ihrer „Deutschen Ideologie“ die Grundpositionen des deutschen Idealismus attackierten. Aus ihrer Sicht stellt diese philosophische Strömung die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf – Marx und Engels sprechen von einer „camera obscura“ – weil Ideen niemals in der Lage seien, die Wirklichkeit zu beeinflussen, sondern stets nur die materiellen Verhältnisse widerspiegeln. Dementsprechend haben Ideologien für Marx und Engels keinen Wert an sich, sondern dienen allein
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politischen Zwecken, weil sie dazu beitragen, gesellschaftliche Widersprüche zu übertünchen. Letzten Endes sind Ideologien damit ein Werkzeug, dessen sich die herrschende Klasse bedient, um ihre Position zu sichern. Zwei Punkte sind hier für die spätere Verwendung des Konzepts in der politologischen Soziologie von großer Bedeutung: Zum einen weisen Marx und Engels sehr deutlich darauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen den politischen Grundüberzeugungen der Bevölkerung und der Stabilität des politischen Systems besteht. Dieser Gedanke wurde später von Autoren wie Max Weber, Talcott Parsons und David Easton wieder aufgegriffen und bildete rund 100 Jahre nach der „Deutschen Ideologie“ die Grundlage für das von Gabriel A. Almond und Sidney Verba begründete Programm zur empirischen Erforschung der Politischen Kultur (Almond/Verba 1963).1 Zum anderen ist Marx’ und Engels’ These, dass ein systematischer Zusammenhang zwischen ideologischen Überzeugungen und der Mitgliedschaft in sozialen Gruppen besteht, unabhängig von ihrer ursprünglich materialistischen Begründung weithin akzeptiert. Solche Beziehungen lassen sich einerseits auf Sozialisierungseffekte, andererseits auf die gemeinsamen Interessen der Gruppenmitglieder zurückführen, da die Umsetzung jedes ideologischen Programms Vor- und Nachteile für die verschiedenen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft mit sich bringt. Kurz- und mittelfristig fanden Marx’ und Engels’ Überlegungen allerdings wenig Resonanz: Die Mehrheit der Zeitgenossen empfand diese Theorien ohnehin als höchst suspekt, während die kleine Gruppe der genuin marxistischen Theoretiker sich dem Verdikt der Vordenker anschloss und Ideologie als ein im Grunde belangloses Epiphänomen der objektiven materiellen Verhältnisse ansah (Freeden 2003: 9). Erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts bemühte sich Karl Mannheim in kritischer Auseinandersetzung mit der marxistischen Tradition darum, den Begriff der Ideologie für die politische Soziologie und die entstehende Politikwissenschaft fruchtbar zu machen. Ähnlich wie vor ihm Marx und Engels betrachtet auch Mannheim Ideologien als Produkt der historischen und sozialen Umstände (Freeden 2003: 12), weist jedoch nachdrücklich auf ihren pluralen Charakter („multiplicity of the ways of thinking“, Mannheim 1936: 6) hin, da jede der zahlreichen sozialen Gruppen in einer Gesellschaft spezifische Überzeugungen entwickelt, die von den Gruppenmitgliedern übernommen werden. Für Mannheim haben Ideologien damit stets eine soziale und eine psychologische Dimension (Freeden 2003: 13). Dabei lässt Mannheim einerseits keinen Zweifel daran, dass er ein ontologischer Individualist ist („there is no such metaphysical entitiy as a group mind“), geht aber andererseits von sehr starken sozialen Effekten aus, die nicht nur den Inhalt, sondern auch die Struktur des politischen Denkens prägen: ([the individual] „finds at his disposal only certain words and their meanings“, Mannheim 1936: 2). Implizit oder explizit liegen diese beiden Grundüberzeugungen auch den späteren empirischen Studien zum ideologischen Denken der Massen zugrunde. Im offensichtlichen Widerspruch zur Annahme einer absoluten Kontextabhängigkeit des politischen Denkens – auch den ideologiekritischen Marxismus betrachtete Mannheim nur als eine weitere Ideologie (Freeden 2003: 15) – glaubte Mannheim allerdings, dass es einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich den Intellektuellen, möglich sei, sich soweit von ihren sozialen Bezügen zu lösen, dass sie eine die gruppenspezifischen Ideologien transzendierende und damit ideolo1
Ausführlicher zum Konzept der Politischen Kultur siehe den Beitrag von Oscar W. Gabriel in diesem Band.
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giefreie Sicht der politischen Realität entwickeln könne. Auch hier nehmen die späteren Studien, die ja davon ausgehen, dass ideologisches Denken intersubjektiv erfasst, d.h. gemessen werden kann, eine vergleichbare Position ein, wobei diese heroische Annahme in der Regel nicht offen ausgesprochen oder gar problematisiert wird. Die weitere Entwicklung des Begriffs innerhalb der politischen Theorie ist für die Zwecke dieses Kapitels von untergeordneter Bedeutung und kann deshalb unberücksichtigt bleiben. Stattdessen soll hier in Anlehnung an Baradat (2006: 1) und Freeden (2003: 32) im Folgenden eine Arbeitsdefinition des Ideologiebegriffs verwendet werden (Kasten 1). Kasten 1:
Was ist Ideologie? – Eine Arbeitsdefinition
Ideologien sind Systeme von Ideen, Werten und Überzeugungen, die: a) b) c) d) e)
eine gewisse Stabilität aufweisen von relevanten gesellschaftlichen Gruppen geteilt werden eine bestimmte Diagnose der sozialen und politischen Realität beinhalten relativ abstrakte Aussagen über eine wünschenswerte soziale und politische Realität treffen einen Katalog von konkreteren politischen Maßnahmen implizieren, mit deren Hilfe sich die Lücke zwischen c) und d) schließen lässt f) Handlungsappelle an bestimmte soziale Gruppen richten und g) eine Legitimation für die Verteidigung, die Reform oder die radikale Veränderung der grundlegenden sozialen und politischen Verhältnisse einer gegebenen Gesellschaft bieten.
Ideologien sind eng mit einem anderen zentralen Konzept der politischen Soziologie, nämlich dem der (gesellschaftlichen) Werte bzw. Wertorientierungen verwandt (vgl. dazu auch den Beitrag von Christian Welzel in diesem Band), da sie Aussagen über die Hierarchie konkurrierender Werte treffen und Anweisungen für die Realisierung verschiedener Konzepte der wünschenswerten Gesellschaft beinhalten. Ideologische Einstellungen nehmen deshalb eine Mittelposition zwischen den sehr stark generalisierten Wertorientierungen einerseits und den sehr spezifischen Einstellungen zu einzelnen politischen Sachfragen andererseits ein. 2.1.2
Die „großen“ Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts im Überblick
Wie oben bereits erwähnt, liegen die Wurzeln der ideologischen Hauptströmungen der Gegenwart an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als sich Politik im Gefolge der französischen Revolution in zunehmendem Maße zu einem Kampf um die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger entwickelte (Freeden 2003: 31-32) und sich langsam politische Organisationen herausbildeten, die als Vorläufer der modernen Parteien gelten können. In diesem Sinne können Ideologien als Chiffre oder Kurzbezeichnung für die Grundausrichtung einer Partei bzw. einer Familie von Parteien gelten. Viele der Ideen und Werte, die zum Bestandteil der neuen Ideologien wurden, sind aber weitaus älter. So sieht Robert Eccleshall (2003b: 18) im radikalen Protestantismus eine Wurzel des britischen Liberalismus und kann zeigen, dass sich der Gedanke natürlicher Rechte der Bürger, die den Ansprüchen der Herrschenden übergeordnet sind, bereits in den
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Schriften der „Leveller“ aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nachweisen lässt (2003b: 30-31). In ähnlicher Weise lassen sich Ideen, die im weitesten Sinne als „sozialistisch“ gelten können, bis zu den Bauernkriegen des ausgehenden Mittelalters zurückverfolgen (Geoghegan 2003: 80). Überdies verbirgt sich hinter jeder der großen Ideologien eine Vielfalt von (häufig miteinander konkurrierenden) Theorien, denen selbst große Überblicksdarstellungen (siehe z.B. Beyme 2002) kaum gerecht werden können. Dieser Abschnitt beschränkt sich deshalb bewusst auf die Präsentation einiger weniger Hintergrundinformationen. Im Übrigen sei der Leser auf die einschlägigen Einführungen zu diesem Thema (u.a. Beyme 2002; Eccleshall et al. 2003; Heywood 2003) verwiesen. Als älteste der großen Ideologien gilt der Liberalismus. Für Liberale jeglicher Couleur ist die Freiheit des Individuums, sein Leben selbst zu planen und zu gestalten, der höchste Wert, den es zu schützen gilt. Diese Freiheit des Einzelnen gilt als ein Geburtsrecht des Menschen und findet ihre Grenze nur dort, wo die Freiheit anderer Menschen berührt wird. Alle anderen Einschränkungen (insbesondere durch den Staat) werden in Frage gestellt und bedürfen der rationalen Begründung. Historisch entwickelte sich das liberale Denken in Abgrenzung zur Willkürherrschaft des Adels und der Monarchen und wurde von der neuen, aufsteigenden Schicht des Bürgertums getragen. Der zentrale Programmpunkt des frühen Liberalismus war die Einführung geschriebener Verfassungen, die durch eine Reihe von Abwehrrechten die Macht des Staates wirksam begrenzen sollten und den (männlichen und steuerzahlenden) Bürgern durch repräsentative Institutionen einen gewissen Einfluss auf das Handeln der Regierung sicherten. Die Autorität des Staates gründete sich aus Sicht der Liberalen einzig und allein darauf, dass er im Interesse der Bürger handelte. Eine Metapher für diese beschränkte Rolle des Staates ist die vor allem von John Locke (1632-1704) vertretene Idee eines hypothetischen Vertrages zur Gründung des Staates, den die Bürger untereinander auf freiwilliger Basis schließen, um in Frieden und Sicherheit leben und ihre natürlichen Rechte genießen zu können. Eine Regierung, die nicht willens oder nicht in der Lage ist, diese natürlichen Rechte zu sichern, verliert deshalb ihre Legitimationsgrundlage. Ein anderes in diesem Zusammenhang häufig gebrauchtes Bild ist das des „Nachtwächterstaates“, der sich auf das Setzen einiger fundamentaler Regeln beschränkt, innerhalb derer die Individuen ihre Lebenspläne verfolgen können, aber ansonsten nicht in die Entwicklung der Gesellschaft eingreift. Dieses Ideal des „Laissez-faire“-Liberalismus geriet jedoch bereits im 19. Jahrhundert in die Kritik, da sich Liberale zusehends mit zwei Fragen auseinandersetzen mussten: a) Wie sollen jene Menschen ihre politischen Freiheiten genießen, denen dafür die materiellen Voraussetzungen fehlen und b) ist eine extreme ökonomische Ungleichheit nicht womöglich eine größere Bedrohung für die Freiheit als der (zumindest in Großbritannien) weitgehend gezähmte Staat? Selbst John Stuart Mill (1806-1873), einer der bedeutendsten Vertreter des Liberalismus, befürwortete in diesem Zusammenhang eine aktive Rolle des Staates im Bereich der Regulierungspolitik und betrachtete eine Form der Fürsorge für die Armen als öffentliche Aufgabe. In seinem Spätwerk argumentierte Mill sogar, dass Privateigentum unter bestimmten Umständen genutzt werden kann, um andere zu unterdrücken, und Enteignungen deshalb prinzipiell zu rechtfertigen sind, sofern der Eigentümer angemessen entschädigt wird (Festenstein/Kenny 2005: 55). Während viele der ursprünglichen liberalen Forderungen heute weithin akzeptiert und in den Verfassungen der westlichen Demokratien (die nicht umsonst als liberal-demokratische Systeme be-
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zeichnet werden) verankert sind, beschäftigt dieser Konflikt über das angemessene Niveau der Staatstätigkeit die Liberalen bis heute. Als zweite bedeutende Ideologie des 19. Jahrhunderts gilt der Konservatismus, der ebenfalls auf älteren Ideen aufbaut, sich aber erst in Reaktion auf die französische Revolution und den politischen Erfolg des Liberalismus zur Ideologie wandelte. Träger des Konservatismus waren in erster Linie jene Gruppen, die von der vorrevolutionären Ordnung profitiert hatten, d.h. vor allem der (landsässige) Adel sowie Teile der neuen Schicht von Industriellen. Nicht zuletzt deshalb, weil viele Vertreter des konservativen Denkens die Idee eines kohärenten ideologischen Systems ablehnten, präsentiert sich der Konservatismus noch heterogener als andere Ideologien. Dennoch lassen sich auch hier einige Gemeinsamkeiten feststellen: Konservative haben im Allgemeinen ein weitaus pessimistischeres Welt- und Menschenbild als Liberale oder Sozialisten. Geplanten Eingriffen in die bestehende soziale und politische Ordnung stehen sie höchst misstrauisch gegenüber, weil sie davon ausgehen, dass diese aufgrund der beschränkten moralischen und intellektuellen Kapazitäten des Individuums a) entweder das Gegenteil des Beabsichtigten erreichen, b) völlig erfolglos bleiben oder c) die Kosten und Risiken der Maßnahmen deren potentiellen Nutzen übersteigen (Eccleshall 2003a: 50). Sehr deutlich zeigt sich dieses Misstrauen bei Edmund Burke (1729-1797), einem der Begründer des Konservatismus, der den beschränkten Möglichkeiten des Einzelnen („the individual is foolish“) die Weisheit des (generationenübergreifenden) Kollektivs gegenüberstellt: „the species is wise, and when time is given to it, as a species, it always acts right“ (zitiert nach Eccleshall 2003a: 51). Konservative beschränken sich jedoch nicht auf die bei Burke angedeutete evolutionärpragmatische Begründung der bestehenden Arrangements, sondern zeichnen in der Regel das Bild einer organisch gegliederten Gesellschaft, in der den oft mythisch überhöhten „gewachsenen“ Lebens- und Herrschaftsverhältnissen unabhängig von ihrer vermeintlich größeren Leistungsfähigkeit ein Wert an sich zugesprochen wird. In letzter Konsequenz stellen Konservative damit bestimmte Kollektive – die Familie, die Gemeinde, die Stände – über das Individuum. Auch die Konservativen haben kein gänzlich unproblematisches Verhältnis zur Marktwirtschaft. Einerseits ergibt sich aus ihren oben dargelegten Grundüberzeugungen zwangsläufig, dass sie jede Form von Planwirtschaft ablehnen müssen. Andererseits brachten die Industrielle Revolution und die Liberalisierung der Märkte im 19. Jahrhundert aber grundlegende Veränderungen der sozialen und ökonomischen Verhältnisse – u.a. eine massive Landflucht, einen allmählichen Zerfall der Großfamilien und nicht zuletzt eine Anonymisierung und Rationalisierung der Arbeits- und Konsumbeziehungen – mit sich, die dem konservativen Beharren auf dem Wert tradierter Lebensformen zuwiderlaufen musste. Dementsprechend haben sich einige Strömungen des Konservatismus, die in Großbritannien und den USA nach einer langen Latenzphase in den 1980er Jahren wieder an politischer Bedeutung gewannen, in wirtschaftlichen Fragen dem Programm des „Laissez-faire“-Liberalismus verschrieben. Andererseits waren es konservative Regierungen wie die von Disraeli in Großbritannien und Bismarck in Deutschland, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Gesetze erließen, um den Effekt der Marktmechanismen zu begrenzen und die Situation der Arbeiter zu verbessern (Festenstein/Kenny 2005: 120).
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Deren oft katastrophale Lebensverhältnisse waren der Anlass für die Entwicklung der dritten großen ideologischen Strömung des 19. Jahrhunderts, nämlich des Sozialismus.2 Auch hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich eine große Zahl von miteinander konkurrierenden Theorien (Geoghegan 2003: 74), deren gemeinsamer Ursprung die Kritik an den (früh)kapitalistischen Lebens- und Produktionsverhältnissen ist (Geoghegan 2003: 75). Einem bekannten Bonmot zufolge haben die Sozialisten den Schlachtruf der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – aufgegriffen, aber die Gleichheit an die erste und die Freiheit an die letzte Stelle gesetzt (Geoghegan 2003: 76). Tatsächlich unterscheiden sich aber die Spielarten des Sozialismus in ihrer Gegenwartsdiagnose, in ihren Gegenentwürfen zu den bestehenden Verhältnissen und in ihren Programmen für die erstrebte Transformation der Gesellschaft ganz erheblich (Geoghegan 2003: 75-80). Dementsprechend werden die drei Grundwerte bei näherer Betrachtung von verschiedenen sozialistischen Strömungen doch recht unterschiedlich gewichtet. Ein wesentliches Kriterium, anhand dessen sich die verschiedenen Richtungen unterscheiden lassen, ist ihr Verhältnis zum Werk von Marx und Engels sowie dessen Interpretation durch Wladimir Iljitsch Lenin, der eine gewaltsame Revolution und die Ablösung der liberalen Demokratie durch eine „Diktatur des Proletariats“ (d.h. eine Diktatur der kommunistischen Parteiführung) forderte (Marxismus-Leninismus). Die Mehrheit der Sozialisten in Westeuropa arrangierte sich hingegen im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit der bestehenden Demokratie und dem Kapitalismus, arbeitete auf deren gradualistische Reform hin und distanzierte sich schließlich offen oder unausgesprochen vom Marxismus. Dabei spielte der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein (1850-1932) eine zentrale Rolle, der in den 1890er Jahren eine umfassende Theorie der nicht-revolutionären Reform des Kapitalismus („Revisionismus“) entwickelte und damit die Entwicklung der SPD, aber auch anderer sozialistischer bzw. sozialdemokratischer Parteien nachhaltig beeinflusste. Eine radikalere Minderheit hingegen konstituierte sich vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges (in dem die sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien ihre nationalen Regierungen unterstützten und damit die Idee der internationalen Arbeitersolidarität aufgaben) und der bolschewistischen Revolution in Russland als eigenständige, kommunistische Strömung. Mit der Gründung kommunistischer Parteien und deren Zusammenschluss zur von der KPdSU dominierten „Dritten Internationalen“ im Jahre 1919 wurde diese Spaltung organisatorisch zementiert. Liberale, konservative und später auch sozialistisch/sozialdemokratische Ideen dominierten die politische Auseinandersetzung des 19. Jahrhunderts. Hinzu kam eine weitere Ideologie, die trotz ihrer enormen politischen Wirksamkeit eigentümlich blass bleibt: die des Nationalismus. Ihre Kernaussagen lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen: Nationen, d.h. große Gemeinschaften von Menschen, die eine gemeinsame und weitgehend homogene Sprache und Kultur besitzen, sind die „natürlichen“ politischen Handlungseinheiten, während politische Institutionen nichts weiter als künstliche Gebilde sind, die diesen Nationen aufgepfropft werden. In einer idealen Welt sollte es deshalb jeder Nation möglich sein, ihren eigenen Staat zu errichten und sich unabhängig von äußeren Einflüssen selbst zu 2 Auf die Entwicklung des Anarchismus wird hier nicht eingegangen, da er in den meisten Ländern keine Breitenwirkung entfaltet hat, sondern nur für einige kleine politische Gruppen von Bedeutung war bzw. ist.
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regieren. In dieser universalistischen Form wurde das Programm des Nationalismus allerdings nur von wenigen Theoretikern wie Johann Gottfried Herder (1744-1803) vertreten, der (im neunten Buch seiner „Ideen zur Philosophie und Geschichte der Menschheit“) in gänzlich allgemeiner Form den Nationalstaat als den „natürlichsten Staat“ bezeichnet, denen er die „unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschengattungen und Nationen unter einen Zepter“ entgegenstellt, die „Staatsmaschine[n] ... ohne inneres Leben und Sympathie der Teile gegeneinander“ hervorbringe – ein Verdikt, das sich vor allem gegen die multiethnischen und dabei absolutistischen Staaten Preußen, Österreich und Russland richtete (Festenstein/Kenny 2005: 258). Die meisten nationalistischen Theoretiker beschäftigten sich jedoch lediglich mit dem Wohlergehen einer einzigen Nation, nämlich ihrer eigenen (Finlayson 2003: 100). Im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde das nationalistische Programm in Europa – zumeist in kriegerischer Form – weitgehend umgesetzt und erscheint nun als weitgehend unstrittig. Obwohl die Bedeutung der internationalen und der subnationalen Ebene seit dem Zweiten Weltkrieg zugenommen hat, betrachten es Bürger und Politiker heute nach wie vor als Selbstverständlichkeit, dass politische Probleme in erster Linie auf der Ebene des Nationalstaates zu lösen sind. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ ist zum zentralen Prinzip des internationalen Rechts geworden und bildet die Grundlage für die Organisation der Vereinten Nationen. Zumindest in den liberalen Demokratien scheint der Nationalismus also im Wesentlichen ein Problem der so genannten Krisenregionen und ansonsten von geringer praktisch-politischer Relevanz zu sein. Für Europa im Allgemeinen und für Deutschland im Besonderen ist diese Ideologie jedoch aus zweierlei Gründen von erheblicher Bedeutung. Zum einen entstanden am Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas besonders aggressive und undemokratische Spielarten des Nationalismus, in deren Mittelpunkt die Idee einer biologisch-kulturellen Überlegenheit bestimmter Völker bzw. Volksgruppen stand. Aus diesen Strömungen entwickelten sich nach dem Ersten Weltkrieg Ideologien wie der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus, die auf die Beseitigung der Demokratie, die gewaltsame Verfolgung politischer Gegner und die Führung von Angriffskriegen abstellten und schließlich zur Legitimation von bis dahin unvorstellbaren Greueltaten dienten. Zum anderen kam es seit den 1980er Jahren in fast allen Ländern Westeuropas zu einer (weitgehend unerwarteten) Wiederbelebung des parteiförmigen, aggressiven Nationalismus, auch wenn Parteien wie die Republikaner, die FPÖ oder der französische Front National nicht ohne weiteres mit den entsprechenden Gruppierungen der Zwischenkriegszeit gleichgesetzt werden können (Prowe 1994). Eine letzte für den politischen Wettbewerb bedeutsame Ideologie schließlich ist die Christdemokratie. Christliche, d.h. konfessionelle Parteien entstanden in vielen europäischen Ländern im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Ihre Gründung kann in der Regel als Protest gegen den Liberalismus sowie die Säkularisierung der Gesellschaft, partiell auch als Gegenbewegung gegen den Industriekapitalismus verstanden werden. In konfessionell homogenen Ländern standen diese Parteien in der Regel den konservativen Kräften nahe, während in konfessionell gespaltenen Ländern wie Deutschland die Repräsentation der Trägergruppe bzw. der transnationalen katholischen Kirche eine wichtige Rolle spielte. Auf deren an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelter Soziallehre, die sich sowohl
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gegen den Liberalismus als auch gegen den Sozialismus richtete und eine Art dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus suchte, baut die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene moderne Christdemokratie auf, die für einen „gezähmten“ Kapitalismus eintritt und dies mit einer Betonung christlich-konservativer Werte verbindet. Von älteren Ansätzen unterscheidet sich diese Ideologie dadurch, dass sie sich nominell an Christen aller Konfessionen bzw. an alle Bürger richtet, die diese Werte befürworten. De facto werden christdemokratische Parteien aber in konfessionell heterogenen Gesellschaften wie der deutschen nach wie vor stärker von Katholiken als von Protestanten unterstützt. Neben diesen großen Ideologien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus/Kommunismus, Nationalismus und Christdemokratie – sind im Laufe des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe weiterer politischer Ideen entstanden oder wiederbelebt worden, die als Ideologien betrachtet werden können, weil sie im Sinne der oben skizzierten Definition eine umfassende Diagnose der sozialen und politischen Realität mit Handlungsappellen an die Bürger verbinden. Zu nennen wären hier beispielsweise der Feminismus, der Ökologismus und – in jüngster Zeit – der religiöse Fundamentalismus. An dieser Stelle ist es jedoch weder möglich noch nötig, näher auf diese Strömungen einzugehen.
2.2 Ideologien in der Politischen Soziologie 2.2.1
Grundsätzliches
Als Schlüsseltext, der bis heute das Verständnis von Ideologien in der politischen Soziologie prägt, gilt Robert Lanes 1962 unter dem Titel „Political Ideology“ erschienene Studie zum politischen Denken von 15 gewöhnlichen Bürgern („common men“) einer amerikanischen Kleinstadt. Darin entwickelte Lane einen Ideologiebegriff, der die Forschung nachhaltig beeinflusste (Kasten 2). Kasten 2:
Der Ideologiebegriff von Robert Lane
Als „Ideologien“ betrachtete Lane (1962: 15-16) „... a set of emotionally charged political beliefs [which] embrace central values and institutions … rationalizations of interests (sometimes not his own) … moral justifications for daily acts and beliefs”. Kennzeichnend für diese Ideologien ist ihr weitgehend unreflektierter, halb-bewusster Charakter sowie ihr Mangel an Kohärenz (innerem Zusammenhang) und Konsistenz (Widerspruchsfreiheit).
Mit dieser Definition setzte Lane Ideologien weitgehend mit „political belief systems“ gleich (Freeden 2003: 39), einem allgemeineren Konzept aus der Sozialpsychologie, das sich auf die – unter Umständen widersprüchlichen und nur rudimentär strukturierten – Systeme von politischen Einstellungen der Bürger bezieht (Converse 1964). Damit fügte sich Lanes Studie nahtlos in den Kontext der so genannten „behaviouralistischen Revolution“ in der amerikanischen Politikwissenschaft ein, die sich in den 1950er und 1960er Jahren für eine Zeitlang von ihren traditionellen Gegenständen – politische Ideen und Institutionen – abwandte und
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sich statt dessen mit dem Verhalten, vor allem aber auch mit den Einstellungen der „Massen“ zu beschäftigen begann und sich dabei im wachsenden Umfang quantitativer Methoden bediente. Aus Sicht der politischen Theorie musste diese Reduktion von Ideologien auf messund zählbare politische Einstellungen als eine extreme Vergröberung erscheinen, die die Vielfalt, Komplexität und Bedeutung des politischen Denkens nicht angemessen erfasst (vgl. dazu Freeden 2003: 40). Freedens Kritik, dass sich die Auseinandersetzung mit politischen Ideologien nun auf die Erhebung von Links-Rechts-Skalen und Entwicklung von Vier-Felder-Tafeln beschränkte, wird Lanes Werk allerdings kaum gerecht, da Lane eine Studie vorgelegt hat, die nach heutigem Sprachgebrauch eher als „qualitativ“ bezeichnet werden würde:3 Lane hat sehr ausführliche (mehrstündige), offene wenn auch klar strukturierte Interviews mit einer sehr beschränkten Zahl von Respondenten geführt, sich intensiv mit den frei formulierten Antworten der Befragten beschäftigt und diese mit Hilfe einer großen Zahl von Dimensionen zu beschreiben versucht. Neben dem politischen Denken seiner „Fifteen Political Authors“ (Lane 1962: 4), das natürlich breiten Raum einnimmt, untersucht Lane u.a. auch deren politisches Wissen, ihre Lebens- und Familiengeschichte, das Berufs- und Sexualleben sowie ihre Persönlichkeitsmerkmale. Zudem weist Lane selbst sehr deutlich auf die Unterschiede zwischen Argumenten der großen Denker und den weitaus einfacher strukturierten Überzeugungen seiner Befragten hin (Lane 1962: 16). Unter politischer Ideologie in diesem letzteren Sinne versteht Lane vor allem das Verhältnis der Befragten zu den zentralen Werten Demokratie, Freiheit und Gleichheit, sowie ihre Vorstellungen über die Tätigkeit der Regierung (Lane 1962: 485-487). Deren Untersuchung ist jedoch in einen weit umfassenderen Katalog politischer Einstellungen eingebettet (Lane 1962: 482-488). Dabei greift er auf 12 Einstellungs- und Persönlichkeitsskalen zurück und entwickelt selbst auf Grundlage seiner Interviews acht weitere Skalen. Vier dieser insgesamt zwanzig Instrumente beziehen sich auf ideologisches Denken im engeren Sinne: eine Skala, die sich auf den Grad der ideologischen „Vergröberung“ (bluntness) bezieht, zwei weitere, die undemokratische Ideen bzw. den Hang zu Verschwörungstheorien erfassen sollen, und schließlich die Liberalismus-Konservatismus-Skala, die als US-amerikanisches Äquivalent zur europäischen Links-Rechts-Achse gilt (Fuchs/Kühnel 1994: 227). Diese Instrumente stehen exemplarisch für drei Hauptrichtungen der empirischen Untersuchung von ideologischen Einstellungen.
2.2.2
Denkstile und der Beitrag der Extremismusforschung
Vergleichsweise wenig entwickelt ist dabei die Forschung zur ideologischen „Vergröberung“, die sich auf Denkstile bezieht. Lanes ursprüngliche Überlegungen zum Grad der Konzeptualisierung und Abstraktion des ideologischen Denkens (Kapitel 22) haben in der Politischen Soziologie selbst geringe Resonanz gefunden, was sich vermutlich dadurch
3 Tatsächlich äußert Lane allerdings an mehreren Stellen sein Bedauern darüber, dass bestimmte standardisierte „Tests“ (Fragekataloge) noch nicht zur Verfügung standen und er nicht mehr Bürger befragten konnte. Zu quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden vgl. auch den Beitrag von Manuela Pötschke in diesem Band.
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erklären lässt, dass sich diese Phänomene mit Hilfe standardisierter Interviews nur in sehr beschränktem Umfang erforschen lassen. Die Nachbardisziplinen der Persönlichkeits- und vor allem der Kognitionspsychologie haben sich jedoch – teils mit Bezug auf ideologische bzw. politische Inhalte, teils in allgemeinerer Form – seit den 1950er Jahren immer wieder intensiv mit diesen Problemen beschäftigt. Seit den 1980er Jahren wurde diese Forschung dann von der Politikwissenschaft bzw. der Politischen Soziologie verstärkt rezipiert, sodass zumindest für die USA ein relativ umfangreiches Schrifttum vorliegt (u.a. Neuman 1986; Zaller 1992), das sich mit der „politischen Sophistikation“ der Bürger beschäftigt und zu einem gewissen Grad an die von Lane aufgeworfenen Fragen anknüpft. Fragen nach dem Stellenwert demokratischer Ideen stehen im Zentrum der politischen Kultur-, Demokratisierungs- und Extremismusforschung. Ältere Ansätze orientieren sich dabei an den Theorien und Instrumenten der Persönlichkeitspsychologie (u.a. Adorno et al. 1950; Eysenck 1954; für eine kongitionspsychologische Re-Interpretation vgl. Rokeach 1960), die davon ausgeht, dass bestimmte grundlegende, in der frühen Kindheit festgelegte und normalerweise gar nicht bewusste Persönlichkeitseigenschaften (vor allem Autoritarismus) die Bürger dazu disponieren können, demokratische oder undemokratische Ideen zu befürworten. Auch Lanes Studie ist, wie oben dargelegt, in Teilen noch deutlich von diesem Ansatz beeinflusst. In modernisierter Form wird dieses persönlichkeitspsychologische Forschungsprogramm bis in die Gegenwart fortgesetzt (vgl. z.B. Lederer 1995; Altemeyer 1996 und zuletzt Schumann 2001); dominierend ist jedoch seit Ende der 1960er Jahre die Vorstellung, dass für das Verhältnis zur Demokratie vor allem prinzipiell bewusste, abfragbare Einstellungen von Bedeutung sind. Sowohl für den persönlichkeits- wie auch für den einstellungszentrierten Ansatz war das Verhältnis der Bürger zur Demokratie eine von ihrer parteipolitischen Ausrichtung weitgehend unabhängige Dimension. So argumentieren beispielsweise Seymour Martin Lipset und Earl Raab (1971) in einem klassischen Text, dass sich extremistische, d.h. antipluralistische Ideen mit jeder Position auf dem klassischen Links-Rechts-Kontinuum verbinden können.4 Für die deutsche Diskussion von größerer Bedeutung waren jedoch die Beiträge von Uwe Backes und Eckhard Jesse (u.a. Backes 1989; Backes/Jesse 1996). Diese gehen ebenfalls von einem zweidimensionalen Konzept aus, postulieren jedoch, dass beide Dimensionen (Links-Rechs-Position und Verhältnis zur liberalen, d.h. auf den Grundrechten basierenden Demokratie) nicht unabhängig voneinander sind: (Kommunistische) Ideologien am linken Rande des politischen Spektrums betonen den Wert der Gleichheit so stark, dass der Wert der Freiheit notwendigerweise nicht hinreichend berücksichtigt werden kann. Gleiches gilt sinngemäß für die Ideologien der (ethnischen) Ungleichheit am rechten Rand. Illustriert wird diese Hypothese durch das Bild des Hufeisens (vgl. Abbildung 1).
4 Im Einklang damit interpretierte Lipset bereits 1960 in einem zentralen, wenn auch höchst kontroversen Beitrag den Nationalsozialismus als einen „Extremismus der Mitte“.
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Abbildung 1:
Kai Arzheimer Das „Hufeisen-Schema“ nach Backes (1989: 252)
Sowohl Lipset und Raab als auch Backes und Jesse beschäftigten sich in erster Linie mit Ideen, die sie aus programmatischen Schriften extrahieren, die von Politikern, politischen Philosophen oder anderen Menschen, die sich quasi-professionell mit Politik auseinandersetzen, verfasst wurden und qualitativ analysiert werden. Forscher, die sich in der Tradition von Lane für das politische Denken der gewöhnlichen Bürger interessieren, haben hingegen ähnlich wie bereits Lane Einstellungsskalen entwickelt, mit deren Hilfe die Unterstützung für demokratische Ideen gemessen werden sollte. Als besonders einflussreich erwies sich dabei die von Max Kaase und Rudolf Wildenmann entwickelte Demokratie-Skala (Kaase 1971), die ursprünglich neun Items erfasste und später von Bürklin (1980) um drei zusätzliche Items erweitert wurde. Diese Fragen beziehen sich zum einen auf den Schutz von Minderheitenrechten („Jeder sollte das Recht haben, für seine Meinung einzutreten, auch wenn die Mehrheit anderer Meinung ist“), zum anderen auf die Legitimität von und den Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten („Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen“). Ursprünglich wurde die Skala zur Untersuchung eines studentischen Samples entwickelt; ein Großteil der Items wurde jedoch in den 1980er Jahren in das Frageprogramm des ALLBUS übernommen, sodass sich Aussagen über die Verteilungen der entsprechenden Items in der allgemeinen Bevölkerung treffen lassen. Dabei zeigte sich, dass pro-demokratische Aussagen in der alten Bundesrepublik breite Befürwortung fanden: So stimmten 1982 und 1988 jeweils etwas mehr als die Hälfte dem Meinungsfreiheits-Item sehr stark zu, während ein weiteres Viertel der Befragten starke Zustimmung äußerte. Stark oder sehr stark abgelehnt wurde die Aussage hingegen nur von rund zwei Prozent der Bürger (vgl. Abb. 2).
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Abbildung 2:
95 Zustimmung zur Aussage „Jeder sollte das Recht auf Meinungsfreiheit haben, auch wenn die Mehrheit anderer Meinung ist“ (Quelle: Eigene Berechnung aus ZA-Nr. 4301) Ost
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West
1994-2002 Zudem wurde ein Teil der Items in identischer oder ähnlicher Form in weiteren Umfragen wie dem von Jürgen W. Falter, Oscar W. Gabriel, Hans Rattinger und Karl Schmitt initiierten Projekt „Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinigten Deutschland 1994-2002“ (ZA-Nr. 4301) repliziert, sodass sich die Zustimmung zur Demokratie auch im Ost-West-Vergleich und über die Zeit untersuchen lässt. Abbildung 2 zeigt eine entsprechende Analyse für den Zeitraum von 1994-2002 und das Item zur Meinungsfreiheit. Aus ihr geht klar hervor, dass in beiden Regionen Deutschlands rund 90 Prozent dieser pro-demokratischen Aussage stark oder sehr stark zustimmen. Ähnlich hohe Zustimmungsraten zeigen sich bei der noch abstrakteren Frage nach der Zustimmung zur Demokratie als Staatsidee. Auffällig, wenn nicht beunruhigend ist allerdings die starke Gemeinwohlorientierung der Deutschen, die im Widerspruch zur liberal-demokratischen Idee und Praxis der freien Artikulation von Interessen steht. So stimmten in der gleichen Umfrage 1994 rund 43 Prozent der West- und etwas mehr als 50 Prozent der Ostdeutschen der Aussage zu, dass „die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Interessengruppen in unserer Gesellschaft dem Allgemeinwohl schaden“. Das noch etwas extremer formulierte Item „Gruppen- und Verbandsinteressen sollten sich bedingungslos dem Allgemeinwohl unterordnen“ befürworteten über den gesamten Zeitraum von 1994 bis 2002 36 Prozent der West- und sogar 52 Prozent der Ostdeutschen. Vergleichbar starke Ost-West-Unterschiede zeigen sich übrigens auch bei solchen Items, die auf die Rolle des Staates und insbe-
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sondere auf die gewünschte Intensität staatlicher Eingriffe in die gesellschaftliche Entwicklung abzielen (vgl. zuletzt Arzheimer 2005 und Arzheimer/Rudi 2007). Vor dem Hintergrund solcher Befunde stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, die relativ allgemeinen Aussagen der Demokratie-Skalen, die sich von der Politischen Theorie ausgehend letztlich auf sehr abstrakte Prinzipien beziehen, durch Fragen zu konkreteren politischen Situationen zu ergänzen, in denen diese Prinzipien angewendet werden müssen. Dass es hier zu Konflikten (etwa zwischen der generellen Befürwortung der Meinungsfreiheit und der spezifischen Unterstützung für ein Verbot der kommunistischen Partei) kommen kann, die den normalen Bürger überfordern, hat bereits Lane selbst festgestellt und durch zahlreiche aufschlussreiche Zitate aus seinen offenen Interviews belegen können. Eine systematische Analyse dieser Probleme ist jedoch bislang ein Desideratum.
2.2.3
Ideologien und Sachfragen
Fragen nach der Rolle des (Wohlfahrts-)Staates leiten zum dritten der oben angesprochenen großen Forschungsstränge über, der sich weniger mit den Grundstrukturen des politischen Denkens bzw. des Staates als vielmehr mit den (wahrgenommenen) Gemeinsamkeiten zwischen einer großen Zahl von relativ spezifischen politischen Sachfragen befasst, die durch räumliche Metaphern (vor allem die oben bereits mehrfach angesprochene Links-RechtsDimension) beschrieben werden können. Der Ursprung dieser in den Köpfen der Politiker, Bürger und politischen Kommentatoren fest verankerten Einteilung der politischen Welt liegt einer populären Erklärung zufolge in der französischen Nationalversammlung von 1789, wo die entschieden revolutionären Abgeordneten sich zur Linken, die eher monarchistisch gesinnten Deputierten hingegen zur Rechten des Sitzungspräsidenten sammelten. Im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts verfestigte sich dieser Parlamentsbrauch in Frankreich und wurde relativ bald darauf auch in anderen kontinentaleuropäischen Parlamenten, u.a. dem deutschen Paulskirchenparlament von 1848 übernommen. Die systematische Nutzung der räumlichen Metapher für die Zwecke der wissenschaftlichen Analyse von Politik beginnt jedoch erst rund 100 Jahre später mit einem bahnbrechenden Artikel des Ökonomen Harold Hotelling (1929), der sich mit der Analyse des Verhaltens von zwei konkurrierenden Geschäften auf einer imaginären Einkaufsstraße befasst, wo die Kosten der Anfahrt für die Kunden nicht zu vernachlässigen sind, sodass ein starker Anreiz besteht, beim jeweils nächstgelegenen Händler einzukaufen.5 Im Ergebnis werden unter diesen Umständen beide Händler den Standort ihres Geschäftes möglichst nahe am Mittelpunkt der Einkaufsstraße bzw. am Zentrum der Verteilung ihrer potentiellen Kunden wählen. Wie Hotteling selbst bemerkt, steht die räumliche Distanz in diesem Gedankenexperiment stellvertretend für eine Vielzahl von Eigenschaften, durch die sich Wettbewerber voneinander unterscheiden bzw. aneinander annähern können. Als Beispiele nennt er die religiösen Lehren verschiedener protestantischer Denominationen, aber auch die Außenhandelspolitik der beiden relevanten US-amerikanischen Parteien. Ganz gleich, ob es um Mine5 Hierbei wird vorausgesetzt, dass sich die Preise nicht stark unterscheiden. Dieser Punkt spielt bei der Übertragung auf die Sphäre des Politischen jedoch keine Rolle.
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ralwasser, Religion oder Politik geht – in jedem Fall werden sich Hotelling zufolge die „Kunden“ jenem „Anbieter“ zuwenden, der ihrem eigenen Standort am nächsten liegt, während – zumindest im Falle eines Duopols – für die Wettbewerber ein großer Anreiz besteht, sich möglichst weit aufeinander zu zu bewegen. Diese Überlegungen wurden nochmals rund 30 Jahre später von Anthony Downs in seiner „Ökonomischen Theorie der Demokratie“ (1957) aufgegriffen und systematisch erweitert (vgl. dazu ausführlich Arzheimer/Schmitt 2005). Von den traditionellen Ansätzen der politischen Soziologie unterscheidet sich das Konzept von Downs dadurch, dass er sowohl die Bürger als auch die Politiker als Akteure betrachtet, die sich rein zweckrational verhalten, also stets diejenige Handlungsoption wählen, die mit Blick auf die eigenen Ziele optimal ist. Für die Parteien bedeutet dies, dass ihr Verhalten ausschließlich darauf abzielt, ihren Stimmenanteil bzw. die Zahl der von ihnen besetzten Regierungsämter zu maximieren, während die Bürger stets für jene Partei stimmen, von deren Regierungstätigkeit sie sich auf Grund der ihnen vorliegenden Informationen den größten Nutzen erwarten. Von entscheidender Bedeutung für diesen Nutzen sind naturgemäß die jeweiligen Positionen der Parteien zu genau definierten politischen Sachfragen („issues“). Solange man davon ausgeht, dass Bürger und Politiker analog zu den Modellannahmen der klassischen Ökonomie vollständig informiert sind, gibt es in dieser leidenschaftslosen politischen Modellwelt keinen Platz für Ideologien und Symbole. Downs selbst weist jedoch darauf hin, dass reale politische Akteure typischerweise mangelhaft informiert sind und die Beschaffung von zusätzlichen Informationen kostspielig ist, aber kaum zusätzlichen Nutzen bringt. Zudem handeln Bürger (und Parteien!) stets unter Unsicherheit: Selbst ein prinzipienstarker Regierungschef, der ohne Rücksicht auf parlamentarische Mehrheiten und andere Institutionen handeln kann, wird normalerweise nicht in der Lage sein, jene und nur jene Maßnahmen durchzuführen, die im Wahlprogramm angekündigt waren, weil sich die politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse ständig ändern und jederzeit neue Probleme auftreten können, die zum Zeitpunkt der Wahl noch nicht absehbar waren. Selbst dann, wenn ein Bürger bereit wäre, sich Kenntnis über das zukünftige Handeln der Parteien zu verschaffen, sind die entsprechenden Informationen deshalb häufig nicht verfügbar. Ideologien, die Downs (1957: 96) im Einklang mit den bisher vorgestellten Ansätzen als „image[s] of the good society and of the chief means of constructing such a society” definiert, können jedoch dazu beitragen, diese Probleme abzumildern, indem sie die kognitiven Kosten der politischen Entscheidungsfindung reduzieren: Wenn jeder der relevanten Parteien eine Ideologie zugeordnet werden kann, von der jeweils bestimmte soziale Gruppen profitieren werden, ist es für viele Wähler nicht mehr nötig, sich über jede einzelne Sachaussage der Parteien zu informieren. Auch für die Parteien bedeutet die Festlegung auf eine Ideologie eine enorme Erleichterung: Hat sich eine Partei erst einmal für eine Ideologie entschieden, von der sie erwartet, dass diese eine optimale Kombination sozialer Gruppen anspricht, so muss sie nicht mehr bei jeder einzelnen (möglicherweise neuen) Sachfrage festlegen, mit welcher Position sie möglichst viele Wähler für sich gewinnen könnte, sondern kann stets für den Standpunkt plädieren, der in Übereinstimmung mit der bereits beschlossenen Ideologie steht (Downs 1957: 99). Besonders nützlich sind aus dieser Perspektive solche Ideologien, die sich auf politische Grundfragen („superissues“) beziehen, die mit einer Vielzahl von weiteren, logisch
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nachgeordneten Streitfragen in Zusammenhang stehen. Als Beispiel dafür nennt Downs die ökonomische Links-Rechts-Dimension, d.h. die Frage, inwieweit der Staat in den ökonomischen Prozess eingreifen soll. Die Idealvorstellungen der Wähler und die programmatischen Angebote der Parteien bezüglich dieser Frage können als Punkte in einem Kontinuum mit den Extrempolen „Planwirtschaft“ und „Laissez-faire“ dargestellt werden. Für die Wähler bedeutet dies eine immense Reduktion ihrer Informations- und Entscheidungskosten, da sich die Bewertung der Parteien auf diese Weise radikal vereinfachen lässt: Eine Partei, deren ideologische Position mit dem eigenen Idealpunkt zusammenfällt, bietet einem Wähler den maximalen Nutzen; je stärker die ideologische Position der Partei vom eigenen Standpunkt abweicht, desto geringere Vorteile sind von dieser Partei zu erwarten. Auch für die Parteien ist die Existenz einer einheitlichen ideologischen Dimension mit großen Vorteilen verbunden, da sie sich nun – analog zu den von Hotelling genannten Beispielen – an der vergleichsweise leicht zu ermittelnden Verteilung der Wähler über das ideologische Kontinuum orientieren können, um ihren Stimmenanteil zu maximieren. Für ein Zwei-Parteien-System prognostiziert Downs – wiederum in Übereinstimmung mit Hotelling – eine starke zentripetale Tendenz, da für beide Parteien große Anreize bestehen, sich auf die Mitte der Verteilung, den sogenannten Median zu zu bewegen.6 In der Praxis sind dieser Tendenz allerdings Grenzen gesetzt, da bei einer zu starken Annäherung u.a. die Gefahr von Neugründungen am Rande des politischen Spektrums besteht und die Parteien an Glaubwürdigkeit verlieren würden (Downs 1957: 117-122). Für Mehrparteiensysteme kann ohnehin kein „genereller Trend zur Medianposition“ vorausgesetzt werden (Pappi 2000: 98). Wie Downs selbst feststellt (1957: 116) ist die von ihm vorgeschlagene räumliche Analogie allerdings stark eingeschränkt, da sie nur eine einzige Dimension umfasst. Dies wäre nur dann angemessen, wenn sich aus der Position eines Akteurs bezüglich der ökonomischen Links-Rechts-Achse seine Position bezüglich aller relevanten Streitfragen näherungsweise ableiten ließe. Tatsächlich nehmen Parteien und Wähler jedoch häufig bezüglich eines Politikfeldes eine „linke“, in einem anderen Bereich eine „rechte“ Position ein, ohne dass dies zu inhaltlichen Widersprüchen führen muss. In Anschluss an Downs wurden deshalb eine Reihe von Erweiterungen seines Modells vorgeschlagen, unter denen die von James M. Enelow und Melvin J. Hinich (1982) entwickelte „Spatial Theory of Voting“ eine zentrale Rolle einnimmt. In dieser Monographie skizzieren beide Autoren ein mathematisches Modell, das eine prinzipiell beliebig große Zahl von ideologischen Dimensionen zulässt, der Tatsache Rechnung trägt, dass die Wähler diesen Dimensionen ein je unterschiedliches Gewicht beimessen können und überdies die Möglichkeit berücksichtigt, dass die Bewertung einer Partei auf einer Dimension einen Einfluss auf die Bewertung auf einer anderen Dimension haben kann. Besonders klar lässt sich die Notwendigkeit einer solchen mehrdimensionalen Konzeption des ideologischen Raumes an der Rolle der FDP in der von 1982-1998 amtierenden Kohl-Regierung demonstrieren: Hier standen die Liberalen in der Sozial-, Steuer-, Arbeits-
6 Die Mitte der Verteilung muss keineswegs mit der Mitte der entsprechenden Dimension übereinstimmen: Wenn sich die Mehrzahl der Wähler im linken Teil des politischen Spektrums bewegt, liegt der Median im pro-sozialistischen Bereich.
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markt- und Wirtschaftspolitik tendenziell rechts, in der Asyl-, Ausländer-, Frauen- und Rechtspolitik hingegen links von den Unionsparteien. Dieses einfache Beispiel zeigt, dass der ideologische Raum in Deutschland mindestens zwei Dimensionen aufweisen muss. Zugleich scheint aber die Gesamtzahl der relevanten Dimensionen nicht allzu groß zu sein. Abbildung 3:
Einordnung einiger ideologischer Hauptströmungen des 19. und 20. Jahrhunderts in einen zweidimensionalen ideologischen Raum Individuum Liberalismus
Sozialdemokratie
Planwirtschaft
Marktwirtschaft Christdemokratie
Konservatismus
Marxismus-Leninismus Nationalsozialismus
Kollektiv
Dies deckt sich mit den Ergebnissen einer Reihe von analytischen und empirischen Studien (u.a. Kitschelt 1994; Warwick 2002), die zeigen, dass der politische Wettbewerb in der Mehrzahl der westeuropäischen Gesellschaften von zwei bis drei Dimensionen strukturiert wird. Dabei handelt es sich zum einen um die oben diskutierte ökonomische Links-RechtsDimension, die nach wie vor von großer politischer Bedeutung ist. Sie wird durch eine zweite Konfliktdimension ergänzt, die allerdings weniger klar definiert ist und sich auf die Frage bezieht, wie politische Entscheidungen getroffen werden, welchen Gruppen welche Bürgerrechte zuerkannt werden und inwieweit soziale und politische Institutionen in das Leben der Bürger eingreifen dürfen. Diese zweite ideologische Dimension wird in der Literatur als „libertär-autoritäre“ Konfliktachse (Kitschelt 1994) oder als Dimension der „sozialen Kontrolle“ (Warwick 2002) bezeichnet. In der deutschen Diskussion hat sich der Begriff „gesellschaftspolitische Links-Rechts-Achse“ eingebürgert. All diese relativ unscharfen Bezeichnungen tragen der Tatsache Rechnung, dass hier weitaus mehr Unklarheit darüber besteht, welche politischen Pläne sich mit einer bestimmten Position auf dieser Dimension verbinden. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass sich diese zweite ideologische Dimension weiter aufspalten lässt.
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Dennoch ist ein solches zweidimensionales Schema überaus nützlich, da sich mit seiner Hilfe ein beträchtlicher Teil der politischen Konflikte beschreiben lässt, die das Leben in den westlichen Demokratien bestimmen. Exemplarisch zeigt sich dies in Abbildung 3, die einige der in Abschnitt 2.2.2 diskutierten ideologischen Hauptströmungen auf eine Fläche projiziert, die von einer ökonomischen und einer gesellschaftspolitischen Achse aufgespannt wird. Dabei sollten die jeweiligen Koordinaten der Ideologien nicht im Sinne einer absoluten Einordnung missverstanden werden. Vielmehr geht es hier einfach nur darum aufzuzeigen, dass sich a) mit Hilfe dieses einfachen Schemas Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den großen Strömungen identifizieren lassen und dass b) nach wie vor ein enger Zusammenhang zwischen den ideologischen Ansätzen des 19. und 20. Jahrhunderts und den politischen Fragen der Gegenwart besteht. Trotzdem lässt sich nicht bestreiten, dass die von Downs und Hotteling begründete Konzeption von Ideologien sich klar von der traditionellen soziologischen Perspektive unterscheidet. Während dort politische Ideen als wirkungsmächtige Symbole betrachtet werden, die an tiefverwurzelte Werte und Loyalitäten appellieren und die Wahrnehmung der politischen Welt kolorieren, betrachtet die auf Downs zurückgehende Forschungsrichtung Ideologien in erster Linie als nützliche Heuristiken, die die Kosten für den Erwerb und die Verarbeitung politischer Informationen reduzieren. Hinter diesen beiden Sichtweisen stehen je unterschiedliche Menschenbilder, die in der Literatur mit den Schlagworten „homo sociologicus“ und „homo oeconomicus“ beschrieben werden (siehe dazu bspw. Lindenberg 1985). Unabhängig davon hat sich die Verwendung räumlicher Metaphern auf breiter Front durchgesetzt. Auch solche Forscherinnen und Forscher, die sich selbst nicht dem RationalChoice-Paradigma zuordnen, nutzen häufig entsprechende Instrumente zur Einordnung von Bürgern, Parteien und politischen Texten. Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Bürger und Politiker wie oben erwähnt selbst ständig auf diese Kategorien zurückgreifen, um über Politik nachzudenken. So sahen sich in der bereits oben verwendeten Umfrage jeweils rund 90 Prozent der Befragten in der Lage, ihre eigene Position auf einer globalen Links-Rechts-Skala anzugeben (vgl. Abbildung 4).7 Dabei zeigte sich erwartungsgemäß, dass die linke Mitte in Ostdeutschland etwas stärker, die rechte Mitte hingegen etwas schwächer besetzt ist als in der alten Bundesrepublik. Dies deckt sich einerseits mit der aus der Literatur bekannten Präferenz der Ostdeutschen für ein stärkeres Eingreifen des Staates in die Gesellschaft (vgl. zuletzt Arzheimer 2005). Andererseits ist aber zu bedenken, dass sich in der Links-Rechts-Selbsteinstufung neben im eigentlichen Sinne ideologischen, d.h. themenbezogenen Komponenten stets auch gruppenbezogene Aspekte und Wahlabsichten widerspiegeln (Jagodzinski/Kühnel 1994).
7 Das hier verwendete Item „In der Politik reden die Leute häufig von „Links“ und „Rechts“. Wenn Sie diese Skala von 1 bis 11 benutzen, wo würden Sie sich selbst einordnen, wenn 1 links und 11 rechts ist?“ kann als Standardinstrument gelten, das in sehr ähnlicher Form auch im ALLBUS und einer Reihe weiterer Umfragen verwendet wird.
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Abbildung 4:
101 Links-Rechts-Selbsteinstufung in der Bundesrepublik 1994-2002 (Quelle: Eigene Berechnung aus ZA-Nr. 4301) Ost
s R ec ht
R ec ht s Li nk s
Li nk s
0
10
Prozent
20
30
West
Selbsteinstufung Darüber hinaus fällt auf, dass sich in beiden Landesteilen jeweils knapp 30 Prozent der Befragten exakt in der Mitte des politischen Spektrums einstufen. In einer Gesellschaft, die nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts die politischen Extreme mit Argwohn betrachtet, liegt es prinzipiell nahe, dies als eine subtile Form der Antwortverweigerung zu deuten: Möglicherweise ist ein Teil dieser Gruppe nicht willens oder in der Lage, eine ideologische Aussage über sich selbst zu treffen, und wählt deshalb die neutrale Antwortkategorie. Zumindest die letztgenannte Variante erscheint allerdings eher unwahrscheinlich, da die überwältigende Mehrheit der Befragten die relevanten Parteien sinnvoll in das LinksRechts-Schema einordnen kann (vgl. Abbildung 5): Grüne, SPD, FDP und CDU werden von der übergroßen Mehrheit der Respondenten jeweils mehr oder minder weit links bzw. rechts der Mitte platziert, während die beiden Flügelparteien PDS und Republikaner ebenfalls mehrheitlich den Rändern des politischen Spektrums zugeordnet werden. Insgesamt deckt sich diese aggregierte Anordnung der Parteien weitgehend mit entsprechenden Expertenurteilen. Allerdings ist damit die Frage, welche individuellen (Fehl-) Einschätzungen sich hinter diesen globalen Ergebnissen verbergen, noch nicht beantwortet. Eine einfache Möglichkeit, sich diesem Punkt anzunähern, besteht darin, beispielsweise die Einzelaussagen zu den Grünen und zur FDP miteinander zu vergleichen, da es weder im wirtschafts- noch im gesellschaftspolitischen Bereich plausible Argumente dafür gibt, die Grünen rechts von der FDP einzustufen. Unabhängig davon, für welche Skalenpunkte sich
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ein Befragter konkret entscheidet, müsste deshalb für die Grünen stets ein niedrigerer Wert als für die FDP vergeben werden.
0
0
Prozent 20 40 60 80
Links-Rechts-Einstufung der Parteien in der Bundesrepublik 1998-2002 (Quelle: Eigene Berechnung aus ZA-Nr. 4301)
Prozent 20 40 60 80
Abbildung 5:
Links
Rechts
Links
Rechts
0
0
Prozent 20 40 60 80
CDU
Prozent 20 40 60 80
SPD
Links
Rechts
Links
Rechts
0
0
Prozent 20 40 60 80
FDP
Prozent 20 40 60 80
B90/Grüne
Links
Rechts PDS
Links
Rechts REP
Tatsächlich ordnen allerdings rund sieben Prozent der Respondenten die Grünen rechts von der FDP ein, wobei die wahrgenommene Distanz zwischen beiden Parteien meist weniger als drei Skalenpunkte beträgt. Weitere acht Prozent der Befragten sehen auf der LinksRechts-Achse keinen Unterschied zwischen beiden Parteien, während die überwältigende Mehrheit von 85 Prozent der Bürger die FDP mehr oder minder klar rechts von den Grünen sieht. Noch deutlicher sind die Ergebnisse für die relativen Positionen von Grünen und CDU: Weniger als sechs Prozent der Befragten sehen die Grünen rechts von der CDU, weitere vier Prozent der Bürger platzieren beide Parteien an einer identischen Position. Einen letzten Beleg dafür, dass die Wahlberechtigten in der Lage sind, ideologische Kriterien anzuwenden, um die politische Landschaft sinnvoll zu strukturieren, liefern sogenannte dimensionsreduzierende Verfahren wie die Faktorenanalyse und die Multidimensionale Skalierung (MDS, vgl. Borg/Groenen 1997). Diese zielen darauf ab, einfache Strukturen aufzudecken, die hinter den politischen Einstellungen der Bürger, den Wahlprogrammen der Parteien oder der Einstufung von Parteien durch Wähler oder Experten stehen. Dabei bilden sie mathematisch jenen Prozess der Informationsverdichtung nach, den Bürger und Parteien täglich anwenden, wenn sie Politik unter ideologischen Gesichtspunkten betrachten.
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4
Wahrnehmung der Parteien in einem ideologischen Raum in West- und Ostdeutschland, 1998-2002 (Quelle: Eigene Berechnung aus ZA-Nr. 4301)
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Abbildung 6:
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REP PDS
2
2
PDS
REP
0
0
B90GR B90GR
FDP
FDP
SPD CSU
CSU
-2
CDU
CDU
-4
-4
-2
SPD
-4
-2
0 west
2
4
-4
-2
0 ost
2
4
Abbildung 6 zeigt, getrennt für Ost- und Westdeutschland, die Ergebnisse einer solchen MDS von Werturteilen der Bürger über die Parteien. Ausgangspunkt für die Analyse war eine denkbar allgemeine Frage: „Was halten Sie von der CDU, CSU, SPD, FDP?“. Für jede der genannten Parteien konnten die Befragten auf einer elfstufigen Skala ein mehr oder minder positives Urteil abgeben, ohne dass dabei ideologische oder andere inhaltliche Aspekte angesprochen wurden. Ausgehend von der Überlegung, dass zwei Parteien, die von den Bürgern beide eher positiv oder eher negativ wahrgenommen werden, aus Sicht der Befragten einander in irgendeiner Form ähneln müssen, wurden aus diesen Bewertungen anschließend die perzipierten Distanzen zwischen den Parteien errechnet. Bei sieben Parteien ergeben sich insgesamt 21 Paare von Parteien, für die ein solcher Abstand bekannt ist. Diese 21 Abstände werden anschließend von einem Computeralgorithmus so in einen niedrigdimensionalen Raum (in der Regel einfach eine zweidimensionale Fläche) projiziert, dass die Distanzen zwischen den Parteien möglichst gut erhalten bleiben.8 Je näher die Punkte, die die Parteien repräsentieren, beieinander liegen, desto ähnlicher sind die entsprechenden Parteien einander in den Augen der Bürger. Vergleicht man die beiden Grafiken für Ost- und Westdeutschland miteinander, so ist klar zu erkennen, dass die Schwesterparteien CDU und CSU als sehr ähnlich, wenn auch keineswegs als identisch wahrgenommen werden. Ebenfalls deutlich zu erkennen ist, dass SPD und Grüne in derselben Region platziert werden und die FDP eine Mittelstellung zwischen den Unionsparteien und diesem „Lager“ einnimmt. Ein bemerkenswerter Ost-West-Unterschied zeigt sich jedoch bei den Positionen von Republikanern und PDS. In beiden Landesteilen ist die Distanz 8 Im konkreten Fall gelingt dies in Westdeutschland sehr, in Ostdeutschland immer noch relativ gut. Dabei ist zu berücksichtigen, dass hier die Ergebnisse von zwei Befragungen (1998 und 2002) zusammengefasst wurden, um eine möglichst große Fallzahl zu erhalten. Durch eine getrennte Analyse der in den neuen Ländern stärker schwankenden Bewertungen ließe sich hier vermutlich eine noch bessere Anpassung erreichen.
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zwischen den Flügelparteien und allen anderen Gruppierungen recht groß. Im Osten rückt die PDS in den Augen der Bürger allerdings erkennbar an SPD und Grüne heran, während sie von der CDU/CSU und den Republikanern weit entfernt bleibt. Im Westen hingegen werden PDS und Republikaner als relativ ähnliche Parteien empfunden, die sich beide deutlich von allen anderen Parteien unterscheiden. Damit ist allerdings noch nichts über die inhaltliche Bedeutung der beiden Dimensionen gesagt, die diesen psychologischen Wahrnehmungsraum der Bürger aufspannen. Eine Möglichkeit, die Interpretation solcher Grafiken zu erleichtern, besteht darin, auf externe Informationen über die Parteien zurückzugreifen und diese als Vektor in den Raum zu projizieren. Die beiden Doppelpfeile in Abbildung 6 repräsentieren solche externen Informationen, nämlich die unabhängig von den Bewertungen erhobene globale Links-Rechts-Einstufung der Parteien. Sofern die Bürger bei der Beurteilung der Parteien auf ideologische Kriterien zurückgreifen, müssten sich linke Parteien tendenziell auf der Höhe der linken, rechte Parteien hingegen auf Höhe9 der rechten Pfeilspitze wiederfinden. Wie unschwer zu erkennen ist, trifft dies zumindest für die etablierten Parteien zu: In beiden Regionen werden SPD und Grüne eher am linken, CDU und CSU eher am rechten Ende eingeordnet, während die FDP eine Mittelstellung einnimmt. Zumindest in Ostdeutschland ist auch die relative Position von PDS und Republikanern zu dieser Links-Rechts-Achse plausibel, d.h. die (mittlere) Bewertung aller sieben Parteien ist in hohem Maße mit deren (mittlerer) Links-RechtsEinstufung korreliert. In der alten Bundesrepublik hingegen befindet sich die PDS zu nahe am Mittelpunkt der Links-Rechts-Achse, was sich letztlich durch die große Zahl von negativen Bewertungen erklärt, die weitgehend unabhängig von den Bewertungen der etablierten Parteien sind: Trotz der (relativen) ideologischen Nähe von PDS zu Grünen und zur SPD unterscheiden sich die Postsozialisten in den Augen der Westdeutschen so deutlich von den beiden anderen linken Parteien und sind andererseits den Republikanern so ähnlich, dass sie nicht näher an der linken Pfeilspitze platziert werden können.10 Im Ergebnis sind diese Befunde ein starker Hinweis darauf, dass die Bürger bei der Beurteilung von Parteien auch dann auf ideologische Kriterien zurückgreifen, wenn ihnen keinerlei inhaltliche Vorgaben gemacht werden. In Ostdeutschland gilt dies für alle, in der alten Bundesrepublik zumindest für jene Parteien, die vor der Wiedervereinigung im Bundestag vertreten waren.
2.2.4
Ausblick
Der auf Robert Lane zurückgehenden Tradition folgend, standen individuelle ideologische Einstellungen, die zumindest potenziell Einfluss auf das politische Handeln der Bürger haben, im Zentrum dieses Beitrages. Dies entspricht auch dem Forschungsinteresse der Mehrzahl derer, die sich mit diesem Gegenstand beschäftigen. Dennoch soll abschließend 9 Präziser: Fällt man von dem Punkt, der eine Partei repräsentiert, das Lot auf den Doppelfeil, so sollte sich der Schnittpunkt in der Nähe der Pfeilspitzen befinden. 10 Die zweite Dimension des Wahrnehmungsraumes lässt sich vor diesem Hintergrund am plausibelsten als „Grad der Etabliertheit“ interpretieren.
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noch einmal explizit auf zwei Punkte hingewiesen werden, die bisher nur am Rande angesprochen wurden. Zum einen beschränkt sich die Beschäftigung mit der Position von Parteien in einem ideologischen Raum keineswegs auf die Analyse der Wahrnehmungen von Bürgern oder Experten. Vielmehr existiert eine lange Tradition der quantitativen Analyse von Parteiprogrammen, die eine relativ objektive Einordnung der Parteien und damit zugleich einen Vergleich von politischen Absichtserklärungen und tatsächlichem Regierungshandeln gestattet, die erstaunlich bzw. erfreulich eng miteinander verknüpft sind (vgl. zusammenfassend Klingemann/Bara/Volkens et al. 2006). Zum anderen hat sich die Forschung nicht nur mit dem politischen Denken der Bürger, sondern auch mit den Überzeugungen der Eliten befasst (vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Viktoria Kaina in diesem Band). Eine Sonderstellung nehmen dabei die Parteimitglieder ein, weil sie letztlich für die ideologische Positionierung ihrer Partei verantwortlich sind. Befragungen von Parteimitgliedern zeigen, dass diese in hohem Maße und relativ konsistent ideologisch denken. Dies gilt insbesondere für die mittlere Führungsebene der Partei, die häufig zum Radikalismus neigt, während einfache Parteimitglieder ebenso wie die Spitzenkräfte der Partei in ihren Überzeugungen den zumeist moderateren und ideologisch weniger festgelegten Wählern der Partei näherstehen (vgl. zusammenfassend Kennedy et al. 2006).
3
Fazit
Ziel dieses Beitrages war es, dem Leser einen Überblick über die Entwicklung, Verwendung und Bedeutung des Ideologiebegriffes in der politischen Soziologie zu geben. Dabei hat sich gezeigt, dass sich deren Betrachtungsweise naturgemäß von der Perspektive der Ideengeschichte unterscheidet. Dennoch bestehen nach wie vor enge Zusammenhänge zwischen den „großen Ideen“ des 19. und 20. Jahrhunderts und den politischen Einstellungen, Aussagen und Positionen, mit denen sich die empirische Forschung der Gegenwart beschäftigt. Überdies überschneidet sich das Gebiet der Ideologieforschung mit einer ganzen Reihe von Teilund Nachbardisziplinen der politischen Soziologie, insbesondere mit der Wahl- und der Werteforschung (vgl. die Beiträge von Harald Schoen und Christian Welzel in diesem Band). Die Beschäftigung mit Ideologien kann deshalb als einer der zentralen Bereiche des Faches gelten.
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Testfragen 1. 2.
Welches sind die ideologischen Hauptströmungen des 19. und 20. Jahrhunderts? Was sind (in Ihren eigenen Worten) die wesentlichen Elemente einer Ideologie?
108 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Kai Arzheimer Welcher politische Konflikt wird durch die ökonomische Links-Rechts-Achse beschrieben? Warum gibt es in Zweiparteiensystemen eine Tendenz zur Mitte, und warum bezieht sich diese Tendenz auf die Mitte der empirischen Verteilung ideologischer Einstellungen? Warum kann die Beschreibung des deutschen Parteiensystems mit Hilfe einer einzigen Dimension Probleme bereiten? Welche Rolle spielen Ideologien für rationale Wähler und Politiker? Wie und wann sind Ideologien entstanden? Ist Freedens Kritik an der empirischen Erforschung ideologischer Einstellungen gerechtfertigt? Wie unterscheiden sich Sozialdemokratie und Kommunismus (Marxismus-Leninismus)? Inwiefern und inwieweit sind heute alle demokratischen Parteien liberale Parteien? Warum ist es auch nach 1990 nicht gerechtfertigt, von einem „Ende der Ideologien“ zu sprechen?
Werte- und Wertewandelforschung Christian Welzel
1
Einleitung
Dieser Beitrag beschreibt zentrale Annahmen, erörtert Fragestellungen und dokumentiert wichtige Befunde der Werteforschung – unter besonderer Zuspitzung auf die Wertewandelforschung, die sich in den zurückliegenden Jahren als eines der ertragreichsten Forschungsfelder erwiesen hat. Die ersten beiden Abschnitte gehen auf Prämissen der Werteforschung und den Stellenwert der Wertewandelforschung ein. Im darauf folgenden Abschnitt werden zentrale Kontroversen dargestellt, um im letzten Abschnitt auf mögliche Konsequenzen des Wertewandels einzugehen.
2
Prämissen der Werteforschung
Die Forschung interessiert sich für Werte, weil sie an deren Verhaltensrelevanz glaubt. Die Relevanzannahme wird bereits in der Defintion von Werten deutlich (Kluckhohn 1953; Rokeach 1973): Werte sind dauerhaft verinnerlichte Zielmaßstäbe menschlichen Handelns.
Als Wert kommt jede Zielorientierung in Frage, die das Handeln der Menschen motivieren kann (Schwartz 2002). Unter Wertorientierungen versteht man diejenigen Werte, die die Menschen auch tatsächlich verinnerlicht haben. Im Unterschied dazu sind Normen gesellschaftlich sanktionierte Werte, die nicht unbedingt verinnerlicht sein müssen. Gegenüber Normen haben Wertorientierungen eine stärkere motivationale Kraft, weil sie auch in Abwesenheit äußerlicher Sanktionen verhaltenswirksam sind. Im Interesse einer ergebnisoffenen Forschung ist die Definition von Wertorientierungen nicht auf moralisch wünschbare Werte eingeengt. Auch ein moralisch so zweifelhafter Wert wie Selbstbereicherung wird zur Wertorientierung, wenn er als Handlungsmaßstab verinnerlicht ist. Die Werteforschung verfolgt mikro- wie makrosoziologische Fragestellungen. In der Mikroperspektive rücken Werte wegen der Rolle in den Blick, die sie bei der Sozialisation von Individuen spielen. Man geht davon aus, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen über die emotionale, kognitive und habituelle Verankerung von Werten entwickelt und dass sich persönliche Identität überhaupt erst über ein bestimmtes Werteprofil definiert (Allport 1937; Hurrelmann 1988). Makrosoziologisch sind Werte wegen der Rolle bedeutsam, die sie für die kulturelle Prägung ganzer Populationen spielen. So wie sich die Persönlichkeit von
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Christian Welzel
Menschen über individuelle Werteprofile definiert, so definiert sich die Kultur einer Gesellschaft über kollektiv vorherrschende Werteprofile. Vergleichbar mit Genen als Trägern biologischer Identität, sind Werte (auch „Meme“ genannt) Träger kultureller Identität (Triandis 1995). Durch Wertetradierung im Generationenwechsel sind Gesellschaften imstande, ihre kulturelle Identität – unter gewissen Modifikationen – stets wieder neu zu produzieren (Nolan/Lenski 2004). Seit geraumer Zeit wissen wir mehr über die neurobiologischen Grundlagen menschlichen Wertens. Das neuronale Zentrum unseres Wertesystems liegt im orbifrontalen Neocortex (Spitzer 2004). Fällt dieser aufgrund einer Hirnschädigung aus, wird die Urteilsfähigkeit eines Menschen gestört. Dadurch verliert er die Fähigkeit zum geplanten und kontrollierten Handeln und triebhaftes Verhalten wird dominant. Werte geben den Menschen also die Fähigkeit, sich in ihrem Handeln über triebhafte Impulse hinwegzusetzen. Erst Werte machen Menschen zu dem, was sie als Spezies auszeichnet: die Befähigung, geplant auf abstrakte Ziele hin zu handeln (Alexander 1997). Verinnerlichte Werte steuern unser Handeln nicht nur wegen ihrer kognitiven Verankerung und der dadurch möglichen Bewusstwerdung wertkonformen Handelns. Sie steuern unser Handeln auch über ihre emotionale Verankerung im neuronalen Gratifikationszentrum, dem nucleus accumbens, der wertkonformes Verhalten mit Dopaminausstoß belohnt (Greene et al. 2001; Greene 2003; Rilling et al. 2002). Strittig ist bis heute die Frage, wie viel Selektionsspielraum Individuen in ihrer Wertesozialisation überlassen ist, beziehungsweise wie dominant eine bestehende Kultur ihre tradierten Werte weiterreicht (Boehnke et al. 2007). Das mit dieser Fragestellung aufgeworfene Spannungsfeld führt uns unmittelbar in die Erforschung des Wertewandels – dem Thema, das in den zurückliegenden Jahrzehnten die Werteforschung am meisten beschäftigt hat.
3
Zum Stellenwert der Wertewandelforschung
Die Wertewandelforschung nimmt an, dass Menschen die Werte am stärksten verinnerlichen, die ihnen am ehesten helfen, gemachte Erfahrungen sinnvoll zu ordnen und gegebene Lebensumstände zu meistern (Flanagan 1987). Aus diesem Grund, so die Annahme, sind Werte an die existenziellen Lebensbedingungen und die aus diesen erwachsenden Erfahrungen der Menschen gekoppelt. Wegen ihrer Kopplung an die existenzprägenden Lebensumstände geraten Wertorientierungen unter Veränderungsdruck, wenn sich die Lebensumstände grundlegend ändern. Um ihre Nützlichkeit bewahren zu können, müssen Wertorientierungen auf solchen Veränderungsdruck reagieren. Wertewandel ist demnach eine kulturelle Anpassungsleistung an sich wandelnde Lebensumstände. Ändern sich die Lebensumstände dabei in ähnlicher Weise für weite Bevölkerungsteile, so ist ein gerichteter Wertewandel durch alle Gesellschaftsschichten die logische Folge. Idealtypisch kann man sich den Verlauf eines Wertewandels wie folgt vorstellen. Zunächst trifft der Wandlungsdruck, der von veränderten Lebensumständen ausgeht, auf die Beharrungstendenz, die bereits bestehende Wertorientierungen kraft ihrer identitätsstiftenden Wirkung auszeichnet. Ein solcher Widerspruch zwischen Wandlungsdruck und Behar-
Werte- und Wertewandelforschung
111
rungstendenz löst sich typischerweise in einer Wertedifferenzierung zwischen älteren und jüngeren Generationen auf (Inglehart 1977, 1990, 1997). Dieser Differenzierungsprozess kommt dadurch zustande, dass jüngere Menschen auf sich ändernde Lebensumstände und Erfahrungen flexibler mit Werteanpassungen reagieren als ältere Menschen. Das lässt sich mit einer Grunderkenntnis der Entwicklungspsychologie erklären: Erfahrungen, die man in jungen Jahren sammelt, sind für die Wertebildung prägender als Erfahrungen in fortgeschrittenem Alter (Hurrelmann 1988; Maier/Vaupel 2003). Ältere Menschen beharren darum auf den Werten, die sie aus den Erfahrungen ihrer Jugend gewonnen haben, auch wenn die alten Werte nicht mehr helfen, veränderte Umstände zu meistern. Die jüngeren Menschen dagegen, die die althergebrachten Werte noch nicht so stark verinnerlicht haben, können diese leichter in Frage stellen, wenn sie bemerken, dass die alten Werte an den veränderten Realitäten vorbeigehen. Aufkeimende Zweifel an den alten Werten setzen dann ein Experimentieren mit neuen Rollenmodellen und Lebensstilen in Gang, die in neuen Subkulturen habituell eingeübt und über einen veränderten Wertekodex ideologisch abgestützt werden. Als Folge dieser Vorgänge stellt man eine generationale Wertedifferenzierung fest, die das bisherige Werteprofil einer Gesellschaft verändert. Ein Wertewandel ist im Gange. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass Deutschland und andere postindustrielle Gesellschaften seit etwa Mitte der 1960er Jahre einen tiefgreifenden Wertewandel durchlaufen. Ungeachtet des Streits um die richtige Kennzeichnung des Wertewandels herrscht weitgehende Übereinstimmung, dass der dominierende Trend der letzten Jahrzehnte von Werten der Füg- und Folgsamkeit auf Werte der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung wies. Weil praktisch alle Studien zum Wertewandel auf die gestiegene Wertschätzung von Entscheidungsfreiheit und Gleichberechtigung abstellen, lassen sie sich auf die These eines „emanzipatorischen“ Wertewandels zusammenziehen – gleich, ob dieser nun als „postmaterialistisch“ (Inglehart 1977, 1990), „libertär“ (Flanagan/Lee 2005), „anthropozentrisch“ (Bürklin et al. 1996) oder als auf „Selbstentfaltung“ gerichtet etikettiert wird (Klages 1984, 1988; Gensicke 1998, 2002). Viele Aspekte des Wertewandels sind allerdings umstritten. Dreh- und Angelpunkt der Diskussion ist nach wie vor die Postmaterialismus-These, die Inglehart (1977) mit der Silent Revolution in der Debatte verankert hat. An dieser These haben sich eine Reihe von Debatten entzündet, die die Wertewandelforschung bis auf den heutigen Tag beschäftigen.
4
Probleme und Befunde der Werteforschung
4.1 Struktur von Wertorientierungen: Wertprioritäten oder Wertsynthese? Inspiriert von Abraham Maslows (1954) Arbeiten zur menschlichen Bedürfnispyramide postuliert Inglehart, dass Wertorientierungen sequenziell überandergeschichtet sind. Materialistische Werte sind dabei postmaterialistischen Werten existenziell vorgelagert. Dieser Konzeption zufolge müssen materielle Bedürfnisse immer zuerst befriedigt werden, bevor postmaterialistische Bedürfnisse an Bedeutung gewinnen können. Materialistische Werte dominieren deshalb solange das Denken und Handeln der Menschen, wie sie ihr physisches
112
Christian Welzel
Überleben als ungesichert wahrnehmen. Erst wenn sich ökonomische Verhältnisse einstellen, die das materielle Überleben als gesichert erscheinen lassen, beginnen sich postmaterielle Bedürfnisse zu entfalten. Materialistische Werte verlieren dann an Bedeutung und werden durch postmaterialistische verdrängt. Dies, so Inglehart, bedeute eine Prioritätenverschiebung weg von Fragen des Wirtschaftswachstums, der Inflationsbekämpfung und der Arbeitsplatzsicherheit hin zu Fragen des Umweltschutzes, der Sinnstiftung und der Selbstbestimmung. Postmaterialistische Werte manifestieren sich also in ökologischen, idealistischen und emanzipatorischen Orientierungen. Fünf Annahmen kennzeichnen Ingleharts Ansatz: (1) Da nicht alle Werte gleichzeitig realisiert werden können, gibt es Wertkonflikte und diese zwingen die Menschen, Werte in eine Prioritätenordnung zu bringen, wollen sie in solchen Konfliktsituationen handlungsfähig bleiben. (2) Ein Wert gewinnt Handlungsrelevanz nicht etwa durch das absolute Maß, mit dem eine Person diesem Wert zustimmt, sondern allein durch die Priorität, die sie diesem Wert relativ zu anderen Werten zuschreibt. (3) Um ein generelles Muster zur Hand zu haben, das sich auf viele Entscheidungssituationen anwenden lässt, tendieren die Menschen zu konsistenten Wertprioritäten über verschiedene Lebensbereiche. (4) Der Konflikt zwischen materialistischen und postmaterialistischen Werten veranlasst die Menschen, eine generelle Priorität entweder für materialistische oder für postmaterialistische Werte zu verfolgen. (5) Die Erfahrung materieller Sicherheit in der Jugend entscheidet, zu welchen dieser beiden Prioritätensetzungen ein Mensch neigt.
Für diese Annahmen sprechen entscheidungstheoretische Erkenntnisse, nicht zuletzt auch aus der jüngeren Hirnforschung (Spitzer 2004). Weil Menschen ständig unter Zielkonflikten agieren, müssen sie stets Prioritäten setzen. Da Handlungen oft unter Zeitdruck stehen, müssen diese Prioritäten sofort abrufbar sein und können nicht jedes Mal aufs Neue aus komplexen Überlegungen erschlossen werden. Verinnerlichte Werte leisten genau das: Sie bieten sofort abrufbare Prioritäten, die es erlauben, ohne großen Kognitionsaufwand bestimmte Handlungsalternativen von vornherein als mit den eigenen Überzeugungen unvereinbar auszusortieren. Wohlgemerkt können Werte diese Selektionsfunktion aber nur erfüllen, wenn sie mental in eine Rangordnung zueinander gestellt werden. Denn ohne Rangordnung gibt es in einer konkreten Handlungssituation kein Kriterium, um schnell entscheiden zu können, welcher Wert sticht. In Abwesenheit von Wertprioritäten wären die Menschen entweder handlungsunfähig oder würden in rein instinktives Verhalten zurückfallen. Kristen Monroes (1996) Forschung zu altruistischem Handeln bestätigt diese Annahmen. Menschen, die anderen in einer Notsituation helfen, auch wenn sie damit ein Risiko eingehen und keine Anerkennung zu erwarten haben, nehmen ihr Handeln als alternativlos wahr und müssen deshalb nicht lange nachdenken, um sich zu uneigennützigen Taten
Werte- und Wertewandelforschung
113
durchzuringen. Sie ziehen die Option, keine Hilfe zu leisten, erst gar nicht in Betracht. Sie wird von einem robusten Wertesystem von vornherein als Non-Option ausgeschaltet, sodass überhaupt keine Abwägungskosten entstehen. Altruistisches Handeln ist also kein Ergebnis rationaler Kosten-Nutzen-Kalkulation, sondern ist die Handlungsweise, die übrig bleibt, wenn ein verinnerlichtes Überzeugungssystem andere Handlungsalternativen aussortiert. Konform zu den eigenen Überzeugungen zu handeln ist eine wesentliche Determinante des Selbstwertgefühls der Menschen und aus diesem Grund ein starker Motivator (Deci/Ryan 2000). Insofern ist auch Altruismus nicht in dem Sinne frei von Eigennutzen, dass er keine individuelle Belohnung erzeugt. Allerdings wird diese Belohnung in der Währung moralischer Bestätigung ausgezahlt. Nur diese Form der Bestätigung kann Selbstwert aus uneigennützigem Handeln gewinnen. Die dominierende Methode in der Werteforschung ist bis heute die standardisierte Umfrage (vgl. auch den Beitrag von Manuela Pötschke in diesem Band). Bei dieser Methode bestimmt man eine Stichprobe von zu Befragenden, die entweder für die allgemeine Bevölkerung oder für bestimmte Merkmalsgruppen repräsentativ sind, und führt mit diesen Personen Interviews durch. In diesen Interviews werden Fragen gestellt, deren Beantwortung Aufschluss über die Wertorientierung der Interviewten geben soll. Über das richtige Format, in dem solche Wertefragen zu stellen sind, wurde ein langer Methodenstreit geführt, der unter dem Motto ranking versus rating steht. Dieser Streit ist mehr als nur technischer Natur, weil in ihm die unterschiedlichen theoretischen Positionen voll zum Vorschein kommen. Anhänger der Postmaterialismustheorie befürworten das ranking-Format. Es fordert Befragte auf, eine Liste vorgegebener Werte in eine Prioritätenordnung zu bringen. Begründet wird diese Strategie damit, dass man Wertprioritäten nur ermitteln kann, wenn man die Befragten mit einem Wertkonflikt konfrontiert und sie veranlasst, sich in dem Konflikt durch Priorisierung eines der angesprochenen Werte zu positionieren. Auf dieser Logik sind die drei Materialismus-Postmaterialismus Batterien von Inglehart aufgebaut. Jede der drei Batterien formuliert jeweils zwei materialistische und zwei postmaterialistische Ziele und die Befragten sollen daraus jeweils ein Ziel erster und eines zweiter Priorität nennen. Entsprechend der gewählten Prioritäten lassen sich die Befragten dann als reine Materialisten, reine Postmaterialisten und Mischtypen mit Tendenz zum Materialismus oder Postmaterialismus identifizieren. Alternativ lassen sich Prioritäten eines Befragten auf einer mehrstufigen Materialismus-versus-Postmaterialismus Skala lokalisieren.1 Auch wenn man sich der Auffassung anschliesst, dass nur prioritäre Werte handlungsrelevant sein können, muss man das Konzept des Postmaterialismus nicht in allen Belangen für überzeugend halten. Eine Schwäche besteht darin, dass das Konzept eine bestimmte Priorisierungsstruktur definitorisch vorgibt. Das schränkt die Ergebnisoffenheit des Konzepts in einem entscheidenden Punkt ein, denn es entrückt die Frage nach der relativen Wichtigkeit verschiedener Priorisierungsstrukturen der empirischen Analyse. In pointierter Entgegensetzung zum Postmaterialismus-Konzept ist der maßgeblich von Klages bestimmte Wertsynthese-Ansatz formuliert worden (Klages/Herbert 1983; Klages
1 Zur Debatte um die Validität (Gültigkeit) des Postmaterialismus-Index siehe die kritischen Beiträge von Clarke et al. (1999), Klein/Arzheimer (1999) sowie Davis/Davenport (1999) gegenüber der Verteidigung von Bean/Papadakis (1994), Hellevik (1994) sowie Inglehart/Abramson (1999).
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Christian Welzel
1984, 1988, 2002; Klages et al. 1987; Bürklin et al. 1994, 1996; Gensicke 2005). Vertreter dieses Ansatzes meinen, dass die Menschen viele verschiedene Werte für gleichermaßen wichtig erachten und insofern über ein vielseitiges Werteprofil verfügen. Dadurch würden sie in die Lage versetzt, flexibel auf wechselnde Erfordernisse zu reagieren, indem sie den Wert als Handlungsmaxime abrufen, der auf die Situation am besten passt. Wertekombinationen nach diesem Verständnis lassen sich nur über das rating-Format erfragen. Dieses Format erlaubt den Befragten, innerhalb einer Liste von Zielen jedes Ziel separat in seiner Wichtigkeit zu bewerten. Die von Klages und seinen Mitstreitern benutzte Werte-Batterie basiert auf diesem Format. Sie legt den Befragten eine Liste von elf Lebenszielen zur Bewertung vor, die jeweils einzeln zu bewerten sind – darunter hedonistische, egoistische, altruistische, konformistische, expressive, partizipative und emanzipatorische Ziele. Das rating-Format erlaubt es den Befragten in der Tat, ihre Zustimmung zu vielen unterschiedlichen Werten auszudrücken, ohne die Werte zueinander in eine Rangordnung bringen zu müssen. Dem Synthese-Ansatz folgend fokussieren Klages und seine Mitstreiter denn auch auf gerade die Befragten, die viele verschiedene Werte gleich hoch bewerten. Dabei unterscheiden sie die „Resignierten“, die viele Werte gleich niedrig bewerten, von den „aktiven Realisten“, die viele Werte gleich hoch bewerten. Letztere werden als besonders lebenstüchtiger Persönlichkeitstyp gepriesen, der auf ein großes Werterepertoire zurückgreifen könne und deshalb für die verschiedensten Herausforderungen des modernen Lebens gewappnet sei (pointiert kritisch dazu Roßteutscher 2004). Ein dritter Ansatz, das Wertekreis-Konzept von Schwartz, liegt zwischen den Positionen des Wertprioritäten- und des Wertsynthese-Konzepts (Schwartz 1992, 1994, 2003). Auf der Ebene der theoretischen Interpretation teilt Schwartz die Position des WertprioritätenKonzepts. Auch er geht von ordnenden Prioritätenstrukturen aus, die bestimmte Werte in Assoziation und wiederum andere in Opposition zueinander stellen. Ohne eine logische Ordnung nach Ähnlichkeit und Gegensätzlichkeit verlieren Werte eine ihre wesentlichen Funktionen: Selektion ermöglichen und Orientierung stiften. Nach Schwartz sind Wertsynthesen nur zwischen logisch vereinbaren, nicht jedoch zwischen gegensätzlichen Werten wahrscheinlich. So weitreichende Wertsynthesen, wie sie die Klages-Anhänger mit den „aktiven Realisten“ propagieren, wären in der Konzeption von Schwartz sinnlos, weil derart umfassende Synthesen in Beliebigkeit münden und auf diese Weise die Werte ihrer Orientierungsfunktion entheben. Um Klages’ „aktive Realisten“ handlungsfähig zu machen, bedürfte es einer übergeordneten Meta-Struktur, die entscheidet, in welcher Situation welcher der vielen verfügbaren Werte sticht. Der Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen, entkommt also auch der Syntheseansatz nicht, hat für dieses Problem aber keine Lösung anzubieten. Im Rahmen der Schwartzschen Konzeption würde man die „aktiven Realisten“ und „Resignierten“ nach Klages gleichstellen, weil beide sich gleichermaßen durch fehlende Prioritäten auszeichnen. Wertindifferenz wäre von daher eine treffendere Bezeichnung als Wertsynthese. Roßteutschers (2004) Analysen zur Verhaltensähnlichkeit zwischen „Resignierten“ und „aktiven Realisten“ unterstreichen diesen Schluss. Was die Methodik angeht, tut Schwartz es Klages gleich, indem er in seinen Value Surveys das rating als Format verwendet. Dies tut er, weil er die Priorisierungsstrukturen, die Werte in Assoziation beziehungsweise Opposition zueinander stellen, ergebnisoffen ermitteln will. Anders als Klages begegnet Schwartz allerdings einem gravierenden Methoden-
Werte- und Wertewandelforschung
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problem, das bei längeren item-Batterien in rating-Skalen typischerweise auftritt: die Neigung der Individuen zu konsistentem Skalengebrauch im Sinne durchgehend niedriger, mittlerer oder hoher ratings. Um dieses Problem zu mildern, standardisiert Schwartz die ermittelten Skalenwerte für jeden Befragten auf den Gesamtmittelwert dieses Befragten über alle items. Auf diese Weise bildet die Skalierung allein die Differenzierung des Werteprofils ab, ungeachtet ob diese Differenzierung auf durchschnittlich hohen oder niedrigen ratings aufliegt. Um Priorisierungsstrukturen zu ermitteln, ist der Fokus auf die Profildifferenzierung folgerichtig. Aus den solchermaßen transformierten Antworten generiert Schwartz mittels Multidimensionaler Skalierung einen „Wertekreis“, der insgesamt zehn Werte umschließt, darunter Anpassung, Sicherheit, Tradition, Solidarität, Naturschutz, Kreativität, Stimulation, Genuss, Reichtum, Macht. Im Wertekreis sind die Werte miteinander vereinbar, die in Nachbarschaft zueinander liegen. Im Widerspruch zueinander stehen hingegen die Werte, die sich im Kreis gegenüber liegen. Diese Kreisstruktur lässt sich vereinfachend auf ein Konfliktkreuz zusammen ziehen, das zwei Konfliktachsen aufweist, wie in Abbildung 1 gezeigt. Abbildung 1:
Das Wertekonzept von Schwartz (begrifflich vereinfacht)
Kreativität
Sicherheit
Stimulation G
Reichtum
Macht
KONFORMISUS
Anpassung
en us s
INDIVIDUALISMUS
on
Naturschutz
Tr ad iti
Solidarität
ALTRUISMUS
EGOISMUS Eine Achse beschreibt das Spannungsfeld „Selbstzentrierung versus Selbsttranszendierung“ (vereinfacht: Egoismus versus Altruismus). Auf dieser Achse bilden die Werte Macht und Reichtum den egoistischen (eigennützigen) und die Werte Solidarität und Naturschutz den altruistischen (uneigennützigen) Pol. Die andere Achse beschreibt das Spannungsfeld „Autonomie versus Eingebundenheit“ (alternativ: Individualismus versus Konformismus). Dabei bilden die Werte Kreativität und Selbststeuerung den individualistischen und die Werte
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Christian Welzel
Sicherheit und Anpassung den konformistischen Pol. Die Entgegensetzung von Individualismus und Konformismus (oder Kollektivismus) hat in der kulturvergleichenden Psychologie einen festen Platz (Hofstede 1980; Triandis 1995). Sie wird zum Beispiel verwendet, um den Unterschied zwischen Kulturen mit eher „independenten“ und solchen mit eher „interdependenten“ Identitätsmustern zu beschreiben (Markus et al. 1996). Bei vorherrschend independenten Identitätsmustern definieren sich die Menschen in erster Linie als autonome Individuen und nicht als Angehörige einer Gruppe. Hieran machen die Kulturpsychologen eine individualistische Kultur fest. Dagegen definieren sich die Menschen bei vorherrschend interdependenten Identitätsmustern in erster Linie als Angehörige einer Gruppe, was als Ausdruck einer kollektivistischen Kultur gilt. Abbildung 2:
Die Kulturkarte der Weltwertestudien
Im Unterschied zum Wertekonzept von Klages, das fast ausschließlich im deutschsprachigen Raum getestet wurde, ist das Wertekonzept von Schwartz in etwa fünfzig Ländern (vorwiegend in Lehrer-Schüler-samples) zum Einsatz gekommen. Die umfassendste Datensammlung zu Wertorientierungen stellen demgegenüber die Weltwertestudien dar. Hierbei
Werte- und Wertewandelforschung
117
handelt es sich um repräsentative Bevölkerungsumfragen in über achtzig Ländern, die teilweise in einer Zeitreihe von fünfundzwanzig Jahren vorliegen.2 Abbildung 3:
Emanzipatorische Werte im Schwartzschen Wertekreuz
ALTRUSIMUS
0.8 Eine Standardabweichung
EW10
0.7
0.6
EW9
0.4
(Faktorskala)
Egoismus vs. Altruismus
0.5
0.3
EW7 EW8 0.2
MITTEL EW5
0.1
EW6 EW3
0.0
EW4
EW: Emanzipatorische Werte Gestaffelt in Zehntelabschnitten auf der 0-1.0 Skala (EW1: 0-.09, EW2: .10-.19, EW3: .20-.29, EW4: .30-.39 … EW10: .90-1.00)
-0.2
-0.3
-0.4 -0.7
MIITTEL
EGOISMUS
-0.1
EW2 EW1
-0.6
-0.5
-0.4
-0.3
KONFORMISMUS
-0.2
-0.1
0.0
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
Kollektivismus vs. Individualismus (Faktorskala)
0.6
0.7
0.8
0.9
1.0
INDIVIDUALISMUS
Umfangreiche Analysen der Weltwertestudien ergeben einen zweidimensionalen Werteraum (vgl. Abb. 2). Die erste Dimension bildet die Polarität zwischen „traditionell-religiösen“ und „säkular-rationalen“ Werten ab. Auf der zweiten Dimension stehen sich Werte des „Überlebens“ und Werte der „Selbstentfaltung“ gegenüber (Inglehart/Baker 2000; Inglehart/Welzel 2005). Aggreggiert man die individuellen Umfragedaten zu nationalen Durchschnittswerten, so lässt sich die Lage einer Gesellschaft – wie in Abbildung 2 gezeigt – auf einer Kulturkarte abtragen, die durch diese beiden Wertedimensionen gebildet wird. Der Autor dieses Beitrags ist Mitglied im sechsköpfigen Executive Committee der in Schweden ansässigen World Values Survey Association, die die Weltwertestudien koordiniert. Zugleich ist er Leiter der von der DFG finanzierten, deutschen Teilstudie der fünften Welle der Weltwertestudie, die 2005-07 stattfindet. Mehr Informationen zu den Weltwertestudien finden sich auf der Internetseite: http://www.worldvaluessurvey.org. Weitere Informationen zur deutschen Teilstudie sind auf folgender Internetseite erhältlich: http://www.iu-bremen.de.
2
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Christian Welzel
Bezeichnenderweise ist die kulturelle Lage einer Gesellschaft sozioökonomischen Veränderungen unterworfen (Inglehart/Welzel 2005: 15-134). Dabei bewirkt die Industrialisierung einen Rationalisierungsschub, indem sie Gesellschaften in Richtung säkular-rationaler Werte schiebt, während der Übergang in die postindustrielle Gesellschaft einen Emanzipationsschub mit sich bringt, durch den die Populationen in Richtung stärkerer Selbstentfaltungswerte rücken. Eine profunde Wissenslücke besteht in der Frage, wie die beiden Werteräume, die die kulturvergleichende Forschung herausgearbeitet hat, der „Wertekreis“ der Schwartz Value Surveys und die „Kulturkarte“ der Weltwertestudien, zueinander in Beziehung stehen. Um diese Wissenslücke zu füllen, ist eine Kurzfassung der Schwartz-Batterien in die jüngste Welle der Weltwertestudien aufgenommen worden. Hier und in den folgenden Abschnitten werden erste Ergebnisse aus den Analysen dieser neuen Daten berichtet, die im Zeitraum 2005-07 erhoben wurden.3 Erste Ergebnisse zeigen, dass die Polarität von traditionellreligiösen und säkular-rationalen Werten weitgehend der Entgegensetzung von Konformismus und Individualismus im Schwartzschen Gefüge entspricht. Zu dem Schwartzschen Gegensatz zwischen Altruismus und Egoismus ist die Polarität zwischen traditionell-religiösen und säkular-rationalen Werten dagegen nicht klar positioniert. Die Polarität von Überlebenswerten und Entfaltungswerten hingegen ist sowohl zum Schwartzschen Gegensatz zwischen Konformismus und Individualismus als auch zum Gegensatz zwischen Egoismus und Altruismus eindeutig positioniert. Wie Abbildung 3 verdeutlicht, bildet die Polarität zwischen Überlebens- und Entfaltungswerten eine Diagonale im Schwartzschen Wertekreuz, die von unten links nach oben rechts führt. Entfaltungswerte stellen auf diese Weise die Verbindung zwischen individualistischen und altruistischen Werten her. Dieser Befund unterstreicht die emanzipatorische Qualität der Entfaltungswerte, indiziert doch die Verbindung von Individualismus und Altruismus ein emanzipatorisches, auf Selbstbestimmung und Gleichberechtigung gerichtetes, Weltbild. Wir folgen deshalb der Praxis von Welzel (2007a), die Entfaltungswerte als emanzipatorische Werte zu kennzeichnen. Die Polarität von Überlebens- und Entfaltungswerten beschreibt somit einen Spannungsbogen von nicht ausgeprägten zu voll ausgebildeten emanzipatorischen Werten.
4.2 Dynamik des Wertewandels: Generationale Verschiebung, Lebenszyklus oder Periodeneffekte? Es ist eine zentrale Erkenntnis, dass Erfahrungen, die man in jungen Jahren sammelt, prägender sind als Erfahrungen in fortgeschrittenem Alter (Hurrelmann 1988; Maier/Vaupel 2003). Daraus folgt, dass bei einer Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Umstände vor 3 Die fünfte Welle der Weltwertestudie wird Ende 2007 abgeschlossen sein. Nach einem zweijährigen Embargo zugunsten der Datenerheber wird die Studie ab Ende 2009 über die Internetseite (http://www.worldvaluessurvey.org) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die hier und in den folgenden Abschnitten berichteten Ergebnisse aus der fünften Weltwertestudie beziehen sich auf 31.574 Befragte aus zwanzig Ländern (Länder-samples auf jeweils gleiche Fallzahl gewichtet), und zwar: Chile, Deutschland (West und Ost separat), Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kolumbien, Südkorea, Mexiko, Niederlande, Neuseeland, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, Slovenien, Spanien, USA, Zypern.
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allem die heranwachsenden Menschen durch die neuen Umstände ihre Prägung erfahren. Aus dieser Einsicht schließt Inglehart (1977, 1990), dass der Wertewandel im Wechsel der Generationen voranschreitet. Die Tatsache, dass sich geringeres Alter in vielen Untersuchungen als ein Erklärungsfaktor für postmaterialistische Werte erwiesen hat, bestätigt auf den ersten Blick die Generationenthese (Gabriel 1986; van Deth/Scarbrough 1995). Die Korrelation zwischen Postmaterialismus und geringem Alter kann aber auch als lebenszyklische Veränderung interpretiert werden. So behauptet Bürklin (1984), die Beziehung zwischen geringem Lebensalter und Postmaterialismus bestehe deshalb, weil der ausgeprägtere Idealismus der jüngeren Menschen sie für postmaterialistische Werte empfänglich mache, während der Realismus, der sich mit zunehmenden Alter einstellt, materialistischen Werten zuträglich ist (Jagodzinski 1983, 1996). Demnach wären zu jeder zeitlichen Momentaufnahme die Jüngeren postmaterialistischer und die Älteren materialistischer. Die Differenzierung der Werte nach Alter wäre dann eine gesellschaftliche Konstante und kein Indiz für Wertewandel. In Opposition zur These des generationalen Wertewandels steht auch die Auffassung, dass sich Verlagerungen zwischen materialistischen und postmaterialistischen Werten aus Schwankungen im ökonomischen Zyklus ergeben. Nach dieser Interpretation sind Werteverschiebungen nicht nachhaltig, sondern zu jeder Zeit umkehrbar, wenn sich die ökonomischen Umstände verändern. So mutmaßen Clarke et al. (1999), dass die von Inglehart konstatierte Zunahme der Postmaterialisten in Westeuropa zum überwiegenden Teil auf periodisch niedrige Inflationsraten zurückzuführen sei. Im Einklang mit Klein (1995) illustriert eine Untersuchung von Welzel (2007b), dass Generations- und Periodeneffekte in Kombination miteinander auftreten. So zeigt sich in den Eurobarometerdaten für Westeuropa, dass (1) bei periodischen Inflationsrückgängen alle Alterskohorten etwas postmaterialistischer werden; dass aber (2) die generationalen Unterschiede in jeder Periodenschwankung erhalten bleiben: Die jüngeren Generationen sind zu allen Zeitpunkten postmaterialistischer als die älteren Generationen. Das ist ein klarer Generationeneffekt, der sich über einen Zeitraum von immerhin 30 Jahren als stabil erweist, wie aus Abbildung 4 zu erkennen ist. Dieser Befund verdeutlicht, dass sich bestehende Handlungsorientierungen sowohl aus situativen Anpassungen an periodisch fluktuierende Umstände als auch aus generationalen Verschiebungen in den formativen Lebensbedingungen erklären. Die These, dass Handlungsorientierungen sich situativ an periodisch schwankende Randbedingungen anpassen, wird in der Psychologie von der Theorie des „regulativen Fokus“ vertreten (Förster et al. 1998). Dieser Theorie zufolge wechseln Menschen in einen „Vermeidungs-Fokus“ (prevention focus), wenn sie ihre Lage als bedroht empfinden. Die Haltungen, die Menschen im Vermeidungs-Fokus einnehmen, ähneln der Sicherheitsorientierung, die materialistischen Werten zu Grunde liegt. Dagegen wechseln Menschen in einen „Erstrebens-Fokus“ (promotion focus), wenn sie ihre Situation als aussichtsreich einschätzen. Die Haltungen, die Menschen in diesem Fokus annehmen, ähneln wiederum der Entfaltungsorientierung, die postmaterialistischen Werten zueigen ist. Mit dieser Theorie lässt sich plausibel erklären, warum alle Alterskohorten eine postmaterialistischere Haltung einnehmen, wenn der sozioökonomische Zyklus in eine Aufschwungphase tritt. Passiert dies, so nehmen die Menschen ihre Umstände als aussichtsreicher wahr und verschieben
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Christian Welzel
den Fokus ihrer Orientierung von Vermeiden auf Erstreben. Das macht sich in einer Bewegung von materialistischen zu stärker postmaterialistischen Prioritäten bemerkbar. Wandlungsdynamik im Postmaterialismus
Abbildung 4: 60
Prozent Befragte mit postmaterialistischer erster Priorität
55 Basislinie 50
geboren 1957-86
45
Basislinie 40
geboren 1927-56 35
30
Basislinie
25
20
15
Daten für Frankreich, Deutschland (West), Italien, Belgien und Niederlande. Alle Daten von EB, außer für 1999 (von WVS IV)
geboren vor 1927 * 60 minus Anstieg im CPI auf vorheriges Jahr (CPI: Consumer Price Index) 1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
1975
1974
1973
1972
1971
1970
10
Jahr der Messung
Trotzdem verhält es sich so, dass alle zyklischen Auf- und Abbewegungen die Wertedifferenzen zwischen den Geburtskohorten unberührt lassen. Durch alle Periodenschwankungen hindurch bleiben die jüngeren Kohorten postmaterialistischer. Situative Anpassungen erweisen sich also als Fluktuationen um kohortenspezifische Basislinien. Die stabile Lagerung dieser Basislinien reflektiert langfristige generationale Verschiebungen zu stärker postmaterialistischen Werten. Die Wertedynamik speist sich demzufolge sowohl aus situativen Anpassungen an zyklische Schwankungen in den Lebensbedingungen als auch aus generationalen Anpassungen an langfristig verbesserte Lebensbedingungen. Und beide Anpassungen scheinen der gleichen Logik zu folgen: Kurzfristig bessere Lebensbedingungen führen zu zyklischen Schüben in Richtung mehr Postmaterialismus; langfristig bessere Lebensbedingungen führen zu generationalen Verlagerungen in Richtung mehr Postmaterialismus.
Werte- und Wertewandelforschung
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Wenig Evidenz besteht in jedem Fall für die Lebenszyklusthese, denn die Kohorten werden nicht materialistischer, wenn sie altern. Als widerlegt kann die Lebenszyklusthese auch deshalb gelten, weil sich eine Differenzierung der Werte nach Alter ausschließlich in hoch entwickelten oder sich rasch entwickelnden Gesellschaften feststellen lässt. In armen Ländern sind an Hand der Weltwertestudien keine signifikanten Wertedifferenzen nach Alter nachzuweisen.
4.3 Kontinuität des Wertewandels: Anhaltend, beschleunigt oder abebbend? Ingleharts eigener Theorie zufolge müsste die Nachhaltigkeit, mit der Wohlstandsprobleme, wie Lohndruck, abnehmende Arbeitsplatzsicherheit und Sozialkürzungen, die westliche Öffentlichkeit in Atem halten, eine Nach-68er-Generation hervorgebracht haben, der materielle Belange wieder mehr am Herzen liegen. Von daher wäre ein Ende der Tendenz zum Postmaterialismus zu erwarten. Tatsächlich behaupten einige Studien diesen Tendenzbruch und erklären ihn mit der weniger komfortablen Wohlstandserfahrung der „Generation Golf“ (Meulemann 2001; Hradil 2002; Klein 2003; Klein/Ohr 2004; Halman/Arts 2004; Kaina/ Deutsch 2006). Indes ist gerade die deutsche Diskussion immer noch zu sehr auf das Postmaterialismuskonzept fixiert, obwohl Inglehart und seine Mitstreiter nun schon seit über fünfzehn Jahren eine sehr viel breitere Werteentwicklung verfolgen. In Verbindung mit dem Übergang in die postindustrielle Gesellschaft sind dabei die emanzipatorischen Entfaltungswerte besonders auffällig. Innerhalb dieses Konstrukts bilden postmaterialistische Orientierungen lediglich eine neben anderen Komponenten, wobei allein die libertär-partizipativen Einstellungselemente des Postmaterialismus (Mitbestimmung und Meinungsfreiheit), nicht aber die ökologischen und idealistischen Einstellungselemente berücksichtigt sind. Die übrigen Komponenten des Konstrukts emanzipatorischer Werte umfassen eine Wertschätzung von Gleichberechtigung (festgemacht an der Akzeptanz von Homosexualität), eine Wertschätzung politischer Äußerung (festgemacht an Petitionsbeteiligung), eine Wertschätzung der Mitmenschen (festgemacht an zwischenmenschlichem Vertrauen) und eine Wertschätzung des Lebens, das man führt (festgemacht an Lebenszufriedenheit). Die Schnittmenge dieser fünf Komponenten wird faktorenanalytisch zu einem Syndrom emanzipatorischer Werte zusammengefasst, das Inglehart und Welzel (2005) als Selbstentfaltungswerte (self-expression values) bezeichnen.4
4 Eine detaillierte Beschreibung der Indexkonstruktion findet sich im Internet-Anhang zu Inglehart/Welzel (2005) unter Variablennummer #49, einsehbar auf der Internetseite: http://www.worldvaluessurvey.org/publications/ humandevelopment.html.
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Abbildung 5:
+
Geburtskohorten und Werteverschiebung5
0.65
36-45
26-35
46-55
unter 26
2006
0.60
Emanzipatorische Werte
56-65
0.55
66-75
21-30 unter 21
31-40
0.50
0.45
41-50
1981
51-60
0.40
über 60
0.35
_ 0.30 vor 1921
ÄLTER
1921-30
1931-40
1941-50
1951-60
Geburtskohorten
1961-70
1971-80
nach 1980
JÜNGER
Nun mag man Petitionsbeteiligung nicht als Wertorientierung, sondern als ein Verhalten betrachten. Wegen der verhaltensleitenden Wirkung von Wertorientierungen kann man in konkretem Verhalten aber eine aktive Manifestation von Wertorientierungen sehen. Von daher ist es keineswegs verfehlt, auch Verhaltensindikatoren als Wertindikatoren zu behandeln. Nicht alle der fünf Komponenten des Syndroms emanzipatorischer Werte sind jeweils für sich alleine betrachtet unmittelbarer Ausdruck einer emanzipatorischen Haltung. Sie sind es aber sehr wohl in Verbindung mit den anderen Komponenten. Zwischenmenschliches Vertrauen etwa mag für sich genommen nicht unbedingt eine emanzipatorische Haltung ausdrücken. Aber in Verbindung mit einer Wertschätzung von Freiheit und Gleichberechtigung zeigt zwischenmenschliches Vertrauen durchaus eine solche Haltung an. Darum ist es wichtig zu sehen, dass das Syndrom emanzipatorischer Werte die gemeinsame Schnittmenge 5 Diese Analyse ist auf die Länder beschränkt, die bislang an der fünften Welle 2006-07 und dabei auch schon an der ersten Welle der Weltwertestudien 1981 teilgenommen haben. Dies sind Deutschland Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Schweden, Spanien, USA (Länder-samples auf gleiche Fallzahl gewichtet).
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aller einzelnen Einstellungskomponenten extrahiert und diese Einstellungen damit im Kontext miteinander und nicht isoliert voneinander abbildet. Es ist im Übrigen plausibel, dass man Menschen gerade deshalb Selbstbestimmung und Gleichberechtigung zugesteht, weil man darauf vertraut, dass die meisten Menschen einigermaßen verantwortlich mit Freiheit umgehen. In diesem Fall wird man den Menschen auch zutrauen, dass sie ihr Leben selber in die Hand nehmen und politische Entscheidungen über ihr Schicksal demokratisch mitbestimmen (Lasswell 1951; Rosenberg 1958; Rokeach 1973; Sniderman 1975; Triandis 1995). Verfolgt man die Entwicklung der emanzipatorischen Werte in postindustriellen Gesellschaften von 1981 bis 2000, so zeigt sich in allen Populationen die gleiche generationale Lagerung, nämlich ansteigend von älteren zu jüngeren Generationen (Inglehart/Welzel 2005: 105). Legt man die jüngsten Daten der Weltwertestudie von 2006 zu Grunde und beschränkt auch hier den Blick auf postindustrielle Gesellschaften, ist allerdings eine Abflachung der generationalen Differenzierung zu erkennen, insbesondere weil die jüngeren Kohorten sich mit ihren emanzipatorischen Orientierungen nicht mehr über die älteren schieben. Dennoch sind die emanzipatorischen Werte insgesamt erheblich angestiegen, wie Abbildung 5 zu erkennen gibt. Das war möglich, weil auch die älteren Kohorten diese Werteverschiebung mitvollzogen haben. Dieses Ergebnis nährt Zweifel an der weiteren Gültigkeit der Sozialisationsthese, derzufolge eigentlich nur jüngere Kohorten einen signifikanten Wertewandel durchlaufen sollten. Kleins (2005) Befund, dass Wertewandel auch unter älteren Kohorten erfolgt, findet damit Bestätigung. Die von Klein geäußerte Vermutung, dass unter den älteren Kohorten vor allem die Menschen mit einer „offenen Persönlichkeit“ den Wertewandel mitvollziehen, kann hier nicht bestätigt werden. Die Vermutung macht aber Sinn, wenn man zusätzlich annimmt, dass der Anteil der Menschen mit offener Persönlichkeit unter den Älteren zunimmt. Damit verlöre der Wertewandel seine Abhängigkeit vom Generationenwechsel. Dafür spricht, dass Menschen mit offener Persönlichkeit, wie sie das big five-Konzept misst, zugleich auch Merkmale des emanzipatorischen Wertesystems aufweisen.6 Mit anderen Worten kann man folgende Vermutungen formulieren: (1) ein Anstieg emanzipatorischer Werte produziert einen höheren Anteil von Menschen mit offener Persönlichkeit; (2) ihre offene Persönlichkeit ermöglicht es diesen Menschen, auch noch im Alter dem emanzipatorischen Trend zu folgen; (3) der emanzipatorische Wertewandel wird folglich auch ohne Generationenwechsel voranschreiten. Weitere Forschungen sind indes notwendig, um diese Vermutungen zu erhärten.
6 Das ist eine logische Schlussfolgerung, wenn man die Eigenschaften der offenen Persönlichkeit nach dem big fiveKonzept mit der Zusammensetzung emanzipatorischer Werte vergleicht (zum big five-Konzept allgemein siehe Lang/Lüdtke 2005). Indirekte empirische Evidenz für einen Zusammenhang von emanzipatorischen Werten und offener Persönlichkeit zeigt sich darin, dass sowohl das Konstrukt offene Persönlichkeit, wie in der Schuhmann-Studie gezeigt wurde (Iser/Schmidt 2005), als auch das Konstrukt emanzipatorische Werte, wie in der jüngsten Weltwertestudie gezeigt wurde, jeweils deutlich positiv mit Individualismus nach Schwartz korrelieren.
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4.4 Stoßrichtung des Wertewandels: Postmaterialistisch oder postautoritär? Flanagan (1987) kritisiert, dass Ingleharts Postmaterialismuskonzept zwei verschiedene Typen von Wertorientierungen verschmilzt: nämlich (1) postökonomisch-idealistische Orientierungen, die Sinnstiftung und Lebensqualität gegenüber materiellem Lebensstandard betonen; sowie (2) postautoritär-libertäre Wertorientierungen, die Selbst- und Mitbestimmung gegenüber Folgsamkeit betonen. Wie Flanagans Analyse der Inglehartschen zwölfitem Batterie zeigt, sind diese konzeptuell verschiedenen Komponenten des Postmaterialismus auch empirisch trennscharf. In diesem Zusammenhang argumentiert Flanagan, dass die Menschen sich mit dem Übergang in die postindustrielle Gesellschaft nicht von ökonomischen, sondern von autoritären Orientierungen abwenden und dass an deren Stelle weniger idealistische als libertäre Prioritäten treten (Flanagan/Rie 2003). Die mit dem Begriff des Postmaterialismus insinuierte Abkehr von ökonomischen Orientierungen ist insofern irreführend. Im Übrigen liegt Evidenz für einen anhaltenden Wertewandel allein mit einer von Ingleharts drei item-Batterien vor. Ausgerechnet diese Batterie enthält aber keinen der idealistischen, sondern nur zwei libertäre Werte des Postmaterialismus (Meinungsfreiheit und Mitbestimmung). Der postmaterialistische Wertewandel ist also – soweit er belegt ist – ein libertärer Wertewandel. Welzel (2006) hat gezeigt, dass eine Separierung der libertären und der idealistischen Elemente des Postmaterialismus notwendig ist, will man Einstellungseffekte auf die Entwicklung demokratischer Institutionen erkennen. Solche Effekte gehen nur von den libertären, nicht aber von den idealistischen Elementen aus. Demokratietheoretisch sind also allein die libertären Aspekte des Postmaterialismus interessant. Nur diese sind es auch, die im breiteren Konzept emanzipatorischer Werte aufgehen. Weitere Zweifel an der Annahme, ökonomische Orientierungen verlören an Priorität, nährt ein Experiment von Clarke et al. (1999). Tauscht man in Ingleharts am häufigsten verwendeter vier-item Batterie das materialistische item „fighting rising prices“ durch das ebenfalls materialistische item „creating more jobs“ aus, ermittelt man beträchtlich höhere Anteile an Materialisten. Dies zeigt, dass ökonomische Orientierungen nach wie vor einen hohen Stellenwert genießen – wenn man nur die relevanten ökonomischen Themen anspricht. Im Einklang damit belegen Klein und Pötschke (2000), dass sich in Deutschland keine Vermehrung des Typs der „reinen“ Postmaterialisten nachweisen lässt. Der von Inglehart insgesamt ermittelte Anstieg des Postmaterialismus zeigt bei genauer Betrachtung ein Anwachsen der Mischtypen, die neben libertären eben auch materialistische Werte betonen. Dieser Befund bestätigt die Erwartung, dass ökonomische Orientierungen nicht einfach verdrängt werden. Sie werden lediglich ergänzt, weil neben ihnen libertäre Orientierungen stärker werden, die anti-autoritärer aber nicht anti-ökonomischer Prägung sind.
4.5 Triebkräfte des Wertewandels: Sicherheit oder Individualisierung? Mit den Zweifeln am Bedeutungsverlust ökonomischer Orientierungen nähren sich auch Zweifel an den Mechanismen, die Anhänger der Postmaterialismus-These als Triebkräfte des Wertewandels sehen. Da Postmaterialismus angeblich eine Abkehr von ökonomischen
Werte- und Wertewandelforschung
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Orientierungen beinhaltet, ist es logisch, in der Sättigung ökonomischer Grundbedürfnisse und der Erfahrung existenzieller Sicherheit, die daraus erwächst, die eigentliche Triebfeder des Wertewandels zu sehen. Wenn der postmaterialistische Wandel aber tatsächlich ein libertär-emanzipatorischer Wandel ist, dann rücken auch andere Triebkräfte ins Blickfeld. Einigen Theorien zufolge gehört zu den Antriebsmomenten des Wertewandels die Erfahrung individueller Autonomie, die sich mit der wachsenden Freiheit einstellt, die die Menschen in der postindustriellen Gesellschaft über ihre Lebensgestaltung gewinnen (Bell 1973; Giddens 1991; Hradil 1995; Beck 2002). Gemeinhin wird diese Entwicklung als Individualisierung bezeichnet. Nun ist aus der Hirnforschung und der Psychologie bekannt, dass Menschen die Gestaltungsmöglichkeiten schätzen, die sie zu meistern imstande sind. Denn das Meistern und Beherrschen von Möglichkeiten vermittelt Kompetenzgefühle, die das eigene Selbstwertempfinden stärken (Decy/Ryan 2002). Daraus folgt: Wenn die Menschen im Zuge der Individualisierung objektiv mehr Gestaltungsmöglichkeiten gewinnen (Stichwort: Bastelbiographie) und wenn sie aufgrund der Bildungsexpansion bessere Fertigkeiten erlangen, diese Möglichkeiten für sich zu nutzen, dann ist es nur natürlich, wenn die Menschen diese Möglichkeiten zu schätzen lernen und als Folge davon gesteigerten Wert auf individuelle Selbstbestimmung legen. Geschieht dies, werden die Menschen weniger bereit sein, Dinge, die sie und ihr eigenes Leben betreffen, der Autorität von Institutionen zu überantworten – insbesondere nicht Institutionen, die der demokratischen Kontrolle durch die Menschen entzogen sind. Aus dieser Überlegung heraus würde man folgern, dass es nicht nur die Erfahrung von Sicherheit in der Sättigung materieller Bedürfnisse ist, sondern auch die Erfahrung von Autonomie in der Lebensgestaltung, die emanzipatorische Werte speist. Es wäre demnach nicht nur die Wohlstandssicherheit, sondern auch die Individualisierung, die emanzipatorischen Tendenzen Vorschub leistet. Hierzu liegen erste Ergebnisse aus der jüngsten Welle der Weltwertestudien vor. So zeigt das Gefühl von Autonomie in der Verrichtung täglicher Aktivitäten einen in der Tat etwas größeren Einfluss auf emanzipatorische Werte als rein materielle Perzeptionen, wie die finanzielle Zufriedenheit.7 Auf der Individualebene lassen sich zwölf Prozent der Varianz in emanzipatorischen Werten gemeinsam mit finanzieller Zufriedenheit und Autonomiegefühl erklären, wovon sieben Prozent auf das Autonomiegefühl und fünf Prozent auf die finanzielle Zufriedenheit entfallen. Dieser Befund hält auch unter Einbeziehung soziodemographischer Variablen, wie Alter, Bildung und Einkommen, stand. Auch zu diesem Thema sind jedoch weitere Studien erforderlich, bevor ein gesicherter Forschungsstand konstatiert werden kann. 7 In V244 bis V246 enthält der Master-Fragebogen der fünften Weltwertestudie drei Fragen, in denen die Befragten aufgefordert sind, die Perzeption ihrer täglichen Aktivitäten auf je einer Zehnerskala zwischen „manuell“ und „intellektuell“ (V244), „Routine“ und „Kreativität“ (V245) und „fremdbestimmt“ und „selbstbestimmt“ (V246) einzustufen. Die drei Variablen bilden einen gemeinsamen Faktor mit den Wahrnehmungen „manuell“, „Routine“ und „fremdbestimmt“ auf dem negativen und den Wahrnehmungen „intellektuell“, „kreativ“ und „selbstbestimmt“ auf dem positiven Pol. Für die im Text berichtete Analyse wurde die entsprechende Faktor-Variable zusammen mit der Zufriedenheit mit der finanziellen Lage des eigenen Haushalts (ebenfalls auf einer Zehnerskale von 1 „völlig unzufrieden“ bis 10 “vollkommen zufrieden“) als Prädiktoren in eine Regression eingegeben, in der die Stärke der individuellen emanzipatorischen Werte die abhängige Variable ist. Diese Analyse wurde mit dem länder-gepoolten sample der fünften Weltwertestudie durchgeführt. Der Fragebogen der fünften Weltwertestudie kann von der Internetseite der Weltwertestudien (http://worldvaluessurvey.org) heruntergeladen werden.
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5
Christian Welzel
Gesellschaftliche Konsequenzen des Wertewandels
5.1 Das kommunitaristische Niedergangszenario Beim Übergang in die postindustrielle Gesellschaft verändern sich die sozialen Bindungsmuster und Integrationsmechanismen, die gesellschaftliche Kohäsion stiften. Diese Prozesse wurden von Durkheim, Tönnies und Simmel schon früh erkannt und lassen sich unter dem Begriff der Individualisierung zusammenfassen. Individualisierung wird dabei oft mit dem Abbau sozialer Bindungen gleichgesetzt. Diese Entwicklung ist in bestimmten Problemzonen zwar vereinzelt zu beobachten, ist aber keineswegs repräsentativ für die Veränderungen, die mit dem Übergang in die postindustrielle Gesellschaft stattfinden. Sie hat außerdem wenig mit Individualisierung zu tun, weil Individualisierung nicht den Abbau der sozialen Bindungen meint. Vielmehr stellt der Begriff auf die gewachsenen und weiter wachsenden Freiräume ab, die Individuen in der Gestaltung ihrer sozialen Beziehungen haben. Die Menschen sind heute freier, Bindungen zu lösen und einzugehen, wie sie sich das wünschen. Bestehende Bindungen gewinnen damit an intrinsischer Qualität, weil sie von den Beteiligten in stärkerem Maße gewollt sind. Ursächlich für den Gestaltungsgewinn der Individuen sind mehrere Faktoren, die insbesondere im städtischen Leben ihren Ausdruck finden (Florida 2002). Hier ist zunächst an die schiere Vielfalt an Kontaktmöglichkeiten zu denken, die das dichte städtische Leben mit seiner Fülle an unterschiedlichen Aktivitäten und Lebensstilen bietet. In diesem Zusammenhang bietet die Anonymität, die Individuen in großen Ballungszentren unweigerlich umgibt, Schutz vor sozialen Kontrollmechanismen und Gruppenzwang. Die leichte Zugänglichkeit von Produkten und Diensten macht die Menschen auch unabhängiger von gegenseitigen Unterstützungsleistungen, wie sie für Gesellschaften in Mangelsituationen typisch sind. Das entzieht die Menschen dem Konformitätsdruck und den Loyalitätserwartungen eng zusammengeschweißter Überlebensgemeinschaften, in denen keine Lebensäußerung der Beobachtung durch die Anderen entgeht. Und die Möglichkeit, unter Nutzung der modernen Transport- und Kommunikationsmittel, Bindungen auch über große Distanzen aufrecht zu erhalten, schafft zusätzliche Freiräume in der Gestaltung des je eigenen, individuellen Beziehungsnetzwerkes. In interpersonalen Netzwerken, die nur noch bedingt ortsgebunden sind, bilden die Individuen selber den Knotenpunkt sozialer Kohäsion. Angesichts dieser Entwicklungen gelangen Individuen zu einem stärker „independenten“ Selbstverständnis, wie es die Psychologen zu nennen pflegen (Markus et al. 1996; Kühnen/Oyserman 2002). Das heißt, sie definieren sich in erster Linie als autonome Individuen und nicht als Mitglied einer bestimmten Gruppe, der sie sich mit Haut und Haaren verschreiben – sei es nun eine ethnische Gruppe, soziale Klasse oder Konfession. Individualisierung in diesem Verständnis heißt keineswegs, dass Menschen sich überhaupt nicht mehr bestimmten Gruppen zuschreiben. Wo sie dies weiterhin tun, geschieht das aber freiwillig, aus eigener Einsicht und auf der Grundlage wechselseitig ausgehandelter Interessenlagen, die die eigene Person nie ganzheitlich, sondern lediglich in partiellen Rollenbezügen einbinden. Gemeinschaft im Sinne lokal verankerter, eng zusammengefügter „Schicksalsgemeinschaften“, die Individuen ganzheitlich in unentrinnbare wechselseitige
Werte- und Wertewandelforschung
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Verpflichtungen zwängen, verlieren dagegen an Bedeutung – auch wenn Migration sie durch die Bildung ethnisch geschlossener Lebenswelten teilweise wieder aufleben lässt. Denker konservativer Provenienz (Etzioni 1993; Bellah et al. 1996) beklagen die emanzipativen Folgen der Individualisierung seit Anbeginn der Moderne. Die Kritik des Gemeinschaftsverlusts differenziert sich dabei in die Thesen eines abnehmenden Gemeinsinns, abnehmenden Vertrauens zwischen den Menschen, abnehmenden Engagements und zunehmender Massendepression. Vor allem Putnam hat dieser Kritik mit seiner Bowling AloneStudie weithin Gehör verschafft, ist es ihm doch gelungen, alte Befürchtungen mit scheinbar überwältigender empirischer Evidenz zu unterfüttern (Putnam 2000, 2002; Pharr/Putnam 2000). Putnams Evidenz ist von vielen Seiten jedoch als hoch selektiv und teilweise fehlerhaft kritisiert worden (Florida 2002). Und auch mit den Daten der Weltwertestudien lassen sich die Thesen Putnams und der Kommunitaristen nicht belegen. Das genaue Gegenteil ist der Fall, wenn man sich anschaut, wie emanzipatorische Werte mit den Phänomenen zusammenhängen, auf die die Kommunitaristen ihr Augenmerk legen: nämlich Gemeinsinn, Vertrauen, Engagement und subjektives Wohlbefinden. Emanzipatorische Werte sind ein erstrangiger Ausdruck der Individualisierung und müssten von daher unter die Individualisierungskritik der Kommunitaristen fallen. Mit anderen Worten müssten stärker emanzipatorische Werte mit weniger Solidarität, geringerem Vertrauen, weniger Engagement und weniger subjektivem Wohlbefinden einhergehen.
5.2 Emanzipatorische Werte und Gemeinsinn Erste Analysen mit den neuen Fragemodulen der jüngsten Weltwertestudien belegen, dass emanzipatorische Werte mit Aspekten von Sozialkapital und Zivilgesellschaft in genau entgegen gesetzter Weise zusammenhängen wie man es aus der Individualisierungskritik der Kommunitaristen erwarten würde. So haben Menschen mit stärker emanzipatorischen Werten zwar eine signifikante Neigung, sich als autonome Individuen zu identifizieren.8 Dies heißt nun aber gerade nicht, dass diese Menschen sich in sich selbst zurückziehen und deshalb keine Solidaritätsbeziehungen mit anderen Menschen aufbauen können. Im Gegenteil fällt es den Befragten, die sich als autonome Individuen betrachten, leichter, andere Menschen nicht von vornherein als Mitglieder einer anderen Gruppe zu kategorisieren, sondern sie ebenfalls als autonome Individuen zu sehen. Erst aus der Sicht aller Menschen als autonome Individuen kann ein Bewusstsein menschlicher Gleichheit entstehen, das notwendig ist, um Solidaritäten aufzubauen, die von Herkunftsmerkmalen abgelöst sind und über bloße Nächstenliebe hinausgehen. Der Typus an Identität, über den sich die Menschen selbst definieren, bestimmt demzufolge den Typus ihrer Solidarität (Monroe 1996). Individualistische Identität steht dabei nicht im Gegensatz zu, sondern ist Voraussetzung von 8 Diese Aussagen stützen sich auf Analysen der Variablen V210 bis V214 im Master-Fragebogen. Gefragt ist hier der Lokus der persönlichen Identität. Ein je vierstufiges rating war hier für die „Welt“ (V210), „lokale Gemeinde“ (V211), „Nation“ (V212), „EU“ (V213) und „autonomes Individuum“ (V214) vorzunehmen. Stärker emanzipatorische Werte führen zu keiner signifikant höheren Neigung, sich mit der lokalen Gemeinde oder der Nation zu identifizieren. Es gibt eine leichte Neigung, sich mehr als andere mit der EU und der Welt zu identifizieren und eine hoch signifikante Neigung (r=.15, signifikant auf dem .001-Niveau), sich als autonomes Individuum zu sehen.
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altruistischer Solidarität (Rosenberg/Owens 2001). Wie stark Solidarität altruistisch ausgerichtet ist, lässt sich am Radius von Solidaritätsbeziehungen und deren Unabhängigkeit von Herkunftsmerkmalen bestimmen. Altruismus ist die Fähigkeit, Solidarität generell mit Menschen in bedürftiger Lage aufzubauen. Altruistische Solidarität hat keinen vorab definierten Radius; sie schließt keine Kategorien von Menschen aufgrund bestimmter Herkunftsmerkmale aus. Eine Frage, an der sich der Radius zwischenmenschlicher Solidarität in den Weltwertestudien festmachen lässt, ist Solidarität mit den Armen in der „Dritten“ Welt. Und in der Tat zeigen Menschen mit stärker emanzipatorischen Werten eine signifikant stärkere Bereitschaft, ihre Regierungen auf die Lösung der globalen und nicht nur der eigenen nationalen Probleme zu verpflichten, Entwicklungshilfemaßnahmen auszuweiten und dazu auch die Steuern zu erhöhen.9 Solidaritätsfragen machen sich darüber hinaus an der gewünschten Ausrichtung des Einbürgerungsrechts fest, weil sich hieran entscheidet, wie Menschen die Frage „Wer darf zu uns gehören?“ beantworten. Zu dieser Frage zeigen die jüngsten Weltwertestudien, dass Menschen mit stärker emanzipatorischen Werten ethnisch-völkische Grenzziehungen im Einbürgerungsrecht ablehnen und geneigt sind, diese durch Gesetzestreue als Kriterium der Einbürgerung zu ersetzen. Gleichfalls sehen Menschen mit stärker emanzipatorischen Werten ethnische Vielfalt eher als Bereicherung denn als Gefährdung an.10 Generalisiertes zwischenmenschliches Vertrauen nimmt in der Sozialkapitaldiskussion eine zentrale Rolle ein (Uslaner 1999). Folgt man der Individualisierungskritik der Kommunitaristen, müsste man die erstarkenden emanzipatorischen Werte für den vermeintlichen Niedergang dieses Vertrauens verantwortlich machen. In den bisherigen Weltwertestudien war lediglich die bekannte dichotome Frage zum zwischenmenschlichen Vertrauen enthalten. Diese Frage erlaubt es nicht zu unterscheiden, inwiefern das geäußerte Vertrauen sich auf ingroups oder outgroups bezieht. Als generalisiertes zwischenmenschliches Vertrauen kann es aber nur interpretiert werden, wenn es sich nicht nur auf ingroups bezieht, sondern den Solidaritätsradius so weit zieht, dass er auch Menschen aus outgroups einbezieht. Deshalb wurde in der jüngsten Weltwertestudie eine Fragebatterie aufgenommen, die genau diese Unterscheidung erlaubt.11 Die Analyse zeigt mit eindeutiger Klarheit, dass Befragte mit 9 Diese Ergebnisse stützen sich auf Analysen der Variablen V175 bis V178. Frage V175 nennt dem Befragten den jährlichen pro-Kopf-Wert der Entwicklungshilfe seines Landes und fragt danach, ob dieser Wert zu hoch, zu niedrig oder in etwa richtig ist. Diejenigen, die in dieser Frage „zu niedrig“ antworten, werden in V176 gefragt, um wie viel die Entwicklungshilfe erhöht werden soll (mit fünf gestuften Vorgaben von eineinhalb mal so viel bis mehr als vier mal so viel). In V177 wird gefragt, ob man für oder gegen höhere Steuern ist, um Entwicklungshilfe zu finanzieren. V178 fragt nach einer Einstufung der gewünschten Priorität des Handelns der eigenen Regierung auf einer Zehnerskala, auf der 1 eine volle Priorität für die Reduzierung der Armut in der Welt und 10 eine volle Priorität für die Lösung der Probleme des eigenen Landes anzeigen. 10 Die item-Batterie in den Fragen V217 bis V220 thematisiert mögliche Ausrichtungen des Einbürgerungsrechts, zu denen sich die Befragten auf einer dreistufigen rating-Skala äußern sollen (sehr wichtig, wichtig, unwichtig). V217 formuliert ethnische Herkunft als Einbürgerungskriterium, V218 Geburt auf dem Boden des eigenen Landes, V219 Anerkennung der Sitten und Gebräuche des eigenen Landes und V220 die Einhaltung der Gesetze des eigenen Landes. Frage V221 fordert zu einer Einstufung der eigenen Position auf einer Zehnerskala auf, auf der der Skalenwert 1 für die Position steht, dass ethnische Vielfalt die Einheit des Landes gefährdet, während der Skalenwert 10 für die Position steht, dass ethnische Vielfalt das Leben bereichert. 11 In den Fragen V125 bis V130 sollen die Befragten je vierstufige Vertrauenseinstufungen zu folgenden Gruppen geben: Familienmitglieder (V125), Nachbarn (V126), Bekannte (V127), Menschen, die man das erste Mal trifft (V128), Menschen einer anderen Religion (V129), Menschen einer anderen Nationalität (V130). Die ersten drei Kategorien
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stärkeren emanzipatorischen Werten ein höheres Maß an ingroup-Vertrauen, aber eben auch ein höheres Maß an outgroup-Vertrauen aufweisen. Stärker emanzipatorische Werte erhöhen folglich das generalisierte zwischenmenschliche Vertrauen. Ebenso wenig lässt sich empirische Evidenz für das Lamento aufzeigen, die Individualisierung vermindere gemeinschaftliches Engagement. Im Gegenteil partizipieren Befragte mit emanzipatorischen Werten deutlich stärker an zivilen Aktionsformen wie Petitionen, Boykottaktionen oder öffentlichen Demonstrationen.12 Auch ihre Bereitschaft, als Mitglied in einer freiwilligen Vereinigung mitzuwirken, liegt signifikant über dem Durchschnitt. Schließlich darf auch die Befürchtung, Individualisierung und Emanzipation überforderten die Menschen mit einer „Tyrannei der Freiheit“, die zwangsläufig zu Desorientierung, Depression und Massenpsychosen führe, ins Reich der Legendenbildung verwiesen werden. Menschen mit stärker emanzipatorischen Werten berichten nämlich signifikant höhere Niveaus an Lebenszufriedenheit als der Durchschnitt.13
5.3 Emanzipatorische Werte und Legitimität der Demokratie Ebenfalls aus der kommunitaristischen Kritik an der Individualisierung speisen sich Befürchtungen über eine Erosion der Legitimitätsgrundlagen etablierter Demokratien. In diesem Sinne haben bereits Huntington, Crozier und Watanuki (1974) geunkt, dass der Wertewandel die Demokratie ihrer Legitimationsgrundlagen beraubt.
wurden als ingroups, die letzten drei als outgroups klassifiziert. Eine Faktorenanalyse zeigt die empirische Berechtigung dieser Zusammenfassung. 12 Petitionsteilnahme ist Bestandteil der Messung emanzipatorischer Werte, weil Petitionsteilnahme dimensional mit anderen emanzipatorischen Einstellungen überlappt. Gliedert man Petitionsteilnahme aus der Messung der emanzipatorischen Werte aus und korreliert Petitionsteilnahme mit der dann reduzierten Messung emanzipatorischer Werte, ermittelt man erwartungsgemäß eine hohe Korrelation (r=.33, N=208.551). Ähnlich hoch korreliert die reduzierte Messung emanzipatorischer Werte mit Demonstrations- und Boykottteilnahme. Korrelationen zwischen emanzipatorischen Werten und Mitgliedschaften (gestuft nach Nicht-Mitgliedschaft, passiver und aktiver Mitgliedschaft) sind generell niedrig, aber signifikant und positiv für alle von zehn abgefragten Vereinstypen (siehe V24 bis V33 im MasterFragebogen). 13 Das wird bereits daraus ersichtlich, dass Lebenszufriedenheit Bestandteil der Messung emanzipatorischer Werte ist. Dies ist sie deshalb, weil sie dimensional mit anderen Komponenten der emanzipatorischen Werte überlappt. Ein anderer Weg, diese Verbindung zu verdeutlichen, ist es, Lebenszufriedenheit aus der Messung emanzipatorischer Werte auszugliedern und dann mit der reduzierten Messung dieser Werte zu korrelieren. Diese Korrelation ist nicht hoch (r=.20, N=213.637), aber signifikant positiv.
130
Christian Welzel Werte und Legitimität der Demokratie14
Abbildung 6:
+
7.6 7.5 7.4
Demokratie-IST
("Wie demokratisch wird Ihr Land regiert?")
7.3 7.2 7.1
EW9
7.0
EW10
6.9 6.8
EW8
6.7
EW7 MITTEL
6.6
EW4
EW6
6.5 6.4
EW5
6.3 6.2
EW1,2
EW3
6.1 6.0
5.8
_
EW: Emanzipatorische Werte Gestaffelt in Zehntelabschnitten auf der 0-1.0 Skala (EW1: 0-.09, EW2: .10-.19, EW3: .20-.29, EW4: .30-.39 … EW10: .90-1.00)
MITTEL
5.9
5.7 5.6 7.9
8.0
_
8.1
8.2
8.3
8.4
8.5
8.6
8.7
8.8
8.9
9.0
9.1
9.2
9.3
9.4
Demokratie-SOLL ("Wie wichtig ist es für Sie, in einer Demokratie zu leben?")
9.5
9.6
9.7
9.8
+
Was wir aus älteren Analysen der Weltwertestudien wissen, ist, dass Befragte mit stärker emanzipatorischen Werten die Demokratie überdurchschnittlich als das erwünschte System bevorzugen. An Hand der neuen Fragebatterien lässt sich aber noch mehr sagen. Wie Abbildung 6 verdeutlicht, ist es für Befragte mit stärker emanzipatorischen Werten sehr viel wichtiger als für andere Befragte, in einer Demokratie zu leben.15 Zugleich bewerten sie die demokratische Qualität ihres Landes auch etwas positiver als andere Befragte, doch dieser Unterschied ist eher gering.16 Mit stärker emanzipatorischen Werten scheint sich also eine Schere zwischen einem deutlichen Anstieg der subjektiven Wichtigkeit von Demokratie und 14 Diese Analyse ist auf die Länder beschränkt, die bislang an der fünften Welle 2006-07 und dabei auch schon an der ersten Welle der Weltwertestudien 1981 teilgenommen haben. Dies sind Deutschland Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Schweden, Spanien, USA (Länder-samples auf gleiche Fallzahl gewichtet). 15 Die Frage hierzu (V162) lautet: „Wie wichtig ist es für Sie, in einem Land zu leben, das demokratisch regiert wird? Bitte geben Sie Ihre Einschätzung auf dieser Skala an, auf der 1 ‚gar nicht wichtig’ und 10 ‚absolut wichtig’ bedeuten“. 16 Hierzu lautet die Frage (V163): „Und wie demokratisch wird Ihr Land heute tatsächlich regiert? Bitte verwenden Sie erneut eine Skala von 1 bis 10, auf der 1 ‚überhaupt nicht demokratisch’ und 10 ‚vollkommen demokratisch’ bedeuten“.
Werte- und Wertewandelforschung
131
einem nur geringen Anstieg der wahrgenommenen Gegebenheit von Demokratie zu öffnen. In Bezug auf Demokratie wird somit die wahrgenommene Soll-Ist-Diskrepanz größer, wenn emanzipatorische Werte erstarken. Dieser Befund stützt Klingemanns (1999) These eines ansteigenden demokratischen Reformpotenzials, das sich aus dem Anwachsen der critical democrats ergibt. Wie es scheint, ist das Erstarken emanzipatorischer Werte eine wesentliche Triebkraft des Anstiegs der critical democrats, das heißt der Menschen, die die Demokratie als Regierungsform stark befürworten, dabei aber – und vielleicht gerade deshalb – ihrer konkreten Umsetzung kritisch gegenüberstehen. Nun mag man argwöhnen, dass Befragte mit emanzipatorischen Werten ein möglicherweise verfälschtes Demokratieverständnis aufweisen, das zwar auf mehr Demokratie abzielt, aber etwas Falsches darunter versteht und deshalb zu etwas ganz anderem als mehr Demokratie führt, wenn es sich realisiert. Um diesem Problem auf den Grund zu gehen, enthalten die jüngsten Weltwertestudien eine neue Batterie mit Fragen zum inhaltlichen Demokratieverständnis.17 In Faktorenanalysen schälen sich dabei zwei grundsätzliche Verständnisse heraus. Zum einen lässt sich ein institutionelles Demokratieverständnis identifizieren, das prozedurale Garantien des Bürgereinflusses, wie Volksentscheide, freie Wahlen und Freiheitsrechte, gegen autoritäre Reservate der Armee oder der Religion stellt.18 Zum zweiten gibt es ein leistungsgebundenes Demokratieverständnis, das Demokratie über positive Politikergebnisse in den Bereichen wirtschaftlicher Prosperität, Umverteilung und innerer Ordnung definiert.19 Das leistungsabhängige Demokratieverständnis ist als problematisch zu betrachten, weil es Demokratie nicht um ihrer selbst willen, sondern um anderer Ziele wegen unterstützt und insofern keine verlässliche Legitimitätsquelle stiftet, die auch Leistungseinbrüchen standhält. Das institutionelle Demokratieverständnis dagegen definiert Demokratie über Verfahren und stiftet damit auch in politischen Krisenzeiten eine verlässliche Legitimitätsgrundlage. Vor dem Hintergrund dieser Klarstellung muss man dem emanzipatorischen Wertewandel einen positiven Einfluss auf die Legitimitätsentwicklung der Demokratie zusprechen. Denn wie die Analysen verdeutlichen, gehen mit stärker emanzipatorischen Werten ein stärker institutionelles und ein weniger leistungsabhängiges Demokratieverständnis einher.
5.4 Emanzipatorische Werte und Demokratisierung Weil die zuletzt berichteten Befunde auf der Individualebene gewonnen wurden, kann man aus ihnen keine unmittelbar gültigen Folgerungen über das Entstehen und Überleben von Demokratie im gesellschaftlichen Aggregat ableiten. Insofern besteht die Gefahr eines individualistischen Trugschlusses, wenn man aus diesen Befunden folgert, dass eine weitere Dies sind die Fragen V152 bis V161 im Master-Fragebogen. Dieses Demokratieverständnis generiert sich aus einer positiven Einstellung zu freien Wahlen (V154), Bürgerrechten (V157), Volksentscheiden (V160) und gleichen Rechten für Frauen (V161) in Verbindung mit negativen Einstellungen zu politischer Autorität der Religion (V153) und des Militärs (V156). 19 Dieses Demokratieverständnis basiert auf items, die auf ökonomische Umverteilung (V152), staatliche Sozialhilfe (V155) eine prosperierende Ökonomie (V158) und hartes Vorgehen gegen Kriminalität (V159) abstellen. 17 18
132
Christian Welzel
Verbreitung emanzipatorischer Werte tatsächlich dem Aufkeimen oder Fortbestehen von Demokratien zuträglich ist.20 Umfangreiche Analysen mit aggregierten Umfragedaten zeigen indes mit großer Eindeutigkeit, dass Gesellschaften, in denen emanzipatorische Werte weiter verbreitet sind, eine signifikant höhere Chance haben, (1) Anstiege im Demokratieniveau zu erzielen, wenn dieses zuvor niedrig war, sowie (2) Verluste im Demokratieniveau zu vermeiden, wenn dieses zuvor bereits hoch war (Welzel 2007b). Emanzipatorische Werte entfalten also eine doppelt pro-demokratische Wirkung: Sie befördern sowohl Transitionen zu Demokratie als auch die Konsolidierung von Demokratie. Dieser Befund hält nach Kontrolle sozio-kultureller, sozio-demographischer und sozioökonomischer Aggregatmerkmale stand und erweist sich auch nach Kontrolle der demokratischen Tradition eines Landes als robust. Bemerkenswert ist, dass emanzipatorische Werte mehr als jedes andere Einstellungskonstrukt, das in der politischen Kulturforschung als demokratierelevant herausgestellt wurde, das tatsächliche Demokratieniveau eines Landes beeinflussen.21 Dies schließt Einstellungskonstrukte ein, die – wie politisches Vertrauen und Regimepräferenzen – einen prominenten Platz im Konzept der politischen Unterstützung einnehmen (Klingemann/Fuchs 1995). Kontrolliert nach emanzipatorischen Werten zeigt keine politische Unterstützungsvariable einen signifikanten Aggregateffekt auf Demokratie. Dieser Befund ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil er Zweifel an der Relevanz des doch so prominenten Unterstützungskonzepts nährt. Er ist auch pikant, weil zunächst so unpolitisch erscheinende Einstellungskonstrukte, wie Werte und Persönlichkeit, mit der einflussreichen civic culture-Studie von Almond und Verba (1963) aus dem Fokus der politischen Kulturforschung gerückt worden sind. Seither gelten allein Einstellungskonstrukte mit unmittelbar politischem Bezug als relevant für Regimestabilität und -wandel. Diese Akzentsetzung ist mit der Betonung der Rolle zwischenmenschlichen Vertrauens durch die Arbeiten Putnams (1993) ein wenig aufgeweicht worden, beherrscht die empirische politische Kulturforschung aber bis auf den heutigen Tag. Angesichts der Befunde der Weltwertestudien muss diese Akzentsetzung als korrekturbedürftig betrachtet werden. Almond und Verba haben sich prononciert von Lasswells (1951) Studie über den „demokratischen Charakter“ abgesetzt. Lasswell vertrat die These, dass die Affinität einer Population zur Demokratie von der relativen Dominanz demokratieverträglicher Charaktereigenschaften oder auch Werte abhänge, worunter er „Freiheit von Angst“ (freedom from anxiety), Selbstwertgefühl (self-esteem), Offenheit (open-mindedness) und generell einen Glauben in den Menschen (belief into human potentialities) zählte. Es kommt nicht von ungefähr, dass diese Werte genau das Umkehrbild von Adornos (1953) „autoritärer Persönlichkeit“, Rokeachs (1960) „geschlossenem Weltbild“, Rosenberg/Owens (2001) „geringem Selbstwert“ oder Schumanns (2005) „kognitiver Rigidität“ zeichnen. Auffällig ist auch die Ähnlichkeit von Lasswells demokratischem Charakter mit emanzipatorischen Werten. Der zentrale Befund der Weltwertestudien, dass emanzipatorische Werte einen starken Aggregateffekt auf Demokratie zeigen, kann vor diesem Hintergrund als eine späte Bestätigung Lasswells und seiner Auffassung gesehen werden, dass allgemeine psychische Dispositionen zum Leben, 20 21
Zum Problem des individuellen Fehlschlusses vgl. den Beitrag von Harald Schoen in diesem Band. Zum Konzept der politischen Kultur vgl. den Beitrag von Oscar W. Gabriel in diesem Band.
Werte- und Wertewandelforschung
133
der Welt, und den Mitmenschen eine inhärent demokratische (oder antidemokratische) Qualität haben. Aus einem anderen Blickwinkel bestätigt auch Schumanns (2005) Wiederentdeckung von Persönlichkeit als wichtigem Erklärungsfaktor für politische Phänomene diese Sicht. Warum genau aber sollen auf den ersten Blick so unpolitische Eigenschaften wie emanzipatorische Werte einen Einfluss auf Demokratie haben und warum soll dieser Einfluss stärker sein als etwa der von unmittelbaren Regimepräferenzen für Demokratie gegenüber Autokratie? Einer der Gründe liegt wohl darin, dass demokratische Regimepräferenzen aus vielerlei Gründen geäußert werden können, von denen viele nicht unbedingt eine Bereitschaft anzeigen, sich im Zweifelsfall auch aktiv für demokratische Freiheiten einzusetzen. Wenn Demokratie zum Beispiel als Mittel zu anderen Zwecken, wie etwa wirtschaftlichem Wohlstand, gesehen wird, dann wird die Bereitschaft, für demokratische Freiheiten um ihrer selbst willen zu streiten, nicht sehr ausgeprägt sein. Emanzipatorische Werte dagegen lassen die Menschen nach Selbst- und Mitbestimmung in ihrer Lebensgestaltung streben und begründen von daher eine tief sitzende intrinsische Motivation, sich für die Errichtung demokratischer Freiheiten einzusetzen, wenn sie verweigert werden, und diese Freiheiten zu verteidigen, wenn sie in Frage gestellt werden. Wie Welzel (2007b) zeigen konnte, wird der positive Aggregateffekt von emanzipatorischen Werten auf Demokratie tatsächlich über diese Handlungsbereitschaft vermittelt. Wo die emanzipatorischen Werte weiter verbreitet sind, tun mehr Menschen etwas, um demokratische Freiheiten zu erringen und sie zu verteidigen. Das macht die Etablierung und Bewahrung von Demokratien wahrscheinlicher. Letzten Endes kann dieser Zusammenhang nicht überraschen, ist Demokratie doch im Kern eine emanzipatorische Errungenschaft. Überraschen kann nur, wie lange dieser Zusammenhang übersehen wurde.
5.5 Wertewandel und Transformationen des Konfliktraums Erstarken emanzipatorische Werte, geschieht dies nicht gleichförmig über alle Bevölkerungsschichten hinweg. Ganz im Gegenteil differenzieren und polarisieren sich Gesellschaften entlang einer Konfliktachse von schwachen zu starken emanzipatorischen Werten. Verstärkt treten emanzipatorische Werte vorwiegend in den Bevölkerungsschichten auf, die aufgrund höherer Bildung und anderer vorteilhafter Sozialmerkmale von den Freiräumen profitieren, die die Individualisierung bietet. Den an anderer Stelle als „Modernisierungsverlierer“ (Heitmeyer) oder neuerdings als „Prekariat“ bezeichneten Bevölkerungsgruppen, die in besonderem Maße sozioökonomischen Risiken ausgesetzt sind, stellt sich die Individualisierung dagegen als Bedrohung dar. Wie aus der Autoritarismusforschung bekannt ist (Schumann 2005; Oesterreich 2005), führen solche Bedrohungswahrnehmungen zu einer Flucht in schutzstiftende Gemeinschaftstümelei, aus der sich rechtspopulistische Parteien mit ihren fremdenfeindlichen und nationalistischen Parolen bedienen (Kriesi 1998). Wie Herbert Kitschelt (2001) festgestellt hat, führt dieser Prozess zu einer Rekonfigurierung des politischen Konfliktraums. Der alte Links-Rechts-Konflikt, der im wesentlichen ein ökonomischer Konflikt zwischen Markt (alte Rechte) und Staat (alte Linke) ist, wird dabei
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Christian Welzel
von einem neuen Links-Rechts-Konflikt überlagert, der quer zum alten Links-Rechts-Konflikt liegt. Der neue Konflikt ist nicht ökonomischer, sondern kultureller Natur und dreht sich um moralische Fragen, wie Abtreibung, Gleichberechtigung, Homosexualität und die Zuwanderung. Auf dieser Konfliktlinie propagiert die neue Linke, die unter den gebildeten städtischen Schichten in den wissensintensiven Dienstleistungsberufen ihre stärkste Unterstützung findet, libertäre Lösungen. Diese Lösungen sprechen emanzipatorische Werte an. Die neue Rechte dagegen, die vor allem in den unteren Bildungsschichten der ländlichen und städtischen Problemzonen Unterstützung findet, propagiert autoritär-konservative Lösungen, die an alte Gemeinschaftstraditionen und den Nationalismus appellieren. Diese Lösungsmodelle sprechen das Gegenteil von emanzipatorischen Werten, nämlich autoritärkonservative Werte, an. Stimmen diese Überlegungen, so müsste die Differenzierung zwischen schwachen und starken emanzipatorischen Werten deutlich mit dem neuen Links-Rechts-Konflikt zwischen Autorität und Libertät korrelieren, zugleich aber nur eine schwache Korrelation mit dem alten Links-Rechts-Konflikt zwischen Markt und Staat aufweisen. Analysen mit den neuen Weltwertestudien bestätigen diese Erwartungen. Stärker emanzipatorische Werte sind eng mit libertären Positionen im neuen Links-Rechts-Konflikt assoziiert. Sie sind dagegen nur lose mit marktbetonten Positionen im alten Links-Rechts-Konflikt korreliert. Somit sind emanzipatorische Werte deutlich links im neuen Links-Rechts-Konflikt und leicht rechts im alten Links-Rechts-Konflikt positioniert. Warum eine eher rechte Position (marktorientiert) im alten Links-Rechts-Konflikt nun ausgerechnet zu einer deutlich linken Position (libertär) im neuen Links-Rechts-Konflikt passen soll, wird deutlich, wenn man sich den individualistischen Impetus der emanzipatorischen Werte vor Augen führt. Die Freiheit der Individuen zu betonen bedeutet nämlich in ökonomischen Fragen eine eher marktorientierte und in moralischen Fragen eine eindeutig libertäre Position zu beziehen. Wir halten also fest, dass sich am Wertewandel auch folgenreiche Rekonfigurationen des politischen Konfliktraums festzumachen scheinen. Wertewandel ist darum keine homogenisierende Entwicklung in eine konfliktfreie Gesellschaft. Aber auch an dieser Stelle sind weitere Forschungen nötig, um bisherige Erkenntnisse zu erhärten.
6
Schlussbemerkungen
Die Beschäftigung mit Werten stiftet Einsichten in die Motivationsgrundlagen menschlichen Handelns und ist von daher Grundlagenforschung im eigentlichen Sinne. Anders als die politische Ökonomie nimmt die politische Werte- und Kulturforschung menschliche Präferenzen nicht einfach als gegeben hin, sondern macht sie zum zentralen Gegenstand der Untersuchung. Und da Werte menschliches Handeln beeinflussen, sind Tendenzen des Wertewandels äußerst wichtige Phänomene, deren Wirkungen in alle möglichen Lebensbereiche, vom Freizeitverhalten bis zur politischen Partizipation, ausstrahlen. Am Wertewandel machen sich darum vielfältigste, scheinbar isolierte, gesellschaftliche Veränderungen
Werte- und Wertewandelforschung
135
fest. Wer den Wertewandel versteht, gewinnt darum ein besseres Gesamtverständnis gesellschaftlicher und politischer Entwicklung.
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Testfragen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Was sind Werte? Mit welchen Begriffen wurde der Wertewandel gekennzeichnet? Was besagt die Wertprioritäten-Annahme? Auf welches Bedürfnismodell geht sie zurück? Was besagt die Wertsynthese-Annahme? Wie sieht der Wertekreis von Schwartz aus? Welche beiden Dimensionen konstituieren die Inglehart-Welzel’sche Kulturkarte? Was sind emanzipatorische Werte? Warum steigen emanzipatorische Werte an? Welche Rolle spielen emanzipatorische Werte für Demokratie?
Politische Partizipation Jan W. van Deth* Jan W. van Deth
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Einführung: Regieren durch die Bürger
Politische Partizipation umfasst – salopp gesagt – alle Aktivitäten von Bürgern mit dem Ziel politische Entscheidungen zu beeinflussen.1 Dazu gehören nicht nur die Beteiligung an Wahlen, sondern auch Aktivitäten wie Unterschriften sammeln, Demonstrieren oder Boykottieren von Produkten. Politische Partizipation betrifft bestimmte Verhaltensweisen: Sich für Politik zu interessieren oder politische Fernsehsendungen anzuschauen sind hingegen keine Formen politischer Partizipation. Partizipation ist nicht nur erforderlich für demokratische Entscheidungsfindung, sondern bietet dem Bürger auch Entwicklungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten. Ohne politische Partizipation wäre eine Demokratie unvorstellbar, da sich Demokratie auf das Regieren durch die Bürger bezieht. Folglich kann Demokratie nicht ohne ein minimales Niveau politischer Partizipation existieren. Ein Mangel an politischer Partizipation ist für jede Demokratie destruktiv. Die Debatten über politische Partizipation betreffen das Ausmaß der Beteiligung – nicht die Notwendigkeit von Partizipation für die Lebensfähigkeit einer Demokratie. Wer Demokratie sagt, meint Partizipation. In vielen Ländern hat sich in den letzten Jahrzehnten das Repertoire politischer Partizipation enorm erweitert. Neben den konventionellen, auf Wahlen und Parteien ausgerichteten Formen der Beteiligung gibt es mittlerweile eine fast endlose Liste verschiedener Protestaktivitäten, Bürgerinitiativen, sozialer Bewegungen, Internetblogs usw.. Zudem ist prinzipiell kein gesellschaftlicher Bereich von politischer Partizipation ausgeschlossen. Es gibt Demonstrationen gegen Atomkraftwerke, aber auch gegen Honorarbeschränkungen von selbständigen Ärzten; es gibt Aktionen für die Verkehrssicherheit in der Nähe von Kindergärten, aber auch Boykotte von Studiengebühren; es gibt Proteste gegen Rauchverbote, Aktionen für die Nennung des Herkunftslandes auf Maisprodukten sowie Vereine zur Unterstützung der Beziehungen zu Kuba und solche, die sich um die Instandhaltung von ehemaligen Bahnhöfen kümmern. Die Liste der Beispiele dieser Art kann beliebig fortgeführt werden, wobei mit jedem weiteren Beispiel das Problem der Abgrenzung des Konzepts der politischen Partizipation evidenter wird. Offensichtlich kann fast alles, was Menschen tun, irgendwann auch als politische Partizipation betrachtet werden. Trotz der uferlosen Erweiterung des Partizipationsrepertoires ist es nicht schwierig, Menschen zu finden, die sich von der Politik fernhalten. Die meisten Bürger sind eher inak-
* Für die Hilfe bei der sprachlichen Überarbeitung dieses Beitrages bin ich Sabrina Utz zu Dank verpflichtet. Einige Abschnitte dieses Kapitels basieren auf früheren Publikationen zum Thema (van Deth 2003). 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird nicht durchgängig eine geschlechterneutrale Sprache verwendet. Mit Begriffen und Bezeichnungen wie ‚Bürger’ oder ‚Politiker’ sind natürlich immer auch Frauen gemeint.
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Jan W. van Deth
tiv und kaum an Politik interessiert. Kneipengespräche sind nicht von Begriffen wie politischem Engagement, Aufmerksamkeit und Involvierung, sondern eher von Enttäuschung, Ablehnung, Desinteresse und Frustration gekennzeichnet. In vielen Ländern sinkt die Wahlbeteiligung und insbesondere politische Parteien tun sich schwer, ihre alten Positionen zu verteidigen. Außerdem sind es meistens bestimmte Bevölkerungsgruppen, die viel mehr partizipieren als andere. Die Partizipationsforschung sieht sich deswegen mit vielen komplizierten Fragen konfrontiert, zum Beispiel: Welche Aktivitäten kann man heutzutage als politische Partizipation bezeichnen? Wie ist die starke Expansion der Partizipationsformen zu erklären? Bieten neue Formen von Beteiligung eine Art Kompensation für die rückgängige Nutzung von konventionellen Formen? Wendet der Bürger sich allmählich von der Politik ab und werden dadurch die Lebenschancen der Demokratie geschwächt? Verletzt die deutlich ungleiche Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen nicht das demokratische Gleichheitsprinzip? Manche dieser Fragen berühren theoretische und konzeptuelle Probleme, andere eher empirische Komplikationen der Demokratie- und Partizipationsforschung. In diesem Kapitel steht zunächst die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Demokratie und Partizipation im Vordergrund. Anschließend werden wir uns die Ergebnisse der empirischen Partizipationsforschung genauer anschauen und – erstens – die Entwicklung der Formen sowie das Niveau der politischen Beteiligung und – zweitens – die vorhandenen Erklärungen für politisches Partizipationsverhalten vorstellen. Zum Schluss wird dann kurz auf die neuesten Möglichkeiten eingegangen, wie Repertoire und Umfang politischer Partizipation erweitert werden können.
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Demokratie und Partizipation
Die enge Verbindung von Demokratie und politischer Partizipation ist auch im Grundgesetz verankert: „(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“ (Artikel 20). Die Bedeutung von Partizipation für die Demokratie über „Wahlen und Abstimmungen“ hinaus betonen die so genannten „partizipatorischen Demokratietheorien“. In seinem umfangreichen Überblick über verschiedene Demokratietheorien charakterisiert Manfred G. Schmidt (2000: 252) diese Ansätze wie folgt. Die „partizipatorische Demokratietheorie“ rückt: „... die tätige Mitwirkung der Bürger, die diskursive Konfliktregelung und das Gespräch ins Zentrum. Regieren durch Mitwirkung und Regieren durch Diskussion lauten die Stichworte, und nicht: Konfliktregelung durch Befehl, Kampf oder legitime Herrschaft (wie bei Max Weber), durch Markt und Mehrheit (wie in der Ökonomischen Theorie) oder durch Aushandeln, wie in den Spielarten der Verhandlungsdemokratie.“
Die Idee, dass die Beteiligung von Bürgern eine wichtige Bedingung für demokratische Entscheidungsprozesse darstellt, ist so alt wie die Demokratie selbst. Bereits Perikles betonte
Politische Partizipation
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in seiner berühmten Grabrede für die ersten Gefallenen im Peloponnesischen Krieg im Winter 431-430 v. Chr. die Bedeutung von politischer Partizipation für die Demokratie. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete er jeden Bürger, der sich ausschließlich auf seine eigenen Sachen konzentriert, nicht als einen „stillen Bürger“, sondern als einen „schlechten Menschen“ (Thukydides 1991: 142). Viel später – aber prinzipiell auf derselben Idee basierend – argumentiert Benjamin Barber (1984, 1995) entschieden für eine stärkere „partizipatorische“ Demokratie als Alternative für eine liberale „thin democracy“ oder „politics as zookeeping“. Auch andere Autoren betonen die enge Verbindung von Demokratie und Partizipation: „Without (citizen participation) there would be no democracy“ (Parry et al. 1992: 4), „…the notion of political participation is at the center of the concept of the democratic state” (Kaase/Marsh 1979: 28), und: „Where few take part in decisions there is little democracy; the more participation there is in decisions, the more democracy there is” (Verba/Nie 1972: 1). Wegen der engen Verbindung von Demokratie und Beteiligung ist jede Konzeptualisierung des Begriffs „politische Partizipation“ abhängig vom angewendeten Demokratieverständnis. Auch hier sind mehrere Trennungslinien bereits seit der Antike wahrzunehmen. Politische Aktivitäten können einerseits auf Basis ihrer intrinsischen Werte und der Notwendigkeit für das mentale Wohlbefinden der Menschen begründet werden; andererseits aber auch aufgrund der Voraussetzung, Interessen und Ansichten in einem Entscheidungsprozess zu artikulieren und zu verteidigen. Theoretiker, die in der Tradition Platons und Aristoteles’ arbeiten, betonen die Entwicklungsmöglichkeiten und den selbstverwirklichenden Charakter der politischen Beteiligung.2 Unter diesem Gesichtspunkt wird politische Beteiligung nicht als eine spezifische Aktivität betrachtet, sondern als ein integraler Bestandteil des sozialen Lebens (siehe Kasten 1). Politische Partizipation bezieht sich hier auf die Beteiligung von Bürgern in verschiedenen Gesellschaftsbereichen und geht somit über die engere Sphäre der Politik hinaus. Wählt man einen instrumentellen Partizipationsbegriff, so versteht man unter politischer Partizipation „... alle Tätigkeiten (...) die Bürger freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen“ (Kaase 1995: 521; siehe auch Milbrath/Goel 1977: 2; Verba/Nie 1972: 2; Verba/Schlozman/Brady 1995: 37; Norris 2001: 16). Diese Definition schließt zwar die persönliche Entwicklung und Selbstverwirklichung der beteiligten Bürger ausdrücklich nicht aus, legt allerdings den Schwerpunkt auf den unterstellten Versuch, Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung zu nehmen. Die Definition ist ferner von mehreren Merkmalen gekennzeichnet, die für das instrumentelle Verständnis von politischer Partizipation charakteristisch sind. Erstens bezieht sich politische Partizipation auf Menschen in ihrer Rolle als Bürger und nicht auf mögliche Tätigkeiten als Politiker oder beispielsweise Staatsbeamte. Zweitens wird politische Partizipation als Aktivität („Tätigkeit“) verstanden – einfach nur fernzusehen oder zu behaupten, auf Politik neugierig zu sein, ist noch keine Partizipation. Drittens sollten die Aktivitäten, die als politische Partizipation definiert werden, freiwillig sein und nicht durch Autoritäten oder durch ein Gesetz oder eine Richtlinie angeordnet sein. Abschließend meint politische Partizipation im weitesten Sinn Regierung und Politik („politisches System“). Sie ist weder auf spezifische Stadien (wie parlamentarische Entscheidungsfindung, oder die „In2
Siehe für eine kurze Erläuterung zum Hintergrund dieses Partizipationsbegriffes Gerhardt (2007: 26-27).
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Jan W. van Deth
put“ Seite des politischen Systems) noch auf spezifische Ebenen oder Bereiche (wie nationale Wahlen oder Kontakte mit Behörden) beschränkt. Es wurden zwar noch verschiedene andere gemeinsame Charakteristika vorgeschlagen und diskutiert, aber diese vier Eigenschaften politischer Partizipation scheinen unumstritten.3 Kasten 1:
Eine intrinsische Begründung Politischer Partizipation
„We want a political system that doesn’t just produce results that benefit us, but one in which we participate in the decisions that affect our lives. Why? Because self-management makes us more fully human. Politics is not just a means of attaining our ends but is also a means of defining who we are and hence what our ends are.“ Quelle: Stephen Shalom „ParPolity“, http://www.zmag.org/shalompol.htm
Theorien und Ansätze kann man in normative Betrachtungen (mit einem Akzent auf Normen und Werte oder Vorstellungen, wie die Welt aussehen sollte) und empirische Betrachtungen (mit einem Akzent auf Beschreibungen von Tatsachen oder Vorstellungen, wie die Welt ist) unterscheiden. Partizipationstheorien, die Entwicklungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten der Bürger in den Vordergrund stellen, sind meistens durch normative und präskriptive Merkmalen charakterisiert. Für die instrumentellen Theorien ist diese Bezeichnung weniger eindeutig, da es hier sowohl normative als auch empirische Ansätze gibt (Schmidt 2000: 251-268; Bertelsmann Stiftung 2004: 20-22; Hoecker 2006: 6-9). Die normativen Varianten der instrumentellen Theorien betonen die Notwendigkeit von Beratung und Beschlussfassung auf der Basis von Prozeduren, welche zur Legitimierung der Ergebnisse beitragen („prozeduralistische“ oder „deliberative Demokratie“). Voraussetzungen dafür sind unter anderem die Wahrung einer freien und allgemein zugänglichen Öffentlichkeit und die Anerkennung von Mitspracherechten der Bürger. Die empirischen und empirischanalytischen Varianten der instrumentellen Theorien fokussieren hingegen auf die tatsächlich angewandten Partizipationsformen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Dafür sind eher zuverlässige Informationen über diese Partizipation statt eine Auseinandersetzung mit Bedingungen demokratischer Verfahren erforderlich. Der Unterschied zwischen normativen und empirischen Theorien „partizipatorischer Demokratie“ sollte allerdings als Schwerpunktsetzung und nicht als klare Trennungslinie betrachtet werden.4 Beide Varianten der instrumentellen Ansätze sind sich darin einig, dass Partizipation bestimmten Zwecken im Rahmen demokratischer Entscheidungsprozesse dient. In einem Überblick neueren Datums fasst Jan Teorell (2006: 791) diese verschiedenen Zwecke in drei „Modellen“ zusammen:
3 Zu den anderem Charakteristika gehören: Der (il)legale Status von Aktivitäten; die Frage, ob Aktivitäten erfolgreich waren oder vom politischen „gate keeper“ bemerkt wurden; die Natur der Aktivitäten, entweder elitenorientiert zu sein, oder Schwierigkeiten mit Eliten zu haben; die verschiedenen Beweggründe beteiligter Bürger oder eine Unterscheidung zwischen kollektiven oder individuellen Aktivitäten. Siehe Brady (1998) für einen ausführlichen Überblick über Studien zu Formen politischer Partizipation. Für kritische Betrachtungen aus feministischer Perspektive Geißel/Abel/Kratt (2001) oder Geißel (2004). 4 Für eine klare Gegenüberstellung von „Deliberative Democracy“ und „Participatory Democracy“ sowie eine anregende Diskussion bezüglich der Vereinbarkeit von Beteiligung und offener Meinungsbildung vgl. Mutz (2006). Einen kurzen Überblick der verschiedenen Ansätze gibt Hoecker (2006), während Holtkamp/Bogumil/Kißler (2006) eine Anwendung für die kommunale Politik bieten.
Politische Partizipation
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„In sum, participation according to the responsive model is defined as an attempt to influence those who have a say in government. According to participatory democrats, by contrast, participation is to have a say in government oneself. The deliberative model, finally, defines participation as a way of finding out what to say.“
Diese drei Zwecke politischer Partizipation (Beeinflussung, Mitsprache sowie Meinungsund Willensbildung) können mit verschiedenen Beteiligungsformen realisiert werden. In der empirischen Partizipationsforschung ist jedoch meistens nur schwer zweifelsfrei feststellbar, welche Zwecke die Beteiligten wirklich anstreben. Gut versteckte Eigeninteressen, Rationalisierungs- und Legitimierungsversuche, aber auch Unwissenheit und falsche Wahrnehmungen machen es nicht einfach, Beteiligungszwecke zuverlässig zu erkennen.
3
Formen und Niveaus politischer Partizipation
Politische Partizipation kann man nach ihren Formen und Typen unterscheiden, aber auch nach Umfang und Verbreitung der verschiedenen Aktivitäten. Dafür wird meistens untersucht, wie viele Bürger eine bestimmte Partizipationsform angewandt haben. Im Hinblick auf die Konzeptualisierung politischer Partizipation als individueller Beteiligungsakt ist es nicht überraschend, dass sich die empirische Partizipationsforschung überwiegend auf die Mikroebene konzentriert und sich weitgehend auf die Analyse von Umfragedaten beschränkt. Allerdings spielen Überschneidungen zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene in verschiedenen Ansätzen zunehmend eine wichtige Rolle, wobei die Einbettung einzelner Bürger in Gruppen und die damit verbundenen Mobilisierungsprozesse betrachtet werden. Die Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Forschungsstrategien sind nicht immer einfach festzustellen. Neben der erwähnten Fokussierung auf Mikroanalysen (z.B. Parry/Moyser/Day 1992) gibt es Analysen, bei denen die Gruppenzugehörigkeit eine zentrale Rolle spielt (z.B. Verba/Schlozman/Brady 1995; van Deth/Montero/Westholm 2007), neben Mesoanalysen von Zeitungsberichten (z.B. Rucht/Koopmans/Neidhardt 1998) und anderen Medien (z.B. Nam 2007)5 gibt es Makroanalysen von aggregierten Umfragedaten (z.B. Norris 2002). In allen empirischen Studien wird einerseits unterschieden zwischen den verschiedenen Formen (oder dem Repertoire) politischer Partizipation und andererseits zwischen Umfang und Verbreitung der Beteiligung.
3.1 Das Repertoire politischer Partizipation Zunächst wurden unter politischer Partizipation weitgehend all diejenigen Aktivitäten verstanden, die allgemein akzeptiert waren und mit Wahlkampagnen und politischen Parteien zu tun hatten, sowie Kontakte zwischen Bürgern und Behörden (Lane 1959; Campbell et al. 5 Siehe hierzu beispielsweise die verfügbaren Informationen, die im Rahmen des von Ron Francisco geleiteten Projekts „Political Protest and Coercion Data“ zusammengetragen sind. Hier wurden Berichte über Demonstrationen, Streiks, Besatzungen, Gewalttätigkeiten usw. in etwa 400 Zeitungen und elektronischen Veröffentlichungen für 28 europäische Länder von 1980 bis 1995 zusammengefasst (siehe http://web.ku.edu/ronfran/data/index.html).
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1960). Diese Aktivitäten sind auch heutzutage noch als „konventionelle“ Formen der Partizipation bekannt. Spätestens seit Anfang der 1970er Jahre ist jedoch klar, dass sich politische Partizipation nicht auf allgemein akzeptierte Formen oder Aktivitäten beschränkt. Auch Protest und Ablehnung sind klare Ausdrucksformen bürgerlicher Interessen und Ansichten und sollten daher nicht aus dem Gebiet politischer Partizipation ausgeschlossen werden (Barnes/Kaase et al. 1979). Diese letzten Formen politischer Partizipation wurden als „unkonventionelle“ Formen der Partizipation bezeichnet, da sie nicht in Übereinstimmung mit den sozialen Normen der frühen 70er Jahre des letzten Jahrhunderts standen. „Neue Soziale Bewegungen“, wie die Frauen- oder Friedensbewegung, gehören ebenfalls zu dieser Kategorie.6 Die jüngste Ausweitung politischer Partizipation fand in den 1990er Jahren statt. Das allmähliche Auflösen der Grenze zwischen politischer und nicht-politischer Sphäre in modernen Gesellschaften und die Wiederbelebung des Tocquevilleanischen und des kommunitaristischen Ansatzes führten zu einer Ausweitung politischer Partizipation durch „bürgerliche“ Aktivitäten wie zum Beispiel ehrenamtliche Tätigkeiten (Putnam 2000; Norris 2002). Bis dahin wurde Partizipation in „freiwilligen Vereinigungen“ oder „soziale Partizipation“ als analytisch und empirisch verschieden von politischer Partizipation konzeptualisiert.7 Ergebnis dieser schrittweisen Ausweitung war, dass das Gebiet der politischen Partizipation zu beinahe allen erdenklichen Formen nicht-privater Aktivitäten wurde. Selbst wenn man alle Formen politischer Partizipation, die in verschiedenen Studien verwendet werden, sehr lose und grob klassifiziert, kommt man zu einer Liste mit etwa 70 Aktivitäten (van Deth 2003: 175-177). Das Repertoire politischer Partizipation ist in den letzten Jahrzehnten offensichtlich enorm gewachsen. Die kontinuierliche Ausweitung der Formen politischer Partizipation impliziert nicht, dass es sich hierbei um ein eindimensionales Konzept handelt, das einfach alle zusätzlichen Aktivitäten aufnimmt. Über die Dimensionalität der Formen politischer Partizipation wurde ausführlich diskutiert und eine Reihe verschiedener Labels für verschiedene Dimensionen vorgeschlagen (Sabucedo/Arce 1991; van Deth 1997b). Viel wichtiger als die exakte Bezeichnung dieser Dimensionen ist aber die Tatsache, dass die empirischen Analysen in vielen Ländern weitestgehend einheitliche Ergebnisse liefern. Nachdem Lester Milbrath (1965: 18) eine „Pyramiden“-Verteilung von aktiven und passiven Formen politischer Partizipation präsentiert hatte, begründeten bereits Lester Milbrath und Madan Goel (1977: 20f) sowie Sidney Verba und Norman Nie (1972: 44ff) ihre Unterscheidung zwischen vier Hauptformen von Partizipation – „Wählen“, „Mitarbeit in Kampagnen“, „kommunale Aktivitäten“ und „vereinzelter Kontakt“ – mit Hilfe hoch entwickelter empirischer Analysen. Die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen konventionellen und unkonventionellen Formen politischer Partizipation von Samuel Barnes und Max Kaase basiert ebenfalls auf der Anwendung fortgeschrittener Techniken der Datenreduktion (1979: 538ff). Geraint Parry und seine Mitautoren (1992: 50ff) präsentieren als Ergebnis ihrer Anwendung ähnlicher Techniken sechs 6 Diese Formen politischer Partizipation lassen sich nur schwer definieren. In einer Diskussion der Frage „What is ‚new’ in new social movements?“ weist Mario Diani (2000: 387) spezifische Issues, Meinungen von Sympathisanten, den Grad der Konflikte, Taktiken oder organisatorische Formen als einzigartiges Charakteristikum zurück. Stattdessen werden die Struktur-/Netzwerk-Eigenschaften betont (Diani 2000: 389). 7 Siehe für mögliche Zusammenhänge zwischen sozialer und politischer Partizipation van Deth (1997a). Eine neuere Diskussion bieten Sampson et al. (2007).
Politische Partizipation
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Haupttypen politischer Partizipation: „Wählen“, „Parteikampagnen“, „kollektive Beteiligung“, „Kontaktieren“, „direkte Beteiligung“ und „politische Gewalt“. Sidney Verba, Kay Schlozman und Henry Brady (1995: 72) können in ihrer umfangreichen Studie vier Hauptformen politischer Partizipation unterscheiden, die als „Wählen“, „Kampagnen“, „Kontaktieren“ und „Gemeinschaft“ bezeichnet werden. Verschiedene Haupttypen, Formen oder Dimensionen von Partizipation sind in vielen empirischen Untersuchungen auf ähnliche Weise erkannt worden. Erstens ist Wählen immer eine eigenständige Form politischer Partizipation. Zweitens bilden Kampagnenaktivitäten eine andere eindeutige Form politischer Partizipation, was, drittens, auch auf das Kontaktieren von Behörden oder Politikern zutrifft. Eine vierte Form bilden Protestaktivitäten (und Neue Soziale Bewegungen). Zurzeit ist noch unklar, in welchem Umfang Aktivitäten in freiwilligen Organisationen eine weitere Form darstellen, oder ob es sich hierbei um eine weitere Spezifikation eines bereits bestehenden Typs handelt. Neben den empirisch orientierten Versuchen, die verschiedenen Formen politischer Partizipation in einige Hauptformen zusammenzufassen, gibt es auch immer wieder typologisch orientierte Ansätze. Ein Beispiel dieser Ansätze neueren Datums bildet die Typologie politischer Partizipation welche im Rahmen des Citizenship, Involvement, Democracy Projektes entwickelt worden ist. In ihren Betrachtungen der Formen politischer Partizipation schlagen Jan Teorell, Mariano Torcal und José Ramon Montero (2007: 340-343) eine Typologie vor, welche sich zunächst auf Unterschiede von Partizipationsformen in einer repräsentativen Demokratie richtet. Einerseits gibt es in diesen Demokratien Formen politischer Partizipation, die sich auf Kanäle der Repräsentation beziehen (wie zum Beispiel Wahlen, Parteiaktivitäten oder auch Bürgerinitiativen, die Abgeordnete beeinflussen möchten). Andererseits unterscheiden die Autoren Partizipationsformen, die sich nicht auf Politiker, Beamte oder Institutionen der repräsentativen Demokratie richten, sondern andere Kanäle ins Auge fassen (wie zum Beispiel die Anwendung von Produktboykotten oder Versuche, die öffentliche Meinung zu beeinflussen). Diese neuesten Formen politischer Partizipation werden als „political consumerism“ bezeichnet (siehe Kasten 2). Kasten 2:
Konsum als neue Form politischer Partizipation
„… political consumerism is politics when people knowingly target market actors to express their opinions on justice, fairness, or noneconomic issues that concern personal and family well-being. When they shop in this fashion they are using their consumer choice as an ethical or political assessment of favorable and unfavorable business and government practice.“ (Micheletti 2003: 14).
Eine zweite Dimension dieser Typologie basiert auf dem Charakter der Aktivitäten. Anschließend an Alfred Hirschmans (1970) Unterscheidung zwischen „exit“ und „voice“ kann man Partizipationsformen aufgliedern in Einflussmöglichkeiten, die Bürger benutzen können oder nicht (wie zum Beispiel Wahlen) und Aktivitäten, die angewendet werden, um Aufmerksamkeit auf bestimmte Präferenzen oder Interessen zu lenken (wie zum Beispiel Bürgerinitiativen oder Unterschriftenaktionen). Innerhalb dieser letzten Gruppe von Partizipationsformen ist ferner ein Unterschied auf der Basis des Ziels der Aktivitäten möglich. Manche Formen politischer Partizipation richten sich auf bestimmte Akteure, Gruppen oder
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Jan W. van Deth
Institutionen (wie beispielsweise eine Blockade des Rathauses kurz bevor eine wichtige Gemeinderatssitzung sich an die Ratsmitglieder richtet), während andere Aktivitäten keine klaren Adressaten haben und meistens versuchen, die Öffentlichkeit zu beeinflussen (wie zum Beispiel die Publikation von Zukunftsprojektionen). Die beiden Dimensionen und die weitere Unterteilung der zweiten Dimension führen zu einer Typologie von Formen politischer Partizipation mit fünf Hauptkategorien (Abbildung 1). Auf der Basis einer umfangreichen Untersuchung der Partizipationsformen in zwölf europäischen Ländern können Teorell, Torcal und Montero die empirische Validität der Partizipationstypologie nachweisen. Auch in dieser Studie bildet Wahlbeteiligung eine eigenständige politische Aktivität, welche isoliert von anderen Formen politischer Partizipation eingesetzt wird (Teorell/Torcal/Montero 2007: 354). Ferner lassen sich auch die übrigen vier Partizipationstypen empirisch gut unterscheiden. Bemerkenswert ist, dass die typologisch entwickelte Einteilung weitgehend mit den oben erwähnten, auf früheren empirischen Studien basierenden Einordnungen der Formen politischer Partizipation übereinstimmt. Offensichtlich sind die Vorteile der Benutzung einer systematischen und theoriegeleiteten Typologisierung von Partizipationsformen gut mit den Ergebnissen empirischer Analysen zu kombinieren. Überdies bietet die Typologie die Möglichkeit, neuere Formen politischer Partizipation zu benennen. Insbesondere solche Aktivitäten, die mit gezieltem Konsumverhalten zu tun haben (sowohl Boykotte als auch planmäßige Käufe), bilden einen neuen Typus politischer Partizipation (Micheletti 2003), der in früheren empirischen Studien nicht erkannt worden ist. Abbildung 1:
Eine Typologie von Formen politischer Partizipation und Beispiele charakteristischer Aktivitäten
Quelle: Teorell/Torcal/Montero (2007: 341)
3.2 Umfang und Verbreitung politischer Partizipation Insbesondere die auf Umfragedaten basierende politische Partizipationsforschung hat eine Reihe von empirischen Befunden über Umfang und Verbreitung politischer Beteiligung
Politische Partizipation
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vorgelegt. Zu den unumstrittenen Befunden dieser Arbeiten gehört zunächst die Feststellung, dass politische Beteiligung – mit Ausnahme von Wahlen – in demokratischen Staaten nicht sehr weit verbreitet ist. Die durchschnittliche Beteiligung an nationalen Wahlen liegt in Europa in der Periode 1950-1997 bei etwa 82 Prozent, mit relativ niedrigeren Werten für die Schweiz (56 Prozent) und fast vollständiger Beteiligung der Bürger in Ländern wie Österreich oder Island (Topf 1995a: 40; Lane/Ersson 1999: 141; Dalton 2002: 36f). Derartige Länderunterschiede haben sich über längere Zeit als durchaus konsistent erwiesen. Von den anderen Formen der politischen Partizipation wird nur die Beteiligung an Unterschriftensammlungen von einem substantiellen Teil der Bürger demokratischer Gesellschaften genutzt. Alle anderen Beteiligungsmöglichkeiten werden nur von klaren Minoritäten der Bevölkerungen angewandt, wobei es sich für die weitaus meisten Aktivitäten (zum Beispiel Parteimitgliedschaft oder Teilnahme an Boykotts oder Besetzungen) um sehr geringe Prozentzahlen der Bürger handelt (Topf 1995b: 86f; Norris 2002: 197f). Die Bürger demokratischer Gesellschaften beschränken ihre politischen Aktivitäten offensichtlich hauptsächlich auf den regelmäßigen Gang zur Wahlurne und das Unterschreiben von Petitionen. Bemerkenswert ist, dass die enorme Erweiterung des Repertoires politischer Partizipationsformen in den letzten Jahrzehnten offensichtlich nicht zu einer ähnlich starken Steigerung der Nutzung dieser Möglichkeiten geführt hat. Der Umfang und die Verbreitung politischer Partizipation in Deutschland kann hier auf zwei Weisen beleuchtet werden. Zuerst sind in Tabelle 1 die Befunde der ALLBUSUmfrage für die politische Beteiligung in West- und Ostdeutschland zusammengefasst.8 Eine umfangreiche Liste sehr unterschiedlicher Formen politischer Partizipation ist 1988 und 1998 in diese Studien aufgenommen worden. Die Ergebnisse der Analyse belegen, dass sich politische Partizipation für die meisten Bürger auf die Wahlbeteiligung beschränkt. Dabei muss natürlich beachtet werden, dass Wahlen regelmäßig stattfinden und andere Formen politischer Partizipation von der Initiative der Betroffenen abhängen. Ob dieser Unterschied die Popularität der Wahlbeteiligung erklären kann, ist allerdings fragwürdig, da man die anderen Formen politischer Partizipation sowohl viel häufiger als auch viel seltener als Wahlbeteiligung einsetzen kann.9
8 Die Daten der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (Allbus) werden vom Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung (ZA) zur Verfügung gestellt (Allbus-88: ZA-S1670 und Allbus-98: ZA-S3000). Den Befragten wird folgende Frage vorgelegt: „Wenn Sie politisch in einer Sache, die Ihnen wichtig ist, Einfluss nehmen, Ihren Standpunkt zur Geltung bringen wollten: Welche der Möglichkeiten auf diesen Karten haben Sie selbst schon gemacht, woran waren Sie schon einmal beteiligt?“ 9 Dieser Unterschied zwischen Wahlen und anderen Partizipationsformen führt auch zu erheblichen Problemen bei der Messung von Partizipation. Während man bei Wahlen zum Beispiel nach der Beteiligung „an der letzen Bundestagswahl“ fragen kann, ist eine Zeitbeschränkung für alle anderen Formen problematisch. Damit Jahrzehnte zurückliegende Beteiligungen außer betracht bleiben, wird heutzutage zum Beispiel nach Partizipation „in den letzten 12 Monaten“ gefragt.
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Jan W. van Deth
Tabelle 1: Politische Partizipation in West- und Ost-Deutschland, 1988 und 1998 (tatsächliche Beteiligung in Prozent der gültigen Angaben) West-Deutschland
- an Wahlen beteiligt - Meinung sagen - Unterschriftensammlung* - öffentliche Diskussionen - Teilnahme an genehmigter Demonstration* - aus Protest andere Partei gewählt - Mitarbeit Bürgerinitiative - aus Protest nicht an Wahlen beteiligt - Mitarbeit Partei - Kandidaten unterstützen - Teilnahme an nicht genehmigter Demonstration - Verkehrsblockade - Hausbesetzungen - Krach schlagen bei Demonstrationen - politische Gegner einschüchtern - Gewalt gegen Personen - beteiligt an mindestens einer der Aktivitäten - beteiligt an mindestens einer der Aktivitäten (ohne Wahlen) - durchschnittliche Beteiligung (ohne Wahlen) - Streuung der Beteiligung (ohne Wahlen) (N)
Ost-Deutschland
1988
1998
1998
84 71 26 23 11 12 5 5 3
82 72 38 22 16 9 9 7 4 4 4
77 66 37 26 16 7 6 7 3 2 3
1 0 1 0
2 1 1 1 0
1 0 0 0 0
90
89
83
77
77
72
1,6
1,8
1,6
1,6
1,7
1,5
3057
2130
935
*Antwortkategorien in Allbus 1988 dichotomisiert in „beteiligt“ und „nicht beteiligt“ Quelle: Allbus-88 und Allbus-98. Siehe: van Deth (2001: 205).
Neben Wahlbeteiligung wird nur die sehr allgemeine Partizipationsform „seine Meinung im Bekanntenkreis und am Arbeitsplatz zu äußern“ ebenfalls von einer Mehrzahl der Bürger bejaht – alle anderen Formen politischer Partizipation werden dagegen nur von deutlichen Minderheiten (wie beispielsweise Unterschriftensammlungen) oder von sehr geringen Teilen der Bevölkerung (wie zum Beispiel die Mitarbeit in Parteien oder politischen Gruppen) genutzt. Manche Formen werden fast nie angewandt (wie zum Beispiel Hausbesetzungen oder Gewalt). Bemerkenswerte Unterschiede zwischen Ost- und West-Deutschland sind für 1998 allerdings nicht festzustellen. Offensichtlich hat sich – zumindest in diesem Punkt – die Annäherung der politischen Kulturen in den beiden Landesteilen weiter fortgesetzt (van Deth 1997b; Gabriel 2005; Neller/van Deth 2006). Wenn die Wahlbeteiligung außer Acht gelassen wird, sehen wir, dass die politische Beteiligung in Deutschland ständig gewachsen ist. Der Anteil der Bürger, der mindestens eine
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Form politischer Partizipation, der nicht die Wahlbeteiligung betrifft, genutzt hat, stieg von 16 Prozent 1959 auf 57 Prozent 1990 (Topf 1995b: 69). Seit Ende der 1980er Jahre hat eine Mehrheit der Deutschen mindestens eine Form politischer Partizipation genutzt. Zwischen 1988 und 1998 hat sich diese Situation kaum geändert, lediglich die Beteiligung an Unterschriftensammlungen ist deutlich in der Popularität gestiegen. Ein ähnlicher Anstieg sowie eine Stabilisierung des Umfangs und der Verbreitung der Beteiligung sind auch für andere Formen politischer Partizipation zu beobachten.10 Das Statistische Bundesamt (2006: 639) fasst diese Situation für die letzten Jahre wie folgt zusammen: „Die Häufigkeit, mit der Bürger sich in der Politik beteiligten, lag 1998 und 2004 auf dem gleichen Niveau. Zwischen fünf und sieben Prozent der Bürger werden mindestens einmal im Monat politisch aktiv. Ein Unterscheid zwischen Ost und West ist in der Häufigkeit der Beteiligung nicht festzustellen.“
Eine zweite Möglichkeit, Umfang und Verbreitung politischer Partizipation empirisch zu erläutern, bietet die Anwendung der in Abschnitt 3.1 präsentierten Typologie von Teorell, Torcal und Montero (2007). Die Fragen, die der empirischen Benutzung dieser Typologie zu Grunde liegen, ähneln den ALLBUS-Studien, decken allerdings ein breiteres Repertoire ab. Außerdem macht diese Typologie einen internationalen Vergleich möglich. Tabelle 2 sind die Verteilungen der fünf Haupttypen politischer Partizipation zu entnehmen. Auch hier wird sofort klar, dass Wahlbeteilung weit verbreitet ist und dass alle anderen Partizipationsformen in jedem der untersuchten Länder deutlich weniger genutzt werden. Die beiden Teile Deutschlands nehmen auch hier keine Sonderposition ein. Klar ist auch, dass Umfang und Art der Beteiligung in West- und Ostdeutschland mehr oder weniger gleich sind und nur die Konsumentenbeteiligung in Westdeutschland etwas höher ausfällt als in den östlichen Bundesländern. Im europäischen Vergleich nehmen West- und Ostdeutschland fast genau die Mittelpositionen ein, wenn wir Umfang und Verbreitung der Partizipationsformen „Kontaktieren“ und „Parteiaktivitäten“ ins Auge fassen. Dagegen sind Protestaktivitäten – wie übrigens auch die Wahlbeteiligung – in Deutschland beliebter als in manch anderen Ländern. Wie bereits erwähnt, ist die Konsumentenbeteiligung in Westdeutschland ebenfalls relativ umfangreich. Insgesamt bietet die Betrachtung von Umfang und Verbreitung der verschiedenen Formen politischer Partizipation in Europa ein recht mannigfaltiges Bild, wobei Deutschland keine auffallende Position einnimmt.
10 Siehe für Überblicke der empirischen Ergebnisse bezüglich Umfang und Verbreitung politischer Partizipation in Deutschland: van Deth (2001), Gabriel (2005), Gabriel/Völkl (2005), Neller/van Deth (2006) sowie die in diesen Veröffentlichungen angegebene Literatur.
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Tabelle 2: Politische Partizipation in Europa 1999-2001 (Mittelwerte und Wahlbeteiligungsrate) Kontaktieren
Parteiaktivitäten
Protestaktivitäten
Konsumentenbeteiligung
Wählen
Dänemark
0,16
0,04
0,04
0,32
0,86
Westdeutschland
0,11
0,02
0,05
0,30
0,83
Schweden
0,14
0,04
0,02
0,40
0,80
Ostdeutschland
0,10
0,03
0,06
0,21
0,80
Norwegen
0,20
0,05
0,05
0,44
0,78
Niederlande
0,21
0,03
0,03
0,40
0,73
Slowenien
0,07
0,02
0,03
0,17
0,70
Spanien
0,12
0,02
0,08
0,17
0,69
Moldawien
0,07
0,02
0,05
0,06
0,68
Romänien
0,05
0,02
0,04
0,08
0,65
Portugal
0,10
0,02
0,03
0,11
0,62
Russland
0,04
0,01
0,01
0,05
0,61
Schweiz
0,15
0,06
0,03
0,36
0,43
Quelle: Citizenship, Involvement, Democracy Project. Alle Angaben sind Mittelwerte der verschiedenen Partizipationsindices (mit einem Bereich von 0 bis 1). Für Wahlen ist die Beteiligung in Form von amtlichen Beteiligungsraten angegeben. Gewichtete Ergebnisse. Siehe: Toerell/Torcal/Montero (2007: 349).
4
Zur Erklärung politischer Partizipation
Die Frage nach der Erklärung politischer Partizipation hat viele Forscher seit langem beschäftigt, trotzdem ist sie auch heutzutage nicht einfach zu beantworten. Die wichtigsten Gründe für den Mangel an allgemeinen Erklärungen sind die große Vielfalt an Formen politischer Partizipation und die sehr unterschiedlichen Ziele und Zwecke, welche die Beteiligten anstreben. Warum sollten eine Stimme für eine Regierungspartei, die Organisation einer Diskussionsrunde über Bildungschancen oder das Tragen eines Abzeichens gegen eine neue Umgehungsstraße alle von den gleichen Faktoren determiniert werden? Selbstverständlich sind die Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Theorien und die konkrete Frage nach der Erklärung politischer Beteiligung wichtige Aspekte der politischen Partizipationsforschung. Von Anfang an war dabei klar, dass die Beteiligung von situativen Elementen wie mobilisierenden Ereignissen und Konflikten, Gruppeneinbindungen und institutionellen Rahmenbedingungen abhängig ist. Wo es zum Beispiel keine Betriebsschließungen gibt, kann man dagegen auch nicht demonstrieren. Ebenso können sich Bürger nur in Ländern, in denen es Volksbegehren gibt, auch an solchen Entscheidungsprozessen beteiligen. Die Partizipationsforschung hat diese situativen und kontextuellen Faktoren zusammengefasst unter dem Begriff „Political Opportunity Structure“ (POS) der im Rahmen der so genannten „Synthetic Political Opportunity Theory“ (SPOT) ausgearbeitet worden ist (Lichbach 1997;
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Tarrow 1994). Diese Theorie beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen und politischen Möglichkeiten, Anreizen und Herausforderungen, die in bestimmten Situationen Bürger dazu aktivieren oder es ihnen möglich machen, sich an der Politik zu beteiligen (wie zum Beispiel Verfassungsregelungen, politisierte Spaltungslinien oder politische Ereignisse). Sidney Tarrow (1994: 85) hat die POS genau beschrieben: „By political opportunity structure, I mean consistent – but not necessarily formal or permanent – dimensions of the political environment that provide incentives for people to undertake collective action by affecting their expectations for success or failure.” Trotz ihrer intuitiven Plausibilität kann die SPOT nur wenige konkrete Forschungserfolge nachweisen.11 Auch deswegen liegt der Schwerpunkt von Erklärungen politischer Beteiligung nicht bei Möglichkeiten, Anreizen und Herausforderungen („incentives“) sondern bei den Merkmalen einzelner Bürger und ihrer mikro-theoretischen Kontexte („resources“). Manche empirischen Befunde deuten darauf hin, dass die individuelle Ressourcenausstattung – Schulbildung, Einkommen, gesellschaftliche Position – die Chancen für politische Partizipation einzelner Bürger maßgeblich bestimmt. Die Relevanz individueller Ressourcen ist nicht nur für konventionelle Aktivitäten wie Wahlbeteiligung oder Mitarbeit in einer politischen Partei empirisch belegt worden; auch für Protestaktivitäten oder ehrenamtliche Tätigkeiten wurde dieser Zusammenhang immer wieder bestätigt (Barnes/Kaase et al. 1979; Verba/Schlozman/ Brady 1995; van Deth 1997a; Norris 2002; Lippert 2002). Es sind eindeutig die höher gebildeten, zu den höheren Einkommensgruppen und Schichten gehörenden männlichen Bürger, die überdurchschnittlich partizipieren (Millbrath 1965; Verba/Nie 1972; Verba/Schlozman/Brady 1995; Dalton 2002). Erst in den 1990er Jahren ist dieses so genannte „sozio-ökonomische Standardmodell politischer Partizipation“ (SES-Modell) kritisch überprüft und von Verba und seinen Mitarbeitern zu einem so genannten „Civic Voluntarism Model“ weiter entwickelt worden (Verba/Schlozman/Brady 1995). Dabei haben die Autoren insbesondere versucht, die theoretische Erklärungskraft des SES-Modells zu verbessern. Zwar belegen empirische Studien ausnahmslos, dass individuelle Ressourcen deutlich mit politischer Partizipation korreliert sind. Unklar ist dabei allerdings häufig, weshalb das der Fall ist. Das „Civic Voluntarism Model“ benennt Faktoren wie Motivation und soziale Kontakte als wichtige Konsequenzen der Ressourcenausstattung individueller Bürger, welche die Bereitschaft, politisch zu partizipieren, letztendlich bestimmen. Die empirischen Studien von Verba und seinen Mitarbeiter belegen die Überlegenheit des neuen Models eindeutig. Neben der individuellen Ressourcenausstattung ist die politische Orientierung der Menschen relevant für die Erklärung politischer Partizipation. Bürger, die sich selbst eher im linken Teil einer Links-Rechts-Skala einordnen, interessieren sich im Allgemeinen mehr für soziale und politische Veränderungen als andere Bürger. Dieses Interesse an Änderungen führt manchmal auch zu einer stärkeren Beteiligung an politischen Aktivitäten (Inglehart 1977: 293ff). Einen weiteren Erklärungsfaktor bildet das Gefühl, mit seinen Aktivitäten etwas erreichen zu können (siehe Kasten 3). Bürger, die über mehr politisches Selbstvertrauen („efficacy“) verfügen, schätzen ihre eigenen, tatsächlichen Einflussmöglichkeiten höher ein („internal efficacy“) und betrachten das politische System als zugänglicher für die eigenen 11 Siehe für erfolgreiche Anwendungen zum Beispiel Kriesi et al. (1995) oder Bühlmann (2006) für den Einfluss lokaler Kontexte. Einen kritischen Überblick und alternative Anwendungen bietet Nam (2007: 101-102).
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Aktivitäten („external efficacy“). Bürger mit einem hohes Niveau politischen Selbstvertrauens beteiligen sich eher als Bürger mit einem niedriges Niveau (Milbrath/Goel 1977; Verba/Schlozman/Brady 1995). Kasten 3:
Das Begriff politisches Selbstvertrauen („political efficacy“)
„Political efficacy is the feeling that one is capable of influencing the public decision-making process. When a person believes that he can influence government officials or public issues, he is said to be subjectively efficacious or competent. The political efficacy concept also appears under such guises as ‘political competence’, ‘civic competence and ‘citizens efficacy’ and inversely as ‘political incapability, ‘political futility’, and ‚political powerlessness’“ (Milbrath/Goel 1977: 57).
Kontexte, Ressourcenausstattung und politische Orientierungen bieten zusammen befriedigende Erklärungen für die politische Partizipation einzelner Bürger. Bemerkenswerterweise sind evidente soziale und politische Benachteiligungen – oder die damit zusammenhängende Unzufriedenheit und Frustration – bedeutend weniger relevant für politische Beteiligung als dies in manchen Kneipengesprächen unterstellt wird. Es sind eindeutig nicht die Opfer gesellschaftlicher Prozesse oder gesellschaftliche Randgruppen, die sich überdurchschnittlich stark politisch beteiligen, um ihre Interessen zu vertreten oder Aufmerksamkeit auf ihre Situation zu lenken.12 Im Gegenteil: Unter dem Blickwinkel der demokratischen Grundregel der politischen Gleichheit zeigt die empirische Partizipationsforschung erhebliche und konsistente Verzerrungen. Weder die allgemeine Erhöhung des Bildungsniveaus oder die Verbreitung der Massenmedien, noch der Anstieg des Wohlstandes in manchen Ländern haben zu einer gleichen Beteiligung aller Bürger geführt. Stattdessen hat die empirische Partizipationsforschung immer wieder festgestellt, dass für alle Formen politischer Beteiligung eine selektive Rekrutierung der ressourcenstarken Teile der Bevölkerung erfolgt. Wissenschaftler wie Arend Lijphart (1997) haben auf Basis dieser Ergebnisse die (Wieder-)Einführung einer allgemeinen Wahlpflicht gefordert.13 Eine derartige Pflicht würde dazuführen, dass in dem Wahlergebnis die Interessen der Gesamtbevölkerung zum Ausdruck kommen und nicht nur die Standpunkte der Beteiligten. Somit führt soziale Ungleichheit nicht zu politischer Ungleichheit und es wird vermieden, dass politische Ungleichheit soziale Ungleichheit verstärkt. Dagegen weisen Kritiker einer Pflicht auf das „Recht auf Apathie“ hin: zum Wesen der Demokratie gehört, dass Bürger selbst über ihre Beteiligung entscheiden – inklusive der Frage, ob sie sich überhaupt beteiligen wollen. Außerdem betrifft die selektive Rekrutierung nicht nur das Wählen, sondern auch andere Formen politischer Partizipation: „The growing political skills and resources of contemporary electorates have had a more noticeable impact on increasing participation in areas in which activity is citizen initiated, less structured and more policy oriented” (Dalton 2002: 56).
12 Der Klubvorsitzende der SPÖ Wien fängt einen Aufsatz mit einem bemerkenswerten Satz an, der eindeutig nicht auf dem Ergebnis empirischer Forschung beruht: „Das Ausmaß der Mitwirkung und Partizipation steht und fällt mit dem Ausmaß der persönlichen Betroffenheit“ (Oxonitsch 2002: 77). 13 Siehe für ausführliche Diskussionen und empirische Ergebnisse über die Effekte von Wahlpflicht Engelen (2007).
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Diese Verletzung der demokratischen Grundregel der politischen Gleichheit führt zu der Durchsetzung nicht-repräsentativer politischer Interessen und gefährdet auf Dauer die Lebenschancen der Demokratie. Verba und seine Mitarbeiter haben diese Ungleichheit auf den Punkt gebracht mit ihrer Antwort auf die Frage, warum Bürger sich nicht an Politik beteiligen: weil „they can’t“, weil „they don’t want to“ und weil „nobody asked“ (Verba/Schlozman/Brady 1995: 16). Wenn Ressourcen wie Zeit, Geld oder Kompetenzen fehlen, wenn man keine Gründe für eine Teilnahme sieht, die Erfolgschancen als gering eingeschätzt werden und es an Anreizen im Bekannten-, Freundes- oder Kollegenkreis mangelt, dann ist es nicht wahrscheinlich, dass man politisch partizipiert. Solange Ressourcen, Absichten und Anreize ungleich verteilt sind, wird auch die politische Beteiligung ungleich verteilt sein.
5
Ausblick
In einer lebensfähigen Demokratie erfinden Bürger immer neue Formen politischer Partizipation. Diese Entwicklung wird sich auch in Zukunft weiter durchsetzen. Gleichzeitig ist jedoch nicht zu erwarten, dass große Gruppen der Bevölkerung, die sich bis heute kaum an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt haben, in Zukunft einfach zu mobilisieren sein werden. Trotz des wachsenden Repertoires an Beteiligungsformen bleibt die soziale und politische Ungleichheit deutlich bestehen und verlieren insbesondere konventionelle Partizipationsformen rapide ihren Sonderstatus als „eigentliche“ politische Aktivitäten. Stattdessen wählen dauerhaft mehr Bürger einen Mix von Beteiligungsformen, angepasst an ihre eigenen Bedürfnisse und spezifischen Lebenssituationen. Politische Partizipation verliert damit ihren typischen Charakter als kollektives, auf den Staat gerichtetes Handeln und enthält immer mehr Aktivitäten, die à la carte ausgesucht werden. Aber nicht nur der Einsatz von institutionellen und konventionellen Partizipationsformen macht es offensichtlich immer schwieriger, bestimmte Ziele zu erreichen. Auch Demonstrationen, Boykotte oder Verkehrsblockaden erfahren eine allmähliche Gewöhnung und Routinisierung. Das führt dazu, dass Aktionen immer spektakulärer sein müssen, um überhaupt noch Aufmerksamkeit erzeugen zu können. Derartige Aktionen sind meistens mit viel organisatorischem Aufwand verbunden und auch nicht immer ungefährlich. Folglich ist es immer schwieriger, Bürger für diese außergewöhnlichen Aktivitäten zu gewinnen und die Teilnahme beschränkt sich daher auf dauerhaft motivierte Aktivisten und Professionals. Manche unkonventionellen Aktivitäten sind mittlerweile professionalisiert und kommerzialisiert. Grant Jordan and William Maloney (1997) sprechen im Bereich der Neuen Sozialen Bewegungen sogar von einem „Protest Business“, das seine Aktionen auf Basis moderner Marketingkonzepte und -strategien vorbereitet und leitet. Auch in Deutschland setzt sich die Kommerzialisierung der politischen Beteiligung durch und man kann Demonstranten „mieten“, um schnell und effektiv auf bestimmte Pläne und Maßnahmen zu reagieren (siehe Kasten 4).
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Kasten 4:
Jan W. van Deth Demonstranten mit Traummaßen. Ein Internet-Service sorgt für Beteiligung an Protestmärschen
Kilometer lange Protestzüge durch abgesperrte Straßen, Transparente, Parolen – solche Bilder werden immer seltener. Stattdessen werden Demonstrationen heutzutage regelmäßig zur Zitterpartie für die Veranstalter. [...] In dieser Not naht Hilfe aus dem Internet, in Form einer vielversprechenden Geschäftsidee: Der virtuelle Marktplatz Erento vermittelt inzwischen nicht mehr nur Büromöbel, Computer oder Lastwagenfahrer, sondern hält seit neuestem auch Miet-Demonstranten bereit. Und zwar nicht irgendwelche: Das sind Protestwillige mit Traummaßen. Rund 280 Einträge zählt die Rubrik im Internet schon nach wenigen Tagen – Foto, Körpergroße und Brustumfang inklusive. Wer will, kann also für den nächsten Protestmarsch gegen die Willkür des Staates oder gegen die soziale Ungerechtigkeit für eine Tagespauschale von 145 Euro Marko anheuern. [...] Kein Wunder also, dass bei diesem Angebot die eine oder andere Vereinigung schwach wird und elementare Grundsätze wie Meinungsfreiheit oder soziales Bürgerengagement an Bedeutung verlieren. Gleich mehrere Verbände, so hört man, sollen sich nach dem Service erkundigt haben. Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Januar 2007.
Mit dem allmählichen Verschwinden des Monopols der institutionellen und konventionellen Partizipationsformen rücken deliberative Überlegungen gegenüber entscheidungstheoretischen Ansätzen immer mehr in den Vordergrund. Die Entwicklung neuer Formen politischer Beteiligung ist von verstärkter Aufmerksamkeit für solche Beteiligungsformen gekennzeichnet, welche die Kontakte zwischen Experten und Bürgern verbessern sollen und den Bürger gleichzeitig als Experten betrachten (z.B. Martinsen 2006). Beispiele hierfür sind „Konsensus-Konferenzen“ (z.B. Abels 2006) oder so genannte „Deliberative Opinion Polls“ (z.B. Zittel 2004: 59). Derartig neue Formen politischer Partizipation versuchen, die Bürger von Anfang an mit einzubeziehen und legen großen Wert auf den Austausch von Argumenten zwischen den verschiedenen Beteiligten. Sie betrachten den Prozess an sich – und nicht nur das Ergebnis – als entscheidend für die Qualität von Partizipation und Demokratie. Dagegen erwarten entscheidungstheoretische Ansätze eher eine größere Beteiligung durch den Einsatz von modernen Kommunikationsmitteln wie Internet, E-Mail und Mobilfunk. Diese Techniken senken die Informations- und Beteiligungskosten für alle Teilnehmer erheblich. Erfahrungen mit diesen neuen Techniken zeigen allerdings weder eine bemerkenswerte Zunahme der Beteiligung noch eine starke Erweiterung des Partizipantenkreises.14 Aufgrund der engen Verknüpfung von Demokratie und Partizipation ist die kontinuierliche Erweiterung des Repertoires politischer Beteiligung – trotz der beständigen sozialen und politischen Ungleichheit – sicherlich als eine Stärkung der Demokratie zu betrachten. Überdies müssen eine Stabilisierung oder vielleicht sogar ein Rückgang des Niveaus politischer Beteiligung nicht unbedingt als schädlich für die Demokratie interpretiert werden. Wachsender Wohlstand und höhere Ausbildung haben offensichtlich dazu beigetragen, dass die Politik nicht mehr als notwendiger Teil sozialer Konflikte gesehen wird und der Bürger sich deswegen verstärkt anderen Beschäftigungen zuwenden kann. Außerdem kann man einen Mangel an Partizipation in modernen Gesellschaften auch dem Erfolg traditio14 Über den Einfluss neuer Medien auf politische Partizipation gibt es überwiegend skeptische Forschungsergebnisse (Emmer 2005). Zudem existieren Befunde, die darüber hinaus auf die durch das Internet veränderten Kommunikationsformen der Bürger hinweisen (Emmer/Vowe 2004).
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neller Politik zurechnen – und nicht den Niederlagen, der Inkompetenz, der Unfähigkeit, der Entfremdung oder der Frustration durch die Politik. Die Politik hat das Leben vieler Bürger in den letzten Jahrzehnten erheblich leichter und sicherer gemacht. Gerade weil die Politik so erfolgreich war, können sich die Bürger den erfreulicheren Dingen des Lebens widmen (van Deth 2000). Im Hinblick auf diese Entwicklungen kann man Morris Fiorina (1999: 415-416) nur zustimmen, dass „… contrary to the suggestions of pundits and philosophers, there is nothing wrong with those who do not participate, there is something unusual about those who do“.
Empfehlungen für weiterführende Literatur: Fahmy, Edlin, 2006: Young Citizens. Young People’s Involvement in Politics and Decision Making, Aldershot: Ashgate. Gerhardt, Volker, 2007: Partizipation. Das Prinzip der Politik, München: Beck. Mutz, Diana C., 2006: Hearing the Other Side. Deliberative versus Participatory Democracy, Cambridge: Cambridge University Press. Pattie, Charles/Seyd, Patrick/Whiteley, Paul, 2004: Citizenship in Britain. Values, Participation and Democracy, Cambridge: Cambridge University Press. van Deth, Jan W./Montero, José Ramón/Westholm, Anders (Hrsg.), 2007: Citizenship and Involvement in European Democracies: A Comparative Analysis, London: Routledge. Verba, Sidney/Schlozman, Kay L./Brady, Henry E., 1995: Voice and Equality. Civic Voluntarism in American Politics, Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
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Politische Partizipation
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Jan W. van Deth
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Testfragen 1. 2.
3. 4.
5. 6. 7.
8.
9.
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Welche Argumente gibt es für eine enge Verknüpfung der Begriffe Demokratie und Partizipation? Gehört das Recht auf Nicht-Beteiligung nicht auch zu den demokratischen Rechten der Bürger? Präsentieren Sie die verschiedenen Varianten der so genannten „partizipatorischen Demokratietheorien“ auf systematische Weise. Diskutieren Sie anschließend die Frage nach dem normativen bzw. empirischen Charakter dieser Varianten. Wie sehen die zentralen Veränderungen im Partizipationsverhalten (Repertoire und Umfang) der Bürger aus? Welches sind die wichtigsten Ansätze zur Erklärung dieser Änderungen? Mit welchen empirischen Instrumenten und Konzepten wird politische Partizipation gemessen? Welche Komplikationen gibt es, wenn man die Messung von Wahlbeteiligung mit der Messung andere Formen politischer Partizipation vergleichen möchte? Welche Ähnlichkeiten und Differenzen gibt es zwischen der politischen Partizipation in Ost- und Westdeutschland? Wie kann man diese Ähnlichkeiten und Differenzen erklären? Präsentieren Sie Argumente für und gegen die Benutzung des Begriffes „political opportunity structure“ zur Erklärung politischer Partizipation. Welche Gründe gibt es, um die faktisch ungleiche politische Beteiligung als eine Verletzung der demokratischen Gleichheitsregel zu betrachten, obwohl jeder Bürger die gleiche Möglichkeit hat zu partizipieren? Welche Dimensionen umfasst die Typologie der Formen politischer Partizipation von Teorell, Torcal und Montero? Nennen Sie für jeden Typ mehrere Beispiele. Welchen Vorteil bietet diese Typologie im Vergleich zu älteren Typologien? Was versteht man in der Partizipationsforschung unter „Ressourcen“? Nennen Sie einige Beispiele und erläutern Sie, auf welche(n) Weise(n) diese Ressourcen politische Partizipation sowohl positiv als negativ beeinflussen können? Welche Vor- und Nachteile haben eine „Kommerzialisierung“ der politischen Beteiligung und eines Anstiegs des „Protest Business“ für die Demokratie beziehungsweise für die einzelnen Bürger?
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Politische Partizipation http://www.jdsurvey.net/web/evs1.htm http://www.politikon.org/ilias2/course.php?co_id=64&co_inst=935 http://www.sam.kau.se/stv/participation/home/index.htm
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Soziale Partizipation und Soziales Kapital Sigrid Roßteutscher
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Soziale Partizipation: ein Dauerbrenner
Der Begriff der sozialen Partizipation meint die Unzahl der Beteiligungsmöglichkeiten, die sich dem Individuum in verschiedensten Gruppen der Gesellschaft bieten: dem Fußballverein, der Sängervereinigung, der Selbsthilfegruppe oder der Wohlfahrtsorganisation. Soziale Partizipation reicht immer über rein private Belange hinaus. Wer sich für seine Familie oder Freunde engagiert, mag ein hilfsbereiter, hoch angesehener Mensch sein, sozial engagiert ist er oder sie deswegen noch nicht. Soziale Partizipation meint zudem Beteiligungsformen, die sich entweder an Kollektive richten (Ehrenamtliche beim Betrieb einer Suppenküche) und/oder direkt im Verbund, sozusagen kollektiv, ausgeübt werden (als Mitglied der Bahnhofsmission, die eine Suppenküche betreibt). Soziale Partizipation unterscheidet sich schließlich von politischer Partizipation, die explizit die Beeinflussung von Entscheidungen oder Entscheidungsträgern auf unterschiedlichen politischen Ebenen zum Ziel hat (ausführlich hierzu siehe den Beitrag von Jan van Deth in diesem Band). Soziale Partizipation ist somit ein Sammelbegriff für eine Beteiligungsform, die in der Regel öffentliches, kollektives Handeln ohne direkte politische Motivation beschreibt, aber immer über die private Sphäre hinausreicht. Schon wenige Beispiele verdeutlichen, dass soziale Partizipation ein Massenphänomen ist. Allein der Deutsche Fußball-Bund (DFB) besitzt beinahe 6,5 Millionen Mitglieder und 180.000 Fußballmannschaften deutschlandweit (www.dfb.de); knapp 500.000 Menschen sind ehrenamtlich im katholischen Wohlfahrtsverband der Caritas aktiv (www.caritas.de). Nimmt man das Vereinswesen als Plattform sozialer Partizipation zum Ausgangspunkt, so kamen Untersuchungen aus den 1990er Jahren zu dem Ergebnis, dass es in West-Deutschland circa 240.000 bis 300.000 Vereine gibt (Sahner 1993: 63). Dies entspricht einer Quote von einem Verein pro 200-350 Einwohner (siehe Zimmer 1996: 93f für detaillierte Angaben). Jüngere, international vergleichende Vereins- und Partizipationsstudien kommen zu weit beeindruckenderen Zahlen (vgl. Maloney/Roßteutscher 2007a). Für die Studie wurde das gesamte freie Assoziationswesen (eingetragene Vereine, nicht eingetragene Vereine, Netzwerke, etc.) in insgesamt 26 europäischen Kommunen unterschiedlicher Größe erfasst. Darunter waren neun spanische Gemeinden, je drei west- und ostdeutsche Kommunen, acht schweizerische Gemeinden sowie je eine mittlere Großstadt in Dänemark, den Niederlanden und Schottland. Für die städtischen Gemeinden mit Einwohnerzahlen zwischen 150.000 und 300.000 Einwohnern ergaben sich Assoziationsdichten von fast 16 Vereinen pro 1.000 Einwohner beim westdeutschen Spitzenreiter Mannheim (dies entspricht einer Quote von einem Verein pro 65 Einwohner) bis zum spanischen Schlusslicht Sabadell, wo die Vereinsdichte nur den Wert 6 erreicht, sich also 164 Einwohner einen Verein „teilen“ (Maloney/
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Sigrid Roßteutscher
Roßteutscher 2007b: 41). Diese Vereine haben Mitgliederzahlen, die von 138 (im schottischen Aberdeen) bis zu durchschnittlich 206 (im schweizerischen Bern) reichen. Zwischen 66 Mitglieder in Mannheim und 111 in Bern sind auch regelmäßig in ihrem Verein aktiv; auf durchschnittlich 34 Ehrenamtliche kann ein Verein in Aberdeen zählen, in Sabadell sinken die Zahlen auf 14 Ehrenamtliche pro Verein (Maloney/Roßteutscher 2007b: 43). Für Ostdeutschland muss man auch noch mehr als 10 Jahre nach der Wende von einer unterentwickelten Zivilgesellschaft sprechen. In Chemnitz kommen nur fünf Vereine mit durchschnittlich 98 Mitgliedern auf 1.000 Einwohner (im Vergleich zu Mannheim mit einer Vereinsdichte von 16 Vereinen auf 1.000 Einwohner mit einer durchschnittlichen Zahl von 144 Mitgliedern) (Baglioni et al. 2007: 235ff). Rechnet man diese Durchschnittszahlen auf die Gesamtzahl der lokal aktiven Vereine hoch, so ergeben sich für fast alle europäischen Gemeinden eindrucksvolle Schätzwerte: In Aalborg, Mannheim und Bern ist jeder Einwohner Mitglied in mindestens 2 Vereinen. Selbst in Kommunen mit schwächerer zivilgesellschaftlicher Struktur wie im spanischen Sabadell, im schottischen Aberdeen oder in der niederländischen Stadt Enschede akkumulieren Bürger mindestens eine, im Fall Enschedes im Schnitt 1,5 Mitgliedschaften (Maloney/Roßteutscher 2007b: 48). Nur Ostdeutschland fällt erneut aus dem Rahmen: für Chemnitz, aber auch für die beiden ebenfalls untersuchten kleineren Gemeinden (Limbach-Oberfrohna und Bobritzsch) ergeben sich Beteiligungswerte, die weit unter dem vergleichbarer europäischer Kommunen liegen: nur circa die Hälfte der Einwohnerschaft ist in Vereinen assoziiert (Baglioni et al. 2007: 240). Die Schätzwerte für eine aktive Mitgliedschaft, die über die regelmäßige Beitragszahlung hinausgeht, liegen natürlich nicht ganz so hoch, sind aber immer noch beeindruckend: So sind 100 Prozent der Mannheimer auch zumindest in einem Verein aktiv, 27 Prozent leisten regelmäßig ehrenamtliche Arbeit (Maloney/Roßteutscher 2007b: 48). Soziale Beteiligung ist ein Massenphänomen. Politische Beteiligung, die Essenz demokratischen Regierens, ist das nicht. Sieht man von dem selten ausgeübten Akt des Wählens ab, so bewegen wir uns nicht nur in Deutschland regelmäßig im einstelligen Prozentbereich (Gabriel 2004: 321; Teorell et al. 2007; 338-339; siehe auch van Deth in diesem Band). Kein Wunder, dass Sozialwissenschaftler soziale Partizipation schon lange zum unverzichtbaren Grundstock demokratischer Systeme erklärten. Vereine liefern ein enormes Mobilisierungspotential, eine Armee sozial integrierter Individuen, die quasi nebenbei im Einmaleins demokratischen Handelns geschult werden – ganz im Sinne von de Tocquevilles Vorstellung von freiwilligen unpolitischen Assoziationen als effiziente „Schulen der Demokratie“ (1835/ 1998). Auch Politiker haben den Segen der Vereinswelt schon lange registriert. Das wohl berühmteste Beispiel reicht mit James Madison bis in die Gründerjahre der Vereinigten Staaten von Amerika zurück. Madison, der durchaus die potentiell konfliktträchtige Natur des Assoziationswesens erkannte, empfahl als Kur der „mischief of factions“ eine Vervielfältigung des Assoziationswesens, um jegliche Interessen vertreten zu sehen (Madison 1787/2003: 70). Bis heute sind Bekenntnisse zur Förderung und Wertschätzung sozialer Partizipation und zivilgesellschaftlicher Strukturen auf den homepages von internationalen Organisationen wie der UNESCO, den Vereinten Nationen, der Weltbank, aber auch aller im deutschen Bundestag vertretenen politischen Parteien zu finden. Die Autoren der „Civic Culture“ Studie, die in den 1950er Jahren demokratische Einstellungen und Bürgertugenden in fünf Nationen vergleichend untersuchten, nannten soziale Partizipation „the most impor-
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tant foundation“ der Demokratie (Almond/Verba 1963: 320). Zwar durchliefen wissenschaftliche und öffentliche Debatten um die demokratischen und gesellschaftlichen Segnungen über die Jahrhunderte seltsame Moden mit fast hysterischen Ausschlägen, die nicht selten mit einer Krisenwahrnehmung der Demokratie korrelierten (vgl. Roßteutscher 2005: 4ff). Dennoch blieb die Wertschätzung sozialer Partizipation eine Konstante der Auseinandersetzung. Warum ist das so? Drei „Leistungen“ der Assoziationen sind hier an vorderster Front zu nennen: Vermittlung von grundlegenden sozialen Kompetenzen („skills“), Vermittlung demokratischer Werte und Normen sowie politische Mobilisierung.
1.1 Soziale Partizipation und die Vermittlung sozialer Kompetenzen Menschen, die im Verein tätig sind, werden ganz natürlich gewisse kommunikative und soziale Fähigkeiten erlernen: sie müssen mit ihren Co-Mitgliedern Beschlüsse aushandeln, in der Gruppe kommunizieren und diskutieren, Veranstaltungen vorbereiten, mit anderen Vereinen und Unternehmen (die vielleicht Getränke für das jährliche Vereinsfest liefern) verhandeln, Briefe schreiben, Versammlungen leiten, vor der größeren Gruppe reden und überzeugen. Diese „skills“ sind apolitischer Natur. Aber: sind solche Fähigkeiten und Kompetenzen erst einmal erworben, lassen sie sich jederzeit in politisches Kapital umwidmen. Politische Beteiligung setzt genau jene skills voraus (genauer: es macht politische Partizipation erfolgreicher und effizienter, wenn solche Fähigkeiten in größerem Ausmaß eingesetzt werden können), welche die unpolitische Welt der freiwilligen Assoziationen nebenbei produziert. Im Modell des Civic Voluntarism von Verba, Schlozman und Brady nehmen solche skills folgerichtig einen zentralen Stellenwert ein: „These civic skills are, thus, developed in the course of activities that have nothing to do with politics: making a presentation to a client, organizing a celebrity auction for a charity, or editing the church’s monthly newsletter. Once honed, however, they are part of the arsenal of resources that can be devoted, if the individual wishes, to politics“ (Verba et al. 1995: 331).
Warren fasst diese Kompetenzschulung unter dem Stichwort „developmental effects on individuals“ zusammen und meint damit so unterschiedliche Aspekte wie die Erfahrung von efficacy, d.h. die Erfahrung, dass eigenes Handeln einen Unterschied machen kann, Informationsgewinnung, die durch die Einbindung in assoziative Netze und damit einhergehende zwischenmenschliche und organisatorische Kontakte erhöht wird sowie die Bildung ziviler Tugenden (civic virtues), Werte und Grundeinstellungen, die demokratisches Verhalten bedingen (Warren 2001: 70-75). Zentrale Leistung des Vereinswesens sind aber auch für Warren so genannte Kompetenzgewinne. Er unterscheidet zwischen „political skills“ wie Reden halten, vor der Gruppe präsentieren, Koalitionen schmieden, verhandeln (Warren 2001: 72) und „critical skills“ wie die Fähigkeit, Meinungen auszutauschen, andere Meinungen zu respektieren, eigene und die Interessen anderer zu erkennen, autonom zu entscheiden (Warren 2001: 75-76). Natürlich werden solche Kompetenzen auch in der Schule, an der Universität oder am Arbeitsplatz erworben. Bildungsinstitutionen und Arbeits-
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Sigrid Roßteutscher
märkte sind allerdings im Vergleich zum Vereinswesen sehr viel stärker sozial stratifiziert. Während eine umfassende Kompetenzschulung eher höher Gebildeten und Personen in autonomen und höherwertigen Arbeitsverhältnissen zu Gute kommt, steht das Vereinswesen prinzipiell allen Schichten und sozialen Gruppierungen offen: Hier sind die Verknüpfungen zwischen Einkommen, Bildung und Status einerseits und der Gelegenheit zur Kompetenzschulung andererseits daher deutlich schwächer ausgeprägt als auf dem Arbeitsmarkt, wo „those who are otherwise disadvantaged are likely to be in the kinds of jobs that provide few chances for skill development“ (Verba et al. 1995: 320).
1.2 Soziale Partizipation und die Vermittlung demokratischer Werte und Normen Kommunikative und soziale Kompetenzen, die bei der sozialen Partizipation geschult werden, sind zunächst wertneutrale Fähigkeiten, die für politischen Aktivismus ganz unterschiedlicher Natur nutzbar gemacht werden könnten (Roßteutscher 2002). Wenn die soziale Partizipation eine demokratisierende, die Qualität des politischen Prozesses verbessernde Wirkung erzielen soll, müssen also neben der Erhöhung kommunikativer Fähigkeiten auch gewisse Werte, Normen und Tugenden kommuniziert werden, die demokratisches Verhalten sozialisieren bzw. die Neigung zu nicht-demokratischem, gesellschaftsschädlichem Verhalten minimieren. Eine lange Liste demokratieförderlicher Tugenden, die im Vereinswesen kultiviert werden, könnte hier genannt werden. Häufig Erwähnung finden Kollektivgutorientierung, Toleranz, soziales Vertrauen, Achtung vor rechtsstaatlichen Prinzipen und Beteiligungsbereitschaft (zusammenfassend Warren 2001: 73). Cohen und Rogers nennen Bürgertugenden im Sinne einer Entwicklung einer „civic consciousness“ als Grundlage jeder egalitären und deliberativen Gesellschaftsordnung. Soziale Partizipation, so ihr Argument, schule die Achtung vor den grundlegenden Normen des demokratischen Prozesses, stärke die Bereitschaft, sich diesen unterzuordnen und sie als unveränderliche Grundprinzipien sozialer Kooperation und politischer Diskurse zu betrachten (Cohen/Rogers 1995: 43-44). Bescheidenere und vielleicht auch realistischere Visionen beschränken die demokratische Leistung der Vereinswelt auf die Entwicklung und Aktivierung von Normen der Kooperation: „The chief and constant contribution of associations to moral development is cultivating the disposition to cooperate“ (Rosenblum 1998: 59).
Menschen, die in freiwilligen Vereinigungen partizipieren, so Rosenblum, erfahren Reziprozität als Resultat gegenseitiger, nicht enttäuschter Erwartungen. Solche Erfahrungen können den Keim der Generalisierbarkeit in sich tragen und so zur Entwicklung demokratischer Tugenden führen.
Soziale Partizipation und Soziales Kapital
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1.3 Soziale Partizipation und politische Mobilisierung Wenn soziale Partizipation kommunikative und kooperative Fähigkeiten schult, die – obwohl an sich von unpolitischer Natur – Individuen und Gruppen zur politischen Teilhabe nutzbar machen können, ist es nicht mehr überraschend, dass empirische Untersuchungen immer wieder einen positiven Zusammenhang zwischen Vereinstätigkeit und politischer Beteiligung feststellten (vgl. z.B. Almond/Verba 1965; Verba et al. 1995; Gabriel et al. 2002; Armingeon 2007). Es gibt allerdings eine alternative Erklärung für den Partizipationsvorsprung sozial engagierter Menschen: sie werden gefragt. In Verba, Schlozman und Bradys Partizipationsmodell ist die direkte Rekrutierung eine von drei zentralen Erklärungskräften politischer Beteilung. Menschen beteiligen sich nicht, formulieren sie, „because they can’t; because they don’t want; or because nobody asked“ (1995: 269). Vereine und Gruppen sind nicht zuletzt ein Lokus regelmäßiger Treffen, aus denen soziale Netzwerke entstehen (Huckfeldt/Sprague 1995). Tatsächlich finden Verba, Schlozman und Brady, dass Individuen, die sozial engagiert sind, häufiger überredet werden, wählen zu gehen oder in irgendeiner Form politisch aktiv zu werden als Individuen, die nicht in Vereinen und Netzwerken gebunden sind (Verba et al. 1995: 373). Manchmal sind es auch nicht einzelne Mitglieder, die andere Mitglieder ihres Netzwerkes zur Partizipation anregen, sondern die Organisation selbst wird politisch aktiv und fordert ihre Mitglieder zur Unterstützung auf. Sogar die „unpolitischsten“ Organisationen werden in manchen Fällen zumindest zeitweise zu „parapolitical actors“ (Olsen 1972: 318). Ganz in diesem Sinne betont Putnam (1993: 90) die politische Natur von Sängerkreisen und „bird watching clubs“. Vereine werden zum Lobbyisten in eigener Sache, kontaktieren Politiker und Kommunalverwaltungen zur Unterstützung bei der Renovierung des Vereinslokals, des Trainingsgeländes oder der Anmietung öffentlicher Räume für gemeinnützige Zwecke. Daher: „every social organization will end up in the political decision-making process sometimes“ (van Deth 1996: 394). Verba et al. (1995: 144) untersuchen Rekrutierungserfolge von Anfragen am Arbeitsplatz, durch Nachbarn und Freunden im Vergleich zur Rekrutierung durch Vereine und kommen zu einem eindeutigen Ergebnis: „The organizational nexus, is however, by far the most important: fellow organization members are responsible for fully 48 percent of the requests“ (Verba et al. 1995: 144).
Tatsächlich hatten circa 70 Prozent aller untersuchten europäischen Vereine während eines Jahres zum Teil regelmäßige Kontakte mit Angestellten der Stadtverwaltung, dem Bürgermeister oder Dezernenten, Mitgliedern des Gemeinderats oder Mitgliedern lokaler Parteiorganisationen (Lelieveldt/Caiani 2007: 181).
1.4 Nicht alles glänzt ... Ein klassischer Befund der Partizipationsforschung ist, dass politische Beteiligungschancen sozial ungleich verteilt sind (zusammenfassend siehe z.B. van Deth 2003). Von der sozialen
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Sigrid Roßteutscher
Partizipation erhoffte man sich einen gewissen Ausgleich dieser sozialen Verzerrung. Die Realität ist allerdings weniger rosig. Empirisch erweist sich immer wieder, „that associational membership increases with socio-economic status, so that in aggregate, associations mirror existing injustices and may even multiply them” (Warren 2001: 73; Gabriel et al. 2002). Migranten und Ausländer sind aus der „einheimischen“ Vereinswelt fast völlig ausgeschlossen (Zimmer 1996: 69; Roßteutscher 2008: 398-401) – auch dies ein eher ernüchternder Befund. Wenn dies so ist, bleibt zwar unbestritten, dass soziale Partizipation politische Mobilisierungsleistungen erbringt und die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten der Aktiven schult. Zweifelhaft ist allerdings, ob soziale Partizipation tatsächlich sozial ausgleichend wirken kann und durch eine Verbreiterung des Beteiligungspotentials einen signifikanten Beitrag zum Abbau sozialer und politischer Ungleichheiten leistet. Auch ist nicht unbedingt ersichtlich, warum zivile Tugenden, demokratische Werte und Normen gerade bei der sozialen Partizipation entstehen sollten. Wenn Vereine und Netzwerke nicht-demokratische Zielsetzungen verfolgen, ist nahezu das Gegenteil zu erwarten. Daher ist Gutman sicher zuzustimmen, wenn sie folgert, dass nicht von jeder Assoziation zu erwarten sei, dass sie „even the most basic civic virtues“ kultiviere (Gutman 1998: 25). Auch Minimallösungen, wie die von Rosenblum, welche Kooperationsnormen in den Mittelpunkt stellen, führen hier zu keiner optimistischeren Sicht. Immerhin gibt es keine eindeutige Beziehung zwischen Kooperation einerseits und demokratischen, gesellschaftsförderlichen Verhaltensweisen andererseits: „Cooperation enables the worst as well as the best social actions“ (Rosenblum 1998: 61). Kooperationsfähigkeiten gehören zu den eher „technischen“ Kompetenzen, die wie soziale und kommunikative Kompetenzen unzweifelhaft durch Vereinsengagement gestärkt werden. Über ihre demokratische Substanz sagen solche Fähigkeiten allerdings nichts aus. Im Gegenteil: gerade in einer nicht-demokratischen, intoleranten Umwelt, die vor allem Normen der Intoleranz kommuniziert, mögen solche technischen, kommunikativen Kooperationskompetenzen wahrhaft undemokratische, gesellschaftsschädigende Wirkungen zeitigen (Roßteutscher 2002: 521). Wer würde behaupten wollen, dass Mitglieder des Ku Klux Klans, der Mafia, antidemokratischer Organisationen oder fundamentalistischer religiöser Vereinigungen über geringere Kommunikationskompetenzen verfügten als Mitglieder eines Fußball- oder Hobbyclubs?
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Soziales Kapital
1993 veröffentlichte Robert Putnam eine Studie zu „Making Democracy Work“. Putnam untersuchte die institutionelle Performanz nach einer Föderalismusreform im Italien der 1970er Jahre (Putnam 1993: 17ff). Er stellte fest, dass in (südlichen) Regionen, in denen wenige freiwillige Assoziationen aktiv sind und wo eine Kultur des Misstrauens vorherrscht, die Reform scheiterte. In Italiens nördlichen Regionen, die über eine assoziativ engagierte Bürgerschaft verfügten, konnten die neu geschaffenen Institutionen dagegen erfolgreich Fuß fassen und effizient handeln. In Putnams Worten: „Some regional governments have been consistently more successful than others – more efficient in their internal operations, more creative in their policy initiatives, more effective in implementing those initiatives“ (Putnam 1993: 81). Nicht Unterschiede in der ökonomischen Entwicklung, so zeigt Putnam empirisch,
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sind die Ursache dieses Nord-Süd Gefälles, sondern Unterschiede im Ausmaß und der Qualität der „civic community“ (Putnam 1993: 86ff, 157): zivilgesellschaftliche Partizipation, Werte der Solidarität, des Vertrauens und der Toleranz. Putnam fasst diese Kombination aus Vertrauen, Normen der Reziprozität und Netzwerken zivilen Engagements mit dem Begriff des Sozialen Kapitals. Wenig später übertrug er seine italienischen Befunde auf die USA und erklärte die aktuelle Malaise der amerikanischen Demokratie mit dem Schwund an Vereinsaktivitäten und Vertrauen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft (Putnam 1995a, 1995b). Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist das Konzept des Sozialen Kapitals in aller Munde und Inspiration vielfältigster empirischer Forschungsprojekte. Die enorme Erfolgsgeschichte des Sozialkapital-Konzepts à la Putnam ist einerseits überraschend, da keine der Ingredienzien wirklich neu ist: freie Assoziationen, Vertrauen und Kooperationsnormen sind beinahe seit Jahrhunderten als Basiselemente moderner Gesellschaftsordnungen (siehe oben unter 1) in der wissenschaftlichen Diskussion und zudem Standardindikatoren der politischen Kulturforschung, wie sie sich ausgehend von der Civc Culture Studie (Almond/Verba 1963) seit den 1950er Jahren entwickelte. Neu ist dagegen die systematische theoretische und empirische Verzahnung der Elemente sowie die konsequente Anwendung auf der Aggregat- oder Makroebene als Wesensmerkmale von Gesellschaften (s.u.). Andererseits ist die Durchschlagkraft des Sozialkapital-Konzepts auch erstaunlich, da bereits Pierre Bourdieu und James Coleman den Begriff des Sozialkapitals prägten, um soziales Handeln zu erklären. Beide Vorläufer operierten im Gegensatz zu Putnam allerdings fast ausschließlich auf der Mikroebene, versuchten also individuelles Handeln und nicht die Qualität oder Performanz von Gesellschaften und Regierungssystemen zu erklären.
2.1 Sozialkapital bei Bourdieu und Coleman Der französische Soziologe Pierre Bourdieu konzipierte Soziales Kapital als Teil der allgemeinen Kapitalausstattung von Individuen und Gruppen: Geldkapital (Finanzkapital), Humankapital und Sozialkapital: „Es ist nur möglich, der Struktur und dem Funktionieren der gesellschaftlichen Welt gerecht zu werden, wenn man den Begriff des Kapitals in allen seinen Erscheinungsformen einführt“ (Bourdieu 1983: 184). Bourdieus Vorstellung von Sozialkapital liegt sehr nahe am Alltagsverständnis: Sozialkapital ist „Vitamin B“, es sind die Beziehungen zu anderen, die einem im entscheidenden Moment die richtige Tür öffnen, den richtigen Job vermitteln und die richtigen Kontakte herstellen können. Daher ist Bourdieu auch der Theoretiker des Sozialkapitals, der am konsequentesten auf der Mikroebene operiert: Sozialkapital ist eine individuelle Ressource, die sein Besitzer zur Förderung seiner persönlichen Ziele einsetzen kann. Sozialkapital ist somit... „...die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen, gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ (Bourdieu 1983: 190).
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Die Qualität und der Umfang des sozialen Kapitals über das bestimmte Menschen und Personengruppen verfügen, hängt eng mit der Höhe des ökonomischen Kapitals und des kulturellen Kapitals, d.h. der Qualität der erworbenen Bildungstitel, zusammen. Es ist damit ein zentraler Baustein der Klassen- und Ungleichheitsstruktur einer Gesellschaft. Wer das eine hat, wird voraussichtlich auch über die anderen verfügen. Wem das eine fehlt, hat kaum eine Chance, mangelndes Kapital durch besondere Ausstattung mit alternativen Kapitalsorten zu kompensieren. Damit ist Sozialkapital ein immanentes Element der Klassenstruktur moderner Gesellschaften: „Dem Kapital wohnt eine Überlebenstendenz inne; es kann ebenso Profite produzieren wie sich selbst reproduzieren oder auch wachsen“ (Bourdieu 1983: 183). Bourdieu hat seinen Ansatz zu Sozialkapital in diesem einen Aufsatz vorgestellt. Dabei handelt es sich um eine Ausarbeitung und Differenzierung seines wenige Jahre zuvor erschienenen Hauptwerkes „Die feinen Unterschiede“ (1987, im französischen Original 1979 publiziert), das sich vor allem mit kulturellem Kapital und der Klassenreproduktion durch kulturelles Kapital und Habitus auseinandersetzt. Warum Bourdieu trotz der aktuellen Euphorie um Sozialkapital so selten (wenn überhaupt) wahrgenommen wird, liegt wohl an der engen Verknüpfung von Sozialkapital und sozialer Ungleichheit. Die (neo-) marxistische und daher sozial-kritische Betrachtungsweise passt nicht zu einem Zeitgeist, der Sozialkapital gerne als Lösung aller Übel moderner Gesellschaften betrachtet. Hier bieten sich die Ansätze von James Coleman und besonders von Robert Putnam eher an. Ähnlich wie Bourdieu versteht auch Coleman soziales Kapital als Handlungsressource. Coleman versucht dabei, zwei soziologische Paradigmen zu integrieren: ein allgemeines soziologische Paradigma, welches gesellschaftliches Handeln aus dem sozialen Kontext heraus erklärt und vor allem in der Sozialisation verinnerlichte Werte und Normen als handlungsleitend berücksichtigt; und ein aus der Ökonomie stammendes Rational-ChoiceParadigma, welches den individuellen Akteur als seine eigenen Interessen verfolgend versteht, wobei die Maximierung des eigenen Nutzens das generelle Handlungsprinzip darstellt. Sozialkapital ist kein Merkmal einzelner Individuen, sondern existiert nur in den Beziehungen zwischen Akteuren: „[…] Unlike other forms of capital, social capital inheres in the structure of relations between actors and among actors. It is not lodged either in the actors themselves or in physical implements of production“ (Coleman 1988: 98).
Soziales Kapital erleichtert demnach Handlungen und das Erreichen von Zielen auch individueller Akteure, ist aber keine Eigenschaft dieser Akteure selbst, sondern an soziale Beziehungen bzw. an soziale Kontexte gebunden. Er verdeutlicht seine Vorstellung am Beispiel von Schuldscheinen („credit slips“): Wenn Person A etwas für Person B tut und darauf vertraut, dass Person B dies in der Zukunft zurückzahlt, dann entsteht bei Person A eine Erwartung, bei B eine moralische Verpflichtung, quasi ein Schuldschein, den Person A von Person B einfordern kann. Sofern Person A von vielen Menschen derartige „Schuldscheine“ besitzt, stehen ihm diese als Ressourcenpool für die Zukunft zur Verfügung. Sozialkapital ist aber auch eine bedeutsame Form der Informationsgewinnung. Da die Beschaffung von Informationen häufig kostenin-
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tensiv bzw. zeitaufwendig ist, können Informationen, die man unbeabsichtigt, nebenbei durch Kontakte in sozialen Netzwerken erhält, ebenfalls eine wertvolle Handlungsressource darstellen, die in dieser Weise kostenfrei ausschließlich durch soziale Beziehungen bereitgestellt werden kann. Eine dritte Form sozialen Kapitals wird nach dem Konzept Colemans durch soziale Normen konstituiert. Normen der Selbstlosigkeit und Prosozialität erscheinen als besonders bedeutsam für die Überwindung des Kollektivgutproblems. Derartige Normen könnten sowohl internalisiert als auch durch externe Sanktionen gestützt sein. Zwar können laut Coleman alle sozialen Beziehungen der Entwicklung von sozialem Kapital förderlich sein, allerdings stellt er ein Merkmal von sozialen Strukturen als besonders günstig für die Genese und Vermehrung sozialen Kapitals heraus: die Geschlossenheit des sozialen Kontextes (social closure). Geschlossen ist ein sozialer Kontext, wenn jedes Mitglied mit jedem anderen direkt oder indirekt verknüpft ist. Die geschlossene Struktur erleichtert die Herausbildung gemeinschaftlicher Normen, da alle Kräfte gesammelt wirksam werden, potenziell jeder durch das Handeln der anderen betroffen ist, und Sanktionen jeden einschließen. Organisationsnetzwerke gelten als ideale Struktur für die Generierung und Pflege von sozialem Kapital. Gerade multiple sich überlappende Vernetzungen von Assoziationen erlauben zusätzlich die Bündelung oder den Austausch von Ressourcen.1
2.2 Sozialkapital bei Putnam Bei Putnam finden sich viele Berührungspunkte mit der Konzeption von Coleman. Putnam definiert Sozialkpaital als „[...] features of social organization, such as trust, norms, and networks, that can improve the efficiency of society by facilitating coordinated actions“ (Putnam 1993: 167). Wie andere Kapitalformen sei auch Sozialkapital produktiv, d.h. es lasse sich zur Lösung gesellschaftlicher Probleme in den unterschiedlichsten Bereichen verwenden. Soziale Integration, Gesundheit, Wohlfahrt oder erfolgreiche demokratische Institutionen sind – so die Annahme – mit Sozialkapital leichter und besser zu erreichen als ohne: Die Grundidee des Sozialkapitals besteht darin, dass Familie, Freunde und Bekannte einer Person einen wichtigen Wert darstellen, auf den man in Krisensituationen zurückgreifen kann, den man um seiner selbst willen genießen und zum materiellen Vorteil nutzen kann. Was für den Einzelnen gilt, gilt umso mehr auch für Gruppen. Mit einem vielschichtigen sozialen Netzwerk ausgestattete Gemeinschaften und bürgerschaftliche Vereinigungen haben Vorteile, wenn es darum geht, Armut und Verwundbarkeit zu begegnen, Konflikte zu lösen und Vorteile aus neuen Möglichkeiten zu ziehen (Putnam/Goss 2001: 19-20). Während Putnam die drei Elemente des Sozialkapitals zunächst noch gleichrangig betrachtet („trust, norms, and networks ...“), werden Netzwerke in einer späteren Veröffentlichung zum vorrangigen Kriterium:
1 Für eine ausführlichere Darstellung der Sozialkapital-Konzeption von Bourdieu und Coleman siehe Roßteutscher et al. (2003), Kriesi (2007), Zmerli (2008).
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Sigrid Roßteutscher
„Social capital refers to connections among individuals – social networks and the norms of reciprocity and trustworthiness that arise from them“ (Putnam 2000: 19).
Netzwerke und Assoziationen werden nun zum Hort der Norm- und Vertrauensproduktion. Putnam konzentriert sich vor allem auf die Lösung typischer Kollektivgutprobleme. Kollektivgüter sind Güter, von deren Nutzung niemand ausgeschlossen werden kann, unabhängig davon, ob jemand zu ihrer Herstellung einen Beitrag geleistet hat oder nicht. Rationale und eigeninteressierte Individuen werden daher versuchen, ohne eigenen Beitrag von einem solchen Gut zu profitieren. Wenn jeder so denkt, wird in der Gesellschaft die Erreichung kollektiver Ziele gefährdet (Olson 1968). Sozialkapital ist eine probate Lösung solch klassischer Kooperationsprobleme (Putnam 1993: 163-176).
2.3 Soziales Kapital als Merkmal von Individuen und Gesellschaften Unterschiedliche Ansätze betonen unterschiedliche Wirkungen sozialer Partizipation. Dabei müssen Ansätze, die wie der von Putnam eher die System- oder Makroebene im Blick haben, also gesamtgesellschaftliche Folgen des Sozialkapitals hervorheben2, von solchen Ansätzen unterschieden werden, die sich auf den Einfluss des Sozialkapitals auf Individuen und Beziehungen zwischen Individuen, also die Mikroebene, konzentrieren. So thematisieren Arbeiten in der Tradition Bourdieus und Colemans individuelle Karrierevorteile, die aus Vertrauen zwischen Akteuren resultieren. Gabriel et al. (2002: 25) bezeichnen diese Zweideutigkeit als „Doppelcharakter“. Zwischen Aspekten und Zusammenhängen, die vor allem die System- oder Makroebene betreffen und solchen Zusammenhängen, die auf der Individual- oder Mikroebene zu finden sind, bestehen wechselseitige Abhängigkeiten. Wenn Putnam den Zusammenhang zwischen der Dichte des Vereinswesens, sozialem Vertrauen und gemeinschaftlichen Werten auf der einen Seite und effizientem erfolgreichen Regierungshandeln auf der anderen Seite thematisiert, so ist diese Makro-Beziehung nur dann plausibel erklärt, wenn sie auf der Mikroebene empirisch nachzuvollziehen ist. Als Beispiel: Putnam geht davon aus, dass im Verein soziales Vertrauen und Normen der Reziprozität entstehen. Er geht weiter davon aus, dass diese im konkreten Vereinskontext (dem Sportverein um die Ecke) entstandenen Werte verallgemeinert werden, Individuen also nicht nur den Co-Mitgliedern ihres Sportvereins vertrauen, sondern die Vertrauenserfahrung auf fast jedes beliebige Mitglied der Gemeinschaft übertragen. Schließlich führt – wiederum in der Konzeption Putnams – diese Gemengelage an sozialem Vertrauen, das auf der Mikroebene entstanden ist, dazu, dass auch im Kollektiv, im gesamtgesellschaftlichen Kontext, soziales Handeln effizienter und erfolgreicher durchgeführt werden kann. Wieso? In einer Gesellschaft mit einem großen Fundus an sozialem Vertrauen werden Regierungen und deren Gesetzesinitiativen mit weniger Misstrauen betrachtet, die politischen 2 Dies gilt auch für die vielfältigen Arbeiten, die im Kontext der Dritten-Sektor-Forschung entstehen, die sich fast ausschließlich mit den Auswirkungen des Non-Profit-Sektors auf Wohlfahrtsleistungen, Arbeitsmarkt und staatliche Legitimität beschäftigen (z.B. Zimmer 1996).
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Akteure besitzen größere Freiräume und sind in geringerem Umfang dazu verpflichtet, ihre Bürger zu kontrollieren und zur Einhaltung von Vorschriften zu zwingen. Kurz gesagt, in einer Gesellschaft mit viel sozialem Vertrauen wird kaum jemand Steuern hinterziehen, da jeder davon ausgeht, dass alle anderen Bürger ebenfalls ihrer Steuerpflicht nachkommen und die Menschen annehmen, dass auch der Staat vernünftig mit diesen Einnahmen umgeht. Diese freiwillige Anpassung an Vorschriften macht die Bereitstellung eines Kollektivguts (öffentliche Schwimmbäder, Spielplätze, Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser etc.) erst möglich und sorgt zudem für effiziente und kostengünstige Lösungen, da die Steuerzahler und Nutzer nicht permanent durch Kontrolleure überprüft werden müssen. Mit anderen Worten, die Argumentation, die den Putnam interessierenden Zusammenhang auf der Systemebene betrifft, beruht vor allem auf empirisch zu beobachtenden Zusammenhängen auf der Mikroebene. Um diese eng verwobenen Prozesse, die aber dennoch auf unterschiedliche Aspekte abzielen, zu unterscheiden, wurde vorgeschlagen, auf den Begriff des Sozialkapitals zu verzichten, und den Begriff „Beziehungskapital“ zu wählen, wenn Sozialkapital auf der Mikro- oder Individualebene thematisiert werde, und auf den Begriff des „Systemkapitals“ auszuweichen, sobald Sozialkapital als Eigenschaft der Makro- oder Systemebene angesprochen wird (Esser 2000: 241; vgl. auch Gabriel et al. 2002: 25ff). Schließlich bietet sich eine weitere Unterscheidung an, die nicht zwischen den Ebenen, auf denen Sozialkapital angesiedelt ist, differenziert (also Beziehungs- von Systemkapital unterscheidet), sondern den Typus oder Charakter des Sozialkapitals betrifft. So sprechen Gabriel et al. (2002: 28f) vom „doppelten Doppelcharakter“, um auf diese zweifache Unterscheidung hinzuweisen. Sozialkapital besteht aus kulturellen (Vertrauen, Werte und Normen) sowie strukturellen Aspekten (Beziehungen in Netzwerken, soziale Kontakte), wobei Putnam davon ausgeht, dass Netzwerkbeziehungen, also Kontakte, die im Vereinsengagement entstehen, die Entwicklung von Vertrauen und gemeinschaftlichen Werten und Normen anregen. Strukturelle und kulturelle Komponenten sind sowohl für die Ebene des Systemkapitals als auch für die Ebene des Beziehungskapitals konstitutiv. Abbildung 1 stellt diesen „doppelten Doppelcharakter“ des Sozialkapitals graphisch dar. Sozialkapital fragt somit nach der Bedeutung von Netzwerken, Kooperationsnormen und sozialem Vertrauen für soziale, ökonomische und demokratische Leistungen von Individuum und Gesellschaft.
174 Abbildung 1:
Sigrid Roßteutscher Der „doppelte Doppelcharakter des Sozialkapitals“3
2.4 Soziales und unsoziales Sozialkapital Wie hinsichtlich sozialer Partizipation meldeten sich schon bald skeptische Stimmen zu Wort, welche die undifferenzierte Lobpreisung sozialen Kapitals kritisierten. Mit Verweis auf explizit radikale, fundamentalistische oder anti-demokratische Assoziationen ist die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen unterschiedlichen Typen sozialer Netzwerke schnell bewiesen (s.o. unter Abschnitt 1.4). Aber auch nicht jede Form des sozialen Vertrauens – der zweiten Hauptkomponente im Sozialkapital-Ansatz – wird eine grundsätzlich gesellschaftlich und demokratisch heilsame Wirkung zugeschrieben. Warum sollten Men-
3
Abbildung in Anlehnung an Roßteutscher et al. (2003); vgl. auch Gabrial et al. (2002: 29).
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schen, die in der engmaschigen Kleingruppe gelernt haben, einander zu vertrauen, diesen Vertrauensvorschuss an unbekannte Menschen außerhalb der Gruppe weitergeben? Ist es nicht mindestens so plausibel zu erwarten, dass gerade weil Vertrauen auf regelmäßiger Kooperation in der Gruppe basiert, es Menschen, die außerhalb der Gruppe stehen, zunächst entzogen wird? In der Tat begreift ja Coleman die Geschlossenheit des Netzes als Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Gruppennormen und Vertrauen (Coleman 1988: 107-108). Für Putnam, der Makrobeziehungen und Kollektivgutproduktion in den Mittelpunkt stellt, kann ein solches intimes oder dichtes („thick“) Vertrauen nicht ausreichen – benötigt wird das generalisierte oder dünne („thin“) Vertrauen (Putnam 1993: 171), das gerade auch unbekannten Menschen entgegengebracht wird, über deren Vertrauenswürdigkeit keine Erfahrungswerte bestehen (Putnam 2000: 136). Es ist nur dieses generalisierte Vertrauen, welches politische Beteiligung inspiriert, aber auch die Akzeptanz sozial notwendiger Verhaltensweisen, wie Steuerehrlichkeit, Normbefolgung, Korruptionsabweisung, etc. mit sich bringt. Nur ein reicher Fundus an generalisiertem Vertrauen in der Gesellschaft verringert „Transaktionskosten“ unterschiedlichster Art: wenn Staat und Verwaltung darauf vertrauen können, dass Bürger auch ohne aufwendige und teure staatliche Kontrollmaßnahmen nicht betrügen und die Normen und Gesetze in der Regel befolgen, können Kollektivgüter auch in größerem Umfang produziert werden (Stolle 1998: 500; Putnam/Goss 2001: 26-27). Wie aber lernen Menschen in offeneren Kontexten, die auch weniger engmaschige Kooperationsbezüge beinhalten, solche grundlegenden Vertrauenswerte? In der weiterführenden Diskussion um Sozialkapital hat sich als Reaktion auf dieses Paradox eine Unterscheidung in zwei Grundtypen von Assoziationen durchgesetzt: bridging bzw. brückenbildende Assoziationen einerseits, bonding oder verbindende (bindende) Assoziationen andererseits (Putnam 2000; Warren 2001; Hooghe/Stolle 2003; Zmerli 2003) Mit bonding verbinden sich all jene Negativeigenschaften, welche die Produktion von generalisiertem Vertrauen und Reziprozitätsnormen verhindern. In solchen Netzwerken finden Menschen zusammen, die sich in sozialer, ethnischer oder religiös-kultureller Hinsicht extrem ähneln, und wo solche exklusiven Kriterien zur entscheidenden Mitgliedschaftsbedingung werden. Hier wird ausschließlich thick trust produziert, der auf Menschen, die das Definitionskriterium der Gruppe nicht teilen, nicht übertragen werden kann (Putnam/Goss 2001: 28-29). Gruppen, die ausschließlich bindendes Sozialkapital generieren, mangelt es so an der Befähigung, Ressourcen und Informationen von außerhalb der Gruppe zu rezipieren. So sind sie kaum in der Lage, der größeren Gemeinschaft zu dienen. Auf brückenbildende Assoziationen trifft das Gegenteil zu: sie rekrutieren Mitglieder unterschiedlicher sozialer, ethnischer oder religiös-kultureller Herkunft, daher entwickeln sich globalere Identitäten und Normen generalisierter Reziprozität. Dank der inneren Heterogenität der Assoziation wird der Zufluss an Information gefördert und der Zugriff auf externe Ressourcen erleichtert. Brückenbildende Gruppen tragen so in besonderem Umfang zur Lösung typischer Kollektivgutprobleme bei (Putnam 2000: 363), während bindende Gruppen im Extremfall „secterian tendencies, corruption and ethnocentrism“ produzieren (Zmerli 2003: 68). Nicht alle neueren Ansätze zu Sozialkapital nennen bridging und bonding als entscheidendes Distinktionskriterium, das soziales von unsozialem (gesellschaftlich-demokratisch produktives von gesellschaftlich-demokratisch indifferentem oder gar schädlichem) Sozialkapital zu scheiden vermag. Putnam und Goss führen neben bridiging und bonding drei
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Sigrid Roßteutscher
weitere Unterscheidungskriterien ein, die durchaus als „komplementäre Prismen“ zur Bewertung von Sozialkapital herangezogen werden können (Putnam/Goss 2001: 25): a) formale versus informell organisierte Netzwerke; b) einer hohen versus einer geringen Dichte des Sozialkapitals und c) innen- versus außenorientiertes Sozialkapital. Der Grad der Formalisierung ist vor allem interessant, wenn man an Fragen der Verstetigung und Institutionalisierung des Vereinswesens interessiert ist, wird aber hinsichtlich der gesellschaftlichdemokratischen Wirkung auch von Putnam/Goss als relativ irrelevant bezeichnet. Allerdings sind informelle Netzwerke weitaus seltener erforscht, da sich der empirische Zugriff weniger einfach darstellt als im Fall offiziell registrierter Vereine (Putnam/Goss 2001: 25-26; vgl. aber Maloney/Roßteutscher 2007a). Netzwerke einer hohen Dichte zeigen sich dort, wo Mitglieder in vielen Kontexten miteinander in Beziehung stehen (am Arbeitsplatz, im Verein, in der Kirche etc.). Die geringe Dichte wird von Putnam/Goss am Beispiel vielfältiger Grußbekanntschaften illustriert. Gerade Netzwerke geringer Dichte werden mit schwachen Bindungen („weak ties“ nach Granovetter 1973) in Beziehung gesetzt und dienen in besonderem Maße der Verbreitung generalisierter Normen der Reziprozität (Putnam/Goss 2001: 26-27). Zmerli (2008: 74ff) – in Anlehnung an Warren (2001) – bevorzugt eine Unterscheidung zwischen inklusivem und exklusivem Sozialkapital und meint damit einerseits generalisiertes Vertrauen und Normen der Reziprozität, die aus sozialen Netzwerken mit Kollektivgutorientierung entstehen und andererseits personalisiertes Vertrauen und spezifische Normen der Gegenseitigkeit, die aus Interaktionen in sozialen Netzwerken mit Privatgutorientierung resultieren. All diesen Differenzierungsversuchen liegt die Absicht zugrunde, entweder den Zusammenhang zwischen strukturellen und kulturellen Komponenten des Sozialkapitals zu erklären oder den Zusammenhang zwischen Sozialkapital einerseits und unterschiedlichen Aspekten gesellschaftlicher Integration oder demokratischen Regierens andererseits zu bestimmen.
3
Datenbasis und Ausblick
Vor nicht allzu langer Zeit musste van Deth feststellen, dass Schlussfolgerungen zur Natur, Wirkweise und Generierung von Sozialkapital „eher zurückhaltend” zu interpretieren seien, da „derzeit zur Verfügung stehende Datensätze und Operationalisierungen sehr mangelhaft sind und sich kaum für zuverlässige Überprüfungen komplexer kausaler Modelle” eignen (van Deth 2002: 579). Die Welt ist in dieser Hinsicht ein wenig rosiger geworden. Mit den CID („Citizenship, Involvement, Democracy“) Studien stehen international vergleichende Bevölkerungs- und Organisationsstudien zur Verfügung, die Vereinszwecke und Organisationsstrukturen im Detail erheben und so solche differenzierenden Operationalisierungen gestatten (siehe unter www.mzes.uni-mannheim.de/projekte/cid). Der European Social Survey integrierte in seine erste Welle ein 15minütiges Fragemodul zu Citizenship und Sozialkapital und stellte so hochwertiges Datenmaterial für 22 europäische Gesellschaften bereit (siehe unter www.europeansocialsurvey.org). Zumindest gröbere Analysen erlauben auch die World Values Surveys, an deren vierter Welle sich mittlerweile weltweit 70 Nationen
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beteiligt haben (siehe unter www.worldvaluessurvey.org) All diese international vergleichbaren Datensätze stehen dem interessierten Forscher zur Verfügung.4 Damit tritt die Debatte um Sozialkapital in eine neue Phase ein. Die Fragen, die durch die vielen skeptischen Stimmen, welche die unspezifische Zelebrierung von Sozialkapital als Lösung aller gesellschaftlichen Probleme kritisierten, aufgeworfen wurden, können nun sehr differenziert in empirischer und international vergleichender Weise abgearbeitet werden. Die in der jüngeren Auseinandersetzung erfolgten und längst nicht abgeschlossenen Differenzierungsversuche werden hierfür die Grundlage bieten. Welche Form der Netzwerkbildung generiert welchen Typus an Vertrauen und welche Art der Normen? Welche Form des Sozialkapitals (welche Form der Assoziation, des Vertrauens, der Normen) befördert Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt? Sind die Wirkungen und Zusammenhänge universell zu beobachten oder muss hier viel stärker der jeweilige gesellschaftliche, historische und politische Kontext betrachtet werden? Wirkt Sozialkapital nur in der westlichen Welt integrativ und demokratisch, oder sind ähnliche Zusammenhänge weltweit zu beobachten? Macht es einen Unterschied, ob die Wirkweise freiwilliger Assoziationen in gefestigten Demokratien oder in transitorischen oder defekten demokratischen Systemen betrachtet wird? Erst die Beantwortung solcher Fragen wird in Zukunft über die gesellschaftlich-politische Bedeutung des Konzeptes Sozialkapital entscheiden. Doch selbst wenn in 20 Jahren keiner mehr den Begriff Sozialkapital im Munde führt, über soziale Partizipation – seit Jahrhunderten ein Dauerbrenner der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um Demokratie und soziale Integration – wird man mit Sicherheit auch in Zukunft sprechen.
Empfehlungen für weiterführende Literatur Castiglione, Dario/van Deth, Jan W./Wolleb, Guglielmo (Hrsg.), 2008: The Handbook of Social Capital, Oxford: Oxford University Press. Franzen, Axel/Freitag, Markus (Hrsg.), 2007: Sozialkapital. Grundlagen und Anwendungen, Sonderheft 47 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Gabriel, Oscar W./Kunz, Volker/Roßteutscher, Sigrid/van Deth, Jan W., 2002: Sozialkapital und Demokratie. Zivilgesellschaftliche Ressourcen im Vergleich, Wien: WUV Universitätsverlag. Maloney, William A./Roßteutscher, Sigrid (Hrsg.), 2007: Social Capital and Associations in European Democracies: A Comparative Analysis, London: Routledge. Putnam, Robert D., 1993: Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton: Princeton University Press. van Deth, Jan W./Montero, José Ramón/Westholm, Anders (Hrsg.), 2007: Citizenship and Involvement in European Democracies: A Comparative Analysis, London: Routledge. Verba, Sidney/Schlozman, Kay L./Brady, Henry E., 1995: Voice and Equality. Civic Voluntarism in American Politics, Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
4
Zur Datenlage siehe auch den Beitrag von Silke Keil in diesem Band.
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Sigrid Roßteutscher
Literatur Almond, Gabriel A./Verba, Sidney, 1963: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton, NJ: Princeton University Press. Armingeon, Klaus, 2007: Political participation and associational involvement, in: van Deth, Jan W./Montero, José Ramón/Westholm, Anders (Hrsg.): Citizenship and Involvement in European Democracies. A Comparative Analysis, London: Routledge, 358-383. Baglioni, Simone/Denters, Bas/Morales, Laura/Vetter, Angelika, 2007: City size and the nature of associational ecologies, in: Maloney, William A./Roßteutscher, Sigrid (Hrsg.): Social Capital and Associations in European Democracies: A Comparative Analysis, London: Routledge, 224-267. Bourdieu, Pierre, 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen: Otto Schwartz & Co., 183-198. Bourdieu, Pierre, 1987: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main.: Suhrkamp. Cohen, Joshua/Rogers, Joel, 1995: Secondary Associations and Democratic Governance, in: Wright, Eric Olin (Hrsg.): Associations and Democracy, New York: Verso, 7-98. Coleman, James S., 1988: Social Capital in the Creation of Human Capital, in: American Journal of Sociology 94, Supplement, 95-120. Coleman, James S., 1990: Foundations of Social Theory. Cambridge/London: Harvard University Press. Gabriel, Oscar W., 2004: Politische Partizipation, in: van Deth, Jan W. (Hrsg.): Deutschland in Europa, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 317-338. Gabriel, Oscar W./Kunz, Volker/Roßteutscher, Sigrid/van Deth, Jan W., 2002: Sozialkapital und Demokratie. Zivilgesellschaftliche Ressourcen im Vergleich, Wien: WUV Universitätsverlag. Granovetter, Mark, 1973: The strength of weak ties, in: American Journal of Sociology 78, 1360-1380. Gutman, Amy, 1998: Freedom of Association: An introductory essay, in: Gutman, Amy (Hrsg.): Freedom of Association, Princeton: Princeton University Press, 3-32. Hooghe, Marc/Stolle, Dietlind (Hrsg.) 2003: Generating Social Capital. Civil Society and Institutions in Comparative Perspective, New York: Palgrave Macmillan. Huckfeldt, Robert/Sprague, John, 1995: Citizens, politics, and social communication: Information and influence in an election campaign, New York: Cambridge University Press. Kriesi, Hanspeter, 2007: Sozialkapital: eine Einführung, in: Franzen, Axel/Freitag, Markus (Hrsg.): Sozialkapital. Grundlagen und Anwendungen, Sonderheft 47 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 23-46. Lelieveldt, Herman/Caiani, Manuela, 2007: The political role of associations, in: Maloney, William A./Roßteutscher, Sigrid (Hrsg.): Social Capital and Associations in European Democracies: A Comparative Analysis, London: Routledge, 175-191. Madison, James, 1787/2003: The federalist paper No. 10, in: Hodgkinson, V./Foley, M.W. (Hrsg.): The Civil Society Reader, Lebanon, NH: Tufts University Press. Maloney, William A./Roßteutscher, Sigrid (Hrsg.), 2007a: Social Capital and Associations in European Democracies: A Comparative Analysis, London: Routledge. Maloney, William A./Roßteutscher, Sigrid, 2007b: The Associational Universe in Europe: Size and Participation, in: Maloney, William A./Roßteutscher, Sigrid (Hrsg.): Social Capital and Associations in European Democracies: A Comparative Analysis, London: Routledge, 39-51. Olsen, Marvin, 1972: Social Participation and Voting Turnout: A Multivariate Analysis, in: American Sociological Review 37, 317-331. Putnam, Robert D., 1993: Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton: Princeton University Press.
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Sigrid Roßteutscher
Zmerli, Sonja, 2008: Inklusives und exklusives Sozialkapital in Deutschland. Entstehungsbedingungen, Erscheinungsformen und Erklärungspotential eines alternativen theoretischen Konzepts, Schriftenreihe „Studien zur Wahl- und Einstellungsforschung, Bd. 4“, Nomos: Baden-Baden.
Testfragen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Warum gilt soziale Partizipation als so wichtiger Baustein demokratischer Systeme? Unter welchen Bedingungen können Vereine und Netzwerke auch undemokratisch wirken? Worin unterscheidet sich soziale von politischer Partizipation? Nennen Sie die zentralen Merkmale der Verknüpfung von sozialer und politischer Partizipation. Welche Kompetenzen und Normen werden im Verein geschult bzw. sozialisiert? Diskutieren Sie kritisch pro und contra. Diskutieren Sie den Sozialkapital-Begriff bei Bourdieu, Coleman und Putnam. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede finden sich? Erläutern Sie den Begriff des „doppelten Doppelcharakters“ des Sozialkapitals? In welchem Verhältnis stehen strukturelle und kulturelle Komponenten? Unterscheiden Sie verschieden Typen des Sozialkapitals und diskutieren Sie deren demokratische und gesellschaftliche Bedeutung?
Internetlinks http://www.europeansocialsurvey.de/ http://www.worldvaluessurvey.org http://www.worldbank.org/poverty/scapital http://www.infed.org/biblio/social_capital.htm
Wahlsoziologie Harald Schoen
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Einleitung: Zum Gegenstand der Wahlsoziologie
Periodisch durchgeführte freie Wahlen sind in modernen repräsentativen Demokratien, die die Legitimität politischer Herrschaft an allgemein akzeptierte Regeln bindet, das Verfahren zur Bestellung und Ablösung von Herrschaftsträgern.1 Sie bilden das Bindeglied zwischen dem demokratischen Souverän und seinen Repräsentanten, die an seiner Stelle gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidungen treffen. Diese Macht verleihen Bürger in Wahlen auf Zeit. Wahlen bieten daher eine institutionalisierte Möglichkeit, Elitenhandeln zu kontrollieren und politische Eliten mit friedlichen Mitteln auszutauschen. Die Einbettung von Wahlen in die repräsentativ-demokratische Institutionenordnung verschafft Wahlen nicht nur eine herausragende demokratietheoretische Bedeutung (Schmitt 2005), sondern macht Wahlverhalten notwendig zu einer verfassten, standardisierten und von Eliten vorstrukturierten Form politischen Verhaltens. So ist das Repertoire an Verhaltensmöglichkeiten auf die Wahlenthaltung und die Stimmabgabe für eine Partei oder einen Kandidaten beschränkt. Zudem wird das Angebot an Parteien und Kandidaten in der Regel von politischen Eliten vorgegeben, so dass die Wahlentscheidung von Bürgern als Reaktion auf Elitenhandeln zu verstehen ist. Wahlverhalten ist in modernen Demokratien für viele Menschen der einzige Akt politischer Partizipation. Andere Formen der aktiven politischen Teilnahme stehen nicht zur Verfügung oder werden deutlich seltener genutzt. Die Möglichkeit, zu einzelnen Sachthemen Volksbegehren zu initiieren oder an Volksentscheiden teilzunehmen, existiert auf nationaler Ebene nur in vergleichsweise wenigen Ländern und wird selektiv, wenngleich mit steigender Tendenz genutzt (z.B. Leduc 2002). In Deutschland gibt es sie praktisch nur auf Landes- und Kommunalebene (Kost 2005). Soweit sie existieren, machen in der Regel weniger Bürger davon Gebrauch als von ihrem Wahlrecht. Auch die Möglichkeiten, in politischen Parteien oder Verbänden mitzuarbeiten, um Interessen zu artikulieren, nutzen in modernen Demokratien nur Minderheiten. Gleiches gilt für als unkonventionell bezeichnete Partizipationsformen wie die Teilnahme an Demonstrationen, Unterschriftensammlungen oder Boykotts (Gabriel 2004: 319; Gabriel/Völkl 2005: 539-559). Das Wahlverhalten als weit verbreitete und in der repräsentativen Demokratie zentrale Form politischer Partizipation ist der Gegenstand der Wahlsoziologie. Diese Teildisziplin
1 Das heißt allerdings nicht, dass die Wahl als Verfahren eine Erfindung der Moderne sei, vielmehr wird sie bereits seit der Antike genutzt. In modernen kompetitiven Demokratien werden an Wahlen allerdings bestimmte normative Ansprüche, etwa hinsichtlich des Kreises der Stimmberechtigten und der Ausgestaltung des Verfahrens, gestellt (Nohlen 2004: 21-51).
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Harald Schoen
der Politischen Soziologie unterscheidet zwei Aspekte des Wahlverhaltens: die Wahlbeteiligung einerseits, die Entscheidung für ein bestimmtes Angebot, sei es ein Kandidat oder eine Partei, andererseits. Im Hinblick auf beide Aspekte verfolgt die Wahlsoziologie zunächst ein deskriptives Ziel, versucht also Fragen wie die folgenden zu klären: Wie viele Wahlberechtigte machten von ihrem Recht Gebrauch? Wer stimmte für welche Partei? Hinzu kommt ein explanatives, also auf Erklärung abzielendes Interesse. Die Wahlsoziologie strebt also danach, zu klären, wer warum an Wahlen teilnimmt und wen wählt. Gestützt auf solche empirisch bestätigten Gesetzmäßigkeiten, können Forscher künftiges Wahlverhalten vorhersagen. Die explanativen und prognostischen Fragen sind wesentlich anspruchsvoller und haben in der Forschung mehr Interesse gefunden als die beschreibende Zielsetzung, wie auch die Richtung der Wahlentscheidung erheblich häufiger untersucht wurde als die Wahlbeteiligung. In diesem Kapitel werden zunächst für die Forschung besonders wichtige Erklärungsansätze vorgestellt und diskutiert. Anschließend werden ausgewählte empirische Ergebnisse der Wahlsoziologie dargestellt, die an wichtige aktuelle Diskussionen in der Forschung anknüpfen. Entsprechend der Schwerpunktsetzung in der Forschung wird dabei die Richtung der Wahlentscheidung im Vordergrund stehen. Den Beitrag schließen ein Resümee sowie eine Diskussion von Desiderata ab.
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Erklärungsansätze in der empirischen Wahlforschung
Seit Wahlen abgehalten werden, interessieren sich Akteure wie Beobachter für die Gründe des Wahlverhaltens. Lange Zeit bemühte man sich bei der Erklärung von Wahlverhalten jedoch nicht um systematische Theorieentwicklung. Primär ging die Forschung induktiv vor und formulierte für empirische Muster plausibel erscheinende Erklärungen, ohne diese in jedem Fall explizit zu machen oder ernsthaften empirischen Prüfungen zu unterziehen (Eldersveld 1951). Die Forschung bediente sich dabei unterschiedlicher Argumentationsmuster, nahm Versatzstücke aus später systematisch ausgearbeiteten Theorien vorweg, was im Rückblick den Eindruck eines Theorieneklektizismus entstehen lässt. Beispielsweise gingen frühe Arbeiten der Wirkung von Wahlsystemen auf das Stimmverhalten nach und verwendeten implizit Rational Choice-Argumente, ohne eine elaborierte Theorie individuellen Wahlverhaltens zu formulieren (vgl. hierzu Riker 1982). Ähnlich suchte André Siegfried zu Beginn des 20. Jahrhunderts politische Präferenzen in Frankreich zu erklären und verwendete dabei Konzepte, die an den sozialpsychologischen Ansatz erinnern, der Jahrzehnte später entwickelt werden sollte (Falter/Winkler 2005). In der Mitte des 20. Jahrhunderts begann die Forschung sich zunehmend darum zu bemühen, Wahlverhalten nicht nur ad hoc zu plausibilisieren, sondern Theorien des Wählerverhaltens zu entwickeln. Wichtige Impulse gingen dabei von sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen aus. So wurden etwa Theorien, die in der Soziologie, in der (Sozial)Psychologie und in den Wirtschaftswissenschaften zur Erklärung menschlichen Verhaltens entwickelt worden waren, auf die Frage angewandt, wie sich Menschen im institutionellen
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Kontext politischer Wahlen verhalten. Diese Einflüsse lassen sich in den klassischen Erklärungsansätzen wie auch in neueren Entwicklungen in der Wahlsoziologie erkennen.
2.1 Der mikrosoziologische Ansatz Den mikrosoziologischen Ansatz in der Wahlforschung begründeten Paul F. Lazarsfeld und seine Kollegen an der Columbia-Universität mit der Untersuchung „The People’s Choice“ zur amerikanischen Präsidentschaftswahl 1940. Ursprünglich angetreten, mit Hilfe einer siebenwelligen Wiederholungsbefragung den Meinungsbildungsprozess unvoreingenommener und sorgfältig abwägender Bürger auf dem Weg zur Wahlentscheidung nachzuzeichnen, stellten die Forscher fest, dass bei den meisten Befragten in den sechs Monaten vor der Wahl keinerlei Veränderungen in der Stimmabsicht zu erkennen waren, sondern sich allenfalls bereits zu Beginn der Kampagne existierende Präferenzen verstärkten. Daneben wiesen Lazarsfeld und seine Kollegen einen starken Zusammenhang zwischen der sozialen Position einer Person und ihrer Wahlabsicht nach: Personen in ländlichen Regionen, Protestanten und Angehörige der Mittelschicht stimmten bevorzugt für die Republikaner, während urbane Wähler, Katholiken und Arbeiter der demokratischen Seite zuneigten. Erst recht entschieden sich protestantische Angehörige der ländlichen Mittelschicht und urbane katholische Arbeiter für die Republikaner bzw. die Demokraten. Diese mit Blick auf ihr ursprüngliches Anliegen ernüchternden Ergebnisse bewogen die Autoren zu dem vielzitierten Diktum: „A person thinks, politically, as he is, socially“ (Lazarsfeld et al. 1944: 27). Kasten 1:
Cross-pressures und ihre Wirkung nach Lazarsfeld et al. (1944)
Cross-pressures liegen dann vor, wenn eine Person in ihrer sozialen Nahumgebung unterschiedlichen politischen Normen ausgesetzt ist. Beispiele dafür sind etwa katholische Arbeiter, deren Kontakt am Arbeitsplatz eine SPD-Wahl nahe legt, die jedoch beim Gottesdienstbesuch mit CDU/CSUAnhängern zusammentreffen. Cross-pressures begünstigen Schwankungen in der Wahlabsicht, eine Verzögerung der endgültigen Wahlentscheidung, die Wahlenthaltung sowie wechselndes Wahlverhalten.
Diese Aussage beschreibt einen statistischen Zusammenhang, darf aber nicht als Plädoyer dafür missverstanden werden, Wahlverhalten mit einem kruden sozialen Determinismus zu erklären. Zur Erklärung griffen die Forscher der Columbia School vielmehr auf ein mikrosoziologisches Interaktionsmodell zurück, das sie allerdings erst in der Nachfolgeuntersuchung „Voting“ (Berelson et al. 1954) klarer herausarbeiteten. Als Grundlage dient das Menschenbild des homo sociologicus, der einmal erworbenen Normen in jeder Situation folgt, ohne situative Anreize zu beachten. Beispielsweise stimmt er für seine präferierte Partei, auch wenn sie keinerlei Aussichten auf den Parlamentseinzug hat. Die handlungsleitenden Normen erwirbt das Individuum in sozialen Kontakten. Menschen sind demnach bemüht, im Einklang mit ihrer unmittelbaren sozialen Umwelt zu leben, weshalb sie sich den in ihrer Umgebung vorherrschenden politischen Präferenzen anpassen. Personen, die häufig mit-
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einander interagieren, entwickeln daher ähnliche politische Ansichten. Lebt nun eine Person in einem politisch homogenen Umfeld von Familienangehörigen, Nachbarn, Freunden, Bekannten und Kollegen, entwickelt sie eine starke Präferenz für die von ihren Kontaktpartnern präferierte Partei. Das gilt erst recht, wenn sie lange Zeit in politisch konzentrischen Kreisen lebt. Bewegt sich eine Person hingegen in einem heterogenen Umfeld mit unterschiedlichen politischen Normen, steht sie also unter cross-pressures, entwickelt sie keine klare Parteipräferenz, ist vor einer Wahl unentschlossen, zögert die Wahlentscheidung lange hinaus, ist bis kurz vor dem Wahltag beeinflussbar und bleibt der Wahlurne womöglich fern. Um das mikrosoziologische Erklärungsmodell mit einem Zitat aus „The People’s Choice“ zu erfassen, bietet sich daher folgendes Diktum an: „People who work or live or play together are likely to vote for the same candidate“ (Lazarsfeld et al. 1944: 137).2 Die induktiv gewonnenen Aussagen der Columbia-Forscher über die Rolle sozialer Interaktion für die politische Meinungsbildung haben die Wahlforschung weniger beeinflusst als andere Erklärungsmodelle. Gleichwohl haben sie einige Untersuchungen angeregt, die das mikrosoziologische Modell im Kern bestätigten, aber auch für Modifikationen sorgten. In Netzwerkanalysen konnte gezeigt werden, dass soziale Kontakte mit Bezugspersonen die politische Meinungsbildung wesentlich beeinflussen, die Stärke der Wirkungen aber von der Art der Beziehung und anderen Faktoren abhängt. Beispielsweise ist es in einem politisch homogenen, durch häufige Kontakte und soziale Nähe gekennzeichneten Umfeld sehr wahrscheinlich, dass Personen politische Normen übernehmen (z.B. Huckfeldt/Sprague 1991; Beck et al. 2002; Schmitt-Beck 2000: 266-274). Zugleich scheinen auch in eher beiläufigen und nicht auf politische Themen bezogenen Kontakten politische Präferenzen zwischen Menschen übertragen zu werden, wenngleich wenig effektiv (Huckfeldt/Sprague 1992; Zuckerman et al. 1994). Auch konnte gezeigt werden, dass Veränderungen in den Primärbeziehungen die politischen Präferenzen von Personen beeinflussen, aber für eine eher allmähliche als abrupte Anpassung an die politischen Normen des neuen Umfeldes sorgen (Nieuwbeerta 1995: 127-147; Kohler 2002). Diese empirischen Belege können freilich wesentliche Schwächen dieses Modells nicht verdecken, die seiner Erklärungskraft enge Grenzen setzen. Das Wahlverhalten einer Person in einem politisch homogenen Umfeld kann es gut prognostizieren, es hat jedoch Probleme mit Personen in politisch heterogenen Netzwerken: Über sie kann nur die Aussage getroffen werden, dass sie weniger wahrscheinlich zur Wahl gehen und eine bestimmte Partei wählen werden, doch lässt sich kaum vorhersagen, für welche Partei sie votieren werden. Selbst wenn es gelingt, mit Hilfe der politischen Normen in den sozialen Beziehungen das Wahlverhalten perfekt zu erklären, bleibt immer noch eine Leerstelle: Das Modell schweigt darüber, warum die Interaktionspartner ganz bestimmte politische Präferenzen besitzen und im Kontakt weitergeben. Um es am Beispiel aus „The People’s Choice“ zu illustrieren: Zwar wird erklärt, dass Kontakte mit Anhängern der Republikanischen Partei die Wahrscheinlichkeit steigern, selbst republikanisch zu wählen, weshalb aber Protestanten aus der Mittelschicht in ländlichen Gegenden die Republikaner bevorzugen, das bleibt offen. Das liegt 2 Dieses Interaktionsmodell kombinierten die Verfasser von „The People’s Choice“ mit der Prämisse, die soziale Position einer Person entscheide darüber, mit welchen politischen Normen sie in ihren Bezugsgruppen in Berührung kommt. Diese Annahme erwies sich in der weiteren Forschung als nicht valide, was jedoch den Kern des mikrosoziologischen Modells nicht in Frage stellt.
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nicht zuletzt an der mikrosoziologischen Ausrichtung des Ansatzes, der die Primärbeziehungen in den Vordergrund rückt, den gesamtgesellschaftlichen Kontext aber weitgehend ausblendet.
2.2 Der makrosoziologische Ansatz Gerade diese gesamtgesellschaftlichen Prozesse der Interessenvermittlung nahmen Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan (1967) mit ihrem Aufsatz „Party Systems and Voter Alignments“ in den Blick. Ihr Anliegen war es nicht, Wahlverhalten zu erklären. Vielmehr ging es ihnen primär darum, die Entstehung von Parteiensystemen in westeuropäischen Demokratien zu rekonstruieren. Dabei treffen sie jedoch Aussagen über Wahlverhalten. Sie dienen der Wahlforschung als Anknüpfungspunkte, wenn sie sich auf die Arbeit von Lipset/Rokkan (1967) bezieht. In das Zentrum ihrer Argumentation rücken die Autoren das Konzept „Cleavage“. Darunter verstehen sie eine gesellschaftliche Spaltungslinie, also einen dauerhaften sozialen Konflikt zwischen wenigstens zwei über soziale Merkmale definierten Großgruppen. Solche Spannungslinien führen Lipset/Rokkan (1967) auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse zurück. Den Zentrum-Peripherie- und den Staat-Kirche-Konflikt sehen sie im Kern als Resultate der Nationalstaatsbildung, während der Konflikt zwischen Stadt und Land sowie der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit als Folge der industriellen Revolution gelten (Kasten 2). Kasten 2:
Cleavages nach Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan (1967)
Cleavages sind tiefgreifende gesellschaftliche Spannungslinien, an denen wenigstens zwei soziale Großgruppen einen dauerhaften Konflikt austragen. Diese gesellschaftlichen Konfliktlinien beeinflussen das Parteiensystem, wenn Konfliktgruppen Bündnisse mit politischen Parteien eingehen. 1. Zentrum vs. Peripherie: Konflikte zwischen den herrschenden nationalen Eliten (Zentrum) und ethnischen, sprachlichen oder religiösen Minderheiten (Peripherie), die sich der Nationalstaatsbildung widersetzen. 2. Staat vs. Kirche: Konflikte zwischen Staat und Kirche, die sich dem Herrschaftsanspruch des Staates widersetzt und auf historisch gewachsene Kompetenzen und Vorrechte pocht. Im Zentrum stehen Konflikte um Werte und Moralvorstellungen. 3. Stadt vs. Land: Mit der industriellen Revolution entstand eine städtische Unternehmerschicht, deren ökonomische Interessen sich von denjenigen ländlicher Gutsbesitzer unterschieden. In kultureller Hinsicht forderte sie die ländliche Lebensweise und den hergebrachten Herrschaftsanspruch des Landadels heraus. 4. Arbeit vs. Kapital: Im Zuge der Industrialisierung entwickelten sich Kapitaleigner und abhängig Beschäftigte als Träger entgegen gesetzter ökonomischer Interessen.
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Diese gesellschaftlichen Konfliktlinien beeinflussten nun die Entstehung des Parteiensystems. Theoretisch konnte aus jeder an einem solchen dauerhaften Konflikt beteiligten Seite eine politische Partei entstehen. Ob dies tatsächlich geschah, hängt jedoch von verschiedenen Bedingungen ab. Proteste gegen die herrschenden Eliten müssen generell legitim sein, auch müssen die Mitglieder der betreffenden Gruppen über die vollen Bürgerrechte verfügen, sich also zu einer Interessenvertretung zusammenschließen können. Drittens stehen die Führer dieser Interessenvertretung vor der Entscheidung, eine eigene Partei zu gründen oder ein Bündnis mit einer bereits existierenden Partei einzugehen. Schließlich muss der Partei der Einzug in das Parlament gelingen. Das Format des Parteiensystems wird somit von der Konstellation gesellschaftlicher Konfliktlinien sowie den Entscheidungen der Führer der gesellschaftlichen Großgruppen bestimmt (Lipset/Rokkan 1967: 26-33). Dieser Prozess, in dem die Sozialstruktur politisiert wird, bringt Parteien hervor, die als Interessenvertreter ihrer gesellschaftlichen Basisgruppen oder als „politische Aktionsausschüsse“ agieren, wie es M. Rainer Lepsius (1966) für das Parteiensystem im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik formulierte. Die Mitglieder dieser sozialen Großgruppen nehmen die entsprechenden Parteien als ihre politischen Agenten wahr und unterstützen sie regelmäßig bei Wahlen, die so gewissermaßen zu Zählappellen der sozialen Großgruppen werden. Gemünzt auf Beispiele aus der deutschen Geschichte: Arbeiter wählen die SPD, gläubige Katholiken stimmen für das Zentrum, Mitglieder der dänischen oder polnischen Minderheit für eine ethnische Partei. Ist diese Konstellation aus dauerhaften gesellschaftlichen Spannungslinien und stabilen Bündnissen zwischen gesellschaftlichen Großgruppen einerseits und politischen Parteien andererseits intakt, ist mit einem hochgradig stabilen, gleichsam eingefrorenen Parteiensystem zu rechnen. Insoweit erklärt das Argument die viel zitierte, häufig aber auch missverstandene Beobachtung von Lipset/Rokkan (1967: 50) gut: „The party systems of the 1960’s reflect, with few but significant exceptions, the cleavage structures of the 1920’s.“ Die relativ abstrakte Argumentation von Lipset und Rokkan bietet neben anderen Zweigen der Politischen Soziologie auch der Wahlsoziologie Anknüpfungspunkte. Denn ein lang anhaltender und ideologisch überformter Interessenkonflikt zwischen stabilen sozialen Großgruppen zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass Wahlberechtigte regelmäßig für „ihre“ Interessenpartei stimmen. Warum Bürger gruppenkonform votieren, darauf gehen die Autoren jedoch nur beiläufig ein und erwähnen verschiedene Argumente, ohne diese jedoch in eine konsistente Theorie des Wahlverhaltens einzubetten. In dieser Hinsicht weist ihre Arbeit eine theoretische Leerstelle auf. Sie könnte man füllen, indem man sich auf die Andeutungen der Autoren und deren Beschreibung der Cleavages bezieht. Deren langfristige Stabilität und die Abkapselungstendenz der sozialen Großgruppen sprechen beispielsweise dafür, dass politische Normen, deren Entstehung die Lazarsfeld-Gruppe untersuchte, eine nicht unwesentliche Rolle bei der Wahlentscheidung spielen und stabiles, nicht aber wechselndes Wahlverhalten zu erwarten ist. Letzteres weist bereits auf die engen Grenzen einer solchen Theorie hin. Trotz dieser theoretischen Defizite ist in der Tradition von Lipset und Rokkan ein wichtiger Zweig der Wahlsoziologie entstanden. Solche Analysen gehen von der für CleavageBedingungen postulierten großen Prägekraft der Gruppenzugehörigkeit auf das Wahlverhalten aus. Daran schließt sich die Frage an, ob und inwieweit bei den betrachteten Wahlen
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das Wahlverhalten mit der Gruppenzugehörigkeit (statistisch) erklärt werden kann. Erweisen sich die Allianzen zwischen Parteien und gesellschaftlichen Basisgruppen an der Wahlurne nicht als intakt, wird gefolgert, dass die von Lipset und Rokkan skizzierte politisierte Sozialstruktur zumindest im Wahlverhalten nicht (mehr) vorzufinden sei. Diese Forschung strebt somit weniger danach, die Gründe individuellen Wahlverhaltens zu ermitteln, als zu klären, inwieweit Mitglieder sozialer Großgruppen homogen wählen.
2.3 Der sozialpsychologische Ansatz Der sozialpsychologische Ansatz in der empirischen Wahlforschung geht auf die Arbeiten einer Forschergruppe an der University of Michigan in Ann Arbor zurück, weshalb dieser Ansatz häufig auch als Ann Arbor- oder als Michigan-Ansatz bezeichnet wird. Die Gruppe um Angus Campbell erklärt Wahlverhalten mit politischen Wahrnehmungen und Einstellungen der Bürger. In „The Voter Decides“, einer landesweiten Untersuchung zur Präsidentschaftswahl 1952, führten sie drei gleichberechtigte Erklärungsgrößen ein. Demnach wird Wahlverhalten beeinflusst von Bewertungen der Kandidaten, Einstellungen zu den politischen Streitfragen sowie der Parteiidentifikation, bei der es sich um das Gefühl, einer der beiden großen amerikanischen Parteien zuzugehören, handelt. Dieses Modell erzielte eine hohe empirische Erklärungsleistung, zog allerdings ernsthafte Kritik auf sich. In theoretischer Hinsicht am schwersten ins Gewicht fiel der Vorwurf, die Autoren betrieben einen psychologischen Reduktionismus: Sie erklärten Wahlverhalten mit Merkmalen, die so nahe am Wahlakt selbst lägen, dass ihre Erklärung hochgradig tautologische Züge trage, und blieben eine Antwort auf die Frage schuldig, wie diese Einstellungen entstünden (Rossi 1959: 40-41). Diesen Einwänden begegneten die Autoren der Michigan-Gruppe, indem sie ihr Modell weiterentwickelten. In „The American Voter“ arbeiteten Campbell et al. (1960) die Entstehung der Wahlentscheidung mit Hilfe der Metapher des funnel of causality klarer heraus. Demnach kann man sich die Stimmentscheidung an der Mündung eines Trichters vorstellen, der die für die Wahlentscheidung relevanten Faktoren enthält. Eine direkte Wirkung auf das Wahlverhalten geht von den ihm direkt vorgelagerten politischen Einstellungen aus. Entfernt man sich von der Mündung des Trichters, stößt man in zeitlicher Hinsicht auf in der Vergangenheit liegende Ereignisse, in inhaltlicher Hinsicht auch auf Faktoren, die vom Wähler nicht als politisch wahrgenommen werden. Diese weiter von der Mündung entfernten Faktoren können auf das Wahlverhalten nicht direkt, sondern nur vermittelt über die beim Wahlakt unmittelbar wirksamen politischen Einstellungen wirken (Abbildung 1). Diese Ergänzung nimmt der Kritik, im sozialpsychologischen Ansatz würden nur politische Einstellungen zu einem Zeitpunkt mit dem Wahlverhalten in Beziehung gesetzt, ohne dem sozialen, massenmedialen, politischen und institutionellen Kontext Beachtung zu schenken (Kepplinger/Maurer 2000: 461), den Wind aus den Segeln. Denn der funnel of causality erfasst die Bedingungen, unter denen die wahlrelevanten Einstellungen entstehen und diese die Wahlentscheidung beeinflussen. Das sozialpsychologische Modell schließt somit Analysen von Medienwirkungen auf das Wahlverhalten nicht aus (Schmitt-Beck 2000; Brettschneider 2005). Allerdings hat die Forschung diese Möglichkeiten, Wahlforschung und
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politische Kommunikationsforschung zu verknüpfen, lange Zeit nur wenig beachtet. Ebenso verdeutlicht der Kausalitätstrichter, dass die mikrosoziologische Argumentation der Columbia-Schule mit dem sozialpsychologischen Modell vereinbar ist und sich damit rekonstruieren lässt, da er soziale Kontakte als einen Faktor enthält. Abbildung 1:
Vereinfachte Darstellung des Erklärungsmodells in „The American Voter“
Als zweite wesentliche Änderung stellte die Michigan-Gruppe die Einstellungsgrößen nicht mehr gleichberechtigt nebeneinander, sondern ordnete die Parteiidentifikation den anderen Einstellungen zeitlich und kausal vor.3 Die Parteiidentifikation wurde nun verstanden als langfristig stabile affektive Bindung an eine politische Partei, die die politische Wahrnehmung – und damit auch wahlrelevante Einstellungen – „färbt“ und das Wahlverhalten vorprägt: Parteianhänger gehen zur Wahl4 und stimmen für ihre Identifikationspartei. Allerdings determiniert die Parteiidentifikation das Wahlverhalten nicht vollständig, vielmehr können kurzfristig variable Faktoren, also issue- oder kandidatenbezogene Einstellungen, zu Abweichungen der Stimmabgabe von der Parteibindung führen. Parteianhänger können 3 Zudem fügten die Forscher zusätzliche Einstellungsgrößen in das Modell ein, was auch in späteren Arbeiten in dieser Tradition immer wieder geschah (siehe etwa Miller/Shanks 1996). Beispielsweise wurden Wertorientierungen sowie Einstellungen zu den Parteien als Inhaber der Regierungsmacht aufgenommen. 4 Zur Erklärung der Wahlbeteiligung ziehen Campbell et al. (1954: 86) weitere Einstellungsgrößen wie das Wahlpflichtgefühl heran.
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der Wahlurne fernbleiben oder für eine andere Partei votieren, weil sie beispielsweise mit dem Kandidatenangebot „ihrer“ Partei unzufrieden sind, wie auch Parteilose eine Stimme für eine Partei abgeben können, etwa weil sie deren Programm attraktiv finden.5 Die Autoren gingen davon aus, dass diese Parteibindung hauptsächlich in der politischen Primärsozialisation erworben wird und danach weitgehend stabil bleibt, ohne vollkommen starr zu sein. So könne jemand im Falle von Veränderungen in seinem persönlichen Umfeld oder nationaler Krisen von der einen zur anderen Partei wechseln (Campbell et al. 1960: 120-167). Gerade an dieser Konzeption der Parteiidentifikation entzündeten sich in der Folgezeit heftige Kontroversen. Sie drehten sich in erster Linie um den Erwerb und die zeitliche Entwicklung von Parteibindungen, an der sich zudem der enge Bezug der Wahlsoziologie zur Sozialisationsforschung ablesen lässt. Die Forschung bestätigte die wichtige Rolle der Jugend innerhalb des Lebenszyklus für die Entwicklung von Parteibindungen (Sears/Funk 1999). Zugleich relativierte sie die Rolle der Herkunftsfamilie für die Entstehung und Entwicklung von Parteibindungen, indem sie zeigte, dass Parteibindungen nicht gleichsam natürlich an den Nachwuchs vererbt werden und auch andere Einflüsse zur Herausbildung von Parteibindungen führen können (Carmines et al. 1987; Niemi/Jennings 1991). Eng damit zusammen hängen Befunde, die belegen, dass Parteibindungen die politische Wahrnehmung zwar in ihrem Sinne färben, aber keineswegs gegen ihr widersprechende Informationen immunisieren (Bartels 2002; Green et al. 2002). Auch wurden zahlreiche Belege dafür zusammengetragen, dass als kurzfristig variabel charakterisierte Einstellungen die Parteiidentifikation beeinflussen können: Unzufriedenheit mit einem Spitzenkandidaten kann also durchaus zur Abschwächung einer Bindung an dessen Partei oder gar zur Abkehr von dieser führen (Brody/Rothenberg 1988; Clarke et al. 2004: 175-216). Folglich ist es keine Selbstverständlichkeit, dass einmal erworbene Parteibindungen über die Zeit stabil sind. Revisionistische Autoren gingen in ihrer Kritik an dem Parteibindungskonzept sogar soweit, in der Parteibindung nichts anderes als ein laufendes Konto (running tally) der Erfahrungen mit den politischen Parteien zu sehen (Fiorina 1981; Clarke et al. 2004). Damit scheinen sie jedoch über das Ziel hinausgeschossen zu sein, da in Wiederholungsbefragungen nachgewiesen wurde, dass Parteibindungen zwar nicht vollkommen stabil sind, aber zumindest stabiler als Einstellungen zu Sachfragen und Kandidaten (Jennings/Markus 1984; siehe auch Goren 2005; Keele/Wolak 2006). Die Parteiidentifikation erwies sich somit zwar nicht als „unmoved mover“, wohl aber als relativ stabiler und stabilisierender Faktor.
5 Unmittelbar an diesen Gedanken knüpft die Normalwahlanalyse an, die Beiträge langfristig stabiler Parteibindungen und kurzfristig variabler Einstellungen zu Wahlergebnissen zu trennen sucht. Das Normalwahlergebnis gibt an, wie eine Wahl ausgehen würde, bei der Kurzfristfaktoren die Stimmenverteilung im Aggregat nicht beeinflussten. Das ist dann der Fall, wenn Kurzfristfaktoren ohne Wirkung auf individuelles Wahlverhalten blieben oder sich deren Einflüsse gegenseitig neutralisierten, so dass die Stimmenverteilung unverändert bliebe. Anschließend wird das Normalwahlergebnis mit dem realen Resultat verglichen, um die Beiträge kurz- und langfristiger Faktoren zu trennen (klassisch Converse 1966).
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Kasten 3:
Harald Schoen Die zentralen Erklärgrößen im Modell von Campbell et al. (1960)
Die Wahlentscheidung wird im Wesentlichen auf die drei Faktoren Parteiidentifikation, Issue- und Kandidatenorientierungen zurückgeführt. Bei der Parteiidentifikation handelt es sich um eine langfristig stabile affektive Bindung an eine Partei, die in frühen Lebensphasen zumindest angelegt wird. Sie wirkt stabilisierend auf das Wahlverhalten. Issueorientierungen beziehen sich auf politische Sachfragen, die wiederum in verschiedene Typen untergliedert werden können. Inhaltlich lassen sich leistungs- und positionsbezogene Fragen unterscheiden. In die erste Kategorie fällt etwa die Bewertung der Regierungsleistung, in die zweite der Standpunkt zur weiteren Nutzung der Kernenergie. Zeitlich kann man in die Vergangenheit und in die Zukunft gerichtete Issueorientierungen trennen. Kandidatenorientierungen beziehen sich auf die Spitzenkandidaten, potentiell aber auch auf andere Akteure. Es lassen sich rollennahe (etwa Fachkompetenz) und rollenferne (etwa Privatleben) Dimensionen der Kandidatenbewertung unterscheiden. Issue- und Kandidatenorientierungen gelten als variabler als die Parteiidentifikation und können daher Veränderungen im Wahlverhalten erklären.
Kontroverse Diskussionen begleiteten auch Versuche, das ursprünglich zur Analyse amerikanischer Präsidentschaftswahlen entwickelte Modell für Wahlen in anderen politischen Systemen zu nutzen. Auf besonders große Skepsis stießen diese Übertragungsversuche mit Blick auf die Parteiidentifikation, dies nicht zuletzt in der Bundesrepublik. Kritiker argumentierten unter anderem, das Konzept einer „psychischen Parteimitgliedschaft“ als eigenständigem Erklärungsfaktor sei in von stärker politisierten sozialen Gegensätzen geprägten Gesellschaften nicht anwendbar. Zwar seien auch hier affektive Bindungen an Parteien nachzuweisen, doch handele es sich nur um abgeleitete Loyalitäten, d.h. sie spiegelten lediglich kausal vorgelagerte Bindungen an soziale Großgruppen, etwa die Arbeiterschaft, wider und besäßen daher keine eigenständige Erklärungskraft (Pappi 1973). Allerdings konnten auch in europäischen Gesellschaften mit ideologischen Konflikten von der sozialen Lage unabhängige Parteibindungen nachgewiesen werden (Zelle 1998). Andere Kritiker zweifelten daran, ob in Parteiendemokratien überhaupt eine von der Wahlentscheidung unterscheidbare Parteiidentifikation existiere, weshalb man mit Fragen nach Parteibindungen lediglich ein zweites Mal das Wahlverhalten messe (Thomassen 1976). Sieht man von den Niederlanden ab, die in dieser Hinsicht einen Sonderfall zu bilden scheinen (siehe etwa Richardson 1991; Tillie 1995), scheint aber auch dieser Einwand entkräftet. Die Forschung wendet das Parteibindungskonzept daher zu Recht in zahlreichen westlichen Demokratien an. Eine neue Runde in der Übertragbarkeitsdiskussion wurde nach dem Ende des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa eingeläutet. In den neuen mittel- und osteuropäischen Demokratien konnte man nach vierzig oder mehr Jahren Diktatur nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass bereits langfristig stabile Bindungen an andere als die postkommunistischen Parteien existierten. Im Gegenteil, da der politischen Primärsozialisation und langfristigen politischen Erfahrungen eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Stabilisierung von Parteibindungen zugeschrieben wird, schien Skepsis sehr berechtigt. Die empirische Forschung konnte diese Validitätszweifel bislang nicht vollends ausräumen, auch wenn einige Indizien für das Vorliegen echter Parteibindungen gesammelt wurden (siehe etwa Rose/Mishler 1998; Miller/Klobucar 2000).
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In diesem Zusammenhang bildet die ehemalige DDR eine doppelte Ausnahme. Aufgrund der besonderen Konstellation der Wiedervereinigung dominierten – sieht man einmal von der PDS als Nachfolgerin der SED ab – bald westdeutsche Parteien den politischen Wettbewerb in den neuen Ländern. Diese Parteien waren für viele Ostdeutsche nicht neu, sondern etwa aus dem Westfernsehen bekannt. Folglich schienen auch in einer frühen Phase nach dem Systemwechsel Parteibindungen nicht vollkommen ausgeschlossen. Im Unterschied zu anderen mittel- und osteuropäischen Gesellschaften liegen zudem für Ostdeutschland systematische empirische Analysen zum Konzept der Parteiidentifikation vor. Sie sprechen dafür, dass man das Konzept in Ostdeutschland durchaus anwenden kann, aber größere Messfehler auftreten (Falter et al. 2000; Arzheimer/Schoen 2005). Mit dem Ende des Sowjetreiches dehnte sich somit das geographische Anwendungsgebiet des MichiganModells aus. Empirisch erzielt das sozialpsychologische Modell in diversen Variationen außerordentlich hohe Erklärungsleistungen. Nicht selten können mit Einstellungsgrößen fünfzig oder mehr Prozent des Wahlverhaltens statistisch erklärt werden. Damit sind die Ziele der Forschung, die wissen möchte, welche Themen wahlentscheidend waren und welche Rolle Kandidaten spielten, weitgehend erreicht. Diese Leistungsfähigkeit dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass das Modell mit der Parteiidentifikation eine Komponente enthält, die stabiles Wahlverhalten erklären kann, daneben aber auch kurzfristig variable Faktoren, auf die sich Veränderungen im Wahlverhalten zurückführen lassen. Allerdings darf die überzeugende statistische Erklärungsleistung nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass es sich um ex post-Erklärungen handelt. Aus der ex ante-Perspektive nimmt sich die Leistung des Modells bescheidener aus, da es offenlassen muss, wie sich Individuen verhalten werden, deren Einstellungen nicht alle in die gleiche politische Richtung weisen: Gibt die Kandidatenpräferenz für die eine Seite den Ausschlag oder die Themenorientierung für die andere? Das Fehlen einer klaren Entscheidungsregel erscheint als umso gravierender, als vollständige Einstellungshomogenität in modernen Gesellschaften eher die Ausnahme sein dürfte und daher das Modell für einen beträchtlichen Teil der Wahlberechtigten keine Prognose gestattet (Rudi/Schoen 2005: 317). Allerdings ist dieses Problem durchaus lösbar, wenn man das klassische sozialpsychologische Modell mit neueren Erkenntnissen der Kognitionspsychologie kombiniert. Demnach fallen bei der Bewertung von Objekten diejenigen Eindrücke besonders stark ins Gewicht, die leicht aktivierbar sind. Die Aktivierbarkeit hängt von verschiedenen Faktoren ab, etwa der persönlichen Wichtigkeit eines Themas, der Stärke der entsprechenden Bewertung sowie der Häufigkeit früherer Aktivierungen (Huckfeldt/Sprague 2000; Steenbergen/Lodge 2003). Die Zahl früherer Aktivierungen wiederum hängt etwa davon ab, wie häufig eine Person vorher über das betreffende Thema kommunizierte, indem sie beispielsweise Massenmedien konsumierte oder sich mit anderen Menschen unterhielt. Damit kann die Gewichtung der Einflüsse auf die Wahlentscheidung theoretisch gefasst und als Variable interpretiert werden, deren Ausprägung etwa von kommunikativen Einflüssen abhängt (siehe etwa Iyengar/Kinder 1987; Iyengar 1991; Zaller 1992). Somit kann man im vorhinein theoriegestützte Prognosen zur (relativen) Gewichtung der Einflussfaktoren formulieren und muss sich nicht damit begnügen, nachträglich festzustellen, wie stark die einzelnen Faktoren auf die Wahlentscheidung wirkten. Wesentliche theoretische Defizite dieses induktiv
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gewonnenen Modells lassen sich also durchaus beheben. Daher erscheint es umso leichter nachvollziehbar, dass es in der empirischen Forschung bis heute eine herausragende Rolle spielt.
2.4 Der rationalistische Ansatz Der rationalistische Ansatz zur Erklärung von Wahlverhalten ist untrennbar mit dem Namen Anthony Downs verbunden. Mit „An Economic Theory of Democracy“ legte Downs 1957 die erste Analyse politischen Handelns und insbesondere Wahlverhaltens vor, die das in den Wirtschaftswissenschaften gängige Menschenbild des homo oeconomicus zugrunde legt. Darin betrachtet er den politischen Wettbewerb analog zum Marktgeschehen in der ökonomischen Sphäre als einen Markt, auf dem politische Unternehmer die Verwirklichung politischer Ziele im Tausch gegen Wählerstimmen anbieten. Er sollte damit die Wahlforschung wie viele andere Zweige der Politischen Soziologie und noch allgemeiner der Sozialwissenschaften nachhaltig beeinflussen (siehe für einen Überblick Arzheimer/Schmitt 2005). Den Dreh- und Angelpunkt der Argumentation bildet die Annahme, politische Akteure, seien es Eliten oder einfache Bürger, handelten rational (Downs 1957: 6). Rational bedeutet dabei, dass ein Akteur stabile und transitive, also widerspruchsfreie Präferenzen besitzt, die es ihm erlauben, aus mehreren Handlungsmöglichkeiten diejenige auszuwählen, die ihm den größten Nutzen spendet. Stellt man sich politische Programme, die Eliteakteure anbieten, als Positionen auf einer ideologischen Links-Rechts-Dimension vor, entscheidet sich ein rationaler Wähler stets für dasjenige Programm, das seiner Idealvorstellung am nächsten liegt. Der Rationalitätsbegriff ist ein instrumenteller, da er sich allein auf die Frage bezieht, mit welchen Mitteln Akteure ihre Ziele verfolgen. Unerheblich ist dagegen, weshalb sie diese Ziele verfolgen und wie sie zu ihren Präferenzen gelangen. Darin unterscheidet sich der Rational Choice-Ansatz vom mikrosoziologischen und sozialpsychologischen Ansatz, die ja gerade zu erklären suchen, warum Personen bestimmte Präferenzen entwickeln. Insoweit ergänzen sich die Ansätze. Zugleich ist die Rationalitätsannahme im Rational Choice-Ansatz nicht als Hypothese formuliert, die es empirisch zu prüfen gilt. Vielmehr handelt es sich um ein Axiom, also eine Grundannahme, die im Weiteren nicht überprüft wird: es wird vom homo oeconomicus ausgegangen und gefragt, wie er sich bei Wahlen verhält. Was kann der Rational Choice-Ansatz nun für die Analyse von Wahlverhalten leisten? Gemäß dem Downsschen Rationalitätsaxiom spiegelt das Verhalten die Präferenzen des Akteurs perfekt wider, was nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass sie indirekt ermittelt, nämlich aus dem Verhalten selbst rekonstruiert werden. Folglich können die Präferenzen nicht als Variablen dienen, die Wahlverhalten erklären. Dies mag auf den ersten Blick als gravierende Schwäche erscheinen, erweist sich bei genauerem Hinsehen jedoch als ein wichtiger Vorzug. Denn wenn angenommen wird, dass Akteure unter den jeweiligen Bedingungen ihren Nutzen maximieren, kann man untersuchen, wie Veränderungen dieser Bedingungen auf das Verhalten der Akteure wirken. Mit Blick auf den Gegenstand der
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Wahlsoziologie legt diese Ausrichtung zudem nahe, dass der Rational Choice-Ansatz ausgesprochen gut geeignet sein sollte, Veränderungen im Wahlverhalten zu erklären. Ein klassisches Anwendungsbeispiel stellt die Analyse von Wirkungen des Wahlsystems auf die Wahlentscheidung dar (siehe hierzu etwa Cox 1997; Schoen 2005b). Man nimmt an, dass Wahlberechtigte bestimmte politische Präferenzen besitzen, und fragt, wie sie in einem Mehrparteiensystem votieren, wenn ein System der relativen Mehrheitswahl oder ein Verhältniswahlsystem zur Stimmenverrechnung genutzt wird. Interessant sind dabei jene Personen, die eine Partei präferieren, die bei der Verhältniswahl problemlos einen Sitz gewinnt, aber keine Aussicht hat, die relative Mehrheit zu erzielen. Unter der Verhältniswahl werden sie sich für die Partei entscheiden, die ihnen inhaltlich am nächsten steht. Gilt die Mehrheitsregel, werden rationale Akteure zunächst prüfen, welche Parteien überhaupt Aussicht haben, in das Parlament einzuziehen, und dann unter diesen für diejenige votieren, die ihren Nutzen maximiert. Betrachtet man nicht einzelne Stimmberechtigte, sondern das gesamte Elektorat, führt die Annahme taktischen Wahlverhaltens zu der Prognose, dass unter Mehrheitswahlsystemen kleine Parteien bei Wahlen deutlich schlechter abschneiden sollten als unter Verhältniswahlsystemen. Dieses Beispiel illustriert, wie im Rational Wahl-Modell aus wenigen Annahmen, die von Eigenheiten einzelner Wähler abstrahieren, prüfbare Hypothesen abgeleitet werden können, um die Wirkungen situativer Faktoren, etwa des Programmangebots von Parteien oder einer sanktionsbewehrten Wahlpflicht, zu ermitteln. Allerdings schneiden diese Hypothesen bei empirischen Prüfungen nicht immer gut ab. Stimmen für Parteien ohne jegliche Aussicht auf einen Parlamentseinzug lassen sich damit ebenso wenig erklären wie die empirischen Wahlbeteiligungen: Beispielsweise nahmen an Wahlen zum Deutschen Bundestag bislang stets mehr als siebzig Prozent der Stimmberechtigten teil, obgleich ein rationaler Akteur an einer solchen Wahl nicht teilnehmen würde. Wie gelangt man zu dieser Prognose? Angenommen, ein Wahlberechtigter entscheidet sich in einem Zweiparteiensystem, dann ermittelt er nach Downs (1957) vor der Wahl den erwarteten Nutzen aus der Regierungstätigkeit von Partei A und von Partei B und berechnet die Differenz daraus. Ist diese gleich Null, wird er der Wahlurne fernbleiben. Aber selbst wenn er eine Nutzendifferenz erkennt, geht er nicht notwendig zur Wahl, da bei der Wahlentscheidung zwei weitere Faktoren zu berücksichtigen sind. Zunächst muss der Stimmberechtigte die Nutzendifferenz mit der Wahrscheinlichkeit diskontieren, dass seine Stimme den Ausschlag für die präferierte Partei gibt. Diese Wahrscheinlichkeit ist in einem Elektorat von mehreren Millionen Personen infinitesimal klein, weshalb das Produkt aus dem Nutzendifferential und der Wahrscheinlichkeit ebenfalls gegen Null strebt. Zugleich ist die Stimmabgabe mit Kosten verbunden. So muss sich der Wahlberechtigte informieren, um zu einer Entscheidung zu gelangen, sich unter Umständen für die Wahl registrieren und schließlich Zeit für die Stimmabgabe aufwenden, in der ihm Möglichkeiten entgehen, anderweitig Nutzen zu erzielen. Stellt er nun den marginalen (instrumentellen) Nutzen den Kosten der Wahlteilnahme gegenüber, überwiegen stets letztere. Daher sollte ein rationaler Akteur nicht an Wahlen teilnehmen (Downs 1957: 260-266) – in der Realität liegt die Wahlbeteiligung jedoch deutlich über der Nullprozentmarke.
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Kasten 4:
Harald Schoen Das Parteiendifferential und das Wahlparadoxon
Parteiendifferential: Bei der Wahlentscheidung versucht der Wähler im ökonomischen Ansatz seinen Nutzen zu maximieren. Im einfachsten Fall eines Zweiparteiensystems vergleicht er daher den Nutzen, der ihm aus einer von Partei A geführten Regierung erwächst (kurz: UA), mit dem Nutzen aus der Regierungstätigkeit von Partei B (UB). Diese Differenz UA- UB wird als Parteiendifferential bezeichnet und gibt den Ausschlag dafür, ob sich eine Person für Partei A (UA- UB > 0), Partei B (UA- UB < 0) oder die Wahlenthaltung (UA- UB = 0) entscheidet. Unter Berücksichtigung von Informationsproblemen, Mehrparteienkonkurrenz und anderen Faktoren wird das Wählerkalkül wesentlich komplizierter. Wahlparadoxon: Ein rationaler Akteur wird nach Downs an einer Wahl nur teilnehmen, wenn der ihm daraus voraussichtlich erwachsende Nutzen größer ist als die ihm dabei entstehenden Kosten. Der erwartete Nutzen ergibt sich aus zwei Komponenten. Zunächst ist das Parteiendifferential zu ermitteln. Anschließend muss es mit der Wahrscheinlichkeit multipliziert werden, dass die eigene Stimme den Ausschlag zugunsten der präferierten Partei gibt. Diese Wahrscheinlichkeit ist in Massendemokratien sehr klein. Folglich strebt das Produkt aus Parteiendifferential und Wahrscheinlichkeit gegen 0. Daher übersteigen bereits geringe Kosten, die mit der Stimmabgabe verbunden sind (z.B. Zeit, Fußweg zum Wahllokal), den erwarteten Nutzen. Deshalb dürfte kein rationaler Akteur an Wahlen teilnehmen. Tatsächlich nehmen jedoch etliche Wahlberechtigte an Wahlen teil. Diese Diskrepanz zwischen theoretischer Erwartung und empirischen Wahlbeteiligungsraten wird als Wahlparadoxon bezeichnet.
Dieses so genannte Wahlparadoxon stellt den Rational Choice-Ansatz vor ernsthafte Probleme. Denn welchen Wert soll ein Ansatz für die Wahlforschung haben, der bereits daran scheitert, die Wahlbeteiligung zu erklären? Daher wurden zur Lösung des Problems zahlreiche Vorschläge formuliert (Mensch 1999: 91-159). Einige davon orientierten sich an den Annahmen instrumentellen Handelns. So wird beispielsweise argumentiert, die Wahrscheinlichkeit, dass die eigene Stimmabgabe den Ausschlag geben wird, werde von Stimmberechtigten überschätzt, weshalb der abdiskontierte, d.h. mit der Wahrscheinlichkeit, die entscheidende Stimme abzugeben, multiplizierte Nutzen die Kosten übersteige und die Wahlbeteiligung konsistent erklärt sei. Allerdings bleibt zu fragen, wie Personen, die die Realität derart verzerrt wahrnehmen, durchaus anspruchsvolle Nutzen-Kosten-Abwägungen anstellen sollen. Wie dieser Rettungsversuch sind viele andere, die im Rahmen der konventionell rationalistischen Modellannahmen das Wahlparadoxon aufzulösen suchten, letztlich gescheitert (Arzheimer/Schmitt 2005: 286-293). Eine Reihe anderer Ansätze verlässt die engen Grenzen des konventionellen Rational Choice-Paradigmas, indem sie die Annahme strikt instrumentell-rationalen Handelns aufgibt. Dahinter steht die Überlegung, dass sich die Entscheidungssituation bei einer Wahlentscheidung von der einer Kaufentscheidung in der ökonomischen Sphäre deutlich unterscheide. Bei einer Kaufentscheidung setzt der Akteur ein Gut ein, um ein anderes zu erhalten; seine Handlung hat also eine leicht erkennbare und unmittelbar zurechenbare Folge. Bei der Wahlentscheidung ist das anders, da seine Stimme höchstwahrscheinlich nicht den Ausschlag darüber geben wird, welche politischen Ziele nach der Wahl verwirklicht werden. Seine Handlung hat also praktisch keinen Einfluss auf den ihm aus Regierungshandeln entstehenden Nutzen, und er handelt daher in einer Niedrigkostensituation (Kliemt 1986;
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siehe hierzu Quandt/Ohr 2004). Daraus folgern nun etwa Brennan und Lomasky (1993), dass für das Wahlverhalten instrumentelle Überlegungen irrelevant seien. Stattdessen würden Bürger bei der Wahlentscheidung expressiv handeln und sich beispielsweise von moralischen Überzeugungen leiten lassen. An der Wahl nehmen sie demnach teil, weil sie die Norm verinnerlicht haben, es sei die Pflicht eines Bürgers, sich an Wahlen zu beteiligen. Für ihre Entscheidung für eine Partei sammeln die meisten nicht politische Detailinformationen, sondern greifen auf information shortcuts zurück, die es ihnen erlauben, ohne großen Aufwand der Pflicht der Stimmabgabe nachzukommen. Beispielsweise befolgen sie Gruppennormen, nutzen ideologische Grundüberzeugungen und im Alltag erworbenes Wissen als Entscheidungshilfe (Popkin 1991). Nur eine kleine Gruppe intrinsisch politisch interessierter Personen wird sich über politische Details informieren. Dieses Erklärungsmodell hat sehr gute Aussichten, zu empirisch zutreffenden Prognosen des Wahlverhaltens zu führen. Allerdings wird der größere Realitätsgehalt um einen hohen Preis erkauft: Im Vergleich zu dem sehr sparsamen und von allen individuellen Besonderheiten der Wahlberechtigten abstrahierenden Modell ist es weitaus weniger elegant und kaum mehr von dem im vorangegangenen Abschnitt behandelten sozialpsychologischen Modell des Wahlverhaltens zu unterscheiden. Diese Lösung des Wahlparadoxons und damit verbundener Probleme stellt folglich die eigenständige Existenzberechtigung des Rational Choice-Ansatzes in der Wahlsoziologie in Frage. Diese Diagnose legt die Schlussfolgerung nahe, dass man mit dem sozialpsychologischen Modell keine schlechte Wahl trifft, wenn man reales Wahlverhalten zu erklären sucht. Dagegen kann das instrumentalistische Rational Choice-Modell in der Regel wenig zur Erklärung realen Wahlverhaltens beitragen, während es in anderen Zweigen der Politischen Soziologie, in denen sich Akteure in Hochkostensituationen befinden, eher zutreffende Prognosen erzielen dürfte. Gleichwohl gestattet es seine sparsame Modellierung, die aus einer Situation erwachsenden Anreize zu ermitteln und zu prognostizieren, wie sich ein homo oeconomicus verhalten würde. Abweichungen des realen Verhaltens von diesen Prognosen lenken die Aufmerksamkeit auf mögliche Gründe dafür. Daher können Rational Choice-Analysen auch in der Wahlsoziologie dazu beitragen, interessante Forschungsprobleme zu identifizieren (Arzheimer/Schmitt 2005: 302-303).
2.5 Fazit Wie wir gesehen haben, weisen die klassischen Erklärungsansätze unterschiedliche Stärken und Schwächen auf. Damit ergänzen sie einander eher, als dass sie in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stünden. Die Komplementarität der verschiedenen Argumente legt es nahe, eine allgemeine Theorie des Wahlverhaltens zu entwickeln, die die unterschiedlichen Theorien umfasst. Dabei kann die Wahlsoziologie von Versuchen in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen profitieren, allgemeine Handlungstheorien zu formulieren. Obgleich aus unterschiedlichen Perspektiven formuliert, stimmen solche Theorien darin überein, zwei Modi menschlichen Handelns zu unterscheiden. Im systematischen Modus sammeln Personen Informationen und treffen bewusst kalkulierende Entscheidungen, im heuristischen Modus verzichten sie darauf und folgen Verhaltensroutinen oder -ritualen.
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Die Frage, wann welcher Modus Anwendung findet, wird nicht vollkommen einheitlich beantwortet. Allerdings scheint der heuristische Modus die Regel zu sein, der systematische die Ausnahme, die dann relevant wird, wenn Akteure intrinsisch oder infolge äußerer Anreize motiviert sind, eine aufwendige Entscheidung zu treffen (Fazio 1990; Esser 1996; Taber et al. 2001; Quandt/Ohr 2004). Allerdings wurden diese Modelle bislang für die Wahlforschung nur vereinzelt nutzbar gemacht (siehe Behnke 2001). Mit Blick auf das Ziel, in den Sozialwissenschaften eine allgemeine Theorie menschlichen Handelns zu entwickeln, ist dies bedauerlich. Wenn man dagegen allein das Ziel verfolgt, Wahlverhalten empirisch gut zu erklären, ist es zu verschmerzen, da das sozialpsychologische Modell für diese Zwecke alles in allem gut geeignet sein dürfte.
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Ausgewählte empirische Befunde
Die Wahlsoziologie arbeitet mit unterschiedlichen Informationen, um Aussagen über Wahlverhalten zu treffen. Eine wichtige Rolle spielen Aggregatdaten, also etwa Informationen darüber, wie Parteien und Kandidaten in Regionen, Wahlkreisen und Gemeinden abgeschnitten haben. Soweit es um die Erklärung individuellen Wahlverhaltens geht, ist die Aussagekraft von Aggregatdaten trotz ihrer in der Regel hohen Qualität jedoch begrenzt, auch wenn moderne statistische Methoden das Problem des ökologischen Fehlschlusses zu mindern helfen (siehe King 1997). Die nach Erklärung strebende Wahlforschung greift daher vorwiegend auf Individualdaten zurück. Sie werden häufig mit Hilfe von Interviews gewonnen. Diese Daten erlauben es, das Wahlverhalten einer Person mit zahlreichen individuellen Merkmalen, seien es soziodemographische Merkmale, seien es Wahrnehmungen und Einstellungen, aber auch mit Merkmalen auf der politischen Meso- oder Makroebene in Beziehung zu setzen und damit Einflüsse auf individuelles Wahlverhalten genau zu untersuchen. Allerdings dürfen dabei mögliche Probleme bei der Stichprobenziehung sowie der Messung nicht übersehen werden, die die Gültigkeit von umfragegestützten Ergebnissen empfindlich beeinträchtigen können. Gleichwohl sind Interviewdaten heute die am häufigsten genutzten Informationen in der Wahlsoziologie. Für Sekundäranalysen sind sie einfach und kostengünstig bei Datenarchiven zugänglich. Im deutschsprachigen Raum hält das Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln mehrere tausend Datensätze bereit (http://www.gesis.org/ZA/ index.htm). Für die empirische Wahlforschung wichtig sind daneben beispielsweise das britische Datenarchiv in Essex (http://www.data-archive.ac.uk/) sowie das Inter-University Consortium for Political and Social Research an der Universität Michigan (http://www. icpsr.umich.edu/) (siehe hierzu auch den Beitrag von Silke Keil in diesem Band).
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Kasten 5:
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Ökologischer und individualistischer Fehlschluss
Ein ökologischer Fehlschluss kann auftreten, wenn von Informationen über Kollektive auf Merkmale der Mitglieder dieser Kollektive geschlossen wird. Stellt man beispielsweise fest, dass der Stimmenanteil der CDU mit dem Katholikenanteil auf Wahlkreisebene zunimmt, kann man daraus nicht schließen, dass Katholiken überproportional häufig die CDU wählen. Ein individualistischer Fehlschluss kann vorkommen, wenn aus Informationen über Individuen auf Merkmale von Kollektiven geschlossen wird. Es kann also aus dem Befund, dass Arbeiter überproportional häufig für die SPD votieren, nicht gefolgert werden, dass auf Wahlkreisebene mit dem Arbeiteranteil der SPD-Stimmenanteil zunimmt. Der ökologische und der individualistische Fehlschluss sind Spezialfälle von Problemen, die auftreten, wenn Untersuchungs- und Aussageeinheit auseinanderfallen.
Auf der Basis dieser vielfältigen Datengrundlagen untersucht die Wahlforschung etliche verschiedene Fragestellungen. Sie fragt etwa danach, welche Rolle interpersonale und massenmediale Kommunikation bei der Wahlentscheidung spielt und wie Wahlsysteme individuelles Wahlverhalten und Wahlausgänge beeinflussen. Wahlforscher interessieren sich auch dafür, ob und wie stark Wahlkampfereignisse Bürger zur Stimmabgabe mobilisieren oder dazu bringen, ihre Wahlabsicht zu ändern. Andere Arbeiten suchen langfristige Trends im Wahlverhalten aufzuspüren. Angesichts der kaum mehr zu überblickenden Vielfalt an Untersuchungen kann an dieser Stelle kein umfassender Überblick über empirische Ergebnisse der Wahlsoziologie gegeben werden. Stattdessen sollen empirische Befunde zum Wahlverhalten in Deutschland dargestellt werden, die in der Tradition zweier klassischer Ansätze der Wahlsoziologie stehen: des Cleavage- und des sozialpsychologischen Ansatzes.
3.1 Class voting und konfessionell-religiöses Wählen Die These von der politisierten Sozialstruktur, der Lipset/Rokkan (1967) große Aufmerksamkeit verschafften, beschäftigt die Wahlsoziologie bis heute. Ausgehend von der Beobachtung, dass bestimmte Parteien als politische Interessenvertreter sozialer Großgruppen gegründet wurden, untersucht die Forschung, ob und inwieweit individuelles Wahlverhalten durch die soziale Position bestimmt wird. Auf besonders großes Interesse stoßen dabei zwei Konfliktlinien, die in vielen westeuropäischen Staaten die politische Entwicklung wesentlich geprägt haben: die sozioökonomische und die religiös-konfessionelle Spannungslinie. Entsprechend wird in der Bundesrepublik untersucht, inwieweit die Zugehörigkeit zur (gewerkschaftsnahen) Arbeiterschaft und zu den (praktizierenden) Katholiken die Wahl von SPD bzw. CDU/CSU begünstigt. Das Interesse der Forschung beschränkt sich nicht auf die Frage, ob und wie stark class voting und konfessionell-religiöses Wahlverhalten auftreten, sondern erstreckt sich zusätzlich auf Größen, die die Stärke des Zusammenhangs zwischen sozialer Position und Wahlentscheidung steuern. Es konnten dabei eine Reihe von Faktoren identifiziert werden. Beispielsweise scheint die soziale Mobilität in einer Gesellschaft (de
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Graaf et al. 1995), aber auch das programmatische Angebot der Parteien das Ausmaß des class voting zu beeinflussen (Elff 2006). An der Analyse des class voting lassen sich gut die methodischen Fortschritte in der Wahlforschung nachvollziehen. Anfangs dominierten Arbeiten, in denen mit einfachen Randauszählungen gearbeitet wurde. Bald setzte sich jedoch die Erkenntnis durch, dass die Analyse des class voting einen Vergleich des Wahlverhaltens von Arbeitern und einer Referenzgruppe erfordert. Dazu schlug Alford (1962) ein Maß vor, das sich als Differenz des Stimmenanteils der Arbeiterpartei unter Arbeitern sowie im restlichen Elektorat berechnet. Kritiker wiesen jedoch auf gravierende Schwächen des Instruments hin und empfahlen, anstelle einer Differenz einen Quotienten zu verwenden. In der Forschung haben sich daher die so genannten log odds durchgesetzt (Heath et al. 1985). Kasten 6:
Zur Berechnung von log odds
Auf das class voting angewandt, berechnen sich log odds folgendermaßen: Die Wahrscheinlichkeit von Arbeitern, für eine Arbeiterpartei zu stimmen, wird durch ihre Gegenwahrscheinlichkeit dividiert; den gleichen Quotienten bildet man für die übrigen Personen, ehe man den ersten durch den zweiten Quotienten dividiert und diesen Wert logarithmiert. Bezogen auf das Beispiel der Bundesrepublik, bedeuten Werte über 0, einen positiven Effekt des Arbeiterstatus auf die SPD-Wahl, Werte unter 0 einen negativen Effekt und ein Wert von 0 keinen Effekt.
Anhand dieses einfachen Maßes soll nun ein Überblick über die Entwicklung schichten- und konfessionsspezifischen Wahlverhaltens bei Bundestagswahlen gegeben werden. Wie in Abbildung 2 zu erkennen ist, nahm die Prägekraft des Arbeiterstatus auf die Wahlentscheidung zugunsten der SPD in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst zu. Sie erreichte ihren Höhepunkt bei der Bundestagswahl 1957, doch war auch damals das Wahlverhalten beileibe nicht vollständig durch die soziale Position determiniert. In den 1960er Jahren verlor die soziale Position rapide an Prägekraft auf die Wahlentscheidung, später büßte sie allmählich weiter an Wirkung ein. Bei der jüngsten Bundestagswahl 2005 ist beinahe keine Wirkung mehr festzustellen. Arbeiter wählen also praktisch genauso wahrscheinlich die SPD wie andere Wahlberechtigte auch. In den neuen Bundesländern begünstigt der Arbeiterstatus die Stimmabgabe zugunsten der SPD praktisch überhaupt nicht; in einigen Fällen, etwa bei der Wahl 1990, entschieden sich ostdeutsche Arbeiter sogar unterdurchschnittlich häufig für die SPD. Diese Ergebnisse mögen vor dem Hintergrund der traditionellen und westdeutschen Muster des Wahlverhaltens erstaunlich erscheinen, können aber nicht überraschen, da in der DDR die traditionellen Prozesse der gesellschaftlichen Interessenvermittlung suspendiert waren, so dass die vermeintlich natürliche Koalition zwischen Arbeiterschaft und SPD erodieren konnte (Schoen 2005a: 166).
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Abbildung 2:
199 Die Wirkung des Arbeiterstatus und des Katholikenstatus auf die Wahlentscheidung zugunsten von SPD bzw. CDU/CSU bei den Bundestagswahlen 1949-2005 (Westdeutschland)
2
Arbeiterstatus > SPD-Wahl 1,5
log odds
Katholik > CDU/CSU-Wahl 1
0,5
0 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 Anmerkung: Die Werte für die Wahlen 1961 bis 2002 wurden aus Schoen (2005) entnommen. Für die Wahl 2005 wurden eigene Berechnungen mit den Daten aus dem Projekt „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik – Vorwahlstudie“ (ZA-Nr. 4302) durchgeführt.
Die empirischen Befunde dürfen allerdings nicht so interpretiert werden, dass in Deutschland heutzutage die soziale Position keinerlei Bedeutung mehr für das Wahlverhalten hat. Denn differenziertere Analysen zeigen, dass sich Arbeiter im Wahlverhalten durchaus noch von ihren klassischen Antipoden, den Mitgliedern der alten Mittelschicht, unterscheiden (Schoen 2005a: 170). Darüber hinaus gibt es Anzeichen für neue Bündnisse zwischen sozialen Gruppen und politischen Parteien an der Wahlurne (Müller 1998). In dieser Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, ja einander scheinbar widersprechender Prozesse ähnelt die bundesdeutsche Entwicklung jener in einer Reihe anderer westlicher Demokratien (Evans 1999). Die Wirkung der Konfessionszugehörigkeit auf das Wahlverhalten in der Bundesrepublik unterliegt weniger großen Schwankungen als der Effekt des Arbeiterstatus (Abbildung 2). Katholiken entscheiden sich stets überproportional häufig für die Unionsparteien. Auch heute ist noch ein deutlicher, wenn auch nicht alles überragender Effekt erkennbar, der sich nicht wesentlich von den Wirkungen vor mehreren Jahrzehnten unterscheidet (Jagodzinski/ Quandt 2000). Ebenso kann man in den neuen Bundesländern seit 1990 eine vergleichsweise starke positive Wirkung der katholischen Konfession auf die Wahlentscheidung zugunsten der Unionsparteien erkennen (Schoen 2005a: 176-180). Alles in allem unterliegt die Beziehung zwischen der sozialen Position und dem Wahlverhalten einem Wandel. Dieser lässt sich allerdings nicht als stetiger und unumkehrbarer
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Niedergang beschreiben. Eher sind komplexere Entwicklungen zu beobachten, die als Ergebnis von gesellschaftlichem Wandel und Elitenhandeln zu verstehen sind und die Beziehung zwischen der sozialen Position und dem Wahlverhalten auch künftig als reizvollen Untersuchungsgegenstand erscheinen lassen.
3.2 Dealignment und eine Personalisierung des Wahlverhaltens? Zahlreiche Arbeiten in der Tradition des sozialpsychologischen Ansatzes interessieren sich für die Parteibindungen als stabilisierende Kräfte bei der individuellen Meinungsbildung wie im gesamten politischen Wettbewerb. Seit nunmehr über zwanzig Jahren steht diese Forschung im Zeichen des Dealignment. Dieses Konzept bezeichnet die Erosion langfristiger Parteibindungen. Ursprünglich als vorübergehendes Phänomen angesehen, entwickelte es sich in zahlreichen westlichen Demokratien zu einem Dauerzustand. Auch in der Bundesrepublik ist die Zahl der Parteianhänger deutlich zurückgegangen. Wie Abbildung 3 zu entnehmen ist, identifizierten sich Ende der 1970er Jahre noch rund 80 Prozent der Westdeutschen mit einer politischen Partei. Verstärkt am Anfang der 1980er und 1990er Jahre sank diese Rate auf rund zwei Drittel zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Parteianhänger sind also noch in der Mehrheit, doch ist sie weitaus weniger komfortabel als noch vor 30 Jahren. In den neuen Bundesländern sehen sich seit der Wiedervereinigung weniger Menschen als in den alten als Parteianhänger: hier oszilliert die Parteianhängerrate zwischen 50 und gut 60 Prozent, wobei die vergleichsweise großen Schwankungen auf Messprobleme hindeuten (siehe auch Arzheimer/Schoen 2005). Da Parteibindungen politische Orientierungen und politisches Verhalten beeinflussen, ist infolge eines Dealignments mit Veränderungen in der öffentlichen Meinung und dem Wahlverhalten zu rechnen. Wenn ein wachsender Teil des Elektorats keine Parteiloyalitäten besitzt, kann die öffentliche Meinung volatiler werden, wie auch Wahlergebnisse stärkeren Schwankungen unterliegen können. Zugleich liegt die Vermutung nahe, eine Erosion langfristig stabiler Faktoren lasse mehr Raum für Einflüsse kurzfristig variabler Faktoren auf das Wahlverhalten. Nachdem einige Zeit vermutet worden war, nachlassende Parteibindungen ebneten den Weg für rational kalkulierende Issue-Wähler, hat sich das Interesse mittlerweile zur Rolle von Kandidatenorientierungen bei der Wahlentscheidung verschoben. Unter Hinweis auf eine stärkere Betonung von Personen in der Wahlkampfführung sowie in der Medienberichterstattung, man denke an die so genannten TV-Duelle vor den Wahlen 2002 und 2005, wird hier argumentiert, es könnte zu einer Personalisierung des Wahlverhaltens kommen (Brettschneider 2002: 14-23). Dabei wird eine Personalisierung im weiteren Sinne von einer Personalisierung im engeren Sinne unterschieden. Unter ersterer wird ein Bedeutungszuwachs von allgemeinen Kandidatenorientierungen bei der Wahlentscheidung verstanden, unter letzterer ein Anwachsen des Einflusses von Einstellungen zu persönlichen, „unpolitischen“ Kandidatenmerkmalen.
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Abbildung 3:
201 Anteil der Parteianhänger in West- und Ostdeutschland 1977-2005 bzw. 1990-2005 (Quelle: Politbarometer)
90 80 alte Bundesländer
70 60
%
50 neue Bundesländer
40 30 20 10
20 02
19 98
19 94
19 90
19 86
19 82
19 78
0
Auch wenn die Argumente für die Personalisierungsthese durchaus plausibel klingen, ist in der Bundesrepublik bislang ein solcher Trend nicht eindeutig nachgewiesen worden. Wie in Abbildung 4 zu erkennen ist, ist der reine Einfluss von Einstellungen zu Kanzlerkandidaten unter Kontrolle von Parteibindungen und Sachfragenorientierungen auf Bundestagswahlverhalten generell begrenzt; das gilt für West- wie Ostdeutsche gleichermaßen (Gabriel/ Neller 2005). Ein langfristiger Trend zu stärkeren Kandidateneffekten lässt sich nicht erkennen (siehe aber Ohr 2000), lediglich wahlspezifische Schwankungen sind zu beobachten. Allerdings schließt dieses Ergebnis eine kontinuierlich zunehmende Bedeutung von Einstellungen zu persönlichen, „unpolitischen“ Kandidatenmerkmalen nicht aus. Bezogen auf Wahlverhalten in Deutschland liegt zu dieser Frage nur spärliche empirische Evidenz vor. Sie erlaubt den Schluss, dass unpolitische Kandidatenmerkmale wie das Privatleben oder die physische Attraktivität das Wahlverhalten tatsächlich beeinflussen (Ohr/Klein 2002; Rosar/Klein 2005). Allerdings gestattet die Evidenz keine Aussagen über längerfristige Entwicklungen. Da jedoch in anderen Demokratien mit besserer Datenlage ein solcher Trend nicht nachweisbar ist, scheint eine solche Tendenz auch in Deutschland eher unwahrscheinlich (King 2002). Man kann also davon ausgehen, dass Kandidatenorientierungen bei der Wahlentscheidung eine Rolle spielen, aber beileibe nicht alle anderen Faktoren in den Schatten stellen. Insoweit sind Wahlen also mehr als Personalplebiszite oder gar reine Schönheitskonkurrenzen.
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Abbildung 4:
Wirkung der Einstellungen zu den Kanzlerkandidaten auf die Wahlentscheidung zwischen Union und SPD in Westdeutschland (Angaben: korr. R² × 100 und Anstieg korr. R² × 100 durch Kandidatenorientierungen)
70
60 korr. R² - nur Kandidaten 50
40
30
20 Anstieg korr. R² - Kandidaten unter Kontrolle von Parteibindungen und Issueorientierungen
10
0 1961
1965
1969
1972
1976
1980
1983
1987
1990
1994
1998
2002
2005
Anmerkung: Die Werte für die Wahlen 1961 bis 2002 wurden aus Anderson/Brettschneider (2003) entnommen. Für die Wahl 2005 wurden eigene Berechnungen mit den Daten aus dem Projekt „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik – Vorwahlstudie“ (ZA-Nr. 4302) durchgeführt. Einschlägigere Analysestrategien führen zu qualitativ ähnlichen Ergebnissen wie die Methode von Anderson/Brettschneider (2003).
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Leistungen und Desiderata der Wahlsoziologie
Die Wahlsoziologie untersucht eine weit verbreitete und in der repräsentativen Demokratie eminent wichtige Form politischen Verhaltens. Am Beginn des 21. Jahrhunderts kann sie auf große Fortschritte und Erfolge bei der Erklärung von Wahlverhalten verweisen. Daher gilt sie nicht zu Unrecht als eines der theoretisch wie methodisch am weitesten entwickelten Gebiete innerhalb der Politischen Soziologie. Dabei dürfte sie vom Gegenstand selbst begünstigt worden sein: Eine Wahl ist ein lange geplantes, zeitlich eingegrenztes Ereignis, bei dem Bürger aus einer begrenzten Palette an Verhaltensmöglichkeiten wählen können, was es der Forschung erleichtert, gezielt Daten zu erheben und Hypothesen zu prüfen. Gleichwohl weist auch die Wahlsoziologie Schlagseiten und Schwachstellen auf, von denen einige abschließend skizziert werden sollen. Die systematische Theorieentwicklung gehört nicht unbedingt zu den Herzensanliegen vieler Wahlsoziologen. Ablesen lässt sich dies an atheoretischen Analysen sowie einer Neigung zum Theorieeklektizismus und zur theoretischen Segmentierung. Beispielsweise wird in der Forschung zum Wahlverhalten zugunsten extremistischer Parteien häufig ganz selbst-
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verständlich auf andere Konzepte und Argumente zurückgegriffen als in Analysen „normalen“ Wahlverhaltens. Diese Theoriedefizite erschweren kumulative Wahlforschung und die Verknüpfung der Wahlsoziologie mit anderen Gebieten der Politischen Soziologie. Dies erscheint umso problematischer, als die verschiedenen Teildisziplinen allesamt menschliches Verhalten in unterschiedlichen politischen Bezügen untersuchen und daher geradezu prädestiniert scheinen, gemeinsam eine Theorie politischen Handelns zu entwickeln. Die empirische Wahlforschung war und ist vorwiegend Wählerforschung. Sie konzentriert sich darauf, die Wahlentscheidung aus politischen Prädispositionen und Wahrnehmungen der Wahlberechtigten zu einem Zeitpunkt zu erklären. Im Vergleich dazu schenkt sie dem sozialen, politischen und institutionellen Kontext und der Prozesshaftigkeit der Wahlentscheidung wenig Beachtung. Dadurch gerät aus dem Blick, dass Bürger mit ihrem Votum zu einem bestimmten Zeitpunkt unter bestimmten institutionellen Bedingungen auf ein bestimmtes Angebot an Kandidaten und Parteien reagieren. Eine solche Verengung des Blickwinkels mag zu verschmerzen sein, wenn sich an den institutionellen Bedingungen nichts ändert, das Angebot praktisch als konstant angesehen werden kann und die meisten Wahlberechtigten unabhängig von äußeren Umständen entscheiden. Ob diese Vermutung zutrifft, kann man freilich erst entscheiden, wenn man sie empirisch untersucht hat. Daher ist es zu begrüßen, dass in jüngerer Zeit verstärkt Wahlsysteme, das politische Angebot und die Inhalte massenmedialer wie interpersoneller Kommunikation neben politischen Prädispositionen bei der Analyse individuellen Wahlverhaltens berücksichtigt werden und die Wahlsoziologie verstärkt international und intertemporal vergleichend arbeitet. Positiv zu bewerten ist ebenso die Wiederentdeckung der Zeitdimension in der Wahlsoziologie. Denn nachdem Lazarsfeld et al. (1944) ihre ambitionierte Untersuchung der Urteilsbildung vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl 1940 vorgelegt hatten, geriet die Prozesshaftigkeit der Meinungsbildung lange Zeit in Vergessenheit. Erst in jüngerer Zeit wird diesem Aspekt wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil, vermutlich begünstigt durch die Beobachtung nachlassender langfristiger Bindungen, die eine wachsende Volatilität in der Meinungsbildung wahrscheinlicher werden lässt. Um Wirkungen kontextueller Faktoren sowie die Prozesshaftigkeit der Wahlentscheidung empirisch zu untersuchen, sind geeignete Daten unabdingbar. Gerade hieran fehlt es jedoch nicht selten, was eine angemessene Prüfung vieler Hypothesen erschwert. Allerdings sind in dieser Hinsicht gerade in jüngerer Zeit durchaus erfreuliche Entwicklungen zu erkennen. So werden beispielsweise Inhalte massenmedialer Berichterstattung und Wahlkampfgeschehen systematisch erfasst. Auch wird der Prozesshaftigkeit der Meinungsbildung mit dicht gestaffelten Befragungen repräsentativer Stichproben Rechnung zu tragen versucht. Und Wiederholungsbefragungen werden eingesetzt, um die individuelle Urteilsbildung zu untersuchen. Allerdings können diese Beispiele nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Datenlage nur in wenigen Fällen angemessene Analysedesigns gestattet. Sowenig die Wahlsoziologie alle Probleme gelöst hat, sowenig hat sie alle Fragen beantwortet. Das gilt umso mehr, als der gesellschaftliche und politische Wandel Tag für Tag neue Konstellationen hervorbringt, in denen sich als gesichert geltende Erkenntnisse von neuem bewähren müssen und neue Hypothesen geprüft werden können. So bieten sich der Wahlsoziologie neue Möglichkeiten unser Wissen über menschliches Verhalten bei politischen Wahlen zu erweitern und diesen in der repräsentativen Demokratie zentralen Prozess
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der Interessenvermittlung besser zu verstehen. Auch zukünftig lässt die Wahlsoziologie daher wichtige Beiträge zur Politischen Soziologie erwarten.
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Testfragen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Erläutern Sie die Argumentation des mikrosoziologischen Erklärungsmodells! Welche Aussagen trifft die Cleavage-Theorie über Wahlverhalten? Welchen explanativen Wert haben sie? Vergleichen Sie das Erklärungsmodell in „The American Voter“ mit dem in „The Voter Decides“! Erläutern Sie die Grundannahmen des Rational Choice-Ansatzes und die daraus gewonnenen Erklärungen von Wahlverhalten! Vergleichen Sie den mikrosoziologischen, den sozialpsychologischen und den rationalistischen Ansatz im Hinblick auf die zugrunde liegenden Menschenmodelle! Wie erklären der mikro- und der makrosoziologische, der sozialpsychologische und der rationalistische Ansatz wechselndes, wie stabiles Wahlverhalten? Erläutern Sie das so genannte Wahlparadoxon! Stellen Sie das Konzept „Parteiidentifikation“ dar und diskutieren Sie die Übertragungsproblematik! Was versteht man unter dem Konzept „Dealignment“, welche Konsequenzen für den politischen Prozess könnten damit verbunden sein? Diskutieren Sie das Konzept „Personalisierung des Wahlverhaltens“! Ist empirisch eine Personalisierung des Wahlverhaltens zu beobachten?
Einführung in das Forschungsfeld der Politischen Kommunikation Sarah Bastgen, Kim Jucknat und Andrea Römmele
1
Einleitung
Aus der Perspektive der Politischen Soziologie liegt das Augenmerk der politischen Kommunikation auf der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Politik, Medien und Bürgern. In Anlehnung an Gurevitch/Blumler (1977) wird der Prozess der politischen Kommunikation daher auch als Handlungssystem verstanden, in dem Veränderungen in einem Element des Systems Veränderungen im Verhalten der anderen Elemente mit sich bringen. Im Mittelpunkt steht somit eine Dynamik, der die politische Kommunikation aufgrund des gesellschaftlichen Wandels und der technischen Innovationen unterliegt. Schaubild 1:
Politische Kommunikation als Handlungssystem
Quelle: Römmele (2005: 24).
Diese verschiedenen Verbindungen und Abhängigkeiten strukturieren den vorliegenden Beitrag.
210
2
Sarah Bastgen, Kim Jucknat und Andrea Römmele In einem ersten Schritt steht die Frage nach der Rolle und Bedeutung von Kommunikation in repräsentativen Demokratien im Vordergrund. Warum müssen politische Akteure mit Bürgern kommunizieren? In einem zweiten Schritt sollen die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit politischer Kommunikation beschäftigen, zu Wort kommen – dies wären in erster Linie die Kommunikationsforschung, die Parteienforschung, sowie der seit den 1990er Jahren boomende Forschungsstrang der Wahlkampfkommunikationsforschung. Dabei werden die unterschiedlichen Perspektiven dieser Forschungsstränge aufgezeigt und näher beleuchtet. In einem dritten Schritt wird das junge Forschungsfeld der Wahlkampfkommunikationsforschung eingehender betrachtet: In diesem Teil stehen unterschiedliche Wahlkampfstile sowie die vielbeachtetete Amerikanisierungs- und Modernisierungsthese im Mittelpunkt. Daran anschließend geht es um ausgewählte Akteure der politischen Kommunikation und deren Interaktion mit den Medien: Das Spannungsfeld zwischen Parteien bzw. NGOs und Medien wird hier thematisiert. Ein eigenes Unterkapitel ist den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK-technologien) und ihrer Bedeutung für politische Akteure gewidmet. Abschließend widmen wir uns der vergleichenden politischen Kommunikationsforschung. Im Zuge der Entgrenzung politischer Kommunikation erweist sich eine vergleichende Perspektive nicht nur als fruchtbar, sondern als unerlässlich.
Politische Kommunikation in repräsentativen Demokratien
Moderne Demokratien sind repräsentative Demokratien. Während Bürger in der griechischen Polis – zumindest der Idee nach – direkt am politischen Geschehen teilhatten und der Austausch zwischen den Bürgern den kommunikativen Prozess darstellte, übergeben Bürger in repräsentativen Demokratien die Entscheidungen über politische Sachverhalte auf Zeit einer relativ kleinen Zahl gewählter Repräsentanten. Politik wird also für den überwiegenden Teil der Bevölkerung nicht mehr direkt erfahrbar, sondern zur Sekundärerfahrung und somit zum Vermittlungsgegenstand (Sarcinelli 1987). Der kommunikative Prozess verlagert sich weg von der Diskussion zwischen den Bürgern untereinander hin zur Kommunikation zwischen Bürgern und Repräsentanten. Da hier die unmittelbare Entscheidungsfindung delegiert wird, ist die Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten eine zentrale Voraussetzung für die Einbeziehung der Bürger in den politischen Prozess. Ohne Information über das politische Angebot der zur Wahl stehenden Kandidaten und Parteien und ohne Kenntnisnahme der Wünsche und Interessen der Bürger, d.h. ohne Kommunikation, ist effektive Repräsentation nicht vorstellbar. Kommunikation ist daher eine notwendige Bedingung politischer Repräsentation (Römmele 2005). Dieser Aspekt ist in der Repräsentationsforschung bisher vernachlässigt worden, erst in jüngerer Vergangenheit wird für diese erweiterte Perspektive plädiert (Zittel 2008). Der kommunikative Austausch zwischen Regierenden und Regierten wurde (zumindest implizit) immer als selbstverständlich und
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konstant angesehen, d.h. keinen großen Veränderungen unterworfen. Dass dieser Austausch durch den anhaltenden gesellschaftlichen Modernisierungs- und Individualisierungsprozess und durch die Entwicklung im Bereich der Massenmedien einem ständigen Wandel unterliegt, wird vornehmlich von der Kommunikations- und Medienforschung unterstrichen. Vor allem im Zuge der Entwicklung der neuen IuK-Technologien wird verstärkt auf die Chancen und Risiken dieser neuen Kommunikationsmöglichkeiten hingewiesen. Die Veränderungen der Möglichkeiten von Kommunikation können gravierende Folgen für den politischen Repräsentationsprozess haben. „New technical media make possible new forms of social interaction, modify or undermine old forms of interaction, and thereby serve to restructure existing social relations and the institutions and organizations of which they are a part.“ (Thompson 1996: 17) Zusammenfassung:
Die Kommunikation zwischen Bürgern und ihren politischen Vertretern ist in repräsentativen Demokratien von zentraler Bedeutung. Durch politische Kommunikationsprozesse wird der Bürger über politische Alternativen informiert und die politischen Repräsentanten über die Anliegen der Bürger in Kenntnis gesetzt. Mittels dieser kommunikativen Rückkopplung kann effiziente Repräsentation erst gewährleistet werden.
3
Politische Kommunikation in unterschiedlichen Teildisziplinen der Politischen Soziologie
3.1 Kommunikationsforschung Politische Kommunikation ist Thema gleich mehrerer Disziplinen – natürlich mit unterschiedlicher Fragestellung und Stoßrichtung. Die Kommunikationswissenschaften haben sich von Anfang an mit den Effekten und der Wirkung von Kommunikation beschäftigt. Aus der Perspektive der politischen Kommunikation bedeutete dies schwerpunktmäßig die Frage nach Wahlkampfeffekten. Die „Geschichte“ der Medien- bzw. Kommunikationseffekte lässt sich grob in vier Phasen einteilen (vgl. McQuail 2005: 457ff): In einer ersten Phase – die sich zeitlich von ca. 1900-1930 festmachen lässt, wurde den Medien ein massiver Einfluss auf die Meinungen und Einstellungen der Bürger zugesprochen. Über die Medien werden, so der einhellige Tenor der Wissenschaft – Gewohnheiten, politische (und andere) Einstellungen und Verhalten verändert (vgl. Bauer/Bauer 1960). Die „Macht der Medien“ resultierte nicht zuletzt aus den Beobachtungen des ersten Weltkrieges, der perfekt funktionierenden Propaganda-Maschinerie der diktatorischen Staaten in der Zeit nach dem ersten Weltkriege, allen voran Russland (vgl. Lippmann 1922). Die zweite Phase, zeitlich einzuordnen zwischen 1930 und 1960, präsentiert auf der Grundlage umfangreicher empirischer Arbeiten eine zurückhaltendere, moderatere Sichtweise von Medieneffekten (vgl. Blumer 1930; Blumer/Hauser 1933; Lazarsfeld et al. 1944). Die Ergebnisse zeigen einen deutlich geringeren Einfluss unterschiedlicher Medien. „Mass
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communication does not ordinarily serve as a necessary or sufficient cause of audience effects, but rather functions through a nexus of mediating factors.” (Klapper 1960: 8) Kaum hatte diese „minimal effects“-Formel Eingang in kommunikationswissenschaftliche Textbücher/Lehrmaterial gefunden, wurde sie wieder in Frage gestellt. Diese dritte Phase kann am ehesten – in Anlehnung an einen vielbeachteten Aufsatz von Elisabeth Noelle-Neumann – als „Return-to-the-Concept-of-Powerful-Media“ tituliert werden. Vor allem das Aufkommen des neuen Mediums Fernsehen mit der Macht der bewegten Bilder begründete den erneuten Paradigmenwechsel. Jedoch zeigte die empirische Umfrageforschung, dass der zentrale Effekt der Kommunikation über das Fernsehen lediglich der der Verstärkung (reinforcement) ist – über bzw. mit dem Fernsehen Verhalten bzw. politische Einstellungen zu ändern, ist eher selten möglich (vgl. Treneman/McQuail 1961; Blumler/ McQuail 1968; Patterson/McClure 1976). Der vierte und auch heute vorherrschende Ansatz zur Untersuchung von Medien- und Kommunikationseffekten lässt sich wohl am besten als eine Verlagerung hin zu längerfristigen kognitiven Veränderungen, statt zu Einstellungen bezeichnen (vgl. McQuail 2005: 460). „In essence, this involves a view of media as having their most significant effects by constructing meanings. These constructs are then offered in a systematic way to audiences, where they are incorporated (or not), on the basis of some form of negotiation, into personal meaning structures, often shaped by prior collective identifications. Meanings (thus effects) are constructed by receivers themselves. This mediating process often involves strong influence from the immediate social context of the receiver. The break with „all powerful” media is also marked by a methodological shift, especially away from quantitative survey methods” (McQuail 2005: 461). Ein vielbeachteter Ansatz dieser vierten Phase ist der Agenda-Setting-Ansatz. Dieser Ansatz geht – Nuancen und Details beiseite gelassen – davon aus, dass die Medien die Themenschwerpunktsetzung der Öffentlichkeit bestimmen. „The media doesn’t tell people what to think but what to think about“(McCombs/Shaw 1972). Diese Theorie geht davon aus, dass die Themen, die in den Medien die große Aufmerksamkeit genießen, auch diejenigen sind, welche die Öffentlichkeit als die dringlichsten ansieht. Die Agenda-Setting-Theorie konzentriert sich – auch dies gilt es zu betonen – nur auf den Umfang der Berichterstattung, nicht auf Inhalt oder Duktus.
3.2 Parteienforschung Auch in der Parteienforschung wird das Thema politische Kommunikation behandelt. Die Frage, die in diesem Zusammenhang im Vordergrund steht ist: Wie passen sich Parteien an die Veränderungen und Anforderungen des Mediensystems und der Mediengesellschaft an? Der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Diskussion liegt dabei auf dem Niedergang der Massenpartei und ihrer Ablösung durch neue Organisationstypen. War der Fokus der Parteien zunächst nach innen gerichtet und somit auf Parteimitglieder und Aktivisten konzentriert, wird eine Verschiebung des Interesses nach außen, hin zu den Wählern deutlich. Panebiancos Typ der „electoral professional party“ (Panebianco 1988) greift diese Veränderung auf und beschreibt Parteien als professionalisierte Organisationen, die aufgrund
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213
der Veränderungen auf den Wählermärkten und im Bereich des Mediensystems ihre Struktur voll und ganz auf den Wahlkampf ausgerichtet haben: Die Beschäftigung externer Wahlkampfexperten nimmt zu und Wahlkämpfe werden zunehmend national, gesteuert von der Parteiführung, geführt. In der Parteienforschung wird dieser Trend der Professionalisierung in Verbindung mit der These über den Niedergang der Parteien diskutiert (u. a. Dalton et al. 2000; Katz/Mair 2002, 1993; Dalton 2000). Dabei wird argumentiert, dass die Fokussierung auf den Wahlkampf die Parteistrukturen schwächt. Mit dem „Top-down model“ (Mair et al. 1999: 394) der Parteiorganisation lassen sich Wahlkämpfe zwar optimal steuern, dies geschieht jedoch auf Kosten vertikaler Parteistrukturen. Langfristig gefährdet diese Konzentration auf die Parteiführung jedoch die Kohäsion der Parteien, was vor allem die Anfälligkeit für Krisen erhöht. Durch das Einkaufen externer Expertise wird dieser Prozess zudem verstärkt. Die starke Ausrichtung auf den Wahlkampf und der Wählerwünsche lockert die Bindungen zwischen den Parteimitgliedern und der Parteizentrale: Electoral-professional parties sind „parties in terms of leaders“ (Downs 1957, zitiert nach Mair et al. 1999) und weisen schwache institutionelle Strukturen auf (Panebianco 1988: 267). Parteien reagieren auf die Veränderungen ihrer Umwelt; die Darstellung des Niedergangs der Parteien und/oder der Passivität der Parteien ist jedoch in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst einmal ist offensichtlich, dass die Parteien wenigstens zu einem gewissen Grad an der Annahme jener neuen Form der politischen Kommunikation bewusst beteiligt sind. Es handelt sich dabei um einen Prozess, der sowohl weitreichende Beschlüsse der Parteispitze und organisatorische Reformen als auch finanzielle Aufwendungen mit sich bringt. Berater müssen eingestellt, Meinungsumfragen und Fokusgruppen in Auftrag gegeben, Medientraining durchgeführt werden. Solche Veränderungen können Parteien nicht einfach aufgezwungen werden, sondern erfordern deren Einwilligung, die aber unweigerlich von ihrer organisationalen Flexibilität und Leistungsvermögen abhängt. Jenseits dieser logischen Einwände bleibt anzumerken: Sollten systemische Faktoren allein für den Prozess der Professionalisierung verantwortlich sein, könnte man davon ausgehen, dass alle Parteien jene Techniken in gleichem Ausmaß nutzen. Empirische Studien zeigen jedoch erhebliche Varianzen innerhalb des Parteiensystems hinsichtlich des timings und der Geschwindigkeit der Professionalisierung politischer Kommunikation im Allgemeinen sowie der professionellen Kampagnenführung im Besonderen. Beispielsweise wurde den Republikanern in den Vereinigten Staaten eine Professionalisierung ihrer Kampagnen mindestens zehn Jahre vor den Demokraten zugeschrieben. Ähnlich verhält es sich in Großbritannien. Hier gelten die Conservatives in den späten 1970er Jahren als Vorreiter des neuen Kampagnenstils, die Labour Party hingegen lehnte ihn zu diesem Zeitpunkt noch kategorisch ab. In Deutschland wurden schließlich schon 1972 erste Anzeichen des neuen Kampagnenstils bei der CDU entdeckt, obwohl der SPD-Wahlkampf von 1998, unter der Führung von Gerhard Schröder, eine neue Ära professionalisierter Kampagnen in Deutschland einläutete. Vor dem Hintergrund dieser Einwände wurde an anderer Stelle schon argumentiert, dass Parteien im Prozess der Professionalisierung politischer Kommunikation wahrscheinlich eine aktivere Rolle spielen als es bisher angenommen wurde. Indem Gibson und Römmele (2001) politische Kommunikation mit der „party goals“ Literatur in Verbindung gebracht haben, stellten sie fest, dass „it is evident that parties with vote maximization as their
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primary goal would be most likely to adopt the new techniques. Major changes to electoral strategy are undertaken to shore up and increase a party’s vote share. Thus, it is the large catch-all type of parties that we would expect to most readily embrace professional campaigning” (Gibson/Römmele 2001: 36). Mit dieser Thematik beschäftigen sich einige jüngere Studien (Farrell 2006; Jun 2004; Gibson/Römmele 2001; Panebianco 1988), die zeigen, dass Parteien ihre Organisation ausbauen und ausrüsten. Die Parteienforschung konnte darlegen, wie durch die Bedeutungszunahme des „staying on message“ und die Organisation der „permanenten Kampagne“ die Parteizentrale immer wichtiger wird. Aufgrund der Bedeutungszunahme des Fernsehens wird aber auch der Kandidat immer wichtiger. Die Tatsache, dass neue Kampagnenstile Parteien dazu gebracht haben ihre Organisationsdynamiken und ihre Kommunikationsstrategien anzupassen, bedeutet als Konsequenz jedoch nicht automatisch, dass Parteien deswegen irgendwie schwächer sind. Was jedoch nicht bestritten werden kann ist, dass sie gezwungen wurden sich anzupassen; Stillstand war hier nie eine Option (Farrell 2006: 131).
3.3 Wahlkampfkommunikation – ein neues Forschungsgebiet entsteht Wahlkampfforschung ist – wie bereits an anderer Stelle erwähnt – ein recht junges Forschungsgebiet auf der Schnittstelle zwischen Parteien-, Wahl- und Kommunikationsforschung. Wahlkämpfe sind die prototypische Situation der Politikvermittlung, d.h. politische Akteure kommunizieren in Wahlzeiten nicht anders als in Nichtwahlzeiten. Jedoch zeigen sich Kommunikationsmuster, -strategien und -effekte in Wahlkämpfen sehr viel deutlicher. Die empirischen Studien von Paul Lazarsfeld und seinem Forscherteam zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1940 haben in der Kampagnenforschung Pioniercharakter. In ihrer Studie „People’s Choice: How The Voter Makes Up His Mind in a Presidential Election“ (1944) steht die Entstehung, Wandlung und Entwicklung der öffentlichen Meinung während einer Präsidentschaftswahl im Mittelpunkt. In anderen Worten: Welchen Einfluss haben Wahlkämpfe auf die Wahlentscheidung der Wähler? Lazarsfeld et al. kommen zu dem Ergebnis, dass die den Medien zugeschriebene Bedeutung stark übertrieben ist. Lazarsfeld entwickelt das Konzept des Meinungsführers (opinion leader) und den ZweiStufen-Fluss der Kommunikation. Der Kern des Modells steht auf zwei Pfeilern: Der Informationsfluss von den politischen Akteuren über die Massenmedien hin zur Bevölkerung wird durch personale Meinungsführer vermittelt. Meinungsführer interpretieren die von den Medien übermittelten Informationen im Zusammenhang ihres eigenen sozialen und kulturellen Kontextes.
Einführung in das Forschungsfeld der Politischen Kommunikation
Schaubild 2:
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2-Stufen-Fluss politischer Kommunikation
Quelle: Römmele (2005: 27).
„In summary, then, the people who did most of the reading and listening not only read and heard most of their own partisan propaganda but were also most resistant to conversion because of strong predispositions. And the people most open to conversion (…) read and listened least. (…) The real doubters – the open-minded voters who make a sincere attempt to weigh the issues and the candidates dispassionately for the good of the country as a whole – exist mainly in deferential campaign propaganda, in textbooks on civics, in the movies, and in the minds of some political idealists. In real life, they are few indeed.“ (Lazarsfeld et al. 1944: 95-100)
Wenn wir uns noch einmal die vier unterschiedlichen Phasen der Medieneffekte vor Augen führen, die wir eingangs besprochen haben, so ist die Lazarsfeld-Studie der zweiten Phase zuzuordnen. In dieser Pionierstudie wurde auf sehr überzeugende Art und Weise die Wahlforschung mit der Kommunikationsforschung verbunden. Diese enge Verknüpfung wurde jedoch nicht zuletzt aufgrund der Schwierigkeiten, Medieneinflüsse auf die Wahlentscheidung nachzuweisen, bald aufgelöst. Zwar gingen vor allem Politiker und Praktiker immer davon aus, dass Wahlkämpfe einen massiven Einfluss haben – „Siege kann man machen“ (Albrecht Müller, ehemaliger Wahlkampfmanager der SPD, 1972) – die Wahlforschung kam aber wegen stabiler Parteibindungen und bei den Wählern bereits bestehenden Prädispositionen zu einem anderen Ergebnis (vgl. den Beitrag von Harald Schoen in diesem Band). Hiermit lässt sich u.a. auch das geringe Interesse der Wissenschaft an dieser Fragestellung erklären. „The study of election campaigns, as opposed to elections, is a major gap in the literature.“ (Harrop/Miller 1987: 240). Das wissenschaftliche Interesse an Wahlkämpfen ist erst mit ihrer gestiegenen Bedeutung und der zunehmenden Professionalität ihrer Durch-
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führung wieder gewachsen (siehe u.a. Jucknat 2007; von Alemann/Marschall 2002; HoltzBacha/Kaid 2002; Tenscher 2003). Die bahnbrechenden Arbeiten von Schmitt-Beck (2000) und Farrell/Schmitt-Beck (2002) gehen der Frage des Medieneinflusses in Wahlkämpfen bzw. der Rolle und Bedeutung von Wahlkämpfen erneut empirisch auf den Grund. Die Herausgeber des vielbeachteten Sammelbandes „Do Campaigns Matter?“ kommen zu dem Ergebnis, „campaigns may not be of such a predominant importance as is assumed by the political actors, but they do count for something in the political process ... They are one factor among many others that are important for how and what people decide. While it would be a clear exaggeration to state that campaigns are of prime importance in determining the election result, it seems pretty incontrovertible that campaigns do, indeed, matter for the behavior of citizens at elections and referendums.” (Farrell/Schmitt-Beck 2002: 185). Die Forschungslücke, auf die Harrop und Miller Mitte der 1980er Jahre noch hingewiesen haben, hat sich in der Zwischenzeit mit einigen vielbeachteten Werken geschlossen. Herausgegebene Bände (Brettschneider et al. 2007; Bowler/Farrell 1992; Swanson/Mancini 1996), wissenschaftliche Beiträge in renommierten Fachzeitschriften (Electoral Studies; Party Politics, Press/Politics, European Journal of Political Marketing) sowie Monographien (Norris 2000; Römmele 2005; Plasser 2002) haben sich der Frage der Entwicklung von Wahlkampfkommunikation in historischer und international vergleichender Perspektive gewidmet. Allen Arbeiten gemeinsam ist ein beobachtbarer Wandel in der Wahlkampfkommunikation. Dieser wird im Folgenden kurz dargestellt.
3.3.1
Entwicklungen und historischer Vergleich von Wahlkampfkommunikation
Um erfolgreich zu kommunizieren müssen sich politische Akteure, allen voran Parteien den Entwicklungen auf den Wählermärkten und im Bereich der Massenmedien anpassen und ihre Kommunikationsstrategien entsprechend modifizieren. In der Wahlkampfkommunikationsforschung werden in diesem Zusammenhang drei Phasen identifiziert, die die Entwicklung der Kommunikationsstrategien der Parteien beschreiben (Farrell 2002; Norris 1997; Römmele 2005). In der vormodernen Wahlkampfphase, vor dem 2. Weltkrieg, war es vor allem die Parteiorganisation, über die Politikvermittlung bzw. der Wahlkampf lief. Der Parteiführung oblag die zentrale Verantwortung in Bezug auf die Planung, den Inhalt und die Ausführung der Kampagne. Der vormoderne Wahlkampf wurde stark vom direkten Austausch der Partei mit den Wählern getragen, d.h. basierend auf interpersonaler Kommunikation im Rahmen von Veranstaltungen und Ralleys. Feste soziale Klassen bildeten abgegrenzte Wählersegmente, die jeweils einer bestimmten Partei zugeordnet werden konnten. Die Parteien traten hauptsächlich mit „ihrem“ Wählersegment in Kontakt, um ihre Wähler für die Wahl zu mobilisieren. Die vormoderne Wahlkampfphase war die Phase der sogenannten „Massenparteien“ (Neumann 1956), die sich durch eine klare Bindung bestimmter sozialer Schichten an bestimmte Parteien auszeichnete. Ab den 1960er Jahren, vor allem mit dem Aufkommen des Fernsehens, verlagerte sich die Kommunikation weg von der Parteiorganisation hin zu den Massenmedien. Mit dieser
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Visualisierung von Politik ging vor allem eine Personalisierung der Berichterstattung einher, in den Augen vieler auf Kosten von Inhalten. Personen lassen sich ohne Zweifel über die Medien deutlich einfacher transportieren als beispielsweise Wahlprogramme und Parteiideologien. Durch die Auflösung sozialer Milieus mussten sich Parteien nun auf eine breitgefächerte Wähleransprache konzentrieren. Die international vergleichende Parteienforschung spitzte diese Entwicklung in ihrer catch-all-Partei-These Mitte der 1960er Jahre zu (Kirchheimer 1965), wonach bei den Parteien im Zuge der Heterogenisierung der Gesellschaft eine Zunahme der Konzentration auf unterschiedliche Wählersegmente zu beobachten ist. Die Mobilisierung der eigenen Reihen reichte nicht mehr aus, sodass auch die Konvertierung, d.h. die politische Überzeugungsarbeit, einen wichtigen Platz in der Wahlkampfkommunikation der Parteien einnahm. Für die letzte und aktuelle Wahlkampfphase kursieren unterschiedliche Termini: Manche sprechen von postmodernen Wahlkämpfen (Norris 1997), andere von der digitalen Phase der Wahlkämpfe (Farrell 2002). Der Begriff des professionalisierten Wahlkampfes (Römmele 2005) konnotiert dabei, in Anlehnung an die soziologische Forschung, die Herausbildung von Berufen bzw. Professionen im Bereich der politischen Kommunikation und deutet darauf hin, dass für ganz bestimmte Teilbereiche des Wahlkampfes Experten, sogenannte „Professionals“, gebraucht werden. Neben der Einbindung dieser externen Kommunikationsberater in den Wahlkampf der Parteien ist vor allem eine Verlagerung vom broadcasting zum narrowcasting zu beobachten: Politische Botschaften werden zielgruppenspezifisch aufbereitet und mit Hilfe von verschiedenen Medien transportiert. Direct Marketing in Form von e-mail, Post- und Telefonansprache und regelmäßige Meinungsumfragen sind wichtige Bestandteile der Wahlkampfstrategie und werden noch über den Wahlkampf hinaus angewendet. Es reicht nicht mehr aus nur im Rahmen kommunikativer Stoßzeiten, zu Wahlkämpfen, mit dem Wähler in Kontakt zu treten: Parteien müssen ständig „On Message“ sein und „Permanent Campaigning“ betreiben. Die Organisation und Durchführung des Wahlkampfes liegt dabei in den Händen einer ausgelagerten Wahlkampfzentrale, die sowohl mit der Parteiführung als auch mit den externen PR-Beratern zusammenarbeitet. Die Personalisierung wird als das wesentliche Merkmal professionalisierter Politikvermittlung genannt (Holtz-Bacha 2000; Falter/Römmele 2002). Kandidaten stehen im Mittelpunkt der medialen Berichterstattung und drängen die Parteien auf der Medienagenda ins Abseits (Falter/Römmele 2002: 37). In Bezug auf diese Thematik gibt es in der Wahlkampfkommunikationsforschung unterschiedliche Perspektiven. Auf der einen Seite wird die Personalisierung der Politik als Surrogat für politische Themen betrachtet, d. h. es wird kritisiert, dass Personen, entkoppelt von politischen Themen, im Vordergrund stehen (Schulz 1987; Sarcinelli 1987). Sarcinelli (1987) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „symbolischen Politik“, der die Inhaltsleere der Politik zu Wahlkampfzeiten kritisiert. Auf der anderen Seite wird die Personalisierung der Politik als wirksames und notwendiges Mittel gesehen, um politische Themen zu vermitteln: Personalisierung fungiert komplexitätsreduzierend, und die Vermittlung von Themen in Verbindung mit Personen ist nachhaltiger (Denton/Woodward 1990: 158; Radunski 1996: 40; Hetterich 2000: 56; Machnig 2002). Jucknat (2007) konnte empirisch nachweisen, dass politische Themen in professionalisierten Wahlkämpfen durchaus in Verbindung mit Personen präsentiert werden. Auf Basis ihrer inhaltsanalytischen Untersuchung der Printmedienberichterstattung der amerikani-
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Sarah Bastgen, Kim Jucknat und Andrea Römmele
schen Präsidentschaftswahlkämpfe und der deutschen Bundestagswahlkämpfe von den 1950er Jahren bis 2000er Jahren stellt sie fest, dass Personen nicht losgelöst von Themen auf der Agenda der Wahlkampfberichterstattung auftauchen. Politische Inhalte werden mittels Personen transportiert, sie „dienen als Mittel den Bürgerinnen und Bürgern politische Themen nahe zu bringen“ (Jucknat 2007: 159). Tabelle 1:
Wahlkampfformen und Modernisierungsetappen Vormodern
Modern
Postmodern
Wahlkampforganisation
Lokal + dezentral
National koordiniert
Nationale Koordination, dezentrale Ausführung
Vorbereitungsphase
Kurzfristige bzw. ad-hoc-Wahlkämpfe
Langer Wahlkampf
Permanenter Wahlkampf
Zentrale Koordination
Parteiführung
Wahlkampfzentralen, Rückgriff auf spezielle Berater und Parteifunktionäre
Auslagerung von Umfrageforschung, Beratern und speziellen Wahlkampfabteilungen
Rückkoppelung
Örtliche Hausbesuche („Klinkenputzen“)
Bevölkerungsumfragen
Bevölkerungsumfragen, Beobachtung sog. Fokusgruppen, Internet
Medien
Regionale und überregionale Presse; lokal: Handzettel, Poster und Wahlkampfschriften
Fernsehpräsenz in breitenwirksamen Kanälen
Zielgruppenspezifische Medienarbeit durch fragmentierte Medienkanäle, gezielte Werbung
Quelle: Sarcinelli/Geisler (2002: 161), adaptiert nach Norris (1997: 3).
3.3.2
Professionalisierte Wahlkampfkommunikation: Amerikanisierung oder Modernisierung der politischen Kommunikation?
In Verbindung mit dem Wandel der Wahlkampfkommunikation und der Entwicklung professionalisierter Kampagnen wird das Konzept der Amerikanisierung in der Forschung diskutiert1. Das Konzept, das die Annäherung der Wahlkämpfe in Demokratien an Standards beschreibt, die sich in ihren wesentlichen Zügen zuerst bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen gezeigt haben (Vowe/Wolling 2000: 61), wirft die Frage nach weltweiten Konvergenzen zwischen dem amerikanischen Wahlkampfstil und den Wahlkampfstilen in anderen modernen Demokratien auf. Professionalisierte Wahlkampfkommunikation – so lautet die These – zeichnet sich zunehmend durch Elemente amerikanischer Kampagnen aus. Die Ursachen und Prozesse der Amerikanisierung werden dabei aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Die Perspektive, von der aus die Amerikanisierung als „gerichtete Konvergenz“ (Plasser 2002: 36) betrachtet wird, sieht die Übernahme amerikanischer Wahlkampfstandards als „einseitigen globalen Transfer“ (Tenscher 2003: 56), der von den USA als Adaptionsquelle für andere Länder ausgeht. Diese Adaption erfolgt unge1 Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Amerikanisierung“ siehe etwa Donges (2000); HoltzBacha (2000); Tenscher (2003); Plasser (2002).
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achtet der jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen innerhalb des adaptierenden Landes (Donges 2000; Plasser 2002). An Stelle dieser einseitigen Perspektive auf die Amerikanisierung als „gerichtete Konvergenz“ ist die Perspektive auf die Amerikanisierung im Sinne von Modernisierung in der Literatur jedoch vorherrschend (Donges 2000; Holtz-Bacha 2000; Römmele 2002; Falter/Römmele 2002). Die Vertreter der Modernisierungsthese sehen die Amerikanisierung als „ungerichtete Konvergenz“ (Plasser 2002: 37). Die Annäherung der Wahlkampfstile wird hier auf endogene Ursachen zurückgeführt, d.h. auf Modernisierungsprozesse in Gesellschaft, politischem System und Mediensystem. Da der gesellschaftliche Modernisierungsprozess in Amerika und somit auch die Modernisierung der Wahlkämpfe am weitesten fortgeschritten ist, fällt ihm die Rolle des Vorreiters zu, sodass zwar einige Kampagnentechniken von anderen Ländern übernommen werden, dies jedoch respektive der spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen des adaptierenden Landes geschieht. Der Ansatz der „globalen Standardisierung“, der die „Modernität als Ergebnis wechselseitiger Inspiration zwischen den USA und Europa“ (Tenscher 2003: 58) sieht, lenkt den Blick weg von den USA als einziger Adaptionsquelle. Hier wird davon ausgegangen, dass die Erscheinungsform moderner Wahlkämpfe nicht nur von amerikanischen Wahlkampftechniken geprägt wird, sondern auch von europäischen. Der moderne Wahlkampf stellt eine „Mixtur“ erfolgreicher amerikanischer und europäischer Wahlkampfstile dar und distanziert sich von der Vorbild- bzw. Vorreiterrolle Amerikas wie sie im Rahmen des Ansatzes der „Amerikanisierung“ und „Modernisierung“ angenommen wird. Zusammenfassung:
Die Forschung zur Wirkung von Kommunikation kann in vier Phasen unterschieden werden: In der ersten Phase nahm man an, dass die Medien einen direkten und entscheidenden Einfluss auf die Einstellungen und Orientierungen der Bürger haben. In der zweiten Phase wurde der interpersonalen Kommunikation eine große Rolle zugesprochen und der Einfluss der Medien als minimal angesehen. In der dritten Phase der Medienwirkungsforschung erfolgte eine erneute Hinwendung zum Konzept der mächtigen Medien. Die Forschung jener Zeit basierte auf dem wahrgenommen Einfluss des Fernsehens. Die vierte Phase ist durch eine Verlagerung wissenschaftlicher Aufmerksamkeit von der Veränderung von Wahrnehmungen hin zur Veränderung von Einstellungen gekennzeichnet (d.h. Agenda Setting und Priming). Die Parteienforschung konnte zeigen, dass Parteien als lernende Organisationen sich den ändernden Anforderungen der Massenmedien und der Gesellschaft anpassen. Die Stärkung der Parteizentralen und die nach außen gerichtete Kommunikation sind klare Indikatoren hierfür. Als junger Forschungsstrang verbindet die Wahlkampfkommunikationsforschung Wahlforschung, Kommunikationsforschung und Parteienforschung. Dabei widmet sie sich Themen wie der Rolle und Bedeutung von Wahlkämpfen sowie dem Medieneinfluss in Wahlkämpfen. Die Wahlkampfformen lassen sich in drei Phasen einteilen: vormoderne, moderne und postmoderne bzw. professionalisierte Wahlkämpfe. Die Phasen unterscheiden sich so-
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Sarah Bastgen, Kim Jucknat und Andrea Römmele wohl hinsichtlich der Organisation und Durchführung der Wahlkämpfe als auch im Hinblick auf den Einsatz von Medien. Während die vormoderne Phase überwiegend durch lokale und direkte Wähleransprache gekennzeichnet war, zeichnet sich die moderne Phase durch eine Dominanz der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens aus. Der Wahlkampf wurde national von der Parteizentrale aus koordiniert und erste externe Wahlkampfberater wurden zu Rate gezogen. In der professionalisierten Phase gehören externe Wahlkampfspezialisten zu einem zentralen Bestandteil der Kampagne, die auf zielgruppenspezifischer Wähleransprache und einer ausgelagerten Wahlkampfzentrale basiert. Die Personalisierung der Politik ist das zentrale Merkmal des professionalisierten Kampagnentypus. In der Forschung besteht bis dato kein Konsens, inwieweit die Personalisierung lediglich als Themensurrogat oder als Werkzeug zur effizienten Themenvermittlung fungiert. In Verbindung mit dem professionalisierten Wahlkampftypus wird in der Wissenschaft das Konzept der Amerikanisierung diskutiert, welches eine Annäherung westeuropäischer Wahlkämpfe an US-amerikanische Wahlkämpfe suggeriert. Bei der Amerikanisierung als gerichteter Konvergenz wird der Transfer von amerikanischen Wahlkampftechniken ungeachtet der länderspezifischen Rahmenbedingungen angenommen. Die Amerikanisierung als ungerichtete Konvergenz hingegen geht von einer Adaption der Wahlkampftechniken respektive länderspezifischer Kontextfaktoren aus. Vertreter der These der globalen Standardisierung plädieren für eine Mixtur westeuropäischer und amerikanischer Wahlkampftechniken und distanzieren sich von der Vorreiterrolle der USA.
Das (Spannungs-)verhältnis zwischen Medien und politischen Akteuren
Moderne Demokratien sind „Mediengesellschaften“, die sich durch eine zentrale Rolle des Mediensektors auszeichnen (Saxer 1998: 46). Hier kommt den Massenmedien sogar die Hauptrolle in Bezug auf die Politikvermittlung zu. Denn es ist für den Bürger nur selten realisierbar, politische Informationen aus erster Hand, d.h. direkt von den gewählten politischen Entscheidungsträgern, zu erfahren. Folglich muss er sich auf die Massenmedien, als zwischengeschaltete Informationsquelle verlassen. Neben der massenmedialen Kommunikation hat die interpersonale Kommunikation einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Wahlentscheidung. Schmitt-Beck (2000) konnte mit einer international vergleichend angelegten Studie empirisch belegen, dass interpersonale Kommunikation sogar einen größeren Einfluss auf die Wahlentscheidung hat als Politikvermittlung durch Massenmedien. Seine empirische Untersuchung konnte zeigen, dass interpersonale Kommunikation eine wesentlich wirksamere Einflussquelle ist, als die Massenkommunikation: Es „wurde zwar erkennbar, daß[sic] sich der Empfang medienvermittelter politischer Information durchaus direkt darauf auswirken kann, mit welcher Wahrscheinlichkeit Wähler für bestimmte Parteien oder Kandidaten votieren. Allerdings führen die politischen Gespräche der Bürger in den meisten Gesellschaften zu erheblich weitrei-
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chenderen Konsequenzen an der Urne“ (Schmitt-Beck 2000: 409). Wahlkampfmanager machen sich diese Erkenntnis zu Nutzen und setzen zunehmend auf grassroots-campaigning, das auf der Aktivierung der Parteimitglieder und freiwilliger Helfer im Wahlkampf basiert (Jucknat/Römmele 2008). Der Vorwahlkampf für die Präsidentschaftswahlen 2008 in den USA machte dies mehr als deutlich. Beide demokratischen Präsidentschaftskandidaten, Barack Obama und Hillary Clinton, setzten gezielt auf das aktive Engagement ihrer Parteibasis und einer Vielzahl von Freiwilligen. Mit Hilfe ihrer persönlichen Websites sollten jene Helfer angesprochen und motiviert werden, ihr persönliches Netzwerk zu aktivieren, um Geld für die Kampagne zu sammeln, politische Überzeugungsarbeit zu leisten und Wahlkampfaktivitäten jeglicher Art zu unterstützen. Im Rahmen von Wahlen verdichtet sich die politische Kommunikation (Blumler/Gurevitch 1995: 3) und so gewinnt auch die Vermittlungsleistung der Massenmedien eine stärkere Bedeutung. Voltmer (1998) verweist in diesem Zusammenhang auf die Verantwortung der Medien: Ihre zentrale Aufgabe ist es, die zur Wahl stehenden politischen Alternativen darzustellen, d.h. zu informieren und dem Bürger eine Orientierung in seinen Entscheidungsprozessen bereitzustellen. Saxer (1998: 43) beschreibt diese essenziell wichtige Rolle der Massenmedien für die Politik wie folgt: „Medienkommunikation hilft in vielfältigster Weise dem politischen System bei der Verwirklichung von dessen Hauptziel, nämlich allgemein verbindliche Entscheidungen hervorzubringen.“
Analytisch lassen sich die Medien als System erfassen. Als „organisierte soziale Handlungssysteme“ (Siegert 1993: 13) sind sie ein integraler Bestandteil kultureller, sozialer, ökonomischer und politischer Prozesse und wirken ihrerseits auch auf diese Prozesse ein. Mediensysteme werden auch von verschiedenen äußeren Faktoren geprägt: „Das Recht, die Geografie, die Sprachkulturen, das politische System, die Wirtschaftsverfassung und der gegebene Stand der Medientechnologie und seiner Verbreitung sind die wesentlichen prägenden Faktoren der Mediensysteme“ (Thomaß 2007: 23). Mediensysteme umfassen dabei mehrere Subsysteme (Thomaß 2007: 18): Die Printmedien, der Rundfunk und die Online-Medien konstituieren diejenigen Subsysteme, die für politische Akteure von besonderer Relevanz sind. Diese Subsysteme sind auf Aktualität ausgerichtet und produzieren regelmäßig erscheinende Formate und Inhalte, so dass es für politische Akteure zentral ist, sie zu eigenen Gunsten zu beeinflussen und durch geschicktes Themen und Ereignismanagement zu instrumentalisieren. Um dies auch nur annähernd zu verwirklichen müssen sich die politischen Akteure an die interne Handlungslogik des Mediensystems anpassen. Durch die Agenda-Setting-Funktion der Medien (McQuail 2005: 512ff) und die Gatekeeping-Funktion der Journalisten (McQuail 2005: 308f) sind den politischen Akteuren jedoch Grenzen gesetzt. Medien bzw. Journalisten selektieren und kommentieren aktuelle Meldungen und haben großen Einfluss darauf, welche Themen hoch auf der öffentlichen Agenda stehen. Sie entscheiden daher sowohl über die Zulassung und Bearbeitung von extern produzierten Beiträgen als auch über die Darstellung der Beiträge oder öffentlicher Debatten in den Medien (Peters 1994: 58). Neben der internen Handlungslogik von Mediensystemen geben auch ihre formale Ausgestaltung und Struktur die Handlungsparameter für politische Akteure vor. Hallin
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und Mancini (2004) systematisieren diese Handlungsparameter und fassen sie in drei Modellen von Mediensystemen zusammen: „The Mediterranean or Polarized Pluralist Model“, „the North/Central European or Democratic Model“, und „the North Atlantic or Liberal Model“. Anhand von vier Kriterien wurden die Modelle entwickelt: Basierend (1) auf der Entwicklung des Medienmarktes, wobei besonderes Augenmerk auf die starke oder schwache Entwicklung der Presselandschaft gelegt wird, (2) auf politischem Parallelismus, d.h. inwieweit das Mediensystem die politischen Hauptströmungen des Landes reflektiert, (3) auf der Entwicklung des Journalismus als Profession und (4) dem Grad an staatlicher Intervention in Bezug auf das Mediensystem (Hallin/Mancini 2004: 21). Das deutsche Mediensystem gehört dem Typ des „North/Central European or democratic Model“ an. Es zeichnet sich durch eine starke Presse und eine hohe Tendenz aus, unterschiedliche parteipolitische und soziale Strömungen abzubilden. Zudem lässt sich im Bereich des Journalismus eine starke Professionalisierung beobachten. Die Einflussnahme des Staates auf das Mediensystem ist relativ stark, wird jedoch durch die gesetzlich geregelte Pressefreiheit und das Verständnis der Medien als soziale Institutionen ausbalanciert (Hallin/Mancini 2004: 195f). Diese mediensystemspezifischen Charakteristika bilden den Handlungsrahmen für die kommunikativen Aktionen der politischen Akteure. Folglich müssen sie sich auf die Neuerungen und Entwicklungen im Medienbereich einstellen. Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse treiben die Professionalisierung der Medien voran (Norris 2000: 137), die ihrerseits professionalisierte Kommunikation von den politischen Akteuren verlangt. Politische Akteure passen sich diesen Bedingungen an, indem sie intensives und professionalisiertes Kommunikationsmanagement und PR-Arbeit betreiben und auf gut ausgebildete Medien- und Werbestrategen zurückgreifen. Die tiefgreifenden Veränderungen im Bereich der Massenmedien stellen besondere Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit und organisatorische Flexibilität der politischen Akteure. Der Erfolg und die Überlebensfähigkeit von Parteien und NGOs hängen maßgeblich von der Herstellung medialer Aufmerksamkeit ab (Jun 2004: 38; Frantz/Martens 2006: 14f; Baringhorst 1998: 330), denn die Vermittlung politischer Botschaften findet heutzutage hauptsächlich durch die Massenmedien statt. Zum einen wird durch die Massenmedien ein öffentlicher Raum hergestellt und so eine Verbindung zwischen politischen Akteuren und Bürgern hergestellt: Politischen Akteuren wird auf diese Weise ermöglicht, ihre Entscheidungen zu kommunizieren und zu legitimieren. Zum anderen bedeutet mediale Präsenz Aufmerksamkeit und die Möglichkeit, sich auf der öffentlichen Agenda zu positionieren und zu profilieren. Es sind die Massenmedien, welche die öffentliche Tagesordnung bestimmen und zuständig sind für Agendasetting und Agendabuilding (Jun 2004: 39; McCombs/Shaw 1972; McQuail 2005). Kommunikation via Massenmedien ist folglich überlebenswichtig für Parteien und NGOs und bestimmt in erheblichem Maße ihr Handeln als Organisation.
4.1 Parteien und Medien Parteien, insbesondere Regierungsparteien, sind im Bezug auf die Massenmedien in der Regel im Vorteil, nicht nur weil sie meist ressourcenstärker als NGOs sind, sondern auch, da ihnen im Kampf um mediale Aufmerksamkeit eine gewisse Grundaufmerksamkeit sicher
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ist. Sie sind die politischen Entscheidungsträger und ihre Entscheidungen betreffen in der Regel die breite Bevölkerung. Aber auch die Anforderungen bzw. Randbedingungen für die Parteien haben sich gewandelt. Dazu gehören unter Anderem eine sinkende Parteiidentifikation, der stetige Rückgang und die Überalterung der Mitglieder, vor allem verursacht durch den mangelnden politischen Partizipationswillen der breiten Bevölkerung. Laut den Ergebnissen des European Social Survey 2002/03 und 2004 beteiligen sich zwar circa 80 Prozent der Befragten an Wahlen, darüber hinaus engagieren sich aber nur circa 4 Prozent aktiv in Parteien oder anderen politischen Organisationen. Im Gegensatz dazu beteiligen sich rund 20 Prozent in anderen Organisationen wie etwa Sport- und Freizeitvereine (van Deth/Neller 2006: 33). Bürgerliches Engagement außerhalb der Politik ist also durchaus vorhanden, wohingegen traditionelles politisches Engagement und Mitgliedschaft in Parteien stetig nachlässt (Niedermayer 2007). Diese Tatsachen machen politische Willensbildung und Interessenmediation nicht einfacher, weshalb neben der Herstellung von Politik die Darstellung von Politik immer wichtiger wird. Sie nimmt eine zentrale Rolle innerhalb der politischen und insbesondere der Wahlkampfkommunikation ein und fordert kommunikative Strategien, die neben Vermittlung auch auf Vermarktung setzen. „Political Marketing“ lautet das Stichwort in diesem Zusammenhang: Hier haben Parteien speziell von kommerziellen Organisationen Kommunikations- und Marketingtechniken übernommen und adaptiert. Im Fall des „political marketing“ haben Parteien, als politische Organisationen, von kommerziellen Organisationen gelernt und sich deren Problemlösungsstrategien zu Eigen gemacht. Beim „Political Marketing“ wird die Beziehung zwischen politischen Akteuren und Wählern aus ökonomischer Perspektive betrachtet. Kandidaten werden als Produkt angesehen, das bestmöglich vermarktet werden muss, um den Wähler als Kunden zu überzeugen. Das Ziel ist, die Wahl zu gewinnen, und es werden kommunikative Strategien und Marketingkonzepte entwickelt, welche den Kandidat möglichst vorteilhaft darstellen (Kotler/Kotler 1999; Kreyher 1999). Diese Art von Kommunikationsstrategie hat jedoch Konsequenzen für organisationale Ausgestaltung und die organisationalen Prozesse der Parteien. Parteien lassen sich gegenwärtig nicht mehr dem Typus der traditionellen Massenpartei zuordnen, sondern zeigen sich in Form von „electoral-professional parties“ (Panebianco 1988), die als zentralisierte Wahlkampforganisationen charakterisiert werden können: Die Beschäftigung externer Experten nimmt zu, und es ist eine Machtzentralisierung zu beobachten, bei der die Parteiführung gegenüber der Parteibasis bedeutend an Entscheidungsautonomie gewinnt und die Wahlstrategie zunehmend national formuliert wird (Mair et al. 1999: 21). Die Anpassung der Parteistrukturen und -kommunikation lässt sich jedoch nicht nur auf den Wahlkampf beschränken. Die Mediengesellschaft verlangt den Parteien ständige Kommunikation ab, sie stehen unter dem permanenten Druck des „going public“ (Jun 2004: 17). Mittels „Permanent Campaigning“ gilt es, sich die Aufmerksamkeit der Wähler zu sichern. Die kommunikativen Aktivitäten der Parteien müssen über die Wahlkampfzeiten hinausgehen und dauerhaften Charakter haben (etwa Plassser 2002). Um die potenziellen Wähler anzusprechen müssen die kommunikativen Kontakte über die massenmedialen Kommunikationssysteme maximiert werden. Im Zuge dessen ist nicht nur eine Zunahme der Relevanz von Kampagnen, sondern auch der Kampagnentätigkeit zu beobachten.
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4.2 NGOs und Medien Das Verhältnis zwischen NGOs und Massenmedien ist ambivalent. Einerseits ist NGOs im Vergleich zu den politischen Entscheidungsträgern in Gestalt von Parteien und Regierungen keine mediale Grundaufmerksamkeit gesichert, weshalb es ihnen insbesondere im Alltagsgeschäft schwer fällt, Themen auf der medialen Agenda zu platzieren. Im Gegensatz zu Parteien und Regierungen, deren Entscheidungen in der Regel Konsequenzen für alle Bürger haben, haben NGOs mit ihren Meldungen selten einen hohen Nachrichtenwert. Oft verfolgen sie langfristige oder technokratische Ziele und es ist nahezu unmöglich, diese auf Dauer für die Medien interessant zu gestalten. Gelingt es NGOs nicht, ihre Anliegen mittels erfolgreichem Themen- und Ereignismanagement sensationsreich und medienwirksam zu verpacken, bleibt ihnen die mediale Aufmerksamkeit versagt (Curbach 2003: 128). Daher ist permanente professionelle und auch zielgruppenspezifische Öffentlichkeitsarbeit von enormer Bedeutung, da ansonsten die Gefahr besteht, dass die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein anderes, als dringlicher erscheinendes Thema gerichtet wird und das Anliegen der NGO nicht weiter verfolgt wird. Permanente und kontinuierliche Kommunikation ist aber nicht nur essentiell für die Anschlusskommunikation, d.h. den nachträglichen Bezug auf vorangegangene kommunikative Aktivitäten; zudem muss die NGO darauf achten, als Ansprechpartner für eine bestimmte Problematik in der Öffentlichkeit präsent zu bleiben. Andererseits haben vor allem spektakuläre Aktionsformen wie sie insbesondere von Greenpeace genutzt werden, NGOs für die Massenmedien zu einem attraktiven Thema gemacht (Imhof 2006: 201). Die Medien sind an der Aufdeckung von politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Missständen und Skandalen interessiert, um ihre Auflagen und Einschaltquoten zu steigern. Liefern NGOs spektakuläre Geschichten und Bilder mit hohem Nachrichtenwert (McQuail 2005: 310) bekommen sie im Gegenzug jene mediale Aufmerksamkeit, die sie nicht nur als politisches Druckmittel, sondern auch zur Legitimation ihrer Existenz und damit zur Ressourcensicherung benötigen. Im Gegensatz zu Parteien können sich NGOs nicht auf Entscheidungskompetenz oder formale Legitimation mittels erhaltener Wählerstimmen berufen. Sie besitzen keine demokratische Input-Legitimation, welche ihr Wirken innerhalb politischer Prozesse rechtfertigen würde und auch die entsprechenden Kontrollinstrumente sind nicht gegeben. Dennoch unterliegen NGOs einer informellen und mitunter höchst wirksamen öffentlichen Kontrolle. Sie sind dazu gezwungen, ihre Arbeit immer wieder neu öffentlich zu begründen und zu rechtfertigen, um so Vertrauen und öffentliche Reputation aufrechtzuerhalten. Die Zustimmung der Bürger „lässt sich nicht wie bei Parteien durch Wahlversprechen oder wie bei Verbänden durch klientelspezifische Gratifikationen erkaufen, sondern muss sich durch Appelle, Argumente und richtungsweisende Lösungsangebote eingeworben werden“ (Rucht 2001: 330). Wird ihnen das Vertrauen entzogen, ist es den Organisationen kaum möglich, aktive und finanzielle Unterstützung zu mobilisieren. Die Allokation von Ressourcen und damit meist auch ihre Existenz sind massiv bedroht. Für NGOs ist die Präsenz in den Medien somit ein entscheidendes Ziel ihrer Öffentlichkeitsarbeit sowie ihrer Mobilisierungsstrategien (Frantz/Martens 2005:15; Curbach 2003: 128; Lahusen 2000: 188ff). Streben NGOs nach breiter Öffentlichkeit, müssen sie zunächst die Aufmerksamkeit der Medien wecken, um dann vermittelt über diese die Bürger zu erreichen. Um jene Aufmerksamkeit und im Zuge dessen Einfluss zu gewinnen, müssen
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sie sich jedoch an die spezifischen Selektions-, Handlungs- und Eigenlogiken der Massenmedien anpassen. Im Hinblick auf das ambivalente Verhältnis zu den Medien, bei dem letztgenannte häufig am längeren Hebel sitzen, stellen neue Informations- und Kommunikationstechnologien für NGOs eine bedeutende Ressource dar. Insbesondere das Internet und die damit verbundenen vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten und setzt erhebliche Organisationsund Kommunikationspotenziale frei (Heins 2002: 137; Gibson et al. 2004: 1). Das Internet ermöglicht direkte Kommunikation – initiiert von der jeweiligen NGO, gerichtet an den Bürger – unter Umgehung der „Gatekeeper“- und Selektionsfunktion der traditionellen Massenmedien. Infolgedessen können auch kleinere NGOs via e-Mail, Newslettern oder entsprechenden Inhalten auf der organisationseigenen Website Informationen relativ kostengünstig, schnell und einfach verbreiten und so Einfluss auf die Meinungsbildung der Bürger gewinnen. Im Gegensatz zu den traditionellen Massenmedien erlaubt das interaktive Medium wechselseitige Verständigung in vielfältiger Form und stellt eine besondere Möglichkeit dar, Interessierte direkt zu informieren und bietet diesen gleichzeitig die Chance, ihre Anliegen und ihr Wissen einzubringen (Bohman 2004: 50; Herrmann 2001: 112; Marschall 2001: 149). Laut Leggewie und Bieber (2003: 150) nutzen NGOs das Internet als Informations- und Mobilisierungsmedium („top-down“), als Portal für die Kommunikation der Mitglieder mit einem größeren Publikum („few-to-many“), als Kommunikationsmedium der Unterstützer untereinander („few-to-few“) sowie als Partizipationsmedium („bottomup“). Zusammenfassung:
In modernen repräsentativen Demokratien kommt den Massenmedien in Bezug auf Politikvermittlung die Hauptaufgabe zu. Hinsichtlich der Wahlentscheidung hat interpersonale Kommunikation jedoch einen größeren Einfluss. Zur Vermittlung ihrer Botschaften sind politische Akteure jedoch wesentlich auf die Massenmedien angewiesen. Um erfolgreich zu kommunizieren bedarf es der Anpassung an die interne Handlungslogik der Massenmedien. Die formale Ausgestaltung und Struktur von Mediensystemen, welche ebenfalls Handlungsparameter für politische Akteure vorgeben, lassen sich in drei Modellen von Mediensystemen zusammenfassen: „The Mediterranean or Polarized Pluralist Model“, „the North/Central European or Democratic Model“ und „the North Atlantic or Liberal Model“. Neben den Veränderungen auf den Wählermärkten beeinflussen die Veränderungen im Bereich des Mediensystems die Parteien; neben der Herstellung wird die Darstellung von Politik zunehmend bedeutsamer. Am Beispiel des Political Marketing lässt sich festmachen, dass Parteien ihre Organisationsstrukturen und kommunikativen Strategien den Anforderungen und Veränderungen des massenmedialen Systems anpassen. Im Gegensatz zu Parteien müssen sich NGOs ihre Präsenz auf der medialen Agenda mittels spektakulärer Geschichten mit hohem Nachrichtenwert erkämpfen. Um ihre
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Sarah Bastgen, Kim Jucknat und Andrea Römmele Unterstützer zu erreichen sind sie auf die Nutzung des Internet und der damit verbundenen Organisations- und Kommunikationspotenziale angewiesen.
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Neue Informations- und Kommunikationstechnologien
Neue IuK-Technologien haben die politische Kommunikation revolutioniert und bieten politischen Akteuren neue Kanäle der Informationsübermittlung; Wähler und Bürger haben durch die neuen IuK-Technologien völlig neue Partizipationsmöglichkeiten. Mit dem Aufkommen dieser neuen Kommunikationsmöglichkeiten wurde auch eine demokratietheoretische Diskussion angefacht, die plakative Schlagworte wie „Teledemokratie“, „Cyberdemokratie“ oder „Computerdemokratie“ hervorbrachte. Die Diskussion dreht sich weitgehend um die These, dass mit der wachsenden Bedeutung neuer Formen politischer Kommunikation die Grundlage für einen weitreichenden institutionellen Wandel gelegt ist. Am deutlichsten wird diese These im Hinblick auf das Internet diskutiert. Einige Autoren sehen durch dieses neue Medium einen Transformationswandel zu einer direkteren Demokratieform. So haben manche Demokratietheoretiker argumentiert, dass die Bedeutung des Faktors Organisationsgröße vom jeweiligen Stand der Kommunikationstechnik abhängig ist und sehen in den neuen IuK-Technologien die Chance einer neuerlichen Transformation der Demokratie. Diese Argumentation betont vornehmlich Interaktivität, Schnelligkeit der Informationsübermittlung sowie Multimedialität. Das Internet ermöglicht gleichzeitige, direkte und interaktive Kommunikation zwischen beliebig vielen Personen und erscheint – aus dieser Warte betrachtet – als ein Medium, das Gleichheit, Partizipation und Vergemeinschaftung fördert (Römmele 2001: 158). Wie nutzen politische Akteure das Internet? Welche Vorteile bietet es ihnen und gibt es Unterschiede zwischen Parteien und NGOs? Generell gilt, dass politische Akteure durch dieses noch junge Medium die Kontrolle über ihre Botschaften haben. Im Gegensatz zum massenmedialen System mit seinen eigenen Handlungsrationalitäten bestimmt der Sender den Inhalt der Botschaft. Mit dem Aufkommen der neuen Kommunikationsmöglichkeiten wuchs auch die Hoffnung, dass mit dem Aufbruch zur „virtuellen Demokratie“ die Distanz zwischen Regierenden und Regierten geringer wird und vor allem eine große Zahl an Bürgern, die bisher noch nicht politisch involviert sind, am politischen Prozess partizipieren. In diesem Zusammenhang wird auch von der Mobilisierungsthese gesprochen (siehe u.a. Budge 1996; Grossman 1995; Rheingold 1993). Hätten Vertreter dieser theoretischen Annahmen Recht, dann müsste sich die OnlineGemeinschaft in einigen grundlegenden Eigenschaften von den traditionellen politischen Aktivisten unterscheiden. Die bisherige Faustregel politischer Partizipation – überwiegend Männer mittleren Alters mit überdurchschnittlichem Einkommen und einem hohen Bildungsgrad partizipieren am ehesten (vgl. den Beitrag von Jan van Deth in diesem Band) – müsste auf den Kopf gestellt werden. Es gibt allerdings auch die andere Perspektive: Vertreter der Reinforcementthese (siehe u.a. Davis 1999; Haythornthwaite 2001; Hill/Hughes 1998) gehen davon aus, dass das Internet die bereits bestehenden Formen politischer Partizipation
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stärkt, aber keineswegs ausweitet. Zugespitzt formuliert kann man sagen, dass jene, die ohnehin am politischen Prozess partizipieren, auch das Internet nutzen. Diejenigen, die bisher nicht partizipieren, werden auch nicht über das Internet angeregt, in einen Dialog mit den politischen Akteuren zu treten. Empirische Beiträge haben klar die Reinforcementthese belegt, d.h. Bürger, die ohnehin aktiv am politischen Prozess beteiligt sind, nutzen auch das Internet zur Kommunikation mit politischen Akteuren (Gibson et al. 2003). Hauptnutzer der offiziellen Websites der politischen Parteien sind jedoch die Medien. „Overall, the study suggests that party websites are likely to have greater impact on communication pluralism rather than by widening direct participation among disaffected groups, because these resources mainly reach citizens who are already most likely to be politically active, interest and engaged. Like traditional news media, politics on the Internet serves primarily to reinforce civic engagement” (Norris 2003: 43).
Einen wirklich neuen Beitrag leisten neue IuK-Technologien für kleinere Organisationen, insbesondere in Bezug auf deren interne Kommunikation. Während (große) Parteien den Fokus ihrer Netzpräsenz auf Informationsübermittlung (top-down) d.h. auf Außendarstellung legen, nutzen kleine(re) Organisationen das Internet hauptsächlich zur internen Vernetzung. Das Internet wird als geeignetes Medium angesehen, um nicht bestehende Organisationsstrukturen zu ersetzen. „By easing the processes of communication, the need for formal structures or centralised offices are reduced. Individuals are able to communicate cheaply and regularly through ICTs without necessarily meeting face to face, or by formalising the contact. ICTs enable the networks to remain fluid and loose, and to adapt to the changing involvement of different participants“(Pickerell 2003: 181). Während also neue IuK-Technologien keine innovativen Strukturen innerhalb der „großen Tanker“ hervorbringen, sondern als Rationalisierungselement bestehender Kommunikationsvorgänge gesehen werden, können sich kleinere Organisationen durch dieses Medium einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren sowie sich untereinander und organisationsintern mittels dieses neuen Mediums vernetzen. Zusammenfassung:
Neue IuK-Technologien werden von Parteien in erster Linie top-down zur Informationsübermittlung genutzt. Es gelingt politischen Akteuren kaum, „neue“ Bürger zum Dialog zu gewinnen. Diejenigen, die ohnehin politisch und/oder sozial partizipieren, nutzen auch neue IuKTechnologien, um sich zu beteiligen. Für kleine(re) Organisationen, vor allem NGOs, bieten neue IuK-Technologien eine enorme Organisationsstütze.
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Die Interaktion politischer Akteure und Mediensysteme im internationalen Vergleich: Vergleichende politische Kommunikationsforschung
Durch die Globalisierung haben wir es mit vielen untereinander vernetzten Gesellschaften zu tun. Politische Entscheidungen, die national getroffen werden, haben heutzutage vielfältigere Auswirkungen, die nicht nur das jeweilige Land betreffen, sondern über die Staatsgrenzen hinausreichen. Europa wächst immer mehr zusammen, Wirtschaftsstandorte im Ausland gewinnen immer größere Bedeutung, die Kommunikation zwischen den einzelnen Ländern wird immer intensiver und wichtiger. Politische Kommunikationsprozesse gehen über nationale Grenzen hinaus und können demzufolge nicht mehr als Phänomene betrachtet werden, deren Einflussbereich sich lediglich auf das jeweilige Land erstreckt, in dem sie stattfinden (Pfetsch/Esser 2003: 10). Die Kapazitäten moderner Kommunikationstechnologie und die immer stärker werdende politische Verflechtung von Staaten erfordern eine Perspektive, die politische Kommunikation als Prozess betrachtet, der sowohl von nationalen als auch internationalen Einflüssen geformt wird: Eine vergleichende Perspektive wird diesen Anforderungen gerecht. Blumler und Gurevitch (1995: 76) nennen die dramatische Globalisierung des Flusses von politischen Botschaften als das zwingendste Argument für einen vergleichenden Ansatz. Es ist natürlich offensichtlich, dass die institutionellen Rahmenbedingungen eines Landes den politischen Kommunikationsprozess prägen (Blumler/ Gurevitch 1995), sodass aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen für politische Kommunikation in den einzelnen Ländern auch die darin involvierten Akteure anders handeln, d.h. anderen „output“ produzieren. Die international vergleichende politische Kommunikationsforschung greift diese Aspekte auf und operiert mit einem Repertoire an analytischen und empirischen Zugängen, was eine Erfassung politischer Kommunikationsprozesse jenseits von Einzelphänomen erlaubt, und ihre Bedeutung für politische Regime und letzten Endes für die Demokratieentwicklung ermöglicht (Pfetsch et al. 2007: 70). Im Gegensatz zur politischen Kommunikationsforschung, die den Fokus auf politische Kommunikationsprozesse, Akteurskonstellationen und institutionelle Rahmenbedingungen im nationalstaatlichen Kontext legt, ist die international vergleichende politische Kommunikationsforschung um eine system- und kulturübergreifende Reichweite ihrer Schlussfolgerungen bemüht und geht deshalb grundsätzlich grenzüberschreitend vor: „Vergleichende politische Kommunikationsforschung liegt immer dann vor, wenn zwischen mindestens zwei politischen Systemen oder Kulturen (oder deren Teilelementen) Vergleiche auf mindestens einen kommunikationswissenschaftlich relevanten Untersuchungsgegenstand gezogen und dabei Wechselbeziehungen mit erklärenden Variablen auf der mikroanalytischen Akteursebene, der mesoanalytischen Organisations- und Institutionsebene sowie der makroanalytischen System-/Kulturebene mitberücksichtigt werden“ (Pfetsch/Esser 2003: 438).
Innerhalb der international vergleichenden politischen Kommunikationsforschung lassen sich unterschiedliche Forschungsströmungen verorten. Neben der Erforschung der politischen Kommunikationskultur von Journalisten und politischen Sprechern (Pfetsch 2003; Tenscher 2003) bildet die Wahlkampfkommunikationsforschung ein zentrales Themenfeld.
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Im Laufe der letzten Dekade befassten sich auch einige Studien mit dem Einfluss politischer PR auf die Medienberichterstattung (Schulz 1997; Tenscher 2003). Die Erfassung der Nachrichtengeografie, die nach den Faktoren für die Auswahl derjenigen Länder/Weltregionen fragt, über die in den Medien berichtet wird, stellt einen weiteren Forschungsstrang dar. Insgesamt lässt sich festhalten, dass es sich bei der international vergleichenden politischen Kommunikationsforschung um ein relativ junges Forschungsfeld handelt, das weiterer theoretischer Untermauerung bedarf. Bis dato überwiegt ein deskriptiver Ansatz, der die jeweiligen länderspezifischen Parameter erfasst und systematisch vergleicht. Zukünftige Forschung sollte es sich deshalb zur Aufgabe machen, ihre Erkenntnisse in einen stärker theoretisch fundierten Kontext einzubetten (Pfetsch et al. 2007: 71). Zusammenfassung
Die international vergleichende politische Kommunikationsforschung trägt der Eingrenzung politischer Kommunikationsprozesse Rechnung und umfasst dabei eine Kombination verschiedener Forschungsansätze und Analyseebenen.
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Testfragen 1. 2.
3. 4. 5. 6. 7. 8.
Warum ist politische Kommunikation in modernen repräsentativen Demokratien unerlässlich? Welche Rolle spielen interpersonale Kommunikation und massenmediale Kommunikation hinsichtlich der Wahlentscheidung der Bürger? Nehmen Sie Bezug auf zentrale Studien zu dieser Thematik! Wodurch ist das Spannungsverhältnis zwischen politischen Akteuren und Massenmedien gekennzeichnet? Welche medienspezifischen Faktoren sind hier zentral? Diskutieren Sie das Konzept der Amerikanisierung! Was zeichnet professionalisierte Kampagnen aus? Mit welchen Herausforderungen und Problematiken sind Parteien im Vergleich zu NGOs im Hinblick auf ihre kommunikativen Strategien konfrontiert? Wahlkampfkommunikationsforschung ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Welche Forschungsstränge werden vereint? Nennen Sie ihre zentralen Elemente und Herangehensweisen. Entwickeln Sie eine Forschungsfrage im Bereich der international vergleichenden politischen Kommunikationsforschung. Nehmen Sie Bezug auf aktuelle Forschungsströmungen und Trends!
Politische Parteien als Gegenstand der Politischen Soziologie Uwe Jun
1
Einleitung
Politische Parteien1 sind ein zentraler Gegenstand der Politischen Soziologie: Sie sollen die gesellschaftliche Verankerung staatlicher Politik und deren Vermittlung gewährleisten, sowie umgekehrt gesellschaftliche Interessen in die staatliche Sphäre hineintragen (siehe Abbildung 1). Sie können als Kommunikations- und Vermittlungsagenturen „mit umfassender politischer Orientierungsfunktion“ (Sarcinelli 2007: 110) gelten. Da politische Parteien in modernen Demokratien ein nicht nur zentraler, sondern auch notwendiger Akteur des politischen Willensbildungsprozesses sind und gerade dort ihre gesellschaftliche Verankerung von eminenter Bedeutung ist, konzentriert sich dieser Beitrag auf die Rolle von Parteien in demokratischen Systemen. Der Parteienwettbewerb gilt als essentieller Bestandteil demokratischer Regierungsweise, die von einer funktionierenden Zivilgesellschaft unterstützt werden soll. Die Konkurrenz um Wählerstimmen soll dem politischen System Legitimität durch Wahlen verleihen, zugleich Responsivität gegenüber den Werten, Interessen und Forderungen der Bürger gewährleisten und durch Oppositionsrechte und dem Aufzeigen wählbarer Alternativen einseitiger Machtkonzentration entgegenwirken. Im ersten Teil dieses Kapitels sollen daher die Position der Parteien in der demokratischen Gesellschaft und ihr Hineinwirken in die Wählerschaft im Vordergrund stehen. Der Blick richtet sich in diesem gesamten Beitrag auf die Relevanz von politischen Parteien als gesellschaftliche Organisationen. Der nach einhelliger Einschätzung zu konstatierende Bedeutungsverlust der gesellschaftlichen Stellung von politischen Parteien durch sich wechselseitig beeinflussende soziale, politische und mediale Veränderungsprozesse wird auf seine historischen Wurzeln zurückgeführt und auf Gründe und Ursachen hin analysiert. Sich daraus ergebende Herausforderungen werden in den Blick genommen. Ihre gesellschaftliche Anbindung erreichen politische Parteien durch die Mobilisierung von Wählern, ihre Verbindungen zu Interessenorganisationen, durch die Schaffung von Identitätssymbolen und Loyalität ihnen gegenüber oder durch die Rekrutierung von Mitgliedern. Dabei zeichnet sich in vielen Demokratien Europas ein schleichender Niedergang der Massenmitgliederpartei in den letzten 20 Jahren 1 Wenn in dieser Abhandlung von politischen Parteien die Rede ist, sind damit vor allem die etablierten bzw. relevanten Parteien eines politischen Systems gemeint. Darunter fallen alle Großparteien und alle etablierten Kleinparteien. Zur Unterscheidung zwischen etablierten und nicht etablierten Kleinparteien vgl. Jun/Kreikenbom (2006: 21ff); zur Klassifizierung der relevanten Parteien siehe Sartori (1976: 121ff). Zum Parteienbegriff allgemeiner siehe Jun (2004: 58f), Wiesendahl (2006c: 3ff).
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Uwe Jun
ab, wie auch ihre Bindungen zu Interessenorganisationen erodieren und die Parteiidentifikation bzw. Loyalitätsbezeugungen zunehmend geringer werden. Welchen Wandel die Mitgliederpartei durchläuft, wird zunächst an Veränderungen ihrer Mitgliederbasis dargestellt wie daran anschließend an der Analyse der Wandels von (vorherrschenden) Parteitypen. Letzteres soll die Wandelprozesse der Beziehungsmuster zwischen Gesellschaft und Partei weiterhin kenntlich und auf neuere Entwicklungstendenzen aufmerksam machen. Ein Fazit mitsamt einem kurzen Ausblick rundet die Betrachtungen über Parteien als Gegenstand der Politischen Soziologie ab. Abbildung 1:
2
Politische Parteien als Vermittlungsagenturen
Parteien in der Gesellschaft
In diesem Abschnitt sollen im Anschluss an Winfried Steffanis (1988) Kategorisierung der verschiedenen Dimensionen der Analyse von politischen Parteien (siehe Kasten 1) Parteien als Ausdruck sozialer Gruppen sowie ideologisch-programmatischer Vorstellungen und Ziele näher betrachtet werden.
Politische Parteien als Gegenstand der Politischen Soziologie
Kasten 1:
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Sektoren der Parteienanalyse
Parteien als Ausdruck sozialer Gruppen sowie ideologisch-programmatischer Vorstellungen und Ziele Parteien als Instrumente der Machtausübung Parteien als Vermittler demokratischer Legitimation Parteien als Interessenvertreter in eigener Sache und als Rekrutierungsfeld der politischen Führung
Quelle: Steffani (1995).
Als gesellschaftliche Akteure haben sie – zumindest in den meisten westlichen Demokratien – einen Bedeutungsverlust hinnehmen müssen, der sich insbesondere an der zurückgehenden Zahl ihrer Mitglieder und Stammwähler wie an ihrer geringeren Machtposition im gesellschaftlichen Gefüge festmachen lässt. Die Gründe dafür sind vielfältig, zum Teil bei den Parteien selbst zu suchen (siehe Abschnitt 3), hauptsächlich jedoch in gesellschaftlichen und politischen Veränderungsprozessen zu finden.
2.1 Die Erosion der sozialmoralischen Milieus im 20. Jahrhundert Als eine wesentliche Ursache des gesellschaftlichen Relevanzverlustes kann der Bedeutungsrückgang der lange Zeit prägenden gesellschaftlichen Konfliktstrukturen mit einhergehender Erosion der traditionellen sozialmoralischen Milieus gelten. Individualisierung, Fragmentierung von Lebensstilen und die Ausdifferenzierung sozialer Gruppen sind seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachten (Jun 2005: 226ff; Siavelis 2006: 359; Mair 2006). Parteibildende gesellschaftliche Konfliktstrukturen bildeten sich im 19. und 20. Jahrhundert im Zuge der Nationenwerdung und der industriellen Revolution heraus. Als grundlegende Konfliktlinien lassen sich nach Seymour Lipset und Stein Rokkan (1967) die zwischen den Interessen der Industriezentren und der Agrarwirtschaft, zwischen Kirche und Staat, zwischen Zentrum und Peripherie und zwischen Arbeit und Kapital erkennen, wobei letztere im 20. Jahrhundert die am weitesten reichende ist (siehe auch den Beitrag von Harald Schön in diesem Band). Diese verfestigten Konfliktlinien innerhalb einer Gesellschaft bildeten die Voraussetzung für die Entstehung von ausgeprägten sozialen Milieus, innerhalb derer politische Parteien ihre feste Verankerung hatten. Die Milieus sind gekennzeichnet durch eine relative soziale Homogenität und durch eine kollektive Identität, welche in gemeinsam geteilten Werten zum Ausdruck kommt und die Basis der parteipolitischen Organisation bildeten. Erst mit der Herausbildung von Organisationen gelang es den einzelnen sozial-moralischen Milieus ihre jeweiligen Vorstellungen im politischen System mit Nachdruck zu vertreten und ihre gesellschaftlichen Interessen wirkungsvoll in das politische System einzubringen. Somit ist von einer Politisierung des Konfliktes zu sprechen (Mair 2006: 373; zum CleavageAnsatz auch Ladner 2004: 32ff; Saalfeld 2007: 69ff). Die Parteien rekrutierten ihre Wählerschaft und – noch eindeutiger – ihre Mitgliedschaft hauptsächlich aus dem jeweiligen Milieu und waren Teil einer umfassenden organisatorischen Struktur mit gesellschaftlichen Vor-
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feldorganisationen, Sport- und Freizeitvereinen usw. Drei sozialmoralische Milieus finden besondere Erwähnung: Arbeiter und Handwerker bildeten den Kern des sozialdemokratischen bzw. sozialistisch-kommunistischen Milieus, das katholische Milieu formierte sich als politische Gesinnungsgemeinschaft fester als das protestantisch-städtische Milieu, welches die Basis für liberale Parteien bildete. Daraus gingen die Massenparteien hervor, die eine dauerhafte und über Jahrzehnte währende, stabile Verbindung zwischen ihrer gesellschaftlichen Basis und den politischen Institutionen herstellten und dabei nicht nur die Interessen und Werte ihrer Sympathisanten in die staatlichen Institutionen vermittelten: „Der expressive Deutungs- und Sinnvermittlungseinfluss der Massenparteien ging zu ihrer Hochzeit sogar so weit, dass es ihnen glückte, das Lebensgefühl, die Befindlichkeiten, das epochale Bewusstsein sowie die vorherrschenden Mentalitäten von unzähligen Menschengruppen gemeinschaftsbildend zu prägen“ (Wiesendahl 2000: 279). Bedeutungsvoller als ihre soziale Gestalt ist derzeit die symbolische Bedeutung der Konfliktlinien, weil politische Parteien diese nach wie vor aufnehmen, sie damit politische Debatten prägen und dem Wähler Orientierung für sein politisches Verhalten bieten. Insbesondere die Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital – neu übersetzt als ökonomische Dimension mit den Polen Marktfreiheit und Staatsinterventionismus zur Umverteilung materieller Güter – prägt wesentlich den politischen Wettbewerb mit. Die aus den traditionellen Milieus hervorgegangenen Parteien verfügen seit Beginn des 20. Jahrhunderts über vielfältige organisatorisch vermittelte Verbindungen (so genannte „Linkages“; siehe ausführlich Poguntke 2000, 2002a) zu den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppierungen, die auch über ihre Milieuverwurzelung deutlich hinausreichen können. Das Handeln und die Entscheidungen der politischen Eliten sollen mit Hilfe dieser interdependenten Verbindungslinien an die Bürgerschaft zurückgebunden werden, um Legitimität für die Politik herzustellen und zu sichern sowie gesellschaftlichen Rückhalt zu gewährleisten. „Linkages“ können zum einen unvermittelt (direkte Kommunikation mit der Bürgerschaft) als auch organisatorisch vermittelt sein. Bei der direkten „Linkage“ ermitteln die politischen Akteure die Präferenzstruktur der Wählerschaft und versprechen als Gegenleistung für die elektorale Unterstützung ihnen gegenüber Responsivität des politischen Handelns, das heißt den unmittelbaren Einbezug der Meinungen, Haltungen und Wertvorstellungen der Bürger in die politischen Entscheidungen. Organisatorisch vermittelte „Linkages“ können politische Parteien zum einen über ihre Mitgliederorganisationen oder zum anderen über klassische Vorfeld- beziehungsweise Unterorganisationen (Poguntke subsumiert beide unter Kollateralorganisationen) herstellen. Während die über Kollateralorganisationen vermittelten Verbindungslinien der Parteien trotz graduellem Rückgang der Stärke auch am Ende des 20. Jahrhunderts in westlichen Demokratien als vergleichsweise stabil gelten können, haben sich die über die Mitgliederorganisation vermittelten Beziehungsgeflechte zuungunsten der Parteien entwickelt, was hauptsächlich auf den schon erwähnten erheblichen Rückgang der Mitgliederzahlen und des Organisationsgrades zurückgeführt werden kann. Unter der Oberfläche der stabilen Verbindungen lässt sich eine zunehmende Erosion der gesellschaftlichen Anbindung der politischen Parteien ausmachen, was insbesondere für die ehemals aus den traditionellen Milieus hervorgehenden zutrifft (vgl. Poguntke 2000: 265f). Für jüngere Parteien wie ökologische, links- oder rechtspopulistische gilt darüber hinaus – wie wohl auch für die meisten Parteien in den jüngeren Demokratien Mit-
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tel- und Osteuropas – dass es ihnen nicht einmal gelungen ist, eine breite soziale Verankerung aufzubauen. Daraus resultiert eine geringere Stabilität auf der Wählerebene, denn empirische Ergebnisse lassen einen Zusammenhang zwischen der Stärke der „Linkages“ und der elektoralen Stabilität erkennen: „Parties with strong organizational linkages to society have more stable electorats“ (Poguntke 2002a: 58; vgl. auch Poguntke 2006: 402). Traditionelle Konfliktlinien haben an Bedeutung verloren und sind nicht durch neue ersetzt worden. Die gesellschaftliche Anbindung von politischen Parteien hat sich in Folge dessen gelockert und das Ausmaß, in dem politische Parteien die Gesellschaft durchdringen, ist gesunken. Daraus entstehen die Entstrukturierung der Wählerschaft durch Prozesse der sozialen Ausdifferenzierung, die Auflösung einstmals stabiler sozialer Gruppen mit ihren kollektiven Identitäten und die Ausbreitung höherer Volatilität des Wählerverhaltens aufgrund von individuellen Präferenzbildungen und einzelnen Lebensstilgruppen. Die Großparteien verlieren zugunsten von kleineren Parteien an Wähleranteilen (Jun/Kreikenbom 2006). Mit zur gesellschaftlichen Erosion der etablierten Großparteien beigetragen haben der von Ronald Inglehart (1977) erfasste Wertewandel in post-industriellen Gesellschaften und die „kontinuierliche Höherqualifizierung der Gesellschaft“ (Geißler 1992: 213). Letzteres meint, dass parallel zum Prozess der Individualisierung der Anteil der Absolventen mit höherem formalen Bildungsabschluss erheblich größer geworden ist („kognitive Mobilisierung“), womit die Wählerschaft insgesamt ihre Ansprüche gegenüber den politischen Parteien gesteigert hat und weniger auf Kommunikationsleistungen und Deutungsangebote der Parteien angewiesen ist oder sich von diesen emanzipiert hat. Es hat sich in den post-industriellen Gesellschaften Westeuropas eine bunte Vielfalt von verschiedenen Wertegemeinschaften herausgebildet. Der von Inglehart analysierte Wertewandel mit einer zumindest in den 1970er und 1980er Jahren zu beobachtenden Bedeutungszunahme postmaterialistischer gegenüber materialistischen Werten hat die Differenzierung von Mentalitäten, Einstellungen, Lebensformen und Orientierungen begünstigt. Die Herstellung eines allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Wertekonsenses ist schwieriger geworden, auch wenn sich seitdem wieder ein Rückgang postmaterialistisch eingestellter Gruppen ausmachen lässt. Scott C. Flanagan (1982) hat den Ansatz Ingleharts überzeugend erweitert, in dem er der Relevanz libertärer Werte die Abnahme traditionell-autoritärer Werte – wie hierarchische Ordnungsvorstellungen, Paternalismus, Akzeptanz konservativ-religiöser Moralvorstellungen und Bevorzugung konformistischer Lebensstile – gegenüberstellt. An die Stelle autoritärer Wertvorstellungen tritt Flanagan zufolge bei einzelnen sozialen Gruppen eine bewusste Hinwendung zu libertären Werten wie Selbstverwirklichung, höhere Lebensqualität durch Freizeitaktivitäten, Toleranz gegenüber Minoritäten oder Bevorzugung non-konformistischer Lebensstile. Doch nicht nur die einstmals vorhandene relative Kohäsion sozialstruktureller Gruppen ist einer Diffusion gewichen, auch die Loyalität der weiterhin vorhandenen Bestände der Kernmilieus der Parteien gegenüber spezifischen politischen Parteien ist eingeschränkter vorhanden. Zwar sind noch bestimmte Loyalitätsmuster erkennbar (aktive Gewerkschafter neigen nach wie vor zu großen Teilen zur Wahl von sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien, praktizierende Katholiken zur Wahl von konservativen beziehungsweise christdemokratischen Parteien), jedoch ist diese traditionelle Unterstützung nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ rückläufig (Dalton et al. 2002; Drummond 2006; Siavelis
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2006). In den Augen der Wähler haben Parteien „viel von ihrer Sprachrohrfunktion und ihrem Interessenrepräsentationscharakter verloren“ (Wiesendahl 2006c: 103/104; Decker 2007: 28ff). Das Wahlverhalten ist situationsabhängiger geworden, stärker von individuellen Interessen geleitet und problembezogener. Kurzfristige Wahlfaktoren wie im Wahlkampf zentral platzierte Issues oder die wahrgenommene Kompetenz beziehungsweise Sympathie von Kandidaten stehen mehr im Vordergrund von Wahlentscheidungen. Langfristige Faktoren für die Wahlentscheidung verlieren an Prägekraft. Der wenig gebundene Wähler trifft seine Entscheidungen nicht ausschließlich anhand von Überzeugungen, Informationen oder rationalem Kalkül, sondern beispielsweise können auch strategisch angelegte oder situative Stimmungen oder Medienkampagnen seine Wahlentscheidung beeinflussen. Politische Parteien haben es unter diesen Bedingungen schwer, Loyalitäten zu erzeugen oder langfristige Bindungen aufzubauen. Als Folge dieser sozialstrukturellen Wandlungsprozesse mit ihren Auswirkungen konstatieren einzelne Autoren schon das Ende der Massendemokratie und ein Aufweichen des Mehrheitsprinzips, da nur noch über Konsens- und Kompromisslösungen von den unterschiedlichen Kleinstgruppen gesellschaftlich akzeptierte Entscheidungen herbeigeführt werden können – für politische Parteien fraglos eine Folge, die ihre Position in politischen Systemen erheblich unterminieren könnte. Resümierend lässt sich festhalten: Die Wählerschaft ist beweglicher und unübersichtlicher geworden. Die etablierten, aus den Milieus des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts hervorgegangenen politischen Parteien haben an elektoraler Integrationskraft deutlich verloren. Stabilität und Berechenbarkeit haben abgenommen, da sie einen „zunehmend größer werdenden Teil der Bürger nicht mehr über die formalen, organisatorisch verfassten Vermittlungsmechanismen, welche für die demokratische Parteienregierung über einen großen Teil des Jahrhunderts hinweg prägend waren“ (Poguntke 2000: 268) erreichen. Das zwingt sie dazu, neue Strategien zu entwickeln, um weiterhin im staatlichen Entscheidungsprozess und in der gesellschaftlichen Interessenartikulation und -aggregation eine zentrale oder sogar dominante Stellung einzunehmen (siehe Abschnitt 4).
2.2 Auswirkungen der gesellschaftlichen Erosion der Großparteien Kritiker schieben den Parteien an dieser Entwicklung des Verlustes an Verbindlichkeit und Sinnstiftung zumindest eine Mitverantwortung zu. Mit der Modernisierung ihrer Strategien, Strukturen und Programme, die mit einer Öffnung gegenüber den Wählergruppen der neuen Mittelschichten verbunden war, haben sie „die Loyalitätsreserven ihrer Kerngruppen und ihres Mitgliederbereichs leichtfertig aufs Spiel gesetzt, ohne diese durch ihre Modernisierungsstrategie wählermäßig kompensieren zu können“ (Wiesendahl 1992: 13f). Damit einhergegangen ist ein Verlust der klaren ideologischen Positionsbestimmung der politischen Parteien, was zumindest für die traditionellen Großparteien gilt. Im besonderen sozialdemokratische Parteien sahen sich gezwungen auf den ökonomischen Wettbewerb der nationalen Volkswirtschaften in Folge der Globalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte, der Handelsströme und der Produktion von Gütern mit einer weitgehenden Aufgabe ihrer originären Ziele (etwa Gleichheit) und Instrumente (etwa Keynesianismus) zu reagieren (Jun 2004; Merkel et al. 2006; Meyer 2006), wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und
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mit verschiedener Intensität.2 Doch lässt sich unzweifelhaft von einem neuen Pragmatismus sprechen, der auch in Folge sozialer Wandlungsprozesse die christdemokratischen und konservativen Parteien erfasst hat, in dem sie sich von traditionellen Wertvorstellungen (etwa in der Familienpolitik) zu lösen begonnen haben. Diese weitere Abkehr von ideologischen Grundsätzen der Parteifamilien lässt sich mit der Notwendigkeit der Öffnung gegenüber den verschiedenen Gruppen der Mittelschichten mit ihren diversen materiellen Ansprüchen und mentalen Bedürfnissen erklären, da – wie oben dargelegt – die traditionellen Großparteien zum Gewinn von Wählermehrheiten sich nicht mehr auf die relativ stabilen Parteibindungen ihrer jeweiligen Kernwähler verlassen können. Ihre Entwürfe und Programme konnten sie somit nicht mehr nur ausschließlich auf ein vorhandenes stabiles Segment mit spezifischen Interessen gründen, wollten sie nicht ihre Konkurrenzfähigkeit im Parteienwettbewerb verlieren. In einer mobilen und individualisierten Gesellschaft verlieren Programme schneller an Haltbarkeit, sind politische Parteien einem Flexibilisierungs- und Änderungsdruck unterworfen. Es gilt für Parteien zwischen Flexibilität und Stabilität (Aufrechterhaltung von programmatisch unterscheidbaren Grundsätzen, Herstellung von Erwartungssicherheit bei Wählern und Mitgliedern) eine angemessene Ausrichtung zu finden und die Organisation entsprechend zu positionieren (Wehner 1999). Denn nach wie vor orientieren sich die Wähler trotz aller genannten Wandlungstendenzen an althergebrachten Identitäten der Parteifamilien, deren Images und Ausrichtungen (Siavelis 2006: 367). Eine typische Parteikultur, die sich an ideologischen Überzeugungen, organisationsstrukturellen Besonderheiten und bestimmten Handlungsformen festmachen lässt (Schwartz/Lawson 2005: 278ff), lässt sich auch weiterhin ausmachen, jedoch verschwimmen die Unterschiede im Zuge von Modernisierungs- und Professionalisierungsschüben der Organisationen. Die politischen Parteien haben insofern auch eine Mitverantwortung für den Verlust an Stammwählern zu übernehmen, in dem sie durch ihre Politik selbst den Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung und Tertiarisierung bewirkt und durch ihre Politikinhalte auf den Gang und die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungsprozesse aktiv eingewirkt haben. Doch hätten sie sich ernsthaft diesen Prozessen verschließen sollen oder können? Die sozialstrukturellen Veränderungen sind auch, aber nur zu einem geringeren Teil ein Produkt der Politik der Parteien. Sie haben sich selbst in eine Situation begeben, in der ihre Situation unsicherer und deutlich unübersichtlicher geworden ist. Die selbst von ihnen mit herbeigeführte Modernisierung von Gesellschaften hat den politischen Parteien Orientierungsmarken genommen, lässt sie bei der Selbstbestimmung unsicherer, ihre Abgrenzungsbemühungen zu politischen Konkurrenten weniger überzeugend erscheinen. Ihnen sind aus 2 Merkel et al. (2006) unterscheiden zwischen liberalisierten Sozialdemokraten, die ihren Zielkatalog und die Instrumente reformiert hätten (beispielhaft nennen sie die britische Labour Party und die niederländische PvdA), den modernisierten Sozialdemokraten, die zwar ihre Instrumente, aber nicht ihre Ziele verändert haben (die schwedische und dänische Sozialdemokratie fallen darunter) und die traditionelle, die weder Ziele noch Instrumente verändert haben (SPD und die französische PS). Bei der SPD mögen angesichts der Durchsetzung der „Agenda 2010“ durch den früheren Bundeskanzler Schröder einige Zweifel an der Klassifizierung aufkommen. Merkel et al. beziehen sich bei ihrer Einordnung auch zutreffend hauptsächlich auf den Zeitraum bis 2003. Bei der französischen PS deuten Aussagen der Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal ebenfalls auf Modernisierungstendenzen hin. Siavelis (2006: 365) konstatiert etwas oberflächlich: „Across Europe, leftist parties have become less ideological, more pluralistic, and have accepted competitive markets as the key to growth“.
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dieser für sie entstandenen Unübersichtlichkeit und Unsicherheit im Parteienwettbewerb neue Aufgaben erwachsen: „An die Stelle jederzeit verlässlicher Inanspruchnahme generalisierter Loyalität in den ihr zugeordneten Großmilieus tritt nun die Herausforderung, durch differenzierte, einfallsreiche und unentwegte Kommunikation Unterstützung in den verschiedensten Kleinmilieus zu finden“ (Meyer 1998: 98). Massenmedial vermittele Kommunikation ersetzt zu einem Teil die gesellschaftliche Anbindung der Parteien, die verstärkt via Massenmedien den Zugang zu ihren Wählern und Sympathisanten finden. In diesem Zusammenhang hervorzuheben ist der Siegeszug der elektronischen Medien, vornehmlich des Fernsehens, als Leitmedium der politischen Kommunikation (siehe auch den Beitrag von Andrea Römmele et al. in diesem Band). Reichweite und Nutzungsdauer der von Parteien unabhängigen Medien weisen einen stetig steigenden Stellenwert im Alltag der Gesellschaften auf, während die vormals bedeutsame Parteipresse nahezu in die Bedeutungslosigkeit versunken ist. Durch Massenmedien vermittelte Kommunikation ist zum Alltagsphänomen geworden, sie absorbiert immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit in einer individualisierten Gesellschaft. Politische Themen erreichen erst dann eine erhöhte Aufmerksamkeit, wenn sie von Massenmedien aufgegriffen und verarbeitet werden. In Folge der Auflösung großflächiger Milieus haben Massenmedien bei der Informationsselektion und -bereitstellung nahezu eine Monopolstellung eingenommen: Politik ist für einen sehr großen Teil der Bürger nur noch medial erfahrbar, als sekundär wahrgenommenes Medienereignis. Die Bedeutung direkter, interpersonaler Kommunikation zwischen Parteien und der Bürgerschaft ist deutlich rückläufig zugunsten medialer Kommunikationsformen. Die nach Einführung des privaten Fernsehens und Hörfunks zu konstatierende weiterführende Ökonomisierung beziehungsweise Kommerzialisierung der Medienlandschaft hat zudem nicht nur eine quantitative Seite, die in einer Angebotsexplosion ihren Ausdruck findet, sondern auch eine qualitative: Neue Formate prägen das Bild der Medien (Semetko 2006). Die Orientierung an Werbemarkt- und Publikumsinteressen hat zum vermehrten Einsatz von visualisierenden und unterhaltenden Elementen der Massenkommunikation geführt. Der rein informative Charakter wurde zurückgedrängt zugunsten verbindender Formate von Information, Unterhaltung und zugkräftigen Bildern wie sie in Begriffen wie Infotainment oder Boulevardisierung und Entertainisierung politischer Kommunikation ihren Ausdruck finden (Saxer 2007). Folge für die Parteien ist eine Abnahme der Kontrollund Einflusschancen, obwohl sie für die Darstellung und Vermittlung von Themen und Kandidaten mehr als in der Vergangenheit auf Medien als Transporteure angewiesen sind, um auf dem unübersichtlichen und heterogenen Wählermarkt erfolgreich agieren zu können. Der mediale Anteil parteipolitischen Handelns gewinnt an Bedeutung (Bukow/Rammelt 2003: 77). Eine weitgehende Adaption der Medienlogik ist unabdingbare Voraussetzung, um im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Medien und der Wähler bestehen und Medien als potentielle Ressource für elektorale Erfolge nutzen zu können.
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Abbildung 2:
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Wettbewerbsdimensionen der Parteien liberale, offene Gesellschaft
sozial-libertäre Politik
liberale Marktwirtschaft staatlich gesteuerte Wirtschaft
neoliberal-autoritäre Politik autoritäre Politik
Quelle: Eigene Abbildung in Anlehung an Kitschelt (1994).
Eine weitere für die etablierten politischen Parteien besonders relevante Folge der Fragmentierung gesellschaftlicher Interessenlagen, Mentalitäten und Lebensstile war das Aufkommen neuer Parteien, insbesondere linksliberal-ökologischer und rechts- wie linkspopulistischer Organisationen, die von der Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien profitieren. Mit den grünen Parteien entstand in den 1980er Jahren eine neue relevante Parteienfamilie, die ökologische, aber auch partizipatorische und postmaterialistische Themen in den Vordergrund stellte und vornehmlich aus den Neuen Sozialen Bewegungen und der Studentengeneration der 68er Bewegung hervorging. Sie trat für die Anerkennung von Minderheiten, rechtliche und soziale Gleichstellung unterschiedlicher Lebensformen, mehr direkte Demokratie, Abrüstung und eine nachhaltige Berücksichtigung von ökologischen Aspekten in allen Bereichen der Politik ein (Müller-Rommel 1998). Die Grünen verbinden diese libertären Werte mit Forderung oder Bewahrung wohlfahrtsstaatlicher Politik (links-libertäre Parteien). Mittlerweile können diese selbst als etablierte Parteien gelten, die in einzelnen Staaten schon an der Regierung waren (Deutschland, Frankreich). Seit den 1990er Jahren lässt sich das Erstarken oder Aufkommen von rechtspopulistischen oder rechtsextremen Parteien beobachten, die sich häufig als Protestparteien gegen das etablierte Parteiensystem verstehen und sich Themen wie innerer Sicherheit, Auslän-
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derpolitik oder Ausgrenzung von Minderheiten zuwenden und häufig Wähler ansprechen, die von den ökonomischen Folgen der Globalisierung benachteiligt werden oder sich subjektiv auf der Verliererseite wähnen (Betz 2002; Decker 2006). Auf letztere Wählergruppen setzen auch linkspopulistische Parteien, die sich in Abgrenzung zu weiten Teilen der etablierten Sozialdemokratie den ökonomischen Folgen der Globalisierung verschließen oder entgegenstellen und mit großer Vehemenz den Wert der sozialen Gerechtigkeit in den Vordergrund stellen. Aus diesen Veränderungsprozessen und den Reaktionen der etablierten Parteien auf das Aufkommen neuer Parteiformationen, die in einer teilweisen Übernahme der Positionen und Themen mündeten, hat die Parteienforschung eine neue zentrale Konfliktlinie entwickelt, nämlich die zwischen autoritärer und libertärer Staats- und Politikauffassung, die neben die andere dominante Konfliktlinie Marktfreiheit vs. staatliche Steuerung/soziale Gerechtigkeit getreten ist (Kitschelt 1994; siehe Abbildung 2) Fazit dieses Abschnitts: Für die politischen Parteien ergeben sich aus gesellschaftlichen Entwicklungen eine Reihe von erheblichen Auswirkungen. Eine zurückgehende Basis an Stammwählern, sowie eine stärker fragmentierte und instrumentell motivierte Wählerschaft lässt die Bedeutung von Parteien als Akteure der Interessenartikulation and -aggregation, als Sozialisationsinstanzen und Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen sinken. Die Bedeutung von ideologischen Grundsätzen im Parteienwettbewerb hat sich verschoben und das Aufkommen neuer Parteien mit spezifischen Programminhalten begünstigt. Der Medienwandel und der damit einhergehende erhöhte Medienkonsum stellen die Parteien des Weiteren vor gravierende neue Herausforderungen. Dennoch kann nicht von einen stetigen Relevanzverlust der Parteien gesprochen werden. Schließlich erfüllen sie weiterhin wesentliche Funktionen für ein politisches System wie Regierungsbildung, Rekrutierung des politischen Personals oder Interessenaggreagation, die beiden erstgenannten in parlamentarischen Demokratien oberhalb der kommunalen Ebene zumeist sogar exklusiv. Immer wieder kritisiert und häufiger Polemik ausgesetzt haben sie sich als unentbehrlich und alternativlos für das Funktionieren parlamentarischer Demokratien herausgestellt.
3
Abkehr von der (Massen)-Mitgliederpartei?
3.1 Rekrutierungsprobleme bei jüngeren Generationen Der Rückgang der Mitgliederzahlen in westeuropäischen Großparteien seit den 1980er Jahren (siehe Tabelle 1)3 wird verstärkt durch eine deutliche Erhöhung des Durchschnittsalters der Mitglieder. Abneigungen gegen dauerhafte und ritualisierte Formen der Partizipation, gegen feste organisatorische Einbindung sowie althergebrachte Versammlungsformen von Großorganisationen wie Großparteien sind insbesondere in der jüngeren Generation relativ weit verbreitet. Die auf kollektiven Identitäten beruhenden Organisationstraditionen und
3 Daten für westeuropäische Demokratien allgemein bei Saalfeld (2007: 137ff), Poguntke (2000) und Mair/van Biezen (2001); für Deutschland bei Wiesendahl (2006a, 2006b) und Saalfeld (2007: 144); für Großbritannien bei Webb (2000). Mair und van Biezen konstatieren nicht nur einen generellen Rückgang der Zahl der Parteimitglieder, sondern weisen darüber hinaus nach, dass er in Relation zum Anstieg der Bevölkerungszahlen noch deutlicher ausfällt.
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-rituale vieler Großparteien entsprechen kaum noch den von individuelleren Verhaltensweisen und Denkmustern geprägten Lebensstilen vieler Gruppen der Gesellschaft. Ihre zumeist eher temporäre, kontextabhängige und auf punktuellen Anlässen beruhende Herangehensweise an Politik ist mit „Vereinsmeierei“ und Gremiensitzungen nach festen Regeln mit zum Teil ermüdenden Ritualen schwerlich vereinbar. Die jüngeren Generationen bevorzugen eher kurzfristige, punktuelle, ergebnisorientierte politische Handlungen, deren unmittelbare Wirkung erkennbar ist oder sinnstiftend wirkt, also direkt erfahrbar ist, „vorzugsweise im politischen Nahraum“ (Dörner 2002: 762). Tabelle 1: Anteil der Parteimitglieder an der Wahlbevölkerung in Prozent (aggregierte Werte)
Belgien Dänemark Deutschland Finnland Frankreich Griechenland Großbritannien Irland Italien Niederlande Norwegen Österreich Portugal Spanien Schweden Schweiz
1960
1980
1990
2000
7,8 21,1 2,5 18,9 --------9,4 ---12,7 9,4 15,5 26,2 --------22,0 ----
9,0 7,3 4,5 15,7 5,1 3,2 4,1 5,0 9,7 4,3 15,4 28,5 4,9 1,2 8,4 10,7
9,2 5,9 3,9 13,5 3,0 6,3 2,6 3,9 9,1 3,2 13,1 23,7 5,1 2,1 8,0 8,0
6,6 5,1 2,8 9,6 1,6 6,8 1,9 3,1 4,1 2,5 7,3 17,7 4,0 3,4 5,5 6,4
Veränderung in Prozentpunkten (Gesamt) -1,2 -16,0 +0,3 -9,3 -3,5 +3,6 -7,5 -1,9 -8,6 -6,9 -5,8 -8,5 -0,9 +2,2 -16,5 -4,3
Quellen: Mair/van Biezen (2001), Katz (2002). Die Zahlen für Deutschland beziehen sich auf die „alten Bundesländer“.
Vor diesem Hintergrund kann pointiert durchaus von einer „kapitalen Jungmitgliederkrise“ (Wiesendahl 2006a: 49), vom „Altenheimcharme der Parteien“ (Wiesendahl 2006a: 61) gesprochen werden. Jedenfalls ist es nicht zu beschönigen, dass „die Parteien in ihrer Organisationskraft angeschlagen sind und ohne Aussicht auf Besserung an Rekrutierungsschwäche leiden“ (Wiesendahl 2006a: 46). Unkonventionelle Partizipationsformen außerhalb der Parteien ersetzen dabei zwar nicht vollständig die konventionellen, sondern werden vielmehr ergänzend genutzt (Wiesendahl 2006a: 85). Innerhalb der konventionellen Partizipationsformen haben aber gerade politische Parteien in den jüngeren Altersgruppen keinen hohen Status als Partizipationsraum. Fraglich erscheint in der Partizipationsforschung jedoch, ob aktuellere und den Bedürfnissen der jüngeren Generationen angepasste Formen politischer Beteiligung den Rückgang in traditionellen Organisationen wie Parteien insgesamt ausgleichen können (Gaiser et al. 2006). Die Abnahme der Bedeutung traditioneller Milieus und mit ihr die zurückgehende Loyalität ihnen gegenüber hat den politischen Parteien nicht nur wechselhaftere Wähler eingebracht, sondern darüber hinaus das Mitgliederreservoir beschnitten. Vorfeldorganisa-
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tionen sind weniger als in der Vergangenheit noch in der Lage, als Rekrutierungsreservoir für potenzielle Mitglieder der Parteien zu wirken. Zudem haben sich auch die Bindungen von politischen Parteien zu ihren Vorfeldorganisationen abgeschwächt, ist das Handeln der Parteien und der Vorfeldorganisationen mehr von Autonomie und Entkoppelung geprägt als in der Vergangenheit (Saalfeld 2007: 148ff). Durchorganisierte, unübersichtlicher strukturierte, komplexe, viele Ebenen der Politik umfassende und auf langfristiges Engagement hin orientierte Großorganisationen wie politische Parteien erscheinen vor diesem Hintergrund kaum als attraktive Orte politischer Partizipation. Der Trend geht mehr zu temporären und ungebundenen Partizipationsformen, eine Parteimitgliedschaft ziehen nicht viele in Betracht. Die Opportunitätsstruktur politischer Partizipation hat sich also schlichtweg zuungunsten der Parteien verändert. Mögliche Beitrittsmotive wie Zugang zu exklusiven Informationen, soziales Prestige, emotionale oder kognitive Zufriedenheit entfallen zusehends, weil Informationen über Massenmedien weit zugänglich sind, die Parteien kaum exklusive Informationen anbieten können und sogar selbst einen Großteil ihrer innerparteilichen Kommunikation durch die öffentlich zugänglichen Massenmedien organisieren. Zudem wird von Parteien ausgehenden Informationen nicht selten die Glaubwürdigkeit abgesprochen (Semetko 2006), gelten ihre Informationen vielen als einseitig gefärbt. Parteimitgliedschaft wird angesichts der geringen Wertschätzung ihnen gegenüber (siehe etwa Siavelis 2006; Semetko 2006) kaum mit sozialem Prestige in Verbindung gebracht, das heißt mit sozialer Anerkennung und Wertschätzung können Parteimitglieder kaum rechnen (Wiesendahl 2006b: 77). Bisherige Organisationsreformen, die auf lockere Verbindungen zwischen Parteiorganisationen und individuellem Mitglied setzen, wie Schnuppermitgliedschaft, mehr Rechte für Nichtmitglieder oder Aufbau netzwerkartiger Strukturen, haben nicht den von den Parteien erwünschten Erfolg mit sich gebracht.
3.2 Veränderungen des Mitgliederverhaltens Angesichts der dem Wettbewerb geschuldeten Orientierung an die wahlentscheidenden Wechselwähler, die sich mehrheitlich keiner ideologischen Richtung eindeutig zugehörig fühlen und in den verschiedenen Konfliktdimensionen (siehe Abbildung 2) sich eher in der politischen Mitte positionieren, liefern Parteien kaum noch eine eindeutige ideologische Orientierung durch sinnstiftende Entwürfe, das heißt sie bieten nur noch in Ausnahmen ideologische Anreize für den Beitritt oder die folgende Mitarbeit an. Wohl primär mit Blick auf die vorhandenen Mitglieder sieht Wiesendahl (2006a: 74) darin ein Hauptproblem4 und beklagt eine daraus hervorgehende, kaum noch zu überbrückende Kluft zwischen den „wählerorientierten Berufspolitikern und policy-orientierten Parteiaktiven“ (Wiesendahl 2006a: 149), der sich seiner Ansicht nach in einer Vertrauenskrise und in Entfremdungseffekten zeige. Damit geht Wiesendahl auf Mays im Jahre 1973 formulierte These von der „Curvilinear Disparity“ zurück, nachdem Parteiaktivisten extremere Ansichten als die Par-
4 „Geht von diesen ideologischen Anreizen der Parteien jedoch nichts mehr an Verheißungsvollem und Begeisterungsfähigem aus, fällt ein wichtiger Anziehungspunkt für Gesinnungsaktive weg, um sich für eine Partei zu engagieren“ (Wiesendahl 2006a: 73).
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teiführung und die Wähler der Partei haben im Sinne einer ideologischeren Grundhaltung. Zu hinterfragen ist jedoch, ob die programmatische Kluft zwischen der Parteiführung und den Aktivisten aufgrund wahltaktischer Überlegungen tatsächlich so krass zu Tage tritt, wie Wiesendahl es beobachtet. Die starken Mitgliederverluste etwa der SPD 2003 und 2004 oder die der britischen Labour Party seit 2001 sind zumindest nicht primär mit der Wählerausrichtung der Parteiführungen zu erklären, sondern mit der Unzufriedenheit von Teilen der Mitglieder mit der Regierungspolitik beider sozialdemokratischer Regierungen, die sich eben auch auf der Wählerebene widerspiegelte und entsprechend gleichzeitig Wählerverluste nach sich zog. Empirische Studien relativieren diese von Wiesendahl beobachteten ideologischen Differenzen zwischen Parteiführung und -basis nicht unerheblich (Heidar 2006: 309) oder kommen gar zu anderen Ergebnissen (Norris 1995). Zudem müsste dann umgekehrt gelten, dass ideologisch sich klar positionierende Parteien einen erheblich größeren Zulauf an Mitgliedern erfahren, was aber nicht der Fall ist. Für die jüngeren Generationen ist eher zu konstatieren, dass bei gesamtgesellschaftlich nachlassender Parteienidentifikation und -loyalität expressive Anreize, das heißt solche auf gefühlsmäßiger Bindung und ideologischer Ausrichtung basierende, an Relevanz verlieren. Für den Rückgang an Parteiloyalitäten wiederum können die Parteien nicht allein verantwortlich gemacht werden, vielmehr sind gesellschaftliche Veränderungsprozesse vornehmlich als Erklärungsmuster heranzuziehen (siehe oben). Einzelne mögen den Rückgang der Bedeutung ideologischer Grundsätze in Parteien bedauern, aber er trifft auf eine breite gesellschaftliche Basis. Nicht überraschend ist daher auch ein Motivationswandel bei den beitrittswilligen Mitgliedern zu konstatieren. Wie Markus Klein (2006: 51) auf der Basis der Potsdamer Mitgliederstudie für die im deutschen Bundestag vertretenen Parteien errechnet, haben selektive, ergebnisbezogene Anreize, also solche, die auf persönliche Vorteile abzielen (etwa Besetzung von Ämtern oder Karriereinteressen) bei jüngeren Parteimitgliedern beim Beitritt eine „deutlich höhere“ (Klein 2006: 51) Bedeutung im Vergleich zu den Beitrittsmotiven der schon länger in den Parteien mitwirkenden Mitgliedergruppen. Bei letzteren haben die kollektiven politischen Anreize (beziehen sich auf die Durchsetzung politischer Ziele und die Verbesserung der Wahlchancen von Parteien und werden vornehmlich „über kommunalpolitische Themen vermittelt“ (Klein 2006: 48)) und die expressiven Anreize beim Parteieintritt überwogen. Als Gründe für die nach dem Beitritt erfolgende Bereitschaft zur aktiven innerparteilichen Partizipation stehen die selektiven, ergebnisbezogenen Anreize ohnehin im Vordergrund. Ohne das Empfinden eines persönlichen Vorteils treten immer weniger den Parteien bei. Affektive Bindungen und selektive, prozessbezogene Anreize, die sich für das Parteimitglied unmittelbar als Belohnung erweisen, wie das „Gefühl eigener politischer Wichtigkeit“, die Parteimitarbeit wird als interessant empfunden und auch soziale Geselligkeit geschätzt (Klein 2006: 38), verlieren an Bedeutung. Wenn sich die bei jüngeren Mitgliedern eindeutig festzustellende Tendenz der instrumentellen Motive fortsetzt, dann dürfte sich auch die Zusammensetzung der Mitglieder im Hinblick auf ihre innerparteilichen Aktivitäten deutlicher zugunsten der ämterorientierten Aktiven und zuungunsten der „Karteileichen“ und der geselligkeitsorientierten Mitglieder verschieben. Anders formuliert: In der Partei der Zukunft werden bei fortgesetzten Trends sich mehr „office-seeker“ (ämterorientiert) und Lobbyisten (streben nach privaten oder geschäftlichen Vorteilen) finden, während der Anteil der Gesinnungsaktiven sinken müsste. Die gelegentlich konstatierte Entfrem-
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dung zwischen den Berufspolitikern auf der einen und den partizipationswilligen einfachen Mitgliedern (Sarcinelli 2007: 132) dürfte dann wieder zurückgehen. Derzeit sind unter den Mitgliedern der deutschen Parteien nach der Potsdamer Mitgliederstudie 50 Prozent sogenannte „Karteileichen“ (ohne nennenswerte innerparteiliche Aktivität), 19 Prozent Versammlungsbesucher (ihre Aktivität beschränkt sich weitgehend auf den gelegentlichen Besuch von Parteiversammlungen), 18 Prozent sind ämterorientiert und 14 Prozent geselligkeitsorientiert (siehe Abbildung 3). Der Anteil der häufiger Aktiven liegt dieser Studie zufolge bei über 30 Prozent, das wäre im internationalen Vergleich betrachtet hoch, denn nach verschiedenen Studien ist der Anteil der häufiger Aktiven in den Parteien zwischen 10 und 45 Prozent zu veranschlagen (Scarrow 2000: 95), mit abnehmender Tendenz seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts (Heidar 2006: 307). Mit der Parteimitgliedschaft gehen Privilegien gegenüber Nicht-Mitgliedern einher, die insbesondere die aktiven Mitglieder zu schätzen wissen, wie die Teilhabe an Parteiaktivitäten, die Wahl von innerparteilichen Ämtern und von Kandidaten für öffentliche Ämter, die Teilnahme an Programmdiskussionen, am innerparteilichen Entscheidungsprozess und an geselligen Runden der Ortsverbände. Diese Vorzüge wiegen für die Aktiven offenbar die Nachteile wie hoher zeitlicher Aufwand und das Zahlen von Mitgliedsbeiträgen auf; auch gelegentliche Enttäuschungen bei der politischen Arbeit wirken auf die Partizipationswilligen in den Parteien nicht entscheidend abschreckend. Dieses kann damit erklärt werden, dass in der Vergangenheit galt, dass Parteiaktivitäten weniger von Kosten-Nutzen-Abwägungen der Mitglieder bestimmt wurden, sondern von der affektiven Bindung und der Loyalität der Partei gegenüber. Abbildung 3:
Die Häufigkeit der unterschiedlichen Partizipationstypen unter den Parteimitgliedern insgesamt und unter den Mitgliedern der verschiedenen Parteien
Quelle: Klein (2006).
Der genannte Rückgang an Loyalitäten und Parteibindungen ist wohl die Hauptursache dafür, dass die politischen Parteien immer weniger ihre Mitgliederpotenziale ausschöpfen (für deutsche Parteien gibt Klein (2006: 44) ein Potenzial von 22 Prozent der Wähler an), was allgemeiner auf eine „wachsende Organisationsdistanz und Organisationsunlust“ (Wiesen-
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dahl 2006a: 74) und im Falle von Parteien spezieller auf „Unzufriedenheit, Distanz und Entfremdung“ (Wiesendahl 2006a: 95) zurückgeführt wird. Knut Heidar (2006: 306) gibt „the rise of affluence and the political consumerist attitudes prevalent in post-industrial societies“ als Hauptursachen für den Mitgliederrückgang in Parteien seit den 1970er Jahren an. Gegenüber Heidars Position ist kritisch anzumerken, dass Distanz und Entfremdung gegenüber den politischen Parteien besonders bei sozial weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen auszumachen ist, was sich in ihrer deutlichen Unterrepräsentation in den Mitgliedschaften festmachen lässt (Biehl 2005). Parteimitglieder rekrutieren sich hauptsächlich aus Bevölkerungsschichten mit höherer formaler Bildung, überdurchschnittlichem Einkommen und den beruflichen Statusgruppen der mittleren und leitenden Angestellten (Widfeldt 1995; Wiesendahl 2006b: 90). Dieses mag neben Sozialisationseffekten und erhöhter politischer Bildung auf die Anforderungen an die aktive Mitarbeit in politischen Parteien zurückzuführen sein, die durch einen nicht gering zu schätzenden Aufwand an Zeit sowie Bereitschaft zu Diskussionen, zum Informationsaustausch und nicht geringe psychische wie physische Belastbarkeit zu charakterisieren ist. Insbesondere der Faktor Zeit (verstanden als flexiblere Verfügung darüber) begünstigt Angehörige des öffentlichen Dienstes, die zudem noch von verbesserten Karrierechancen profitieren könnten und in den Parteien entsprechend deutlich überrepräsentiert sind. Insgesamt sind persönliche Prädispositionen und Ressourcen als Faktor des Parteibeitritts keineswegs zu unterschätzen und den genannten Anreizstrukturen eindeutig nicht nachzuordnen.
3.3 Festhalten am Modell der Mitgliederpartei Unter diesen zumindest für Großparteien ungünstigen Konditionen halten diese dennoch normativ am Modell der Mitgliederpartei fest. Die Gründe dafür sind vielfältig, jedoch lassen sich hauptsächlich legitimatorische und finanzielle Erwägungen für diese Entscheidungen ausmachen. Unbestreitbar erfüllen Mitglieder für die Existenz und Funktionserfüllung politischer Parteien unabdingbare Aufgaben, indem sie zum einen als Beitragszahler der Partei zur Erhaltung der Organisation finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, zum anderen bilden sie den Pool der zur Verfügung stehenden Kandidaten für öffentliche Ämter und damit die Basis für die Rekrutierung des politischen Personals. Zudem leisten sie durch ihre freiwillige Mitarbeit als Wahlkampfhelfer wichtige unentgeltliche Aufgaben. Kaum noch kommen ihnen die Funktion der Informationsvermittlung gesellschaftlicher Themen und Meinungen (übergegangen an die Massenmedien) sowie der Entwicklung von Politikinnovationen zu (zumeist Aufgabe der Parteispitze bzw. von externen Beratern). Zur Wahrung zumindest eines wesentlichen Teils ihrer gesellschaftlichen Verankerung bedarf es nach Ansicht der Befürworter der Mitgliederpartei einer ausreichenden Zahl an Mitgliedern, ohne die Anzahl genauer zu beziffern. Diese über aktive Parteimitglieder hergestellte Verbindung zur Zivilgesellschaft macht politische Parteien über ihre mediale Wahrnehmung hinaus politisch erfahrbar und lässt sie eine politische Nähe zu den Wählern aufbauen, was wiederum zumindest symbolisch eine Legitimationsbasis schafft, auf die Parteien in der politischen Öffentlichkeit verweisen können. Schon allein aus diesem Grund sind sie bestrebt, den Status als Mitgliederpartei zu erhalten.
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In der deutschen Politikwissenschaft hält sich hartnäckig das normative Festhalten an der Massenpartei als idealer Typus der modernen Parteiendemokratie5, obwohl Massenmitgliedschaften im bisherigen Ausmaß für das Funktionieren und Fortbestehen von Parteien und sogar Parteiendemokratien insgesamt keineswegs zwingend erforderlich sind. Einzelne Argumente sollen diese Position andeuten: Erhebliche Teile der Binnen- und Außenkommunikation von Parteien werden von Medien effizienter und kostengünstiger geleistet, die Artikulation und Aggregation von Meinungen, Interessen und Werten der Sympathisanten erfolgt primär nach Auswertung von Ergebnissen der quantitativen Meinungsforschung und von Fokusgruppen. Wahlwerbung wird zu erheblichen Teilen von Werbe- und Marketingagenturen ohne nennenswerte Hinzuziehung der aktiven Mitgliedschaft geleistet, die allenfalls Hilfsfunktionen, auch beim sogenannten „grass-roots-campaigning“ (Juknat/ Römmele 2008) übernimmt. Im Zuge der Medialisierung der Parteien wird von der Parteienforschung zudem ein eindeutiger Trend zur Stärkung der Parteiführung erkannt, die ihren exklusiven Medienzugang und ihren Informationsvorsprung gegenüber der Parteiorganisation zu einem klaren Handlungsvorsprung nutzt, in dem sie bei nahezu allen relevanten politischen Aktionen und Initiativen zumindest mitwirkt und auf die Darstellung und Interpretation von Themen via medialer Stellungnahme und Inszenierung ihren Stempel aufdrückt. Die Europäisierung der Politik übt einen leicht verstärkenden Effekt zugunsten der Parteiführungen aus (Poguntke et al. 2007). Politische Parteien sind nach gängiger Einschätzung „heute noch mehr als früher von ihrer Führung bestimmte Organisationen“ (Mair et al. 1999: 395). Pointiert formuliert liest es sich dann so: „Parteiendemokratie verengt sich so zur medienzentrierten Elitendemokratie, in der Parteien als Assoziationen von Hunderttausenden von mitsprachewilligen Aktivbürgern nicht mehr vorkommen“ (Wiesendahl 2006b: 96). Die Parteiführung demokratisch verfasster Mitgliederparteien muss jedoch darauf achten – will sie aus den genannten Vorteilen heraus am Modell der Mitgliederpartei festhalten – den Mitgliedern zumindest den Eindruck von Mitentscheidungsmöglichkeiten zu geben. Denn ausschließlich von oben diktierte Entscheidungen lassen Motivations-, Mobilisierungs- und Aktivitätsdefizite wahrscheinlich erscheinen, wie Seyd und Whiteley (2002) etwa für die von Tony Blair nach präsidentiellem Stil geführte britische Labour Party (siehe dazu Webb 2005) festgestellt haben. Der Eindruck der fehlenden Einfluss- und geringen effektiven Teilhabemöglichkeiten bei nicht wenigen potenziellen Mitgliedern dürfte des Weiteren eine erhebliche Ursache für den Mitgliederrückgang sein. Jedoch kennt dieser Bedeutungsverlust der Parteimitglieder klare Grenzen, die kurz umrissen werden sollen. Ein Mindestmaß an Unterstützung durch Mitglieder erscheint für die Vitalität und Anziehungskraft von politischen Parteien erforderlich, gerade bei wählerorientierten Großparteien, um als relevanter gesellschaftlicher Gestaltungsfaktor (d.h. nicht
5 Beispielhaft dafür steht Elmar Wiesendahl (2006a: 105): „Nur über breit in der Gesellschaft verankerte Mitgliederorganisationen mit Hunderttausenden von Mitgliedern glückt es, die von Parteivertretern gestellten Parteiregierungen mit dem gesellschaftlichen Ausgangsbereich demokratisch legitimer Herrschaft in einer dauerhaften und offenen Austauschbeziehung zu halten“. Hätte Wiesendahl Recht, wären in einigen westeuropäischen politischen Systemen aufgrund der geringen Organisationsdichte der Parteien (misst den Anteil der Mitglieder an allen Wahlberechtigten) solche Versuche der Parteien von vornherein zum Scheitern verurteilt und ihre demokratische Herrschaft stünde dann wohl in Frage. In den meisten mittel- und osteuropäischen Staaten ist die Organisationsdichte häufig sogar noch deutlich geringer.
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nahezu ausschließlich auf staatlicher Ebene agierender Akteur) weiterhin eine bedeutsame Rolle zu spielen und damit auf gesellschaftliche Prozesse wirksamer und effektiver einwirken zu können. Bei aller zunehmenden Bedeutung der „party in public office“ (Katz/Mair 2002; gemeint ist jener Teil der Partei, der öffentliche Ämter ausübt) und Professionalisierung der „party in central office“ (gemeint ist die Parteizentrale mit ihren Angestellten und dem gewählten Parteiführungspersonal) in den letzten Jahrzehnten, scheint eine über symbolische Bekenntnisse hinausgehende Stärkung der „party on the ground“ (Parteibasis als Mitgliederorganisation) geboten und nicht deren Vernachlässigung. Nach wie vor sind Mitglieder aus legitimatorischen Erwägungen unverzichtbar, sie sichern die gesellschaftliche Verankerung, sorgen als Beitragszahler und Spender für materielle Ressourcen und sind wichtiger Unterstützer in Wahlkämpfen (Detterbeck 2005: 71). Die politischen Parteien sollten daher um ihrer gesellschaftlichen Machtposition selbst willen bei ihren innerparteilichen Reformen den Ansprüchen der Partizipationswilligen entgegenkommen und ihnen effektive Teilhaberechte durch Verbesserung ihrer innerparteilichen Kommunikationswege und durch Stärkung der Mitgliederechte einräumen. Nur einzelne Reformmaßnahmen wie etwa die Bildung von Projektgruppen, die Einberufung von Regionalkonferenzen oder die bei deutschen Parteien eher instrumentell und punktuell vorgenommene Einführung direktdemokratischer Elemente reichen ohne Einbettung in eine strategische Gesamtplanung zur nachhaltigen Attraktivitätssteigerung jedenfalls nicht aus. Fazit: Mitglieder- und Stammwählerrückgang haben die politischen Parteien verwundbarer gemacht, ihre organisatorischen Verbindungslinien sind schwächer geworden und ihre Fähigkeit zur Kontrolle ihres Mitglieder- und Wählerpotenzials ist zurückgegangen. Die Einstellungen der Mitglieder gegenüber Parteien als Raum für politische Partizipation haben sich verändert, instrumentelle Motive haben an Relevanz für den Parteibeitritt und die Mitarbeit an Bedeutung gewonnen. Um weiterhin zentrale Akteure in politischen Systemen zu bleiben sind politische Parteien zu Veränderungen gezwungen, die sie im Laufe des 20. Jahrhunderts auch tatsächlich vollzogen haben. Aufgrund der Parteienkonkurrenz und der öffentlichen Rechenschaftspflicht ihres Handelns können politische Parteien nicht umhin, zentralen Veränderungen ihrer Umwelten aufgeschlossen gegenüber zu sein und als lernende Organisationen Beweglichkeit und Veränderungswillen zu demonstrieren, um nicht erheblichen Legitimationsverlust zu erleiden oder im Konkurrenzkampf deutlich an Boden zu verlieren. Insbesondere langfristigen Trends können sich Parteien nicht entziehen, wenn sie auf der Wählerebene erfolgreich agieren wollen. Daher sollen im folgenden Ursachen, Prozesse und Auswirkungen des Parteienwandels kurz erörtert werden.
4
Parteienwandel: Von der Volkspartei zur Kartell- oder professionalisierten Medienkommunikationspartei6
Parteienwandel hat bezogen auf eine einzelne Partei drei zentrale Ursachen: Einen Wechsel der Parteiführung, einen Wechsel der dominanten Gruppe oder Koalition von Gruppen
6
Dieser Abschnitt basiert auf Jun (2004), ist bearbeitet, aktualisiert und in Teilen neu gefasst worden.
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innerhalb einer Partei und von außen kommende Veränderungen der Umwelten von Parteien. Die genannten innerparteilichen Akteure können die Initiatoren von Wandlungsprozessen sein, ohne dass externe Einflüsse ihr Handeln bestimmen. Veränderungen der Umwelten wirken sich dagegen auf Parteien nur dann wesentlich aus, wenn innerparteiliche Gruppierungen oder die Parteiführung diese antizipieren, aufnehmen und verarbeiten. Die innerparteilichen Akteure fungieren in diesem Fall als Gestalter des primär von Umwelteinflüssen ausgehenden Wandels. Die Wahrscheinlichkeit eines Wandels ist dann am höchsten, wenn externe Ursachen und interne Wandlungsprozesse zusammenfallen. In den meisten Fällen ist der Wandel von Parteien zurückzuführen auf die innerparteilichen Bearbeitungen der Veränderungen von Umwelten der Parteien. Empirische Untersuchungen demonstrieren, dass äußere Einflüsse der wichtigste Katalysator für Parteienwandel sind (Harmel 2002; Lawson/Poguntke 2004). Abbildung 4:
Strategiefähigkeit politischer Parteien
Quelle: Eigene Darstellung.
Voraussetzung von intentionalen Wandlungsprozessen von politischen Parteien ist ihre Fähigkeit, Strategien zu entwickeln und zu implementieren. Strategien sind mittel- oder langfristig angelegte Regelsysteme oder Kalküle, bei denen eine zweckrationale Beziehung zwischen Zielen und Mitteln angenommen wird und deren Zugrundelegung auf einer Erfolgsorientierung basiert.7 Mit der Entwicklung von Strategien und ihrer Implementierung versuchen politische Parteien, Wandlungsprozessen in ihren Umwelten zu begegnen und ihre komplexen Beziehungen zu ihren Umwelten im Hinblick auf ihre Zielverwirklichung zu steuern. Sie sind auch als Management von Ungewissheiten zu charakterisieren, da die
7
Vgl. zum Strategiebegriff Raschke/Tils (2007: 127ff), Raschke (2002) und Fischer et al. (2007).
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Organisationsumwelten von Parteien für diese prinzipiell durch Unsicherheit gekennzeichnet sind. Politische Parteien können nur dann als strategiefähig gelten, wenn sie ein strategisches Zentrum aufbauen, da sie als Gesamtorganisationen aufgrund der fragmentierten Organisationsstrukturen ansonsten kaum steuerungsfähig sind und strategisch betrachtet in einzelne Strategieelemente zerfallen (siehe Abbildung 4). Ein solches informelles strategisches Zentrum besteht idealiter aus drei bis fünf individuellen Akteuren, die aus strategisch relevanten Positionen in Regierung, Partei- oder Fraktionsführung heraus agieren (Raschke 2001: 25). Dieses strategische Zentrum ist eingebunden in ein System von Beratern und umgeben von den Spitzengremien der Partei. Sie beraten, diskutieren und beschließen die Reaktionen der Partei auf Umweltveränderungen, legen gemeinsam Strategien fest, aus denen sich der jeweilige politische Standort der Partei im Parteienwettbewerb und die Ziele näher bestimmen lassen. Jedoch operiert das strategische Zentrum nicht im luftleeren Raum (siehe Abbildung 4). Strategiefähigkeit wurzelt in der Partei als Gesamtorganisation, wenn sie auch in ihrer letztlichen Ausprägung sehr häufig ein Produkt von Parteieliten ist. Diese bestimmen zunächst aufgrund ihrer formalen Position innerhalb der Partei und als Hauptverantwortungsträger gegenüber den Medien und gegenüber der Wählerschaft das Handeln der Partei. Gerade in medialisierten Kontexten wachsen ihnen aufgrund der sichtbaren Vertretungsmacht nach außen, aber auch nach innen, die sie gegenüber der Gesamtorganisation eingenommen haben, Machtressourcen zu. Schließlich erbringen sie gegenüber der (Medien-)Öffentlichkeit ja auch eine Orientierungsfunktion mit unverkennbaren Wirkungen auf das Außenbild der Partei. Die Partei als Gesamtorganisation sollte daher die jeweiligen Entscheidungen des strategischen Zentrums nicht von vornherein delegitimieren, will sie nicht als Ganzes ihre Erfolgschancen im Parteienwettbewerb gefährden. Bestenfalls kann sie ihre missliebigen Entscheidungen zunächst ignorieren. Jedoch besitzt die Parteiorganisation gegenüber dem strategischen Zentrum durchaus Blockier- und Kontrollmöglichkeiten. Die Entscheidungen sind nämlich nur dann auf Dauer tragfähig, wenn bei dem Prozess dahin sowohl Effizienzkriterien beachtet wie bestimmte Grundsätze innerparteilicher Willensbildungsprozesse nicht permanent verletzt werden. Zur Strategiefähigkeit gehört es also auch, innerparteiliche Verfahren zu wählen, die sicher stellen, dass die Inhalte und Ziele zumindest nicht auf aktiven Widerstand bei Mitgliedern und Sympathisanten stoßen. Reaktionen, Strategien und Wandlungsprozesse können die Identität der Partei, die Wahrnehmung von Mitgliedern und Sympathisanten nicht unbeachtet lassen, weil sich die Partei ansonsten ihr Fundament unter den Füßen wegzöge.
4.1 Das parteiendemokratische und das elektorale Modell Um die Veränderungen von Parteien genauer zu betrachten, gilt es grundlegend die Modelle von Mitgliederparteien zu erläutern. Unterschieden werden können zwei Hauptausprägungen der Mitgliederpartei: das parteiendemokratische Modell und das elektorale Modell (vgl. auch Wright 1971). Während im parteiendemokratischen Modell eine partizipationsfreundliche innerparteiliche Demokratie und die Schaffung entsprechender Voraussetzungen – insbesondere eine starke Stellung lokaler Gruppierungen, effiziente Kanäle der Kommunikation
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von unten nach oben und umgekehrt sowie die Bereitstellung vielfältiger Möglichkeiten zur Diskussion über Programme und Politikinhalte – besondere Priorität genießen, steht beim elektoralen Modell die Stimmengewinnlogik im Mittelpunkt; entsprechend müssen Struktur, Inhalte und Personal der Partei dem Wettbewerbscharakter entsprechen, das heißt, so ausgerichtet sein, dass ein Maximum an Stimmen möglich erscheint. Das Politikverständnis im elektoralen Modell ist pragmatisch, wählerorientiert und wird wenig von inhaltlich-ideologischen Positionen festgelegt, das heißt nur in grundsätzlichen Fragen oder in der Gewissheit, mit eigenen Vorstellungen die Mehrheitsposition der Wählerschaft zu treffen, wird klar Stellung bezogen. Extreme oder sehr kontroverse inhaltliche Positionen werden schon allein deshalb nicht eingenommen, um nicht einen Teil der Wählerschaft zu verprellen. Die inhaltlichen Vorstellungen der Mitglieder sind dagegen zentraler Bezugspunkt des Handelns einer politischen Partei, die dem parteiendemokratischen Modell entspricht: „The ideological policy or programmatic funtion becomes then the dominant function and both winning power (the electoral function) and exercising power (the governing function) are subordinated to it“ (Wright 1971: 33). Wahlerfolg und Regierungsübernahme werden diesem Modell zufolge nur als Mittel zum Zweck benutzt, zur Durchsetzung inhaltlicher Politik. Da diese von den Mitgliedern bestimmt wird, sind die Mitglieder auch die hauptsächlichen Nutznießer in diesem Modell. Im elektoralen Modell ist einerseits durch Adaptionsprozesse an Wählermeinungen und -werte die Wählerschaft, mehr aber noch die Parteiführung der hauptsächliche Nutznießer, da sie relativ unabhängig gegenüber den Mitgliedern agieren kann und die Anpassungen an die Mehrheitsmeinungen in der Wählerschaft im Selbstinteresse der Führung liegen. Zudem sind es meist die Führungsgruppen, die mittel- und kurzfristige Anpassungen vornehmen, ihnen kommt also dem Modell zufolge eine recht große Bestimmungsmacht zu. Die Parteiorganisation hat primär die Aufgabe, Wähler zu mobilisieren, den Prozess der Kandidatenauswahl für öffentliche Ämter vorzunehmen und bei der Durchführung von Wahlkämpfen mitzuwirken, daneben auch langfristige Anpassungsprozesse abzusichern. Betont werden sollte an dieser Stelle, dass es sich um Modelle politischer Parteien handelt, die in reiner Form selten anzutreffen sind, vielmehr existieren in der politischen Realität Mischformen, die mal zur einen, mal zur anderen Seite neigen. Auf das parteiendemokratische und auf das elektorale Modell wird in diesem Abschnitt Bezug genommen, wenn es jetzt gilt, die unterschiedlichen Ausprägungen von Parteientypen zu skizzieren. Die einzelnen Modelle sollen nur in groben Zügen dargestellt werden. Herausgehoben werden soll jeweils das Beziehungsgeflecht zwischen Parteiführung, Mitgliedern und Wählern mit seinen Auswirkungen auf Wählerebene und der Organisationsstruktur. Die programmatische Ebene wird nur angerissen. Betont werden sollte auch an dieser Stelle, dass politische Parteien in realen Ausprägungen den im folgenden zu beschreibenden einzelnen Typen nur nahe kommen, diesen aber nicht vollständig entsprechen, sondern in Folge der historischen Entwicklung sich verschiedene Charakteristika überlappen (Puhle 2002: 63). Zudem mag es in unterschiedlichen politischen Systemen sehr differente Ausprägungen des jeweiligen Parteientypus geben und können im einzelnen politischen System verschiedene Typen nebeneinander stehen. Die folgende Analyse der historischen Entwicklung von politischen Parteien soll Tendenzen der Entwicklung aufzeigen und deutlich machen, dass es in den einzelnen Phasen jeweils eine dominante typologische Erscheinung gab bzw. gibt.
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4.2 Was folgt auf die „Catch-All-Party“? Der weiter oben schon angesprochene Typus der Massen- oder Massenintegrationsparteien soll hier nicht weiter verfolgt werden, da er im Laufe des 20. Jahrhunderts an Relevanz deutlich eingebüßt hat (zusammenfassend dazu Krouwel 2006: 254-256). Prägender Typus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die sogenannte Catch-all Party, deren in der Politikwissenschaft nicht unumstrittenes Modell von Otto Kirchheimer (1965) entwickelt wurde (siehe ausführlicher zu diesem Typus auch Hofmann 2004; Krouwel 2006). Begünstigt durch den Wandel der sozialen Konfliktstrukturen und durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates – mit dem Entstehen und der Etablierung neuer Mittelschichten – entwickelte sich das Modell der Catch-all Party oder Allerweltspartei zum vorherrschenden Typus. Kirchheimer setzt für das Organisationsgefüge der Catch-all Party zwei wesentliche Veränderungen an: die Parteiführung ist weiter gestärkt, die Bedeutung der individuellen Parteimitglieder weiter verringert worden. Das Mitglied bewahrt seine Stärke noch als Wahlkämpfer vor Ort, als Meinungsverstärker, der Ideen, Programme und Konzepte in die Wählerschaft hinein trägt. Jedoch wird er als Wahlkampfressource und als Verbreiter von programmatischen Entwürfen durch das Aufkommen und die Etablierung von Massenmedien als Mittel politischer Kommunikation weit weniger gebraucht als bei der Massenpartei. Da ideologische Grundsätze an Relevanz verlieren und die Organisation durch Heterogenität geprägt ist, lässt sich auch ein Absinken seiner Bedeutung als Bewahrer ideologischer Grundsatztreue konstatieren. Im Gegenteil: Unter dem Druck flexibler Anpassung an Wandlungsprozesse wird er unter Umständen von der Parteiführung als Belastung empfunden. Seine freiwillige Mitarbeit wie auch sein finanzieller Beitrag werden aber nach wie vor als Ressource geschätzt. Aus diesen Gründen und Erwägungen höherer Legitimität wird eine große Mitgliederzahl nach wie vor angestrebt. Hofmann (2004: 59) erkennt zwischen dem geringen Stellenwert der Mitglieder und der großen Mitgliederzahl eine Konstruktionsinkonsistenz, die sich jedoch nur aus der Perspektive des einzelnen Mitglieds, nicht jedoch aus der Gesamtperspektive des politischen Systems ergibt, da aus dieser Sicht auf den Legitimitätsgewinn sowie auf die verbesserten Mobilisierungschancen durch hohe Mitgliederzahlen verwiesen werden kann. Die gleichzeitige Professionalisierung der Politik geht einher mit einer Stärkung der Führung: „Parties were seen as competing teams of leaders, and, as teams of leaders, the formal organisations of which they were part were seen to have become increasingly marginalised“ (Maor 1997: 109). Die Parteiführung gewinnt innerhalb der Parteiorganisation an Gewicht, indem sie sich einen Handlungsspielraum eröffnet, um flexibler auf Veränderungen des Wählermarktes reagieren zu können.8 Diese Konkurrenzorientierung einhergehend mit programmatischer und organisationsstruktureller Flexibilität lässt den Schluss zu, dass sich „Spitzenkandidaten des Parteilabels bedienten wie eines Markenartikels“9. 8 Das Konzept Kirchheimers ist vielfältig kritisiert worden. Mintzel (1993) etwa spricht von der „Mär von der Allerweltspartei (...) Kirchheimers Konzept und Begriff der ‚catch-all party’ litt an Überzeichnungen und Reifizierungen. (...) In Wirklichkeit gibt es keine entideologisierten catch-all parties“. Siehe zur Rezeption des Modells der Catch-All Party u.a. auch Beyme (2000), Puhle (2002), Hofmann (2004), Krouwel (2006). 9 Grabow (2000: 21). Diesen Gedanken weitergedacht, könnte man folgern, dass politische Parteien lediglich noch eingeführte politische Warenzeichen sind, „die als institutionell verfestigte Restbestände vergangener Konfliktlagen
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Zentraler Orientierungspunkt des Parteihandelns ist die Stimmengewinnlogik, das heißt eine stärkere Berücksichtigung der individuell formulierten Wählermeinungen. Die Partei öffnet sich aus kalkulierten Erwägungen heraus für alle Wählersegmente. Um als Großpartei mehrheitsfähig zu bleiben oder zu werden, kommt es weniger auf die soziale Verankerung einer Partei als vielmehr auf politische Inhalte und auf vermittelbare, populäre Kandidaten an. Folge der Öffnung für nahezu alle Wählersegmente ist eine inhaltliche Annäherung der Programme und Konzeptionen der Großparteien („Entideologisierung“), ohne dass damit gesagt werden soll, dass es zu einer völligen programmatischen Angleichung der einzelnen Parteien kommt. Unterschiedliche Schwerpunkt- und Themensetzungen bleiben bestehen oder werden neu fundiert, um die nach wie vor nicht zu vernachlässigende Gruppe der Stammwähler an sich zu binden. Eine Orientierung zur Mitte im politischen Konkurrenzraum (siehe Abbildung 2) ist jedoch unübersehbar, die inhaltlichen Differenzen sind eher graduell denn fundamental. Um möglichst viele Wähler aus unterschiedlichen sozialen Milieus zu gewinnen, ist die Catch-All Party auf Interessenausgleich innerund außerhalb der Partei hin orientiert. Kompromisslösungen und konsensfähige Inhalte sollen integrierend wirken und bestimmen die sachpolitischen Auseinandersetzungen, stets mit Blick auf Regierungsbeteiligung. Prinzipiell haben bei der Catch-All Party taktische Überlegungen zur Stimmenmaximierung Vorrang vor ideologischen Gesichtspunkten. Die Catch-All Party ist durch ihre hohen Mitgliedszahlen organisationsstrukturell auf allen politischen Ebenen eines staatlichen Gemeinwesens präsent und aktiv, verfügt über vielfältige innerparteiliche Gruppierungen (Arbeitsgemeinschaften, Faktionen) und unterhält enge informelle und formelle Beziehungen zu maßgeblichen Interessenorganisationen und Verbänden. Ihre idealtypische Wählerschaft entspricht der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Bevölkerung. Sie ist insgesamt trotz des vorhandenen Grundsatzes der demokratischen innerparteilichen Willensbildung auf repräsentativer Basis dem elektoralen weitaus näher als dem parteiendemokratischen Modell. Das Modell der Catch-All Party oder auch echten Volkspartei galt bis in die siebziger oder sogar achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts als dominante Erscheinungsform von Großparteien, erscheint aber angesichts der deutlich erkennbaren Veränderungen von politischen Parteien nicht mehr das adäquate Modell der derzeitigen Parteiorganisationen. Daher hat in der Parteienforschung die Suche nach einem neuen, die gegenwärtige Situation von Parteien erfassenden Modell verstärkt eingesetzt. Eine breit und ausgiebig diskutierte theoretische Konzeption stammt von Richard Katz und Peter Mair, mit dem Modell der Cartel Party10, das beide Autoren als Fortentwicklung der Catch-All Party betrachten. Ein wesentliches Charakteristikum der Cartel Party ist eine professionelle Parteiführung, welche Politik als ihren Beruf ansieht, und ein effizientes und effektives Management der Partei nach innen und außen anstrebt. Politikgestaltung wird von ihr als Beruf angesehen, weniger als Möglichkeit der Realisierung von ideologisch motivierten Zielen. Da Berufspolitiker zur Absicherung ihrer Karriere öffentliche Mandate anstreben, galt innerhalb der Cartel Party und Mentalitäten in eine sich weiter von den alten Verhältnissen entfernende gesellschaftliche Umwelt hinein“ (ragen, U.J.). Siehe zu dieser Sichtweise Dürr (1999, dort auch Zitat S. 601). 10 Siehe Katz/Mair (1995); vgl. zum Modell der Cartel Party auch Mair (1997); zur Diskussion und Rezeption der Modellannahmen Katz und Mairs siehe Koole (1996), Decker (1999), Kitschelt (2000), Poguntke (2000), Helms (2001), Detterbeck (2002), Poguntke (2002a), Krouwel (2006).
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der „Party in Public Office“ das größte Augenmerk. Die Aktivisten verlieren im Vergleich zur Catch-All Party weiter an Macht. Die einzelnen Mitglieder bekommen zwar formal mehr Rechte, was aber letztlich die Parteiführung stärkt, weil diese von einer atomisierten Mitgliedschaft kaum effizient kontrolliert werden kann. Die exklusiv von der Parteiführung bestimmte Kommunikationsstrategie und die von ihr erarbeiteten Konzepte für Wahlkämpfe sind professionalisiert, das heißt, die Parteispitze setzt auf moderne Formen und Foren der politischen Darstellung und weniger auf freiwillige Mitarbeit der Mitglieder. Wahlkämpfe sind des weiteren kapitalintensiv und werden zentral gesteuert. Die Parteiführung nutzt ihren privilegierten Zugang zu den staatlich regulierten Kommunikationsmitteln: „Indeed it becomes possible to imagine a party that manages all of its business from a single central headquarter“ (Katz/Mair 1995: 21). Zentrales Charakteristikum und gleichzeitig wesentliches Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zur Catch-All Party ist die Zentrierung der Aktivitäten auf den Staat. Die Cartel Party ist abhängig von staatlichen Subventionen, über die sie selber entscheiden kann: „In this sense, rather than thinking in terms of ‚the state‘ helping the parties, it is perhaps more useful to think of it being the parties which are helping themselves, in that, in working to ensure their own survival, they are regulating themselves, paying themselves, and offering resources to themselves, albeit in the name of the state“ (Mair 1997: 144). Eine entscheidende Bedeutung in diesem Zusammenhang hat die staatliche Parteienfinanzierung bzw. Unterstützung der Parlamentsfraktionen, da ohne die Bereitstellung von öffentlichen Mitteln die Parteien ihre Aufgaben kaum erfüllen und ihre Organisation nur unzureichend unterhalten können. Doch die Parteien profitieren nicht nur von den ihnen gewährten finanziellen Mitteln des Staates, sondern auch von der Besetzung öffentlicher Ämter und von anderen materiellen Gütern, die der Staat zur Verfügung stellt. Da diese Ressourcen begrenzt sind, werden diese von den Parteien des Kartells untereinander aufgeteilt. Die enge zwischenparteiliche Kooperation zur Absicherung staatlicher Privilegien kann als ein herausragendes Merkmal der Konzeption von der Cartel Party gelten. Da das gegenseitige Interesse an der kollektiven Selbsterhaltung der Cartel Parties ihr Handeln bestimmt, wird das Ausmaß des Parteienwettbewerbs verringert. Einher mit der Orientierung hin auf den Staat geht ein Ablösen der Parteien von der gesellschaftlichen Basis, die Verbindungen sind lose, werden partiell nur noch aus Legitimitätsgründen und dem Erfordernis der Stimmengewinnung aufrecht erhalten (Mair 1997: 153). Die „party on the ground“ verliert demnach erheblich an Bedeutung, während die „party in central office“ und „party in public office“ ihren Einfluss vergrößern können. Die eindeutige Stärkung der „party in public office“ ist wesentlich mit der deutlich besseren Ressourcenausstattung des Regierungs- und Parlamentsapparates und einer gewachsenen Orientierung der politischen Parteien Westeuropas hin zu Regierungsämtern zu begründen (Katz/Mair 2002: 122ff). Die so insgesamt gestärkte Parteiführung richtet ihre Aufmerksamkeit denn auch weniger auf die Mitgliederorganisation als auf die Mobilisierung von Unterstützung in der gesamten Wählerschaft. Die Aufgabe der Mobilisierung von Wählern und die Wahrnehmung der Kommunikation nach außen und innen wird zunehmend von professionellen Experten und Beratern übernommen, dagegen kaum noch von Parteiaktivisten: „Parties are partnerships of professionals, not associations of, or for, the citizens“ (Katz/Mair
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1995: 22). Das Modell der Cartel Party ist insgesamt eindeutig weit mehr dem Modell der elektoralen Partei zuzuordnen als dem parteiendemokratischen Modell. Noch weiter im Hinblick auf die Dominanz der Elemente des elektoralen Modells geht der in der wissenschaftlichen Diskussion stark beachtete Entwurf von Angelo Panebianco (1988). Den neuen, die Moderne prägenden Aspekt der Professionalisierung und die partielle Abkehr der Parteiorganisation von freiwilliger Mitarbeit der Aktivisten betont er bei seinem Typus der Electoral-Professional Party, der ansonsten recht weitgehend dem Typus der Cartel Party entspricht. Jedoch ist der Wettbewerbsgedanke beim Typ der Electoral Professional Party stärker ausgeprägt und ähnelt dem der Catch-All Party (Panebianco 1988: 264ff). Die Professionalisierung der Parteiorganisation durch die Verstärkung des Parteiapparats durch Experten trägt dazu bei, dass „the party’s gravitational center shifts from the members to the electorate“ (Panebianco 1988: 264), ein Prioritätenwechsel, der im Modell der Catch-All Party angelegt war. Die Mobilisierung potenzieller Wähler rangiert in der Prioritätenskala ganz eindeutig vor der Integration der Mitglieder, wie wir es ja schon aus dem elektoralen Modell kennen. Der Spitzenkandidat der Partei und seine Experten dominieren den Wahlkampf, die Mitgliedschaft fällt fast gänzlich als Ressource aus, Massenmitgliedschaft erscheint bei diesem Typus für das Handeln von politischen Parteien nicht mehr erforderlich. Wie schon bei Katz‘ und Mairs Kartellpartei haben Mandatsträger in öffentlichen Ämtern eine zentrale Rolle innerhalb der Parteiorganisation inne, und wie schon die Catch-all Party ist die Electoral Professional Party issue- und (wähler-)interessenorientiert. In eine ähnliche Richtung zielt auch David Epsteins Electoral Party Model, wonach eine Partei im Sinne der ökonomischen Theorie Downs‘ darauf angelegt ist, möglichst viele Wähler für sich zu gewinnen: „Once vote structuring‘ dominates party activities, it affects all organizational arenas“ (Maor 1997: 105). Der von Epstein entwickelte Typus entspricht in wesentlichen Zügen dem elektoralen Modell. Steht der Wahlerfolg im Mittelpunkt der Aktivitäten einer Partei, wie Epstein postuliert, dann werden die Kompetenzen der Mitgliedschaft eingeschränkt, die Parteiführung dominiert den Entscheidungsprozess auf nationaler Ebene, ohne besondere Rücksichtnahme auf die Belange und Interessen der Mitgliedschaft. Entsprechend fehlen den Mitgliedern Kontrollmöglichkeiten, die innerparteiliche Kommunikation verläuft zumeist von oben nach unten: „The key requirement of a successful electoral party is to weaken its membership base“ (Maor 1997: 106). Programmatisch ist bei der Electoral Party ganz im fortgeführten Sinne der Catch-All Party eine Aufgabe jeglicher ideologischer Bindungen zu erkennen; Meinungsforscher ermitteln die Bedürfnisse, Präferenzen und Interessen der Wählerschaft, die von der Electoral Party entsprechend in programmatische Ideen in einer Wahlplattform umgesetzt werden. Dass dabei eher auf einzelne Issues denn auf eine kohärente Konzeption gesetzt werden kann, ist eine nahezu zwangsläufige Folge der Anpassung von Programmen an Wählerwillen und der Vorgehensweise geschuldet. In neueren Konzeptionen kann die Idee die Übertragung der Grundlagen des politischen Marketing auf Parteien mit diesem Parteientypus in direkte Verbindung gebracht werden. Denn wählerwirksame Überlegungen zur Stimmenmaximierung und zur Anpassung der Parteien an Wählerpräferenzen stehen dort ebenfalls im Vordergrund (LeesMarshment 2001; Focke 2007). Epsteins Typus zielt wohl trotz eines weitergehenden Anspruchs primär auf amerikanische Parteien, während Katz‘ und Mairs Cartel Party umfassender die Entwicklung von
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Parteiorganisationen in Westeuropa darstellen soll. Die Entwicklung des Modells der Cartel Party als vorherrschender Parteitypus mit der Grundidee, Parteien seien Vertreter des Staates, wobei Partei und Staat in einem symbiotischen Beziehungsgeflecht eng aneinander gerückt sind, ist in der Politikwissenschaft nicht kritiklos aufgenommen worden.11 So ist zu monieren, dass das Modell zu sehr auf den staatszentrierten Ansatz fixiert ist, während doch die Realität zeigt, dass politische Macht keineswegs mehr in einem als Monolith gedachten Staatsapparat konzentriert ist. Katz und Mair haben des Weiteren eindeutig die Bedeutung der Massenmedien für die Entwicklung von Parteien vernachlässigt, denn diese haben erheblichen Einfluss auf Parteien als politische Organisationen. Die Macht der Massenmedien hat die Parteien weitaus mehr geschwächt: „In fact, one might argue that the vulnerability of political parties is greatly enhanced, not withstanding the availability of state resources, by the overwhelming power of the mass media“ (Koole 1996: 513). Die Kontrolle über die Massenmedien kann in diesem Zusammenhang als mindestens so wichtig wie die Kontrolle über den Staatsapparat angesehen werden. Zugang zum Leitmedium Fernsehen ist zu einer wichtigen Machtressource geworden. Zwar erkennen auch Katz und Mair die wachsende Bedeutung der Massenmedien an, jedoch überbetonen sie die wohl nur bedingt zutreffenden Steuerungsmöglichkeiten des Staates gegenüber den Medien. Fazit der bisher dargestellten Modelle, die aus der Analyse zahlreicher empirischer Beobachtungen entstanden sind, ist eine Professionalisierung der Parteiorganisation, ein Bedeutungsrückgang der aktiven Mitgliedschaft, eine zurückgehende programmatische Differenz der Großparteien, eine stets erweiterte Orientierung der Parteien auf die Gesamtwählerschaft mit dem Ziel eines möglichst hohen Wähleranteils und durch diese Voraussetzungen verstärkt eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Parteiführung. Letztlich kann konstatiert werden, dass – folgt man der Analyse der gängigen Parteientypen – das elektorale Modell gegenüber dem parteiendemokratischen Modell deutlich die Oberhand gewonnen hat. Diese Aspekte flossen ein in den Typus der professionalisierten Medienkommunikationspartei (Jun 2004: 113ff), der in teilweiser Abgrenzung zur Cartel Party und in Weiterentwicklung zur Catch-All Party zum einen eine Synthese der verschiedenen genannten Modelle herstellt, dabei das Erfordernis der professionellen Kommunikation nach innen und außen in Folge des rasanten Medienwandels und der Etablierung moderner Mediendemokratien in den Vordergrund stellend (siehe zur Professionalisierung der politischen Kommunikation auch Römmele 2002). Er postuliert, dass die geringer gewordene gesellschaftliche Verankerung durch die Hinwendung zu medialer Kommunikation partiell substituiert worden ist. Zum anderen wendet sich der Ansatz gegen die Niedergangsthese von Parteien, betont deren Wandlungsfähigkeit und auch deren Selbstverständnis als Mitgliederparteien, wobei jedoch davon ausgegangen werden kann, dass das Zeitalter einer großen Massenmitgliedschaft voraussichtlich der Vergangenheit angehört. Die im politischen System etablierten politischen Parteien der Zukunft werden – sollten sich die derzeitigen Trends fortsetzen – bei geringerer gesellschaftlicher Verwurzelung weniger Akteure der Interessenaggregation und der politischen Zielfindung sein, vielmehr professionelle Organisationen im Parlaments- und Regierungsbereich eines politischen Systems, die mit professi11 Siehe insbesondere Koole (1996), Kitschelt (2000), Poguntke (2000), Helms (2001), Detterbeck (2002), Poguntke (2002b).
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onellem Kommunikationsmanagement politische Entscheidungen nach innen und außen darstellen und im intensiven Wettbewerb untereinander mit wählerzentrierten Instrumenten und Mitteln Kandidaten für öffentliche Ämter rekrutieren, ohne ihren Anspruch als Mitgliederpartei mit gesellschaftlicher Verankerung aufzugeben.
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Fazit und Ausblick
Parteinetzwerke und längerfristige gesellschaftliche Loyalitäten, gespeist aus sozialen Milieus und Vorfeldorganisationen, bis in die jüngere Vergangenheit hinein essentielle Basis der politischen Parteien, die sie zusammenhielten, Wahlerfolge einbrachten und zu ihrer zentralen Stellung im politischen System weithin beitrugen, haben deutlich an Wirkungskraft verloren. Folge ist, dass die gesellschaftliche Verankerung von Parteien loser, brüchiger, unschärfer geworden ist und Parteien auf der gesellschaftlichen Ebene an Relevanz eingebüßt haben. Doch noch kommt ihnen weiterhin die Aufgabe zu, dem politischen System Zustimmung zu sichern und die dafür notwendigen Aufgaben zu erfüllen. Sie haben noch immer die Rolle des Vermittlers der demokratischen Legitimation, sind weiterhin zentrale Instrumente der Machtausübung und nehmen nahezu exklusiv (zumindest auf nationalstaatlicher und regionaler Ebene) die Funktion der Rekrutierung des politischen Personals wahr. Politische Parteien standen und stehen vielfältigen Herausforderungen und Problemen gegenüber, von denen die abnehmende Wahrnehmung der Attraktivität als Partizipationsraum und die veränderten Wettbewerbsbedingungen sowie die durch den Medienwandel hervorgerufenen Veränderungen die gravierendsten sind. Hinzu treten inhaltliche Herausforderungen aufgrund der Folgen der Globalisierung der Märkte und Güterproduktion. Immer wieder haben sich politische Parteien als veränderungsfähige Organisationen hervorgetan, was die Politikwissenschaft in der Herausbildung unterschiedlicher Parteitypen näher analysiert hat und zu dem Ergebnis kam, dass Parteien trotz aller Beharrungstendenzen eine enorme Wandlungsfähigkeit bewiesen haben. Sie haben beispielsweise in jüngster Zeit zum einen die zunehmende Bedeutung von Kommunikation erkannt und sind dem mit einer Professionalisierung begegnet (Jun 2004; Sarcinelli 2007). Zum anderen haben sie auch eine erhebliche programmatische Anpassungsfähigkeit bewiesen. Deutliche Defizite sind zuletzt insbesondere mit Blick auf die Mitgliederentwicklung und Partizipationsbereitschaft der Bürger in Parteien zu konstatieren: Sollten die Parteien am Konzept der Mitgliederpartei festhalten, wie es konstitutiv für westeuropäische Parteiendemokratien ist, dann müssten Parteien vermehrte Anstrengungen unternehmen, ihrer gesellschaftlichen Entfremdung entgegenzuwirken. Vordringlichste Aufgabe für Parteien sollte es daher sein, effektive und nach oben hin durchlässige Kommunikationssysteme gegenüber ihren gesellschaftlichen Umwelten zu entwickeln. Horizontale und vertikale Verbindungslinien sollten dabei so konzipiert sein, dass die Kommunikationsnetzwerke dem Einzelnen zugänglich sind und seine Partizipationsmöglichkeiten nicht an den engen Grenzen eines Orts- oder Regionalverbandes enden. Parteien sollten es nicht vernachlässigen, überlebensnotwendige Ressourcen der politischen Systeme wie öffentliche Akzeptanz, Unterstützung und Vertrau-
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en herzustellen. Sollte es den Parteien nicht gelingen, ihre Kommunikationsfähigkeit gleichzeitig mit ihren Partizipationsanreizen zu erhöhen, droht ein weiterer Vitalitätsverlust des Binnenlebens, der ihre Attraktivität weiter sinken ließe. Folge wäre ein noch stärkeres Abkoppeln der politischen Klasse von der gesellschaftlichen Basis, eine größere Entfernung von Repräsentanten und zu Repräsentierenden. Die Reform und demokratische Stärkung der Parteien sollte gleichzeitig in den Kontext der professionalisierten Politikvermittlung gestellt und mit ihr zusammengedacht werden. Denn die diesbezüglichen Entwicklungen der letzten Jahre sind nicht mehr umkehrbar und haben zur Modernisierung der politischen Parteien erheblich beigetragen. Die große Mehrheit der Wähler verlangt öffentlich sichtbare und professionell organisierte bzw. geführte Parteien, die eine hohe gesellschaftliche Problemlösungsfähigkeit haben und denen sie Glaubwürdigkeit und Lösungskompentenz zuschreiben. Diesem nicht geringen Anspruch werden sich die Parteien auch in Zukunft stellen müssen.
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Testfragen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Welches sind die hauptsächlichen Erklärungsansätze für das Entstehen von politischen Parteien? Welche Folgen haben die Auflösungserscheinungen der traditionellen sozialen Milieus für politische Parteien? Welches sind die zentralen Herausforderungen und Problembereiche für politische Parteien? Warum sind Massenmedien für politische Parteien bedeutungsvoller geworden? Wie sind Parteien als politische und gesellschaftliche Organisationen näher zu charakterisieren? Warum haben politische Parteien als Partizipationsraum an Attraktivität eingebüßt? Wie ist die Wandlungsfähigkeit von politischen Parteien genauer zu erklären? Gibt es derzeit einen dominanten Parteientypus? Begründen Sie Ihre Stellungnahme, in dem Sie auf einzelne Charakteristika der Parteientypen näher eingehen. Ist das traditionelle Modell der Mitgliederpartei überholt? Wie können Parteien ihre gesellschaftliche Position wieder verbessern?
Verbändeforschung Annette Zimmer und Rudolph Speth
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Einleitung
Moderne Gesellschaften sind ohne freiwillige Vereinigungen, Verbände und Interessengruppen nicht vorstellbar. Der Zusammenschluss von Freien und Gleichen ist konstitutiv für Moderne und Demokratie. Allerdings besteht weder Einigkeit über den Nutzen und die Funktion von Verbänden für demokratische Gesellschaften noch ist der Verbandsbegriff als solcher eindeutig definiert. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum es sich bei der Verbändeforschung nicht um ein klar konturiertes Themenfeld handelt, sondern sich eine Vielzahl von Ansätzen, Perspektiven und Schwerpunktsetzungen feststellen lässt (Willems/von Winter 2007; Sebaldt/Strasser 2004). Auch macht es einen Unterschied aus welcher disziplinären Perspektive und unter welchem methodologischen Ansatz Verbände betrachtet werden. So sind Verbände aus politikwissenschaftlich-demokratietheoretischer Sicht vorrangig auf der Input-Seite des politisch-administrativen Systems angesiedelt und zuständig für die Bündelung, Artikulation und Durchsetzung von Interessen im politischen Prozess. Aus steuerungstheoretischer Sicht werden Verbände dagegen eher als Mitgestalter von Politikgestaltung betrachtet und als Helfershelfer des Staates auch auf der Output-Seite des politisch-administrativen Systems verortet und hier als wesentlich für eine reibungslose Politikimplementation erachtet. Aus der Perspektive der Soziologie sind Verbände dagegen interessant als „intermediäre Organisationen“, die den Einzelnen in Gemeinschaft, Gesellschaft und Staatswesen integrieren sowie wesentlich dazu beitragen, sozialen Zusammenhalt zu sichern und insofern den „Kitt“ bilden, der die Gesellschaft zusammenhält. Schließlich werden Verbände aus der Sicht der Verwaltungs- und Wirtschaftswissenschaft auch in ihrer Funktion als Dienstleister gesehen, die ein breites Spektrum von Leistungen und Diensten für die Mitglieder aber auch für die allgemeine Öffentlichkeit sowie für bestimmte Zielgruppen erbringen. Da die Politische Soziologie als ein diese verschiedenen Perspektiven integrierender Ansatz zu betrachten ist, wird im Folgenden versucht, den verschiedenen Sichtweisen und Fokussierungen zumindest insofern gerecht zu werden, als zunächst auf die Vielfalt der Begrifflichkeiten und Zugänge eingegangen wird, daran anschließend zentrale theoretische Ansätze der Verbändeforschung behandelt werden, um abschließend unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Situation auf Verbände als empirisches Forschungsfeld einzugehen.
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Definition und Zugänge
2.1 Definition und Gegenstandsbereich Definitorisch betritt man mit dem Feld der Verbandsforschung unsicheres Terrain. Die Bezeichnung Verband bezieht sich weder auf eine kodifizierte Rechtsform, noch auf eine spezifische Form der Organisation bzw. der Anordnung von Gremien und Entscheidungsforen. Vielmehr handelt es sich beim Verband um einen Begriff, der sich im allgemeinen Sprachgebrauch eingebürgert hat, assoziativ aufgeladen ist und fließende Grenzen insbesondere zum Begriff des Vereins aufweist. Gemäß umgangssprachlicher Verwendung sind Vereine eher kleinere mitgliederbasierte Organisationen, die primär auf der lokalen Ebene tätig sind (Klein 2001). Im Unterschied hierzu wird mit Verband umgangssprachlich eine größere und in sich differenzierte Organisation bezeichnet, deren Tätigkeit sich über mehrere Ebenen (lokal, regional, Landes-, Bundes- und EU-Ebene) erstreckt und die über angeschlossene Mitgliederorganisationen verfügt. Insofern ist der Verbundcharakter typisch für Verbände. Sie sind in sich differenzierte Organisationen mit ebenenspezifischen Untergliederungen und angeschlossenen Mitgliederorganisationen, wobei aber auch individuelle Mitgliedschaften möglich sind. Rechtsform der Verbände In Deutschland ist die Mehrheit der Verbände in der Rechtsform des Vereins organisiert. Im Gegensatz zum Verband bezeichnet „Verein“ eine Rechtsform, die erstmals 1872 im BGB festgelegt wurde. Die Rechtsform Verein ist in den §§ 21 – 79 BGB und damit bundeseinheitlich geregelt. Der Verein als Rechtsform ist ein freiwilliger, auf gewisse Dauer angelegter, körperschaftlich organisierter Zusammenschluss von mehreren natürlichen oder juristischen Personen, die unter einem Gesamtnamen bestimmte gemeinsame Zwecke verfolgen wollen (Rawert/Gärtner 2004). Insofern ist der Verein „das rechtliche Kleid“ für die Organisation vielfältiger Anliegen und Interessen, wobei gemäß BGB der Zweck des „Idealvereins“ (§21) darin besteht, sich für die Allgemeinheit und die Erreichung ideeller Ziele einzusetzen. Wenn umgangssprachlich von Verein die Rede ist, wird jedoch weniger auf die Rechtsform Bezug genommen, sondern auf ein vielfältiges Spektrum von Mitgliederorganisationen im Sport-, Freizeit- oder Geselligkeitsbereich, demgegenüber wird mit Verband umgangssprachlich herausgestellt, dass es sich um ein „Dach“ bzw. eine Organisation mit angeschlossenen Mitgliederorganisationen und oder auch individuellen Mitgliedern handelt.
Im Spektrum der Verbändeforschung sind neben den klassischen Termini „Verband“ und „Verein“ in jüngster Zeit weitere Bezeichnungen angelsächsischer Provenienz hinzugekommen, und zwar die Nongovernmental-Organization (NGO) und die Nonprofit-Organization (NPO). Diese Bezeichnungen nehmen auf unterschiedliche Qualitäten von Vereinen/Verbänden Bezug. So ist NPO in etwa mit gemeinnütziger Organisation zu übersetzen. Herausgestellt wird hierbei, dass Vereine und Verbände in ihrer Qualität als NPOs nicht zum Bereich des Marktes zu rechnen sind und sie dem Verbot der Ausschüttung von Gewinnen an Organisationsteilnehmer unterliegen (Zimmer/Priller 2004: 33). Die Bezeichnung NGO fokussiert dagegen auf die Nichtzugehörigkeit der Organisation zum Sektor Staat. In der
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Regel werden Vereine und Verbände, die im Bereich Internationales sowie in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, als NGOs bezeichnet (Frantz/Martens 2006). Als weiterer zentraler Begriff der Verbändeforschung ist schließlich der der „intermediären Organisation“ anzuführen, der, vorrangig im wissenschaftlichen Kontext verwandt, umgangssprachlich kaum Relevanz hat (Klein 2001: 705). Eingeführt wurde diese Begrifflichkeit infolge der Adaption der systemtheoretischen Perspektive durch die Verbändeforschung. Unter einer einflusstheoretischen Betrachtung zählen danach Verbände, Vereine etc. als „intermediäre Organisationen“ analog zu Parteien und sozialen Bewegungen zum System „politischer Interessenvermittlung“, das als Bindeglied zwischen der Privatsphäre des Einzelnen und dem politisch-administrativen System zu verorten ist, und das als Transmissionsriemen und Lautverstärker der spezifischen Anliegen und Bedürfnisse von Bürgerinnen und Bürgern fungiert (Rucht 1993). Unter einer eher funktionalistischen Betrachtung werden Verbände zwar ebenfalls als „intermediäre Organisationen“ bezeichnet. Ihr Charakteristikum besteht jedoch gerade darin, dass sie keinem System – weder Staat und Politik, noch der Wirtschaft oder der Familie/Gemeinschaft – eindeutig zuzurechnen sind. In der funktional ausdifferenzierten Welt der Moderne sind Vereine und Verbände daher insofern ein Relikt der Vormoderne, als sie nicht einem Funktionsbereich eindeutig zuzuordnen sind und infolgedessen auch unterschiedliche Handlungslogiken unter dem Dach einer Organisation vereinen. Gleichzeitig stattet sie dies mit der Kompetenz und dem Potenzial aus, zwischen den verschiedenen Systemen zu vermitteln und daher auch in diesem Sinne „intermediär“ tätig zu werden.
2.2 Zugänge und Themen Ein Grund für die definitorische Unschärfe ist u.a. darin zu sehen, dass Verbändeforschung im deutschsprachigen Raum gleichzeitig auf die einflussreiche Charakterisierung von Max Weber wie auch ein eher angloamerikanisch geprägtes Verständnis von Verband rekurriert (Prätorius 2002). Für Max Weber ist Verband vor allem „Herrschaftsverband“, für den die Momente Organisation, Führung und Gefolgschaft konstitutiv sind (Weber 1976: §12). Kontrastierend hierzu steht das Verständnis von Verband im angelsächsischen Kontext, wobei Aspekte des Zusammenschlusses von Freien und Gleichen als Gruppe (association), der Freiwilligkeit (voluntary association) (Sills 1968) sowie der Druckausübung gegenüber dem Staat (pressure group) im Zentrum stehen. Während Verbändeforschung in der Tradition von Max Weber eher auf große Organisationen mit bürokratischem Apparat und professioneller Führung abzielt, erweitert die Verbändeforschung unter einem angelsächsischen Verständnis des Gegenstandes den Blick auch auf kleinere sowie weniger fest gefügte Organisationen und Gruppen. Unter dieser Perspektive sind die Grenzen zwischen der eher lokal orientierten Vereins- und der mehr überregional fokussiertenVerbändeforschung fließend; entsprechendes gilt auch in Bezug auf die soziale Bewegungs-, Sozialkapital- und nicht zuletzt Zivilgesellschaftsforschung (Zimmer 2007). Lexika der Politikwissenschaft verzichten daher nicht selten auf eine umfassende Definition des Begriffs Verband und nehmen direkt auf bestimmte Trägergruppen (Unterneh-
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mensverbände, Gewerkschaften) oder Einsatzbereiche von Verbänden bzw. Politikfelder (Wirtschafts-, Sozial-, Freizeitverbände) Bezug (Nohlen/Schultze 2005: 310f, 399f, 1057f). In Handbüchern findet sich in der Regel eine funktionale Definition, wobei Interessenvermittlung ins Zentrum gerückt und Verbände als „organisierte Interessen“ charakterisiert werden (Wiesenthal 1998; Kropp 2005; Rudzio 2006). Vor diesem Hintergrund hat die Verbändeforschung unterschiedliche Typologien entwickelt, die Verbände als „organisierte Interessen“ einem breiten Spektrum von Tätigkeitsbereichen und Handlungsfeldern zuordnen (Straßner 2004: 97ff; Kropp 2005: 669f). Als eine in der Folge einflussreiche Typologie ist jene aus dem Band „Organisierte Interessen“ von Ulrich von Alemann anzuführen (1989: 71). Typologie von organisierten Interessen nach Handlungsfeldern 1.
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3.
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5.
Organisierte Interessen im Wirtschaftsbereich und in der Arbeitswelt Unternehmer- und Selbständigenverbände Gewerkschaften Konsumentenverbände Organisierte Interessen im sozialen Bereich Sozialanspruchsvereinigungen (z.B. Blindenvereine) Sozialleistungsvereinigungen (z.B. Wohlfahrtsverbände) Selbsthilfegruppen (z.B. Anonyme Alkoholiker) Organisierte Interessen im Bereich der Freizeit und Bildung Sportvereine und -verbände Geselligkeits- und Hobbyvereine Organisierte Interessen im Bereich von Religion, Kultur und Wissenschaft Kirchen und Sekten Wissenschaftliche Vereinigungen Bildungswerke, Kunstvereine Organisierte Interessen im gesellschaftspolitischen Querschnittsbereich ideelle Vereinigungen (z.B. Humanistische Union, AI) gesellschaftspolitische Vereinigungen (z.B. für Umwelt, Frieden, Frauenemanzipation usw.)
Quelle: von Alemann (1989: 71)
Die einseitige Fokussierung der politikwissenschaftlichen Verbändeforschung auf Interessenorganisation und -vermittlung wird seit längerem kritisiert, wobei insbesondere auf die „Multifunktionalität“ der Verbände und Vereine als intermediäre Organisationen Bezug genommen wird, die zwischen verschiedenen Systemen auch vermittelnd und integrierend tätig werden können (Kleinfeld et al. 1994: 1; Willems/Winter 2007a: 3). Danach interagieren Verbände/Vereine nicht nur mit den unterschiedlichen Teilsystemen – Wirtschaft, Staat, Gesellschaft –, sondern erbringen auch für jedes dieser Systeme spezifische Leistungen: Interessenvermittlung im Hinblick auf Staat/Politik, Sozialintegration in ihrer Funktion als Gruppe sowie Sozialverband im Hinblick auf Gesellschaft und Gemeinschaft sowie Dienstleistungserstellung in Konkurrenz zu Firmen/Unternehmen wie auch öffentlichen Einrichtungen (vgl. Abb. 1).
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Abbildung 1:
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Multifunktionalität von Verbänden
Quelle: Eigene Darstellung.
Mit dem Hinweis auf die Multifunktionalität von Verbänden erweitert sich das Themenspektrum der Verbändeforschung um eine weitere Facette, der sich insbesondere die DritteSektor-Forschung (Seibel 1992; Zimmer 2005) angenommen hat. Neben ihrer politischen und sozialen Funktion wird in jüngster Zeit auch die Bedeutung von Verbänden als Produzenten von Gütern und Dienstleistungen verstärkt thematisiert. Das Funktionsspektrum der Verbände umfasst:
die Vertretung und Vermittlung von Interessen gegenüber dem politischen System die Integrationsleistung und die affirmative Bündelung von Werten gegenüber dem sozial-kulturellen System die Dienstleistungsproduktion als Austauschprozess mit dem ökonomischen System.
Dementsprechend weit gefasst ist das Gebiet der Verbändeforschung und reicht von der Beschäftigung mit dem Verband im Sinne von Max Weber als Organisation und Herrschaftsverband mit komplexen Binnenstrukturen, Entscheidungsfindungsprozessen und Gefolgschaft über die Bedeutung der Verbände für das politische System, für die Gesellschaft und für lokale Gemeinschaften bis hin zu ihrer Funktion als Produzenten von Gütern und Dienstleistungen für ihre Mitgliedschaft, die allgemeine Öffentlichkeit oder spezielle Zielgruppen. Auch spiegelt die Verbändeforschung in ihrem Facettenreichtum nicht nur die Komplexität und Vielfältigkeit ihres Untersuchungsgegenstandes, sondern sie weist aufgrund ihres weiten Themenbereichs gleichzeitig Schnittmengen mit anderen zentralen Gebieten der Politischen Soziologie auf. Differenziert nach Analyse-Ebene lassen sich die folgenden
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Überlappungen zwischen der Verbände- und anderen in diesem Band behandelten Forschungsperspektiven der Politischen Soziologie festhalten. Analyseebenen der Verbändeforschung - Mikro-Ebene des Einzelnen: Mitgliedergewinnung und -bindung als Themen der Politischen Kulturforschung sowie aktuell der Forschung zu Sozialkapital und bürgerschaftlichem Engagement und Wertewandel (vgl. die Kapitel zu Werte- und Wertewandelforschung, zu Politischer Partizipation, Politischer Kultur und Sozialkapital in diesem Band). - Meso-Ebene der Organisation: Organisationsstruktur und Governance als Thema der Organisationssoziologie und -theorie und damit Anschlussfähigkeit an die Bürokratieforschung und Managementlehre (vgl. das Kapitel Bürokratieforschung in diesem Band). - Makro-Ebene der gesellschaftlichen und politischen Funktionszuweisung: Analyse von Funktion und Bedeutung der Verbände für den politischen Prozess, und zwar für Government und Governance; Charakterisierung und Typologisierung der Kooperationsmuster zwischen Staat und Verbänden als Thema der Verbändetheorie; Analyse der Funktion und Bedeutung von Verbänden als intermediäre Organisationen im Rahmen des gesellschaftlichen Wandels (vgl. Kapitel zu Politischer Kultur und Politischer Partizipation in diesem Band).
Nur die auf der Makro-Ebene angesiedelte Verbändeforschung verfügt über einen eigenständigen theoretischen Zugriff, während auf den beiden anderen Ebenen Verbände jeweils als ein gesellschaftlicher Integrationsmodus unter anderen sowie als eine spezifische Ausprägung von Mitglieder- bzw. Nonprofit oder Nongouvernmental Organisation betrachtet und insofern unter Bezugnahme auf integrations- oder organisationssoziologische Parameter analysiert werden. Die im Hinblick auf die Makro-Ebene erarbeiteten theoretischen Ansätze mittlerer Reichweite geben einen Eindruck von der wissenschaftlichen Debatte und Theorieentwicklung der „Verbändeforschung“ als Sub-Disziplin der Politischen Soziologie im Zeitverlauf, gleichzeitig reflektieren „Verbändetheorien“ (Straßner/Sebaldt 2004: 28ff) Konjunkturen und Trends sozialwissenschaftlicher Diskussion und Theoriebildung.
3
Theoretische Ansätze
Ein Überblick über die verschiedenen Ansätze und theoretischen Perspektiven gehört zum Standardrepertoire der Handbücher und Reader der Verbändeforschung (Streeck 1994; Schmid 1998: 32f; Reutter 2001: 10ff; Straßner 2004: 28ff; von Winter/Willems 2007: 24). In der Regel wird hierbei ein chronologischer Zugang gewählt und die Entwicklung der „Verbändetheorien“ ausgehend vom Pluralismus über Neo-Pluralismus und Neo-Korporatismus bis zu aktuellen Ansätzen der Netzwerke, des Dritten Sektors sowie der Zivilgesellschaft erläutert (Kropp 2005: 656ff; ausführlich Straßner 2004: 28ff; Lösche 2007: 100ff; Michalowitz 2007: 27ff). Deutlich werden durch die chronologische Darstellung die „Diskurs-
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orientierung“ der Politischen Soziologie sowie das stark dialektisch geprägte Verhältnis von Theoriegenese, Theoriekritik und Theorieweiterentwicklung. Abbildung 2:
Theorien organisierter Interessen.
Quelle: Kropp (2005: 656).
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3.1 Zugang zur Thematik: Der Staat der Moderne Trotz Unterschiede und Differenzierungen lässt sich als gemeinsamer Ausgangspunkt der Verbändetheorien eine Orientierung auf den Staat der Moderne festhalten, der sich gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern verantworten muss und insofern unter Legitimationsdruck steht. Ferner liegt allen Verbändetheorien ein behavioristisches Verständnis von Staat und Staatlichkeit zu Grunde. Regieren ist damit Ergebnis von Verhandlungsprozessen und damit akteurszentriert und nicht das Resultat autoritativer Regelsetzung durch Einzelpersonen (Monarch, Führer, Diktator) oder oligarchischer Cliquen (sozialistische Einheitspartei, Stammesclique, Familie). Unter einem behavioristischen Verständnis von Regieren rücken das Verhältnis von Staat und Bürgern und damit Fragen nach Beteiligungschancen, Macht und Einfluss ins Zentrum der Betrachtung. Analysiert die Politische Soziologie das Verhältnis von Staat und Bürgerschaft insgesamt, so fokussieren Verbändetheorien auf einen bestimmten Ausschnitt dieser Interdependenz, nämlich auf die Rolle, Funktion und Bedeutung der intermediären Organisationen für die Interaktion von Bürgerschaft und Staat. Implizit angesprochen sind hiermit Fragen der Gerechtigkeit, und zwar der Zugangsgerechtigkeit – Verbände und Demokratie/Partizipation – sowie der Verteilungsgerechtigkeit – Verbände und Gemeinwohl. Zentrale Fragen der Verbändeforschung
Welchen Einfluss üben Bürger und Bürgerinnen vermittelt durch Verbände auf Prozesse der Politikentscheidung und -implementation aus? In welchem Umfang kommen vermittelt durch Verbände staatliche Leistungen welchen Bürgern und Bürgerinnen zugute?
Verbändetheorien lassen sich daher dahingehend einteilen, ob sie vorrangig demokratietheoretisch orientiert sind und Verbände eher unter Partizipations- und Integrationsaspekten analysieren; oder aber ob sie primär steuerungstheoretisch einzuordnen sind und insofern Verbände eher unter Gesichtspunkten von Effizienz und Effektivität demokratischen Regierens behandeln. Auch Verbändetheorien zeichnen sich durch einen idealtypischen Modellcharakter aus. Sie verdichten und vereinfachen die Komplexität der Empirie und bieten eine analytische Folie, mittels derer die Vielfalt und Interdependenz der Realität wie in einem Brennglas fokussiert und damit erst verstehbar wird. Auch Verbändetheorien gehen hierbei jeweils von einem a priori gesetzten Set von Grundannahmen aus, aufgrund derer der „theoretische Blick“, die modellhafte Verdichtung und Vereinfachung der komplexen Realität möglich wird. Sehr vereinfacht lassen sich die Verbändetheorien dahingehend unterscheiden, inwiefern sie eher vom angelsächsischen oder mehr vom kontinentaleuropäischen Verständnis von Staat und Staatlichkeit geprägt sind. So favorisiert die von europäischen Traditionen geprägte Theorieentwicklung den „Blick von oben“ auf Funktion und Bedeutung von Verbänden. Diese Perspektive, die den Staat nicht als einen Akteur unter anderen konzeptualisiert, sondern ihm eine „Sonderstellung“ im Kontext von Entscheidungsfindung und Politikimplementation zubilligt, ist tief verwurzelt in der europäischen Tradition der politischen Theorie und Philosophie (Kaufmann 1996). In
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der Verbändeliteratur wird diese Variante als „Neo-Pluralismus“ sowie als „Neo-Korporatismus“ geführt. Demgegenüber ist die angelsächsische Theorieentwicklung in weit aus stärkerem Maße durch den „Blick von unten“ auf Funktion und Bedeutung der Verbände für die Interdependenz von Bürgerschaft und Staat geprägt. Die unter der Sammelbezeichnung „Pluralismus“ in der Literatur geführte gruppentheoretisch orientierte und angelsächsisch geprägte Verbändetheorie ist daher anschlussfähig an die „Theorien kollektiven Handelns“ (Reinhold et al. 1997: 338). Sie geht ferner von einem eher antagonistisch geprägten Verhältnis von Staat und Gesellschaft aus. Damit steht die Gesellschaft in gewisser Weise Staat und Regierung gegenüber, wobei dem intermediären Bereich der Verbände und freiwilligen Organisationen nicht nur eine Mittlerfunktion, sondern auch eine Eigenexistenz zugebilligt wird. In der Diskussion um die Zivilgesellschaft sowie in den Debatten zum Sozialkapital und zu sozialen Bewegungen zeigt sich dies besonders deutlich. Dies ist nicht zuletzt als Grund dafür anzuführen, dass die vom Pluralismus inspirierte Diskussion über den demokratietheoretischen Stellenwert freiwilliger Vereinigungen in jüngster Zeit an Relevanz gewonnen hat, während der europäische und tendenziell etatistische „Blick von oben“ auf Verbände und freiwillige Vereinigungen als Steuerungsressource mit seiner Koppelung an nationalstaatliche Strukturen infolge der Globalisierung und damit der Relevanz- und Steuerungsverluste der Nationalstaaten eher an Bedeutung verliert. Im Folgenden wird eine Auswahl von „Klassikern“, die die Verbändeforschung maßgeblich beeinflusst haben, vorgestellt. Es handelt sich hierbei nicht um eine vollständige Übersicht, sondern es werden exemplarisch zentrale Arbeiten zur Verbändetheorie und damit „Eckpunkte“ der Verbändediskussion anhand einiger weniger ausgewählter Autoren dargelegt.
3.2 Die Klassiker von Gruppentheorien und ihre Kritiker Insbesondere vor dem Hintergrund der neueren Theorieentwicklung zu Sozialkapital und sozialem Engagement gewinnen die frühen Vertreter der Verbändetheorie wieder an Relevanz. Im Fokus ihres Interesses stand der Nexus von Verbänden und Demokratie. Besonders herauszustellen ist hier Alexis de Tocqueville, der französische Adelige, der vor dem Hintergrund der Erfahrung der französischen Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts in seinem Reisebericht „De la Démocratie en Amérique“ (1987) unter anderem der Frage nachging: Wie verhindert man in einer liberal-egalitären Gesellschaft, die nicht durch Stände strukturiert ist, die Despotie der Mehrheit? Und warum entartet das amerikanische System nicht, wie in der französischen Revolution geschehen, zu einer Diktatur? Seine Antwort hierauf war die Entdeckung der verbände- bzw. vereinsstrukturierten Gesellschaft. Danach erfolgt auf der Mikro-Ebene des Einzelnen infolge von Mitgliedschaft in und Mitmachen bei einer Vielzahl von Vereinigungen eine Entwicklung in Richtung „gesunder Pragmatismus“. Die „overlapping memberships“ verhindern, dass man sich zu heftig für eine ganz spezifische Position stark macht und damit ideologisch-normativ festgelegt ist. Insofern wirken freiwillige Vereinigungen als „Schule der Demokratie“. Gleichzeitig wird durch die Vielzahl der Vereins- und Verbändegründungen auf der Meso-Ebene ver-
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hindert, dass eine Gruppe die Oberhand gewinnt, da jeweils immer auch ein Gegengewicht – eine „countervailing power“ – entsteht. Steht de Tocquevilles Analyse in der Tradition der Politischen Kulturforschung, so gilt „The Process of Government“ (1908) von Arthur Bentley als der Klassiker des Pluralismus bzw. der gruppenorientierten Verbändetheorie schlechthin. Sein Hauptaugenmerk lag auf der Analyse der Interaktion zwischen Staat (government) und der in Gruppen differenzierten Bürgerschaft (Bentley 1967: Chapter VII, 200ff). Hierbei identifizierte er Verbände bzw. Interessengruppen als „Rohmaterial“ (Bentley 1967: 212) der Politik. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung des „political process“ stand die Analyse des Verhaltens von interessengeleiteten Gruppen und ihr Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung. Diese Sicht des Regierens bedeutet eine Abkehr sowohl von herkömmlichen und im damaligen Europa vertretenen etatistisch-legalistischen Staatskonzeptionen sowie auch gegenüber einer undifferenzierten Betrachtung der Dichotomie von „Masse“ und „politischer Führung“. War das Verhältnis Staat-Bürger bisher aus einer Top-Down-Perspektive gesehen worden, so machte Bentley den Weg frei für den „Blick von unten“. Gemäß dem Urteil von Ira Katzelnelson und Helen Milner beginnt mit Bentley die moderne Analyse von Staatstätigkeit, die in hohem Maße interessengeleitet und -bestimmt ist: „By placing interest representation within a systematic framework, this practical and scientific approach to the state, focusing on institutions, power, and choice, was created to facilitate a more realistic understanding of the political order“ (Katzelnelson/Milner 2002: 12).
Anknüpfend an die Arbeit von Bentley wurde die gruppentheoretische Analyse der Politik mit der zentralen Stellung der Verbände fortgesetzt von David B. Truman in seinem Buch „The Governmental Process“ (1951). Im Zentrum steht das konkrete Vorgehen von Verbänden, charakterisiert als „tactics of influence“ (Truman 1951: 114, 511-516) im Hinblick auf die politischen Institutionen, wobei nicht geleugnet wird, dass „the activities of political interest groups imply controversy and conflict“ (Truman 1951: 503). Dennoch wird hier insofern ein stark normativ geprägtes und tendenziell zu positives Bild der Verbandstätigkeit gezeichnet, als vor allem die folgenden beiden Aspekte von Truman als essenziell für den „governmental process“ herausstellt werden: „First, the notion of multiple or overlapping membership and, second, the function of unorganized interests, or potential interest groups“ (Truman 1951: 508).
Truman fokussiert nicht auf die Tendenz zur Schließung gesellschaftlicher Gruppen und insofern auf die Partikularität von Interessen. Er betont vielmehr das – mit Putnams Worten ausgedrückt – „bridging capital“ von Gruppen. Ferner wird mit seinem Hinweis auf latente bzw. „unorganized interests“ die Prämisse eingeführt, dass ein Ungleichgewicht der Interessenrepräsentanz und insofern eine einseitige Beeinflussung von Politik de facto stets durch die Entstehung eines dem entgegenstehenden Interesses konterkariert wird. Gesteuert wird dieser Prozess durch „the rules of the game“, „systems of belief“ bzw. „a general ideological concensus“ (Truman 1951: 512).
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Der Faktor Macht und die Ungleichheit der Zugangschancen werden in dieser Lesart des „governmental process“ ausgeblendet. Ein wesentlicher Grund dafür, warum dieser Blick auf Verbände Kritik auf sich zog, die aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, und zwar im Einzelnen aus eliten-, konflikt-, mikro-ökonomischer sowie neo-marxistischer Sicht erfolgte. In seinem Buch „The Semi-Souvereign People: A Realist´s View of Democracy in America“ von 1960 setzte sich Elmar E. Schattschneider aus elitentheoretischer Sicht mit den Prämissen des Pluralismus auseinander und kontrastierte diese mit der Realität in den USA. Sein zentraler Einwand bezog sich auf die Inklusivität der Interessenvertretung, der Schattschneider die faktische Selektivität der „pressure politics“ in den USA gegenüberstellte. Die Kritik von Elmar Schattschneider Die gruppentheoretische Variante der Verbändetheorie geht an der Realität vorbei. Allgemeine Interessen sind im Gegensatz zu Partikularinteressen kaum zu organisieren. Daher weisen Verbändesysteme einen „upper-class bias“ auf (Schattschneider 1960: 32). Dominant sind Interessen, die von starken gesellschaftlichen Gruppen vertreten werden.
Die vielzitierte Passage, dass „the flaw in the pluralist heaven is that the heavenly chorus sings with a strong upper-class accent“ (Schattschneider 1960: 35), war aber keineswegs elitentheoretisch-kritisch gemeint. Im Gegensatz zur aktuellen Diskussion zu Sozialkapital und bürgerschaftlichem Engagement war dies für Schattschneider kein Grund zur Besorgnis, sondern eher Anlass für ein Plädoyer für eine dezidiert elitentheoretische Fundierung des politischen Prozesses und damit der Demokratietheorie. Ob und inwiefern die Bevölkerung in die politische Entscheidungsfindung via Verbände bzw. Interessengruppen eingebunden ist, war für Schattschneider nicht von Bedeutung. Für ihn war es aus demokratietheoretischer Sicht ausreichend, die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in die Politik auf den Wahlvorgang zu beschränken. Die Dynamik von Regierung und Opposition – also die Konkurrenz unter den politischen Eliten bzw. den Experten oder „Leaders“ – war aus seiner Sicht der entscheidende Unterpfand der Demokratie: „Democracy is a political system in which the people have a choice among the alternatives created by competing political organizations and leaders... The people profit by this system, but they cannot, by themselves, do the work of the system“(Schattschneider 1960: 141).
Heute wird die Selektivität der Beteiligung sowie die enge Verbindung zwischen bürgerschaftlichem und politischem Engagement zwar ebenfalls als Mittelklasse-Phänomen identifiziert, aber im Gegensatz zu Schattschneider sehr kritisch und aus Sicht der Politischen Soziologie primär als Gefahr für die Demokratie kommentiert. Analog zu Schattschneider war auch für Mancur Olson die von der Gruppentheorie vertretene Prämisse der Inklusivität von Interessenorganisation Anlass kritischer Überlegungen. Er setzte sich jedoch nicht aus elitentheoretischer Sicht, sondern aus mikroökonomischer Perspektive mit den Prämissen der Gruppentheorie auseinander. Die Existenz kleiner Gruppen war für ihn kein Problem, sei es auf lokaler Ebene im Vereinskontext infol-
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ge intensiver persönlicher Kontakte, oder aber im Hinblick auf Gründung und Kontinuität von Wirtschaftsinteressen – sprich Verbänden – mit einer sehr konkreten und primär partikularen Zielsetzung. Dagegen war unter Berücksichtigung des Nutzenkalküls der individuell handelnden Personen die Existenz großer Mitgliederorganisationen für Olson in hohem Maße erklärungsbedürftig. Während Mitgliedschaft und Engagement in kleinen Organisationen infolge sozialer Kontrolle und Reziprozität nachvollziehbar ist, adressierte er in seinem Buch „The Logic of Collective Action“ (1968) vor allem das Problem der Organisierbarkeit von und der Loyalitätsbindung in großen sowie latenten Gruppen. Von besonderem Interesse waren für ihn hierbei die Gewerkschaften als große Mitgliederorganisationen. Warum bleibt man Gewerkschaftsmitglied, wenn diese „kollektive Güter“ erstellen, d.h. Güter, von denen man auch als Nicht-Mitglied und damit als Freerider oder Trittbrettfahrer profitiert, wie etwa die Lohn- und Tarifabschlüsse? Eigentlich ist Nicht-Mitgliedschaft die logische Handlungsoption für rational handelnde Personen und eben nicht politisches oder soziales Engagement. Doch die Kunst der Mitgliederbindung, so Olson, verläuft über selektive Anreize, indem nur jeweils dem Mitglied der Organisation ein exklusiver Zugang zur Nutzung von Individualgütern, wie etwa Versicherungsleistungen, Reisen etc., eröffnet wird. Die Analyse von Mancur Olson und die sich daraus ergebenden Handlungsanweisungen für Verbände und freiwillige Organisationen sind heute so aktuell wie bei ihrer Ausarbeitung. Nur stehen nicht mehr Gewerkschaften im Fokus des Interesses, sondern Public Interest und Advocacy Groups, die primär latente Gruppen adressieren und sich hauptsächlich für öffentliche Güter, wie etwa sauberes Wasser, Einhaltung der Menschrechte, Frieden oder Umweltschutz, einsetzen. Die Grenzen zur sozialen Bewegungsforschung sind hier fließend. Entsprechendes gilt für die Arbeiten zum Sozialkapital (Zu Letzterem siehe auch den Beitrag von Siegfried Roßteuscher in diesem Band). Diskutiert wird im Hinblick auf die „neuen Interessengruppen“ bzw. NGOs, ob und inwiefern sich diese bereits zu so genannten „Scheckbuchorganisationen“ entwickelt haben, die kaum noch über eine Mitgliederbindung verfügen und sich primär über Fundraising sowie den Verkauf von bestimmten Artikeln, wie etwa Plakate oder T-Shirts, finanzieren. In Bezug auf diese Verbände wird kritisch die Frage ihrer demokratischen Legitimation gestellt. Welche Gruppen und Interessen vertreten eigentlich NGOs, wenn sie an internationalen Konferenzen mit Konsultationsstatus teilnehmen? Und wenn überhaupt, wie erfolgt die Rückkoppelung an ihre jeweilige „constituency“ bzw. Anhängerschaft? Analog zu Olson hat sich auch Claus Offe mit dem Thema der Organisierbarkeit als zentrale Prämisse des Pluralismus in seinem Aufsatz von 1969 „Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme“ auseinandergesetzt, und zwar aus konflikttheoretischer und neo-marxistischer Sicht. Er hinterfragte das Gleichheitspostulat der „Organisations-“ sowie „Konfliktfähigkeit“ gesellschaftlicher Interessen und Gruppen.
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Organisations- und Konfliktfähigkeit Gemäß der Analyse von Claus Offe sind nur solche Interessen organisierbar, die ganz spezifische, den individuellen Wohlstand garantierende „Spezialbedürfnisse“ adressieren. Und konfliktfähig sind nur solche Interessen und die sie vertretenden Gruppen, die in der Lage sind, „eine systemrelevante Leistungsverweigerung glaubhaft anzudrohen“ (Offe 1969: 146).
Danach verfügen primär Interessen und Gruppen, die für den Staat funktional unentbehrlich sind – d.h. die Verbände von Kapital und Arbeit, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften – über Organisations- und Konfliktfähigkeit. So bündeln Gewerkschaften die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und können das Drohpotential „Streik“ als systemrelevante Leistungsverweigerung einsetzen. Sie sind hierdurch in der Lage, die Legitimation des modernen Wohlfahrts- und Interventionsstaates in Frage zu stellen, der auf die Loyalität seiner Bürger und Bürgerinnen (Massenloyalität) ebenso angewiesen ist wie auf ökonomische Stabilität und Prosperität, deren Garanten die Wirtschaftsverbände darstellen. Auf innovative Weise verband Offe den „Blick von unten“ auf die Organisierbarkeit von Interessen und Gruppen mit dem „Blick von oben“ auf ihre „Konfliktfähigkeit“. Letztere ergibt sich infolge der Bedeutung der Verbände im Hinblick auf den Legitimationsbedarf des Staates. Da der moderne Wohlfahrtsstaat auf eine prosperierende Wirtschaft ebenso angewiesen ist wie auf die Loyalität seiner Bürger, wird den Wirtschaftsverbänden staatlicherseits ein privilegierter Status eingeräumt. Damit rückt dieser Ansatz in die Nähe neopluralistischer und neo-korporatischer Verbändetheorie, allerdings mit negativen Vorzeichen: Der Staat ist hier nicht „Hüter des Gemeinwohls“, sondern die neo-marxistische Analyse entlarvt diesen als „Büttel des Kapitals“. Trotz veränderter Rahmenbedingungen infolge der Globalisierung hat gerade die Analyse der Konfliktfähigkeit von Interessen und Gruppen nicht an Relevanz verloren. Allerdings stehen heute nicht mehr der Staat und seine Legitimation auf dem Prüfstand, sondern die des Kapitals, der Unternehmen und Firmen. Das Drohpotential der Konsumentensouveränität und die Mobilisierungsfähigkeit der latenten Gruppe der Konsumenten werden durch die Aktivisten von Advocacy Groups und NGOs im Umfeld sozialer Bewegungen gerade erst entdeckt. Unter den veränderten Kontextbedingungen der Globalisierung ist aber nicht mehr der Staat erster Adressat der Verbände, sondern die Interessenvermittlung verläuft inzwischen jenseits nationalstaatlicher Grenzen und damit am klassischen Staat vorbei. Insofern ist es nahe liegend, dass gerade jene theoretischen Ansätze, die den Blick eher „von oben“ auf Verbände richten und von der europäischen Tradition und Theorieentwicklung der Sozialwissenschaften geprägt sind – insbesondere Neo-Pluralismus und Neo-Korporatismus – nicht mehr als Referenz erster Wahl gelten. Es sind aber gerade jene theoretischen Zugänge, die seit etwa Mitte der 1970er Jahre die Theoriedebatte der Verbändeforschung dominiert haben, wobei insbesondere der Neo-Korporatismus als analytische Folie und Bezugspunkt für eine Vielfalt von empirischen Arbeiten herangezogen wurde und gerade die vergleichende Verbändeforschung nachhaltig geprägt hat (Reutter 2005: 245f).
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3.3 Der Staat als Hüter des Gemeinwohls: Neo-pluralistische und neo-korporatistische Verbändetheorie Im Zentrum dieser theoretischen Ansätze steht die Frage nach dem Beitrag und der Rolle der Verbände zur Erreichung des Gemeinwohls, wobei dieses unter neo-pluralistischer Perspektive zunächst eher abstrakt als Kategorie der politischen Theorie (Münkler/Bluhm 2001) interpretiert, in der Folge jedoch aus Sicht des Neo-Korporatismus unter Bezugnahme auf Indikatoren der Wohlfahrtsstaatlichkeit zunehmend substantiviert und damit auch empirisch überprüfbar gemacht wurde. Bei beiden Ansätzen dient das Präfix „Neo“ jeweils als Indikator der Abgrenzung von zeitlich früheren theoretischen Entwürfen, und zwar einerseits der gruppentheoretischen Variante des Pluralismus sowie andererseits der klassischen Formen des Korporatismus. Letztere waren ständestaatlich, autoritär oder faschistisch geprägt und gingen von einem eher „organizistischen“ oder gemeinschaftsorientierten Staatsverständnis aus, das konflikttheoretisch-geprägte Interessenvertretung und damit den durch Parteien vermittelten Nexus Bürger und Staat entweder gänzlich ablehnte, oder zumindest durch andere Formen – Berufstände, Räte etc. – ergänzt wissen wollte (Beyme 2000: 273f). Ernst Fraenkel gilt als einer der wichtigsten Vertreter des Neo-Pluralismus in Deutschland. Sein Blick auf Verbände verbindet europäische Tradition mit US-amerikanischen Erfahrungen. Der Jurist und Arbeitsrechtler war während des Nationalsozialismus in die USA emigriert und nach seiner Rückkehr wesentlich an der Re-Etablierung der Politikwissenschaft im Nachkriegsdeutschland beteiligt. In „Deutschland und die westlichen Demokratien“ (Fraenkel 1974) diskutiert er aus vergleichender Perspektive, wie die in der europäischen Tradition verankerte Dichotomie von Partikularinteresse und Gemeinwohl überwunden werden kann, ohne dass es zu einer „Unterdrückung aller Interessenvertretung“ kommt (Fraenkel 1974: 41). Seine Antwort hierauf ist die Etablierung eines politischen Systems, dass die Vielfalt von Interessen und ihre Vertretung grundsätzlich anerkennt und damit Verbänden eine wichtige Bedeutung zuweist, gleichzeitig aber an diese hohe Anforderungen stellt. So setzt Fraenkel nicht nur eine ausgeprägte Organisationsfähigkeit und intensive Mitgliederbindung der Interessenverbände voraus, sondern auch, „dass zwischen diesen Organisationen das Minimum einer Übereinstimmung über die verpflichtende Kraft eines als gültig anerkannten Wertkodex besteht“ (Fraenkel 1974: 42). Fraenkel ist kein Anhänger des gruppentheoretischen Ansatzes, gleichwohl betrachtet er die Vielfalt der Interessen für moderne Gesellschaften als konstitutiv und notwendig und weist Interessengruppen eine wichtige demokratietheoretische Bedeutung zu. Diese zielt unter nationalstaatlichen Kontextbedingungen im verfassungsmäßigen Rahmen auf „den Abschluss sozialer und ökonomischer Kompromisse“ (Fraenkel 1974: 42). Hiermit wurde von Fraenkel bereits eine wichtige Funktion von Verbänden angesprochen, die in der Folge vom Neo-Korpororatismus weiter akzentuiert werden sollte und die in enger Verbindung mit einer zentralen Frage der demokratietheoretischen Debatte zu sehen ist: Was ist für demokratische Systeme wichtiger: Partizipation oder Effektivität?
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Partizipation oder Effizienz? Sind demokratische Regierungen stabiler und dauerhafter, wenn sie eine Vielfalt von Zugangsmöglichkeiten und Partizipationschancen eröffnen, oder aber wenn sie sich durch Effektivität des Regierens, sozialen Frieden und Wohlfahrtsstaatlichkeit auszeichnen? Und wozu tragen Verbände bei? Dienen sie der Garantie der Partizipation oder helfen sie Politik effizienter zu machen? Je nach Perspektive können Verbände und Vereine unterschiedlich bewertet werden. Schaut man „von unten“, sind es Organisationen, die Partizipation und Beteiligung ermöglichen. Schaut man „von oben“, sind es Organisationen, die zur Steigerung der Effektivität des Regierens beitragen können. Letzteres ist das primäre Anliegen des Neo-Korporatismus.
Mit dem Neo-Korporatismus wurde der Anspruch der Verbändetheorie aufgegeben, eine „grand theory“ mit weitreichender Erklärungskraft zu vertreten, jedoch gleichzeitig der Anschluss an die sich zunehmend empirisch orientierende Politikwissenschaft ermöglicht. Damit einher ging eine stärkere Integration der Verbändeforschung in die Vergleichende Politikwissenschaft und dezidiert in die Themenfelder der Vergleichenden Regierungslehre und Politikfeldforschung. Der Blick „von oben“ als typische Perspektive des Neo-Korporatismus kommt in den Aufsätzen von Philippe Schmitter „Still a Century of Corporatism“ (1974) sowie „ Modes of Interest Mediation and Models of Societal Change in Western Europe“ (1977) deutlich zum Ausdruck. Neo-Korporatismus ist ein „ideal-typical institutional arrangement for linking the associationally organized interests of civil society with the decisional structures of the state“ (Schmitter 1974: 86), das der funktionalen Zielsetzungen der Verbesserung der „governability“ (Schmitter 1977: 7) dient.
Schmitter argumentiert modernisierungstheoretisch vor dem Hintergrund sozio-ökonomischen Wandels, der durch zunehmende funktionale gesellschaftliche Differenzierung und insofern mit einer Zunahme organisierter Interessen sowie mit einer Ausweitung der Regelungstiefe des Staates und damit eines Wachstums der staatlichen Bürokratie einhergeht. In Rahmen seiner Studien zu Brasilien hat er festgestellt, dass hier – wie in vielen anderen sich modernisierenden Ländern – die Beziehungen zwischen Staat und Verbänden mit den Vorgaben des Pluralismus nicht übereinstimmen (Reutter 1991: 67). Vor diesem Erfahrungshorizont entwickelt er seine „conceptual specification“ des Neo-Korporatismus als „a system of interest representation in which the constituent units are organized into a limited number of singular, compulsory, noncompetitive, hierarchically ordered and functionally differentiated categories, recognized and licensed (if not created) by the state“ (Schmitter 1974: 94).
Danach ist Neo-Korporatismus ein zum Pluralismus alternativer Weg der Gestaltung bzw. des Arrangements der Staat-Verbände-Beziehungen im Dienst sozio-ökonomischen Wandels bzw. „to cope with the growing differentiation and interest diversity of the modern polity“ (Schmitter 1974: 97). Während der Pluralismus von einer Vielfalt miteinander kon-
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kurrierender Interessengruppen ausgeht, trifft man im Neo-Korporatismus auf ein durch Intervention des Staates geordnetes Verbändesystem (ausführlicher Reutter 1991: 73). Wie kommt diese Ordnung zustande? Für Gerhard Lehmbruch, der wie Schmitter wesentlich zur Entwicklung des Neo-Korporatismus beigetragen hat (Czada 1994: 37f), handelt es sich hierbei um einen historischen Entwicklungspfad. Insofern argumentiert Lehmbruch nicht primär modernisierungstheoretisch-funktionalistisch, sondern pfadabhängig-neoinstitutionalistisch, wobei er einen engen Bezug zwischen Konsens-/Konkordanzdemokratie und neo-korporatistischen Staat-Verbändebeziehungen aufzeigt: Verbände werden zu einem zentralen Baustein eines Regierens durch Verhandeln. In seinem Essay „Der Beitrag der Korporatismusforschung zur Entwicklung der Steuerungstheorie“ (1996a) und in dem Beitrag „Die korporative Verhandlungsdemokratie in Westmitteleuropa“ (1996b) ordnet Lehmbruch den Neo-Korporatismus nicht nur in den Mainstream der politikwissenschaftlichen Theorieentwicklung ein, sondern arbeitet unter Bezugnahme auf mitteleuropäische Länder einschließlich Deutschlands gleichzeitig die Bedeutung korporatistischer Arrangements für die Befriedigung tiefgreifender gesellschaftlicher Konflikte heraus. Danach wird die Einbindung der Verbände, der Neo-Korporatismus, zu einem „Bestandteil des staatlichen Steuerungsrepertoires“ (Lehmbruch 1996a: 741), das jedoch historisch verankert und Teil bzw. eine spezifische Manifestation der von ihm so charakterisierten „korporativen Verhandlungsdemokratie“ (Lehmbruch 1996b: 22) ist. Nach Lehmbruch muss daher Neo-Korporatismus – oder Steuern mit Hilfe von Verbänden – nicht notwendigerweise gesamtstaatlich ausgerichtet sind, sondern findet eher sektorbezogen und damit auf spezifische Bereiche und Policy-Felder, wie etwa die Sozialund Gesundheitspolitik, Anwendung. Tauschlogik zwischen Staat und Verbänden Die Beziehung zwischen Verbänden und Staat basiert auf einer „Tauschlogik“:
Die Verbände stellen ihre Organisationsressourcen, insbesondere die Verpflichtungsfähigkeit gegenüber ihren Mitgliedern in den Dienst der staatlichen Politikziele. Als Gegenleistung erhalten sie beachtliche Freiheitsgrade der Selbststeuerung in dem betreffenden Politikfeld.
Dies ist auch zu Gunsten des Staates, der maßgeblich von Steuerungskosten sowie insbesondere in den wohlfahrtsstaatlichen Politikfeldern – Soziales und Gesundheit – auch von der konkreten Dienstleistungserstellung entlastet wird. Sektor- oder politikfeldspezifisch ist Neo-Korporatismus daher eine „Alternative zum hoheitlich steuernden Staat“ (Lehmbruch 1996a: 747).
Dieses institutionelle Arrangement ist nach Lehmbruch Ergebnis historischer Erfahrungen bzw. Resultat „sozialer Friedensschlüsse“, wobei grundlegende gesellschaftliche Cleavages – wie z.B. der zwischen Katholiken und Protestanten – überbrückt werden, indem diese „in stabilisierte Gleichgewichtsbeziehungen zwischen korporatistisch verfassten Gruppen“ überführt“ werden (Lehmbruch 1996: 745). Föderalismus sowie speziell auf die deutsche
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Situation bezogen die „Parität“ als Friedensformel der Konfessionen sind hierbei Eckpfeiler eines spezifisch mitteleuropäischen Modernisierungspfades (Lehmbruch 1996b: 34), der in korporative Verhandlungsdemokratie und pointierte Politikverflechtung mündet. Im Gegensatz zum Pluralismus ist die Konkurrenz unter den gesellschaftlichen Gruppen hier nicht das „Rohmaterial“ demokratischen Regierens, sondern Entscheidungsfindung bzw. Konsens ist überhaupt erst möglich, nachdem die Konkurrenz überwunden und die Gruppen sich gegenseitig zwar als antagonistisch aber befriedet anerkennen und dementsprechend staatlicherseits in Politikgestaltung und -umsetzung inkorporiert sind. Daher ist auch nicht die Mehrheitsregel konstitutiv für neo-korporatistische Verhandlungsdemokratien, sondern der verbandvermittelte Ausgleich der Interessen. Es sind im Wesentlichen zwei Kritikpunkte, die gegenüber dem Neo-Korporatismus eingewendet werden: Zum ersten umfassen neo-korporatistische Arrangements definitionsgemäß vor allem große Verbände. Da diese staatlicherseits mit einem Repräsentationsmonopol ausgestattet sind, haben neo-korporatistische Arrangements den Negativeffekt einer selektiven Schließung gegenüber neu entstehenden Interessengruppen. Demokratietheoretisch ist diese institutionalisierte Nicht-Berücksichtigung äußerst problematisch. Frühzeitig wurde von Claus Offe (1980) auf diese demokratietheoretische Achillesferse des Neo-Korporatismus aufmerksam gemacht. Weniger theoretisch, sondern sehr konkret praktisch äußerte sich die Kritik an den staatlicherseits privilegierten Verbänden in Form des Protests und der Entstehung von „neuen sozialen Bewegungen“, die zum einen nicht-berücksichtige Themen und Anliegen, wie etwa Umweltschutz, auf die politische Agenda setzen, zum anderen aber auch neue und wesentlich über Öffentlichkeit vermittelte Formen der Interessenvertretung, wie z.B. Kampagnen, entwickelten und erfolgreich einsetzen. Zum zweiten setzten neo-korporatistische Arrangements implizit die Verpflichtungsfähigkeit der Verbände gegenüber ihrer Mitgliedschaft voraus. Diese wird ursprünglich durch die geteilten Normen und Werte der betreffenden gesellschaftlichen Gruppen bzw. durch die Identifikation der Mitglieder mit dem entsprechenden Wertkanon „ihres“ gesellschaftlichen Milieus garantiert. Erodieren die Milieus, so geht dem neo-korporatistischen Arrangement infolge des Verlusts seiner sozialen Basis auch die soziale Einbettung und damit die Legitimation verloren: Die historisch gewachsene und damit institutionalisierte Staat-Verbändebeziehung veraltet und entspricht nicht mehr der gesellschaftlichen Realität. Dieses Grundproblem neo-korporatistischer Arrangements hat Wolfgang Streeck in dem Beitrag „Vielfalt und Interdependenz. Überlegungen zur Rolle von intermediären Organisationen in sich verändernden Umwelten“ (1987) herausgearbeitet. Im Neo-Korporatismus ist zwar die Systemintegration zumindest im nationalstaatlichen Kontext abgesichert und kann über die Verbandsspitzen garantiert werden, nicht jedoch die Sozialintegration, „was man plakativ als Aussterben des Stammkunden bezeichnen kann“ (Streeck 1999: 226). Je weniger sich die Mitglieder von ihren Funktionären vertreten wissen, desto eher kündigen sie die Gefolgschaft und verlassen den Verband bzw. die Gewerkschaft.
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Mitgliedschafts- und Einflusslogik Verbände interagieren stets mit zwei Umwelten und unterliegen daher als intermediäre Organisationen einer doppelten Logik, und zwar
der „Mitgliedschaftslogik“ und damit den Imperativen der Sozialintegration sowie gleichzeitig der „Einflusslogik“ bzw. den Imperativen der Systemintegration (Streeck 1999: 222).
Während sie zwecks Sicherung der Loyalität ihrer Mitglieder deren Interessen berücksichtigen und vertreten müssen, haben sie sich als „Partner der Politik“ auf die Anliegen und Präferenzen des Staates und seiner Vertreter im betreffenden Politikfeld einzustellen. Nicht immer entspricht die Mitgliedschaftslogik der Einflusslogik.
In turbulenten Umwelten, wenn sich sowohl der staatliche Kontext infolge von Globalisierung und Europäisierung wie auch die gesellschaftlichen Milieus aufgrund tiefgreifender Wandlungsprozesse verändern, werden die Funktionslogik des Neo-Korporatismus wie seine Legitimität nachhaltig in Frage gestellt. Der Neo-Korporatismus, der sich auf eine staatlicherseits „geordnete“ Verbändelandschaft bezieht, ist daher nur noch bedingt sowie hoch selektiv und politikfeldspezifisch in der Lage, die Vielfalt und Komplexität der in der Empirie anzutreffenden Verbände, Interessengruppen und alternativen Formen und Organisationen der Interessenvertretung, wie etwa soziale Bewegungen, NGOs, Lobbyisten, Unternehmen oder Anwaltskanzleien, realitätsgerecht abzubilden und damit theoretisch wie empirisch zu erfassen. Die Folge hiervon ist eine zunehmende Ausdifferenzierung der theoretischen Zugänge zu Verbänden als organisierten Interessen wie als Mitgliederorganisationen und freiwilligen Vereinigungen. Die berechtigte Frage – „Neo-Korporatismus – und was dann?“ (Schubert 2004) – ist dahingehend zu beantworten, dass der Verbändeforschung derzeit ein eindeutiger theoretischer Bezugspunkt und damit ein zentrales Paradigma, wie es der Pluralismus oder der Neo-Korporatismus darstellen, bei aller Vielschichtigkeit und Unklarheit ihres jeweiligen begrifflichen Zuschnitts, gänzlich fehlt. Vielmehr lassen sich sehr unterschiedliche Trends und Entwicklungen feststellen, wobei Analyseebene und Untersuchungsgegenstand der Verbändeforschung – organisierte Interessen, gesellschaftliche Gruppen, freiwillige Vereinigungen, NGOs, NPOs – zwar in hohem Maße anschlussfähig sind an den Mainstream der Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft und speziell der Politischen Soziologie. Gleichzeitig werden diese neuen theoretischen und empirischen Zugänge jedoch nicht mehr primär unter dem Label „Verbändeforschung“ geführt.
4
Neuere Ansätze
Da ein zentrales Paradigma fehlt, das eine Klammerfunktion erfüllen könnte, ist derzeit eine Ausdifferenzierung der Verbändeforschung im Hinblick auf theoretische wie empirischmethodische Zugänge festzustellen. Theoretische Ansätze und empirische Konzepte wie „Politische Netzwerke“ (Knoke 1990) werden unter Bezugnahme auf Soziale Netzwerke
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und damit auf die Untersuchung relationaler kommunikationsbasierter Beziehungen (Schenk 1984) für die Analyse von Politikentwicklung und -entscheidung herangezogen (Straßner 2004: 59ff). Mit Lobbying rückt die klassische Interessensvermittlung und -durchsetzung, allerdings unter Einbeziehung multipler Akteure einschließlich der Verbände in den Mittelpunkt. Mit dem Dritte-Sektor-Ansatz werden erstmals das ökonomische Leistungsspektrum und damit die volkswirtschaftliche Bedeutung von Verbänden und Vereinen als Nonprofit-Organisationen in den Blick genommen, während der Zivilgesellschaftsdiskurs jenseits von Steuerung und Dienstleistungserstellung in der Tradition von de Tocqueville die demokratietheoretische Bedeutung der Verbände als intermediäre Organisationen ins Gedächtnis ruft. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie sich nicht mehr primär auf „Verband“ als vergleichsweise große, hierarchisch strukturierte, überregional tätige Mitgliederorganisation beziehen, sondern in erster Linie funktional orientiert sind und die Leistungen einer Vielfalt von Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen für spezifische Politikfelder (Netzwerke), Issues (Lobbying), Stakeholder (Dritter Sektor) oder politische Öffentlichkeiten (Zivilgesellschaft) als Analysegegenstand haben. Gemeinsam ist diesen Ansätzen ferner, dass sie keine generalisierenden Aussagen mehr zum Verhältnis von Staat und Bürgern als klassisches Anliegen von Verbändeforschung und Politischer Soziologie treffen. Vielmehr sind die Ansätze entweder analytisch-deskriptiv angelegt und tragen zum besseren Verständnis von politics, governance und policies bei. Oder aber sie argumentieren demokratietheoretisch-normativ und dienen daher der reflexiv-kritischen Rückkoppelung des Status-quo von Politik und Gesellschaft. Letzteres trifft insbesondere für den Zivilgesellschaftsdiskurs zu, während die genauere Abbildung der Realität Zielsetzung der Ansätze Politische Netzwerke, Dritter Sektor sowie Lobbying ist.
4.1 Netzwerke Betrachtet man die Ansätze im Einzelnen, so sind die Netzwerk-Analysen in Deutschland insofern durchaus in der Tradition des steuerungstheoretisch orientierten Neo-Korporatismus zu verorten, als „Verhandeln“ als wesentliches und zentrales Medium der Entscheidungsfindung herausgestellt und damit von alternativen Modi – konkret sowohl gegenüber dem hierarchisch koordinierenden Staat wie auch gegenüber der Marktlogik des Wettbewerbs – abgegrenzt wird (Mayntz 1996: 478). Die steuerungstheoretische Ausrichtung der Netzwerkanalyse wurde insbesondere durch die Arbeiten des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung unter der Leitung von Fritz Scharpf und Renate Mayntz akzentuiert (Scharpf 1993). Im Rahmen von Netzwerkanalysen sind Verbände jedoch lediglich ein Akteur unter anderen. Der Netzwerk-Ansatz ist daher eher der Policy- als der Verbändeforschung (Schubert/Jordan 1992; Jansen/Schubert 1995) zuzurechnen. Seine Analyseebene ist die Policy Domain, die durch die Beteiligten des Netzwerkes – Organisationen, Gruppen, Einzelpersönlichkeiten – konstituiert wird.
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Annette Zimmer und Rudolph Speth
Netzwerke Netzwerke konturieren ein Geflecht sozialer, wirtschaftlicher und politischer Beziehungen, wobei Personen oder Organisationen Beziehungen zu anderen Personen oder Gruppen unterhalten oder anstreben, um auf dem Wege der Kooperation, der Unterstützung und des Austausches die eigenen Interessen und Ziele erreichen zu können (Schubert 2004: 18).
Empirisch konnte gezeigt werden, dass es sich in Deutschland in einzelnen Bereichen, wie z.B. der Rentenpolitik, die lange Zeit durch einen überschaubaren Kreis so genannter Rentenmänner bestimmt wurde (Nullmeier/Rüb 1993), um vergleichsweise kleine und hoch personalisierte Netzwerke handelt. Dies kann unter anderem auch als Indiz für die Persistenz neo-korporatistischer Arrangements angeführt werden. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass man in gewisser Weise selbst für den Netzwerkansatz noch zwischen einem kontinentaleuropäischen „Blick von oben“, der die Steuerungsleistung von Netzwerken ins Zentrum stellt und eher positiv konnotiert ist, und einem strukturfunktionalistischen „Blick von unten“ angelsächsischer Provenienz unterscheiden kann, der insbesondere an Fragen der Machtverteilung innerhalb des Netzwerkes interessiert ist (Knoke 1990: 9). In der Tradition der Community-Power-Schule geht es hier um die Aufdeckung relationaler Macht als Ergebnis der Position, die ein Akteur in einem oder in mehreren Netzwerken besitzt. Positionale Macht wird damit zum „Kitt“, der das Netzwerk konstituiert, zusammenhält und Politikentscheidungen determiniert. Empirisch zeigt sich, dass „large organizations“ aufgrund ihrer Ressourcenausstattung diesbezüglich in einer bevorzugten Situation sind (Laumann/Knoke 1987). Mit Konflikt- und Organisationsfähigkeit ausgestattete Wirtschaftsverbände zählen sicherlich zu dieser Gruppe von Organisationen. Jenseits ihrer macht- und konfliktorientierten Ausprägung weist die Netzwerkanalyse gleichzeitig auch offene Grenzen zur sozialen Bewegungsforschung auf, und zwar hinsichtlich der konstituierenden Elemente eines Netzwerkes, wozu maßgeblich geteilte Werte und Normen bzw. belief systems und frames zu rechnen sind. NGOs und Bewegungsorganisationen sowie Bewegungsunternehmern kommt bei Framing-Prozessen, der Ausbildung von Wertsystemen und Deutungsmustern, eine wichtige Bedeutung zu. Zielgerichtet im Rahmen von Policy-Wandel kann sich das Netzwerk daher zu einer „advocacy coalition“ entwickeln. Advocacy Coalition nach Paul Sabatier „People from a variety of positions (elected and agency officials, interest group leaders, researchers, who 1) share a particular belief system – i.e. a set of basic values, causal assumption, and problem perceptions – and who 2) show a non-trival degree of co-ordinated activity over time“ (Sabatier 1998: 115).
Besonders in den 1990er Jahren wurde der Netzwerkbegriff inflationär verwandt, wobei nicht immer klar differenziert wurde zwischen „Netzwerk“ als Methode und „Netzwerk“ als empirisch-analytischer Kategorie. Die Methodik der Netzwerkanalyse besteht in der sys-
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tematischen Erfassung der relationalen Beziehungen von Akteuren, in der Regel mittels quantitativer Verfahren, und der Zielsetzung, die Positionierung der Akteure im Netzwerk, ihre Zentralität oder periphere Position zu ermitteln. Netzwerk als empirisch-analytische Kategorie dient in Abgrenzung zum Neo-Korporatismus zur Charakterisierung und näheren Beschreibung bereichs- bzw. policyspezifischer Akteurskonstellationen. Als empirisch-analytische Kategorie und damit methodologischer Zugriff ist das politische Netzwerk (policy network) inzwischen abgelöst worden durch das Governance-Konzept, definiert als „die Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln“ (zitiert nach Benz 2004: 17). Analog zum Netzwerkansatz sind auch unter der Governance-Perspektive Verbände lediglich private Akteure unter anderen. Auch die Debatte um Governance wird bisher vorrangig aus einer steuerungstheoretischen Perspektive geführt (Mayntz 2004), wenngleich eine stärkere Berücksichtigung partizipativer Elemente sowie insbesondere zivilgesellschaftlicher Akteure unter dem Leitmotiv des „Good Governance“ inzwischen eingefordert wird (Schwalb/Walk 2007; Walk 2008).
4.2 Lobbyismus War die einflusstheoretische Perspektive primäres Anliegen des Pluralismus gewesen, so war unter dem Neo-Korporatismus ein nachhaltiger Perspektivenwechsel zugunsten des steuerungstheoretischen Moments erfolgt. Mit dem Fokus auf Lobbying wird aktuell die einflusstheoretische Dimension von Interessenvermittlung wieder in den Mittelpunkt gestellt (Leif/Speth 2006; Lösche 2007; Kleinfeld et al. 2007). Mit diesem Perspektivenwechsel reagiert die Verbändeforschung auf die Veränderung der Kontextbedingungen von Interessenvertretung, und zwar auf die Ausdifferenzierung des Akteursspektrums sowie auf die bemerkenswerte Zunahme von Interessenvertretungsorganisationen. Vor allem seit etwa Mitte der 1970er Jahre lässt sich weltweit ein beachtenswertes Wachstum von Organisationen der Interessenvertretung feststellen. Dieses ist nicht vorrangig auf eine Zunahme der Vertretung von Interessen von Kapital und Arbeit (Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften) zurückzuführen, sondern auf den Gründungsboom von Public Interest Groups und NGOs, d.h. solcher Organisationen, die eher allgemeine Interessen vertreten und häufig im Kontext von Themen und Anliegen sozialer Bewegungen entstanden sind. Lobbyistische Interessenvertretung wird von einer Vielfalt von Akteuren – klassische Verbände, Anwaltskanzleien, professionelle Lobbyisten, NGOs und Unternehmen – unter Heranziehung diverser Aktionsformen und Techniken, wie etwa Monitoring, stakeholder mapping, Netzwerkpflege, Kampagnen und PR-Maßnahmen, ausgeübt. Insofern ist Lobbying kein theoretisches Konzept, sondern dient vorrangig der Beschreibung und Systematisierung der Methoden und Instrumente der Interessenvertretung und -vermittlung. In gewisser Weise ist Lobbying als „Betriebswirtschaftslehre“ der Verbändeforschung zu charakterisieren, wobei „strategisches Marketing“ am ehesten als funktionales Äquivalent von Lobbying in der BWL zu betrachten ist. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sowohl die Terminologie des Lobbying wie die verschiedenen Ansätze und Vorgehensweisen deutliche Bezüge zur modernen Managementlehre aufweisen. Im Besonderen gilt dies für die Weiter-
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entwicklung des Lobbying zum Public-Affairs-Management (van Schendelen 2005), das in Vorgehen und Zielsetzung an den Ansatz des Strategischen Marketing (Kotler/Bliemel 1998) angelehnt ist. Abbildung 3:
Eintragungen in der Lobbyliste des Deutschen Bundestages1
2000
Anzahl akkreditierter Verbände
1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200
19 74 19 75 19 76 19 77 19 78 19 79 19 80 19 81 19 82 19 83 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04
0
Anzahl akkreditierter Verbände
Anzahl akkreditierter Unternehmensverbände
Quelle: Sokolowski (2005: 33).
Ausgehend von einer umfassenden Umfeld- und Stakeholderanalyse als Bestandsaufnahme der „Großwetterlage“ und ihres kontinuierlichen Monitoring erfolgt im Rahmen eines strategischen Prozesses die Entscheidung für den situationsadäquaten Instrumenteneinsatzes bzw. die Wahl der Beeinflussungsmethoden, einschließlich Kampagnen und allgemeiner Public Relation. Hinzu kommen der Aufbau von Kontaktnetzwerken und ihre Pflege, was auch Beratungs- und Serviceleistungen für Stakeholder/Akteure in Politik und allgemeiner Öffentlichkeit, wie etwa in Form von Expertisen oder Positionspapieren, einschließt. Insofern lässt sich auch zwischen eher handbuchartig angelegten Arbeiten, die über das „Werkzeug“ wie auch den Alltag des Lobbyisten informieren (z.B. Strauch 1993; Köppl 2003; Bender/Reulecke 2003) und solchen mit stärker analytischem und wissenschaftlichkritischem Anspruch unterscheiden. Letztere sind zum Teil vergleichend angelegt und untersuchen kontrastierend Traditionen von Interessenvertretung bzw. Lobbying. Klassisch ist hier der Vergleich mit den USA (Michalowitz 2007: 172ff; Sebaldt 2007). Andere fokussieren auf spezifische Themen, wobei es in der Regel um klassische Fragestellungen der Verbändeforschung geht: Die gesetzlichen Regulierung von Lobbyaktivitäten, die ungleiche Chancenstruktur bzw. die Asymmetrie von Interessenvertretung infolge von ungleicher Ressourcen1 In der seit 1972 geführten öffentlichen Liste – so genannte Lobbyliste – können sich Organisationen eintragen lassen, die Interessen gegenüber dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung vertreten. In der Anlage 2 der GO BT wird diese Registrierung näher durch ein Formular geregelt. Nicht aufgenommen werden Organisationen, die nur regional tätig sind.
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ausstattung der Akteure, die Bedeutung des In-house Lobbying bzw. der Personalunionen von Interessenvertretern und politischen Akteuren sowie die Routinisierung von Kontakten zwischen Lobbyisten und politischen Akteuren oder Institutionen und damit die Inkorporierung oder auch Institutionalisierung von Einflussschienen stehen hier im Vordergrund. Schließlich wird auch die Frage der Zugangschancen oder der Offen- bzw. Geschlossenheit der Policy Arena oder des politischen Systems unter dem Leitmotiv des Lobbying angesprochen (Leif/Speth 2006; Kleinfeld et al. 2007). Ein weiteres aktuelles Thema ist die Untersuchung des Lobbying im Kontext der EU (Michalowitz 2004; van Schendeln 2005). Insgesamt ist die aktuelle Lobby-Literatur daher durchaus anschlussfähig an die Traditionen der Verbändeforschung mit ihren klassischen demokratietheoretischen Fragestellungen nach den Zugangsmöglichkeiten und der Repräsentativität von Interessenvertretung.
4.3 Dritter Sektor Ist der Lobbyismus die BWL der Verbändeforschung mit dem Schwerpunkt auf Interessenvermittlung, so kann man den Dritte-Sektor-Ansatz als VWL der Verbändeforschung mit der Akzentuierung der Leistungserstellung charakterisieren. In den Blick genommen wird vor allem das ökonomische Potenzial der Verbände, intermediären Organisationen bzw. NPOs. Insbesondere im Rahmen des international vergleichenden „Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector-Projekt“ wird weltweit im Sinne der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung mittels quantitativer Erhebungen die wirtschaftliche Bedeutung von NPOs einschließlich ihrer arbeitsmarktpolitischen Relevanz erfasst (Salamon et al. 1999; Zimmer/ Priller 2007). Neben klassischen ökonomischen Makro-Daten, wie etwa der Umfang der Ausgaben und die Beschäftigtenanzahl, sind in die Erfassung des Sektors miteinbezogen das Volumen des ehrenamtlichen Engagements, die Anzahl der Mitgliedschaften in z.B. Vereinen, das Spendenaufkommen, das Stiftungsvolumen sowie differenziert nach Arbeitsbereichen der Finanzierungsmix der NPOs. Die Dritte-Sektor-Forschung ist anschlussfähig an die aktuellen Debatten zu Sozialkapital und bürgerschaftlichem Engagement. Allerdings vermeidet die Dritte Sektor Forschung eine einseitige Fokussierung auf die Mikro-Ebene individuellen Engagements und stellt stattdessen die Meso-Ebene der intermediären Organisationen ins Zentrum der Betrachtung. Hierdurch ergibt sich ein anschauliches Bild eines gesellschaftlich zentralen und ökonomisch wichtigen Bereichs moderner organisationsstrukturierter Gesellschaften, der infolge der weltweiten „associational revolution“ (Salamon 1993) vor allem auch in wirtschaftlicher Hinsicht an Bedeutung gewinnt (Powell/Steinberg 2006). In Amitai Etzionis Aufsatz „The Third Sector and Domestic Mission“ (1973) wurde erstmals auf die Existenz einer institutionellen Alternative gegenüber einer marktförmigen wie auch staatlichen Erstellung von Gütern und Dienstleistungen durch Verbände und Vereine bzw. NPOs aufmerksam gemacht. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht hat sich seitdem eine anspruchsvolle Debatte entwickelt, die in ihren Anfängen von mikroökonomischen und strukturfunktionalistischen Theorieangeboten geprägt wurde und die zunehmend in den Kontext des Zivilgesellschaftsdiskurses einzuordnen ist (Zimmer/Priller 2005). Aus mikroökonomischer wie auch aus strukturfunktionalistischer Sicht wurden vor allem
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die Gründe der Entstehung wie die Funktionen von NPOs in modernen Gesellschaften mit marktwirtschaftlicher Ordnung thematisiert. Auch hier lassen sich in gewisser Weise ein Blick „von unten“ und ein Blick „von oben“ auf den Sektor und seine Organisationen unterscheiden. Abbildung 4:
Anteil der NPO-Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung in Prozent 12,4
Niederlande 11,5
Irland 10,5
Belgien 9,2
Israel 7,8
USA 7,2
Australien 6,2
Großbritannien 22-Länder-Durchschnitt
4,9
Frankreich
4,9 4,9
Deutschland Spanien
4,5
Österreich
4,5 3,5
Japan
3,2
Argentinien
3,0
Finnland
2,8
T schechische Republik
2,4
Peru
2,2
Brasilien
2,0
Kolumbien 1,3
Ungarn
0,9
Slowakei
0,4
Mexiko
0,3
Rumänien %
0,0
2,0
4,0
6,0
8,0
10,0
12,0
14,0
Quelle: Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project
So wird aus mikroökonomischer Perspektive und damit mit Blick von unten die Existenz von NPOs unter Bezugnahme auf ihre komparativen Vorteile im Vergleich zu den alternativen Anbietern – Unternehmen und staatlichen Einrichtungen – und insofern im Kontext der Institutional-Choice-Schule erklärt. Aus dieser Perspektive zeichnen sich Verbände bzw. NPOs als gegenüber Unternehmen oder staatlichen Einrichtungen zu favorisierende Organisationsform bei der Erstellung sozialer Dienstleistungen aus. Insbesondere in Situationen
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asymmetrischer Information sind NPOs gegenüber kommerziellen Unternehmen insofern die vertrauenswürdigeren Anbieter, als für Mitglieder oder Gesellschafter von NPOs keine Möglichkeit zur individuellen Bereicherung besteht. Konstitutiv für NPOs ist das Gewinnverteilungsverbot. Alle Überschüsse sind zu re-investieren. Wenn Güte und Qualität einer Leistung nicht überprüft werden können, da die Käufer nicht die Konsumenten sind, so könnten Erstere leicht übervorteilt werden. Beispiele hierfür sind etwa Kindergärten oder Altenheime. Das heißt NPOs entstehen, weil sie die vertrauenswürdigeren Dienstleister sind. Die Existenz der NPOs wird ferner aus einer Kombination von Staats- und Marktversagen erklärt. Die Politik kommt in heterogenen Gesellschaften nicht allen Bedarfen nach, da sie sich primär an den Präferenzen des Medianwählers orientiert (Staatsversagen). Gleichzeitig stellt der Markt viele Güter aufgrund von Rentabilitätserwägungen nicht in ausreichendem Umfang oder nur zu sehr hohen Preisen zur Verfügung (Marktversagen). Die NPOs nehmen die Rolle von „Lückenbüßern“ ein, die immer dann in Erscheinung treten, wenn der Markt wie der Staat versagt. Ferner wird die Existenz von NPOs mit dem Hinweis auf Kontroll- und Einflussnahmewünsche von Stakeholdern erklärt. Ein gutes Beispiel hierfür sind die sich zunehmender Beliebtheit erfreuenden „Seniorengenossenschaften“, die ihren Bewohnern als Genossenschaftlern eine direkte Einflussnahme auf die Dienstleistungsgestaltung sichern. Ein weiterer theoretischer Ansatz erklärt die Existenz von NPOs unter Bezugnahme auf die Maximierung von gesellschaftlicher Einflussnahme im Sinne der Verbreitung einer spezifischen ideologischen Richtung mittels Rekrutierung von Mitgliedern oder Sympathisanten (Toepler/Anheier 2005; Steinberg 2006). NPOs, die sich in einem religiösen Unfeld verorten oder aber solche, die sich der Verbreitung spezifischer politischer Anliegen widmen, sind hier an erster Stelle zu nennen. Vor allem dieser auf Estelle James zurückgehende Ansatz lässt Anklänge an die Soziale Bewegungsforschung und hier an den Ressourcenmobilisierungsansatz und den Bewegungsunternehmer erkennen (Smith/Grönbjerg 2006: 225). Im Gegensatz zu den mikroökonomischen Theorieansätzen der Dritten Sektor-Forschung blicken die strukturfunktionalistischen Ansätze eher „von oben“ auf den Sektor und stellen die spezifischen Leistungen seiner Organisationen für Staat bzw. Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft in den Mittelpunkt. Danach arbeiten Wohlfahrtsstaat und Sektor eng zusammen, weil NPOs aufgrund ihrer Pluralität und Bürgernähe in der Lage sind, die Defizite einer eher bürokratischen und bürgerfernen staatlichen Leistungserstellung auszugleichen und insofern im Sinne eines „Third Party Government“ zur Effektivität des Wohlfahrtsregimes beitragen. Hiermit wird an Interpretationsmuster des Pluralismus wie des Neo-Korporatismus der Verbändeforschung angeknüpft. In der Tradition des Pluralismus wird die Verbesserung der wohlfahrtsstaatlichen Leistungserstellung als Ergebnis der Zusammenarbeit mit der pluralen Vielfalt von NPOs erläutert (Smith/Gronberg 2006: 225). Gleichzeitig werden Verbände und Vereine als alternative Steuerungsressource anstelle von staatlichen Behörden und Dienstleistungen in das wohlfahrtsstaatliche Leistungsangebot inkorporiert. Auch zu diesem strukturfunktionalistischen Ansatz gibt es analog zur Pluralismuskritik eine kritische Gegenposition (Seibel 1991), die durchaus Parallelen zur Argumentation Claus Offes erkennen lässt. Danach sind NPOs im wohlfahrtsstaatlichen Kontext funktionale Dilettanten, da sie dazu dienen, den Staat von Legitimationsproblemen zu entlasten. Sie
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werden staatlicherseits zur Problemlösung in zentralen sozialstaatlichen Bereichen, wie z.B. Arbeitsmarktpolitik, Armenfürsorge, Altenpflege, herangezogen, obgleich es sich hierbei um Folgeprobleme der kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Ordnung handelt, die ohne Systemwechsel nicht zu lösen sind. Stand zunächst die „Existenzberechtigung“ des Sektors und seiner Organisationen im Zentrum der strukturfunktionalistischen Debatte, so ging es in der Folge vorrangig um die Analyse unterschiedlicher „Regime“ der Zusammenarbeit zwischen Staat und NPOs. Diese wurden unter Bezugnahme auf neo-institutionalistische Ansätze der Wohlfahrtsstaatsforschung und Modernisierungstheorie erklärt und für den internationalen Vergleich herangezogen (Zimmer 1996: 182ff; Smith/Gronberg 2006: 233f). Die strukturfunktionalistischen Arbeiten der Dritten-Sektor-Forschung haben daher die Konjunkturen der Verbändeforschung in gewisser Weise mit vollzogen, wobei auch hier eine eher steuerungstheoretische Sicht dominierte. Aktuell werden dagegen im Kontext der Arbeiten der Dritten Sektor-Forschung zunehmend die integrativen Leistungspotenziale der Organisationen thematisiert sowie die Funktion des Sektors als Teil der Zivilgesellschaft und damit als Element einer kritischen Öffentlichkeit. Ferner liegt der Schwerpunkt der Dritte-Sektor-Arbeiten inzwischen nicht mehr auf dem nationalstaatlichen Kontext. Thematisiert werden vor allem die international tätigen NGOs (Frantz/Zimmer 2002; Anheier et al. 2005/6). De facto ist die Debatte um den Dritten Sektor als gegenüber Markt und Staat alternativer Produzent von Gütern und Leistungen mehr oder weniger abgelöst worden von dem Zivilgesellschaftsdiskurs, wobei – wie im Folgenden gezeigt wird – der Nexus zwischen den Ansätzen sich aufgrund ihres spezifischen Akteursbezugs ergibt: Beide Ansätze fokussieren auf Verbände als intermediäre Organisationen bzw. freiwillige Vereinigungen und NGOs.
4.4 Zivilgesellschaft Die Debatte um die Zivilgesellschaft signalisiert ein Revival der normativen Dimension in den Sozialwissenschaften. Es handelt sich um einen überwiegend positiv besetzten Terminus, dessen Begriffsgeschichte bis in die Antike zurückreicht und der, aktualisiert durch die osteuropäische Dissidentenbewegung, als Leitmotiv für eine weitergehende Demokratisierung beachtlichen Einfluss auf die demokratietheoretische Diskussion nahm (Klein 2001). Danach kommt der Zivilgesellschaft die Funktion einer permanenten Kritik im Dienst der Weiterentwicklung des demokratischen Status quo von Staat und Gesellschaft zu. Für die Verbändeforschung ist die Debatte um die Potenziale der Zivilgesellschaft insofern zentral, als in der Literatur unterschiedliche Komponenten bzw. Kategorien von Zivilgesellschaft unterschieden werden, von denen eine dezidiert auf freiwillige Vereinigungen, NPOs, NGOs und somit auf den Gegenstandsbereich der Verbändeforschung Bezug nimmt. Greift man die Unterscheidung zwischen einer Verbändeforschung mit Blick „von oben“ und einer Perspektive „von unten“ wieder auf, so beschäftigt sich die Zivilgesellschaftsdebatte mit intermediären Organisationen aus vorrangig partizipations- sowie einflusstheoretischer Richtung, also mit dem Blick „von unten“.
Verbändeforschung
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Ohne auf die verschiedenen Facetten der Debatte näher einzugehen, ist festzuhalten, dass der Begriff Zivilgesellschaft unterschiedliche Dimensionen umfasst. Zivilgesellschaft bezieht sich in Anlehnung an die Arbeiten von Kocka (2003) auf eine normative Kategorie, eine Form sozialen Handelns sowie auf ein empirisch-analytisches Konzept. Damit ist gleichzeitig die Nähe der zivilgesellschaftlichen Debatte zum Dritten-Sektor-Ansatz angesprochen (Anheier et al. 2000). Dimensionen von Zivilgesellschaft
Zivilgesellschaft als normative Kategorie ist Gegenstand der Politischen Theorie und bezieht sich auf eine positiv in die Zukunft gerichtete Utopie als Gegenentwurf zum defizitär erfahrenen Status quo. Zivilgesellschaft als Form des sozialen Handelns ist ein Synonym für den zivilen Umgang miteinander und damit für gewaltfreie und insbesondere diskursgestützte Entscheidungsfindung bis hin zu Konfliktlösungen im Rahmen einer prozeduralen Verständigungspraxis. Zivilgesellschaft als empirisch-analytisches Konzept ist akteursbezogen und umfasst das weite Spektrum der freiwilligen Vereinigungen, Vereine, NGOs und NPOs, die zusammengenommen die Organisationsbasis der Zivilgesellschaft bzw. ihre Infrastruktur bilden.
Interessanterweise bildet die Bezugnahme auf diese Infrastruktur die gemeinsame Schnittmenge der doch sehr unterschiedlichen Richtungen der Zivilgesellschaftsdebatte, wobei den zivilgesellschaftlichen Organisationen je nach theoretisch-normativer Verortung des Autors nuanciert andere Funktionen zugewiesen werden. So steht für die kommunitaristische Richtung die gemeinschaftsbildende und -stabilisierende Funktion im Zentrum, der liberale Zivilgesellschaftsdiskurs betont die Kontroll- und Schutzfunktion gegenüber dem Staat bzw. staatlicher Dominanz und für die neo-tocquevillsche Ausprägung ist Zivilgesellschaft als Raum für Partizipation und Beteiligung von zentraler Bedeutung (Anheier et al. 2000; Klein 2001). Für die deutsche Diskussion prägend wurde insbesondere die Konzeptualisierung von Zivilgesellschaft, wie sie Jürgen Habermas in Annlehnung an seine diskurstheoretischen Arbeiten und die „Theorie des Kommunikativen Handelns“ vorgelegt hat. Für ihn bildet „den Kern der Zivilgesellschaft ... ein Assoziationswesen, das problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeit institutionalisiert“ (Habermas 1992: 443f). Kommunikation und die Herstellung von Öffentlichkeit, AgendaSetting und reflexive Prozesse der Kritik und Zustimmung werden daher zu zentralen Anliegen und Aufgaben von Zivilgesellschaft. Oder wie Habermas es formuliert: „Die Zivilgesellschaft setzt sich aus jenen mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen, welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten“ (Habermas 1992: 443).
Ein zentrales Anliegen der Verbändeforschung, nämlich die Interessenvermittlung und bündelung, wird hiermit angesprochen. Diskutiert wird die Bedeutung von zivilgesellschaftlichen Organisationen als „Lautverstärker“ und kritische Öffentlichkeit aktuell vor
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Annette Zimmer und Rudolph Speth
allem im europäischen wie internationalen Kontext. Die organisations- und damit akteursbezogene Zivilgesellschaftsdebatte steht daher durchaus in der Tradition der Verbändeforschung. Allerdings ist die aktuelle Debatte mit der Herausforderung konfrontiert, dass die Konstituierung von Öffentlichkeit mittels oder mit Hilfe zivilgesellschaftlicher Organisationen unter den Bedingungen von Globalisierung und Europäisierung in entgrenzten Räumen jenseits der Nationalstaatlichkeit zu erfolgen hat. Damit ist die Verbändeforschung, wie im Folgenden gezeigt wird, auch immer ein Chronist der Entwicklung und Veränderung von Staatlichkeit.
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Empirische Verbändeforschung
5.1 Historische Entwicklung Als ein wichtiges Ergebnis der empirischen Verbändeforschung lässt sich festhalten: Die heutigen Verbände entstanden als Strukturmoment der Industriegesellschaft parallel zur Ausbildung moderner Staatlichkeit (Ullmann 1988; Straßner 2004: 73ff; Kleinfeld 2007). Der entscheidende Unterschied zu ihren Vorläufern – Gilden, Zünfte und Stände – ist darin zu sehen, dass man in Letztere hineingeboren wurde und insofern Mitgliedschaft und Mitmachen nicht auf einer freien Entscheidung beruhte. Verbände sind daher eine spezifische Organisationsform der Industriemoderne. Ihre Entwicklung vollzog sich als „Bottom-up“Prozess ausgehend von lokalen Aktivitäten, überwiegend lebensweltlich verankerter Vereine. Der Zusammenschluss der lokalen Organisationen/Vereine zu überregionalen Verbünden bzw. Verbänden verlief weitgehend spiegelbildlich zur Entwicklung und Ausdifferenzierung des modernen Verwaltungs- und Interventionsstaates. Dieser hatte gleichzeitig einen entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung der jeweiligen „Verbändelandschaft“ bzw. des „Verbändesystems“ sowie insbesondere auf die Einbindung von Verbänden in Prozesse der Politikgestaltung und -umsetzung. In der Retrospektive sowie im Ländervergleich zeigt sich: Entwicklung und Funktionszuweisung der Verbände in den Nationalstaaten reflektieren jeweils unterschiedliche Staatstraditionen. Die verbandlichen Interessenorganisationen waren immer auf die jeweiligen Nationalstaaten und Territorialeinheiten bezogen. So wurden in Frankreich im Gefolge der Revolution per Gesetz (Loi de Chapelier von 1791) alle „intermediären Instanzen“, sowohl die traditionellen Gilden und Zünfte wie auch die modernen freiwilligen Vereinigungen, verboten. Erst im 20. Jahrhundert (1905) wurde das Vereinigungsverbot aufgehoben. Bis heute sind Interessengruppen, Vereine und Verbände in Frankreich in weitaus geringerem Umfang an Politikgestaltung und -umsetzung beteiligt als in Deutschland. Im Gegensatz dazu wurden in Deutschland Vereine und Verbände frühzeitig in den Dienst des Staates gestellt. Daher wurden Gilden und Zünfte im Zuge der preußischen Verwaltungsreformen „von oben“ modernisiert und ihnen staatlicherseits als Kammern oder Parafisci Aufgaben der Interessenwahrnehmung wie auch an sich staatliche Kontrollfunktionen übertragen. In der Folge wurden auch die neu entstehenden Vereine und Verbände, je nach Bedarf und politikfeldspezifisch, in den staatlichen Verwaltungsvollzug ein-
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bezogen. Von Gerhard Lehmbruch stammt die Charakterisierung dieses Einbindungstyps von Verbänden in den staatlichen Kontext als „kooperative Verhandlungsdemokratie“ (Lehmbruch 1996b), die sich insbesondere in West-Mitteleuropa entwickelte. Ein grundlegend anderes Modell der Einbindung findet sich in den Vereinigten Staaten. Wie von de Tocqueville zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschrieben, sah sich ein rudimentärer und schwacher Staat einer damals bereits umfassend vereins- und verbandsstrukturierten Gesellschaft gegenüber, die sich in beachtlichem Umfang durch Selbstorganisation auszeichnete. Auch heute noch gilt die amerikanische Gesellschaft als tendenziell antietatistisch. Als Teil der Zivilgesellschaft sind die freiwilligen Vereinigungen und/oder NPOs entweder lebensweltlich eingebettet und vor Ort tätig, als „Pressure und Advocacy Groups“ in Richtung Lobbying in Washington aktiv, oder aber in policyspezifische Netzwerke eingebunden und Teil des „Organizational State“ (Knoke/Laumann 1987). Diese Modelle präjudizieren in hohem Maße das Verhältnis Bürger und Staat. Danach geht das ursprünglich französische Modell von einer Identität von Staats- und individuellen Interessen aus. Diese Perspektive findet man heute noch bei autoritären Staatskonzeptionen, die keine oder kaum Verbände/Vereine in Selbstorganisation der Bürgerschaft tolerieren. Grundlegend war dieses Modell für die sozialistischen Regime sowjetrussischer Provenienz. Dem US-amerikanischen Modell liegt die Vorstellung eines Gegenüber von Staat bzw. Administration und Gesellschaft zugrunde, wobei Verbände und NPOs als Teil der Zivilgesellschaft eine unabhängige und eigenständig gemanagte Meso-Ebene der Selbstorganisation darstellen. Im westmitteleuropäischen Modell agieren Vereine und Verbände klassischerweise im „Schatten der Hierarchie“ des Staates: Sie sind zwar selbstverwaltet, jedoch umfassend policyspezifisch eingebunden, wobei je nach Politikfeld ihre Funktionszuweisung wie auch Ressourcenausstattung staatlicherseits erfolgt. Sind die unterschiedlichen Einbindungsmuster heute infolge der internationalen Entwicklung sowie der zunehmenden Diffusion von Leitbildern, Policies und administrativen Strukturen auch nicht mehr so trennscharf, so wirken sie dennoch immer noch prägend und verändern sich eher pfadabhängig als radikal. Interessante Forschungsfelder für die Verbändeforschung sind daher unter anderem demokratische Systeme und Gesellschaften, die sich in der Etablierung oder in einer Konstitutionalisierungsphase befinden. Die Re-Etablierung von Verbänden und insgesamt die Konstituierung einer „intermediären Sphäre“ wurde daher als ein wichtiges Thema von der Transformationsforschung aufgegriffen (z.B. Merkel 2000; Zimmer/Priller 2004). Die Analyse ist jedoch nicht mehr auf die „klassischen Verbände“ fokussiert. Stattdessen wird das gesamte Spektrum der zivilgesellschaftlichen Organisationen in den Blick genommen und als Unterpfand für Demokratisierung betrachtet. Ferner steht aktuell im Zentrum der Verbändeforschung die Europäischen Union als System sui generis, das weder in die Kategorie des Bundesstaates noch des Staatenbundes einzuordnen ist, dessen Verpflichtungsfähigkeit gegenüber den Mitgliedsländern sich aber sukzessive auf zunehmend mehr Politikfelder erstreckt und dessen territoriale Grenzen kontinuierlich erweitert wurden. Insofern ist „Brüssel“ für Verbände wie für die Verbändeforschung zunehmend interessanter geworden, was sich anhand der zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen zur Interessenvertretung in der EU wie auch anhand der mehr praxisorientierten und insofern handbuchartigen Literatur leicht ablesen lässt (z.B. Eising/
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Kohler-Koch 2005; van Schendelen 2005; Knodt/Finke 2005; Michalowitz 2007; Greenwood 2007; Guéguen 2007; Kohler-Koch/Rittberger 2007). Abbildung 5:
Organisationsgründungsboom in den Visegrad-Staaten
50.000
period of steep growth
period of flat growth
45.000
No. of associations
40.000 35.000 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 1989
1990
1991
1992
Czech Republic
1993
1994
1995
Poland
1996
1997
1998
Hungary
1999
2000
2001
Slovakia
Quelle: Mansfeldova et al. (2004: 103).
Es sind vor allem drei Aspekte, auf die die Verbändeforschung im europäischen Kontext fokussiert:
Zugangswege und „Einflusskanäle“ von organisierten Interessen im EU-Institutionensystem: Analog zur deskriptiv-analytischen Beschreibung im nationalstaatlichen Kontext werden die Europäischen Institutionen (Kommission, Rat, Parlament, Wirtschafts- und Sozialausschuss, Ausschuss der Regionen) als Gesprächs- und Kooperationspartner für Interessenvertreter (Verbände, Lobbyisten, NGOs) betrachtet. Es werden die Prozesse der Institutionalisierung von Netzwerken auf europäischer Ebene und die Privilegierung einzelner Akteure im Rahmen von beispielsweise sozialem und zivilem Dialog analysiert. Ferner wird ein Abgleich mit den klassischen Paradigmen der Verbändeforschung vorgenommen und die Frage diskutiert, ob das System der Interessenvermittlung eher als pluralistisch oder eher als neo-korporatistisch zu charakterisieren ist. Schließlich wird infolge der zunehmenden Präsenz von Interessenvertretung die Frage der Regulierung von Interessenvertretung und Lobbying diskutiert. Rolle und Einbindung organisierter Interessen im Rahmen der EU-spezifischen Multi-LevelGovernance: Verbände werden hier als „Koppelungsinstanzen“ der verschiedenen Ebenen des Systems der Multi-Level-Governance in der EU analysiert, wobei die Arbeiten anschlussfähig sind an die Untersuchung zur Politikverfechtung als eine spezifische Form von Governance (Benz 2004). Neben Fragen des Organisationsgrades und der Binnenkommunikation der Verbände wird die Rolle der organisierten Interessen, bezogen auf einzelne Sektoren oder Politikfelder im Kontext der Europäisierung behandelt.
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Relevanz organisierter Interessen im Hinblick auf das „Demokratiedefizit“ der EU: Im Zuge der Zivilgesellschaftsdebatte hat die Analyse von Verbänden als intermediäre Organisationen und damit als Garanten von Partizipation und demokratischer Rückkoppelung in der Europäischen Union an Bedeutung gewonnen. Im Zentrum steht die Frage, ob und inwiefern die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure im Kontext der europäischen Multi-Level-Governance zur Demokratisierung der Union beitragen kann.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass auch im europäischen Kontext die „klassischen Themenstellungen“ der Verbändeforschung aufgegriffen werden. Verbändeforschung im EU-Kontext
Es geht um praktische Fragen des Zugangs zu den politischen Institutionen, der konkreten Einflussnahme sowie der Regulierung der Zugangswege. Es werden Interessenvertreter und Verbände unter steuerungstheoretischen Aspekten als Akteure im Rahmen von Multi-Level-Governance analysiert. Es geht um die demokratietheoretische Relevanz von Verbänden bzw. der Zivilgesellschaft und insofern um ihr Potenzial, zur Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit beizutragen und die Responsivität europäischer Politikgestaltung zu verbessern.
5.2 Verbandsentwicklung in Deutschland Darstellungen der Entwicklung der Interessenverbände in Deutschland orientieren sich in der Regel an den historischen Zäsuren bzw. Regimewechseln (Straßner 2004: 86, 87; Kleinfeld 2007: 51), wobei die enge Verbindung zwischen politischem Kontext und Verbandsentwicklung herausgestellt wird. Danach verliefen die Anfänge der Vereins- und Verbandsentwicklung in Deutschland zeitlich parallel zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zu einer ersten Hochphase der Verbandsentwicklung sowie der Ausdifferenzierung, Zentralisierung und Professionalisierung der Verbände kam es bereits im Kaiserreich (Ullmann 1988: 68ff; Kleinfeld 2007: 56ff). Noch vor der Jahrhundertwende wurden wirtschaftliche Interessengegensätze mittels staatlicher Intervention entschärft und in den Dienst nationaler Ziele gestellt: Ein staatlicher Interventionismus, der das Staat-Verbände-Verhältnis in Deutschland auch in Zukunft noch prägen sollte (Abelshauser 1994). Das klassische Beispiel hierfür ist der Schulterschluss zwischen (alten) Agrar- und (modernen) Industrieinteressen bzw. das Bündnis von Roggen und Stahl im Kaiserreich, wobei im Sinne der Agrarinteressen Schutzzölle auf die Einfuhr landwirtschaftlicher Produkte erlassen wurden und die Befriedung der Industrieinteressen durch den Start eines Flottenbauprogramms erkauft wurde (Ullmann 1991). Das Kaiserreich war auch in anderer Hinsicht prägend und folgenreich für die weitere Entwicklung der Verbände und Vereine in Deutschland. Infolge Bismarckscher Repressionspolitik – namentlich der Sozialistengesetze und des Kulturkampfes – wurden große Teile der Bevölkerung – Sozialdemokraten und Katholiken – von Rechtswegen an der Beteiligung am öffentlichen und insbesondere politischen Leben ausgeschlossen. Dieser Ausschluss
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verfestigte die bereits bestehenden sozialen Milieus, von denen das katholische und das Arbeitermilieu besonders herauszustellen sind. Die deutsche Gesellschaft war in Kaiserreich und Weimarer Republik von scharfen Konfliktlinien (cleavages) gekennzeichnet, die sich vorrangig an „Klasse“ und „Religion“ festmachten.2 In sich waren die Milieus vereins- und verbandsstrukturiert und verfügten mit wiederum „milieuspezifischen“ Parteien über so genannte Brückenköpfe in das politische System. Für die weitere Entwicklung war zentral, dass sämtliche Lebensbereiche einschließlich der Freizeit durch „Milieuvereine und -verbände“ strukturiert waren. So gab es nicht nur „linke“ und „katholische“ Gewerkschaften, sondern auch Arbeiter- und katholische Sportvereine, Musikvereine und Chöre auf der lokalen Ebene sowie dementsprechende Verbände auf der regionalen und föderalen Ebene. Neben Arbeiter- und katholischem Milieu entwickelte sich bereits im Kaiserreich ein stark nationalistisch geprägtes Milieu, das durch „nationale“ und „völkische“ Vereine und Verbände geprägt wurde, die in den konservativen sowie nationalliberalen Parteien ihre „Brückenköpfe“ hatten (Bösch 2002). Ein Interessenausgleich bzw. Konsens war zwischen diesen unterschiedlichen, sehr heterogenen und zudem hoch-politisierten Gruppen der Gesellschaft nur schwer zu erreichen. Auf jeden Fall handelte es sich um einen labilen Grundkonsens, der einer längerfristigen Belastungsprobe kaum standhalten würde. Zunächst wurden diese starken gesellschaftlichen Gegensätze jedoch überdeckt durch die Mobilisierung infolge des Ersten Weltkriegs. Der staatliche Interventionismus wurde in der Kriegswirtschaft verstärkt, in die Verbände – insbesondere Gewerkschaften und Unternehmerverbände – in hohem Umfang eingebunden wurden. Vor dem Hintergrund der „nationalen Herausforderung“ kam es während des Krieges auch zu einer Annäherung von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden (Kleinfeld 2007: 62). An diese Erfahrung wurde in der Frühphase der Weimarer Republik angeknüpft und mit Art. 165 der Weimarer Reichsverfassung die paritätische Mitwirkung von Kapital und Arbeit an der „Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung“ garantiert. Ferner wurden in der Weimarer Verfassung erstmals das Recht der Gründung von Vereinigungen aller Art (Art. 124) sowie speziell auch von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften (Art. 159) verbrieft. Damit waren Verbände/Vereine erstmals als verfassungsrechtlich gesicherte Elemente der politischen Institutionenordnung anerkannt. Auch gelang in der Weimarer Republik in einem weiteren wichtigen lebensweltlichen Bereich ein Interessenausgleich aufgrund von Institutionalisierung bzw. gegenseitiger Anerkennung der Interessengegensätze unterschiedlicher Sozialmilieus. Mit Hilfe staatlicher Intervention kam es zur Gründung des Vorläufers der heutigen „Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege“ als Zusammenschluss der maßgeblichen Verbände des Sozialbereichs. Denn auch die Vereine und Verbände im Sozialbereich waren – in Analogie zu Gewerkschaften, Sport- und Kulturvereinen – normativ-ideologisch festgelegte „Richtungsorganisationen“ mit klarer Milieuprägung. Unter Anerkennung ihrer jeweiligen Milieubindung und damit ihrer unterschiedlichen politischen, religiösen und normativen Ori-
2
Zum cleavage-Begriff vgl. den Beitrag von Harald Schoen in diesem Band.
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entierungen wurde der Zusammenschluss der Sozialverbände3 zum Ansprechpartner der Sozialstaatsbürokratie, ein Modell, das in der Bundesrepublik Schule machen sollte (Sachße 1995). Hiermit war nämlich in einem wichtigen lebensweltlichen Bereich eine Befriedung tiefgreifender gesellschaftlicher Gegensätze durch Inkorporierung der Verbände erfolgt. Trotz der Erfolge im Hinblick auf den Interessenausgleich zerbrach die Weimarer Republik letztlich am fehlenden Grundkonsens. Vor dem Hintergrund einer verschärften wirtschaftlichen Krise und eines dramatischen Vertrauensverlustes in die Lösungskompetenz der Parteien sowie des parlamentarischen Systems war ein Interessenausgleich über die verschiedenen inzwischen hoch-politisierten und zum Teil hoch-militarisierten Milieus hinweg nicht mehr möglich (Berman 1997; Kleinfeld 2007: 68). In der Folge ließen die nationalsozialistische Führerideologie und die organizistische Vorstellung der Volksgemeinschaft keinen Platz mehr für eine intermediäre Ebene der Interessenvertretung, geschweige denn für einen zivilen Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Nach einer Übergangsphase wurden die Verbände insofern gleichgeschaltet, als dass sie entweder verboten oder nationalsozialistischen Neugründungen mit Massencharakter eingegliedert wurden (Ullmann 1988: 183ff; Kleinfeld 2007: 69-75). Nach 1945 wurde an die Traditionen der Weimarer Republik wieder angeknüpft. Drei Typen der Staat-Verbände-Beziehungen hat Ralf Kleinfeld (2007: 68) in seiner Retrospektive für die Weimarer Republik identifiziert:
Die staatskorporative Variante: staatlicherseits vorgenommene Inkorporierung der Verbände in politische Entscheidungsprozesse Die gesellschaftskorporative Variante: Selbstregulierung und Entscheidungsfindung durch Verbände Die pluralistische Variante: Konkurrenz der Verbände ohne erkennbaren staatlichen Einfluss.
Jede dieser Varianten findet sich, wenn auch unterschiedlicher Ausprägung und differenziert nach Politikfeldern, in der Bundesrepublik. In den Bereichen Sozialpolitik sowie in der Wirtschafts- und Agrarpolitik kam der staatskorporativen Variante bis in die jüngste Vergangenheit eine wichtige Bedeutung zu (Heinze/Olk 1981; Abelshauser 1994: 227; Schroeder 2001; Rieger 2007). Speziell die Gesundheitspolitik (Bandelow 2007) sowie die Arbeitsmarktbeziehungen mit der Institution der Tarifautonomie gelten als Paradebeispiele der gesellschaftskorporativen Variante (Kädtler 2003: 347). Die pluralistische Variante war konstitutiv für die Ausgestaltung des Grundgesetzes, das die Versammlungsfreiheit (Art. 8) sowie die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art. 9) garantiert (Wessels/Paschen o.J4.), wobei in der Tradition von Weimar Berufsvereinigungen/Gewerkschaften ein besonderer verfassungsrechtlicher Schutz verbrieft ist (Art. 9, Abs. 3). Charakteristisch für das Verbandssystem der Bundesrepublik waren bis dato der im europäischen Vergleich hohe Organisationsgrad und der zum Staatsaufbau kompatible 3 Heute Zusammenarbeit von Deutscher Caritasverband e.V (DCV)., Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V. (DWdEKD), Arbeiterwohlfahrt (AWO), Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV), Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWSt) (Boeßenecker 2005; Hammerschmidt 2005). 4 http://www.politikon.org/
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föderale Aufbau der Verbände sowie eine Vielfalt von Fach- und Einzelverbänden bei gleichzeitigem Zusammenschluss zu „Dachverbänden“ auf Bundesebene. Diese Strukturierung des Verbandssystems war im Wesentlichen zwei Entwicklungen geschuldet:
Der Reorganisation der Verbände nach 1945 unter der Ägide der Alliierten, die die Entstehung von zentralen Großorganisationen verhinderten. Dem Bestreben nach einer Konzertierung der Interessenorganisationen sowie insbesondere im Bereich von Freizeit und Kultur nach einer Überwindung und Nivellierung der Milieugrenzen (Kleinfeld 2007: 78).
Interessanterweise hat die Wiedervereinigung im Gefolge des Zusammenbruchs der DDR diese Strukturierung der bundesdeutschen Verbändelandschaft zunächst nicht grundlegend in Frage gestellt, wenngleich die These Lehmbruchs des nahtlosen Institutionentransfers von West nach Ost heute differenzierter gesehen wird. Entgegen einer simplen „Landnahme“ durch die westdeutschen Vereine und Verbände wird inzwischen die Komplexität der Organisationsneugründung, des Organisationswandels und der Organisationsfusion herausgestellt (Sebaldt 2007: 497). De facto war die Wiedervereinigung für das System wie für die Verbände gleichwohl folgenreich, als bereits bestehende Veränderungsprozesse im Hinblick auf Bedeutung und Funktion von Verbänden für die Mitgliedschaft wie für das politische System beschleunigt wurden. Weiter akzentuiert wird diese Veränderung durch die zunehmende Bedeutung der Europäischen Union auf die Gestaltung und Umsetzung von Politik.
5.3 Exkurs: Verbände im wissenschaftlichem Diskurs der Bundesrepublik Gerade die Thematisierung der Verbände im wissenschaftlichen Diskurs lässt in Deutschland nach 1945 „Konjunkturen“ erkennen, die zum einen gekoppelt waren an den sozialwissenschaftlichen Mainstream, zum anderen aber auch die Entwicklung von Gesellschaft und Demokratie in Deutschland widerspiegelten. So waren für die Beschäftigung mit Verbänden in der jungen Bundesrepublik im Wesentlichen zwei Themen von besonderem Interesse:
der deutsche Sonderweg im 19. Jahrhundert die Einbindung der Bundesrepublik in die westlichen Demokratien.
Es ist das Verdienst der historischen Verbändeforschung in Deutschland, dass wir heute ein realistisches Bild der Entwicklung von Staat und Gesellschaft von den Anfängen der Industriemoderne bis zur Weimarer Republik haben. Organisierte Interessen, Organisationen der Zivilgesellschaft sowie die Großverbände in der Diktion von Max Weber hatten an dieser Entwicklung einen entscheidenden Anteil (Conze 1960; Varain 1973). Ferner wurde herausarbeitet, dass trotz historischer Zäsuren und Regimewechsel Verbände und organisierte Interessen in Deutschland über beachtliche Kontinuität verfügen. Zweifelsfrei kann die Kooperation zwischen Staat und Verbänden und somit die spezifische Einbettung der Ver-
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bände in Deutschland auf eine lange Tradition zurückblicken, die erst jetzt infolge von Globalisierung und insbesondere Europäisierung in Frage gestellt wird. Die historische Verbändeforschung hatte einen wichtigen Anteil an der so genannten Vergangenheitsbewältigung, die die öffentliche Debatte bis in die Mitte der 1980er Jahre wesentlich mitgeprägt hat. Entsprechendes gilt für den politikwissenschaftlichen Zugang zu Verbänden. Insbesondere die 1950er Jahre waren noch stark konservativ-etatistisch geprägt. Auf die damit einhergehende „Verbandsprüderie“ und den Generalverdacht, dass Verbände einen „Fremdkörper im System der parlamentarischen Demokratie“ (Wittkämper 1963: 6) darstellten, reagierte die Politikwissenschaft in der Bundesrepublik, indem sie ein den Bedingungen moderner Gesellschaften angemessenes Demokratiemodell konzeptualisierte, das die Funktion von Verbänden im Prozess der politischen Willensbildung empirisch untersuchte und normativ begründete. Empirisch wurde der negativen Bewertung der Verbände durch die Arbeiten von z.B. Bethusy-Huc (1962) oder Varain (1964) der Realitätsgehalt abgesprochen. Normativ-demokratietheoretisch wurde die Bedeutung der Verbände für die politische Willensbildung am prominentesten von Ernst Fraenkel herausgearbeitet. Unter seiner Meinungsführerschaft entwickelte sich die repräsentativ-pluralistische Demokratiekonzeption zum Leitbild der jungen Bundesrepublik (Bleek 2001: 293). In der Folge ging die politikwissenschaftliche Analyse der Verbände in Deutschland auch insofern mit der Zeit, als mittels des dominanten Paradigmas des Neo-Korportismus die etwa Mitte der 1960er Jahre einsetzende Planungs- und Steuerungseuphorie mitvollzogen, nachhaltig gestützt und empirisch untermauert wurde. Verbände wurden vorrangig unter steuerungstheoretischen Gesichtspunkten betrachtet. Hierbei wurde ihnen eine herausragende Bedeutung für die Sicherung des Gemeinwohls in zentralen Politikfeldern zugesprochen. Ende der 1970er Jahre wurden die Erträge der intensiven Diskussion zu den Steuerungspotenzialen von Verbänden in der Bundesrepublik zum „Modell Deutschland“ als Charakterisierung einer spezifischen Konfiguration institutioneller Arrangements und Strategien der Problemlösung unter maßgeblicher Beteiligung von Verbänden sogar leitbildartig verdichtet (Simonis 1998). Diese Phase ist sicherlich als Blütezeit der Verbändeforschung im Sinne einer Konzentration auf klassische Verbände, d.h. große hierarchisch strukturierte Mitgliederorganisationen, zu charakterisieren. Im Zentrum der Diskussion standen zweifellos die Verbände von Kapital und Arbeit – Wirtschaftsverbände sowie Gewerkschaften –; ferner dominierte der Blick „von oben“ auf die Steuerungspotenziale von Verbänden. Der damalige Fokus auf Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände illustrierte das „Sozialdemokratische Zeitalter“, das leitbildartig von Esping-Andersen in der Monographie „Politics against Markets“ (1985) auf den Begriff gebracht worden ist. Es fällt schwer, für die aktuelle Debatte ein zentrales Thema zu identifizieren. Die Diskussion zeichnet sich vorrangig durch Unübersichtlichkeit aus. Gleichwohl scheint sich im deutlichen Gegensatz zur steuerungstheoretischen Perspektive der Blick „von unten“ und damit die Thematik „Verbände und Demokratie“ als Kernfragestellung zu Verbänden, organisierten Interessen und zivilgesellschaftlichen Organisationen herauszukristallisieren. Dabei wird das Thema je nach Analyseebene und Fokus sehr unterschiedlich bespielt. So steht in Deutschland der „Lobbyismus“ als selektiver Einfluss von Verbänden am Parlament vorbei im Zentrum des öffentlichen Interesses. Es ist eine eher kritische Sicht auf Verbände. Der Grund hierfür ist vor allem darin zu sehen, dass in lebensweltlich zentralen
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Politikfeldern, wie z.B. der Gesundheitspolitik, politische Reformvorhaben und Veränderungen auf massiven Widerstand ressourcenstarker und gut organisierter Interessengruppen stoßen, die infolge traditionsbedingter Governance-Strukturen zudem noch über Privilegien im Hinblick auf Repräsentation und Selbstverwaltung verfügen. Auch im Mittelpunkt der Beschäftigung mit Verbänden auf europäischer Ebene stehen Fragen nach der Legitimität ihrer Einbindung in Politikformulierung und -umsetzung. Mit Lobbyismus wird hierbei aber nur die praktische Seite beleuchtet, während mit einer stärkeren Vertretung vor allem zivilgesellschaftlicher Organisationen in Brüssel eher Hoffnungen auf ein Mehr an Demokratie im Sinne einer stärkeren Ausbalancierung von wirtschaftlichen und allgemeinen Interessen verknüpft werden. Die Diskussion wird weniger polemisch geführt. Schließlich fokussiert die Beschäftigung mit Verbänden im internationalen Kontext auf die zunehmende Einbindung von NGOs in den sich herausbildenden internationalen Verhandlungsregimen. Nach einer Phase der Euphorie, in der NGOs als die Hoffnungsträger internationaler Politik galten, werden auch hier klassische Fragen der Verbändeforschung verstärkt thematisiert, und zwar nach der innerverbandlichen Demokratie sowie der Basisbindung.
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Ausblick: Hat die Verbändeforschung ausgedient?
Nach Prätorius sind Verbände „prägend für eine Gesellschaft, wenn stabile Wirtschaftsstrukturen große, dauerhafte Interessenlagen hervorbringen und wenn außerdem weltanschauliche/religiöse Loyalitäten in weite Lebensbereiche ausstrahlen“ (Prätorius 2002: 652). Diese Zeiten, die in Europa durch Wohlfahrtsstaatlichkeit und organisierten Kapitalismus geprägt waren, sind vorbei. Spätestens ab Mitte der 1970er Jahre haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durch Individualisierung, Wertewandel, ökonomische Transformation, Europäisierung und Globalisierung grundlegend verändert. Verbände in der Lesart von Max Weber als hierarchisch gesteuerte Großorganisationen, die – eingebettet in geschlossene soziale Milieus – über eine vergleichsweise homogene Mitgliedschaft verfügen, haben unter diesen Bedingungen auch in Europa und in Deutschland ihren Monopolanspruch auf Interessenvertretung verloren. Diese erfolgt heute in einem weiten Spektrum von Organisationen, Initiativen und Bewegungen und mittels vielfältiger Mobilisierungs-, Vertretungs- und Lobbyingstrategien. Hierbei kommt den Massenmedien im Kontext des Agenda-Setting und der diskursiven Problembehandlung eine zunehmende Bedeutung zu, während Interessenvertretung in Form des issuespezifischen Lobbying inzwischen überwiegend professionalisiert erfolgt. Das bedeutet, dass vorwiegend Experten für die jeweiligen Sachfragen und Issues, seien es Verbandsvertreter, Mitarbeiter von NGOs oder Angestellte von spezialisierten Anwaltskanzleien, im Kontext des breiter angelegten Konzeptes des Public-Affairs-Management wahrgenommen werden. Haben die klassischen Verbände als Großorganisationen mit homogener Mitgliedschaft ihren Monopolanspruch auf Interessenvertretung verloren, so gilt entsprechendes in noch größerem Maße für ihre gesellschaftliche Funktion als Sozialintegratoren. Zu vielfältig und zu heterogen sind inzwischen die Milieus und lebensweltlichen Szenen als dass sie durch wenige Großorganisationen vertreten werden könnten. Die doch
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beachtlichen Mitgliederrückgänge bei Gewerkschaften und auch Kirchen sind ein starker Indikator für die zunehmende gesellschaftliche Heterogenisierung und die schwindende Bindungskraft klassischer Milieus und ihrer Verbände. Aus dem „Blick von oben“, der in der europäischen Tradition Verbände als organisierte Interessen und intermediäre Organisationen vor allem im Hinblick auf ihre gesellschaftlich-politischen Steuerungspotenziale analysiert, sind Verbände als Gegenstand der Forschung insofern nur noch bedingt interessant; ein gesamtgesellschaftlich relevantes Paradigma im Sinne einer „Verbändetheorie“ ist daher eher obsolet. Nimmt man jedoch einen Perspektivenwechsel vor und betrachtet die vielfältigen Formen der organisierten Interessen und intermediären Organisationen eher „von unten“, so eröffnet sich ein weites Forschungsfeld, das in hohem Maße anschlussfähig ist an aktuelle Trends und theoretische Entwicklungen in den Sozialwissenschaften. Weltweit lässt sich ein Gründungsboom von Organisationen feststellen, die nicht primär ökonomische Interessen verfolgen, aber auch jenseits klassischer Parteipolitik im Dienst allgemeiner Interessen oder der Anliegen spezifischer Gruppen tätig sind. Gerade aufgrund der gesellschaftlichen Individualisierung gewinnen diese Organisationen, seien es Vereine, Selbsthilfegruppen oder Bürgerinitiativen, als Ankerpunkte und Kristallisationskerne von Gemeinschaften aktuell zunehmend an Bedeutung. Ihr Stellenwert für gesellschaftliche Integration wird von der Sozialkapitalforschung thematisiert, ist jedoch keineswegs hinreichend erforscht. Doch nicht alle freiwilligen Organisationen vermitteln ein Sozialkapital mit „Brückenfunktion“, das Integration, soziale Mobilität und Partizipation in unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche erleichtert. Es entstehen auch freiwillige Organisationen mit dezidiert ideologischen Orientierungen, die nicht dem Wertehorizont demokratischer Gesellschaften entsprechen und die damit nicht auf Integration, sondern eher auf Ausgrenzung angelegt sind. Die Analyse der Dynamik, die diesen Organisationsgründungen zugrunde liegt, und die Gründe, warum gerade solche Organisationen für spezifische Gruppen und insbesondere männliche Jungendliche attraktiv sind, steht bislang noch aus. Fragen der sozialen Bindung, der gesellschaftlichen Integration wie auch der Desintegration mit den entsprechenden Folgen für Demokratie und Politik werden bisher nur unzureichend thematisiert. Schließlich gewinnen aufgrund der weitgehenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche gerade auch solche Organisationen an Bedeutung, die nicht dem Primat der Gewinnmaximierung folgen und daher nicht am Shareholder- sondern am Stakeholder-Value orientiert sind. Die Dienstleistungskomponente der freiwilligen Vereinigungen bzw. NPOs, und zwar nicht als selektiver Anreiz für die Mitgliedschaft, sondern als eine genuine Leistung der Organisation, als ihr Proprium, das sie von öffentlichen wie kommerziellen Einrichtungen unterscheidet, ist bisher kaum ein Thema der Politischen Soziologie. Erst in Ansätzen werden BürgerInnen im Rahmen von Welfare-Mix Konzepten, abgesehen von ihrer Rolle als Kunden und Leistungsempfänger, gleichzeitig auch als Koproduzenten von sozialen Leistungen und Diensten konzeptualisiert. Aber auch insgesamt ist der Markt als Terrain von Interessenvermittlung und -durchsetzung bisher nur in Ansätzen als Feld einer Verbändeforschung „von unten“ entdeckt. Weite Teile der Marktwirtschaft sind von monopolistischen Strukturen geprägt. Die Achillesferse dieser Global Players ist der Boykott und insofern die Mobilisierung der Konsumentensouveränität durch in der Regel freiwillige Vereinigungen,
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Public Interest Groups, NGOs und NPOs. Auch hier eröffnet sich noch ein weites Feld für Forschung wie für praktische Politik. Dennoch wäre es verfrüht die „großen Tanker“ der Verbände mit föderalen Strukturen, die sich über mehrere Politikebnen erstrecken und sowohl vor Ort in Form von Mitgliederorganisationen verankert als auch auf den unterschiedlichen Ebenen der „Multi-LevelGovernance“ im Kontext der Europäischen Union wie der internationalen Regime tätig sind, ad acta zu legen. Vor dem Hintergrund der komplexen Strukturen des Regierens in Mehrebenensystemen sind Verbände als Interessenvertretung mit föderalistischer Strukturierung und zumindest der Möglichkeit interner Kommunikation und damit eines Informationstransfers sowohl von oben nach unten wie auch umgekehrt von unten nach oben unabdingbar. Nicht aus steuerungstheoretischen Überlegungen ist daher Verbändeforschung nach wie vor notwendig. Vielmehr geht es um die Ermöglichung von reflexiver Kommunikation und damit um die Etablierung von Rückkoppelung und Feedback-Loops zwischen den verschiedenen Ebenen. Als eine wichtige Themenstellung der Verbändeforschung unter den Bedingungen von Globalisierung, Europäisierung und gesellschaftlicher Heterogenisierung kristallisiert sich daher die Frage nach den Bedingungen organisationsbasierter Kommunikation im Dienst der Ermöglichung von Partizipation im Rahmen von Multi-LevelGovernance heraus.
Empfehlungen für weiterführende Literatur: Knoke, David, 1990: Political Networks. The Structural Perspective, Cambridge: Cambridge University Press. Kropp, Sabine, 2005: Interessenpolitik, in: Gabriel, Oscar W./Holtmann, Everhard (Hrsg.): Handbuch Politisches System der Bundesrepublik, München/Wien: Oldenbourg, 653-686. Michalowitz, Irina, 2007: Lobbying in der EU, Wien: facultas. Reutter, Werner, 1991: Korporatismustheorien, Frankfurt/Main: Peter Lang. Sebaldt, Martin/Straßner, Alexander, 2004: Verbände in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Streeck, Wolfgang (Hrsg.), 1994: Staat und Verbände, (Sonderheft 25 der PVS), Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 37-64. Wessels, Bernhard/Paschen, Frank, o.J.: Lerneinheit „Das Verbändesystem der Bundesrepublik“, in: PolitikOn. Politikwissenschaft online, DVPW, http://www.politikon.org/. Winter, Thomas von/Willems, Ulrich (Hrsg.), 2007: Interessenverbände in Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Literatur Abelshauser, Werner, 1994: Wirtschaftliche Wechsellagen, Wirtschaftsordnung und Staat: Die deutschen Erfahrungen, in: Grimm, Dieter (Hrsg.): Staatsaufgaben, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 199232. Anheier, Helmut/Glasius, Marlies/Kaldor, Mary (Hrsg.), 2005: Yearbook of Global Civil Society, London: Sage.
Verbändeforschung
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Testfragen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Grenzen Sie die Begriffe Verband, Verein, NPO und NGO voneinander ab! Was versteht man unter Multifunktionalität der Verbände? Warum sind Verbände ein Charakteristikum moderner demokratischer Gesellschaften? Warum sind unter dem Leitmotiv einer pluralistischen Interessenvermittlung „Gruppen“ das „Rohmaterial“ der Politik? Argumentieren Sie mit Mancur Olson: a) warum es sich nicht lohnt, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden, und b) warum Sie Mitglied des ADAC sind? Welche Verbände sind konfliktfähig und warum? Charakterisieren Sie ein neo-korporatistisches Verbandssystem! Warum verlieren die klassischen Verbände ihre „Stammkunden“? Warum ist Brüssel für die Verbändeforschung interessant? Hat die Verbändeforschung ausgedient?
Parlamentssoziologie Werner J. Patzelt
1
Einleitung: „Parlamentssoziologie“ im engen und im weiten Sinn
Oft wird „Parlamentssoziologie“ nur in einer sehr engen Bedeutung und letztlich gleichbedeutend mit dem Begriff der „Abgeordnetensoziologie“ verwendet (Kaack 1988), nämlich als zusammenfassende Bezeichnung von Untersuchungen, die sich der Zusammensetzung von Parlamenten und dem sozialen Hintergrund von „legislativen Eliten“ sowie des Parlamentarieranteils an der „politischen Klasse“ widmen. Das ist auch ein gut etabliertes Forschungsfeld, auf dem – für Deutschland überwiegend in der „Zeitschrift für Parlamentsfragen“ – die nach jeder Wahl neu anstehende Pflicht zur „parlamentarischen Sozialberichterstattung“ erfüllt wird: Wie ist das neu gewählte Parlament zusammengesetzt? Welche Veränderungen gab es zumal nach Alter, Beruf, Religion oder Geschlecht, was letzteres seit gut 15 Jahren besonders gründlich untersucht wird (siehe Hoecker 1994; Sawer 2006)? Warum gab es diese Veränderungen, und mit wohl welchen Folgen? Ferner will man immer wieder wissen, ob und wie neue Alterskohorten bzw. neue politische Generationen zunächst ein Parlament prägen und von ihm aus vielleicht das Regierungssystem. Obendrein führen größere Systemumbrüche immer wieder zur Untersuchung der von ihnen ausgelösten, oft auch parlamentarischen Elitenzirkulation (Patzelt 1997; Lock 1998). Ergebnisse zu alledem führen dann weiter zu vergleichenden Fragestellungen: Sind bestimmte Phänomene wohl spezifisch für ein bestimmtes Land und sein Parlament – oder sind sie Ausfluss allgemeiner Entwicklungen, die einen grundsätzlichen Gesellschafts-, System- oder Parlamentswandel anzeigen (Best/Cotta 2000)? Solche Themen ziehen dann besonders stark an, wenn man ein Parlament für „um so repräsentativer“ hält, je zutreffender es – einer unverzerrten „repräsentativen Stichprobe“ gleich – die soziale Zusammensetzung der Repräsentierten widerspiegele. Allerdings geraten gerade dann meist nur die Parlamentarier in den Blick, recht selten aber jene Personen, die als Mitarbeiter von Abgeordneten, Fraktionen oder Parlamentsverwaltungen doch ebenfalls Wichtiges zur Eigenart und zum Funktionieren von Parlamenten beitragen (Schöne 2005). Gemeinsam mit den Abgeordneten sollen sie im Folgenden als „parlamentarische Akteure“ bezeichnet werden. Zentralbefunde „parlamentarischer Sozialberichterstattung“ Im Durchschnitt westlicher Demokratien sind die allermeisten Abgeordneten männlich, befinden sich in den mittleren Lebensjahren, entstammen der Mittelschicht und kommen oft aus dem Öffentlichen Dienst oder einem politiknahen Beruf. Seit wenigen Jahrzehnten sind, von Quotenregelungen positiv beeinflusst, die Frauenanteile in den Parlamenten deutlich gestiegen. Ferner hängen Geschlecht und Beruf durchaus mit etlichen Einstellungen und Handlungsweisen der Abgeordneten zusammen.
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Werner J. Patzelt
Gewiss sind solche biographischen und sozialen Prägungen aufschlussreich. Doch eine voll entfaltete „Soziologie der Parlamente“ wird sich schon auch mit dem sozialen Handeln parlamentarischer Akteure befassen müssen, desgleichen mit dessen Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und auf das Parlament zurückwirkenden Folgen. Also ist der traditionelle Begriff der Parlamentssoziologie zu eng. Ein deutlich weiter gefasster Begriff wäre darum wünschenswert. Er würde zur politikwissenschaftlichen Parlamentarismusforschung (siehe Oberreuter 1984; Loewenberg et al. 1985; Olson 1994; Copeland/Patterson 1994; Loewenberg et al. 2002; Gamm/Huber 2002; Patzelt 2004; Marschall 2005) im gleichen Verhältnis stehen wie die Politische Soziologie insgesamt zur Soziologie. Eine solche Parlamentssoziologie reichte dann von der „klassischen“ politikwissenschaftlichen Parlamentarismusforschung (wie Ismayr 2001) über historische Detailstudien (z.B. Bonnefond-Coudry 1989) und jeweils zeitgeschichtlich-aktuelle Analysen bis hin zu einer parlamentsjuristischen Forschung, die an den sozialen Auswirkungen des jeweiligen Parlamentsrechts interessiert ist (etwa Röper 1998). Parlamentssoziologische Grundbegriffe a. Unterscheidung Legislative ļ Parlament Legislative: Ein zumal im angelsächsischen Schrifttum üblicher Begriff für Vertretungskörperschaften ohne (sonderlichen) Einfluss auf den Bestand und die Zusammensetzung einer Regierung; typisch für präsidentielle Regierungssysteme (Marschall 2005: 187f). Parlament: Eine Vertretungskörperschaft mit ausschlaggebendem Einfluss auf den Bestand und die Zusammensetzung einer Regierung; typisch für parlamentarische Regierungssysteme. b. Unterscheidung Parlament im weitesten Sinn ļ Parlament im engeren Sinn Parlament im weitesten Sinn: Jede Vertretungskörperschaft, und somit auch eine Legislative, der in einem Regierungssystem eine erwähnenswerte Rolle im Prozess der Herstellung allgemein verbindlicher Regelungen und Entscheidungen zumindest zugeschrieben wird. Zumindest liegt also „Minimalparlamentarismus“ vor (Mezey 1979: 21-44), wie er in realsozialistischen Staaten bestand (Nelson/White 1982; Oberreuter 2002) und weiterhin in autoritären Diktaturen besteht. Genau dieser weite Parlamentsbegriff wird im Folgenden verwendet (Marschall 2005: 56-60). Parlament im engeren Sinn: Eine Vertretungskörperschaft, und somit auch eine Legislative, auf pluralistisch-demokratischer Grundlage und oft mit erheblicher Machtstellung wie im Fall von Deutschem Bundestag oder US-Kongress.
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Grundriss einer systematischen Parlamentssoziologie
2.1 Leitgedanken Ziel der Parlamentssoziologie ist es, den Institutionentyp einer parlamentarischen Vertretungskörperschaft hinsichtlich seiner sozialen Konstruktion, Funktionsweise, Leistungsmöglichkeiten und Wandlungsprozesse zu verstehen und zu erklären. Tatsächlich laufen in einem machtvollen Parlament die allermeisten politischen Prozesse zusammen und finden sich in ihm die wichtigsten politischen Institutionen, Netzwerke und Prozesse verkoppelt:
Parlamentssoziologie
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Regierungen und Verfassungsgerichtshöfe als ins handlungsleitende Kalkül gezogene KoAkteure; Parteien, Interessengruppen und soziale Bewegungen als unmittelbar aktive Organisationen; politische Partizipation sowie Rekrutierung und Wahlen als Prozesse.1 Diesen komplexen Institutionentyp gilt es aus verschiedenen Perspektiven und mit darum wechselnder Schwerpunktsetzung zu untersuchen. Neben der für Sozialwissenschaftler ganz selbstverständlichen Chronistenpflicht und einer auf Öffentlichkeitswirkung und Politikberatung ausgerichteten „angewandten Forschung“ geht es dabei vor allem um parlamentssoziologische Grundlagenforschung in Gestalt einer Kausalanalyse, Konstruktionsanalyse und Evolutionsanalyse von Parlamenten. Arbeitsgebiete parlamentssoziologischer Grundlagenforschung (1) Kausalanalyse von Parlamenten: Woraus besteht ein Parlament, und wie wird es von seinen Bestandteilen her geprägt? Was sind die Antriebskräfte, die in einem Parlament wirken und es zum Agieren bringen? Was ist der Zweck des jeweils untersuchten Parlaments; woher kommt er und wie prägt er dessen Funktionieren? Was ist die „institutionelle Form“ eines Parlaments, und wie prägt sie ihrerseits dessen Beschaffenheit? (2) Konstruktionsanalyse von Parlamenten: Was sind im Einzelnen jene Prozesse und Praktiken, mittels welcher die soziale Konstruktion, Reproduktion, Modifikation und gegebenenfalls auch Destruktion der handlungsleitenden Selbstverständlichkeiten („Leitideen“) und (funktionserfüllenden) Rollenstrukturen parlamentarischer Wirklichkeit gelingt? (3) Evolutionsanalyse von Parlamenten: Auf welche Weise entstehen und entwickeln sich Parlamente im Zusammenwirken von Zufall und fortwirkender Prägekraft vorab getroffener Entscheidungen („Pfadabhängigkeit“)? In welchen Wechselwirkungen prägt zumal die institutionelle Form eines Parlaments gemeinsam mit dessen „Umwelt“ fortan die Aktivität und Entwicklung dieses Parlaments?
Bei allen Forschungen dieser Art stellt das sozialwissenschaftliche Mikro/Makro-Problem eine besondere Herausforderung dar (siehe den nachstehenden Kasten). Einesteils sind nämlich alle parlamentarischen Akteure letztlich konkrete Personen; andernteils ist deren Analyse vor allem als Untersuchung der Träger und Akteure ihrer – in sich vielfältig binnendifferenzierten – parlamentarischen Institution wichtig. Also gilt es, ein Parlament zwar als nichts anderes denn als eine Hervorbringung von parlamentarischem Akteurshandeln zu verstehen, es aber zugleich nie auf die individuellen Merkmale und Handlungsweisen seiner Akteure zu „reduzieren“.
2.2 Kausalanalyse von Parlamenten Parlamente lassen sich vorzüglich anhand eines schon sehr alten heuristischen Schemas verstehen und erklären: der Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles. Sie handelt von den Mate1 Seit einigen Jahrzehnten sind immer mehr supranationale oder transnationale Vertretungskörperschaften entstanden, deren wichtigste und mächtigste derzeit das Europäische Parlament ist. Zur inzwischen umfangreichen Literatur über solchen „Parlamentarismus jenseits des Nationalstaates“ siehe die einführenden Überblicke bei Patzelt (2004: 111f) und Marschall (2005: 303-313).
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Werner J. Patzelt
rial-, Antriebs-, Zweck- und Formursachen von Systemen oder Institutionen aller Art (siehe Riedl 1985: 80-98). Dabei werden diese Ursachen sowohl jeweils für sich („Haupteffekte“) als auch in wechselseitiger Verschränkung betrachtet („Interaktionseffekte“). Institutionentheorie und das Mikro/Makroproblem Institutionen sind in eine recht klare Form gebrachte Arrangements von sozialen (Rollen-) Strukturen oder von rechtlichen (Norm-) Strukturen, die dadurch stabilisiert werden, dass ihre Ordnungsprinzipien und Geltungsansprüche auch noch symbolisch zum Ausdruck gebracht und dergestalt in emotionale Tiefenschichten ihrer Akteure bzw. Adressaten eingetragen werden. Dabei orientieren Leitideen über das Ziel oder den Zweck gemeinsamen bzw. bei anderen beobachteten Handelns und helfen dergestalt sowohl bei der Deutung als auch bei der Beurteilung von Handlungen. Ist die Herausstellung der Differenz zwischen dem, was „die anderen“ von „den unseren“ trennt, der Bezugspunkt gemeinsamen Handelns, so liegt eine „Leitdifferenz“ vor. Im Übrigen haben Institutionen eine schichtenartige Struktur: Grundlegende Strukturen bzw. Ordnungsprinzipien tragen auf ihnen aufruhende Strukturen und Sinndeutungen, grundlegende Funktionserfüllungen erlauben die Erfüllung zusätzlicher Funktionen.2 Das Mikro/Makro-Problem bei der Analyse von aus sozialen Strukturen bestehenden Institutionen stellt sich dahingehend, dass diese Strukturen nur durch das konkrete (Rollen-) Handeln von Einzelpersonen (d.h.: auf der Mikroebene) hervorgebracht und aufrechterhalten werden, institutionelle Strukturen aber ihrerseits eine nächsthöhere Systemebene darstellen (d.h.: die Makroebene) und auf ihr auch solche Eigenschaften haben, die sich gerade nicht auf die Eigenschaften der sie hervorbringenden Akteure „reduzieren“ lassen, d.h. „emergent“ sind (Heintz 2004). Lösungen des Mikro/Makro-Problems: a. pragmatisch: Man untersucht z.B. individuelle Abgeordnete anhand von Interviewfragen auf ihre eigenen Rollenorientierungen, auf ihre Rollenerwartungen an andere sowie auf ihr eigenes sowie das von ihnen wahrgenommene fremde Rollenverhalten und setzt sodann theoriebildend die auf der Mikroebene des Individuellen ausfindig gemachten Abgeordnetenrollen zum makrostrukturellen Rollengefüge des gesamten Parlaments zusammen (exemplarisch: Wahlke et al. 1972; Searing 1991, 1994). b. grundlagentheoretisch: Makrostrukturen wie Institutionen werden von Menschen dadurch hervorgebracht, dass sie bestimmte Klassen von Mikro-Interaktionen über Tausende von Malen in Tausenden von Alltagssituationen immer wieder gleich vollziehen und es ihnen obendrein gelingt, solche Handlungskompetenz verlässlich an neu in diese Makrostrukturen eintretende Personen weiterzugeben. Dergestalt werden Individuen innerhalb der von ihnen selbst geschaffenen Makrostrukturen austauschbar und gleichsam zu deren wechselnder „Umwelt“, weshalb diese vom Handeln der meisten konkreten Einzelnen tatsächlich unabhängig sind (Patzelt 1987: 145-150).
Nach der „Materialursache“ konkreter Beschaffenheit und Funktionsweise eines Parlaments fragt man so: Woraus besteht das Parlament, und wie wird es von seinen Bestandteilen her geprägt? Hier geht es einesteils um jene Personen, die in Parlamenten als Abgeordnete oder für Parlamente als Mitarbeiter in gleich welchen Funktionen tätig sind, mit ihren so oft durch Ge-
2 Zur hier einschlägigen Institutionentheorie sowie zu ihren Wurzeln im „Neuen Institutionalismus“ und bei Maurice Hauriou, Gerhard Göhler bzw. Karl-Siegbert Rehberg siehe Patzelt (2007c).
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schlecht, Beruf, soziale und regionale Herkunft sowie biographische Sozialisation geprägten Eigentümlichkeiten. Die Parlamentssoziologie im engen Sinn legt genau hierauf ihren Schwerpunkt. Andernteils geht es um jene Wissensbestände und Deutungsschemata, Rechtsnormen und Verhaltensregeln, die ihrerseits gleichsam den „Mörtel“ des jeweiligen Parlaments abgeben (exemplarisch: Schultze-Fielitz 1989; Mayntz 1992; Cox 2000). Derartige „kulturelle Muster“ (Patzelt 2007b: 138-145) stellen – als institutionell eingebürgerte und wechselseitig in kompetenter Verwendung erwartete „handlungsleitende Selbstverständlichkeiten“ – jene „Durchführungsmittel parlamentarischer Alltagspraxis“ dar, die ihrerseits jedem einzelnen Abgeordneten und Parlamentsmitarbeiter bei Beginn seiner Laufbahn zunächst einmal vorgegeben sind (Mergel 2005: 231-312; Auer 1997). Also kann man nur bei deren Aneignung im Prozess parlamentarischer Sozialisation (Searing 1986; Mughan et al. 1997), keineswegs aber ohne ihre gekonnte Anwendung als „kompetentes Mitglied“ dieser Institution gelten. Mit alledem befassen sich, wenngleich noch ohne integrierendes Theorieparadigma, mannigfaltige Studien zur „Parlamentskultur“ (etwa Mayntz/Neidhardt 1989; Bale 1997; Mergel 2005; vgl. auch Patzelt 2007: 108). Ursachen parlamentarischer Strukturen und Prozesse (1) parlamentarische Materialursachen: (a) Persönlichkeit und sozialisatorische Prägung parlamentarischer Akteure; (b) „kulturelle Muster“ parlamentarischer Wirklichkeitskonstruktion (Wissensbestände, Deutungsschemata, Rechtsnormen, Verhaltensregeln …). Das alles wird untersucht durch Parlamentssoziologie im engen Sinn, in kulturwissenschaftlichen Studien zu „parlamentarischen Selbstverständlichkeiten“ sowie mittels juristischer Analysen zum Parlamentsrecht. (2) parlamentarische Antriebsursachen: (a) Handlungsmotive wie Ehrgeiz; (b) taktische Opportunitätsabwägungen parlamentarischer Akteure. Derlei wird untersucht durch Analysen politischer Psychologie sowie durch Studien im Rahmen von Rational choice-Ansätzen. (3) parlamentarische Zweckursachen: (a) Leitideen/Leitdifferenzen von Parlamenten; (b) Rollenorientierungen und Rollenerwartungen parlamentarischer Akteure; (c) Praxis institutioneller Mechanismen. Dergleichen wird untersucht durch ideen- und strukturgeschichtliche Analysen zum Parlamentarismus sowie durch behavioralistische Forschungen über parlamentarische Akteure. (4) parlamentarische Formursachen: (a) konkrete soziale Strukturen von und in Parlamenten; (b) (Grund-) Typen von Parlamenten. Das alles wird untersucht durch juristische, (zeit-)geschichtliche und kultursoziologische Studien institutionenkundlicher sowie systemtypologischer Art.
Nach der „Antriebsursache“ konkreter Beschaffenheit und Funktionsweise eines Parlaments wird hingegen so gefragt: Was sind die Antriebskräfte, die in einem Parlament wirken und es zum Agieren, zur Entfaltung von Tatkraft bringen? Hier geht es um die Handlungsmotive und Kraftquellen sowie um die taktischen Opportunitätsabwägungen von parlamentarischen Akteuren, desgleichen um die Prägefaktoren all dessen. Am intensivsten kümmert sich um solche Themen jene sozialpsychologische Elitenforschung, die Konzepte wie „politische Persönlichkeit“ (Claussen 1988) oder – im Lauf der Zeit auf immer höhere Ziele ausgehenden, also „progressiven“ – „politischen Ehrgeiz“ in den Mittelpunkt ihrer Analysen rückt (Black 1972; Williams/Lascher 1993; Kazee 1994). Doch auch den inzwischen parlamentsso-
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ziologisch weit verbreiteten Rational choice-Analysen liegt, wie schon ihr Name ausdrückt, eine Theorie parlamentarischer Antriebsursachen zugrunde. Nach der „Zweckursache“ konkreter Beschaffenheit und Funktionsweise eines Parlaments fragt man so: Was ist denn der Zweck, die Leistung, also: die Funktion, des jeweils untersuchten Parlaments? Woher kommt diese Funktion, und wie prägt sie das tatsächliche „Funktionieren“ des jeweiligen Parlaments? Hier interessieren – erstens – die Leitideen und Leitdifferenzen von Parlamenten (Patzelt 2007c). Zweitens geht es um jene Zwecksetzungen, welche in den handlungsleitenden Selbstverständlichkeiten parlamentarischer Akteure, also in ihren Rollenorientierungen, tatsächlich aufzufinden sind. Drittens wird festgestellt, zu welchen habitualisierten „Spielzügen“ (sogenannten „institutionellen Mechanismen“, (siehe unten sowie Patzelt 2007c: 323-337) es beim Zusammenwirken mehrerer, ihre Rollen ausfüllender parlamentarischer Akteure aufgrund jener instrumentellen und symbolischen, manifesten und latenten Funktionszusammenhänge kommt, in welche ein Parlament konkret eingebettet ist. Solchen Fragen beantwortet einerseits die „klassische“, dem „behavioralistischen Paradigma“ verbundene empirisch-politikwissenschaftliche Abgeordnetenforschung. Sie tut das, erstens, mit ihren Untersuchungen der Rollenorientierungen von Abgeordneten (Weßels 1999, 2005). Zweitens unternimmt sie das mit ihren Studien zum tatsächlichen Rollenverhalten von Abgeordneten (Patzelt 1993; Müller/Saalfeld 1997; Krieger 1998; Rush 2001), das sich sowohl in deren Arbeitsprofil und Zeitbudget als auch in den so entstehenden und gepflegten gesellschaftlichen Vernetzungen von Abgeordneten ausprägt (Bogdanor 1985; Weßels 1991; Herzog et al. 1993; Patzelt 1995a; Kitschelt 2000; Patzelt/Algasinger 2001). Andererseits befasst sich mit den hier einschlägigen Themen die Ideen- und Strukturgeschichte des Parlamentarismus (zu ersteren siehe Hofmann/Riescher 1999, zur letzteren Patzelt 2007d). Allerdings ist eine vergleichende Parlamentsanalyse, die nicht nur einzelne Parlamente wie die britischen „Houses of Parliament“ oder den US-Kongress hinter die Französische Revolution als eingebürgerter Epochengrenze (Beyme 1999) zurückverfolgte, sondern obendrein die Ständeforschung einbezöge (Rausch 1974/1980), immer noch ein Stiefkind der Parlamentarismusforschung. Dabei erlaubte gerade sie eine ertragreiche Verbindung der parlamentarischen Zweckanalyse mit den Ergebnissen parlamentarischer Formanalyse. Nach der Formursache konkreter Beschaffenheit und Funktionsweise eines Parlaments wird so gefragt: Was ist die zu einem gegebenen Zeitpunkt bestehende „(praktizierte) institutionelle Form“ eines Parlaments, und wie prägt sie fortan dessen Aktivität und Entwicklung (Patzelt 2007c, 2007d; Lempp 2007)? Hier interessieren jene Strukturen sowie deren geordnete Kohärenz, die sich Parlamente im Lauf der Zeit geschaffen haben: ihre Arbeits- und Steuerungsstrukturen wie Präsidien, Ältestenräte und Runden Parlamentarischer Geschäftsführer, ihre Fachstrukturen wie die Ausschüsse und die Fraktionsarbeitsgruppen (Sommer/ Westphalen 1993; Schüttemeyer 1994; Strøm 1995), die Fraktionen selbst (Schüttemeyer 1998; Helms 1999) sowie die parlamentarischen Hilfsdienste und Verwaltungsstrukturen. Gewiss unter Prägewirkung der funktionellen Anforderungen an dieses Parlament, doch in vielen Zügen einst auch eher zufällig („kontingent“) entstanden, kanalisieren solche Strukturen fortan die weitere Entwicklung des jeweiligen Parlaments bzw. seiner Kultur und
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geben ihm dergestalt einen von einst eingeschlagenen Entwicklungspfaden abhängigen und darum „gerichteten“ Werdegang. Ansatz und Grundbegriffe funktionsanalytischer Parlamentssoziologie 1. Fragestellung: Welche Leistungen (= Funktionen) erbringen Parlamente anhand welcher – von konkreten Akteuren reproduzierter und genutzter – Strukturen für das sie umbettende politische System (Patzelt 2003; Marschall 2005)? 2. (Vergleichend) zu untersuchende Parlamentsfunktionen und ihre Akteure: auf die Repräsentierten bezogene Leistungen von Parlamenten: Vernetzung zwischen zentralem politischen Entscheidungssystem und Gesellschaft, Responsivität hinsichtlich gesellschaftlicher Probleme und Forderungen, kommunikative Führung gegenüber der Gesellschaft („Erklären von und Werben für Politik“), Darstellung parlamentarischer Leistungserbringung. auf die Regierung bezogene Leistungen von Parlamenten: gegebenenfalls (und damit den Typ des parlamentarischen Regierungssystems herbeiführend) die mittelbare oder unmittelbare Kreation der Regierung durch Wahl, Vertrauensfrage, unterlassenes Misstrauensvotum usw.; in (fast) jedem Fall: Regierungskontrolle, Gesetzgebung, sonstige Wahlfunktionen. auf das Parlament selbst bezogene Leistungen von Parlamenten: Selbstorganisation, normative Selbstreproduktion, personelle Selbstreproduktion. 3. Begriffe zur vertieften Analyse von Systemfunktionen:3 Instrumentelle Funktionen sind Leistungen, die ein System seinen Akteuren bzw. Adressaten in Erfüllung eben jener Zwecke erbringt, derentwillen es besteht. Durch die Erfüllung instrumenteller Funktionen sichern Systeme ihren Bestand von ihrer Steuerungsaufgabe her, indem sie nämlich Effizienz entfalten und sich ihren Akteuren und Adressaten als nützlich erweisen. Symbolische Funktionen sind Leistungen, die ein System für seine Akteure bzw. Adressaten mit dem Ziel der Sicherung jener Geltungsansprüche und Ordnungsprinzipien erbringt, die ihrerseits den Zweck des Systems und die Zweckhaftigkeit seines Ordnungsarrangements als wertvoll bzw. glaubhaft erscheinen lassen. Durch die Erfüllung symbolischer Funktionen sichern Systeme ihren Bestand von ihrer Integrationsaufgabe her, indem sie nämlich die Tiefenschicht emotionaler Verbundenheit mit sich ansprechen, etwa von Repräsentations- und Legitimationsglauben. Manifeste Funktionen bzw. deren Erfüllung sind solche Leistungen eines Systems, die schon von dessen Leitidee(n) oder Leitdifferenz(en) als dessen Zweck ausgewiesen werden. Manifest sind Funktionen oder Funktionserfüllungen auch dann, wenn die Akteure oder Adressaten eines Systems sie ganz einfach beabsichtigen, erwarten oder wenigstens in Rechnung stellen. Latente Funktionen sind alle anderen Leistungen, welche ein System zusätzlich zu seinem in seiner Leitidee (oder in seinen Leitideen) verankerten Zweck erfüllt oder welche es im Widerspruch hierzu ohne darauf gerichtete Erwartungen bzw. Aufmerksamkeit des allergrößten Teils seiner Akteure oder Adressaten erbringt.
Aufgrund solcher „Pfadabhängigkeit“ (Ackermann 2001) wird die einmal geprägte Form dieses Parlaments in oft erstaunlich stabiler Weise reproduziert bzw. tradiert und verfestigen sich unterschiedliche „Grundtypen“ von Parlamenten. Diese können – wie der „klas3 Ihre empirischen Referenten lassen sich vorzüglich in einer Vier-Felder-Tafel ordnen: „instrumentell“ und „symbolisch“ sind die Bezeichnungen der Spalten, „manifest“ und „latent“ die der Zeilen.
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sisch-altliberale“ Parlamentstyp (Schütt-Wetschky 1984) – große normative Beharrungskraft selbst dann aufweisen, wenn sie sich angesichts stark veränderter funktioneller Anforderungen zu bewähren haben und sich in der Praxis wandeln müssen, etwa hin zum Fraktionenparlament mit selbstverständlicher Fraktionsdisziplin. Doch solchem „Sein“ muss das „Bewusstsein“ durchaus nicht folgen, was dann eine Art „latenten Verfassungskonflikt“ zwischen tatsächlicher und unterstellter Verfassung bzw. zwischen den Befürwortern des Neuen und den Verfechtern des Alten herbeiführt (Patzelt 1998a). Ein solcher Konflikt äußert sich in vielfältigen Spannungen zwischen der realisierten institutionellen Form eines Parlaments und den sie tragenden oder adressierenden Deutungsmustern, Bewertungen sowie Symbolisierungen. Vor allem vergleichende Untersuchungen der so variantenreichen Senate, Oberhäuser oder Bundesräte unterschiedlichster Staaten (z.B. Patterson/Mugham 1999; Patzelt 2007d) verhelfen dazu, derartige Spannungsverhältnisse sowie die hinter ihnen wirkenden Faktoren historischer Kontingenz und Pfadabhängigkeit zu erkennen, zu verstehen und zu erklären. Einige Ergebnisse empirischer Abgeordnetenforschung für Deutschland (1) Begriffe wie „freies“ oder „imperatives“ Mandat sind nicht geeignet, das Amtsverständnis von Abgeordneten zu erfassen (Steffani 1981; Patzelt 1993). Viel besser leistet das die unten vorgestellte Prinzipal-Agent-Theorie in Verbindung mit einer Differenzierung von Abgeordnetenrollen nach den jeweils dominant erfüllten Parlamentsfunktionen. (2) Abgeordnete absolvieren im Durchschnitt rund 80-Stunden-Arbeitswochen, wobei das Parlament mit rund 50% der Arbeitszeit, der Wahlkreis und die eigene Partei mit je rund 25% der Arbeitszeit die zentralen Stätten ihrer Berufsarbeit sind (Kevenhörster/Wulf 1973; Patzelt 1995: 56, 76). (3) Abgeordnete schaffen und nutzen bei ihrer Arbeit sehr dichte Kommunikations- und Interaktionsnetzwerke, die intensiv in die Bereiche der Kommunalpolitik, der Partei, von Interessengruppen sowie der gesellschaftlich halbwegs aktiven Wahlkreisbevölkerung hineinreichen (Patzelt/Algasinger 2001). (4) Die Bevölkerung missversteht wichtige Züge des deutschen Parlamentarismus, beurteilt ihn sowie die Abgeordneten oft anhand unangemessener Maßstäbe und gelangt darum zu oft wenig sachdienlichen „Verbesserungsvorschlägen“. Insbesondere die Prägung des deutschen Parlamentarismus durch Parteien und offenen Streit wird kritisiert (Patzelt 1998a, 2005).
Konkrete Studien zu alledem fallen, erstens, in den Gegenstandsbereich einer juristisch geprägten Parlamentarismusforschung. Immerhin wird die institutionelle Form eines Parlaments sehr stark – wenn auch nicht allein – von jenen formalen Normen bestimmt, die im Lauf der Zeit auf der Ebene von Geschäftsordnungs-, Gesetzes- oder Verfassungsrecht geschaffen wurden: Sie geben den parlamentarischen Akteuren Aufgaben, Arbeitstakt und Grundmuster ihres Zusammenwirkens vor. Doch um diese formalen Normen herum entwickeln sich stets auch vielerlei nicht minder verhaltensregulierende und verhaltensstabilisierende informale Normen als handlungsleitende Selbstverständlichkeiten (Hanke 1994), desgleichen mancherlei Varianten eines solchen Verhaltens, das der institutionellen Form (gerade noch) entspricht. Das alles zu untersuchen, gehört – zweitens – zur schon erwähnten Analyse von Parlamentskultur. Drittens beschäftigt sich mit alledem die „institutionelle Analyse“ von Parlamenten, wie sie im Dresdner Sonderforschungsbereich „Institutionalität
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und Geschichtlichkeit“ entwickelt wurde (Patzelt 2003, 2005a, 2007c). Viertens lassen sich die dabei gewonnenen empirischen, theoretischen und auch methodischen Einsichten in die Formursachen von Institutionen in Gestalt einer „Morphologie der Parlamente“ für sehr weit gespannte, auch historische Vergleichsstudien fruchtbar machen (Patzelt 2007d). Letztere können gut die bisherigen Ansätze parlamentssoziologischer Typenbildung fortführen und von statischen Strukturtypologien zu dynamischen Prozesstypologien übergehen (Polsby 1975; Mezey 1979 und den Überblick in Marschall 2005: 186-193).
2.3 Konstruktionsanalyse von Parlamenten Auch wenn manche Strukturen und Funktionsabläufe eines Parlaments wie selbstverständlich wirken, sind sie keine „an sich schon“ vorhandenen Dinge. Sie mögen zwar – wie die Eigentümlichkeiten des bundesdeutschen Parlamentarismus – als verlässlich gegebene oder gar unveränderliche soziale Tatsachen erscheinen. Doch so erschien einst auch die Parlamentskultur der sozialistischen DDR-Volkskammer, wandelte sich aber tiefgreifend in der so kurzen Zeitspanne zwischen Juni und November 1989 (Schirmer 2005). Etwas langsamer, doch nicht minder fundamental änderte sich parlamentarische Wirklichkeit des Weimarer Reichstages zwischen 1930 und 1933 (Mergel 2005). In noch allmählicheren Prozessen wurden aus etlichen westlich-autoritären bzw. (post-)sozialistischen Vertretungskörperschaften Parlamente von der Art demokratischer Staaten (Olson/Norton 1996; Kraatz/Steinsdorff 2002). Das zeigt: Parlamentarische handlungsleitende Selbstverständlichkeiten, anhand ihrer hervorgebrachte parlamentarische Strukturen sowie die mittels dieser vollzogenen parlamentarischen Funktionen, zusammenfassend „parlamentarische Wirklichkeit“ oder „Parlamentskultur“ genannt, sind Erzeugnisse, sind „Prozessprodukte“ kunstvoll stabilisierter Alltagspraxen, die es auch ihrerseits deutend zu verstehen und ursächlich zu erklären gilt (Patzelt 1987; Giddens 1988). Dieser Konstruktcharakter parlamentarischer Wirklichkeit bleibt in der „natürlichen Einstellung“ des Alltagslebens zwar meist unbemerkt, wenigstens außerhalb von Krisenzeiten eines Parlaments bzw. Regierungssystems. Doch wann immer eine Partei ins Parlament einzieht, die dessen etablierte Spielregeln bzw. Leitidee(n) ignoriert oder gar bekämpft, wird unweigerlich klar, dass dessen Kultur und (praktizierte) institutionelle Form durchaus nicht nachhaltig selbsttragend sind, sondern steter Pflege, dauernden „Neubewirktwerdens“ bedürfen, um auch weiterhin das Geschehen im Parlament und dessen weitere Entwicklung zu prägen. Parlamentarische Strukturen und die in ihnen wirkenden institutionellen Mechanismen sind somit keine „urheberlosen Dinge“, sondern störanfällige Hervorbringungen konkreter Sinndeutungs- und Handlungspraxen parlamentarischer Akteure. Deshalb muss die Untersuchung jener Prozesse und Praktiken, mittels welcher die soziale Konstruktion, Reproduktion, Modifikation und gegebenenfalls Destruktion parlamentarischer Wirklichkeit gelingt, ebenfalls ein wichtiges Thema parlamentssoziologischer Forschung sein. Auch kommt nirgendwo besser jener spezifisch soziologische Blickwinkel zur Geltung, der juristischen, rein geschichtswissenschaftlichen und an aktuellen Entwicklungen interessierten politikwissenschaftlichen Parlamentsstudien oft so markant fehlt.
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„Konstruktivismus“ Sammelbezeichnung für eine Vielzahl erkenntnistheoretischer und sozialwissenschaftlicher Theorieansätze, die Antworten auf die folgenden Fragen geben: Was ist Wirklichkeit? Wie erzeugt man welche Art von Wirklichkeit? Wie erkennt man Wirklichkeit? Die Antworten auf diese Fragen reichen von höchst radikalen und allem Anschein nach empirisch falschen Thesen bis zu höchst plausiblen Aussagen: (1) radikale Thesen Es gibt keine „Wirklichkeit da draußen“, sondern alles, was angeblich „ist“, stellt bloß eine Konstruktion menschlichen Denkens und Kommunizierens dar. Allenfalls kann man die Weise und die Machart solchen Konstruierens erkennen; hingegen ist die Frage nach der Beschaffenheit „der Wirklichkeit“ schon im Ansatz verfehlt. (2) plausible Aussagen: a. „Wirklichkeit da draußen“ besteht sehr wohl („hypothetischer Realismus“), lässt sich aber nie „als solche“, sondern immer nur innerhalb der Kategorienraster unserer Begriffe und Theorien erfassen. Also konstruieren wir sehr wohl unsere Bilder von der Wirklichkeit und sind für deren Brauchbarkeit verantwortlich. b. Tatsächlich gibt es große Teile der „Wirklichkeit da draußen“ nur aufgrund einstigen oder derzeit weiterlaufenden menschlichen Handelns, so die Erscheinungsformen menschlicher Kultur und ohnehin alle Bestandteile sozialer Wirklichkeit wie Rollen und Institutionen. Die sie herbeiführenden Konstruktionsprozesse gilt es zu untersuchen, etwa mit den Ansätzen von Symbolischem Interaktionismus und Ethnomethodologie.
Einem plausiblen Konstruktivismus (Fleischer 2005) verpflichtet, kann die Parlamentssoziologie noch vielerlei Brachland bestellen. Neben Beobachtungsstudien in der Art von Marc Abélès (2000) oder im Anschluss an Interviewstudien wie von Jürgen v. Oertzen (2006) wären zumal Sekundäranalysen von Praktikerberichten parlamentarischer Akteure wünschenswert. Solche finden sich einesteils in der – systematisch etwa von Barbara Wasner (1998) bearbeiteten – (Memoiren-) Literatur von Abgeordneten (etwa: Hauck 1990), andernteils in Publikationen zur politischen Arbeit aus der Feder von Journalisten (exemplarisch: Leinemann 2004). Gut zu erheben und auszuwerten wäre all dieses Material anhand der analytischen Kategorien einer ethnomethodologischen, an den wirklichkeitskonstruktiven Praxen interessierten „Soziologie des parlamentarischen Alltags“ (Patzelt 1984, 1987). Sie erlaubte auch fruchtbare Re-Analysen einesteils der schon vorliegenden und bereits deskriptiv höchst aufschlussreichen (quasi-) ethnologischen Untersuchungen zum Parlamentarieralltag (etwa Fenno 1973, 1978), andernteils der materialreichen historischen Studien zum parlamentarischen Alltag (z.B. Bonnefond-Coudry 1989). Auch die aus dem Dresdner Sonderforschungsbereich „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ hervorgegangenen Arbeiten zur Praxis parlamentarischer Selbstsymbolisierung, Funktionserfüllung, Machtentfaltung und Zeitstrukturierung thematisieren solche Generierung, Stabilisierung und Reproduktion parlamentarischer Strukturen (Patzelt 2001, 2003, 2005a, 2007a; Patzelt/Dreischer 2008; ferner Patzelt 2006). Parallel hierzu hat sich in den letzten Jahren das kultursoziologische Forschungsfeld einer – freilich oft eher deskriptiven – Untersuchung parlamentarischer Symbole, Architektur, Rituale und Zeremonien entwickelt (u.a. Müller 2001; Dörner 2002; Crewe/ Müller 2006; Manow 2006).
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Doch zu einem wirklich integrierten Ansatz der Analyse parlamentarischer Wirklichkeitskonstruktion und zu einem kumulativen Forschungsfeld ist das alles noch nicht gediehen (vgl. aber Mergel 2005: 17-26). Dabei wäre dieses Forschungsfeld höchst fruchtbar: Parlamentarische Akteure handeln – und zwar nicht nur bei politischen Themen, sondern auch beim Umgang mit ihren institutionellen Strukturen – auf der Grundlage von persönlichen Situationsdefinitionen und kollektiven Überzeugungssystemen; diese mögen mitunter zwar rein kommunikative Konstruktionen sein sowie ganz ideologischen, reale Gegebenheiten völlig verzeichnenden Gehalts; doch jene Handlungen, zu denen parlamentarische Akteure auf der Grundlage ihrer Situationsdefinitionen gelangen, sind ebenso wie deren Konsequenzen völlig real – ganz gleich, wie irreal die ihnen zugrunde liegende Situationsdefinition gewesen sein mag (Thomas 1972). Also stellt sich auch die spannende Frage, was aus mitunter „rein ideologischen“ Handlungen in der Praxis parlamentarischer Wirklichkeit wird – und zwar mit Konsequenzen einesteils für diese selbst, andernteils für jene Akteure, die solche Handlungen vornehmen.
2.4 Evolutionsanalyse von Parlamenten Jeder wird wissen, dass die meisten Parlamente, und die gut funktionierenden zumal, keine nach Blaupausen errichteten Institutionen sind. Sie sind vielmehr „geschichtlich gewachsen“. Doch was heißt das – und geht derlei auch Parlamentssoziologen, nicht nur Parlamentshistoriker an? Gewiss zeigt der Blick in die reichhaltige Literatur zur Geschichte von Parlamenten (Patzelt 2007d, 2007e), dass diese über Geschehenes und Gewordenes, auch über zufällige Verknüpfungen fortan weichenstellender Faktoren sowie über deren anschließend prägende Wirkungen sehr gut, wenngleich nicht ohne Lücken informiert. Doch was die gewonnenen Einsichten in die Prozesse des parlamentarischen Werdens und Wandels „auf theoretischer Ebene bedeuten“, was somit als den Einzelfall wohl übergreifendes Muster, was anderes hingegen als ganz unwiederholbare Handlungskette eines Einzelfalls gelten kann, das bleibt in der Regel im Dunklen. Über die beschreibende Untersuchung des Gewesenen geht die Parlamentshistorie also kaum hinaus. Allerdings sind parlamentarische Entwicklungsprozesse immer schon Gegenstand nicht nur der politikwissenschaftlichen Parlamentarismusforschung gewesen (Loewenberg et al. 1985), sondern auch der Parlamentssoziologie in engeren Sinn. Einesteils wurden – auch zeitlich weit ausgreifend (siehe Best/Cotta 2000) – Veränderungen im sozialen Hintergrund und in den Biographien bzw. Karrieren von Parlamentariern untersucht. Andernteils wurden jene parlamentarischen Sozialisationsprozesse und deren Folgen studiert, die sich aus der jeweiligen Zusammensetzung eines Parlaments und den zu ihr führenden Rekrutierungsmustern ergeben. Dahinter stand die Annahme, dass die soziale Zusammensetzung eines Parlaments folgenreich für dessen Funktionieren, Politikergebnisse und insgesamt auch Legitimitätslage sein wird, und dass es pfadabhängige Prozesse dahingehend geben dürfte, dass heute vorgenommene Änderungen in der sozialen Zusammensetzung eines Parlaments morgen auch dessen institutionelle Form und Rolle im Funktionsgefüge des politischen Systems wandeln können. Derartige Überlegungen führen aber geradewegs zu einer solchen sozialwissenschaftlichen Entwicklungsanalyse von Parlamenten, bei welcher
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der Begriff der Evolution eben nicht einfach als Gegenbegriff zum dem der Revolution oder als Synonym für „Wandel“ verwendet wird (Patzelt 2007a; Lempp 2007). Das gelingt am leichtesten anhand des Konzepts der „institutionellen Generation“ (Patzelt 2007d: 492-503). Von Abgeordneten und Parlamentsmitarbeitern werden die tragenden handlungsleitenden Selbstverständlichkeiten parlamentarischer Strukturen in gelingenden Prozessen parlamentarischer Sozialisation an nachrückende Institutionsmitglieder weitergegeben (Cutler 1977). Werden die Neulinge nach einiger Zeit zu auch ihrerseits „wirklichkeitskonstruktiv kompetenten Mitgliedern“, so gelingt die Tradierung sozialer Strukturen und können diese den Generationenwechsel überdauern. Gewiss wird es immer wieder zu schlecht gelingenden Sozialisationsprozessen oder gar zu scheiternden Tradierungsversuchen kommen. Als deren Ergebnis werden sich parlamentarische Strukturen wandeln oder zurückbilden. So verstanden, erfasst der Begriff der „parlamentarischen Generation“ gerade nicht eine Art Nacheinander von „Mutterinstitutionen“ und „Kinderinstitutionen“, so als ob die europäischen Landstände gleichsam die „(Groß-)Eltern“ unserer Parlamente gewesen wären. Vielmehr sind parlamentarische Generationen jene mehr oder minder durch gemeinsame Sozialisationserlebnisse und Gruppenerfahrungen geprägten Alterskohorten, die zu einer gewissen Zeit in ein Parlament eintreten, dort sozialisiert werden und ihre Institution sodann – im variablen Mischungsverhältnis mit ihren Vorgängern bzw. Nachfolgern – aufrechterhalten sowie nach einiger Zeit wieder verlassen. Dergestalt verhalten sich immer neue Generationen von parlamentarischen Akteuren zu ihrer Institution wie Generationen von Lebewesen zu ihrer Art: Die letztere besteht nie ohne die sie jeweils realisierenden Individuen; doch es kommen und gehen die Mitglieder der Institution, während diese selbst fortdauert – wie das englische Parlament seit vielen Jahrhunderten. Selten wird eine neue Abgeordnetengeneration einfach eine Kopie ihrer Vorgänger sein: Menschen mit anderen Hintergründen, Wissensbeständen und Erfahrungen gelangen ins Parlament; institutionelle Sozialisation erfolgt unter verschiedenen, jeweils Anderes wichtig machenden Bedingungen; und nicht selten wird von Neulingen auch etliches abgelehnt, woran sich etablierte parlamentarische Akteure längst gewöhnt haben. Also verändern sich beim Nachrücken einer institutionellen Generation durchaus die handlungsleitenden Selbstverständlichkeiten, die kulturellen Muster des jeweiligen Parlaments. Es kommt gleichsam zu einem „Mehrangebot“ an bislang für diese Institution gar nicht nötigen Wissensbeständen, Deutungsschemata oder Handlungsbereitschaften. An solcher „Überproduktion“ von kulturellen Mustern setzen sodann Selektionsprozesse an.
Institutionenevolution – am Beispiel von Parlamenten (1) Was evolviert an Parlamenten? Es evolviert jeweils die institutionelle Form. Sie besteht in sozialen oder rechtlichen Strukturen, die in wechselseitig recht erwartungssicher ablaufenden Ketten sozialen Handelns und dabei anhand verschiedenartiger kultureller Muster (handlungsleitende Selbstverständlichkeiten, formale und informale Normen usw.) produziert und reproduziert werden. Wie sich das im Einzelnen vollzieht, untersucht die parlamentssoziologische Konstruktionsanalyse.
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(2) Was ist eine „parlamentarische Generation“? Sie ist eine Kohorte von parlamentarischen Neulingen, die in ein Parlament gelangt, dort zu „kompetenten Mitgliedern“ sozialisiert wird, die institutionelle Form des Parlaments – gemeinsam mit anderen – gewisse Zeit lang aufrechtherhält, sie mehr oder weniger genau an Nachfolger weitergibt und selbst irgendwann wieder ausscheidet. (3) Wie verläuft die Replikation der institutionellen Form eines Parlaments? Parlamentarische Akteure geben die bei der Konstruktion und Reproduktion von dessen Rollenstrukturen und sozialer Wirklichkeit benutzten kulturellen Muster durch persönliches Beispiel, Erläuterungen oder einfach konkludentes Handeln an parlamentarische Neulinge weiter. Auf diese Weise sozialisieren sie diese zu auch ihrerseits mehr oder minder kompetenten Mitgliedern. (4) Wie kommt es zu Variation oder Überproduktion, woran Selektion ansetzen kann? Aus mannigfaltigen Gründen werden bisherige kulturelle Muster eines Parlaments nicht unverändert weitergeben, etwa: parlamentarische Neulinge deuten manches Überkommene um oder machen es sich absichtlich nicht zu eigen; erfahrene Parlamentarier raten aufgrund eigener Erfahrungen zu Abänderungen bisheriger Selbstverständlichkeiten; Nachlässigkeiten oder andersgerichtete Aufmerksamkeitsvorlieben führen zu „Weitergabefehlern“; es treten zu viele Neulinge ein, als dass sie mit gewisser Einheitlichkeit sozialisiert werden könnten usw. (5) Wie vollzieht sich Selektion? (a) „innere Selektionsfaktoren“: Schwer oder praktisch gar nicht zu verändern sind oft solche Regeln oder Praxen, von denen ihrerseits die Plausibilität vieler weiterer Regeln oder Praxen abhängt, des-gleichen Strukturen, von deren Vorhandensein und Funktionserfüllung das verlässliche Vorhandensein weiterer Strukturen und die verlässliche Erfüllung von deren Funktionen abhängt. Erstere heißen „strukturell bebürdete“ Regeln und Praxen, letztere „funktionell bebürdete“ Strukturen. (b) „äußere Selektionsfaktoren“: Die funktionellen Anforderungen, die ein umbettendes politisches System an ein Parlament stellt, sondern aus jenen Veränderungen, die das Ausleseverfahren innerer Selektionsfaktoren überstanden haben, nun auch noch jene aus, welche diese funktionellen Anforderungen weiterhin nicht mehr zu erfüllen erlauben. Es wirkt folgender „Mechanismus“: Gelingt keine weitere Funktionserfüllung, dann erfolgt auch keine weitere Zufuhr nötiger Ressourcen – und misslingt danach der Weiterbestand eines Systems mit so dysfunktionalen Strukturen. (6) Ist Parlamentsevolution ein Prozess „mit Richtung“? Ja, weil das – ansonsten weitgehend zufallsgetriebene – Wechselspiel von inneren und äußeren Selektionsfaktoren nicht jede beliebige Veränderung an den kulturellen Mustern und Strukturen eines Parlaments zu jedem beliebigen Zeitpunkt erlaubt. Es „privilegiert“ vielmehr solche Veränderungen, die einesteils zur schon bestehenden institutionellen Form des Parlaments, andernteils zu den – oft ja weiterbestehenden – funktionellen Anforderung an dieses Parlament passen und somit, in Gegenzug für deren Erfüllung, für weitere Ressourcenzufuhr
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sorgen. Bezeichnet wird diese richtungsgebende, doch keineswegs „determinierende“ Prägewirkung einer einmal geschaffenen institutionellen Form und ihrer Funktionslogik auf die eigene Zukunft als „Teleonomie“ (Patzelt 2007e: 257-264). Was deren Auslesewirkung übersteht, wird Teil der fortan verfügbaren und wechselseitig erwarteten handlungsleitenden Selbstverständlichkeiten. Anhand ihrer wird das Parlament dann weiterhin sozial (re-) konstruiert. Dabei kann sich seine (praktizierte) institutionelle Form verändern: in Abhängigkeit einesteils von jenen Veränderungsraten, die beim Generationenzugang und bei institutionellen Sozialisationsprozessen auftreten, und andernteils von der gemeinsamen Wirkungsweise der „inneren“ und „äußeren“ Selektionsfaktoren. Eben diese Veränderungsprozesse gilt es bei Studien zur Geschichte von Parlamenten sowohl faktengetreu zu beschreiben als auch anhand der hier vorgestellten Kategorien zu analysieren. Genau das überführt die geschichtswissenschaftliche Nachzeichnung von Institutionenwandel in eine sozialwissenschaftliche Untersuchung von Evolutionsprozessen. Bei solchen tun zunächst die inneren Selektionsfaktoren ihr Werk. Besonders schwer oder praktisch gar nicht zu verändern sind oft solche Regeln oder Praxen, von denen die Plausibilität vieler weiterer Regeln oder Praxen abhängt. Mit derartigen „abhängigen“ Regeln bzw. Praxen ist somit die für deren Plausibilität sorgende „basale“ Regel oder Praxis gleichsam „bebürdet“ (Demuth 2007). Das lässt sich leicht an der Auslegung und Anwendung der Geschäftsordnungsregeln eines Parlaments veranschaulichen: „Richtiger“ Umgang mit diesen ist an eine bestimmte Vorstellung vom Zweck des Parlaments gekoppelt, und eben das hat eine asymmetrische Beziehung zur Folge. Sehr wohl würde sich nämlich der Umgang mit der Geschäftsordnung dann ändern, wenn sich jene tatsächlich befolgte Leitidee des Parlaments veränderte, an welche die Auslegung und Handhabung der Geschäftsordnung gekoppelt ist. Letzteres wäre gerade dann für die Geschäftsordnung folgenreich, wenn die neue Leitidee der bisherigen Geschäftsordnungspraxis widerspräche. Hingegen würde eine der tatsächlich befolgten Leitidee des Parlaments widersprechende Veränderung der Geschäftsordnung sich in der Praxis unplausibel, vielleicht sogar kontraproduktiv auswirken und darum rasch außer Vollzug gesetzt. Machte man sie gleichwohl handlungsprägend, so würde die Funktionserfüllung des Parlaments beeinträchtigt – im Extremfall bis hin zu dessen Wirkungslosigkeit und dann leicht möglicher Abtrennung von seinen Macht- und Legitimitätsressourcen. Also trägt die Leitidee des Parlaments die Geschäftsordnungspraxis, ist aber nicht die Handhabung der Geschäftsordnung mit der Leitidee bebürdet.4 Genau in dieser hermeneutisch-praktischen Ankerfunktion der Leitidee, in ihrer tragenden Rolle für weitere handlungsleitende und strukturgenerierende Selbstverständlichkeiten, besteht ihre „strukturelle Bürde“ (Patzelt 2007b: 138-145, 2007c: 305-314). Innere Selektionsfaktoren, geschaffen durch strukturelle Bebürdungen, wirken somit dann auslesend, wenn Veränderungsversuche parlamentarischer Vorstellungen oder Praxen an Trägerschichten struktureller Bürden ansetzen, d.h. an solchen kulturellen Mustern, die 4 Ein weiteres Beispiel mag hilfreich sein. Ist etwa im Leitideenbündel eines Parlaments besonders stark die Vorstellung verankert, Parlamentarier sollten in intensiver Ausschussarbeit an Gesetzesvorlagen arbeiten, so werden all jene Veränderungsvorschläge zur Parlamentspraxis geringe Umsetzungschancen bzw. wenig Folgen haben, welche die Abgeordneten zu großer Präsenz im Plenarsaal anhalten wollen: Sie passen nicht zum gelebten Leitbild, von dem aus parlamentarische Aktivitäten nach ihrer Wertigkeit beurteilt und dann auch vollzogen werden.
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weitere handlungsleitende Selbstverständlichkeiten einer Institution tragen. Also äußert sich die Selektionswirkung struktureller Bebürdungen oft darin, dass man mit einer Veränderung schlechte Erfahrungen macht, diese Neuerung darum ihre Plausibilität verliert und alsbald außer Gebrauch gerät. Nicht selten wird man sich auf eine vorgeschlagene Veränderung aber auch gar nicht einlassen, weil es mit ihr bereits schlechte Erfahrungen gab oder solche künftig befürchtet werden. Zu den inneren Selektionsfaktoren gehören aber auch Schichten funktioneller Bebürdung. Solche liegen vor, wenn von der verlässlichen Erfüllung einer bestimmten Funktion auch die Erfüllung einer Reihe weiterer Funktionen abhängt. Falls es etwa zu den Funktionen eines Parlaments gehört, mit seiner Mehrheit eine möglichst stabile Regierung zu tragen, dann werden alle Versuche entweder fatal enden oder von vornherein verpuffen, in den Reihen der regierungstragenden Abgeordneten eine Auflockerung von Fraktionsdisziplin herbeizuführen. Meist endet derlei schon im Ansatz, und zwar aufgrund der vorauswirkenden Einsicht in die wenig wünschenswerten, ja möglichst abzuwendenden Konsequenzen des Verzichts auf ein ganz selbstverständliches Agieren als – scharfer Konkurrenz ausgesetzte – parlamentarische Mannschaft. Misslingt nämlich das Durchhalten von Fraktionsdisziplin, so wird im parlamentarischen Regierungssystem kein klarer Regierungskurs zu halten sein und damit auch die Parlamentsfunktion notleidend, durch Richtungskontrolle für einen solchen Kurs zu sorgen. Das wiederum werden viele Parlamentarier vorhersehen und dann, um derlei zu verhindern, selbst gegen inneres Widerstreben ihren Teil zur weiteren Aufrechterhaltung von Fraktionsdisziplin beitragen (Hazan 2006). Die hier einschlägige Funktionshierarchie endet also „oben“ in Regierungsstabilität, hat als nächstniedrigere Trägerschicht die „konstruktive Richtungskontrolle“ der Regierung, und dieser liegt wiederum „Fraktionsdisziplin“ zugrunde, die ihrerseits in bejahtem Mannschaftsgeist gründet. In dieser tragenden Rolle für weitere Funktionserfüllungen liegt die funktionelle Bebürdung der handlungsleitenden, für Abgeordnete im parlamentarischen Regierungssystem selbstverständlichen kulturellen Muster „Mannschaftsgeist“ und „Fraktionsdisziplin“. Auch hier besteht eine asymmetrische Koppelung. Schwindet nämlich „Mannschaftsgeist“, so wandeln sich auch die mit ihm verbundenen handlungsleitenden Selbstverständlichkeiten der „Fraktionsdisziplin“, „konstruktiven Richtungskontrolle“ und „Regierungsstabilität“. Hingegen wird im parlamentarischen Regierungssystem sogar eine Regierung mit ganz erratischem Kurs eher sich selbst zu Fall bringen als bewirken, dass sich der parlamentarische Vorstellungskomplex auflöst, eigentlich solle es zwischen der Regierung und ihrer Parlamentsmehrheit solchen Mannschaftsgeist geben, der fraglose Regierungsstabilität mit gern praktizierter Fraktionsdisziplin verbindet. Im Übrigen wirken funktionelle Bebürdungssysteme als innere Selektionsfaktoren in der gleichen Weise wie strukturelle Bebürdungssysteme: Man erlebt, typischerweise als „ungeplante Nebenwirkung geplanter Handlungen“, dass sich eine Veränderung recht nachteilig für mancherlei weiterhin als wichtig erachtete Funktionsabläufe auswirkt; und deshalb wird eine solche Änderung schnell rückgängig gemacht bzw. um ihren ursprünglichen Gebrauch gebracht, oder man lässt sich – aufgrund schon gemachter oder vorausgeahnter schlechter Erfahrungen – ohnehin nicht auf sie ein. Das alles zeigt: Wo von Veränderungswünschen die Träger wichtiger funktioneller oder struktureller Bürden abträglich betroffen sind, werden solche Veränderungswünsche, ja selbst manche schon vereinbarten Verfahrensänderungen, in der parlamentarischen Pra-
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xis wegselektiert: Sie passen entweder nicht zu den als selbstverständlich gehandhabten kulturellen Mustern des Parlaments oder beeinträchtigen die parlamentarische Funktionserfüllung. Im gravierenden Fall mag sich derartige Wegselektion so vollziehen, dass sich ein Parlament durch Neuerungen in Funktionsprobleme stürzt, sich dabei bis zur Funktionsuntüchtigkeit verändert, alsbald – wie jenes der IV. Französischen Republik – mitsamt seinem politischen System in eine Existenzkrise gerät und schließlich in einem neu errichteten politischen System, wie dem der V. Republik, seine einst die Funktionstüchtigkeit störenden Elemente „wegrationalisiert“ bekommt. Dann haben freilich auch schon die äußeren Selektionsfaktoren zu wirken begonnen. Nicht alle möglichen Regeln oder Praxen eines Parlaments sind ja in der gleichen Weise oder Wirksamkeit geeignet, es jene Leistungen erfüllen zu lassen, welcher das politische System für gutes Funktionieren bedarf oder deren Erbringung schlechterdings erforderlich ist, falls es zu keiner Staatskrise kommen soll. Versagt etwa in einem (semi-)präsidentiellen Regierungssystem (Marschall 2005: 60-67) ein Parlament bei der Aufgabe, eine handlungsfähige Regierung ins Amt zu bringen oder im Amt zu halten, wie es den Parlamenten der Weimarer Republik oder der IV. Französischen Republik widerfuhr, dann verlagert sich zunächst die politische Macht vom Parlament weg entweder nach oben zum Staatschef oder nach unten auf die Straße. Alsbald mag ein System- oder Regimewechsel die Folge sein – im schlimmsten Fall dahingehend, dass das Parlament, wie der Reichstag im Nationalsozialismus, seine Stellung und Funktion völlig verliert. Die äußeren Selektionsfaktoren sondern also aus jenen Veränderungen, die das Ausleseverfahren innerer Selektionsbedingungen noch überstanden haben, obendrein jene aus, die nicht zu den funktionellen Anforderungen an das jeweilige Parlament passen. Darum werden nur solche Veränderungen an den bislang in Geltung befindlichen Regeln und Praxen eines Parlaments nachhaltig sein und weiterbestehen, die sowohl in das Spektrum einer plausiblen Leitideeninterpretation passen, d.h. tragende Elemente von strukturellen Bürden nicht beeinträchtigen, als auch im politischen Dauerbetrieb verlässlich funktionieren, also weiterhin im nötigen Umfang funktionelle Bürden zu tragen erlauben. Umgekehrt wird sich eine Neuerung umso leichter durchsetzen, je weniger tief sie entweder in die Schichten handlungsleitender Selbstverständlichkeiten oder in die hierarchischen Funktionsabläufe eines Parlaments eingreift. Eben das lässt Parlamente in ihren Äußerlichkeiten und oberflächlichen Details so verschieden werden, in ihren tragenden Elementen aber recht ähnlich bleiben (Patzelt 2007d). Solches Wirken innerer und äußerer Selektionsfaktoren stiftet außerdem nachhaltige Ordnung innerhalb der tatsächlich genutzten Regeln bzw. Praxen eines Parlaments. Das wiederum verschafft der Entwicklung von einmal etablierten Parlamenten jene im Nachhinein oft so klar erkennbare und leicht erklärbare Richtung weiteren Werdens, die der – oben erläuterte – Begriff der „Teleonomie“ auf eine Kurzformel bringt. Zwar lässt sich weitere Entwicklung in die einmal gebahnte Richtung immer wieder versperren, desgleichen der richtungsgebende Eigensinn parlamentarischer Strukturen überlagern, nämlich durch den machtgestützten Aufbau und Einsatz eines das alles konterkarierenden politischen Steuerungssystems (Patzelt 2007d: 504-509, 553-555 und passim). Das widerfuhr beispielsweise dem doch äußerlich in überkommenen Formen gehaltenen Parlamentarismus der DDR dadurch, dass der durchgesetzte Führungsanspruch der SED rasch alle Eigentätigkeit der Volkskammer erstickte und ihr ein Selbstverständnis als „ganz andersartige Alternative
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zum bürgerlichen Parlamentarismus“ aufzwang. Doch dergleichen bedarf schon des Einsatzes gewaltiger Ressourcen oder großer Veränderungen im Gesamtgefüge eines politischen Systems. Solange beides nicht vorkommt, entfalten Parlamente hingegen selbsttragende Stabilität und Eigendynamik: Sie bewegen sich auf jenem Pfad weiter, der einst mit der Festlegung ihrer institutionellen Form, mit der Herausbildung ihrer zentralen handlungsleitenden Selbstverständlichkeiten eingeschlagen wurde (Marschall 2005: 108-127).
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Arbeitsgebiete der Parlamentssoziologie
Parlamentssoziologischer Forschung geht es einesteils um das Erkennen komplexer Parlamentseigentümlichkeiten, die sich aus den Einzelwirkungen sowie den Wechselwirkungen der vier aristotelischen Ursachenformen ergeben. Andernteils geht es ihr um das Erklären konkreter Einzelzüge von Parlamenten. Zum letzteren Zweck verbindet die Parlamentssoziologie systemvergleichendes Vorgehen mit der Formulierung und empirischen Überprüfung von Erklärungsmodellen. Diese beziehen einen zu erklärenden Sachverhalt (= die „abhängige Variable“, das „Explanandum“) auf die ihn vermutlich erklärenden Ursachen (= auf die „unabhängigen Variablen“) und ferner auf solche Faktoren, die den interessierenden Zusammenhang womöglich überlagern (= die „intervenierenden Variablen“ bzw. „Störvariablen“) oder die nun einmal, aus gegebenenfalls noch herauszufindenden Gründen, mit den verschiedenen Ausprägungen des zu erklärenden Sachverhalts einhergehen (= „Kovariaten“; siehe zu alledem Patzelt 2007: 111-119). Je nach den Merkmalen und Einzelzügen von Parlamenten, die es dabei zu erkennen bzw. zu erklären gilt, lassen sich die Arbeitsgebiete einer zumal anwendungsorientierten Parlamentssoziologie so gliedern: Arbeitsgebiete anwendungsorientierter Parlamentssoziologie (1) Untersuchungen der komplexen Verursachungsformen konkreter parlamentarischer Praxis: soziale Zusammensetzung und handlungsleitende Selbstverständlichkeiten parlamentarischer Akteure; Karrieremotive und Handlungsanreize; funktionelle Anforderungen an Parlamente; parlamentarische institutionelle Formen und deren Prägewirkungen. (2) Untersuchungen der parlamentarischen Akteure im „Lebenszyklus“ von Parlamenten und Parlamentariern: Rekrutierung, Selektion und Wahlkampf von Kandidaten; parlamentarische Sozialisation und Professionalisierung von Abgeordneten; dabei entstehende Rollendifferenzierungen und Rollenpraxen; parlamentarische Karrieren; Parlaments-, Wahlkreis- und Parteiarbeit; De-Rekrutierung und post-parlamentarische Karrieren; Bezahlung und Infrastruktur parlamentarischer Akteure. (3) Untersuchungen zu den Parlamentsfunktionen und den sie erfüllenden Akteuren – sowohl idiographisch als auch synchron bzw. diachron vergleichend: Repräsentation und Gesetzgebung, Regierungskontrolle, gegebenenfalls auch Regierungsbildung. (4) Untersuchungen konkreter parlamentarischer Strukturen und ihrer Funktionslogik: Steuerungs-, Arbeits- und politische Strukturen unter besonderer Berücksichtigung von Fraktionen und Opposition; Zeitstrukturen parlamentarischer Arbeit; Konstruktion und Nutzung institutioneller Mechanismen.
Auf dem ersten Arbeitsgebiet ist herauszufinden, wie und warum dasjenige überhaupt zustande kommt, was dann seinerseits in oft komplexen Wirkungsketten die parlamentari-
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sche Praxis prägt. Bei besonderem Interesse an den Materialursachen von Vertretungskörperschaften wird man sich etwa mit der sozialen Zusammensetzung eines Parlaments beschäftigen, desgleichen mit formalen und informalen Parlamentsregeln. Bei Interesse an den parlamentarischen Antriebsursachen befasst man sich beispielsweise mit der Entstehung von politischem Ehrgeiz und Karriereverlangen, bei Interesse an den Zweckursachen mit den konkreten funktionellen Anforderungen an ein Parlament sowie mit der Genese jener Leitidee(n), deren praktische Umsetzung die Erfüllung von Parlamentsfunktionen erlaubt. Und will man die institutionelle Form eines Parlaments erklären, so wird man deren kontingentpfadabhängiges Werden erkunden. Folgt das Forschungsinteresse parlamentarischen Akteuren im „Lebenszyklus“ von Parlamenten und Parlamentariern, so beginnt parlamentssoziologische Arbeit mit den Rekrutierungsmustern künftiger Parlamentarier (Norris 1997; Patzelt 2002) und wendet sich dann der Kandidatenselektion zu (Gallagher/Marsh 1988; Schüttemeyer 2002). Anschließend sind das Wahlkampfverhalten der Kandidaten und die (Voraus-) Wirkung von Wahlregeln zu betrachten, desgleichen die unterschiedlichen Chancen von Amtsinhabern und Herausforderern bzw. von Kandidaturen in „sicheren“ vs. „unsicheren“ Wahlkreisen. Das ist vor allem in Ländern mit Mehrheitswahlrecht ein sehr wichtiger Forschungsgegenstand (Boll/Römmele 1994). Im nächsten Schritt gilt es Muster innerparlamentarischer Sozialisation zu klären (etwa Searing 1986; Mughan et al. 1997), die ihrerseits in herauszuarbeitende Profile von Rollenorientierungen und Rollenverhalten münden (Wahlke et al. 1962; Herzog et al. 1993; Patzelt 1991, 1993, 1995, 1996; Oberreuter 1996; Oertzen 2006). Besonderes Interesse findet aus guten Gründen einesteils die Rolle hervorgehobener Parlamentarier wie etwa der Parlamentarischen Geschäftsführer (Schüttemeyer 1997; Petersen 2000), der Arbeitsgruppenvorsitzenden (Petersen/Kaina 2007) oder von Ausschussberichterstattern (Wenig 1984). Andernteils ist der – freiwillige – „Hinterbänkler“ als Gegentyp nicht minder interessant (Radice et al. 1987; Holland 1988). Sehr wichtig ist es ferner, die Entstehung und Nutzung von Fraktionskohäsion bzw. Fraktionsdisziplin zu erklären (Schüttemeyer 1998; Patzelt 1998; Bowler et al. 1999; Hazan 2006). Solchen Untersuchungen schließen sich Studien zum parlamentarischen Abstimmungsverhalten in Ausschüssen und Plenum an (Cain et al. 1987; Saalfeld 1995). Das alles führt dann weiter zu Untersuchungen der Debattenordnung (Schreiner 2005) und des – in recht besonderem Sprechverhalten sich ausdrückenden – parlamentarischen Debattenstils (Burkhardt 1994; Dörner/Vogt 1995).5 Bei alledem gilt es ebenso Prozesse der Professionalisierung zu erklären (Golsch 1998; Borchert 2003) wie auch die damit meist einhergehenden Veränderungen in der Bezahlung und Amtsausstattung von Parlamentariern und Fraktionen zu beobachten (Mardini 1990; Hospach 1992; Welti 1998). Überdies wird sich der Blick auf die Wahlkreisarbeit von Abgeordneten richten (Fenno 1978; Patzelt 1993; Patzelt/Algasinger 2001), desgleichen auf ihre parlamentarischen Karrieren (Williams/Lascher 1993; Borchert/Stolz 2003; zur Methodologie: Hibbing 1999). Anschließend muss es um Prozesse der De-Rekrutierung (Livingston/Friedman 1993; Hall/Houweling 1995) sowie um die postparlamentarischen Biographien von Abgeordneten gehen (Kreiner 2006). In diesem Zusammenhang interessieren gerade auch die Wirkungen von Amtszeitbegrenzungen auf das alles. Sie lassen
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Zum Sprachhandeln eines Bundestagsabgeordneten speziell bei der Wahlkreisarbeit siehe Holly (1990).
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sich in den USA besonders gut studieren: Rund die Hälfte der Bundesstaaten hat solche „term limits“ eingeführt (Shepard 1996). Natürlich ist auch das „Wie“ und das „Wie gut“ der Erfüllung der Parlamentsfunktionen zu untersuchen. Den Einstieg bilden Studien zu deren Systematisierung (Patzelt 2003; Marschall 2005: 133-186); anschließend geht es um die Parlamentsfunktionen im einzelnen. Hier gibt es vielerlei Untersuchungen zur Regierungsbildung (etwa Laver/Shepsle 1996) und zum „Regieren in Koalitionen“ (Döring 1995; Kropp 2001; Kropp et al. 2002), zur Regierungskontrolle (King 1976; Thaysen 1984; Schreckenberger 1994; Schwarzmeier 2001; Holtmann/Patzelt 2004) sowie zur Gesetzgebung (Beyme 1997; Krehbiel 1998). Besonders reichhaltig ist das Schrifttum zur Repräsentationsfunktion (allgemein: Lüthi 1993). Diese geht ganz wesentlich aus auf die Herstellung von parlamentarischer Öffentlichkeit (Marschall 1999, 2001a; Schiller 2002) und auf die Sicherung von Responsivität (Brettschneider 1995). Obendrein umfasst sie vielfältige Aufgaben der Parlamentskommunikation (Patzelt 1998b) sowie der Vernetzung zwischen Abgeordneten und Gesellschaft (Bogdanor 1985; Weßels 1991; Patzelt/Algasinger 2001) bzw. zwischen Parlamentariern und einesteils Interessengruppen (Kißler 1995; Norton 1999), andernteils Journalisten (u.a. Schaller 1989; Sarcinelli 1994). Im Übrigen sind die parlamentarischen Strukturen samt ihrer Funktionslogik auch selbst zu untersuchen. Das betrifft – erstens – die Steuerungsstrukturen von Parlamenten wie ihre Präsidien, die politischen Strukturen von Parlamenten wie ihre Fraktionen und ihre Arbeitsstrukturen wie die Ausschüsse und Arbeitskreise. Zweitens ist vertiefend die Rolle unterschiedlicher Arten von Fraktionen (Kranenpohl 1999) sowie überwölbend die Rolle der parlamentarischen Opposition zu untersuchen (Sebaldt 1992; Helms 2002). Drittens ist herauszufinden, welche Rolle die zeitliche Strukturierung des parlamentarischen Arbeitsgangs für das Funktionieren dieser Institution spielt und welche machtpolitischen Potentiale welches Akteures sich aus dem parlamentarischen Zeitregime ergeben (Riescher 1994; Patzelt/ Dreischer 2008). Viertens ist die Konstruktion, Wirkungsweise und strategische bzw. taktische Verwendung jener Vielzahl parlamentarischer institutioneller Mechanismen (Patzelt 2007c: 323-337) zu beschreiben und zu erklären, mittels welcher ein Parlament konkret funktioniert und zur Stätte wohlgeordneter machtpolitischer Spielzüge werden kann. Ein institutioneller Mechanismus entsteht aus dem verlässlich gewordenen Zusammenwirken von Positionen, Regeln und konkreten Akteursinteressen, das anschließend typische Handlungsabläufe und Arbeitsroutinen sowie fraglos akzeptierte Takte institutioneller Eigenzeit erzeugt. Das alles stiftet wechselseitige Handlungssicherung und erlaubt die routinemäßige Erfüllung der einzelnen Parlamentsfunktionen. Obendrein kann sich bei alledem eine nachgerade perfekte Adaption von persönlichen Interessen an vorgegebene Positionen und Regeln vollziehen, desgleichen von informellem Regelverhalten an vorgegebene formale Regeln und Positionen. Geschieht das, dann wirken institutionelle Mechanismen, obschon sie sehr artifizielle Kreationen menschlicher Systembaukunst sind, sehr leicht wie „natürliche Tatsachen“. Eben aufgrund solcher faktischer „Selbstverständlichkeit“ funktionieren sie dann auch äußerst robust und verlässlich. Beispiele sind u.a. der Mehrheitsmechanismus (bahnt Wege zu Lernprozessen), der Wiederwahlmechanismus (erzwingt Responsivität), der Gegenzeichnungsmechanismus (institutionalisiert Kontrolle), der Gegenseitigkeitsmechanismus (schafft einen Markt des Gebens und Nehmens), der Mannschaftsmechanismus (erzeugt kollektive Akteure), der Kopplungsmechanismus (verschränkt ansons-
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ten getrennte Verantwortung- und Handlungsketten, etwa zwischen innerparteilicher Responsivität und freiem Parlamentsmandat), der Überlagerungsmechanismus (sorgt für informelle Führung) sowie der Kommissionsmechanismus (ermöglicht das Versickern von Verantwortung). Die empirischen Befunde auf allen diesen Arbeitsgebieten einbeziehend und von Vorstellungen davon geleitet, was Parlamente sein und leisten sollten, lässt sich die Parlamentssoziologie obendrein in eine normative Analyse überführen (zu deren Logik und Methodik: Patzelt 2007: 91-96, 125-130, 194-201). Normative Analyse ist zwar noch kaum in der Politischen Soziologie, sehr wohl aber in der Parlamentarismusforschung heimisch. Dort stellt sie sich – erstens – in den Dienst immer wieder nötiger Parlamentsreformen, indem sie hierfür nützliche Handlungsanweisungen zu erarbeiten versucht (z.B. Oberreuter 1981; Zeh 1993; Marschall 1996). Zweitens geht es normativer Parlamentsanalyse um die Auseinandersetzung mit solchen Parlamentarismustheorien, die von Politikern, Publizisten oder einfach nur politisierenden Mitbürgern immer wieder zum Zweck einer Verbesserung unseres Parlamentarismus ins Spiel gebracht werden. Institutionelle Mechanismen Sie sind Bündel von hinsichtlich ihrer wechselseitigen Abhängigkeit einschätzbaren, in ihren Gesamtfolgen recht verlässlich kalkulierbaren und zielgerichtet nutzbaren Handlungsketten. Absichtlich initiiert, wirken sie wie ein (sozial-) technisches Hebelwerk. Ihre Einschätzbarkeit, Kalkulierbarkeit und zielgerichtete Nutzbarkeit wird durch das Ineinandergreifen von drei Elementen erzeugt: (a) durch Positionen, die innerhalb einer Institution verfügbar, mit spezifischen Ressourcen ausgestattet und durch handlungsfähige Personen besetzt sind; (b) durch formale und informale Regeln, welche das Zusammenwirken der Inhaber jener Positionen betreffen und die ein kompetentes Mitglied einer Institution entweder kennt und darum befolgt, oder gegen welche aus Unkenntnis oder ohne gute Gründe zu verstoßen durch ein halbwegs verlässlich funktionierendes Sanktionssystem, d.h. durch die Vorauswirkung angedrohter Sanktionen (= mittels verlässlich konditionierender „Antizipationsschleifen“), unwahrscheinlich gemacht wird; (c) durch Interessen von Positionsinhabern, die bei der Wahl zwischen dem Befolgen und dem Brechen einer das Zusammenwirken von Positionsinhabern betreffenden Regel üblicherweise nicht ignoriert werden können.
Meist haben sie die folgenden Themen: Sorge um einen wirklich „repräsentativen Charakter“ des Parlaments; Verwirklichung einer engen Bindung von Parlament und Parlamentariern an die Bürgerschaft durch Mittel wie „Zurückdrängung des Berufspolitikertums“, „Amtszeitbegrenzung“ oder „Verringerung der Abhängigkeit der Abgeordneten von ihren Parteien“; Erhöhung der parlamentarischen Kontrollfähigkeit durch eine Vielzahl von Maßnahmen, reichend vom Verbot einer Verbindung von Parlamentsmandat und Regierungsamt („Inkompatibilitätsgebot“) bis hin zur Verbesserung der persönlichen Infrastruktur von Abgeordneten. In Auseinandersetzung mit alledem überprüft die normative Parlamentarismusforschung jene Ratschläge auf ihre „normative Brauchbarkeit“ und setzt sich dergestalt mit populärer sowie wissenschaftlicher Parlaments- und Parlamentarismuskritik auseinander (Wasser 1974; Schüle 1998; Marschall 2005: 251-282).
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Theorien, Methoden und Forschungsansätze der Parlamentssoziologie
4.1 Theorien der Parlamentssoziologie6 Die allgemeineren ihrer forschungsleitenden Theorien teilt die Parlamentssoziologie mit anderen Sozialwissenschaften und wendet sie nur gegenstandsbezogen an. Daneben gibt es eine Reihe von spezifischen Theorien parlamentssoziologischer Forschungsgegenstände. Zur ersten Gruppe zählen die oben vorgestellten Grundlagentheorien der Konstruktion sozialer Wirklichkeit, die Theorien der – ganz wesentlich auf Symbolisierungspraktiken abhebenden – institutionellen Analyse sowie der Institutionenevolution, desgleichen – wesentlich umfangreicher rezipiert – die parlamentarische Rollentheorie sowie Rational choiceModelle. Die Rollentheorie wurde durch das bahnbrechende Werk „The Legislative System“ (Walke et al. 1962) sowie über dessen Vor-, Begleit- und Folgepublikationen für lange Zeit zu einem weithin integrierenden Paradigma der Parlamentssoziologie, zunächst im angelsächsischen, dann auch im deutschsprachigen Schrifttum (Patzelt 1989, 1991, 1993; Saalfeld/Müller 1997; Strøm 1997). Ein für ihre Rezeption günstiges Klima hatte auch in der Politikwissenschaft jene „behavioralistische Revolution“ geschaffen, die großen Wert auf eine Verbindung von verallgemeinernder sozialwissenschaftlicher Theoriebildung mit empirischer Sozialforschung legte. Die wesentliche Leistung von „The Legislative System“ bestand darin, das Mikro/Makro-Problem in den Griff zu bekommen: Es wurden zwar individuelle Abgeordnete untersucht, nämlich anhand von Interviewfragen zu ihren persönlichen Rollenorientierungen und Rollenerwartungen an andere, desgleichen zum eigenen und fremden Rollenverhalten; doch dergestalt auf der Mikroebene des Individuellen ausfindig gemacht, ließen sich die identifizierten Abgeordnetenrollen anschließend zum gesamten Rollengefüge eines Parlaments zusammensetzen, womit die parlamentssoziologische Makroebene des Institutionellen erreicht war (Searing 1994). Doch leider konzentrierte sich die Rezeption und internationale Verwendung dieses Ansatzes nicht auf diesen so wichtigen institutionenanalytischen Gehalt der Rollentheorie, sondern allein auf die Rollenorientierungen von Abgeordneten. Obendrein verengte sich deren Analyse auf das Abfragen der ihrerseits empirisch besonders schlecht fundierten Idealtypen eines mit freiem Mandat ausgestatteten „trustee“, eines das imperative Mandat praktizierenden „delegate“ sowie eines – „politico“ genannten – „Mitteltyps“ (vgl. Patzelt 1993). Das ignorierte weitestgehend die Rolle von Abgeordneten als Parteiführer und erzeugte verwirrende Befunde, prägt aber bis heute das Bild der „parlamentarischen Rollentheorie“ und ihres – vermeintlich geringen – Erkenntniswertes. Angesichts solcher Verengung auf Rollenorientierungen wurde die Analyse konkreten Rollenverhaltens von Abgeordneten abseits der parlamentarischen Rollentheorie weiterentwickelt, nämlich in Gestalt einer „Stilanalyse“ der Abgeordnetenpraxis. So entstand eine Theorie einesteils der Parlamentsarbeit, nämlich des (nach dem Parlamentssitz auf dem Capitol Hill) so benannten „hill style“ von Abgeordneten (Fenno 1973), andernteils ihres „home style“, also des Arbeitsstils zu Hause 6 Literaturberichte und Überblicke zur deutschen Parlamentarismustheorie geben Oberreuter (1984), Schütt-Wetschky (1992) und Patzelt (2004); vgl. auch Marschall (2005: 32-38).
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im Wahlkreis (Fenno 1978). Diese Stiltheorie von parlamentarischen Alltagspraxen wurde aber bislang nur programmatisch, nicht empirisch, mit der hier so naheliegenden ethnomethodologischen Analyse verbunden (Patzelt 1984). Einige für die Parlamentssoziologie nützliche Theorien (1) allgemeine sozialwissenschaftliche Theorien in parlamentssoziologischer Konkretisierung Theorie(n) sozialer Wirklichkeitskonstruktion Theorie(n) institutioneller Analyse Theorie(n) von Organisationskultur, hier: von Parlamentskultur Rollentheorie(n), hier: parlamentarischer Rollenansatz Theorie(n) rationaler Wahlhandlungen (rational choice) Vetospieler-Theorie(n) Prinzipal-Agent-Theorie(n) Theorie(n) des Agierens kollektiver Akteure Theorie(n) der Institutionenevolution (2) Allgemeinere politikwissenschaftliche Theorien zum institutionellen Kontext von Parlamenten Demokratietheorie(n) Repräsentationstheorie(n) Theorie(n) zur angemessenen Rolle von Parlamenten in unterschiedlichen Regierungssystemen Theorie(n) von „responsible party government“ Theorie(n) des Wahlverhaltens Theorie(n) der Dynamik öffentlicher Meinung und ihrer massenmedialen Konstruktion (3) Eher gegenstandsspezifische Theorien Theorie(n) der „politischen Persönlichkeit“ und (progressiven) politischen Ehrgeizes Angebots-/Nachfragetheorie(n) der politischen Rekrutierung Theorie(n) der Kandidatenselektion Theorie(n) politischer Sozialisation, Professionalisierung und Karrieren Theorie(n) der politischen Klasse (Stil-) Theorie(n) der Parlaments-, Wahlkreis- und Parteiarbeit von Abgeordneten Theorie(n) des parlamentarischen Abstimmungsverhaltens Koalitionstheorie(n) Theorie(n) der Medialisierung von Politikerverhalten
Obendrein wurde seit den 1980er Jahren im international hegemonialen amerikanischen Schrifttum die Rollentheorie weitgehend zugunsten der Arbeit mit Rational choice-Modellen aufgegeben (wegweisend: Shepsle/Weingast 1995). Hintergrund war das nach abgeschlossener Durchsetzung des behavioralistischen Paradigmas veränderte intellektuelle Klima in den Sozialwissenschaften: Nunmehr ließen sie sich besonders gern von Modellen aus der (politischen) Ökonomie inspirieren (Riker 1973; Lalman et al. 1993). Attraktiv machte diese einerseits die Prämisse, letztlich werde menschliches Handeln geprägt durch einen rationalen, nämlich die Handlungseffektivität hinsichtlich gegebener Ziele optimierenden, Umgang mit seinen Ressourcen. Andererseits legen Rational choice-Modelle großen Wert auf möglichst sparsame Ausgangsannahmen ihrer Erklärungsmodelle und auf klare Formulierun-
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gen ihrer Aussagen, etwa in Gestalt mathematischer Formeln oder räumlicher Modelle. Das aber verlangt hohe Investitionen in die erforderliche Verstehens- und Argumentationskompetenz. Einmal aufgebracht, legen solche Investitionen selbst dann noch die Arbeit mit Rational choice-Modellen nahe, wenn neue Ergebnisse nicht mehr so leicht zu erzielen sind wie in der Anfangszeit dieses Paradigmas. Inzwischen wurden nämlich jene Annahmen immer komplexer und formal schwieriger zu handhaben, die eine realistische, wirklich von den Daten gedeckte Modellbildung nun einmal erzwingt. Das Ziel einer gut nachvollziehbaren, verallgemeinerbaren und obendrein mit den Tatsachen übereinstimmenden Modellierung des Verhaltens parlamentarischer Akteure auf der Grundlage von Optimierungsalgorithmen erweist sich jedenfalls immer weniger als erreichbar. Stattdessen zeichnet sich ab, dass nicht nur rationale Handlungsstrategien, sondern auch deren oft ganz kontingent zustande kommenden Rahmenbedingungen in die forschungsleitenden Theorien aufgenommen werden müssen, falls diese der Beschaffenheit und Funktionsweise wirklich bestehender, nicht nur modelltheoretisch unterstellter Parlamente gerecht werden sollen. Solche Einsicht führte zur Verbindung des Rational choiceAnsatzes mit historischen Betrachtungsweisen, nämlich mit einesteils der Institutionenökonomie (North 1990; Leipold 2006), andernteils dem Historischen Institutionalismus (Thelen 1999; Pierson/Skocpol 2002; Pierson 2004). Insgesamt haben sich gerade Rational choice-Studien im Bereich der Parlamentssoziologie weit auf jenen „Neuen Institutionalismus“ der Politikwissenschaft hinbewegt (March/Olsen 1989; Ostrom 1991; Göhler 1994; Ostrow 2000; Weingast 2002), der nun seinerseits wieder an tragende Ideen der Rollentheorie anschließen kann (Patzelt 2003: 288-305). Noch aber ist solche (Re-)Integration nicht abgeschlossen, sondern florieren vertiefende Ausarbeitungen jener Theorien. Dabei gehören zu den derzeit am intensivsten mit Rational choice-Modellen untersuchten Themen der Parlamentssoziologie das (parlamentarische) Abstimmungsverhalten (etwa McDonald 2005), jene Rollenmöglichkeiten von „Vetospielern“ (Tsebelis 2002), die Gewaltenteilung und „Kontrolle durch Mitregieren“ konstituieren (Schwarzmeier 2001), die Bildung von Koalitionen (Jun 1994) sowie die Entstehungs- und Funktionslogik von Strukturen parlamentarischer Selbstorganisation (Krehbiel 1991; Döring 1995). In diesen Zusammenhang gehört dann auch die Theorie korporativer bzw. kollektiver parlamentarischer Akteure (Scharpf 2000). Zu den eher allgemeinen, doch bereits ganz gegenstandsnahen Theorien der Parlamentssoziologie zählen – neben den Theorien des Wahlverhaltens (Brettschneider 2006) sowie der Dynamik öffentlicher Meinung und ihrer massenmedialen Konstruktion (Jarren et al. 1996, 2000) – zunächst einmal die Repräsentationstheorie und die Demokratietheorie. Das heute am meisten verbreitete repräsentationstheoretische Paradigma schuf Hanna Pitkin (1967) mit ihrer begriffsanalytischen Studie zum Konzept der Repräsentation. Zunächst arbeitete sie vier geläufige Auffassungen von Repräsentation heraus: formale Repräsentation („Repräsentant ist, wer verbindlich für andere entscheiden darf“), symbolische Repräsentation („Repräsentant ist, in wem sich die Repräsentierten wiedererkennen“), deskriptive Repräsentation („Repräsentativ ist eine Vertretungskörperschaft, wenn sie gemäß ihrer Zusammensetzung
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ein verkleinertes Abbild des zu vertretenden Volkes ist“)7 und interaktive Repräsentation („Ob eine Repräsentationsbeziehung vorliegt, erkennt man daran, was sich zwischen den Repräsentanten und den Repräsentierten ereignet“). Sodann schälte sie die – nachstehend erläuterten – Kernelemente einer interaktiven Repräsentationsbeziehung heraus und stellte klar, dass man das Vorliegen von Repräsentation allein an den Rahmenbedingungen und am tatsächlichen Verlauf politischer Prozesse erkennt. Heinz Eulau und Paul Karps (1978) haben Pitkins Theorie durch Unterscheidung von vier Responsivitätskomponenten weiter ausgearbeitet: Politikresponsivität äußert sich im Eingehen von Abgeordneten auf politische Impulse, Allokationsresponsivität im Bemühungen um finanzielle oder strukturelle Wohltaten für den Wahlkreis, Service-Responsivität im Einsatz für konkrete Anliegen von Einzelbürgern oder Gruppen, symbolische Responsivität in Bekundungen guten Willens. Noch drei weitere Repräsentationstheorien sind in der Parlamentssoziologie in Gebrauch (siehe Marschall 2005: 49-56). Die älteste geht auf Warren E. Miller und Donald E. Stokes zurück (Miller/Stokes 1963; Miller et al. 1999). Sie konzeptualisiert Repräsentation als inhaltliche Übereinstimmung des Abstimmungsverhaltens von Abgeordneten mit den Politikpräferenzen ihrer Wähler, wobei es auch die Wechselwirkungen der persönlichen Politikpräferenzen der Abgeordneten mit ihrer Perzeption der Politikpräferenzen ihrer Wähler zu beachten gilt. Methodisch führt diese Repräsentationstheorie zu Untersuchungen, welche die Ergebnisse von Bevölkerungsumfragen zu konkreten politischen Entscheidungsthemen zunächst mit jenen von Abgeordnetenumfragen und sodann beides mit Analysen namentlicher Parlamentsabstimmungen („roll call votes“) zu alledem vergleichen. Das freilich schränkt ihren Anwendungsbereich auf Parlamente mit zahlreichen namentlichen Abstimmungen ein. Jünger ist Dietrich Herzogs „kybernetisches“ Repräsentationskonzept, welches stark auf die Vernetzungsaspekte politischer Repräsentation abhebt (Herzog 1989; kritisch: Mirbach 1992; empirische Studie: Weßels 1991, 1993). Und besonders große Attraktivität entfaltet seit einigen Jahren die sogenannte Prinzipal-Agent-Theorie von Repräsentationsbeziehungen (Strøm 2000; Gilardi/Braun 2002). Prinzipale, also Auftraggeber, sind im Parlamentarismus zunächst einmal die Bürger; die Abgeordneten hingegen sind deren Agenten, also handlungsbevollmächtigten Auftragnehmer. Ebenso sind, zumal in parlamentarischen Regierungssystemen, die Abgeordneten die Prinzipale von Regierungsmitgliedern als ihren Agenten. Dergestalt lassen sich Repräsentationsbeziehungen als komplexe Ketten bzw. Prozesse der Delegation von Entscheidungsbefugnissen modellieren sowie höchst realistische Hypothesen über die kombinierten Folgen von sowohl Eigeninteressen als auch Informationsvorsprüngen der jeweiligen Agenten formulieren (Kiewiet/McCubbins 1991; Thies 2001).
7 Der rationale Kern dieser besonders populären Repräsentationsvorstellung besteht darin, dass ein Parlament um so besser mit der Gesellschaft vernetzt sein wird, zu je mehr Bereichen der Gesellschaft die Parlamentarier persönlichen Zugang finden – was wiederum um so leichter fallen wird, je näher man aufgrund von Herkunft, beruflicher Tätigkeit oder Alter einem bestimmten Gesellschaftsbereich steht. Zur Einschätzung der Deutschen von alledem siehe Rebenstorf/Weßels (1989).
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Der „Kern“ politischer Repräsentation nach Hanna Pitkin (1967: 209f) Repräsentation ist eine aus Repräsentanten und Repräsentierten bestehende Systemkonfiguration mit den folgenden Merkmalen (Patzelt 2007: 349-357): (1) Die Repräsentanten handeln im Interesse der Repräsentierten und dabei responsiv. Vorteilhaft ist für Letzteres, wenn die Repräsentierten solche Responsivität nötigenfalls auch erzwingen können. Dafür gibt es kein besseres Mittel als die Verbindung von Repräsentation mit Demokratie in Gestalt des „Wiederwahlmechanismus“ temporaler Gewaltenteilung (Cain et al. 1987; Przeworski et al. 1999; Steffani 1999). (2) Repräsentanten und Repräsentierte können unabhängig voneinander handeln, so dass jederzeit Konflikte zwischen ihnen entstehen können („repräsentationskonstitutives Konfliktpotenzial“). Grundsätzlich wird Repräsentation – und nicht bloß eine Herrschaftsbeziehung – nur dort verlässlich bestehen, wo ein solches gesellschaftliches und politisches Konfliktpotential institutionell auf Dauer gestellt und maximiert ist: einesteils durch gesicherte Kommunikations-, Organisations- und Versammlungsfreiheit der Repräsentierten, andernteils durch ein jederzeit in Anspruch nehmbares, wenn auch nicht persönlich folgenlos nutzbares freies Mandat der Repräsentanten (Lückhoff 1989). (3) Repräsentation besteht genau solange, wie es den Repräsentanten gelingt, dieses Konfliktpotenzial im Großen und Ganzen befriedet zu halten. Hierzu führt einesteils praktizierte und obendrein glaubhaft gemachte Responsivität der Repräsentanten, andernteils problemlösende politische Führung, die wirksames Entscheidungshandeln gekonnt mit dessen überzeugender Darstellung verbindet.
Die Demokratietheorie kommt in der Parlamentssoziologie insofern ins Spiel, als sich seit dem 19. Jahrhundert zusätzlich zur überkommenen korporativen, föderativen, ständischen und liberalen Repräsentationsidee auch noch eine demokratische Repräsentationsidee entwickelt hat (Patzelt 2007d: 522-537). Das zog sofort Diskussionen um das rechte Verhältnis von Demokratie und Repräsentation sowie um das richtige Verhalten von Abgeordneten in diesem Spannungsfeld nach sich. Zu den wichtigen Debatten- und Forschungsthemen gehören hier – erstens – die Abgeordnetenrolle zwischen einem „liberal-freien“ und einem „demokratisch-imperativen“ Mandat (Leibholz 1960; Steffani 1981) sowie zwischen Räte-, Referendums- und parlamentarischer Demokratie (Eichenberger 1977); zweitens das reale bzw. rechte Verhältnis von Abgeordneten zu ihren Parteien in Verbindung mit Erörterungen, welches Wahlrecht („Persönlichkeitswahl“ vs. „Parteiwahl“) in diesem Zusammenhang wünschenswert wäre (Marschall 2005: 39-49); und drittens Untersuchungen darüber, in welchem Umfang ein „responsible party government“, also die über starke Parteien vermittelte Responsivität des Regierungssystems, die gewünschte Verbindung von Demokratieprinzip und Repräsentationstechnik leisten könne (Pulzer 1978). In diesen Zusammenhang gehören ebenfalls die – mitunter durchaus normativen – Theorien des für die Abgeordnetenrolle so folgenreichen Verhältnisses von Parlament und Regierung. Sie kreisen im Wesentlichen um die funktionslogischen Unterschiede zwischen dem „Alten Dualismus“ des präsidentiellen Regierungssystems, dem „Neuen Dualismus“ des parlamentarischen Regierungssystems und den Eigentümlichkeiten des – einst von Maurice Duverger vorgeschlagenen –
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Typs eines „semipräsidentiellen Regierungssystems“ (Shugart/Carey 1992; Steffani 1995; Elgie 1999). Ferner zählen zu den wichtigsten spezielleren Theorien der Parlamentssoziologie die Angebots/Nachfrage-Theorie der Rekrutierung von Abgeordneten (Norris 1997: 1-14; Solvang 1982); Theorien der Kandidatenselektion (Gallagher/Marsh 1988: 1-19, 236-282); die Theorien (progressiven) politischen Ehrgeizes von Politikern (Black 1972), der parlamentarischen Sozialisation (Searing 1986) und Professionalisierung (Hohm 1987; Borchert 2003) sowie Theorien der aus alledem entstehenden politischen Karrieren (Matthews 1985) und politischen Klasse (Weege 1992; Rebenstorf 1995). Außerdem werden immer wieder Theorien aus der Kommunikationswissenschaft über Nachrichtenwerte sowie von ihnen geprägte Selektionsprozesse bei der Nachrichtengebung über Parlamente und Parlamentarier herangezogen, desgleichen Theorien über die hierauf reagierenden Prozesse der Medialisierung des professionellen parlamentarischen Gehabes und Gewerbes (Schatz et al. 2002; Gellner/Strohmeier 2003; Marschall 2003).
4.2 Methoden und Forschungsansätze der Parlamentssoziologie Idealerweise von solchen Theorien transparent angeleitet, doch mitunter vorrangig von aktuellen politischen Debatten angetrieben, entfaltet sich die Parlamentssoziologie trotz ihrer normativen Implikationen und praktischen Anwendungsmöglichkeiten vor allem als empirische Forschung. Diese schließen den kompetenten sekundäranalytischen Umgang mit historiographischem Schrifttum ebenso ein wie die fallweise Nutzung der juristischen Methode. Doch vor allem geht es um die Anwendung des üblichen Methodenrepertoires empirischer Sozialforschung. Besonders oft werden die Befragungsmethoden verwendet. Unter ihnen hat sich die Methode der schriftlichen Befragung von Parlamentariern wohl auf absehbare Zeit totgelaufen, und zwar aufgrund jahrelanger „Überforschung“ dieses Personenkreises mit auszufüllenden Fragebögen. Umgekehrt hat man mittlerweile mit termingenau vereinbarten telefonischen Befragungen von Parlamentariern so gute Erfahrungen gemacht, so diese immer öfter an die Stelle der noch dominierenden, oft standardisierten, noch öfter freilich qualitativen Interviews treten. Diese werden meist elektronisch aufgezeichnet, nicht selten auch EDV-gestützt verschriftlicht und anschließend qualitativen Inhaltsanalysen unterzogen (Beispiel: Patzelt 1995). Weit verbreitet ist auch die qualitative oder quantitative Inhaltsanalyse von Plenarreden oder Schriften von Abgeordneten. Weniger verbreitet, und zwar trotz im Grunde leicht zugänglicher Daten, ist die systematische quantitative Analyse parlamentarischer Aktivitäten (Beispiel: Raschke/Kalke 1994). Viel zu selten kommt es zu systematischen, mit umfangreichen Interviews verbundenen Beobachtungsstudien parlamentarischer Akteure (Beispiel: Oertzen 2006), obwohl die sich stellenden Zugangsprobleme sich oft gut lösen lassen.
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Methoden und Forschungsansätze der Parlamentssoziologie a. Methoden: schriftliche und mündliche, teils auch telefonische Befragungen von parlamentarischen Akteuren; statistische oder inhaltsanalytische Auswertung der Befunde Beobachtungsstudien der Parlaments-, Wahlkreis- und Parteiarbeit von parlamentarischen Akteuren qualitative und quantitative Inhaltsanalysen, erstere auch von Interviewverschriftungen und Beobachtungstagebüchern sowie von Feldnotizen quantitative Analysen parlamentarischer Aktivitäten, dokumentiert etwa in Plenarprotokollen oder in Datenzusammenstellungen zum Kontrollverhalten und zur Gesetzgebungstätigkeit b. Forschungsansätze: Analyse parlamentarischer Rollen durch Verbindung von Befragungs- und Beobachtungsstudien Entwicklung von Rational choice-Modellen parlamentarischen Handelns und deren empirische Überprüfung durch (vergleichende) Analysen von prozessproduzierten Daten bzw. anhand der Ergebnisse von Befragungs- oder Beobachtungsstudien Analyse der um parlamentarische Akteure bestehenden Netzwerke, insbesondere anhand – möglichst spiegelbildlich erhobener – Befragungsdaten Vergleich der Einstellungen zu und Wahrnehmungen von ausgewählten Sachverhalten seitens parlamentarischer Akteure mit denen von anderen Elitengruppen bzw. der Bürger insgesamt historische und zeitgenössische Vergleichsstudien. Allerdings sind die Beobachtungsmethoden sowohl während der Beobachtungsperioden als auch bei der Datenanalyse sehr zeitaufwendig: Stets müssen Beobachtungstagebücher geführt und anschließend sowohl systematisch als auch reliabel ausgewertet werden. Hingegen finden Simulationsmethoden, gleich ob als Computersimulation oder als Planspiel, in der parlamentssoziologischen Forschung noch kaum Gebrauch. In Forschungsansätzen verbinden sich inhaltliche Fragestellungen mit Theorien, die für deren Beantwortung nützlich sind, sowie mit Methoden, die sich zur Erhebung und Analyse der jeweils erforderlichen Daten eignen. Ein erster Forschungsansatz besteht in der Kombination rollenanalytischer, dabei nicht auf die Untersuchung von Rollenorientierungen verengter Fragestellungen mit Befragungs- und Beobachtungsmethoden (Müller 2001a). Ein zweiter, ebenfalls weit verbreiteter Forschungsansatz kombiniert die auf Rational choiceModellen basierende Theoriebildung mit der quantitativen Analyse von prozessproduzierten Daten oder von Befragungsbefunden. Er zielt darauf ab, aus klaren Modellen, die anhand theoretischer Überlegungen formuliert wurden, solche Tatsachenbehauptungen oder Prognosen abzuleiten, die man anschließend am zu diesem Zweck erhobenen oder aufbereiteten Datenmaterial überprüft (Kiewiet/Zeng 1993). Ein dritter Forschungsansatz besteht in Netzwerkanalysen (Patzelt/Algasinger 2001). Durch sie will man Netzwerkstrukturen offen-
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legen, etwa solche, die bei der Wahlkreisarbeit oder der parlamentarischen Ausschussarbeit genutzt werden. Das beginnt mit der Befragung von Abgeordneten beispielsweise so: Was wären wohl die für ihre Wahlkreis- bzw. Ausschussarbeit zehn wichtigsten Personen, und welche Merkmale charakterisierten die Beziehungen des befragten Parlamentariers mit jeder einzelnen von diesen? In einem zweiten Schritt befragt man diese zehn „wichtigsten Personen“ in der gleichen Weise, und zwar einesteils nach den jeweils für die eigene (politische) Arbeit wichtigsten zehn Personen, andernteils nach den Merkmalen der Beziehungen zu jeder von ihnen, und zwar sowohl zu jenem Abgeordneten, von dem der nunmehr Befragte als „Rollenpartner erster Ordnung“ genannt wurde, als auch zu jenen „Rollenpartnern zweiter Ordnung“, welche die „Rollenpartner erster Ordnung“ nunmehr selbst nennen. Dieses „Schneeballsystem“ kann man der Idee nach beliebig weit fortsetzen, wird in der Praxis aber meist bei Rollenpartnern dritter oder vierter Ordnung enden, da ansonsten Datenerhebung und Datenauswertung zu viel Aufwand erforderten. Auf diese Weise lassen sich einerseits real wichtige Netzwerkstrukturen zwischen den parlamentarischen Akteuren und der Gesellschaft aufdecken, andererseits Aussagen über deren Merkmale erarbeiten oder überprüfen. Hierzu dient vor allem der Vergleich jener Aussagen, welche die befragten Netzpersonen wechselseitig über ihre Beziehungen machen: Falls sie sich weitestgehend decken, darf man sicher sein, real bestehende Sachverhalte oder Netzwerkmerkmale erfasst zu haben. Ein vierter Forschungsansatz vergleicht Wahrnehmungen von parlamentarischen Akteuren mit jenen der Bürger oder direkt mit solchen wahrgenommenen Sachverhalten, deren tatsächliche Beschaffenheit außerhalb der entsprechenden Interviews recherchiert wird. Ziel ist es, ein Bild von der Art, vom Ausmaß und von den Ursachen möglicher – auch wechselseitiger – Fehlperzeptionen zu gewinnen, woraus sich hinsichtlich parlamentarischer Strukturen und Funktionen, Praxen und Leistungen oft genug Ansatzpunkte politischer Kritik oder Bildung ableiten lassen (Schüttemeyer 1986; Herzog et al. 1990: 36-59; Hibbing/Theiss-Morse 1995; Patzelt 1996a, 1998a, 2005; Patzelt/Roericht 2003; Rohrschneider 2005). Fünftens gibt es vergleichende Untersuchungen unterschiedlicher Parlamente als ganzer oder von Teilen ihrer Strukturen, Funktionen, Kulturen und Praxen (Schüttemeyer 1997a; Patzelt 2007d), freilich viel häufiger in Form von zeitgenössischen Vergleichen als von historischen Längsschnittanalysen und obendrein meist in Gestalt von Sammelbänden mit „paralleler Idiographie“.
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Einladung zur Parlamentssoziologie
Alles in allem ist die Parlamentssoziologie ein Forschungsgebiet, das man empirisch gut bearbeiten kann, das erhebliche Theorieanforderungen stellt und das obendrein sehr praxisnah und nützlich ist. Es geht auch um einen recht schönen Gegenstand: um jene Institutionen nämlich, die freiheitssichernde politische Konflikte mit sie verlässlich befriedenden Ordnungsstrukturen verbinden. Auch handelt es sich um einen international durchaus überschaubaren, in Deutschland sogar eher kleinen Forscherkreis. Wer sich Mühe gibt, hat deshalb gute Chancen, auf sich aufmerksam zu machen und Spuren zu hinterlassen. Arbeit gibt es genug: Unaufhörlich sind Wandlungen von Parlamenten aufgrund von Wahlen und
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Reformen zu dokumentieren sowie auf ihre Chancen und Risiken zu überprüfen; reiches historisches Material über Vertretungskörperschaften ist mit dem Ziel durchzuarbeiten, das Werden, die Entwicklung und das für „gutes Regieren“ erschließbare Potenzial des parlamentarischen Institutionentyps gründlich zu verstehen; die Entstehung und Ausgestaltung von supranationalem Parlamentarismus gilt es mit Vorausschau, Ratschlägen und Analysen zu begleiten; vielfältige Befunde zeitgenössischer Parlamentssoziologie wären zu einem Gesamtbild zusammenzufassen, desgleichen ihre schon verfügbaren Teiltheorien zu integrieren; und das alles wäre einzubringen in eine vergleichende Parlamentarismusforschung, die sich auch als vergleichende Systemforschung versteht.
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Testfragen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Was meint „Parlamentssoziologie“ im engen, was im weiten Sinn, und wie lassen sich die Arbeitsgebiete der Parlamentssoziologie im weiten Sinn gliedern? Was sind zentrale Ergebnisse der parlamentarischen Sozialberichterstattung sowie der empirischen Abgeordnetenforschung? Was sind die Aufgaben einer „normativen Parlamentsanalyse“? Was meint „Kausalanalyse“ von Parlamenten, und wie kann man die ihr gewidmeten Studien gliedern? Was meint „Konstruktionsanalyse“ von Parlamenten, und was bringt sie für die Parlamentssoziologie? Was meint „Evolutionsanalyse“ von Parlamenten, und wie genau wirkt in der Geschichte von Parlamenten der Evolutionsmechanismus? Was ist die Fragestellung und sind die Zentralbegriffe einer funktionsanalytischen Parlamentssoziologie? Worin besteht das Mikro/Makro-Problem in der Parlamentssoziologie, und wie lässt es sich in den Griff bekommen? Was sind die wichtigsten Theorien der Parlamentssoziologie? Was sind die zentralen Forschungsmethoden und typische Forschungsansätze der Parlamentssoziologie?
Internetlinks Center for Legislative Studies (CLS): http://www.uncg.edu/psc/cls Website des Forschungszentrums an der University of North Carolina, Greensboro, mit vergleichenden statistischen Daten zu Parlamenten insbesondere in Mittel- und Osteuropa Comité d'Histoire Parlementaire et Politique: http://www.parlements.org/ Webseite des Centre de documentation de science politique an der Sorbonne, mit zahlreichen Artikeln und Verweisen, Schwerpunkt auf den Parlamenten der Französischen Geschichte und Gegenwart
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Bürokratieforschung Dieter Grunow „So why look at bureaucracy? The fact that it is as much part of modern life as the modern amenities it produces (such as electricity, gas, railways and social security, to name a few) means that an understanding of the distinctive issues bureaucracy poses is as relevant and important as it ever was in the era of Kafka and Weber, irrespective of whether we feel they got it right or wrong. We have not invented a better way of organizing public affairs. For all the talk of ‘post-modern’ forms of organization, where hierarchies and other formalities dissolve under constant negotiation between near-equal partners, these are generally at best straws in the wind or possibly only minor exceptions that prove the durability of bureaucratic models” (Jenkins/Page 2004: XIII).
1
Geschichte des Gegenstandes und seiner Begrifflichkeit
Der Begriff Bürokratie ist – wie viele andere Begriffe der politischen Soziologie – vielschichtig. Dazu trägt nicht nur seine Nutzung in verschiedenen wissenschaftlichen Analysezusammenhängen bei, sondern auch die vielfältigen alltagssprachlichen Varianten. Während einzelne Forschungsprojekte eine je spezifische Variante auswählen können, ist in diesem Beitrag eine Auseinandersetzung mit der Begriffsvielfalt unverzichtbar. Der Ertrag des damit verbundenen Aufwandes besteht dann darin, einen „sortierten“ Blick auf den Forschungsgegenstand zu haben und ihm so besser gerecht zu werden. Dies gilt umso mehr, da das „Phänomen Bürokratie“ (Crozier) auch in der Forschung nicht immer kohärent und kumulativ behandelt wird.1 Geht man von der ursprünglichen (lat.) Wortbedeutung aus, so lässt sich Bürokratie als Herrschaft von bzw. durch (staatliche) Büros definieren. Die erste nachweisliche Verwendung des Begriffes wird dem französischen Physiokraten de Gournay (1712 – 1759) zugeschrieben, der damit in kritischer Absicht die im Absolutismus zunehmende Herrschaftsausübung durch hauptberufliche Beamte charakterisierte. Seit Beginn des 19. Jh. wird mit dem Begriff auch die hierarchisch-monokratische Behördenorganisation bezeichnet, die nach Napoleons Verwaltungsreform in Frankreich auch in anderen Staaten (z.B. in Preußen 1806) eingeführt wurde. Die Betonung von Bürokratie als Element von Herrschaftsstrukturen, die sich u. a. in unterschiedlichen Staatsformen manifestieren, eröffnet den Blick auf das Phänomen selbst, das nicht erst mit der Nutzung des Begriffes Bürokratie – und schon gar nicht mit der Entwicklung darauf bezogener sozialwissenschaftlicher Diskurse – entstanden ist.
1 Dies ist besonders dann erforderlich, wenn man auch die historisch und die international vergleichende Betrachtungsweise einbezieht. Darauf kann im Rahmen dieses Kapitels jedoch nur sehr punktuell eingegangen werden. Der hier präsentierte Stand der Bürokratieforschung ist primär auf die liberal demokratische und rechtsstaatliche Architektur des PAS in Deutschland (und vergleichbarer EU- bzw. OECD-Länder) bezogen.
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Dieter Grunow
Der historische Blick richtet sich auf Herrschaftsstrukturen in früheren Weltreichen (in Mesopotamien, Ägypten, China, Rom/Italien u. a. m.), ihre Entstehungsbedingungen und Wirkungen (Jacobi 1969). Allein eine wachsende Anzahl von Menschen, die auf einem Territorium siedeln, macht Maßnahmen zur Ordnung des Zusammenlebens und zur Sicherung des Überlebens erforderlich: dies gilt für die Vorbereitung auf kriegerische Auseinandersetzungen (z.B. Bau der „Chinesischen Mauer“) ebenso wie für die Abwehr von Naturkatastrophen (z.B. Staudämme im Nildelta). Die Konzentration (Zentralisierung) von Entscheidungs- und Durchsetzungsmacht zur Erzeugung von verbindlichen Maßnahmen im Interesse der Gemeinschaft ist dabei meist unvermeidlich. Besonders zu beachten ist deshalb, dass selbst bei der Lösung von Problemen der Gemeinschaft, d.h. mit dem Versuch, eine für alle bedeutsame Leistung zu organisieren, fast immer auch ein Aufbau von Herrschaftsstrukturen verbunden ist. Deshalb wird von der Janusköpfigkeit gemeinschaftlichen Handelns gesprochen. Je komplexer und dauerhafter die kollektiven Aufgaben sind, desto größer ist die Tendenz, die Differenz (Hierarchie) zwischen Leitung bzw. Koordination und Ausführung zu vergrößern und damit die Herrschaftsstrukturen zu verfestigen. Zudem wächst die Gefahr, dass der Ausbau und die Absicherung eines Herrschaftspotenzials zum Selbstzweck werden. Diese Janusköpfigkeit bestimmt das stets spannungsgeladene Wechselverhältnis von staatlichem Herrschaftsapparat und Gesellschaft und hat zu formalen und/oder praktischen Reaktionen geführt, die eine Begrenzung der Machtkonzentration und des Machtmissbrauchs zum Ziel haben – z.B. durch das Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung sowie durch die Formulierung von Grundrechten für die Bürgerinnen und Bürger.2 Zugleich werden Alternativen zur staatlichen Aufgaben- und Handlungskoordination – durch Marktmechanismen und Selbstorganisation – geprüft. Als Herrschaft wird dabei (nach Weber 1964: 38) die Chance bezeichnet, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“. Die Legitimation bzw. die Akzeptanz der Befehlsgewalt, die auch die Androhung und Anwendung physischen Zwangs beinhaltet, wird in unterschiedlicher Form begründet bzw. gesichert (Tradition; Durchsetzung im kriegerischen Kampf um die Macht; Wahlen). Als Macht wird dabei (nach Weber 1964: 38) die Chance bezeichnet, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben der Betroffenen durchzusetzen.
Die Erörterung der Herrschaftsstrukturen war daher schon früh durch normative Aussagen beeinflusst – seien sie kritisch (Bürokratie-/Herrschaftskritik) oder begründend (Herrschaftslegitimation). Die Diskurse bezogen sich mit der wachsenden Sichtbarkeit und Bedeutung der staatlichen (öffentlichen) Verwaltung als einer wichtigen Herrschaftskomponente auch auf diese „Apparaturen“ (Becker 1989: 35-96). Einerseits entwickelte sich ein Interesse an der internen Ausgestaltung der Apparaturen: wie organisiert man dauerhaft zielbezogene, koordinierte Aktivitäten vieler Menschen, die zudem noch regional weit verstreut sein kön2 Heute findet die beschriebene Ambivalenz vor allem bei der Terrorismusbekämpfung und dem „Überwachungsstaat“ seinen tagespolitischen Ausdruck. Sie zeigt sehr plastisch die Paradoxie von Freiheit und staatlichem Zwang in der Demokratie: nur durch letzteren scheint erstere gesichert werden zu können. Kettl (2006: 367) formuliert das Dilemma folgendermaßen: „But how can the bureaucracy be strong enough to do its work without becoming so strong that it threatens the very system it is supposed to support?“
Bürokratieforschung
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nen? Andererseits wurde die Verselbständigung der (Staats-) Verwaltung zu einem eigenständigen Machtfaktor sichtbarer. In dem Maße, wie die Komplexität der Apparate – und damit der Aufwand für ihren Aufbau – anstieg, war zudem eine Instrumentalisierung durch verschiedene (Typen von) Machthaber(n) von Interesse. Insofern sind stets zwei Schnittstellen der öffentlichen Verwaltung zu ihrem Umfeld zu betrachten: zum einen zu den politischen Machthabern beziehungsweise den Entscheidungsträgern – sei es als ausführendes Organ oder als Beraterin; und zum anderen zu den Bürgerinnen und Bürgern – bei der Durchsetzung von Ordnungsmaßnahmen, bei der Durchführung öffentlicher Aufgaben sowie für die Eröffnung von Beteiligungsmöglichkeiten. Die Tatsache, dass heute die Bürokratieforschung die öffentliche Verwaltung zum Gegenstand hat, basiert also auf der – überwiegend im 18. Jhd. stattfindenden – Ausdifferenzierung des Verwaltungssegments im Rahmen staatlicher (öffentlicher) Herrschaftsstrukturen. Daraus ergibt sich zugleich, dass die Art, wie heute über Bürokratie gedacht und geschrieben wird, von der historischen und regionalen Entwicklung des Gegenstandes abhängig ist. In diesem Sinne ist die heutige Situation eine Resultante der „gewachsenen“ unabdingbaren Bereitstellung öffentlicher Leistungen und der Bemühungen um die Begrenzung staatlicher Machtentfaltung – vor allem durch die Geltung einer Verfassung. Zu den gegenwärtigen Rahmenbedingungen gehört auch (nach wie vor) die breite Diffusion der (hierarchischen) Organisationsprinzipien, die schon früh für die Herrschafts- und Problemlösungsapparaturen typisch waren. Sie kommen überall dort zum Einsatz, wo die Bewältigung von kollektiven Aufgaben in organisierter, d.h. gesteuerter und kontrollierter Form stattfindet – also keineswegs nur im Bereich staatlicher Aufgabenerledigung.3 Es ist das Verdienst von Max Weber (1864-1920), zu Beginn des 20. Jh. diese Entwicklungslinien in seinen wissenschaftlichen Schriften zusammengeführt zu haben. Historische Untersuchungen sowie systematisierende Analysen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene der Gesellschaft waren die Grundlage a.
b. c. d.
e.
für die Formulierung einer Herrschaftssoziologie, die eine Gegenüberstellung von Herrschaftstypen beinhaltet; dabei stellt er den Typus der legalen, auf demokratisch verfasstem Recht basierenden Herrschaft als moderne Form in den Mittelpunkt; für die Formulierung eines Idealtypus Bürokratie als einem wichtigen Element der Durchsetzung legaler Herrschaft; für die Kennzeichnung bürokratischer Organisationsmuster als Grundlage für eine spezifisch okzidenzielle Rationalisierung; für die Erweiterung des Blicks auf nicht-staatliche, vor allem auf die privatkapitalistischen Segmente der Gesellschaft und ihrer Durchdringung mit bürokratischen Organisationsmustern; für die ambivalenten Wirkungsweisen bürokratischer (Herrschafts-)Strukturen – die einerseits als rationalste und effektivste Form der Herrschaftsausübung angesehen werden; denen aber andererseits unterstellt wird, nicht nur ihre Funktion zu erfüllen,
3 Es ist deshalb nicht überraschend, dass im Verlauf der historischen Entwicklung die Anerkennung und Nachahmung „beispielhafter“ Herrschaftsapparaturen wechselten: Die katholische Kirche, das Militär, die öffentliche Verwaltung im Absolutismus, die privatwirtschaftlichen Konzerne u.a.m.
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Dieter Grunow sondern darüber hinaus Eigeninteressen zu vertreten und schließlich auch vom Erfüllungsgehilfen der Herrschaftsausübung zum „stählernen Gehäuse“ gesellschaftlicher Entwicklung mutieren zu können.
Fast alle späteren wissenschaftlichen Beiträge zum Thema Bürokratie haben zwar auf Weber Bezug genommen4, konzentrierten sich aber jeweils nur auf spezifische Aspekte seiner Arbeit und haben dabei nicht immer die Prinzipien der Weberschen Analyse beachtet (s. u. „Idealtyp Bürokratie“). Dadurch wurde das Spektrum der Forschungsfragen zwar transparenter aber kaum eingegrenzt5. Zur Beibehaltung der Begriffsvielfalt und des damit verbundenen Forschungsspektrums haben auch internationale Diskurse beigetragen. So werden im englischen Sprachgebrauch die Begriffe „bureaucracy“ und „public administration“ oder sogar „government“ vielfach synonym verwendet. Aus diesen Gründen konnte Albrow in seiner zusammenfassenden Darstellung der Bürokratieforschung (1972) folgende Begriffsvarianten nachweisen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Bürokratie als rationale Organisation (Webersche Begriffsvariante) Die Unfähigkeit einer Organisation als Bürokratie Bürokratie im Sinne von Beamtenherrschaft Die Bürokratie im Sinne von öffentlicher Verwaltung Bürokratie im Sinne von Verwaltung durch Beamte Die Organisation als Bürokratie Die moderne Gesellschaft als Bürokratie
Vor diesem Hintergrund bleibt es erforderlich, sich die jeweils gemeinte Begriffsvariante vor Augen zu führen, wenn man Ausführungen über „die Bürokratisierung der Welt“ (Jacobi 1969), „die bürokratische Persönlichkeit“, den „Bürokratieabbau in Deutschland“ oder über „die postbürokratische Organisation“ nachvollziehen will. Der folgende Beitrag kann sich damit aber nicht begnügen, sondern muss begriffliche Sortierungen und Präzisierungen vorschlagen – ohne wichtige Aspekte des Themas auszublenden. Dabei stehen die deutschsprachigen Begriffsvarianten im Vordergrund, die sich – methodologischen Unterscheidungen folgend – grob in gegenstandsbezogen/beschreibend, empirisch-analytisch, und normativ (kritisch vs. affirmativ) gruppieren lassen.
Gegenstandsbezogen beschreibende Beiträge beziehen sich auf die öffentliche Verwaltung bzw. den öffentlichen Sektor (ggf. auch auf den „Staat“).6
Umfassend dokumentiert bei Jenkins/Page (2004). Am ehesten kann man von einer Zuspitzung der Begriffs-Diskussion im Sinne einer bürokratischen Organisationsform sprechen; dies wird unten ausgeführt. 6 Die Auswahl eines geeigneten Begriffes fällt nicht leicht, weil alle Begriffe im Hinblick auf den betrachteten Gegenstand aus sozialwissenschaftlicher Perspektive Unschärfen enthalten. Am besten geeignet und weit verbreitet ist der Begriff „öffentliche Verwaltung“; damit wird im Unterschied zu dem klassischen – alle Herrschaftselemente umfassenden – Staatsbegriff, der Akzent auf die Exekutive gelegt und auch die kommunale („nicht-staatliche“) Selbstverwaltung einbezogen. Unschärfen bleiben, weil das Aufgabenspektrum der öffentlichen Verwaltung heute mehr denn je sowohl die Politikvorbereitung als auch die Politikimplementation beinhaltet. Der Begriff „öffentlicher Sektor“ hat den Vorteil, dass er parastaatliche Institutionen bzw. Verwaltungstrabanten einschließt und die begriffliche Hervorhebung 4 5
Bürokratieforschung
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Empirisch-analytisch wird an die von Max Weber unterschiedenen Merkmale bürokratischer Organisationen angeknüpft, womit aber auch die Wechselbeziehungen mit Individuen, Netzwerken, gesellschaftlichen Sektoren (vor allem mit der Privatwirtschaft) in den Blick geraten. Darüber hinaus werden mit dem Begriff „Bürokratisierung“ die Prozesse der Entwicklung und Wechselwirkungen solcher Merkmale erfasst; der Begriff „Bürokratismus“ bündelt dagegen bestimmte Erscheinungsformen der übertriebenen bzw. kontraproduktiven Bürokratiemerkmale von Organisationen. Normativ ausgeprägt sind die Staatskonzepte und ihre Begründungen (Legitimation) – wozu auch Empfehlungen zur Ausgestaltung oder zur Reform gehören – sowie die gesellschaftliche Bürokratiekritik, die verschiedene der o. a. Aspekte zum Gegenstand haben kann.
Mit diesem Begriffsinventar ist es möglich, die wichtigsten Elemente der Bürokratieforschung zu erfassen. Um dem Inventar eine kompaktere Begriffserläuterung zur Seite zu stellen kann man den Gegenstand der Forschung bezeichnen als: Gesellschaftsgestaltende und verwaltende („Staats“)Tätigkeit im Rahmen spezifisch dafür geschaffener Organisationen Schaubild:
Gegenstandsbereiche der Bürokratieforschung
Die im Schaubild dargestellten Überlappungen zwischen den Gegenstandsbereichen lassen die doppelte Bestimmung der Bürokratieforschung erkennen: die Auswahl des Gegenstandsfeldes (öffentlicher Sektor) und die Auswahl eines bestimmen organisatorischen (bürokratischen) Gestaltungsprinzips. Diese doppelte Themenbestimmung lässt unterschiedliche Argumentationsfolgen zu. In diesem Beitrag geschieht dies in drei Schritten: 1. Im „verwaltender“ Tätigkeiten vermeidet; der Nachteil: Wie beim Staatsbegriff wird die Legislative und Judikative eingeschlossen.
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ersten Schritt erfolgt die Beschreibung des öffentlichen Sektors und der öffentlichen Verwaltung anhand rechtlicher Vorgaben und statistischer Daten. 2. Im zweiten Schritt wird – gewissermaßen als Hauptteil – mit der „Empirie der Bürokratieforschung“ die Untersuchung bürokratischer Organisationen im öffentlichen Sektor dargestellt; allerdings kann dabei die Ausdehnung dieses Organisationsprinzips in andere gesellschaftliche Sektoren nicht unberücksichtigt bleiben. 3. Abschließend wird ein Ausblick auf die Theorieentwicklung gegeben sowie auf das derzeit für den Themenzusammenhang wichtigste Praxisprojekt – die Entbürokratisierung – eingegangen.
2
Beschreibung des öffentlichen Sektors in Deutschland7
2.1 Strukturprinzipien und Daten Eine erste Annäherung an die Bürokratieanalyse wird durch die Frage bestimmt, wie sich die öffentliche Verwaltung bzw. der öffentliche Sektor (hier: in Deutschland) für den Beobachter darstellt. Diese Frage kann nur unter Rückgriff auf die Selbstbeschreibung des öffentlichen Sektors beantwortet werden: welches Bild entwirft die öffentliche Verwaltung in offiziellen Dokumenten von sich selbst? Die Quellen der Selbstbeschreibung sind grundlegende Daten (der statistischen Ämter) einerseits und Normen andererseits. Das Grundgesetz spielt hierbei eine hervorgehobene Rolle. Normen und Daten stehen in engen Beziehungen zueinander, weil z.B. das Grundgesetz (im Folgenden GG) (mit)bestimmt, wie die Daten zustande kommen.8 Auf der Ebene grundlegender Verfassungsprinzipien (GG) lassen sich folgende Merkmale der deutschen Verwaltungsarchitektur benennen:
7 8
Demokratie, d. h die Bürger sind (indirekt) Auftraggeber der öffentlichen Verwaltung Gewaltenteilung; d.h. Steuerung der Verwaltung durch die Legislative und Kontrolle der Verwaltung durch die Judikative (insb. Verwaltungsgerichtsbarkeit) (Kooperativer) Verwaltungsföderalismus, der die Verantwortung für die Gestaltung der Regeln vor allem der EU, dem Bund und den Bundesländern – die Umsetzung (Implementation) den Ländern und vor allem den Kommunen („kommunale Selbstverwaltung“) zuordnet Rechtsstaatlichkeit (in der kontinental-europäischen Ausprägung), d.h. Rechtsbindung des Verwaltungshandelns, legalistische Gestaltung der Normen, besondere Betonung der Grundrechte als Beschränkung staatlicher Machtentfaltung (BVerfG) Die Formbestimmung der öffentlichen Verwaltung und damit der Aufbau der Verwaltung (i.e.S.) ergibt sich a) durch die materiellen Rechtsgrundlagen in nachgeordnetem Recht, das die Aufgaben näher bestimmt; b) durch öffentliche Mittel, die auf der Grundlage von Haushaltsgesetzen verteilt werden; c) durch speziell ausgebildetes Verwaltungspersonal, darunter insbesondere Beamte mit spezifischem Treueverhältnis zum Staat sowie d) durch spezifische (öffentlichrechtliche) Organisationsformen.
Vgl. einführend Bogumil/Jann (2005). Die Schwierigkeiten mit international vergleichenden Statistiken sind ein Beleg für die nationalen Prägungen.
Bürokratieforschung
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Die statistischen Beschreibungen bedienen sich vor allem der leicht abzählbaren Personenzahlen des Öffentlichen Dienstes und der Kosten der Aufgabenerledigung. Den Ausgangspunkt bilden zwei Zahlen, die den Umfang des öffentlichen Sektors deutlich machen: die „Staatsquote“ beträgt ohne die Soziale Sicherung: 25,9 Prozent des BIP (mit: 46,7 %). Der Anteil der im öffentlichen Dienst Beschäftigten an der Erwerbsbevölkerung beträgt ca. 12 Prozent. Durch Untergliederung der Daten lassen sich Einzelbereiche des öffentlichen Sektors in ihrer Entwicklung nachvollziehen (vgl. Tab. 1).9 Eine Abbildung der Organisationsstrukturen ist nur teilweise möglich:10
Bundesverwaltung mit derzeit 15 Ressorts/Ministerien11 16 Bundesländer mit jeweils ähnlichen Anzahlen von Ministerien u .a. Behörden 323 Kreise (mit einer nicht präzise benennbaren Zahl von Behörden) 116 kreisfreie Städte (mit einer nicht präzise benennbaren Zahl von Behörden) 13416 Gemeinden (mit einer nicht präzise benennbaren Zahl von Behörden)
Einzelheiten der Organisationsstrukturen12 und der Arbeitsprozesse lassen sich im Rahmen der legalistisch ausgeprägten deutschen öffentlichen Verwaltung durch die Analyse von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen in einer ersten Annäherung erfassen.13 Probleme ergeben sich bei der Feststellung der Realphänomene durch die unüberschaubare Fülle der Rechtsmaterien, die den ohnehin vorhandenen Differenzen zwischen Normen und Wirklichkeit weiteren Schub geben. Dazu tragen aber auch (neue) Trends bei, den durchführenden Verwaltungsakteuren mehr Handlungs- und Entscheidungsspielräume einzuräumen (Beurteilungs-, Ermessensspielraum, unbestimmte Rechtsbegriffe, Zweckprogramme). Insofern liefern die (vergleichsweise) seltenen empirischen Studien durchweg Belege für die Vielfalt konkreter Strukturen und Abläufe – selbst bei einheitlichen rechtlichen Rahmenbedingungen. Die Frage, was im öffentlichen Sektor in Deutschland tatsächlich „der Fall ist“, lässt sich also allenfalls in Ausschnitten präzise beantworten.
2.2 Exkurs: Vergleichende Analyse von Architekturen der Öffentlichen Verwaltung Die o. a. Beschreibungsmerkmale der öffentlichen Verwaltung gewinnen einen großen Teil ihres Informationswertes erst durch die Darstellung von Zeitreihen. Sie lassen 9 Dabei werden drei Unterscheidungsdimensionen berücksichtigt: Öffentliche Verwaltung i. e. S. und öffentlicher Sektor (i. w. S.); die vertikale Untergliederung von Verwaltungsebenen gemäß dem im GG verankerten Prinzip des Verwaltungsföderalismus – worin sich auch die Schwerpunkte Politikberatung und Gesetzesausführung widerspiegeln; die horizontale Untergliederung von öffentlichen Aufgaben. 10 Zwischenebenen (wie Bezirksregierungen) und Sonderbehörden werden gar nicht berücksichtigt. Zudem sind diesbezügliche Daten extrem schnell veraltet. 11 Insgesamt – nach Feststellung des BMI (2004) – sind es 533 Behörden. 12 Zwei Grundmuster der Verwaltungsorganisation seien zumindest benannt: die Ministerien mit dem Schwerpunkt der Politikvorbereitung und die kommunalen Verwaltungsbehörden (Ämter) mit dem Schwerpunkt der alltagsbezogenen Durchführungsaufgaben (Implementation). 13 Verfassungsrecht, allgemeines und spezielles Verwaltungsrecht, materielle Rechtsbereiche u. a.
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Bürokratieforschung
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Entwicklungstendenzen des öffentlichen Sektors erkennen und verweisen damit auch auf die (vermuteten) Einflüsse politischer Entscheidungen. Eine ebenso wichtige Variante des Vergleiches ist die Untersuchung verschiedener Fälle innerhalb und zwischen nationalen Verwaltungsarchitekturen. Der internationale Vergleich ist vor allem für die Analyse der Gesamtstruktur (Makrostruktur) von Interesse, da auf dieser Ebene andere Vergleichsmöglichkeiten fehlen.14 Die Ergebnisse einer international vergleichenden Darstellung (Analyse) der öffentlichen Verwaltung werden vor allem von vier Festlegungen bestimmt; von: 1. inhaltlichen Leitfragen (Erkenntnisinteressen), 2. Vergleichsmerkmalen, 3. Anzahl und Heterogenität der Fälle, 4. Charakter und Qualität des (empirischen) Belegmaterials. Mit Blick auf derartige Festlegungen werden fünf Beispiele kurz beschrieben. Dass es sich dabei i. d. R. um Sammelbände in englischer Sprache handelt liegt in der Natur der Sache (des Vergleichs).
Tummala (2003): dieser Sammelband beschreibt ausführlich den Bedarf an international vergleichenden Studien und erläutert methodologische und wissenschaftshistorische Fragestellungen. Die 18 Länderbeiträge werden durch einige Leitfragen vereinheitlicht – ohne dass jedoch ein Fazit gezogen wird. Chandler (2000, 2005): durch Beschränkung auf acht Fälle (aus Europa, USA, Japan) sowie strukturierende Fragen ist bei diesem Sammelband ein thematischer Fokus (New Public Management – NPM15) erkennbar, der zur Frage nach dem Grad der Homogenisierung von Verwaltungsarchitekturen in den untersuchten Fällen führt. Im Fazit wird festgestellt, dass eine Homogenisierung mit Bezug auf NPM und andere Architekturmerkmale allenfalls rudimentär entwickelt ist. Pollitt/Bouckaert (2000) : diese Monographie zeigt eine deutlich höhere Kohärenz als die o. a. Bücher; Fallbeschreibungen bleiben im Hintergrund. Im Mittelpunkt stehen verschiedene Aspekte des weltweit diskutierten NPM, das die Leistungssteigerung (Effizienz), aber auch den Abbau von Verwaltungskapazitäten zum Ziel hat. Die Studie bilanziert die inzwischen erreichten sowie die verfehlten Ziele. Auch hier wird eine geringe Tendenz zur Konvergenz aufgezeigt. Dabei wird belegt, dass durch den internationalen Vergleich Erklärungsfortschritte – z.B. hinsichtlich der Reformfähigkeit verschiedener Verwaltungssysteme – erreicht werden können. Wollmann/Schröter (2000): dieser Sammelband beschränkt sich auf den Vergleich zwischen Großbritannien und Deutschland und konzentriert sich auf die Sozialpolitik und -verwaltung als Gegenstandsfeld. Dadurch gelingt eine große Tiefenschärfe (Makro-, Meso- und Mikroaspekte), die durch einheitliche Leitfragen gestützt wird. Die
14 Obwohl die generelle Bedeutung des Vergleichs für die Bürokratieforschung in dem Sinne betont wird, dass damit das Verständnis des „eigenen“ Systems erhöht wird, waren und sind die Motive für die Vergleichsanalysen oft anderer Natur: z.B. aus der Sicht der Außenpolitik/internationalen Beziehungen – mit der Frage, mit welchem anderen System man es jeweils zu tun hat; neuerdings vor allem von internationalen Institutionen (Weltbank, IWF) aus betrachtet – mit der Frage der Entwicklungsfähigkeit und Förderungswürdigkeit einzelner Staaten. Das primäre Interesse galt für lange Zeit den politischen Strukturen und der Politikgestaltung (Regierungssystem, Parlament, Wahlen, Parteien), schließt nun aber zunehmend die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung mit ein („good governance“; Rechtstaatlichkeit; Gewährleistung von Sicherheit). 15 New Public Management (NPM) bezeichnet eine internationale Reformstrategie vor allem für die lokale Verwaltung (seit etwa 1990), die sich vor allem betriebswirtschaftlicher Instrumente zur Effizienzsteigerung bedient.
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Dieter Grunow Analyse belegt, dass die Unterschiede zwischen den beiden Ländern auf den verschiedenen Analyseebenen unterschiedlich groß sind. Schnapp (2004): Diese Monographie untersucht die Frage, wie Ministerialverwaltungen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen können und wie groß dabei ihr Einflusspotenzial ist. In die vergleichende Analyse wurden 21 OECD Staaten einbezogen. Die wichtigste Untersuchungsdimension (als erklärende Variable) ist die Rechtstradition (römisch-französisches öffentliches Recht vs. angel-sächsisches common law), wobei Ministerialverwaltungen der erstgenannten Tradition besonders großes, der letztgenannten besonders geringes Einflusspotenzial haben. Die drei untersuchten Arten des Einflusses – Agendasetting; strategische Interaktion im Rahmen der Entscheidungsfindung; bürokratische Drift (Zielverschiebung in der Durchführungsphase) – haben unterschiedliches Gewicht. Schließlich wird erörtert, wie die Balance zwischen notwendiger Beteiligung der Ministerialverwaltung und der demokratischen Kontrolle bei aktuellen Reformen gesichert werden kann.
Die Beiträge lassen bei aller Unterschiedlichkeit die generelle Schwierigkeit erkennen, eine solide Materialbasis unter Vergleichbarkeitsstandards zu gewinnen. Die Fallbeschreibungen sind i. d. R. durch eine Mischung normativer Prinzipien (meist Verfassungsprinzipien), grober statistischer Indikatoren, einzelner wissenschaftlicher Vertiefungsstudien und ganz selten speziell für den Vergleich durchgeführter Forschungen gekennzeichnet. Die aus den Vergleichen gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse haben eher allgemeinen Charakter (Jann 1986): z.B. a) bezüglich der relativen Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems; b) bezüglich der Konvergenz oder Divergenz der Systeme; c) bezüglich unterschiedlicher Stadien der Entwicklung, die typologisierend erfasst werden (z.B. OECD Staaten, Transformationsstaaten (des ehemaligen Ostblocks), Schwellenländer, Entwicklungsländer o. ä.); und d) bezüglich der Bedeutung einzelner Systemmerkmale (z.B. unitarisch vs. föderativ) für alle anderen Systemmerkmale.
2.3 Bürokratiekritik als gesellschaftliches Phänomen Mit der Entstehung von öffentlicher (bürokratischer) Verwaltung als Teil der Staatstätigkeit ist – wie oben gezeigt – die Ambivalenz von Leistung und Herrschaft verbunden. Dies fordert die mehr oder weniger offenen Reaktionen der betroffenen Bevölkerungsmitglieder und Organisationen heraus. In beiden Hinsichten wird mehr Kritik und Ablehnung als Lob und Zustimmung formuliert. Dies hat viele Gründe: Mit dem Anwachsen öffentlicher Aufgaben ist die Bevölkerung „von der Wiege bis zur Bahre“ von Phänomenen der Verwaltungsbürokratie betroffen: alle haben Erfahrungen gemacht, alle trauen sich ein Urteil zu. Dabei wird der öffentliche Sektor als Einheit gesehen: Kritik wird also rasch generalisiert. In vielen Fällen haben die Gesellschaftsmitglieder keine Wahlmöglichkeit bzw. können sich den Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung nicht entziehen: das fördert ein Gefühl des Ausgeliefertseins; restriktive Maßnahmen „des Staates“ werden deutlicher wahrgenommen als die Leistungen und angebotenen Möglichkeiten (opportunities); die Klagen dominieren; „der Staat“ oder „die Beamten“ sind zudem Gegenstand populärer (satirischer, ironischer, kriti-
Bürokratieforschung
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scher) Publikationen, Medienberichte oder Kabarett-Programme u. ä.16 Damit werden Klischees transportiert, das bedeutet, dass Fakten und Fiktionen in den Wahrnehmungen und Bewertungen der Bevölkerung vermischt werden. Empirische Forschungen haben gezeigt, dass die bürokratiebezogenen Kommentare der Bevölkerung von dem jeweils bewusst oder unbewusst benutzten Bezugsrahmen (cognitive frame) abhängen.17 Gegenstand der Kritik Bezugsrahmen der Bewertung
Herrschaft/Eingriff Einzelelemente System
Leistung Einzelelemente System
Abgleich mit dem vom Gesetzgeber bzw. von der öff. Verwaltung definierten Standard
Zwangsanwendung (Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes von Zwangsmitteln)
Korruption, Willkür (fehlende interne Kontrolle durch Verwaltung und Parlament)
Leistungsrationierung (bei knappen Kassen), Rechtsbeugung, Fehlverhalten d. Personals
Erwartungen aufgrund individueller Interessen
BürokratieÜberwälzung (z.B. Informationspflichten der KMU)
Beeinträchtigung von Freiheitsgraden (z.B. Tempolimit)
Keine Einzelfallgerechtigkeit
Bezugnahme auf normative bzw. ideologische Leitbilder
Sozialisierung (Kritik am Steuerstaat)
„Zwangsstaat“ (aus der Sicht des Anarchismus formuliert)
„Soziale Hängematte“ wird gefördert (Kritik am Wohlfahrtsstaat)
Klientelismus (mangelnde Verteilungsgerechtigkeit) Dickicht der Bürokratie Soziale Benachteiligung der ohnehin Schwachen; mangelnde Transparenz Staatsversagen (Ineffizienz administrativer Güterallokation)
Eine große Bedeutung haben dabei „eingeschliffene“ Erwartungen. Erst ihre Enttäuschung (Streik, Erfahrungen im Ausland) machen die Mängel ebenso wie die als „normal“ bzw. für selbstverständlich angesehene Leistung der öffentlichen Verwaltung sichtbar. Die wissenschaftliche Analyse der Bürokratiekritik macht nicht nur auf die Bewertung der öffentlichen Verwaltung durch die Bevölkerung (und andere Interessenten/Stakeholders) aufmerksam, sondern zeigt auch das Merkmalsspektrum dessen auf, was unter dem Stichwort Bürokratie in der Gesellschaft beobachtet und thematisiert wird. Eine grobe Übersicht gibt die obige Tabelle:18 16 Vgl. u. a. Beamtenwitze im Internet; Balzacs Buch über die Beamten; die „Yes-Minister“ Serie im BBC; Medienauftritte des Bundes der Steuerzahler; siehe Benjamin (1998) als eine lesenswerte neuere Zusammenfassung vieler Argumente. 17 So ist die diffuse Gesamtbeurteilung der öffentlichen Verwaltung eher positiv (korreliert mit Lebenszufriedenheit); auch die letzten eigenen Verwaltungskontakte werden selten kritisch kommentiert. Dagegen sind die NegativStereotype bei Einzelaspekten (Amtsdeutsch, Formulare, Ineffizienz) sehr weit verbreitet (bei zwei Drittel bis drei Viertel der Bevölkerung). Diese auf drei Abstraktionsebenen angesiedelten Einstellungen können also bei einzelnen Befragten konträr sein, sie werden offenbar nicht wechselseitig abgeglichen (Grunow 1988; neueste Daten bei: Institut 2007). Zumindest scheinen die eigenen Erfahrungen die Kritik an der öffentlichen Verwaltung in der Bevölkerung nicht vorrangig zu prägen: Berichte in den Medien, Erfahrungen vertrauenswürdiger Bekannter oder Kritiken aus der Verwaltung selbst dominieren häufig ihre Urteile. 18 Die Systematik der Tabelle ergibt sich aus drei Dimensionen: a. die (nahe liegende) Unterscheidung zwischen Herrschaftsausübung/Restriktion/Kontrolle/Bestrafung (Eingriffsverwaltung) und Leistungsgewährung (Leistungsverwaltung); b. die Unterscheidung des zugrunde liegenden Erwartungshorizonts: die von der öffentlichen Verwaltung (bzw. den Rechtsvorschriften) veranlassten Handlungen (Eingriffs-, Leistungsstandards); die subjektive Erwartung (bestimmt durch die Eigeninteressen); die Bezugnahme auf allgemeine Leitbilder („des Staates“); und c. die Unter-
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Dieter Grunow
Besonders die „Erwartungen aufgrund individueller Interessen“ lassen sich breit auffächern, weil hier sehr spezifische Ausgangslagen und Motive zur Geltung kommen. Die Wirkung der Kritik ist allerdings von der Zahl der betroffenen Akteure sowie von der gesellschaftlichen Position (Einflusschance) einzelner Akteure abhängig.19 Auf diese Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden; es ist jedoch davon auszugehen, dass viele der im Folgenden beschriebenen Elemente der Bürokratieforschung auch Gegenstand der gesellschaftlichen Bürokratiekritik sind bzw. sein können.
3
Empirie bürokratischer Verwaltungsarchitekturen
3.1 Wissenschaftliche Grundlagen und Forschungsstrategien der Bürokratieforschung 3.1.1
Interdisziplinarität der Bürokratieforschung
Zu der Vielfalt von Themen, Leitfragen, Begriffen und Definitionen der Bürokratieforschung trägt ihr interdisziplinärer Charakter bei. Lässt man die normativen Ansätze – Staatsphilosophie, Rechtswissenschaft sowie Teile der Betriebswirtschaftslehre und der Politikwissenschaft – hier außer Acht, so ist folgendes festzustellen: In der Betriebswirtschaftslehre wie in der Verwaltungslehre werden Praxeologien für das Verwaltungshandeln entwickelt, wobei auf empirisch-analytische Konzepte und Forschungsergebnisse der empirischen Sozialforschung zurückgegriffen wird20. Die empirisch ausgerichtete Politikwissenschaft befasst sich vor allem mit der politisch-demokratischen Legitimation des Verwaltungshandelns auf der Inputseite (Wahlen, Gesetzgebung) sowie mit der Wirksamkeit politischer Steuerung und administrativer Politikumsetzung auf der Outputseite. Die Soziologie betont die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und öffentlichem Sektor (Mayntz 1978). Die Vergesellschaftung des Staates ebenso wie die Verstaatlichung/Bürokratisierung der Gesellschaft werden zum Bezugspunkt gemacht. Dabei spielt die Frage eine wichtige Rolle, wie „Gesellschaft“ generell verstanden und – vor allem – wie sie in bestimmten historischen Phasen typisiert wird: heute u. a. als Zivilgesellschaft, Organisationsscheidung zwischen einer Systembetrachtung („der Staat“, „die öffentliche Verwaltung“, „die Bürokratie“) und der Betrachtung von einzelnen Bausteinen (Formulare, Beamte, Sprache, Leistungsinhalte). Im Übrigen muss angemerkt werden, dass eine umfassende sozialwissenschaftliche Analyse der Bürokratiekritik nicht existiert (Ansätze allenfalls im Rahmen der Entbürokratisierungsdebatte – s. u.); verfügbar sind Sammlungen von Negativbeschreibungen (Caiden 1991). 19 Die Kritik bleibt häufig wirkungslos, weil den wenigen (benachteiligten) Kritikern ggf. viele (schweigende) Nutznießer gegenüberstehen. Viele Aspekte des staatlichen Handelns haben nicht nur große Betroffenengruppen, sondern beinhalten auch Gewinner und Verlierer, die dementsprechend unterschiedlich reagieren. Unüberschaubar ist die Bürokratiekritik deshalb, weil die Ansatzpunkte der Kritik, die in der o. a. Tabelle sehr komprimiert beschrieben sind, extrem ausdifferenziert sein können. 20 Der Dominanzkonflikt zwischen normativer und empirischer Betrachtung der öffentlichen Verwaltung ist methodologischer Art und deshalb – insbesondere in Deutschland mit seiner legalistischen und überregulierten öffentlichen Verwaltung – trotz diesbezüglicher Bemühungen kaum zu überwinden. Exemplarisch ist dies an der Geschichte der Bemühungen um eine (integrative) Verwaltungswissenschaft in Deutschland aufzuzeigen (Ziekow 2004). Impulse für eine empirisch-analytische Verwaltungsbetrachtung kommen deshalb vor allem aus den angelsächsischen Ländern (mit einer anderen Rechtstradition).
Bürokratieforschung
365
gesellschaft, Ensemble von gesellschaftlichen Funktionssystemen. Je nach dem gewählten Fokus können z.B. Bürger-Verwaltungsbeziehungen, Bürokratieüberwälzung auf Wirtschaftsbetriebe oder andere Schnittstellen untersucht werden. Dabei spielen auch die Organisationssoziologie und Netzwerkanalysen eine wichtige Rolle21.
3.1.2
Bürokratieforschung als Verwaltungsreformforschung
Der Verwaltungswissenschaftler Thomas Ellwein hat schon früh (u. a. 1982) darauf hingewiesen, dass sich eine sozialwissenschaftliche (empirische) Forschung über die öffentliche Verwaltung vor allem auf Reformprozesse bezieht. Dies hat zwei Vorteile: sie kann reale Entwicklungen und damit auch Kausalzusammenhänge erfassen; und sie kann Informationsquellen jenseits der (oft selektiven) Selbstdarstellung der öffentlichen Verwaltung erschließen, die sonst i. d. R. nicht zugänglich sind. Damit sind zugleich Nachteile verbunden: die mit den Reformen verknüpften Fragestellungen stimmen oft nicht mit den Fragen überein, die für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt notwendig sind. Zudem sind Reformprojekte mit ausgeprägten Interessen der beteiligten und betroffenen Akteure (so genannte Stakeholders) verbunden, die nicht selten versuchen, die Ergebnisse der Forschung zu beeinflussen, zu manipulieren oder zu unterdrücken. Die Chancen der Bürokratieforschung hängen also u. a. von der Verwaltungskultur ab: ist die öffentliche Verwaltung bereit, sich kritischen Fremdbeobachtungen und ihren Ergebnissen auszusetzen? Wenn dies nicht gewünscht wird, stehen kommerzielle (Beratungs-) Unternehmen22 als Alternative zur Verfügung – auf die de facto auch immer häufiger zurückgegriffen wird. Abgesehen von der Konkurrenz um Forschungsaufträge hat diese Entwicklung einen grundlegenden Nachteil für die wissenschaftliche Bürokratieforschung: die Forschungsergebnisse können bei Bedarf nicht nur von der Verwaltung zurückgehalten, sondern auch von den Beratungsfirmen als „Betriebsgeheimnisse“ behandelt werden. Dies beeinträchtigt den auch für die Bürokratieforschung wichtigen „öffentlichen“ Charakter der Forschungsergebnisse und ihrer Diskussion. Es gibt allerdings auch Trends, die den öffentlichen Zugang zu Forschungsergebnissen erleichtern: die immer häufiger gesetzlich verankerten Evaluationspflichten bei Reformprogrammen, die auch eine Veröffentlichung vorschreiben, sowie das wachsende Interesse der Politik an Verwaltungsreformen – wodurch eine Durchführung hinter verschlossenen Türen erschwert wird.
21 In der folgenden Darstellung wird der disziplinären Zuordnung einzelner Problemstellungen kein Vorrang gegeben. Wichtiger ist die Erfassung derjenigen Forschungskomponenten, die für die Politische Soziologie von Bedeutung sind. 22 Das Auftraggeber-Auftragnehmer-Verhältnis wird dabei explizit als analog zum Einkauf anderer Produkte definiert: Wenn ich heute ein Auto kaufe weiß ich auch vorher wie es beschaffen ist, und ich kann zudem noch einzelne Elemente selbst bestimmen (Farbe, Felgen, elektronische Ausstattung etc.). Warum soll das bei einem Forschungsauftrag zur Verwaltungsreform anders sein?
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3.1.3
Dieter Grunow
Methoden der Bürokratieforschung
Die zuvor beschriebenen Rahmenbedingungen haben Einfluss auf die Auswahl und Ausgestaltung der (empirischen) Forschungsmethoden. Zunächst lässt sich feststellen, dass im Prinzip das ganze Spektrum reaktiver und nichtreaktiver, quantifizierender und so genannter qualitativer Erhebungsmethoden zum Einsatz kommen kann (Derlien 2002). Während die Forschungen über die Bürgerinnen und Bürger bzw. die Adressaten von Verwaltungsentscheidungen vor allem die verschiedenen Befragungsmethoden nutzen, dominieren bei Untersuchungen der Verwaltungsarchitektur und der Politikberatung durch die (Ministerial-)Verwaltung Fallstudien, die häufig mit einem Mehrmethodenansatz verbunden sind. Dabei spielen die verschiedenen Varianten qualitativer Befragung (Experteninterview etc.) eine dominierende Rolle. Wichtig ist die Methode der Dokumentenanalyse, weil in der öffentlichen Verwaltung fast alle Vorgänge dokumentarisch erfasst werden (Aktenführung). Die Inhaltsanalyse von Dokumenten erlaubt daher einen direkten Zugang zur Entscheidungspraxis der Verwaltung. Selten wird die Methode der Beobachtung angewendet – obwohl sie zur Feststellung dessen, was in der öffentlichen Verwaltung tatsächlich der Fall ist, einen wichtigen Beitrag leisten müsste und könnte.
3.2 Dimensionale Analyse bürokratischer (Verwaltungs-)Architekturen In diesem Abschnitt wird Bürokratie im Sinne von „bürokratischer Organisation“ betrachtet und einer dimensionalen Analyse unterzogen23. Dabei wird zunächst bei dem idealtypischen Konstrukt24 angesetzt, das Max Weber (1964: 162f) formuliert hat: „§ 4. Der reinste Typus der legalen Herrschaft ist diejenige mittels bureaukratischen Verwaltungsstabs... Die Gesamtheit des Verwaltungsstabes besteht im reinsten Typus aus Einzelbeamten (Monokratie, im Gegensatz zur "Kollegialität", von der später zu reden ist), welche 1. 2. 3. 4. 5. 6.
persönlich frei nur sachlichen Amtspflichten gehorchen in fester Amtshierarchie , mit festen Amtskompetenzen , kraft Kontrakts, also (prinzipiell) auf Grund freier Auslese nach Fachqualifikation – im rationalsten Fall: durch Prüfung ermittelter, durch Diplom beglaubigter Fachqualifikation – angestellt (nicht gewählt) sind, entgolten sind mit festen Gehältern in Geld, meist mit Pensionsberechtigung, unter Umständen allerdings (besonders in Privatbetrieben) kündbar auch von seiten ihres Herrn, stets aber kündbar von seiten des Beamten; dies Gehalt ist abgestuft primär nach dem hierarchischen Rang,
23 Mit dimensionaler Analyse ist gemeint, dass einzelne Aspekte oder eben Dimensionen bürokratischer Organisationen wie z.B. ihre Aufbau- und Ablauforganisation betrachtet werden. 24 Idealtypus bedeutet eine rationale Konstruktion der reinen Form, die qua definitionem in der Realität nicht vorkommen kann. Der Idealtyp ist daher auch kein normatives Modell, das in der Realität anzustreben sei. Der Idealtyp dient vielmehr der Konfrontation mit den Beobachtungen der Realität (Realtypen) und damit als Grundlage für die Suche nach Ursachen für die Differenzen zwischen Idealtyp und Realtypen. In diesem Sinne hat der Idealtyp vor allem einen heuristischen Wert.
Bürokratieforschung
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daneben nach der Verantwortlichkeit der Stellung im übrigen nach dem Prinzip der „Standesgemäßheit“ (Kap. IV), 7. ihr Amt als einzigen oder Haupt-Beruf behandeln, 8. eine Laufbahn: „Aufrücken“ je nach Amtsalter oder Leistungen oder beides abhängig vom Urteil der Vorgesetzten, vor sich sehen, 9. in völliger "Trennung von den Verwaltungsmitteln" und ohne Appropriation der Amtsstelle arbeiten, 10. einer strengen einheitlichen Amtsdisziplin und Kontrolle unterliegen.“
Diese idealtypische Konzeption von Weber wurde in der weiteren Diskussion aufgelöst und mit anderen Forschungsfragen verknüpft. Die Bürokratiemerkmale wurden zu Variablen umformuliert, durch spezifische empirische Messvorschriften konkretisiert und dann in der vergleichenden Organisationsforschung angewandt.25 Damit wird rein beschreibend festgestellt, a) mit welcher empirisch nachweisbaren Intensität die Bürokratiemerkmale in konkreten Organisationen (Ministerien; Parteien; kommunale Behörden etc. – ggf. im Vergleich zu Wirtschaftsunternehmen) auftreten; und b) welche typischen Kombinationen von Merkmalen zu beobachten sind. Wie nicht anders zu erwarten ist die empirische Variationsbreite sehr groß; damit wird die Kohärenz des „Idealtyps“ Bürokratie aufgelöst in eine Vielzahl von Realtypen, d.h. Organisationsmustern, die mehr oder weniger nah an den Referenztyp von Weber heranreichen. Faktisch kann jede Dimension der bürokratischen Organisation eine hohe oder geringe Intensität aufweisen (Peters/Wright 1996):
neben oder in Konkurrenz zu formalen (schriftlichen) Festlegungen von Arbeitsabläufen und Zuständigkeiten können informelle Prozesse treten; die Über- und Unterordnung durch die vertikale Verteilung von Anordnungs- und Kontrollkompetenz (Hierarchie) kann unterschiedlich strikt erfolgen bzw. durch teamartige Architekturbausteine ergänzt werden; ähnliches gilt für Elemente der Verwaltungskultur wie für die Unpersönlichkeit, die Aktenmäßigkeit und für den Nichtbesitz der Arbeitsmittel; im Außenverhältnis wird nicht nur mit Regeln und ihrer Durchsetzung gearbeitet, sondern auch mit finanziellen Anreizen, Planungsvorgaben, Informationen u. a.
Ein zentraler Einflussfaktor ist die Organisationsgröße (Personalzahlen). Je höher die Zahl der Beschäftigen desto größer der Bürokratisierungsgrad. Eine besondere, z.T. relativierende Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Dimension der Personalqualifikation. Weber hatte im Bürokratiemodell die Fachqualifikation im Kontrast zu dem in den historischen Analysen nachgewiesenen Dilettantismus eines Verwaltungspersonals konzipiert, das auf die Durchführung öffentlicher Aufgaben nicht angemessen vorbereitet war. Die Empirie der realen Entwicklung zeigt jedoch eine Tendenz zu wachsender Professionalität, die über die von Weber beschriebene Fachlichkeit hinausgeht. Deshalb findet die Frage nach der Vereinbarkeit der sonstigen Bürokratiemerkmale mit der Professionalität des Personals immer
25
Vgl. hierzu insbesondere die Dokumentation bei Mayntz (1971).
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mehr Beachtung: Je höher die Professionalität des Personals ist, desto weniger geeignet erscheinen die Merkmale Hierarchie26 und Aufgabenformalisierung als organisationsstruktureller Rahmen.27 Zur Klärung dieser Zusammenhänge werden vor allem folgenden Aspekte empirisch erforscht:
die Art und das Niveau der Fachlichkeit; das Ausmaß der Anpassung des Personals an die organisationsstrukturellen Vorgaben – bis hin zur Herausbildung einer „bürokratischen Persönlichkeit“; damit verbunden ist die Frage, wie die Leistungsbezogenheit der Personalentwicklung (im Kontrast zum traditionellen Senioritätsprinzip) z.B. bei Aufgabenzuschnitt, Beförderung und Bezahlung sichergestellt werden kann (Bull 2006). die Neutralität oder die Politisierung des Personals (des Verwaltungsstabes), die zur Unterscheidung zweier Profile geführt hat: den „klassischen“ und den „politischen“ Bürokraten (Schuppert 2000: Kap. 8). die Repräsentativität des Personals oder die Eliten- bzw. Kaderbildung (mit eigenem Machtpotenzial); hierbei wird die Verteilung von soziodemographischen Merkmalen beim Verwaltungspersonal mit Blick auf die Repräsentation der Merkmalsverteilung in der Bevölkerung („representative administration“) untersucht28.
Die empirische Forschung widerspricht also insgesamt der Unterstellung, dass Organisationen im öffentlichen Sektor eine einheitlich hohe Ausprägung bürokratischer Merkmale aufweisen. Damit wird die Frage aufgeworfen, ob überhaupt oder unter welchen Bedingungen es sinnvoll ist, von „bürokratischen“ Organisationen zu sprechen.29 Die zunächst dominierende Antwort auf diese Frage – die Positionierung einzelner Organisationen auf einer Skala zwischen den Extrempunkten a) bürokratische und b) assoziative Organisation (später: Matrixorganisation) – wird heute durch die Beschreibung „typischer“ Merkmalscluster abgelöst. So unterscheidet Mintzberg (1991) auf der Basis einer breiten Materialauswertung sieben Typen:30 Unternehmerische Organisation, Maschinenorganisation, Organisation der
26 Weber hatte den möglichen Widerspruch zwischen hierarchischer Position (d.h. Spitzenposition) und Kompetenz bereits thematisiert, aber auf das Verhältnis von politischem Personal und Verwaltungspersonal bezogen und darin ein Problem für die demokratischen Arrangements formuliert. Hier ist jedoch auch von Diskrepanzen zwischen verschiedenen Verwaltungsebenen die Rede. Ein Aspekt dieses Problems ist die Gegenüberstellung von Generalisten (z.B. Staatsekretären und Abteilungsleitern) und Spezialisten (z.B. Referatsleitern) in der Verwaltungshierarchie. 27 Dies ist zugleich ein wichtiger Aspekt des oft prekären Wechselverhältnisses von Organisationsmitgliedern und Organisation. Es geht darum, die individuellen und die Organisationsinteressen (bzw. Logiken) möglichst weitgehend anzugleichen. Dadurch wird auch die Qualität der Leistungen/Entscheidungen der Individuen mitbestimmt: der organisatorische Rahmen gilt als Verstärker für individuelle Kompetenz. 28 Als kontrastierende Beispiele eignen sich die USA (geringe Elitenbildung und Machtposition des Spitzenpersonals) und Japan (starke Elitenbildung und Machtposition des Spitzenpersonals). 29 Angemessener ist die Formulierung „Organisationen mit einem hohen/geringen Bürokratisierungsgrad“. Als Alternative besteht die Möglichkeit, Grenzwerte für die Merkmale festzulegen, bei deren empirisch festgestellter Überschreitung eine Organisation als „bürokratisch“ eingestuft werden soll. 30 Diese unüberschaubare Zahl lässt sich nur dadurch gewinnen, dass er die Analysedimensionen bündelt bzw. reduziert: a) Primärer Koordinationsmechanismus (Formen der Standardisierung/Formalisierung); b) Schlüsselteil der Organisation (Arbeitsteilung, Verantwortungsbeschreibung; Rolle des Personal); und c) Typ der Dezentralisierung (Hierarchie, Netzwerke).
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Professionals, Diversifizierte Organisation, Innovative Organisation, Missionarische Organisation, Politische Organisation. In dieser Typologie kommt die Maschinenorganisation dem Idealtyp Bürokratie am nächsten – ohne damit allerdings zu unterstellen, dass im öffentlichen Sektor ausschließlich/überwiegend dieser Typus vorzufinden ist. Die empirische Bürokratie- bzw. Organisationsforschung öffnete nämlich auch den Blick für die Umwelt der (bürokratischen) Organisation. Weber hatte durch die Betonung der legislatorischen Vorgaben eine überschaubare und eher „stabile“ Bürokratieumwelt konzipiert und deshalb von der formal rationalsten Form öffentlicher Aufgabenerledigung sprechen können. Inzwischen werden aber multiple, z. T. auch sehr dynamische Umweltsegmente in die Analyse einbezogen. Die aktuellen empirisch fundierten Typologien stellen somit eine Konzeption umweltbezogener Organisationen dar. Neben den Variationen des Politikinputs (diktatorische, autoritäre Herrschaft, legislative Programmsteuerung, exekutive Führerschaft u. a.) werden – im Zuge der Ausweitung des öffentlichen Aufgabenspektrums – weitere Anforderungen an die Verwaltungsorganisation gestellt: von der Öffentlichkeit; einzelnen Interessengruppen; dem Nutzer von Dienstleistungen und Adressaten belastender Entscheidungen. Die Qualität der Verwaltungsarchitektur erweist sich also erst mit den Wirkungen, die ihre Entscheidungen im komplexen gesellschaftlichen Umfeld tatsächlich erzeugen. Insofern erfolgt die Überprüfung der Eignung bürokratischer Verwaltungsmerkmale in zwei Hinsichten: der Sicherung allgemeiner Handlungsfähigkeit (generelle „Überlebens“-Bedingung) einerseits und spezifischer Leistungsfähigkeit (Problemlösungsfähigkeit) andererseits.
3.3 Analyse von Bürokratisierungsprozessen Die empirischen Analysen von Organisationen der öffentlichen Verwaltung weisen unterschiedliche Bürokratisierungsgrade nach. Sie variieren u. a. mit den in Kap. 2.1 beschriebenen Verwaltungsfunktionen – insbesondere Politikvorbereitung und -durchführung; Eingriffsverwaltung, Leistungsverwaltung, Steuerungsverwaltung – und den Politikfeldern (Steuerpolitik, Umweltpolitik, Außenpolitik etc.). Argumente über Voraussetzungen und Folgen müssen dementsprechend differenziert werden. Dies gilt auch für Art und Umfang der Wechselbeziehungen zur Organisationsumwelt. Die klassische Gegenüberstellung von „Staat“ und Gesellschaft löst sich in beide Richtungen auf: Vergesellschaftung des „Staates“, die heute insbesondere unter der Überschrift Governance diskutiert wird, und die Verstaatlichung (besser Bürokratisierung) der Gesellschaft. Letzteres ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. Dabei geht es um die Dynamisierung der Bürokratieanalyse. Eine Systematisierung von Bürokratisierungsprozessen – im Sinne der Entwicklung qualitativer und quantitativer Merkmale – darf nicht auf Organisationen beschränkt bleiben. Grunow (1982) schlägt deshalb eine Zusammenhangsmatrix vor, die die individuelle Ebene, die Ebene von Arbeitsgruppen (Interaktion zwischen Anwesenden), die Ebene der Organisation, die Ebene der Organisationsnetzwerke (z.B. Politikfelder) und die Ebene der Gesellschaft einschließt.
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Bürokratisierung von Persönlichkeitsmerkmalen sei definiert als die Zunahme derjenigen individuellen Orientierungen und Dispositionen, die für Mitglieder bürokratischer Organisationen charakteristisch sind: fragloser Gehorsam, Regelorientierung, Dogmatismus, Risikoscheu, Sicherheitsstreben. Interaktive Bürokratisierung sei definiert als die Zunahme bürokratischer Charakteristika in Interaktionssystemen: Unpersönlichkeit, Ritualisierung, Asymmetrie, Selektivität. Organisatorische Bürokratisierung sei definiert als die quantitative Ausbreitung und qualitative Intensivierung bürokratischer Merkmale von Organisationen: Hierarchisierung, horizontale Differenzierung, Normierung und Formalisierung von Organisationszielen und Arbeitsabläufen, die Formalisierung der Kooperation zwischen den Organisationsmitgliedern und der Außenbeziehungen, die besondere Betonung der schriftlichen Kommunikation, d. h. die Aktenmäßigkeit der Verwaltung, das Laufbahnprinzip die lebenslange Beschäftigung und Alimentation, die rationale Disziplin. Interorganisatorische Bürokratisierung bezeichnet die (absolute und prozentuale) Zunahme von bürokratischen Organisationen und ihren (bürokratischen) Verknüpfungen in Interorganisationsnetzen. Bürokratisierung der Gesellschaft sei definiert als der zunehmende Einsatz bürokratischer Organisationsformen und bürokratische Verflechtungsmuster bei der gesellschaftlichen Problembearbeitung.
Die sich daraus ergebende Matrix (vgl. Tab. 2) wechselseitiger Bürokratisierungsimpulse lässt erkennen, warum viele praktische Entbürokratisierungs-Strategien erfolglos bleiben; sie unterschätzen die vielschichtigen „Antriebskräfte“ für weitere Bürokratisierung. Die Bürokratieforschung liefert bisher vielfältige Teil-Beiträge zu diesem Analysezusammenhang. Hier können nur die wichtigsten kurz beschrieben werden.
Bürokratieforschung
Tabelle 2:
Bürokratisierungsmerkmale und ihre Wechselbeziehungen im Überblick
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372
3.3.1
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Zur Symbiose von bürokratischer Persönlichkeit und bürokratischen Verwaltungsstrukturen
Die im Modell von Weber noch vorgesehene Symbiose, in der ein strickt regelkonformes unpersönliches Verhalten des Personals – den Verfahrensregeln der Verwaltung entsprechend – als wichtige Voraussetzung zur Vermeidung von Willkür, Vetternwirtschaft und Korruption angesehen wurde, ist unter Bedingungen wertkomplexer und dynamischer gesellschaftlicher Umfelder der öffentlichen Verwaltung schwierig geworden. Zudem ändern sich die Randbedingungen der Personalrekrutierung und -ausbildung: Die Dominanz der Juristen nimmt ab, die Rekrutierung für Laufbahnen werden zugunsten der Rekrutierung für spezifische Dienstposten aufgegeben; die Aufgabenstellungen erfordern mehr Flexibilität und die Handhabung von Entscheidungsspielräumen. Die angespannte Arbeitsmarktlage führt im öffentlichen Dienst auch zur Bewerbung von Personen mit antibürokratischer Attitüde. Die empirische Bürokratieforschung untersucht die Orientierungen des Personals und ihre Veränderungen über die Zeit (Anpassung an Vorgaben der Organisation) ebenso wie die Bedingungen, unter denen Personen Innovationen gegen die bürokratische Routine durchsetzen. Neben der üblichen Aufgabenerledigung geht es also auch um die Fähigkeit des Personals, Reformprozesse zu unterstützen. Dabei ist zu beobachten, dass die Balance zwischen individuellen Interessen und der Organisationslogik prekär ist: Die öffentliche Verwaltung muss mit schnell wechselnden (politischen) Präferenzen rechnen, gleichzeitig aber auch eine stabile regelkonforme Aufgabendurchführung sicherstellen.
3.3.2
Zur Begründung des Wachstums der öffentlichen Verwaltung
Spätestens seit dem von Wagner (1877) formulierten „Gesetz der wachsenden Staatsaufgaben (-ausgaben)“ wird nach den Gründen dieses empirisch nachweisbaren Phänomens gefragt. Dabei muss allerdings beachtet werden, dass der Wachstumstrend keineswegs linear verläuft und vor allem nicht für alle Segmente des öffentlichen Sektors gleichermaßen gilt. Insofern sind die „einfachen“ Antworten – wie „Expansion von Wohlfahrtsleistungen“, „Zunahme der Bevölkerung“ oder „selbstinduziertes Wachstum bürokratischer Organisationen“ – nicht immer richtig. Dabei zeigen sich auch die Auswirkungen von wiederholten Maßnahmen zum Aufgaben- und Personalabbau („Aufgabenkritik“, „Cut back“). Hood (1994) kann daher zeigen, dass es zwar nicht-reversible Wachstumsprozesse der zuvor beschriebenen Art in der öffentlichen Verwaltung gibt, dass aber der überwiegende Teil von Wachstumsfaktoren auch ins Gegenteil umschlagen kann: Er nennt diese Faktoren kontingent-reversibel (z.B. Konjunkturzyklen; Cut back Kampagnen), auto-reversibel (z.B. klientelorientierte Politik) und super-auto-reversibel (Postfordismus) (Hood 1994: 98ff). Da es für alle Erklärungsansätze empirische Belege gibt, lässt sich die Entwicklung bzw. das Wachstum öffentlicher Aufgaben nur anhand eines komplexen Konzeptes erklären.
Bürokratieforschung
3.3.3
373
Zur Analyse kontraproduktiver Effekte (Bürokratisierungsimpulse vs. Leistungsfähigkeit, Bürokratisierung durch Entbürokratisierung; Entbürokratisierung durch Bürokratisierung)
Herausragende Bedeutung haben die dynamischen Analysen der Wechselbeziehungen bürokratischer Organisationsmerkmale (vgl. Tabelle 2) und ihre Auswirkungen auf die Leistung oder auch Mängel der öffentlichen Verwaltung. Unter dem Stichwort „bürokratisches Dilemma“ werden die Übergänge von rationaler Bürokratie zu Bürokratismus, von wirksamer Aufgabenerfüllung zu Ressourcen verschwendender Beschäftigung mit sich selbst erfasst. Die dabei vermeintlich entdeckten „Prinzipien“ (z.B. Murphy´s Gesetz: was schief gehen kann das geht auch schief) sind zwar idealtypisch übertrieben, deuten aber auf wichtige Wirkungsmechanismen hin. Frühe Beispiele sind von Merton (1968: 249ff: Modell struktureller Rigidität) und Crozier (1963: 187ff: bürokratischer Teufelskreis) formuliert worden. Sie zeigen, dass die Leistungsfähigkeit einer bürokratischen Organisation nur durch ständige „Neujustierung“ bzw. durch „Finetuning“ erreicht werden kann. Im Kontext der neueren Reformforschung (Pollitt/Bouckaert 2000: 170 f) wird u. a. auf folgende Ambivalenzen hingewiesen: Das Streben nach politischer Kontrolle widerspricht der geforderten Eigenverantwortung der Verwaltungs-„Manager“; öffentliche Verantwortlichkeit der Verwaltung soll gestärkt werden – was durch den gleichzeitigen Rückzug aus vielen Aufgaben konterkariert wird; die jüngste Schaffung weiterer Spezialverwaltungen geht nicht mit der Forderung nach besserer Koordination einher.
3.3.4
Zur aktuellen Dominanz von Bürokratisierungsprozessen auf der Ebene von Organisationsnetzwerken
Nicht zuletzt die Forschung zu „bürokratischen Dilemmata“, durch die „gute Absichten“ zu schlechten Ergebnissen führen können, haben zu den oben beschriebenen vielfältigen Variationen von Organisationsformen – auch im öffentlichen Sektor – geführt. „Kleine Dienstwege“, „unbürokratisches Verhalten“, Projektgruppen, Querkoordination signalisieren die Bestrebungen, vor allem hinsichtlich der einzelnen Verwaltungsorganisationen die Intensität bürokratischer Organisationsmerkmale zu verringern oder ihre ungewünschten Effekte einzudämmen. Daraus haben Grunow/Hegner (1977) die These abgeleitet, dass die wichtigsten neueren Bürokratisierungsprozesse im Bereich der interorganisatorischen Beziehungen ablaufen werden – sowohl innerhalb des öffentlichen Sektors (z.B. Bürokratisierung durch Europäisierung) als auch innerhalb des privatwirtschaftlichen Sektors (z.B. McDonaldisierung; Zulieferernetzwerke, Konkurrenz mindernde Großfusionen) und insbesondere zwischen beiden Sektoren (z.B. Quangokratisierung der Welt (Hood), Netzwerkbildung in Form von Public Private Partnership (PPP) – meist im „Schatten der Hierarchie“ (Scharpf) oder Verbetriebswirtschaftlichung der öffentlichen Verwaltung (Grunow)). Damit wird also der üblichen Erwartung widersprochen, die Netzwerkbildung stelle eine weitgehende Auflösung bürokratischer Koordinations- und Entscheidungsmuster dar. Angesichts der Vielfalt der vernetzten Segmente (Politikfelder/Branchen, Organisationsgrößen, Ebenen der Verwaltung etc.) ist als Ergebnis jedoch keine einheitliche Architektur zu erwarten. Wie in den anderen Dimensionen der Bürokratisierung ist die Zunahme bürokratischer Interorga-
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nisationsbeziehungen weder hermetisch noch komplett. Auch hier zeigen sich unterschiedliche Ausprägungen im Grad bürokratischer Verkopplung: durch Regeln, förmliche Verträge, Über- und Unterordnungsverhältnisse, durch (technikgestützte) Kontrollstrukturen, durch Personaltransfer u .a. m. Wie die ausgewählten Beispiele belegen, eröffnet die prozessbezogene Bürokratieforschung einen Übergang von beschreibenden zu erklärenden Aussagen (siehe dazu unten weitere Details).
3.4 Bürokratieanalyse als Verwaltungsreformforschung Auf die Bedeutung reformbezogener Forschung wurde einleitend bereits hingewiesen. Sie stellt den quantitativ größten Teil verfügbarer Forschungsbeiträge dar. Rasch wechselnde Fragestellungen und die Dominanz praktischer Interessen beeinflussen ihre wissenschaftliche Bedeutung und insbesondere ihre Verdichtung zu „gesicherten“ Erkenntnissen. Zwar gibt es sichtbare Reformschwerpunkte, die im Zeitverlauf wechseln (Seibel 1982), doch ist damit nur die „Spitze des Eisbergs“ erfasst. Löst man das Gegenstandsfeld „öffentliche Verwaltung“ vertikal und horizontal in seine vielfältigen Komponenten auf, so finden ständig irgendwo Änderungen statt, die Gegenstand empirischer Forschungen sind: territoriale Neuzuschnitte, Umbau von Verwaltungsapparaturen und Personalstrukturen, Aufgabenund Personalreduktion, Verfahrensvereinfachung; aber auch neue Aufgaben, neues Personal, neue Regelungsbereiche und Regulierungsbehörden u. v. a. m. Ob diese praxisbezogenen Forschungen i. e. S. der Bürokratieanalyse zuzurechnen sind, muss im Einzelfall entschieden werden – soweit die Ergebnisse überhaupt öffentlich zugänglich sind. Aus der Vielfalt werden drei Forschungsansätze an je einem Beispiel illustriert:
3.4.1
Die modellhafte Erprobung neuer Verwaltungsstrukturen (hier: Bürgerämter31)
Modellerprobungen spielen als Elemente der experimentellen Politik seit ca. 40 Jahren eine wichtige Rolle in der Reformforschung, weil der Modellentwicklung stets eine wissenschaftliche Begleitforschung hinzugefügt ist. Obwohl die Befunde vor allem der Begründung und Ausgestaltung neuer Gesetzgebung dienen sollen, sind sie auch eine wichtige Hilfe für die praktische Gestaltung öffentlicher Aufgabenerledigung. Ein neueres Beispiel ist die Einführung von Bürgerämtern, die inzwischen in Deutschland weit verbreitet sind. Sie sollen eine unerwünschte Nebenfolge verwaltungsinterner Differenzierung und Spezialisierung beseitigen: die Irrwege der Bürgerinnen und Bürger durch das „Dickicht der Bürokratie“ (Wollmann). Orientiert an dem Begriff der Lebenslage werden wichtige Leistungen (im Bereich An-, Um-, Abmeldungen, Genehmigungen, Bescheinigungen, Zertifizierungen u. ä.) gebündelt. Die früher organisatorisch verstreuten Einzelleistungen werden nun an einer Stelle kompakt als Bürgerservice bereitgestellt – eine Erleichterung, die von den Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen und positiv bewertet wird. Dieses Beispiel empirischer Reformfor31
Empirisch untersucht von Kißler et al. (1997).
Bürokratieforschung
375
schung zeigt die Bedingungen der erfolgreichen Implementation, die komparativen Kosteneffekte und die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger auf.
3.4.2
Die Evaluation einer Policy-Implementation (hier: Hartz IV32)
Spätestens mit der Evaluationsstudie von Pressman/Wildavsky (1976), in der es um die (fehlenden) Wirkungen arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen in den USA ging, ist die Implementationsforschung – auch unter dem Begriff „formative Evaluation“ – ein regelmäßiger Bestandteil der Reformforschung und zwar insbesondere von Policy-Reformen. Dem liegen zwei simple – und dennoch von vielen Akteuren nicht akzeptierte – Sachverhalte zugrunde: 1. Die meisten Policies sind selbst nach der parlamentarischen Verabschiedung nur bedrucktes Papier; erst die praktische Umsetzung – sei es im öffentlichen Sektor oder in anderen Bereichen der Gesellschaft – macht sie „wirklich“ und ggf. wirksam. 2. Die ausschließliche Erfassung der Wirkungen einer Policy lässt keine hinreichenden Schlüsse bezüglich der Erfolgs-/Misserfolgsgründe zu. Erst die (begleitende) Erforschung des Implementationsprozesses leistet dies und ist damit eine notwendige Grundlage für Revisionen der Politikgestaltung. Am Beispiel der Hartz IV-Gesetzgebung lässt sich zeigen, dass die organisatorischen und personellen „Komplikationen“ durch die Zusammenführung von Sozialamt und Agentur für Arbeit ebenso vorausgesagt werden konnten, wie die Umwandlung der vom Gesetzgeber intendierten Restriktionen für die Leistungsbezieher zu den von diesen wahrgenommenen und ausgenutzten Opportunitäts- bzw. Anreizstrukturen (Beispiel: Bedarfsgemeinschaften).
3.4.3
Die Beobachtung eines breit ansetzenden Reformprojektes (hier: NPM33)
Den Kern der empirischen Bürokratieforschung treffen vor allem Reformen, die Strukturen und Arbeitsabläufe der öffentlichen Verwaltung generell bzw. im Querschnitt als Fokus wählen. Sie sollen unabhängig von einzelnen Politikfeldern oder von speziellen Policies Wirkungen erzeugen: weniger Kosten, bessere Wirksamkeit, schnellere Bearbeitungsprozesse, weniger Willkür und Korruption. Seit ca. 15 Jahren ist die „Verbetriebswirtschaftlichung“ des öffentlichen Sektors im Rahmen des so genannten „New Public Management“ (NPM) ein vorherrschendes Untersuchungsfeld in diesem Bereich. Dabei kann die Frage überprüft werden, ob sich privatwirtschaftliche Elemente der Organisationsgestaltung (flache Hierarchien, Dezentralisierung von Zuständigkeit, Auslagerung von Aufgaben, Kooperation auf der Basis von Verträgen, neues Finanzmanagement u. a.) und der Personalentwicklung in die mehr oder weniger bürokratischen Grundstrukturen des öffentlichen Sektors einbauen lassen. Durch die große Verbreitung dieses Reformansatzes können viele vergleichende Untersuchungen angestellt werden; auch der (i. d. R. dramatisch unterschätzte) Zeitbedarf für die Durchführung groß dimensionierter Reformen lässt sich präzise bestimmen. Schließlich steht die Frage zur Prü32 33
Inzwischen liegen erste Zwischenbilanzen zur Umsetzung dieser Gesetzgebung vor: Jann/Schmid (2004). Aus der Fülle der Literatur: Jann et al. (2004).
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Dieter Grunow
fung an, wie viele Architekturveränderungen gleichzeitig (Erfolg versprechend) in Gang gesetzt werden können; die Beobachtungen sprechen für eine eher geringe Zahl, da es sich um einen „Reifenwechsel bei voller Fahrt“ handelt. Zu viele „Reparaturen“ zu gleicher Zeit haben die Reformprozesse in vielen Fällen zum Stillstand gebracht. Ein wichtiges Element des NPM, das sich zunehmend als eigenständiger Reformansatz erweist, ist die verbreitete Nutzung von IuK-Technologien einschließlich des Mediums Internet. Dieser Reformprozess unter dem Stichwort E-Government hat durch die rasante Technikentwicklung und durch den Querschnittscharakter großen Einfluss auf allgemeine Änderungen im öffentlichen Sektor. Ob damit die Prinzipien der bürokratischen Verwaltungsorganisation gestärkt oder in Frage gestellt werden, ist noch nicht abzusehen. Die Beispiele belegen die nach wie vor große Überlappung zwischen der Untersuchung von Bausteinen der öffentlichen Verwaltung einerseits und der Analyse bürokratischer Organisationen andererseits – ohne dass Ersteres immer für Letzteres herangezogen wird. Nicht selten stehen verschiedene Forschungsfragen, Konzepte und Forschungsfelder unvermittelt nebeneinander, womit sie u. a. die Segmentierung des Gegenstandes selbst – in Verwaltungsebenen, Politikfelder, Behördenarrangements – reproduzieren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich gegenwärtig folgende Reformfelder beschreiben, die durch NPM inspiriert und durch empirische Forschung flankiert werden (Hill 2006):
4
Makroarchitekturen: Mehrebenenverflechtungen (Reform des Verwaltungsföderalismus); Europäisierung; Wettbewerb; Leistungsvergleich und Benchmarking Interorganisations-Verflechungen (vor allem horizontal): Public-Private-Partnership (PPP), Teilprivatisierung mit Regulierungsstrukturen (Telekom, Energieversorgung, Post, Bahn); Beteiligungsmanagement; Politikfeldanalyse Außenbeziehungen der Verwaltung: Bürger/Kunden-Verwaltungsbeziehungen; Bürgerbeteiligung (Partizipation) und Bürgerengagement; E-Government; Vereinfachung und Abbau von Regeln, die Dritte (v. a. die Privatwirtschaft) betreffen Binnenorganisation: Technikeinsatz (E-Government); Dezentralisierung (des Ressourceneinsatzes); Cutback- und Finanzmanagement; Qualitätssicherungsmaßnahmen; Controlling
Perspektiven der Bürokratieforschung und ihre Theoriebezüge
4.1 Theorieentwicklung im Rahmen der Verwaltungsforschung Das breite Spektrum von Fragestellungen und die meist sehr spezifischen empirischen Forschungsergebnisse erschweren eine theoretische Verdichtung im Rahmen der Bürokratieforschung. Wie oben bereits an vielen Themenbeispielen gezeigt, werden überwiegend gegenstands- und problemnahe Konzepte entwickelt, deren Geltungsbereich jenseits der betrachteten Einzelfälle und -aspekte unsicher ist. Die empirische Aufschlüsselung des Weberschen Idealtypus hat gezeigt, wie hochgradig (binnen-) differenziert die öffentliche Verwaltung ist und welche unterschiedlichen, rasch wechselnden Anforderungen von außen an sie gestellt
Bürokratieforschung
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werden. Theoretische Verdichtungen werden weitaus schwieriger, wenn man von Einzelaspekten der Bürokrati(sierungs)forschung zur Analyse der öffentlichen Verwaltung übergeht. Schon die Frage, was in Deutschland diesbezüglich der Fall ist, lässt sich nur bruchstückhaft beantworten. Hinzu kommen neue Rahmenbedingungen – z.B. Europäisierung, Globalisierung, technologische Entwicklungsschübe (neue Medien) –, die bisherige Antworten auf viele Fragen der Verwaltungsforschung verändern. Dennoch gibt es immer wieder zumindest für bestimmte Zeitphasen thematische Akzentsetzungen, die konzentrierte Konzeptentwicklungen auch hinsichtlich umfassender Verwaltungsbezüge nach sich ziehen. Die wichtigsten gegenwärtigen Argumentationsmuster lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
öffentliche Verwaltung unter den Bedingungen der Globalisierung (v. a. Europäisierung; Entgrenzung von territorialen Zuständigkeiten; „Wettbewerb“ zwischen Verwaltungssystemen) Die Diskussion von Globalisierung und ihre Implikationen für den öffentlichen Sektor hat viele Facetten. Ein herausragendes Thema ist der faktische oder vermutete Funktionsverlust des Nationalstaates – nicht zuletzt in Folge der Auflösung von Grenzziehungen (territorial, kommunikativ, kontrollbezogen). Die Beobachtungen zeigen, dass der vollständige Funktionsverlust desaströse Folgen hat (Chaos, Korruption, Bürgerkrieg). Solche Beispiele werden unter dem Stichwort „failing states“ analysiert. Die Diskussion konzentriert sich daher zunehmend auf die Bestimmung funktionaler Äquivalente, d.h. auf Muster neuer Staatlichkeit, die die Funktionen von Politik und Verwaltung erfüllen: Dezentralisierung, (neue) Kleinstaaterei; Entwicklung komplexer Mehrebenenverflechtungen (EU); Global Governance u. a. m. öffentliche Verwaltung und gesellschaftliche Trends (z.B. zur Wissensgesellschaft) Ein wichtiger Diskussionsstrang bezieht sich auf Gesellschaftstypisierungen (Dienstleistungsgesellschaft, Wissensgesellschaft etc.), mit denen versucht wird, bestimmte (meist neuere) Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse als prägend darzustellen – was kaum gelingen kann. Bereits die Vielfalt solcher Wortprägungen zeigt, dass es sich nur um eine je spezifische, also selektive Perspektive der Gesellschaftsanalyse handelt. Der Bezug zur öffentlichen Verwaltung ergibt sich dadurch, dass sie als wesentlicher Teilbereich mit darüber entscheidet, wie bedeutsam die gesellschaftlichen Trends sind: sei es als Objekt der Entwicklung oder als Gestalter der entsprechenden Phänomene (vgl. z.B. die Rolle der Verwaltung in der Dienstleistungs-Gesellschaft). Eine besondere Verknüpfung mit der Bürokratieforschung besteht mit der Diskussion des Konzepts „Organisationsgesellschaft“ – die aber trotz langer Tradition noch immer aus Facetten und Perspektiven (Jäger/Schimank 2005) besteht.
Typologische Darstellung von Grundfunktionen der öffentlichen Verwaltung – z. T. in Phasenmodellen zusammengefasst (meist in Wechselwirkungen mit der ökonomischen Entwicklung) Mit den zuvor beschriebenen Leitfragen ist die typisierende Darstellung von gesellschaftlichen Entwicklungsphasen eng verbunden. Dabei dominiert meist die Entwicklung der Ökonomie als „Taktgeber“ – ohne allerdings auf die klassischen (z.B. marxistischen) Evolutionstheorien zurückzugreifen (historischer Materialismus). Die Schemata sind eher prag-
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Dieter Grunow
matisch heuristisch ausgerichtet und dabei überwiegend rückblickend. Politische und administrative Strukturen und Krisen (die nach Veränderungen drängen) werden meist als Folgen der ökonomischen Entwicklungen dargestellt und führen zu Staats- bzw. Verwaltungstypisierungen (Böhret 2002). Sie sind allerdings wegen geringer empirischer Substanz für theoretische Verdichtungen nur begrenzt geeignet. Der Hauptmangel der Phasenmodelle besteht im Mangel an Synthesekonzepten, denn faktisch werden bestimmte Muster der Administration mit jeder „neuen“ Entwicklungsphase nicht einfach abgelöst oder ausgetauscht sondern nur ergänzt. Vergleichende Politikfeld- und Policyanalysen Eine andere Strategie der Zuspitzung von Analysegegenständen, die eine theoretische Verdichtung erlauben, ist die Analyse von Politikfeldern und deren Vergleich. Damit wird eine Sektorisierung in der Forschung verhindert, die üblicherweise den Konkurrenzen/Egoismen der Ressorts (in der Praxis) folgen. Die Bürokratieforschung kann dadurch verhindern, dass die selektiven Erfahrungen der Forscher (in einem Politikfeld) unbegründet auf „die“ Verwaltung oder „den“ öffentlichen Sektor übertragen werden und zu falschen theoretischen Generalisierungen führen.
Ansätze zur Entwicklung „postbürokratischer“ Alternativen zum Idealtyp von Weber: virtuelle Organisation; lernende Organisation, Matrixorganisation, hybride Organisationsformen, „seamless organisation“. Ein engerer Bezug zu den Themen der Bürokratieanalyse besteht in den Versuchen, auf organisationstheoretischer Ebene das Modell von Weber zu „überwinden“. Wie bei Weber überlappen sich dabei die Verwaltungsorganisationen und Wirtschaftsorganisationen als Analysegegenstand, da sie weitgehend die „bürokratischen“ Charakteristika teilen. Solange der von Weber betonte rationale Charakter des Organisationsmodells nicht aufgegeben werden kann/soll, bleibt die enge Bezugnahme auf das Bürokratiemodell bestehen. Dies kommt durch die Bezeichnung „postbürokratisch“ treffend zum Ausdruck. Es geht also nicht einfach um die Alternativen zur bürokratischen Handlungskoordination (also Markt oder Selbstorganisation) sondern um die Frage nach den für die gegenwärtigen Rahmenbedingungen besser geeigneten Hybridformen öffentlicher Organisationen. Insofern ist die allgemeine Ebene der öffentlichen Verwaltung angesprochen: Kann sie durchgängig mit einem neuen organisatorischen Grundmuster „ausgestattet“ werden? In der diesbezüglichen (auch internationalen Diskussion) wird diese Frage mit der kritischen Bilanz der NPM-Reformen verknüpft: Die Hauptthese lautet, dass das NPM die Grundlagen der bürokratisch ausgeformten Verwaltungsarchitekturen nicht ernsthaft beeinflusst hat (Meier/Hill 2005). Auf Schnittstellen bezogene Analysen (Bürger, Politik, Privatwirtschaft): Governance. Eine weitere Fokussierung der Perspektive, die zu anderen Theorieansätzen führt, ist die Betonung der Schnittstelle zwischen Bürger und öffentlicher Verwaltung. Dahinter steht die These, dass die politisch-administrativen Machtstrukturen „entkernt“ werden, dass dezentralisiert, kommunalisiert, vergesellschaftet wird (Beck). Die diesbezüglichen Überlegungen werden derzeit unter dem Stichwort Governance erörtert, wobei die Beteiligung der „Zivilgesellschaft“, von NGOs etc. eine wichtige Rolle spielt. Bürgerkommune, Volksgesetzge-
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bung, outputbezogene Steuerung, neue Vertragsbeziehungen und Ko-Produktion sind weitere Konzepte, die in diese Überlegungen einbezogen sind. Ein besonders wichtiges Element ist dabei die Nutzung neuer Medien (insb. Internet). Ein kompaktes theoretisches Profil ist jedoch noch nicht erkennbar (Benz 2004). Auch die Theorieperspektiven hinsichtlich der öffentlichen Verwaltung bleiben – wie zuvor gezeigt – überwiegend ihren Forschungsgegenständen verhaftet. Für ihre weitere theoretische Verdichtung ist eine Bezugnahme auf abstraktere Theorieansätze, die nicht speziell mit Blick auf die bürokratischen Verwaltungsorganisationen und ihre Veränderung entwickelt wurden, hilfreich (Snellen 2006). Dies betrifft v. a. Theorien, die eine universalistische Geltung für sich in Anspruch nehmen. Angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung des Gegenstandes öffentliche Verwaltung können solche Theorien ihn nicht ausklammern. Beispielhaft seien hier die Strukturationstheorie (Giddens), die Rational Choice-Theorie (Niskanen u.v.a.) und die Systemtheorie (Luhmann) genannt. Auf Letztere sei hier kurz eingegangen. Wie kein anderer Theorieansatz stellt die Systemtheorie Luhmanns eine große Zahl von Begriffen in einen systematischen Zusammenhang. Dies erlaubt es, sowohl auf spezielle Fragen der bürokratischen Organisation als auch auf gesellschaftliche Funktionssysteme (öffentliche Verwaltung, Politik, Wirtschaft u. s. w.) sowie auf Globalisierungswirkungen (Weltgesellschaft) Bezug zu nehmen.34 Die (autopoietische) Systemtheorie geht von der Beobachtung einer funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur aus (Luhmann 2005). Gesellschaftliche Sektoren werden als Funktionssysteme konzipiert, die je spezifische Funktionen (für alle anderen Funktionssysteme) erfüllen und für die dafür notwendige Kommunikation eigene Medien und Codes verwenden. Demnach besteht die Funktion des (öffentlichen) Verwaltungssystems in der Herstellung von (für andere Funktionssysteme) verbindlichen Entscheidungen; es arbeitet mit dem Medium Recht und dem Code „rechtmäßig – nicht rechtmäßig“ (Dammann et al. 1994). Mit dem politischen System, das mit dem Medium Macht und den Codes Macht bzw. politische Mehrheit besitzen oder nicht besitzen, ist das Verwaltungssystem strukturell gekoppelt. Obwohl jedes System nur selbstbezüglich arbeiten kann, sind die wechselseitigen „Irritationen“ bei diesen beiden Funktionssystemen sehr groß. Eine Schlüsselrolle für die Koppelung der Funktionssysteme nimmt die Verwaltungsorganisation ein. Ihre Funktion ist die Herstellung von Entscheidungen, die i. d. R. auf allgemeinen und speziellen (policybezogenen) Entscheidungsprämissen (insb. Verwaltungsprogrammen) basieren. Die Erhaltung von Entscheidungsfähigkeit ist daher die Hauptvoraussetzung für das Überleben der Verwaltungsorganisation. Angesichts der Komplexität (Wertepluralität) und Dynamik der Umwelt ist die von Weber dargestellte Form der legalen Programmsteuerung der Bürokratie nur ein Sonderfall. Die öffentliche Verwaltung muss auch nach aktuellen Opportunitäten entscheiden können. Dafür benötigt sie einen Überhang von Handlungsmöglichkeiten – für deren Nutzung sie dann aber selbst die Verantwortung tragen muss. Dies erklärt die ambivalente Rolle bürokratischer Strukturen, die einerseits im Hinblick auf die Flexibilität gelockert werden müssen – andererseits aber unter Entscheidungsdruck auf hierarchische Strukturen und formale Zu34 Dadurch entzieht sich die Theorie natürlich einer kurzen Darstellung. Der hier eingefügte Abschnitt kann also nur dem Zweck dienen, eine intensivere Beschäftigung mit diesem Theorieansatz anzuregen.
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ständigkeiten innerhalb der Verwaltung nicht verzichten kann. Dies erklärt auch das Interesse an der nachhaltigen Sicherung der erforderlichen Ressourcen35. Die damit verbundene Expansion des Verwaltungssystems ist für die Systemtheorie nicht überraschend, da dieses Phänomen für alle gesellschaftlichen Funktionssysteme gleichermaßen gilt: Sie haben keine immanenten Stop-Regeln. Die Begrenzung erfolgt stets durch andere Funktionssysteme, auf deren Leistungen (hier) das Verwaltungssystem angewiesen ist: politische Programme, Geldmittel, wissenschaftliche Erkenntnisse u. a. m. Aus systemtheoretischer Perspektive lässt sich demnach gut begründen, dass Entbürokratisierungs-Kampagnen in der öffentlichen Verwaltung nicht gut aufgehoben sind. In den letzten Jahren sind sie deshalb immer wieder zum Gegenstand von verwaltungspolitischen Initiativen gemacht worden.
4.2 Entbürokratisierung als (verwaltungs-)politisches Programm Trotz der beschriebenen Kontinuität von Bürokratieforschung und öffentlicher Bürokratiediskussion (-kritik) muss man die Beobachtung, dass politische Parteien und Regierungen derzeit mit dem Thema Entbürokratisierung offenbar Wahlen gewinnen bzw. ihre Wiederwahl befördern wollen, als bemerkenswerte Neuerung bewerten. Einerseits ist das Thema für die politische Agenda offenbar nach wie vor hinreichend breit, um sehr unterschiedliche konkrete Projekte zu transportieren36. Zudem scheint die damit formulierte Verwaltungspolitik in der Bevölkerung und bei den organisierten Interessen hochgradig zustimmungsfähig zu sein. Dies hat auch etwas mit der Hoffnung zu tun, nachhaltig Mittel im öffentlichen Sektor einzusparen. Die regelmäßige Neuauflage der Entbürokratisierungskampagnen belegt allerdings, dass ihre Erfolgswahrscheinlichkeit nicht besonders groß ist37. Daher werden auch weiterhin Konzeptentwicklungen und empirische Verwaltungsforschung von diesen praktischen Impulsen beeinflusst werden und Einsichten zu den Wirkungszusammenhängen beitragen müssen. Dies beginnt bereits bei der einleitend erörterten Begrifflichkeit. Entbürokratisierungs-Programme beziehen sich einerseits auf die öffentliche Verwaltung insgesamt und zielen dabei auf Aufgabenabbau (Privatisierung) und Kostenreduktion (Cut back); häufig wird betont, der Staat solle sich auf seine Kernfunktionen beschränken. Andererseits sind solche Programme auf Merkmale der bürokratischen Verwaltungsorganisationen bezogen und „attackieren“ sowohl die übersteigerten Formen (Bürokratismus) durch Deregulierung und Flexibilisierung als auch die Lücken in der bürokratischen Funktionsweise (Willkür, Korruption). So paradox es klingt: in diesen zuletzt genannten Formen zielt die programmatische Ausrichtung auf die „wiederbelebte“ Geltung des Weberschen Bürokratiemodells ab. Es ist also nicht zufällig, dass viele Autoren feststellen, dass auch der letzte 35 Die Vorstellung, dass die Ressourcen für die Zukunft bereits verbraucht sind (Schuldentilgung, Schuldzinsen, Pensionsverpflichtungen) sind für die Finanzminister etc. also nicht unbegründet „traumatisch“. 36 Dazu gehört der Abbau der mittleren Verwaltungsebene (Bezirksregierungen) und Kommunalisierung, die verstärkte Nutzung von neuen Medien (im Innen- und Außenverhältnis), die Erhöhung des Leistungsdrucks auf das Personal durch lineare Ressourcenkürzung, Entpolitisierung von Themen durch Auslagerung von Aufgaben u. a. m. 37 In diesem Befund spiegeln sich die einleitend behandelten begrifflichen Unschärfen: Betrachtet man Entbürokratisierung als Abschaffung des öffentlichen Sektors, so wird man das Ziel nie erreichen. Bezieht man sich aber auf bestimmte Verwaltungsverfahren (z.B.: die Mitzeichnung in der Ministerialbürokratie), dann kann man von Erfolgsbeispielen berichten.
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Modernisierungsschub (NPM) zu einer neo-bürokratischen Entwicklung geführt hat (Meier/ Hill 2005). Entbürokratisierungs-Kampagnen sind dementsprechend ein geeignetes Beispiel für die Darstellung der Wechselbeziehungen von Wissenschaft (Bürokratieforschung), Politik (Verwaltungspolitik) und dem Funktionssystem öffentliche Verwaltung. Das aktuell besonders intensiv diskutierte Projekt – die vorausschauende Kalkulation von „Bürokratie-Kosten“, die (v. a. für die Kleinen und Mittelständischen Unternehmen) durch neue Gesetzgebung entstehen – zeigt allerdings, wie spezifisch die praktischen Akzente ausfallen können (Merk 2005). Typisch ist hierbei, dass die Interessen der Wirtschaft fast immer im Fokus der Deregulierungsziele stehen. Die Bürokratieüberwälzung auf die Bürger (z.B. in der Finanzverwaltung) ist politisch offenbar kaum von Interesse. Diese Fokussierung ist u. a. durch den internationalen Wettbewerb um die Ansiedlung von Unternehmen zu erklären. Standortfragen haben auch mit Bürokratielasten zu tun. Für die Bürokratieanalyse kommt es daher (weiterhin) darauf an, selbst für derartige Spezialfragen „anschlussfähig“ zu bleiben, zugleich aber selbst an der Gestaltung der zukünftigen Forschungsagenda intensiv mitzuwirken.
Empfehlungen für weiterführende Literatur Zur Einführung in die Verwaltungswissenschaft: Bogumil, Jörg/Jann, Werner, 2005: Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, Wiesbaden : VS Verlag für Sozialwissenschaften. Verwaltung NRW: Grunow, Dieter (Hrsg.), 2003: Verwaltung in NRW, Münster: Aschendorff Verlag. Politikfeldspezifische Verwaltungsarchitekturen: Grunow, Dieter (Hrsg.), 2003: Verwaltungshandeln in Politikfeldern, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bürokratiekritik/Satire: Benjamin, Michael, 1998: Der Mensch vor dem Schalter und der Mensch hinter dem Schalter, Baden-Baden: Nomos. Dokumentation der Diskursgeschichte: Jenkins, Bill/Page, Edward C., 2004: The Foundations of Bureaucracy in Economic and Social Thought. 2 volumes, Cheltenham: Edward Elgar. Der Klassiker: Weber, Max, 1964: Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, 2 Halb-Bde (1922), Köln/Berlin: Kiepenheuer und Witsch. Aktuelle Entwicklungen der deutschen Verwaltung: König, Klaus (Hrsg.), 2002: Deutsche Verwaltung an der Wende zum 21. Jahrhundert, Baden-Baden: Nomos. Themen aktueller Verwaltungsreform: Blanke, Bernard et al. (Hrsg.), 2005: Handbuch zur Verwaltungsreform, 3. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Theorieperspektiven: Snellen, Ignace, 2006: Grundlagen der Verwaltungswissenschaft, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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Testfragen 1. 2.
Erläutern Sie die wichtigsten Varianten des Bürokratiebegriffes! Erläutern Sie die Schwerpunke der Verwaltungsforschung einerseits und der Bürokratieanalyse andererseits. 3. Welche Prinzipien des Grundgesetzes bestimmen die Architektur der öffentlichen Verwaltung in Deutschland? 4. In welcher Weise wurde der Webersche Idealtyp Bürokratie in der empirischen Forschung aufgelöst? 5. Welche Antriebskräfte bestimmen die Bürokratieentwicklung in Organisationen und in Interorganisationsnetzen? 6. Was sind bürokratische Dilemmata? Geben Sie Beispiele! 7. Beschreiben Sie Formen und Bedeutung der Verwaltungsreformforschung für die Bürokratieanalyse! 8. Welche Formate benutzt die international vergleichende Bürokratieforschung und welche Ergebnisse liefert sie? 9. Welche aktuellen Reformprojekte beeinflussen den bürokratischen Charakter von Verwaltungsapparaturen? 10. Benennen Sie theoretische Problemstellungen der Verwaltungsforschung jenseits der Weberschen Bürokratietheorie!
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Einleitung: Die Bedeutung von Eliten in Öffentlichkeit und Forschung
Vor dem Hintergrund tiefgreifender gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Wandlungsprozesse wecken die Eliten der Bundesrepublik Deutschland seit einigen Jahren neues Interesse. Das belegt nicht nur eine Vielzahl fach- und populärwissenschaftlicher Publikationen (u.a. Bürklin/Rebenstorf et al. 1997; Welzel 1997; Kodalle 2000; Sauer 2000; Krais 2001b; Hartmann 2002, 2004a, 2007; Kaina 2002a; Hradil/Imbusch 2003; Wasner 2004; Herwig 2005; Gabriel et al. 2006; Münkler et al. 2006b). Auch die öffentliche Aufmerksamkeit zeigt sich für das Elitethema zunehmend sensibilisiert. Ausdruck dessen ist die nach dem „PISA-Schock“ ausgelöste und seither kontrovers geführte Debatte, wie die Eliten des Landes künftig gezielt gefördert und ausgebildet werden können (Bluhm/Straßenberger 2006). Besonders heftig aber werden in letzter Zeit Verhalten, Charakter und Kompetenz der Führungskräfte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft diskutiert, als unverdient empfundene Privilegien deutscher Eliten kritisiert und ihre Orientierung am Gemeinwohl hinterfragt (Münkler 2006: 30f). Diese Auseinandersetzung trifft einen zentralen Nerv der Gesellschaft. Die einen reagieren darauf mit stilistischen Überzeichnungen oder rhetorischen Fehlgriffen, wenn beispielsweise Menschen zu Ungeziefer (z.B. „Heuschrecken“) oder zu „Abschaum“ werden.1 Solche Vereinfachungen und drastischen Zuspitzungen mögen besonders plastisch sein, unmittelbare Empörung über die wahrgenommene Gier und Maßlosigkeit der Privilegierten hervorrufen, vor allem aber tief sitzende Reflexe gegen „die da oben“ erfolgreich aktivieren. Diese Art der Auseinandersetzung birgt aber ebenfalls die Gefahr in sich, die Führungsschicht des Landes insgesamt zu verunglimpfen sowie ihre Mitglieder und die mit einem Aufstieg in die Führungsschicht verknüpften individuellen Anforderungen wie Leistungswillen, Ehrgeiz und Erfolgsstreben zu diffamieren. Andere – darunter die ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog und Johannes Rau –ziehen es hingegen vor, das Thema differenziert und frei von Pauschalvorwürfen in die öffentliche Debatte zu tragen. Dahinter steht die Überzeugung, dass fortgeschrittene, moderne Gesellschaften auf Eliten nicht verzichten können und demzufolge die gesamte Gesellschaft Schaden nimmt, wenn ihre Führungsschicht diskreditiert wird und/oder den an sie gestellten Erwartungen auf Dauer nicht gerecht werden kann. Doch trotz der regelmäßig wiederkehrenden politischen Brisanz und hohen gesellschaftlichen Relevanz der Elitendiskussion ist die Eliteforschung innerhalb der Politikwis-
1 Siehe die im April 2005 ausgelöste Debatte, als der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering das Verhalten mancher Investoren mit Heuschreckenplagen verglich (vgl. SPD-Parteivorstand 2005), während der frühere SPDGeneralsekretär Klaus Uwe Benneter im Februar 2008 Unternehmensvorstände ob ihrer vermeintlichen Selbstbedienungsmentalität als „Abschaum“ titulierte (F.A.Z vom 22. Februar 2008, S. 9).
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senschaft noch immer ein Randthema (Hoffmann-Lange 2004: 243) mit begrenzter Ausstrahlungskraft in die Sub-Disziplinen des Faches. Das mag zum einen damit zu tun haben, dass sich das Erkenntnisobjekt der Eliteforschung nur schwer in die klassischen Kernbereiche der Disziplin einordnen lässt (Hoffmann-Lange 2004: 243). Zum anderen existieren nur wenige international vergleichende Elitestudien (Hoffmann-Lange 2007: 920), die außerdem mit dem Problem zu kämpfen haben, dass zentrale theoretische Fragestellungen mit den Methoden der empirischen Sozialforschung nur ansatzweise verfolgt werden können (Hoffmann-Lange 2004: 244).2 In der Politischen Soziologie ist die wissenschaftliche, das heißt systematische und methodisch geregelte Beschäftigung mit den „Spitzen der Gesellschaft“ (Krais 2001a) allerdings fester Bestandteil des Erkenntnishorizonts. Die politikwissenschaftlich orientierte Eliteforschung ist dabei aufs Engste mit den zentralen Auseinandersetzungen der normativen und empirischen Demokratietheorie verknüpft. Auch deshalb bleibt die Eliteforschung eine zuweilen unterschätzte Inspirationsquelle für Forschungsanliegen, die entweder die Konsolidierungschancen junger Demokratien oder die Stabilität und Funktionstüchtigkeit liberaldemokratischer Ordnungssysteme thematisieren. Zu nennen wären hier beispielhaft Arbeiten über die Rolle von Eliten in Prozessen der Regimetransformation (z.B. Higley/Gunther 1992; Dogan/Higley 1998; Higley et al. 1998; Higley/Lengyel 2000; Higley/Burton 2006) oder über den Beitrag gesellschaftlicher Führungskräfte bei der Effektivitäts- und Legitimitätssicherung demokratischen Regierens unter den Bedingungen wachsender Komplexität (z.B. Sauer 2000; Kaina 2002a, 2004; Münkler et al. 2006b), die im Falle der Bundesrepublik auch noch von einer im internationalen Vergleich herausragenden institutionellen Fragmentierung des Regierungssystems begleitet wird. Ziel dieses Kapitels ist es, in das Gebiet der sozialwissenschaftlichen Eliteforschung einzuführen, mit den wichtigsten Fragestellungen bekannt sowie mit zentralen Kategorien, Konzepten und empirischen Befunden vertraut zu machen. Am Anfang steht die ebenso bedeutsame wie schwierige Frage, was Eliten sind und wer aus welchen Gründen dazu gehört.
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Elitebegriff und Identifikationsmethoden
2.1 Was sind Eliten? Jede Betrachtung über Eliten konfrontiert unweigerlich mit der Frage, wer sich eigentlich hinter dieser Personenbezeichnung verbirgt. Doch diese Frage ist leichter gestellt als beantwortet. Denn bis heute ist der Begriff Elite von nicht enden wollender Auseinandersetzung 2 Ursula Hoffmann-Lange (2007: 920) sieht lediglich drei „echte“ Länder vergleichende Elitestudien: 1) Die TEEPS Befragung von Daniel Lerner und Morton Gordon (1969), bei der Führungskräfte in Großbritannien, Frankreich und Deutschland in mehreren Wellen zwischen 1955 und 1965 interviewt wurden; 2) eine Anfang der 1970er Jahre durchgeführte Elitestudie in Großbritannien, Frankreich, West-Deutschland, Italien, Schweden und den Niederlanden (Aberbach et al. 1981), die allerdings auf Eliten in Politik und öffentlicher Verwaltung beschränkt war sowie 3) eine im Jahr 1996 von der Europäischen Kommission finanzierte und durchgeführte Elitebefragung in den damals 15 EUMitgliedstaaten (Spence 1996).
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und anhaltenden Irritationen geprägt. Vor allem im deutschsprachigen Raum weckt das Wort Elite noch immer Unbehagen oder sogar Ablehnung, was in erster Linie auf historische Vorbelastungen zurückzuführen ist (Bluhm/Straßenberger 2006). Der totalitäre Missbrauch des Elitebegriffs im Nationalsozialismus und die antidemokratischen Erfahrungen der Menschen haben das Wort Elite im deutschen Sprachraum nachhaltig diskreditiert und einen selbstverständlichen, unbefangenen Umgang mit diesem Terminus in Deutschland lange Zeit verhindert. Mehrdeutig und damit als analytische Kategorie problematisch bleibt der Elitebegriff aber auch deshalb, weil er häufig normative Assoziationen weckt und seine Semantik an unterschiedliche ideologische Vorstellungen angepasst werden kann (Wasner 2004: 17). Die Wissenschaft tut sich nicht weniger schwer damit, die Bedeutung des Wortes Elite festzulegen (Schluchter 1963; Endruweit 1979; Imbusch 2003; Wasner 2004: 15-22; Hoffmann-Lange 2004). Dabei ist der etymologische Ursprungsgehalt des Begriffs, der sich vom lateinischen eligere ableitet und so viel wie auswählen bedeutet (Sartori 1997a: 151), der einzige Ankerpunkt einer Vielzahl von Definitionen und Bindestrich-Termini (z.B. Reputations-, Leistungs-, Wert-, Macht- oder Funktionseliten). Gleichzeitig bildet die damit verbundene Implikation der Auslese, die immer anhand bestimmter Kriterien erfolgen muss, den Hintergrund für variierende Elitevorstellungen. In der fachwissenschaftlichen Diskussion werden aber auch eine Reihe theoretischer Argumente bemüht, um den Elitebegriff ganz zu vermeiden (z.B. Herzog 1991; Beyme 1993; Golsch 1998; Krais 2001a, 2003; Borchert 2003). Darüber hinaus beansprucht eine breite Palette von Alternativbegriffen Aufmerksamkeit (Imbusch 2003: 20f): Da ist nicht nur von den „feinen Leuten“ oder der „guten Gesellschaft“ die Rede, sondern auch von den „rackets“ oder „Bobos“, von „Leistungsträgern“ und „Besserverdienenden“, von den „privilegierten Klassen“, „strategischen Gruppen“ und der „politischen Klasse“. Die meisten dieser Begriffe sind jedoch zu schlicht oder auch zu phantasievoll kreiert, um analytischen Ansprüchen genügen zu können. Die allgemeinste Vorstellung von Eliten zielt auf Personenminderheiten, die sich in einem Prozess der Auslese und Konkurrenz herausgebildet haben, der ihre herausgehobene Stellung in der Gesellschaft zugleich rechtfertigt und begründet (Bude 2000: 10).
Mit der ganz allgemeinen Idee von Eliten als einer ausgewählten Minderheit besonderer Qualität vertragen sich auch eher volkstümliche Assoziationen von Eliten, die es durch Wettbewerb, Kampf und Triumph über ihre Konkurrenten bis ganz nach oben, bis in die Spitze geschafft haben – sei es nun in der Politik, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und im Sport, in Kunst oder Kultur. Damit bleibt jedoch offen, welche Merkmale diesen Selektionsvorgang prägen und wie er sich unter spezifischen historischen Konstellationen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vollzieht. Obwohl die frühesten Zeugnisse eines derart einfachen Elitebegriffs anhand biblischer Zitatspuren auf eine Zeit datiert werden, die 3000 Jahre in die Vergangenheit reicht (Endruweit 1979: 32), ist deshalb bis heute kein Konsens darüber gefunden, wer zu den Eliten einer Gesellschaft gehört und warum jemand zum Mitglied dieses Kreises wird. Genauso wenig Einigkeit besteht darin, wie das soziale Phä-
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nomen zu kennzeichnen ist, das Eliten darstellen, ob sie nun als Gruppe, Schicht oder Klasse zu charakterisieren sind (Endruweit 1979: 33ff). Trotz einer in jüngerer Zeit wieder zunehmenden akademischen Neugier an Eliten und eines wachsenden öffentlichen Bewusstseins für ihre Existenz und Notwendigkeit in modernen Flächendemokratien (Engelstad 2007) existiert keine einheitliche sozialwissenschaftliche Elitedefinition. Dieser Umstand ist jedoch teilweise dem Erkenntnisobjekt selbst geschuldet, wenn Eliten als das Ergebnis eines Auswahlprozesses begriffen werden, der sich an mindestens einem Kriterium orientieren muss. Nach wie vor ist aber höchst umstritten, was eine Person zum Elitemitglied qualifiziert. Woran genau bemisst sich das Andere, das Eliten von Nicht-Eliten unterscheidet und das von Malte Herwig (2005: 179) etwas mystisch als „X-Faktor“ bezeichnet wird? Die Kriterien zur Begründung dieser Differenz – seien sie nun qualitativer oder formaler Natur – müssen definiert werden. Gleichzeitig stehen diese Kriterien selbst zur Disposition, wenn sie an historische Entwicklungsstadien und soziale Wandlungsprozesse, eine spezifische politische Institutionenordnung oder bestimmte, an der jeweiligen Fachdisziplin orientierte Erkenntnisinteressen geknüpft sind. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Vorstellungen darüber, welches entscheidende Kriterium dem Auswahlprozess zu Grunde liegt, aus dem die Eliten einer Gesellschaft hervorgehen (Imbusch 2003: 15). Sind Leistung oder Erfolg maßgeblich, Reputation oder Selbstzuschreibung, Bildung oder Expertenwissen? Bestimmen Eigentum und Besitz, Herkunft und Stand darüber, wer zu den Eliten gehört? Möglicherweise ist auch ein bestimmtes Wertebewusstsein das zentrale Merkmal, auf dem der Elitestatus beruht. Oder sind es die Mächtigen einer Gesellschaft, die jenen Personenkreis definieren, der als Elite bezeichnet wird? Ergebnis dieser Unklarheit sind unterschiedliche Elitedefinitionen, vor allem jedoch die Tatsache, dass sich die Elite eines Landes aus jeweils anderen Mitgliedern zusammensetzt, je nachdem, welchem Begriff der Vorzug gegeben wird (Endruweit 1979: 45). In diesem dichten Geflecht von Mehrdeutigkeiten haben sich dennoch drei zentrale Angebote herauskristallisiert, die das Elitephänomen zu bestimmen versuchen. Als Wert-, Funktions- und Machteliten etikettiert, haben diese Angebote Eingang in den Elitediskurs gefunden, wo sie um Anerkennung konkurrieren und sich bisher mehr oder weniger stark gegen alternative Bezeichnungen behaupten konnten (Bude 2000: 10ff):
Werteliten beschreiben demnach Personenminderheiten, deren Angehörige die in der Gesellschaft gültigen Grundwerte besonders glaubwürdig vertreten und somit Vorbildcharakter haben.
Die Fähigkeit, zentrale gesellschaftliche Werte zu repräsentieren, muss dabei nicht von einer bestimmten Position innerhalb einer Organisation oder Institution abhängig sein. Häufiger ist sie an die Ausstrahlungskraft einer Person gebunden, die zum Mitglied jener Wertelite wird, weil sie gesellschaftliche Ideale authentisch, überzeugend, aufrichtig und verlässlich verkörpert. Problematisch an dieser Elitevorstellung bleibt die Herkunft des Wertinhalts, wenn Werte umkämpft sind, ihre Rangordnung umstritten ist und ihr Anspruch der Allgemeingültigkeit in Frage steht (Bude 2000: 10).
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Als Funktionseliten einer Gesellschaft werden jene Personen bezeichnet, die bestimmte Aufgaben für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft erfüllen, indem sie aufgrund herausragender Leistungen auf ihrem Gebiet zum Gemeinwohl beitragen.
Der Gedanke der Funktionselite ist in Deutschland eng mit dem Namen von Otto Stammer (1951) verbunden. Die Vorstellung einer Funktionselite findet sich aber auch bei einer Reihe anderer deutschsprachiger Autoren, die sich in den 1960er Jahren insbesondere mit dem Zusammenhang von Elite- und Gesellschaftsstruktur beschäftigten, sich aber ebenso der Frage widmeten, ob und wenn ja, wie Elitenherrschaft und Demokratie miteinander versöhnt werden können. Zu den wichtigsten Autoren in dieser außerordentlich produktiven Epoche der deutschen Eliteforschung zählen Ralf Dahrendorf (1965), Hans Peter Dreitzel (1962), Urs Jaeggi (1960), Wolfang Schluchter (1963) und Wolfgang Zapf (1965a, 1965b). Stammer (1951: 1) betonte, dass es sich bei den Eliten demokratischer Gesellschaften um soziale und politische Einflussgruppen handelt, deren zentrale Aufgabe – oder Funktion – er darin sah, als „Konzeptoren des politischen Willens“ (Stammer 1951: 15) und als „Medien des Herrschaftssystems“ (Stammer 1951: 15) zu agieren. Um die Meinungen von „unten“ mit den Entscheidungen von „oben“ auszugleichen müssten Eliten über politische Konzeptionen verfügen und eine entscheidende Rolle im Prozess der politischen Willensbildung spielen (Stammer 1951: 27). Zu den Funktionseliten etwa in Politik und Verwaltung, Wirtschaft, Justiz und Wissenschaft gehören nach dieser Vorstellung die jeweils Besten und Klügsten ihrer Bereiche. Dieses Eliteverständnis, das Leistung als zentrales Auslesekriterium für Eliten betont und sich auf wertneutrale Funktionsaspekte beschränkt, provoziert aber in mindestens zweierlei Hinsicht Kritik. Zum ersten stellt sich das nur schwer lösbare Problem, Leistung adäquat messen und vergleichen zu können. Leistungskriterien sind wenigstens teilweise von den jeweiligen Gesellschaftsbereichen abhängig, auf die sie angewendet werden und somit nur bedingt übertragbar. Darüber hinaus fällt es in manchen Funktionsarenen der Gesellschaft leichter als in anderen, objektive, weil quantifizierbare und im Konsens gefundene Leistungskriterien aufzustellen. Was aber bedeutet Leistung in der Politik? Woran bemisst sich, ob Politikerinnen und Politiker zu den Fähigsten ihrer Profession gehören? Und wie lässt sich das ins Verhältnis setzen zu den Leistungsmerkmalen in Wirtschaft, Verwaltung oder Wissenschaft? Zum zweiten gerät das wert-unabhängige Verständnis von Eliten in den Verdacht der Trivialität, insoweit es den tüchtigen Experten ohne weitere normative oder sogar moralische Verpflichtungen übrig lässt (Bude 2000: 11).
Machteliten setzen sich demgegenüber aus dem verhältnismäßig kleinen Personenkreis zusammen, dessen Mitglieder Macht ausüben, weil sie allgemeinverbindliche politische Entscheidungen treffen oder beeinflussen.
Das Kriterium der Macht ist in erster Linie für politikwissenschaftliche Fragestellungen zentral, die um das Eliteproblem im Kontext von Herrschaft, Konflikt und Konsens zirkulieren und an der Rolle von Eliten in politischen Willensbildungsprozessen interessiert sind (z.B. Stammer 1951; Keller 1963; Field/Higley 1983; Hoffmann-Lange 1992; Bürklin/Rebenstorf et al. 1997; Higley et al. 1998; Higley/Lengyel 2000; Higley/Burton 2006). In seiner viel
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zitierten Definition der „power elite“ bezeichnete Charles Wright Mills (1956: 3f) diejenigen Personen als Angehörige der Machtelite, die gesellschaftliche Positionen einnehmen, von wo aus sie Entscheidungen mit weit reichenden Konsequenzen treffen können. Dabei wird weniger reale Machtausübung als maßgeblich angesehen, sondern vielmehr der Besitz einer bestimmten Position, die entsprechende Chancen eröffnet. Macht und Herrschaft sind nicht nur zentrale politikwissenschaftliche Kategorien, sondern auch für die Eliteforschung von großer Bedeutung. Alles Nachdenken über Politik basiert nämlich auf einer wie selbstverständlich gesetzten Annahme gesellschaftlichen Zusammenlebens: der Existenz einer Anzahl von Herrschern und Regierenden einerseits und einer Gruppe von Beherrschten und Regierten andererseits. Der italienische Demokratietheoretiker Giovanni Sartori (1997a: 155) spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „Binsenwahrheit“, dass „es immer Herrschende und Beherrschte, Regierende und Regierte geben“ wird. Das damit verknüpfte politische Über- und Unterordnungsverhältnis drückt sich darin aus, dass die Inhaber von Herrschaftspositionen gebieten und verbieten, anordnen und entscheiden, Dienste und Gehorsam verlangen und – mittels Sanktionen bei Fehlverhalten – erzwingen können (Rohe 1994: 86). Herrschaft bezeichnet die in einer dauerhaften Ordnung institutionalisierte „ganz besondere Art von Macht (…), die auf der Verfügung über Positionen mit geregelter Entscheidungsbefugnis beruht, mag diese Regelung nun über Sitte, Brauch oder formales Recht erfolgen“ (Rohe 1994: 86).
Die Tatsache, dass es in allen Gesellschaften zu allen Zeiten Menschen gab, die das Recht haben, allgemein-verbindliche Entscheidungen zu treffen, bildet das Fundament der klassischen und modernen Eliteforschung (Hoffmann-Lange 1992: 19, 2007: 910; Engelstad 2007: 1). Der Begriff Elite zur Charakterisierung von Personen dieser Eigenschaften geht auf Vilfredo Pareto (1955 [1916]) zurück. Pareto (1954 [1902]) sah in den Eliten eines Landes eine Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer Fähigkeiten ausgewählt werden, an der Spitze der Gesellschaft zu stehen. Wie auch Gaetano Mosca (1950 [1895]) – ein anderer Klassiker der Elitetheorie, der den Begriff Elite allerdings niemals verwendete – ging Pareto davon aus, dass es sich bei der Elite einer Gesellschaft um eine herrschende Minderheit handelt. Beide Autoren verstanden darunter in erster Linie die politische Führungsschicht. Die Existenz zweier Klassen, „einer[r], die herrscht, und eine[r], die beherrscht wird (Mosca 1950 [1895]: 53), ist dabei ebenso vorausgesetzt wie das Vorhandensein einer dichotomen oder bipolaren Gesellschaftsstruktur, die zwischen den Eliten auf der einen Seite und den NichtEliten oder der „Masse“ auf der anderen Seite unterschiedet. Auch die Annahmen und Schlussfolgerungen einiger moderner Elitetheoretiker basieren explizit oder implizit auf der Vorstellung einer dichotomen Gesellschaftsstruktur (z.B. Mills 1956; Field/Higley 1983; Scheuch/Scheuch 1992; Beyme 1992; Bottomore 1993; Domhoff 1998). Im Gegensatz dazu geht ein Großteil der Eliteforscher allerdings davon aus, dass die Führungsschicht in Demokratien mit Vertretern aus allen relevanten Gesellschaftsbereichen zusammengesetzt ist und keiner form- und gestaltlosen „Masse“ gegenübersteht, sondern auf vielfältige Art und Weise mit einer ebenso pluralistisch verfassten Bevölkerung interagiert. Danach werden Eliten als diejenigen Personen charakterisiert, die über gesellschaftli-
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che Macht verfügen bzw. maßgeblichen Einfluss auf gesellschaftlich bedeutsame Entscheidungen ausüben (Hoffmann-Lange/Bürklin 1998: 167). Das bedeutet, dass der Elitebegriff über das Kriterium der gesellschaftlichen Macht erweitert und nicht mehr, wie noch bei Mosca und Pareto, auf die politischen Machthaber begrenzt wird. Die bis heute einflussreichste Definition von Macht geht auf Max Weber (1980 [1921]: 28) zurück: Demnach ist Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.
Personen, denen relativ dauerhaft die Chance zugewiesen ist, Entscheidungen gegen Widerstand durchzusetzen, verfügen über politische Macht (Weber 1980 [1921]: 28). Anhand der berühmten Macht-Definition von Max Weber (1980 [1921]) wird aber deutlich, dass politische Macht nur eine Form von Macht ist. Ihre Besonderheit zeigt sich darin, dass sie sich in einer spezifischen sozialen Beziehung – in einem politischen Herrschaftsverhältnis – verwirklicht und Gehorsam für einen Befehl bestimmten Inhalts erwarten lassen kann (Weber 1980 [1921]: 28). Geht es jedoch bei Macht im Weberschen Verständnis nur um die Chance, den eigenen Willen gegen Widerstreben Anderer durchzusetzen, dann kann auch Einflussnahme letztlich Machtausübung sein. Diese Möglichkeit besteht immer dann, wenn in Konkurrenz zu den Interessen anderer Akteure das Handeln Dritter zu Gunsten eigener Absichten gelenkt werden kann. Politischer Einfluss erlaubt es demnach, eigene Interessen im politischen Prozess zur Geltung zu bringen (Rohe 1994: 84). Entscheidend dafür sind allerdings die zur Verfügung stehenden Mittel, die als materielle oder ideelle, dingliche oder qualitative, konkrete oder abstrakte, reale oder fiktive Machtressourcen eingesetzt werden, um angestrebte Zwecke zu realisieren (Nohlen 1998: 361). Übertragen auf die Handlungssituation politischer Akteure lässt sich daraus ableiten, dass politische Eliten qua Legitimation Macht ausüben, indem sie für die Allgemeinheit verbindliche Entscheidungen treffen und dafür Folgebereitschaft erwarten können. In ihrer Entscheidungsfindung sind sie jedoch mit den Interessen einer Vielzahl von Akteuren konfrontiert, die in Konkurrenz zueinander und mittels eigener Machtressourcen – wie zum Beispiel Finanz- und Organisationskraft, Expertenwissen und Information – versuchen, das Handeln politischer Eliten zu beeinflussen. Auf diese Weise politischen Einfluss nehmen zu können setzt letzten Endes also gesellschaftliche Macht voraus, weil ohne eine aktive Wirkmöglichkeit Prozesse der Entscheidungsfindung nicht zu Gunsten eigener Zwecke gestaltet werden können. Politische Macht bezieht sich auf die Möglichkeit verbindlichen Entscheidens gegen Widerstreben. Demgegenüber bedeutet gesellschaftliche Macht die Chance, im politischen Prozess Interessen gegen Widerstand durchzusetzen.
Es ist somit folgerichtig, auch diejenigen Personen zu den Eliten zu rechnen, die mit Hilfe spezieller Ressourcen auf Entscheidungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung einwirken. Dabei wird aber die analytische Unterscheidung zwischen Macht und Einfluss nicht aufgegeben. Denn nur wer aufgrund seines (gesellschaftlichen) Machtmittelreservoirs die
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Chance hat, dass seine Interessen auch gegen den Widerstand Anderer im Prozessresultat Berücksichtigung finden, kann politische Entscheidungsfindung tatsächlich beeinflussen. Dieser Hinweis ist umso wichtiger, als sich die gesellschaftliche Verteilung dieser Chancen in Abhängigkeit sozialer, ökonomischer und politisch-kultureller Wandlungsprozesse verändern kann und somit auch die Elitekomposition einer Gesellschaft im Zeitverlauf variiert. Der Gedanke einer durch Vielfalt charakterisierten Elite bildet das Fundament für das Paradigma des Elitenpluralismus’ (Hoffmann-Lange 2004: 245ff, 2007: 911; Engelstad 2007). In der Eliteforschung ist es gleichwohl umstritten. Das zeigt nicht nur die ältere, auf Mills’ (1956) Analyse der amerikanischen „power elite“ bezogene Diskussion zwischen den so genannten „Elitisten“ und „Pluralisten“ (Köser 1975; Sartori 1997a: 149ff; Hoffmann-Lange 2004: 245f). Auch in der jüngeren Gegenwart wird dieser Disput in Form kritischer Gegenentwürfe zum Modell des Elitenpluralismus’ fortgeführt, insbesondere in der soziologisch orientierten Eliteforschung (Krais 2001b; Hartmann 2002; Hradil/Imbusch 2003), die sich vor allem für vertikale soziale Differenzierungsprozesse interessiert sowie die Antriebskräfte für die Reproduktion sozialer Ungleichheit analysiert und kritisch diskutiert (Hoffmann-Lange 2004: 243). Dennoch sprechen gute und gewichtige Gründe für das pluralistische Paradigma der Eliteforschung. Zum einen stützt es sich auf normative Argumente. In der modernen, empirisch orientierten Demokratietheorie wird Elitenpluralismus nämlich als zentrales Merkmal demokratischer Systeme betrachtet: Die möglichst breite Ressourcenstreuung und Machtaufteilung – auch in Form institutionalisierter „checks and balances“ – soll die Dominanz einer Elitegruppe verhindern, den demokratischen Wettbewerb um politische Unterstützung garantieren und somit freiheitssichernde Funktionen übernehmen (z.B. Schumpeter 1976 [1942]; Dahl 1971). Zum anderen hat die Analyse gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse die Auffassung untermauert, dass die Elitestruktur in modernen (demokratischen) Gesellschaften als pluralistisch aufgefasst werden muss. Dahinter steht die Grundannahme, dass sich in Folge gesellschaftlicher Modernisierung und funktionaler Arbeitsteilung unterschiedliche Gesellschaftsbereiche ausdifferenzieren, die wiederum verschiedene sektorale Eliten hervorbringen. Der gesellschaftlichen Subsystembildung beispielsweise in Politik, öffentliche Verwaltung, Wirtschaft oder Massenmedien entspricht demzufolge im Bereich der Elite die Ausdifferenzierung in funktionale Sektoreliten (Hoffmann-Lange 1992: 12; Kaina 2002a: 30f). Die amerikanische Soziologin Suzanne Keller (1963: 65) führte die Ablösung einer homogenen Elite durch den Pluralismus strategischer Führungsgruppen im Wesentlichen auf vier Modernisierungsprozesse zurück: 1. 2. 3. 4.
das Bevölkerungswachstum die Zunahme gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Beschäftigungsspezialisierung, die Herausbildung und das Anwachsen gesellschaftlicher Großorganisationen und der Bürokratie sowie die Pluralisierung von Werten und die Vertiefung kultureller Unterschiede.
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Aus diesem Grund sieht Sartori (1997a: 155) den Elitegedanken in modernen Gesellschaften am ehesten durch ein „Modell der Führung durch Minderheiten“ repräsentiert. Charakteristisch für diese polyarchische Konstellation sind demnach viele, einander überkreuzende Machtgruppen, die sich um Koalitionen bemühen (Sartori 1997a: 155; Pfetsch 1999: 510; Engelstad 2007: 2). In Demokratien platzieren sich die politischen Eliten im engeren Sinne im Zentrum dieser horizontal differenzierten gesellschaftlichen Machtstruktur, weil nur sie die formale Autorität besitzen, allgemein verbindliche Entscheidungen zu treffen. Weil sich im Laufe der Zeit das politische System jedoch selbst ausdifferenzierte, stellte es mit der Ausweitung des staatlichen Aufgabenkatalogs seinen Sinn von Herrschaftsausübung zunehmend auf Leistung um (Mayntz 1997 [1988]: 64). Als Folge dessen greifen politische Entscheidungen in modernen Demokratien tief in die Verteilung gesellschaftlicher Güter ein (Hoffmann-Lange/Bürklin 1998: 167), die in Sektoren außerhalb des Politikbereichs produziert und für die Leistungserfüllung des politischen Systems zur Verfügung gestellt werden. Im selben Maße schwindet in Folge der politischen Entscheidungsverbindlichkeit in nichtöffentlichen Bereichen die exklusive Verfügungsgewalt über eigene Ressourcen. Deshalb wächst innerhalb dieser Güter produzierenden gesellschaftlichen Teilbereiche das Bedürfnis, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen (Hoffmann-Lange/Bürklin 1998: 167). Über institutionalisierte und informelle Kontakte zu den politischen Entscheidungsträgern soll diesem Bedürfnis Rechnung getragen werden. Um die Effektivität dieser Kontakte sicherzustellen ist es jedoch notwendig, bestimmte Personen mit relativ dauerhafter Handlungsbefugnis auszustatten. Sie repräsentieren spezialisierte Organisationen gesellschaftlicher Teilsysteme und sind berechtigt, auf spezifische Ressourcen zurückzugreifen und mehr oder weniger verbindlich zu handeln. Zu einem Kriterium für die Zugehörigkeit zur Elite einer Gesellschaft wird demnach die Einflussmöglichkeit aufgrund organisatorischer Funktionen. Das Paradigma des Elitenpluralismus’ orientiert sich also an der Vorstellung einer Funktionselite, die in sich Differenzierungen aufweist. Die Zuweisung professioneller Steuerungsleistungen an Minderheiten mit Verfügungsgewalt über unterschiedliche, gesellschaftlich relevante Handlungsressourcen stellt diese spezifische Eliteauffassung in den Kontext politischer Führung, die sich in Abgrenzung zu diktatorischer Herrschaft als gesellschaftliche Richtungsweisung begreift (Sartori 1997a: 138). Die Eliten einer modernen demokratischen Gesellschaft werden daher auch als Führungspersonen, Führungsgruppen oder Funktionsträger etikettiert. Ihre Aufgabe ist es, Kompromisse zu finden, gesellschaftliche Konflikte zu regulieren und problemlösungsorientiertes Handeln zu koordinieren (Herzog 1991; Klingemann et al. 1991: 24). Im unmittelbaren Zusammenhang mit diesen Überlegungen stehen unterschiedliche Wege, die zur Erfassung der Mitglieder einer Elite führen können. Damit wird das breite Begriffsspektrum aber um eine neue Facette ergänzt und der Elitebegriff mit weiteren Bindestrichen angereichert.
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2.2 Methoden zur Identifikation von Eliten Am Anfang einer jeden wissenschaftlichen Untersuchung von Eliten müssen die Forscher entscheiden, welche Personen sie unter die Lupe nehmen wollen. Dazu gehört auch, die horizontalen und vertikalen Grenzen der Untersuchungsgruppe festzulegen (Hoffmann-Lange 2007: 912). Das bedeutet zum einen, die sektorale Auswahl von Führungskräften (z.B. in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft etc.) zu begründen und zum anderen, die Ebenen zu definieren, auf denen Elitemitglieder positioniert sind. Die Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit des Elitebegriffs führt dazu, dass in der sozialwissenschaftlichen Forschung verschiedene Wege gegangen werden, um die Mitglieder einer Führungsschicht zu erfassen (vgl. auch Tab. 1). Für jeden Eliteforscher sind Kenntnisse über die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Verfahren zur Identifikation von Elitemitgliedern unverzichtbar. Denn die Wahl eines bestimmten Instruments beeinflusst die Ergebnisse einer Untersuchung bereits im Vorfeld und kann zum Beispiel in diesem Falle den Unterschied zwischen einer pluralistischen oder oligarchischen Elitestruktur ausmachen. In der sozialwissenschaftlichen Eliteforschung zählen drei Ansätze zu den gebräuchlichsten Methoden bei der Identifikation von Elitemitgliedern: 1. 2. 3.
der Reputationsansatz, der Entscheidungsansatz und der Positionsansatz
(Putnam 1976: 15ff; Hoffmann-Lange 1983, 2007: 912ff).
Der Reputationsansatz zur Erfassung von Elitemitgliedern basiert auf einer einfachen Annahme: Wer einflussreich ist, der ist auch bekannt. Ausgehend davon wird einer Gruppe von Befragten, die sich sowohl aus einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung als auch aus verschiedenen Experten zusammensetzen kann, die Frage gestellt: Wer ist einflussreich? Im Ergebnis dieses Ansatzes werden Reputations-Eliten erfasst, weil die Befragten die genannten Personen für einflussreich halten, unabhängig davon, ob die es tatsächlich sind. Damit wird aber auch das Problem dieser Methode offenkundig: Als Elitemitglieder werden nämlich nur solche Menschen erfasst, die über ein gewisses Ansehen verfügen oder populär, vor allem aber bekannt sind und denen auf dieser Grundlage Einfluss zugewiesen wird. Ob diese Menschen tatsächlich einflussreich sind oder nur als einflussreich gelten, bleibt dabei ebenso offen, wie solche einflussreichen Personen, die im Schatten der Öffentlichkeit agieren, auf diese Weise nicht identifiziert werden können. Dieses Manko will der Entscheidungsansatz von vornherein vermeiden. Sein Ausgangspunkt ist folgende Überlegung: Einflussreich und damit Mitglied der Elite sind Personen, die im politischen Entscheidungsprozess in ganz bestimmten Streitfragen oder Entscheidungssituationen ihre eigene Position durchsetzen können. Das schließt auch effektive Blockademacht ein. Allerdings ist die Erfassung solcher Entscheidungs-Eliten aufwendig und an umfangreiche Vorstudien geknüpft. Dabei folgt der Entscheidungsansatz im Allgemeinen einem dreistufigen Verfahren: Zunächst muss bestimmt werden, welcher Entscheidungs-
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prozess untersucht werden soll. Im Anschluss daran müssen die Forscher ermitteln, welche konkreten Personen daran beteiligt sind. Schließlich muss die Frage beantwortet werden, wer sich aufgrund welcher Machtressourcen durchsetzen kann. Mit Hilfe von Protokollanalysen und teilnehmender Beobachtung der Forscher lassen sich Entscheidungsprozesse analysieren. Das Problem dabei ist jedoch, dass Macht auch in Form einer NichtEntscheidung oder als Inaktivität ausgeübt werden kann. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn bestimmte Akteure in dem jeweiligen Entscheidungsprozess zwar nicht selbst handeln und nicht einmal persönlich anwesend sind, ihren Interessen von Seiten der Entscheidungsträger aber Beachtung und Rücksicht entgegengebracht wird (Hoffmann-Lange 2007: 913). Diese Formen der Einflussnahme finden beim Entscheidungsansatz zur Identifikation von Elitemitgliedern aber keine Beachtung, sodass nicht ausgeschlossen werden kann, dass bestimmte einflussreiche Personen gar nicht als solche erkannt und demzufolge auch nicht als Elitemitglieder erfasst werden. Der Positionsansatz zur Identifikation von Elitemitgliedern wird in der sozialwissenschaftlichen Eliteforschung am häufigsten angewendet (Hoffmann-Lange 2007: 913). Er basiert auf der Annahme, dass Macht in pluralistisch verfassten Demokratien in der Regel an eine formale Führungsposition geknüpft ist. Mit anderen Worten, in entwickelten politischen Systemen werden Entscheidungsbefugnisse nicht Personen als Personen, sondern Ämtern und Inhabern von Ämtern zugeschrieben (Kielmansegg 1997 [1971]: 67). Auf dieser Grundlage werden so genannte Positions-Eliten über ein mehrstufiges Verfahren ermittelt (Hoffmann-Lange 2007: 913f): Zunächst werden die als relevant geltenden Gesellschaftsbereiche (oder: Sektoren) definiert, um in einem zweiten Schritt die einflussreichen Organisationen in diesen gesellschaftlichen Sektoren zu bestimmen (z.B. Parteien, Verwaltungsapparate, Großunternehmen, Interessenverbände oder – an Auflagenstärke und Reichweite gemessen – bedeutsame Massenmedien). Abschließend werden die Führungspositionen innerhalb dieser Organisationen und die Personen, die diese innehaben, identifiziert. Der Vorteil dieser Methode zur Erfassung von Eliten liegt darin, dass sie stark formalisiert ist und keine umfangreichen Vorstudien benötigt. Darüber hinaus verfügt die Positionsmethode über eine große Zuverlässigkeit (Reliabilität), weil es in der Forschung eine große Übereinstimmung in der Auswahl der mächtigsten und einflussreichsten Institutionen und Organisationen gibt (Hoffmann-Lange 2007: 914). Aber auch der Positionsansatz hat seine Nachteile. Ein Problem besteht darin, dass er keine Richtlinien zur Verfügung stellt, wie die Grenzen der Elitegruppe bestimmt werden können. Die Forscher sind demnach völlig frei darin, wie sie die horizontale und vertikale Ausdehnung der Führungsschicht festlegen, welche gesellschaftlichen Sektoren und Organisationen sie in ihrer Untersuchung berücksichtigen (horizontal) und bis zu welcher Hierarchiestufe Positionen als Führungspositionen definiert und einbezogen werden (vertikal) (Hoffmann-Lange 2007: 914). Tatsächlich scheinen in den meisten Fällen an Stelle theoretischer Argumente eher die finanziellen Grenzen der Forschungsförderung die Auswahl der Elitemitglieder in einer Untersuchung vorzugeben (Hoffmann-Lange 2007: 914). Andere Vorbehalte gegen den Positionsansatz stützen sich darauf, dass durch die mehrstufige Vorauswahl von Elitepositionen die Untersuchungsergebnisse in gewisser Hinsicht präformiert werden, weil damit von Vornherein der Eindruck einer pluralistischen Elitestruktur erweckt wird, in der Macht und Einfluss relativ breit gestreut sind (Imbusch
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2003: 18). Eine weitere Kritik am Positionsansatz richtet sich auf die Grundannahme, dass der Besitz einer formalen Machtposition eine bedeutende Ressource der Einflussnahme ist. Das muss aber nicht immer der Fall sein, weil eine formale Machtposition nicht automatisch Einflussnahme bedeutet und von bestimmten Bedingungen abhängt. Dazu gehört beispielsweise, dass die Positionsinhaber auch ein Interesse daran haben müssen, Einfluss auszuüben, dass sie bestimmte Charaktereigenschaften, wie etwa Durchsetzungsvermögen, Ausdauer, Überzeugungskraft und Ehrgeiz, besitzen und über bestimmte Informationen verfügen, die sie zum Handeln veranlassen. Schließlich liegt auch auf der Hand, dass mit einer Auswahlmethode, die sich an formalen Führungspositionen orientiert, so genannte „graue Eminenzen“ nicht erfasst werden können. Tabelle 1: Ansätze zur Identifikation von Elitemitgliedern Annahme über gesellschaftliche Machtstruktur Kriterium der Auswahl
Reputationsansatz
Entscheidungsansatz
Positionsansatz
tendenziell oligarchisch
tendenziell pluralistisch
tendenziell pluralistisch
Reputation, Prestige, Bekanntheit
Durchsetzungskraft in Entscheidungsprozessen
Befragung: repräsentativ oder Experten
Protokollanalyse, Beobachtung
Methode
Art der Eliten Beispiele aus der Forschung
Reputations-Eliten
„Community Power Structure“: (Hunter 1953)
Entscheidungs-Eliten „Who Governs?“ (Dahl 1961) „The Organizational State“ (Laumann/Knoke 1987) „Comparing Policy Networks“ (Knoke et al. 1996)
Besitz einer formalen Führungsposition 1) Festlegung von Sektoren 2) Festlegung von Organisationen und Institutionen 3) Festlegung von Führungspositionen Positions-Eliten Mannheimer Elitestudie 1981 (Hoffmann-Lange 1992) Potsdamer Elitestudie 1995 (Bürklin et al. 1997)
Eigene Zusammenstellung in Anlehnung an Hoffmann-Lange (2007).
Der Uneinigkeit über Elitebegriff und -verständnis ähnlich, zeigt sich die sozialwissenschaftliche Eliteforschung also auch über die angemessene Methode bei der Identifikation von Elitemitgliedern entzweit.3 Der Disput darüber wurzelt zum größten Teil in unterschiedlichen Auffassungen über den Charakter gesellschaftlicher Machtstrukturen. So tendieren Forscher zur Anwendung der Positions- oder Entscheidungsmethode, wenn sie annehmen, dass eine pluralistische Machtstruktur für moderne Gesellschaften charakteristisch
3 Weitere Identifikationsmethoden der Eliteforschung, die bisher allerdings seltener angewendet wurden, beschreibt Wasner (2004: 123-125). Dazu zählen der netzwerkanalytische Ansatz, der cleavage-Ansatz und der Social-ActivityAnsatz.
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ist. Die Reputationsmethode wird demgegenüber eher benutzt, wenn eine oligarchische Machtstruktur mit einer relativ kleinen, hoch integrierten, relativ autonom agierenden „Machtelite“ als gegeben angesehen wird (Engelstad 2007: 3). Das vorläufige Fazit zum Elitebegriff und zu den in der Forschung angewendeten Identifikationsmethoden für die Mitglieder jener exklusiven Minderheit fällt dementsprechend ernüchternd aus.
2.3 Vorläufiges Fazit und offene Fragen Die Eliteforschung sieht sich offenkundig mit einem verbreiteten Dissens in fundamentalen Fragen konfrontiert und somit weiterhin vor große theoretisch-konzeptionelle und methodologische Herausforderungen gestellt. Der gemeinsame Nenner in der Beschreibung von Eliten als eine durch Selektions- und Auswahlprozesse entstandene Minderheit, die sich gerade dadurch vom Rest der Gesellschaftsmitglieder unterscheidet, ist nicht nur schmal, sondern auch inhaltlich leer. Bemühungen, diesen Rahmen mit Vorstellungen zu füllen, führten zu verschiedenen Verwendungsweisen des Elitebegriffs. Doch trotz seiner Ambivalenzen hat sich der Terminus Elite als rhetorisch-politische Kategorie öffentlicher Diskurse etabliert (Bluhm 2000: 66; Bluhm/Straßenberger 2006). In der Regel bleibt allerdings offen, wer denn nun gemeint ist, wenn der Ruf nach Eliten ertönt (Kodalle 2000), Forderungen zur gezielten Elitenförderung erhoben werden oder eine Sehnsucht nach Eliten artikuliert, manchmal auch nur im Unterton der Denunziation behauptet wird. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Elitephänomen verlangt daher nach einer begründeten Operationalisierung des Elitebegriffs, wobei offensichtlich in Kauf genommen werden muss, dass damit verbundene Festlegungen vom jeweiligen Erkenntnisinteresse der beteiligten Fachdisziplin beeinflusst sind. Immerhin und trotz der berechtigten Kritik am Positionsansatz hat sich zur Charakterisierung gesellschaftlicher Eliten die Festlegung auf ein formales, quantifizierend-deskriptives Merkmal, das von kulturellen und normativen Bezügen abstrahiert, in der empirisch ausgerichteten Eliteforschung als wegweisend erwiesen (z.B. Zapf 1965b; Hoffmann-Lange 1992; Bürklin/Rebenstorf et al. 1997; Hartmann 2002, 2007; Engelstad/Gulbrandsen 2007). Letzten Endes bleibt aber auch die an das Kriterium politischer und gesellschaftlicher Machtpositionen geknüpfte Elitedefinition ein Angebot unter vielen. Es besteht zudem berechtigte Skepsis, ob es sich gegen alternative Auffassungen endgültig durchsetzen kann. Zwar mag die Ausrichtung an einem formalen Selektions-Kriterium einen geeigneten Versuch darstellen, den Elitebegriff von ideologischen Konnotationen und normativem Ballast zu befreien. Dennoch bleiben zentrale Schwächen bestehen, weil eine Bestimmung von Elitemitgliedern über ihre Position Festlegungen verlangt, die Forschungsergebnisse präformieren und weil strukturell unsichtbare, informale oder illegale Macht ausgeblendet wird (Imbusch 2003: 18; Hoffmann-Lange 2004: 117). Bestimmten Erkenntnisperspektiven, zum Beispiel zentralen soziologischen Fragestellungen nach den Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit, steht die eher statische Vorstellung von Eliten als Positionsinhaber und Funktionsträger sogar mehr oder weniger im Weg (Krais 2001a: 48-57; Geißler 2003). Selbst dann, wenn unter Eliten die Mitglieder einer Führungsschicht verstanden werden sollen, die hohe Führungspositionen in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen be-
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kleiden, lässt sich darüber hinaus bezweifeln, ob damit jeder normative Bezug vermieden werden kann. Denn Führungsfähigkeit setzt bestimmte Qualifikationen voraus, die je nach Gesellschaftssystem, politischer Ordnung und Gesellschaftssektor an recht unterschiedliche Erwartungen geknüpft sein können. Damit ist neuer Streit vorprogrammiert, weil sowohl Art und Umfang der Führungsaufgaben als auch die jeweils angemessenen Qualifizierungsmaßstäbe festgelegt werden müssen. Sollten Eliten zum Beispiel selbst über umfassendes Expertenwissen verfügen oder ist es wichtiger, damit sicher umzugehen und darauf gestützte Entscheidungen durchzusetzen und zu verantworten? Ist nicht ebenso die Kooperationsfähigkeit der Eliten nötig, ihr Wille zu einem planvollen und zukunftsorientierten Handeln, aber auch ihre Bereitschaft, die Grenzen der eigenen Kompetenzen klar zu artikulieren? Müssen Eliten ihre herausgehobene Stellung gegenüber der Gesellschaft in der so genannten Wissensgesellschaft nicht vor allem dadurch legitimieren, dass sie ihre Kreativität und Innovationsfähigkeit unter Beweis stellen? Soll von Eliten erwartet werden, dass sie auch und gerade in pluralisierten, individualisierten Gesellschaften Vorbilder sind, Werte vermitteln und Sinn stiften, um erfolgreich führen zu können? Und erfordert nicht das Selbstverständnis freiheitlicher Ordnungssysteme, dass Eliten ehrlich und integer sind und gemeinwohlorientiert handeln, um ihren privilegierten Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung zu rechtfertigen? Welche Antworten auf diese Fragen auch gegeben werden mögen – sie dürften Teil der Bemühungen sein, die Mitglieder jenes Kreises zu benennen, der Elite genannt wird, und gleichzeitig Hinweise darauf liefern, welchen Herausforderungen sich die Eliten in modernen Gesellschaften gegenübersehen und ob sie den Anforderungen von Gegenwart und Zukunft gewachsen sind. Auch in diesem Sinne müssen Antworten auf die Frage, was Eliten sind, wohl weiterhin vorläufig bleiben. Der Streit um den „richtigen“ wissenschaftlichen Elitebegriff, mit dem das Phänomen Elite inhaltlich treffend definiert werden kann, hat die Herausbildung der Eliteforschung als Sub-Disziplin der Politischen Soziologie trotzdem nicht verhindert. Inzwischen existieren eine eindrucksvolle Datensammlung und eine erfreuliche Bandbreite an Elitestudien, die sich systematisch, aber in unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunktsetzung mit den Spitzen der Gesellschaft auseinandersetzen (vgl. etwa die Zusammenstellung bei HoffmannLange 2007: 919). Das folgende Kapitel bietet einen Überblick über die wichtigsten Forschungsfragen der sozialwissenschaftlichen Eliteforschung und eine Auswahl zentraler Befunde zur Entwicklung der Führungsschicht in Deutschland.
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Zentrale Erkenntnisinteressen und ausgewählte empirische Befunde
Seit den Anfängen der Elitentheorie, die insbesondere mit den Namen von Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und Robert Michels (1989 [1911]) verbunden sind, hat sich in den Sozialwissenschaften ein ausdifferenziertes und zunehmend empirisch orientiertes Forschungsprogramm entwickelt, um die Spitzen der Gesellschaft einer systematischen Analyse zu unterziehen. Das Erkenntnisinteresse orientiert sich dabei im Wesentlichen an vier großen Fragestellungen:
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Welche Rekrutierungsmerkmale und Karrierewege kennzeichnen die Mitglieder der Führungsschicht? Wie lassen sich die Kontakt- und Kommunikationsmuster zwischen den Eliten charakterisieren? In welchem Ausmaß teilen die Eliten bestimmte, vor allem demokratische Einstellungen und Wertorientierungen? Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Führungsschicht und Bevölkerung?
Die These vom Versagen der deutschen Eliten in der Weimarer Republik (Zapf 1965a: 18) hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine intensive sozialwissenschaftliche Forschung über die Eliten in Deutschland angestoßen. Sowohl Politologen als auch Soziologen und Historiker zeigten sich vom Elitephänomen fasziniert und legten eine Reihe von theoretischen und empirischen Einzelstudien vor (für einen Überblick: Hoffmann-Lange 1992: 44-84, 2001; Bluhm/Straßenberger 2006). Besondere Bedeutung gewannen jedoch jene Arbeiten, in denen die Mitglieder der nationalen Führungsschicht der Bundesrepublik Deutschland an einer intensiven Befragung teilnahmen. Bislang existieren vier solcher groß angelegten Elitebefragungen, in denen die Inhaber von Führungspositionen aus allen gesellschaftlich relevanten Bereichen, unter anderem aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Verbänden und Interessenorganisationen, Massenmedien, Wissenschaft und Kultur, über ihre Herkunft, ihre Karriereentwicklung, ihr Kooperationsverhalten gegenüber anderen Elitemitgliedern, ihr Verhältnis zur Bevölkerung und ihr politisches Weltbild Auskunft gaben. Drei dieser Studien, nämlich die von 1968, 1972 und 1981, wurden in der „alten“ Bundesrepublik durchgeführt, wobei vor allem die Befragung von 1981 als „Mannheimer Elitestudie“ prominent wurde (Hoffmann-Lange 1992). Die vierte und bislang letzte umfassende Befragung von Elitemitgliedern im Jahr 1995 ist als „Potsdamer Elitestudie“ bekannt geworden (Bürklin/Rebenstorf et al. 1997). Die Bedeutung dieser Studie liegt darin begründet, dass mit der ersten umfassenden Untersuchung der nationalen Führungsschicht nach der deutschen Wiedervereinigung auch Führungskräfte interviewt wurden, die ihre Sozialisation in der früheren DDR erlebt haben. Entsprechend groß war das Interesse daran, in welchem Maße sich west- und ostdeutsche Eliten gleichen und unterscheiden und wie sich der Einzug ostdeutscher Herkunftseliten in die vornehmlich westdeutsch geprägte Führungsschicht auf Zusammenhalt, Kooperation und Wertekonsens der Elitemitglieder auswirkt (Welzel 1997; Kaina/Sauer 1999).
3.1 Rekrutierungsmerkmale und Karrierewege der deutschen Eliten Empirisch belastbare Aussagen über den sozialen Hintergrund von Führungskräften geben in erster Linie eine Antwort auf die Frage, wer sich hinter den Eliten verbirgt. Allerdings ist die Demokratie ein besonders anspruchsvolles Herrschaftsmodell mit hohen normativen Erwartungen an die Art und Weise politischer Machtausübung. Allgemein verbindliche Entscheidungen sollen in demokratischen politischen Systemen nicht nur gemeinwohlorientiert sein, sondern auch Verantwortlichkeit (accountability) sichtbar werden lassen, um Kontrolle zu ermöglichen. Weil in modernen, arbeitsteilig differenzierten Demokratien aber
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nicht nur politische Eliten an Entscheidungsprozessen beteiligt sind, unterliegen auch die Eliten selbst und ihr konkretes Handeln bestimmten Anforderungen. Eine der wichtigsten normativen Erwartungen richtet sich dabei auf den Auswahlprozess der Mitglieder der Führungsschicht in Demokratien: Demokratische Eliten sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der Rekrutierungsprozess zu den Machtpositionen der Gesellschaft prinzipiell offen ist und Chancengleichheit beim Zugang zu Elitepositionen besteht.
Die als Ideal formulierte Norm ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der Realität. Aussagen über die Elitestruktur sind deshalb immer auch Aussagen über die Machtstruktur eines Landes und geben einen von mehreren Maßstäben für Wertungen über die Qualität einer Demokratie an die Hand. Darüber hinaus steht der Grad der Abschottung der Führungsschicht von der Bevölkerung in einem unmittelbaren Zusammenhang damit, in welchem Maße die Herrschaft von Eliten als legitim erachtet und als mit der demokratischen Regierungsform kompatibel angesehen wird. Insofern reichen Befunde über die soziale Struktur der deutschen Führungsschicht über rein deskriptive Feststellungen hinaus. Dies gilt umso mehr, wenn angenommen wird, dass sich die soziodemographische Homogenität der Eliten auch positiv auf die Effektivität der Elitenkommunikation auswirkt und damit ebenso die Voraussetzungen für die Kooperation der Elitemitglieder verbessert (Schnapp 1997b: 101f). Obwohl die Zugangschancen zu Elitepositionen in der Bundesrepublik Deutschland formal gesichert sind, stellt die Forschung relativ übereinstimmend nach wie vor vorhandene faktische Ungleichheiten aufgrund unterschiedlicher sozialer Herkunft fest. Danach haben Kinder aus den oberen Sozialschichten – aus dem gehobenen Bürger- und Großbürgertum oder der so genannten unteren und oberen Dienstklasse – vergleichsweise bessere Chancen, eine Eliteposition zu erreichen als der Nachwuchs aus den breiten Mittelschichten (Hoffmann-Lange 1992: 118ff; Schnapp 1997a: 76ff; Hartmann 2002, 2004b, 2007). Allerdings gelten diese Startvorteile nicht in allen Elitesektoren gleichermaßen. Während eine statushöhere soziale Herkunft vor allem die Aufstiegschancen in die Führungsetagen der deutschen Wirtschaft beeinflusst und sich auch positiv auf eine Karriere in der öffentlichen Verwaltung und der Bundeswehr auswirkt, zeigen andere Sektoren wie Wissenschaft, Justiz, vor allem aber Gewerkschaften und Politik eine größere Rekrutierungsoffenheit (Schnapp 1997a: 76ff; Hartmann 2002). Letzteres ist aus demokratietheoretischer Sicht ein bemerkenswertes Ergebnis, wenn politischen Eliten per Wahlentscheid das Recht zugewiesen wird, allgemeinverbindliche Entscheidungen zu treffen. Dennoch wäre es naiv, den enormen Einfluss von Wirtschaft und Verwaltung in komplexen demokratischen Systemen zu unterschätzen. Es sind aber gerade diese Bereiche, in denen Karrierewege nach wie vor von sozialen Herkunftsmerkmalen der Führungskräfte beeinflusst werden. Während dieser Befund relativ unstrittig ist, besteht erheblicher Dissens in der Frage, ob herkunftsbedingte Vorteile von Kindern der oberen Sozialschichten im Zeitverlauf abgenommen und stattdessen so genannte meritokratische, das heißt leistungsbezogene Auswahlkriterien an Bedeutung gewonnen haben. Michael Hartmann stellt in seinen Untersuchungen in direkter Auseinandersetzung mit den Befunden der Potsdamer Elitestudie von
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1995 fest, dass die soziale Herkunft die beruflichen Karriereaussichten der heutigen Eliten nach wie vor direkt beeinflusst und dass vor allem bei Führungspositionen in der Wirtschaft statt soziale Öffnungs- sogar weitere Schließungstendenzen zu beobachten sind (Hartmann 2002: 77, 80, 2004). Ein klassenspezifischer Habitus der „besseren Kreise“ – so Hartmann – sei entscheidend dafür, dass Kinder aus dem gehobenen und dem Großbürgertum trotz gleicher Bildungsqualifikation schneller und erfolgreicher in der Wirtschaft Karriere machen als ihre Konkurrenten aus den breiten Mittelschichten (Hartmann 2002: 70, 131, 151, 2004b). Dem widersprechen die Ergebnisse der Potsdamer Elitestudie. Zwar wird auch hier konstatiert, dass höhere soziale Statusgruppen in der deutschen Positionselite von 1995 mit Ausnahme der Gewerkschaftselite überproportional vertreten sind (Schnapp 1997a: 80, 90ff). Allerdings zeigen die Befunde der Potsdamer Forscher, dass sich im Vergleich zur Mannheimer Elitestudie von 1981 die Aufstiegschancen für Kinder aus der Nichtdienstklasse verbessert haben und die Rekrutierungsbasis für Elitepositionen in Deutschland insgesamt breiter und offener geworden ist (Schnapp 1997a: 76f, 98; Rebenstorf 1997a: 144). Dies sei insbesondere darauf zurückzuführen, dass ein hoher formaler Bildungsabschluss die herkunftsbedingten Startnachteile von Kindern aus statusniederen Sozialgruppen teilweise kompensieren könne (Schnapp 1997a: 98). Diese widersprüchlichen empirischen Ergebnisse, die wenigstens teilweise auch auf unterschiedliche Methoden der Datenerhebung zurückzuführen sind, dürften weitere Forschungsbemühungen anregen. Dies ist umso wahrscheinlicher, als zwar nach Befunden der Potsdamer Elitestudie neben der sozialen Herkunft ein Hochschulabschluss den Aufstieg in die Führungsschicht begünstigt (Schnapp 1997a: 88, 92). Problematisch – und inzwischen auch von den Ergebnissen der PISA-Studien bestätigt – sind jedoch schon weit vor dem Karrierebeginn ansetzende Selektionsprozesse, wonach in Deutschland die Bildungschancen einer Person stark von ihrer sozialen Herkunft beeinflusst werden und eingeschränkte Chancengleichheit kein Spezifikum der Elitenrekrutierung ist (Schnapp 1997a: 87). Damit sind höhere Sozialschichten aber doppelt privilegiert, wenn es um den Zugang zu Elitepositionen geht: zum einen durch einen eigenständigen sozialen Herkunftseffekt auf ihre Aufstiegschancen, zum anderen aufgrund sozialer Schließungstendenzen im Bildungssystem, sodass Personen aus niederen Sozialschichten gar nicht erst die berufliche Ausgangsposition für einen späteren Sprung in die Führungsschicht erreichen (Schnapp 1997a: 94). Sieht man einmal von der statusorientierten sozialen Herkunft der Elitemitglieder ab, lassen sich anhand der Zahlen in Tabelle 2 weitere soziodemographische Details über die Mitglieder der deutschen Führungsschicht berichten. Dazu gehört zum Ersten, dass sich das Durchschnittsalter der Elitemitglieder seit Ende der 1960er Jahre kaum verändert hat und im Schnitt bei 53 Jahren liegt. Allerdings variiert der Altersdurchschnitt erheblich in den unterschiedlichen Führungsgruppen. Nach den Daten aller vier Elitestudien sind Politik und Massemedien die Elitesektoren mit dem jeweils geringsten Durchschnittsalter, Verwaltung, Wirtschaft und Wirtschaftsverbände diejenigen mit dem höchsten.
402
Viktoria Kaina
Tabelle 2: Soziodemographische Merkmale der deutschen Positionseliten im Zeitvergleich 1968
1972
1981
1995 West
Ost
Ges.
Durchschnittsalter
54
52
53
54
47
52
Anteil weiblicher Führungskräfte
2
2
3
10
30
13
80
78
Hochschulabschluss
58
70
69
77
Promotion
2
-
47
49
49
35
47
Habilitation
2
-
4
8
7
13
8
85
88
82
76
47
72
protestantisch
57
56
52
29
36
45
römisch-katholisch
27
30
30
46
11
26
keine Religion
15
12
18
24
53
28
Gesamt-Befragtenzahl (N)
808
1825
1744
2069
272
2341
Religion - Gesamt davon:
1 Alter als Mittelwert, sonst alle Angaben in Prozent. Prozentuierungsbasis: gültige Antworten. 2 1995: Prozentuiert auf alle Befragten, die auf die Frage nach einem Hochschulabschluss mit ja geantwortet haben. Quelle: Mannheimer Elitestudien 1968, 1972, 1981 und Potsdamer Elitestudie 1995.
Darüber hinaus ist die deutsche Führungsschicht trotz Frauenbewegung und Chancengleichheitsgebot im Grundgesetz noch immer eine Männerdomäne. Zwar sind in der Gruppe der westdeutschen Eliten Mitte der 1990er Jahre immerhin fünf Mal so viele Frauen in Elitepositionen gelangt wie 27 Jahre zuvor. Doch noch immer sind Frauen extrem unterrepräsentiert und die beobachteten Zuwächse zwischen den Elitesektoren stark ungleich verteilt. Während weibliche Führungskräfte inzwischen überproportional häufig in der Politik zu finden sind (36 Prozent), weniger oft aber in der Verwaltung (12 Prozent), den Gewerkschaften (9 Prozent) und Massenmedien (8 Prozent) sowie im Kulturbereich (10 Prozent), bilden sie in der Wirtschaft (1 Prozent), in den Wirtschaftsverbänden (2 Prozent), in der Wissenschaft (3 Prozent) und beim Militär (1 Prozent) noch immer absolute Ausnahmen. Insgesamt hat sich in Deutschland, abgesehen von der Politik, bezüglich der geringen Aufstiegschancen für Frauen in die deutsche Positionselite seit nahezu 30 Jahren wenig bewegt. Überwiegend Kontinuität zeigt sich auch bei der formalen Bildungsqualifikation der deutschen Positionseliten, wonach jeweils eine deutliche Mehrheit von ihnen über einen Hochschulabschluss verfügt. In dieser Hinsicht hat es zwischen 1981 und 1995 sogar noch einmal einen deutlichen Zuwachs gegeben. Vor allem in den Reihen der SPD-Politiker, die in früheren Zeiten noch vielfach aus der Arbeiterschaft kamen, finden sich im Vergleich zu vorangegangenen Elitestudien heute weit mehr Akademiker (Hoffmann-Lange 2006: 64). Allerdings lässt sich zu keinem Zeitpunkt die Existenz milieubildender, fachspezifischer Eliteuniversitäten oder ein spezifischer Fächerkanon in den Werdegängen der deutschen Eliten nachweisen (Schnapp 1997b: 113) Stetig zurückgegangen ist außerdem die konfessio-
Eliteforschung
403
nelle Bindung der deutschen Führungskräfte, wenngleich noch immer drei Viertel von ihnen angeben, einer Religions- oder Glaubensgemeinschaft anzugehören. Letzteres ist der stärkste Kontrast zu den Eliten ostdeutscher Herkunft, von denen 1995 knapp 59 Prozent im Sektor Politik und 12 Prozent in den Massenmedien vertreten waren (vgl. Tab. 3). Gemessen am ostdeutschen Bevölkerungsanteil sind Ostdeutsche nach den Zahlen der Potsdamer Elitestudie von 1995 mit einem Anteil von knapp 12 Prozent in der Führungsschicht des vereinten Deutschlands unterrepräsentiert. Die aus Ostdeutschland stammenden Führungskräfte sind im Durchschnitt sieben Jahre jünger als ihre westdeutschen Kollegen, und drei Mal so oft handelt es sich um Frauen. Damit hat die deutsche Vereinigung, ohne die in der soziodemographischen Zusammensetzung der deutschen Führungsschicht auch nach beinahe drei Jahrzehnten fast alles beim Alten geblieben wäre, deutliche Spuren in der sozialen Zusammensetzung der deutschen Positionselite hinterlassen. Tabelle 3: Verteilung ost- und westdeutscher Positionseliten auf Elitesektoren 1995
Sektor Politik Verwaltung Wirtschaft Wirtschaftsverbände Gewerkschaften Massenmedien Kultur Wissenschaft Militär 1 Sonstige Davon: Justiz Gesamt
Gesamt
Ostdeutsche
Ostquote im Sektor
(n) 499 474 249 173 97 281 101 164 135 168 42 2341
(n) 160 12 1 14 12 33 13 12 0 15 0 272
in % 32,1 2,5 0,4 8,1 12,4 11,8 12,9 7,3 0 8,9 0 11,6
Verteilung Ost auf Sektoren in % 58,8 4,4 0,4 5,2 4,4 12,1 4,8 4,4 0 5,5 0 100
Westdeutsche
Westquote im Sektor
(n) 339 462 248 159 85 248 88 152 135 153 42 2069
in % 67,9 97,4 99,6 91,8 87,6 88,2 87,1 92,7 100 91,1 100 88,4
Verteilung West auf Sektoren in % 16,4 22,3 12,0 7,7 4,1 12,0 4,3 7,3 6,5 7,4 2,0 100
1 Zusammensetzung des Sektors „Sonstige“: Führungskräfte u.a. aus den Bereichen Justiz, Kirchen, Berufsverbände, zentrale. Organisationen der Neuen Sozialen Bewegungen. Quelle: Potsdamer Elitestudie 1995 (Machatzke 1997: 67).
Ähnlich einschneidend wirkte sich die deutsche Einheit auf den Karriereverlauf ostdeutscher Führungskräfte aus. Im Vergleich zu den Elitemitgliedern westdeutscher Herkunft erreichten Ostdeutsche ihre Eliteposition nicht nur schneller, sondern waren zu diesem Zeitpunkt auch deutlich jünger, wenngleich sie 1995 in einigen Elitesektoren gar nicht (Justiz, Militär) und in anderen kaum vertreten waren (Wirtschaft und Wirtschaftsverbände, Verwaltung und Wissenschaft) (vgl. Tab. 3). Westdeutsche Führungskräfte waren in der Befragung von 1995 im Schnitt 49 Jahre alt, als sie in eine Eliteposition aufrückten, zwei Jahre älter als noch 1981 (Hoffmann-Lange 1992: 145). Im Vergleich dazu waren ostdeutsche Eliten durchschnittlich 44 Jahre alt und rund neun Jahre in ihrer jeweiligen Organisation tätig (Westdeutsche: 19 Jahre), bevor sie Mitglied der deutschen Führungsschicht wurden. Insgesamt gehörten fast drei Viertel der Westdeutschen ihrer Organisation bereits mehr als zehn Jahre (Ostdeutsche: 24 Prozent)
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Viktoria Kaina
und 48 Prozent mehr als 20 Jahre an, bevor sie eine Eliteposition einnahmen (Ostdeutsche: 16 Prozent). Darüber hinaus waren 70 Prozent der westdeutschen Eliten bereits länger als 15 Jahre in ihrem Sektor tätig (Ostdeutsche: 25 Prozent), 43 Prozent sogar länger als 25 Jahre, bevor sie in eine Eliteposition aufsteigen konnten. Im Vergleich dazu gehörten 1995 deutlich mehr als die Hälfte der ostdeutschen Führungskräfte (56 Prozent) erst seit maximal fünf Jahren zur deutschen Führungsschicht. Überdurchschnittlich lang sind die Karrierewege westdeutscher Führungskräfte nach den Daten der Potsdamer Elitestudie vor allem beim Militär, wo 91 Prozent der Eliten über eine mehr als 25jährige Sektorerfahrung verfügten, sowie in der Wirtschaft (59 Prozent) und in der Wissenschaft (54 Prozent). Allerdings hat die deutsche Einheit offenbar auch für Westdeutsche einen Karriereschub ausgelöst. Denn 72 Prozent der 1995 befragten Eliten westdeutscher Herkunft besetzten ihre Eliteposition erst seit maximal fünf Jahren, Ostdeutsche gar zu 96 Prozent. Davon abgesehen eint westdeutsche Führungskräfte jedoch die gemeinsame Erfahrung eines langsamen Aufstiegs, der aufgrund einer langwierigen sektor- und betriebsspezifischen Sozialisation sowie fortwährender Bewährungspflichten nicht nur eine ausgeprägte Spezialisierung innerhalb der Führungsschicht fördert (Rebenstorf 1997b: 186, 195). Die relativ abgeschotteten Karrierewege der deutschen Eliten und die hohe Rekrutierungsautonomie der jeweiligen Elitesektoren fördern auch spezifische Sektorloyalitäten. Diese Konsequenzen der typischen Karrieremuster deutscher Führungskräfte erhöhen die Gefahr von Kommunikationsbarrieren und könnten auf Dauer ihre Kooperationsfähigkeit untergraben, wenn Sektorloyalität und Spezialisierung die Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen anderer gesellschaftlicher Bereiche verkümmern lassen (Rebenstorf 1997b: 195). In einem durch zahlreiche Verhandlungs- und Konsenszwänge geprägten politischen System wie in Deutschland könnte sich eine solche Entwicklung nicht nur negativ auf die Handlungsspielräume der Eliten auswirken, sondern auch die Suche nach Kompromissen in komplexen Entscheidungssituationen zunehmend erschweren.
3.2 Kontakt- und Kommunikationsverhalten der deutschen Eliten In der Eliteforschung wird häufig davon ausgegangen, dass eine möglichst große soziodemographische Homogenität der Mitglieder einer Führungsschicht sowie eine ähnliche Berufssozialisation die Voraussetzungen für die Kooperationsfähigkeit der Eliten unter den Bedingungen einer wachsenden, auf Arbeitsteilung basierenden Komplexität moderner Gesellschaften verbessern (Dahrendorf 1965). Die Elitestudien von 1981 und 1995 konnten allerdings nachweisen, dass sowohl die Karrieremuster bundesdeutscher Positionseliten als auch die nur geringe soziale Homogenität innerhalb der Führungsschicht eher dysfunktionale Wirkungen auf die Kooperationsfähigkeit der Eliten haben bzw. haben können. In diesem Zusammenhang muss erneut hervorgehoben werden, dass die institutionellen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland vergleichsweise umfassend auf konsensund kooperationsorientiertes Verhalten der beteiligten Akteure angelegt sind, die sich in einem breiten Netz von Verhandlungssystemen gegenüberstehen. Dabei übernehmen Eliten sowohl interne, das heißt auf den jeweiligen Sektor und die eigene Organisation gerichtete Leitungs-, Entscheidungs- und Integrationsaufgaben als auch die Außenvertretung von
Eliteforschung
405
Eigeninteressen gegenüber den Eliten anderer Gesellschaftsbereiche (Sauer 2000: 44). Die Effektivität dieser netzwerkartigen Arenen der Entscheidungsfindung stützt sich daher auf komplizierte Koordinations- und Interaktionsprozesse zwischen den Mitgliedern der Führungsschicht und ist eher mehr als weniger auf die Kooperationsbereitschaft zwischen den Führungsgruppen angewiesen. Ausgebaute und funktionsfähige Kommunikationsnetzwerke zwischen den gesellschaftlichen Eliten bilden dafür eine wichtige Voraussetzung (Sauer 2000: 44). Ungeachtet ihrer geringen sozialen Kohäsion konnte für die bundesdeutsche Führungsschicht sowohl 1981 als auch 1995 ein dichtes Kommunikationsnetzwerk nachgewiesen werden, in dem Politikeliten die zentrale Position einnehmen (Hoffmann-Lange 1992: 403; Sauer 2000: 125). Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die Funktionsfähigkeit von Verhandlungssystemen in Deutschland wird damit als erfüllt angesehen (Sauer 2000: 160). Darüber hinaus zeigen die Daten der Potsdamer Elitestudie 1995, dass Wirtschaft und Massenmedien neben der Politik die wichtigsten Säulen im Kommunikationsnetzwerk der deutschen Positionselite bilden. Zudem konnte festgestellt werden, dass politische Eliten auf Bundes- und Landesebene 1995 intensiver vernetzt waren als noch 14 Jahre zuvor. Allerdings haben in der zunehmenden Verflechtung von Bundes- und Landesebene die politischen Parteien zu Gunsten von Parlamentsfraktionen und Exekutive(n) an Bedeutung verloren (Sauer 2000: 201, 209). Eine im Vergleich zu 1981 geringere Rolle im Kommunikationsnetzwerk spielen auch Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände (Sauer 2000: 147, 200, 209). Führungskräfte aus der Wirtschaft suchten hingegen stärker direkten, außerhalb von Verbandsmitgliedschaften initiierten Kontakt zur Ministerialbürokratie und zum Bundeskanzleramt (Sauer 2000: 205). Die abnehmende Einbindung intermediärer Organisationen in Kommunikationsprozesse auf der Eliteebene entspricht anscheinend einem generellen gesellschaftlichen Trend. Danach wird gesellschaftliche Interessenvertretung durch Lobbyismus außerhalb traditioneller Verbandsstrukturen, die Professionalisierung des Lobbying und die Gründung von Nichtregierungsorganisationen (NGO) zunehmend spezialisiert, individualisiert und pluralisiert (Winter 2003, 2004; Willems/Winter 2007). Diese Entwicklung hält nicht nur zusätzliche Anforderungen an das Kooperationspotenzial der Führungsschicht bereit (Kaina 2003). Sie eröffnet auch neue Chancen für Nicht-Eliten, ihre direkten Einflussmöglichkeiten auf die politische Entscheidungsfindung zu erhöhen. Eine gehörige Portion Skepsis bezüglich dieser Chancen scheint hier trotzdem angebracht. Diese Skepsis beruht zum einen auf den nach wie vor aktuellen Befunden der politischen Partizipationsforschung, wonach politische Partizipationsbereitschaft eng an die sozioökonomische Ressourcenausstattung von Individuen geknüpft ist.4 Die Chancen politischer Einflussnahme sind daher zum einen auf Eliteebene in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Machtressourcen, die über die Organisations- und Konfliktfähigkeit gesellschaftlicher Interessen maßgeblich entscheiden (Alemann 1989: 45), ungleich verteilt. Zum anderen stützt sich jene Skepsis auf eine weitere Beobachtung bei der Analyse der Kommunikationsstrukturen im Rahmen der Potsdamer Elitestudie: Vom Bedeutungsverlust der traditionellen intermediären Großorganisationen, der Gewerkschaft, der Wirtschaftsverbände, aber 4
Siehe dazu auch den Beitrag von Jan van Deth in diesem Band.
406
Viktoria Kaina
auch der politischen Parteien, haben weniger Organisationseliten der neuen sozialen Bewegungen profitiert. Vielmehr wird immer häufiger und direkter Kontakt zu Bürokratieeliten gesucht, sodass sich die Arena der Konsensfindung offenbar von Parteiorganisationen und Verbänden weg in den administrativen Bereich der Gesetzesvorbereitung verlagert hat (Sauer 2000: 287): Mit dieser Entwicklung könnte jedoch der Einfluss partikularer Interessen auf die politische Entscheidungsfindung weiter wachsen. Das ist aus demokratietheoretischer Sicht auch deshalb problematisch, weil die administrativen Zentren der Entscheidungsvorbereitung, die keiner direkten Kontrolle durch die Bürgerinnen und Bürger unterliegen und somit auch funktional nicht auf gesellschaftliche Interessenvermittlung festgelegt sind, vor allem an Effizienzkriterien und Eigenrationalitäten orientiert sind. Vor dem Hintergrund dieser Befunde zum Kommunikationsverhalten der deutschen Eliten lässt sich fragen, wie sich der Wandel im Bereich der Interessenvermittlung auf das Verhältnis von Führungsschicht und Bevölkerung auswirkt. Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung, die 1995 im Rahmen der Potsdamer Elitestudie durchgeführt wurde, deuten jedenfalls auf spezifische Benachteiligungsgefühle in der Struktur der Interessenvertretung im vereinten Deutschland hin (Kaina 2001). Ungefähr jeder Zweite in Ost- und etwa jeder Dritte in Westdeutschland war der Meinung, dass Banken und Großunternehmen zu viel politischen Einfluss besitzen, während gleichzeitig ein zu geringer politischer Einfluss der Wählerinnen und Wähler sowie für Bürgerinitiativen und neue soziale Bewegungen beklagt wurde. Solchen Repräsentationslücken muss auch künftig besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil sie sich mit der Zeit zu Legitimitätsdefiziten verdichten können und politischer Unzufriedenheit Nahrung geben.5
3.3 Politische Einstellungsmuster und Wertorientierungen der deutschen Eliten In der Transitionsforschung, die sich mit Regimewechselprozessen im Übergang von autokratischen zu demokratischen politischen Systemen befasst, wird den Eliten eines Landes große Bedeutung zugeschrieben (z.B. Przeworski 1991; Burton et al. 1992; Dogan/Higley 1998; Higley et al. 1998; Higley/Lengyel 2000; Higley/Burton 2006). Sie und ihr Verhalten nehmen demnach nicht nur Einfluss darauf, auf welche Art und Weise Regimeumbrüche ausgelöst werden und welchen Verlauf die nachfolgende Entwicklung nimmt, ob sie zum Beispiel friedlich oder gewaltsam erfolgt. Von den Eliten, ihrem Handeln und ideologischen Dispositionen hängt es – neben anderen Faktoren – auch ab, ob sich eine neu entstandene und noch im Werden begriffene Demokratie konsolidieren, also soweit festigen kann, dass sie soziale Schocks und ökonomische Krisen übersteht und als politisches Ordnungsmodell überdauert. Ohne ein Minimum an abstrakten regulativen Ideen generellen Charakters, die in einem Wertkodex niedergelegt sind, können politische Gemeinwesen nicht überleben (Fraenkel 1991 [1968]). Dies gilt umso mehr, je weniger diesen Wertkodex jene Personen verinnerlicht haben, die an der Spitze einer Gesellschaft stehen und ihr Schicksal bestimmen, indem sie allgemeinverbindlich entscheiden oder politischen Einfluss ausüben. Die „Konsensus-Elite“ (Field/Higley 1983: 9) wird somit zu einer notwendigen Bedingung für 5
Zur Legitimitätsforschung siehe den Beitrag von Daniela Braun und Hermann Schmitt in diesem Band.
Eliteforschung
407
die Dauerhaftigkeit demokratischer Systeme. Denn ein Grundkonsens über Ordnungs- und Verfahrensprinzipien, eine Verständigung auf Verfahren, mit denen Konflikte in humaner Weise, vor allem gewaltfrei ausgetragen werden können, und eine Einigung über geltende Grundnormen als Basis politischer Entscheidungsfindung müssen jeder politischen Auseinandersetzung vorausgehen, sollen die im politischen Wettbewerb errungenen Ergebnisse auch Unterlegene zu Gehorsam motivieren (Lehmbruch 1969: 285; Oberreuter 1986: 214; Sartori 1997b: 63). Für konsolidierte Demokratien gilt es dementsprechend als typisch und notwendig, dass die Mitglieder der Führungsschicht ihre Auffassungen über die Grundzüge der politischen Ordnung und ihre Verfassungsinstitutionen teilen (Hoffmann-Lange 2006: 65). In Anbetracht dessen, dass die Weimarer Republik auch an einem fehlenden demokratischen Verfassungskonsens unter den damaligen Eliten zerbrach, wurde die demokratische Zuverlässigkeit der bundesdeutschen Eliten noch bis in die 1960er Jahre hinein wiederholt bezweifelt (Hoffmann-Lange 2006: 65). Heute wird indes kaum noch ernsthaft in Frage gestellt, dass sich die Eliten der Bundesrepublik Deutschland auf die Einhaltung demokratischer Spielregeln verständigt haben. Die Daten der Potsdamer Elitestudie 1995 belegen, dass die Funktionstüchtigkeit des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland von der Mehrheit der Eliten positiv bewertet wird, unabhängig davon, ob die Führungskräfte aus den alten oder neuen Bundesländern stammen (Kaina 2000). Darüber hinaus untermauern die Befunde der Potsdamer Elitestudie die schon in früheren Studien belegte Tatsache, dass die deutschen Eliten liberaldemokratische Werte stärker befürworten als der Bevölkerungsdurchschnitt (HoffmannLange 2006: 67). Deshalb wurden die Führungskräfte auch wiederholt als „Hüter der Demokratie“ bezeichnet (Hoffmann-Lange 1992: 305-313). Trotzdem sind Veränderungen im demokratischen Grundkonsens der deutschen Führungsschicht zu beobachten. In der Mannheimer Elitestudie von 1981 konnte Ursula Hoffmann-Lange (1992) noch feststellen, dass sich die Demokratievorstellungen der bundesdeutschen Funktionseliten in ihrer mehrheitlichen Befürwortung der repräsentativen Demokratievariante gleichen. Knapp 15 Jahre später lassen sich in den Daten der Potsdamer Elitestudie jedoch Belege dafür finden, dass sich dieses Einverständnis gewandelt hat: In der Führungsschicht des vereinten Deutschlands teilen 60 Prozent der befragten Positionsinhaber die Bevölkerungsforderung nach Volksbegehren und Volksentscheiden als Ergänzung der repräsentativen Regierungsweise und nach der Ausweitung demokratischer Prinzipien auf alle gesellschaftlichen Bereiche (Kaina 2002a: 134-144). Diese Veränderung ist aber nicht nur darauf zurückzuführen, dass Ostdeutsche mit ihrer überdurchschnittlichen Sympathie für direktdemokratische Instrumente den Weg in die gesamtdeutsche Führungsschicht gegangen sind (Kaina/Sauer 1999). Darüber hinaus kann der einsetzende Konsenswandel der bundesdeutschen Positionselite bezüglich der repräsentativen Demokratievariante auch auf einen Generationenwechsel in der Führungsschicht zurückgeführt werden (Bürklin 1997). Die befragten Eliten sind 1995 jünger und linksideologischer und vermochten über ihre Elitenrolle, vor allem im Politik- und Gewerkschaftsbereich, radikaldemokratische Utopie-Postulate in die Führungsschicht zu integrieren. Trotz erheblicher Zustimmungsunterschiede in den einzelnen gesellschaftlichen Funktionsbereichen zu mehr direkter Demokratie (Kaina 2002a) sind die Veränderungen in den demokratischen Orientierungen der
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Führungskräfte bezüglich exklusiver, elitenzentrierter politischer Entscheidungsprozesse somit unübersehbar. Allerdings können erst langfristige Beobachtungen zeigen, ob diese Veränderungen auf Dauer gestellt sind.
3.4 Das spannungsreiche Verhältnis von Führungsschicht und Bevölkerung In demokratischen politischen Systemen werden Eliten mit zwei widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert, die als Problem der doppelten Elitenintegration Eingang in die sozialwissenschaftliche Eliteforschung fanden (Hoffmann-Lange 1992: 35f). Dabei werden zum einen einer umfassenden Elitenkooperation positive Wirkungen auf die Stabilität und Funktionstüchtigkeit demokratischer Systeme zugeschrieben (Field/Higley 1983; Sauer 2000). Das auch als horizontale Elitenintegration bezeichnete Maß an Kooperationsfähigkeit bei der politischen Entscheidungsfindung auf der Basis eines demokratischen Grundkonsenses und gemeinsam geteilter Wertorientierungen wird allerdings von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst. Dazu gehören neben den institutionellen Rahmenbedingungen von Elitenhandeln die Rekrutierungsmuster und Karrierewege, aber auch die ideologischen Dispositionen der Elitemitglieder, deren Kooperationschancen um so günstiger beurteilt werden können, je stärker die Elitekonfiguration einer Gesellschaft polyarchisch geprägt ist und je sicherer darin die Spielregeln eines gewaltfreien Konfliktaustrags in einem Grundkonsens verankert sind (z.B. Keller 1963; Higley/Gunther 1992; Higley et al. 1998; Higley/Burton 2006; Higley/Lengyel 2000). Zum anderen stellt sich in demokratischen Systemen fortlaufend die Frage nach der Legitimität von Elitenhandeln. Das Prinzip der Volkssouveränität verpflichtet Eliten, ihr Handeln an die Interessen einer pluralistisch verfassten gesellschaftlichen Basis zurückzubinden sowie konkurrierende Forderungen über Meinungs- und Willensbildungsprozesse zu verarbeiten und in politische Entscheidungen einfließen zu lassen. Dabei ist die Debatte um die so genannte vertikale Elitenintegration spätestens mit den Modernisierungsprozessen der Vergangenheit weitaus vielschichtiger geworden als es die klassischen Elitetheorien um Pareto, Mosca und Michels zunächst vermuten ließen. Denn in der Gegenwart wird die Vorstellung eines dichotomen Gesellschaftsbildes mit Eliten auf der einen und Nicht-Eliten auf der anderen Seite den komplexen politischen Macht- und Einflussstrukturen moderner Demokratien nicht gerecht (vgl. Kap. 2.1). Das politikwissenschaftliche Interesse an der horizontalen und vertikalen Elitenintegration liegt in erster Linie darin begründet, dass beide Dimensionen in einem konfliktanfälligen und unauflösbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen. Die auf politische Entscheidungsfindung zentrierte horizontale Elitenintegration gewinnt umso größere Effektivität, je umfassender die autonomen Handlungsspielräume von Eliten ausgestaltet sind. In diesem Zusammenhang wird auch einem homogenen professionellen Sozialisationsprozess der Elitemitglieder positive Wirkung auf ihre Kooperationsbereitschaft unterstellt, weil er die Herausbildung einer „common language“ unter den Eliten begünstigt (Dahrendorf 1965; Rebenbstorf 1997b; Schnapp 1997b).6 6
Zur Kritik an dieser Annahme vgl. Hoffmann-Lange (1992: 82, 119f).
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Allerdings neigen Elitekonstellationen in modernen, ausdifferenzierten Demokratien eher zu sozialer Heterogenität und organisatorischer Abgrenzung, die Autonomiebestrebungen von Teileliten fördern und stabilisieren (Keller 1963; Higley et al. 1998: 4). Das gilt insbesondere für Deutschland. Denn die Mannheimer und Potsdamer Elitestudien von 1981 bzw. 1995 konnten übereinstimmend nachweisen, dass sowohl die langen und abgeschotteten Karrierewege bundesdeutscher Positionseliten als auch eine nur geringe soziale Homogenität innerhalb der Führungsschicht dysfunktionale Wirkungen auf die Kooperationsfähigkeit der Eliten in sich bergen (vgl. Kap. 3.1). Aufgrund dessen muss horizontale Elitenintegration in erster Linie über institutionalisierte Arrangements politischer Einflussnahme und ein dichtes Koordinations- und Kommunikationsnetzwerk hergestellt werden, um einen gemeinsamen normativen Handlungsrahmen zu entwickeln (Schnapp 1997b: 121). Die förderlichen Bedingungen für horizontale Elitenintegration verstärken jedoch die bei Eliten ohnehin vorhandenen Abkoppelungstendenzen zu Lasten repräsentativer Interessenvermittlung im Rahmen vertikaler Elitenintegration. Eliten neigen nämlich nicht nur wegen ihrer sozialen Merkmale zur Verselbständigung, sondern auch aufgrund ihrer spezifischen Erfahrung als Elitemitglied und ihrer exklusiven Nähe zu Entscheidungsprozessen. Elitenautonomie gegenüber der gesellschaftlichen Basis als eine Vorraussetzung für die Kooperations- und Handlungsfähigkeit der Führungsgruppen ist demnach nicht maximierbar, ohne auf Dauer die Unterstützungsbereitschaft der Repräsentierten zu gefährden (Herzog 1993: 123). Andererseits mindert eine zu starke Interessenrückbindung und Kontrolle der Eliten ihre Kompromissfähigkeit und beschränkt ihren Manövrierraum in der Entscheidungsfindung, unter Umständen um den Preis der Handlungsblockade. Das Spannungsverhältnis von horizontaler und vertikaler Elitenintegrationen resultiert dementsprechend aus widersprüchlichen Handlungsimperativen an die Adresse der Eliten, sodass beide Dimensionen nicht gleichzeitig gestärkt werden können.
Obwohl dieser Zusammenhang ein seit langem diskutiertes Problem der modernen Eliteforschung ist, ergeben sich in Folge gesellschaftlicher Wandlungsprozesse teilweise neue Fragen und Erkenntnisperspektiven (Kaina 2003). Darüber hinaus werden in diesem Zusammenhang seit einiger Zeit auch wieder verstärkt die persönlichen Qualifikationen von Eliten thematisiert und ein Diskurs über normative Verhaltensanforderungen an die Mitglieder der Führungsschicht angemahnt (z.B. Glotz et al. 1992; Schäfers 1996; Bluhm 2000; Münkler 2000; Rinderle 2003).7 Die zunehmend kritischen Töne, die das öffentliche Bild der deutschen Eliten in letzter Zeit prägen, spiegeln sich auch in allgemeinen Umfragen wie dem von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen regelmäßig erhobenen Politbarometer wider: Danach ist bei den Menschen in Ost- wie in Westdeutschland die Skepsis gegenüber dem Führungspersonal Deutschlands vor allem in den 1990er Jahren deutlich gewachsen (vgl. Abb. 1). Im April 2005 lässt sich ein vorläufiger Höhepunkt in dieser Entwicklung beobachten, wonach beinahe drei Viertel der Deutschen nicht glauben, dass die Führungspositionen in Deutschland mit den richtigen Leuten besetzt sind. Darüber hinaus waren in einer 2003 von der Bertels7
Klassisch zum Anforderungsprofil von Personen für ihren Aufstieg in die Elite Fürstenberg (1962).
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mann-Stiftung herausgegebenen repräsentativen Studie etwa drei Viertel der deutschen Bevölkerung der Auffassung, dass die Politiker den an sie gestellten Anforderungen nicht gerecht werden; 64 Prozent der Deutschen dachten so auch über die Gewerkschaftseliten, und 54 Prozent der Befragten bezweifelten die Fähigkeiten der Führungskräfte in der Wirtschaft (Bertelsmann-Stiftung 2004: 62). Abbildung 1:
Sind in Deutschland die richtigen Leute in den führenden Positionen? (Prozentanteil negativer Antworten)
100
73
75 56
71
50 39 25
0 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 West
Ost
Frageformulierung: „Glauben Sie, dass heute bei uns in Deutschland im Großen und Ganzen die richtigen Leute in den führenden Positionen sind oder glauben Sie das nicht?“ Angaben sind Prozentwerte der Antwortkategorie: „Nein, glaube ich nicht“. Quelle: Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen.
Ergänzung finden diese Zahlen in den Befunden einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung, die im Rahmen der Potsdamer Elitestudie 1995 durchgeführt wurde (ausführlich: Kaina 2002a).8 Gefragt nach der Kompetenzeinschätzung ausgewählter Führungsgruppen, zeigen sich die Befragten aus Führungsschicht und Bevölkerung überwiegend einig: Es dominiert der Eindruck der Mittelmäßigkeit (vgl. Tab. 4). Ausgenommen wurden hiervon die Wirtschaftseliten und die Führungskräfte im Bereich Wissenschaft und Kultur, die sich sowohl bei den interviewten Eliten als auch im Bevölkerungsdurchschnitt einer tendenziell höheren Reputation erfreuten. Allerdings attestierten auch nur kleine Minderheiten in Elite und Bevölkerung Teilen der Führungsschicht tatsächlich Inkompetenz (Kaina 2002a: 280). Die Bevölkerung beurteilt die Kompetenz ihrer Führungsschicht zum Teil sogar besser als die Eliten selbst; wenn sie auch häufiger in ihrem Urteil uneins ist (Kaina 2002a: 157). Von einem generellen Vertrauensdefizit der Bevölkerung in die Fähigkeiten der deutschen Eliten
8 Auch im Zuge der Mannheimer Elitestudie von 1981 wurde ein repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt befragt (Hoffmann-Lange 1992). Hier wird aber nur auf zentrale Befunde von 1995 eingegangen.
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kann auf Datenbasis der Potsdamer Elitestudie von 1995 jedenfalls keine Rede sein, weil die Führungsgruppen offenbar differenziert wahrgenommen werden. Tabelle 4: Einschätzung der Kompetenz ausgewählter Führungsgruppen 1995 (Mittelwerte)1 Politisches Führungspersonal Verwaltungseliten Führungskräfte in der Wirtschaft Führende Personen in den Massenmedien Führende Personen in Wissenschaft und Kultur
Elite 4,2 4,6 5,1 4,1 5,2
Bevölkerung 4,4 4,2 5,2 4,8 5,0
1 Rating-Skala von 1 = geringe Kompetenz bis 7 = hohe Kompetenz. Quelle: Potsdamer Elitestudie 1995 (Kaina 2002a: 157).
In der Potsdamer Elitestudie von 1995 wurden die Befragten in Elite und Bevölkerung darüber hinaus um Auskunft darüber gebeten, welchen standardisiert vorgegebenen Auffassungen über mögliche Ursachen für die Kritik an den deutschen Führungskräften sie zustimmen und welche sie ablehnen (Kaina 2002a: 127-131). Nach den Zahlen in Tabelle 5 glaubte eine Mehrheit der Bevölkerung, dass die deutschen Eliten vor allem wegen ihrer ungenügenden Gemeinwohlorientierung und mangelnden Moral kritisiert werden. Bei den befragten Führungskräften hingegen sah das nicht einmal jeder Dritte so. Darüber hinaus glaubten 46 Prozent der Deutschen, dass die deutschen Eliten auch wegen ihrer unzureichenden Kooperation in der öffentlichen Kritik stehen. Auf der anderen Seite wollten aber nur 17 Prozent der deutschen Bevölkerung einräumen, dass die Eliten zunehmend in die Kritik geraten, weil die Erwartungen der Bevölkerung zu stark gestiegen sind. Tabelle 5: Wahrgenommene Kritikgründe an der deutschen Führungsschicht (Antworten: „stimme voll zu“ in %) Erwartungen der Bevölkerung sind zu stark gestiegen Problemkomplexität Mangelnde Professionalität der Eliten Medien produzieren eine Vertrauenskrise Autoritätsverlust der Eliten in der Bevölkerung Zu wenig Kooperation der Eliten Fehlende Gemeinwohlorientierung der Eliten Mangel an Moral Fehlende Visionen und Konzepte
Bevölkerung 17 43 36 23 43 46 57 55 39
Elite 25 73 13 20 40 27 29 31 50
Quelle: Potsdamer Elitestudie 1995.
Die Daten von 1995 zeigen, dass sich eine klare Mehrheit der Deutschen frustriert zeigte, weil in ihren Augen die deutschen Eliten den an sie gestellten Erwartungen nicht gerecht werden. Mehr als jeder Zweite in der deutschen Bevölkerung – unter den Ostdeutschen sogar zwei von drei Befragten – warfen den Mitgliedern der Führungsschicht eine ungenügende Gemeinwohlorientierung und Moral sowie eine unzureichende Kooperation und einen Mangel an Visionen und Konzepten vor (Kaina 2002a: 191). Verglichen mit den Er-
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gebnissen zur Kompetenzeinschätzung der Führungskräfte durch die Bevölkerung, scheinen die Bürgerinnen und Bürger weniger den Fähigkeiten der deutschen Eliten zu misstrauen als deren Bereitschaft, in Übereinstimmung mit bestimmten Bevölkerungserwartungen zu handeln. Und offensichtlich zweifeln die Menschen dabei vor allem an der Bereitschaft der Führungskräfte, ihr Handeln am Gemeinwohl auszurichten. Das ist auch deshalb Besorgnis erregend, als die Daten der Potsdamer Elitestudie 1995 darauf hindeuten, dass Führungsschicht und Bevölkerung unterschiedliche Vorstellungen von gemeinwohlorientiertem Handeln haben (Kaina 2002a: 216-223). Bei Konflikten zwischen unterschiedlichen politischen Zielprioritäten könnten sich Entfremdungserscheinungen zwischen Eliten und NichtEliten dementsprechend potenzieren. Eine weitere Konsequenz ist der weit verbreitete Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach mehr direktdemokratischen Elementen, der nach den Befunden der Potsdamer Elitestudie auch als ein Misstrauensvotum gegenüber den deutschen Führungskräften und als ein gesteigertes Bevölkerungsbedürfnis nach Elitenkontrolle interpretiert werden muss (Kaina 2002a: 220, 2002b).
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Ausblick
Trotz ihrer disziplinären Randstellung in der Politikwissenschaft ist die Eliteforschung aus der Politischen Soziologie und ihren Sub-Disziplinen nicht mehr wegzudenken. Allerdings zeigt ein Blick auf die Entwicklung der Eliteforschung in Deutschland, dass sowohl ihre akademische Bedeutung als auch ihre öffentliche Wahrnehmung gewissen Konjunkturzyklen unterliegt, die in der Regel von Phasen gesellschaftlicher Umbrüche und intellektueller Unruhestiftung beeinflusst werden (Bluhm/Straßenberger 2006). Auch aus diesem Grunde glauben manche Autoren, dass eine intensivierte Beschäftigung mit den Eliten des Landes oft Anzeichen einer Krise ist (Münkler 2006: 31). Es scheint insofern zum Los der Eliteforscher zu gehören, mit ihrem Erkenntnisgegenstand und ihren empirischen Befunden immer dann besondere Aufmerksamkeit zu erfahren, wenn die Gesellschaften von fundamentalen Veränderungsprozessen erfasst werden. In der Gegenwart zählen dazu solche komplexen Phänomene wie die Strukturveränderungen in der Arbeitswelt, die Alterung der deutschen Gesellschaft, die Individualisierung sozialer Lebenszusammenhänge, die Entwicklung zu einer Massenkommunikations-, Informations- und Wissensgesellschaft, aber ebenso Prozesse der Europäisierung, der ökonomischen Globalisierung und der Internationalisierung von Politik. Daraus ergeben sich auch neue Fragen an die Eliteforschung, die ihr keineswegs veraltetes Programm um neue Erkenntnisinteressen erweitern. Dazu gehört etwa die in der Eliteforschung bislang vernachlässigte Bedeutung von Prominenz (Keller 1983; Peters 1994, 1996; Franck 2000) sowie die Renaissance des Charismas als politische Kategorie (Grande 2000). Mit dem fortschreitenden Bedeutungszuwachs der Massenmedien werden zum einen die Zukunftschancen für die Existenz von Eliten überhaupt bezweifelt, wenn ihre allmähliche Ablösung und Verdrängung durch Prominente sowie der drohende Aufstieg einer Pseudo-Elite prognostiziert werden (Macho 1993; Walden 2000; Paris 2003). Zum anderen lässt sich fragen, ob Prominenz im Zeitalter der Massenkommunikation, in dem sich das Fernsehen zum wichtigsten Medium der Informa-
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tionsvermittlung und Realitätskonstruktion entwickelt hat, nicht nur ein unverzichtbares Element für den Aufstieg in die Elite ist, sondern auch zu einer strategischen Handlungsressource für die Durchsetzungskraft in umkämpften Handlungsspielräumen wird. Mit den weitreichenden sozialen Wandlungsprozessen geraten zudem die traditionellen, in Deutschland auch auf weit verzweigten korporatistischen Strukturen basierenden Formen gesellschaftlicher Interessenvermittlung unter Veränderungs- und Anpassungsstress. Eine Folge davon ist, dass sich die Möglichkeiten gesellschaftlicher Interessenvermittlung differenzieren und pluralisieren (Winter 2003, 2004) sowie neue „Kommunikationsund Vermittlungsdienstleister zwischen Politik, Wirtschaft und Verwaltung [auftreten]“ (Münkler et al. 2006a: 17). Wie sich diese Entwicklung auf die horizontale und vertikale Elitenintegration in Deutschland auswirkt, ist bislang noch eine weitgehend offene Frage (Kaina 2003; Münkler et al. 2006a: 17). Schließlich formulieren auch Europäisierung und Globalisierung neue Herausforderungen an die Eliteforschung. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob und wie sich supranationale und globale Eliten entwickeln (Wasner 2004: 217). Während manche Forscher Anzeichen dafür sehen, dass jenseits von Nationalstaaten existierende Institutionen bereits ihre eigenen Eliten hervorbringen, sehen andere Autoren die Rekrutierungsmuster supranationaler und globaler Eliten nach wie vor an nationalstaatliche Eigenheiten gebunden (Wasner 2004: 217ff). Welche dieser beiden Thesen der Realität am nächsten kommt, bedarf ebenso weiterer empirischer Forschung wie die daraus resultierenden Folgerungen für die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Mitglieder einer supranationalen und globalen Führungsschicht. Die Eliteforschung verspricht, auch in den nächsten Jahrzehnten ein an- und aufregendes Feld akademischer Neugier und Erkenntnissuche zu bleiben.
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Testfragen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Warum ist es so schwierig, einen einheitlichen Elitebegriff zu definieren und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Forschung? Was sind Wert-, Funktions- und Machteliten? Welche Bedeutung haben „Herrschaft“, „Macht“ und „Einfluss“ für die Eliteforschung? Was versteht man unter dem so genannten „pluralistischen Paradigma der Eliteforschung“? Erklären Sie die wichtigsten Methoden zur Identifikation von Elitemitgliedern! Gehen Sie dabei auch auf Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Ansätze ein! Wann wurden die vier großen Elitestudien in Deutschland durchgeführt? Was sind die wichtigsten Fragestellungen der Eliteforschung? Charakterisieren Sie die die Rekrutierungsmuster und Karrierewege der deutschen Eliten! Was ist typisch für das Kontakt- und Kommunikationsverhalten der deutschen Eliten? Was wird unter dem Begriff „Elitenintegration“ verstanden und welches Problem wird in diesem Zusammenhang diskutiert und analysiert?
Die Datengrundlage der Politischen Soziologie in Forschung und Lehre Silke I. Keil
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Einleitung1
Statistische Analysen nehmen in der Politischen Soziologie einen bedeutenden Stellenwert ein. Um diese Verfahren anwenden zu können, müssen zunächst entsprechende Daten vorhanden sein, auf die ein Forscher zurückgreifen kann. Mittlerweile liegt eine breite Datengrundlage vor. Sowohl in nationaler als auch in internationaler Hinsicht können auf Basis bestehender Datensätze eine Vielzahl von Fragen empirisch geprüft werden. Die Verwendung von vorhandenen Daten erschöpft sich jedoch nicht im Zusammentragen von Ergebnissen bereits ausgewerteter Datensätze oder in der ungeprüften Verwendung bestehender Datensätze. Datensätze stellen vielmehr einen wichtigen Ausgangspunkt dar, um überhaupt bestimmte empirische Forschungsfragen überprüfen und beantworten zu können. Dennoch müssen nicht nur die Daten überlegt verwendet werden, vielmehr muss auch durchgängig die Frage beleuchtet werden, wie diese Daten zustande kommen. Das heißt, nur wenn ich einen sinnvollen Indikator zur Messung meines Konstruktes finde und die Messung reliabel auch in der Umfrage erfolgte, ist letztendlich eine sinnvolle Interpretation der Ergebnisse möglich. Dies soll an einem Beispiel illustriert werden: Kendall Baker, Russell Dalton und Kai Hildebrandt haben sich 1981 mit den Einstellungen der Bevölkerung Deutschlands zur Demokratie beschäftigt. Ihr Forschungsinteresse galt unter anderem dem Ausmaß der diffusen und spezifischen Unterstützung seitens der westdeutschen Bevölkerung. Zur Beantwortung ihrer Fragen verwendeten sie Umfragedaten aus den Jahren 1969 und 1972. Folgende Frage mit folgenden Antwortkategorien diente als Indikator zur Messung der Zufriedenheit (Baker et al. 1981: 26): „What would you generally say about democracy in the Federal Republic of Germany, that is, about our political parties and our entire political system? Are you satisfied, somewhat satisfied, or not satisfied with it?“
In ähnlicher Form wurde die Zufriedenheit mit dem Regime abgefragt. Wieder wurden drei, allerdings abweichende, Antwortkategorien vorgegeben: „very satisfied“: „somewhat satisfied“ und „not satisfied“ (Baker et al. 1981: 26). Im Ergebnis zeigte sich unter der westdeutschen Bevölkerung ein erstaunlich hohes Maß an Unterstützung: 73 Prozent gaben an, „zufrieden“ mit dem Regime zu sein und so1
Ich danke Oscar W. Gabriel für das Bereitstellen seiner Unterlagen über die Vorlesung „Politische Kultur“.
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gar 22 Prozent der westdeutschen Bürgerinnen und Bürger zeigten sich sehr zufrieden. Nur fünf Prozent der Befragten wählte die Antwortvorgabe „nicht zufrieden“. Jedoch bildet diese Verteilung aller Wahrscheinlichkeit nicht das Ausmaß an Zufriedenheit ab, das 1972 unter den Befragten verbreitet war. Kritisch zu diskutieren ist zunächst grundsätzlich die Verwendung einer 3er-Skala, denn Befragte können sich dabei in der Regel zwischen zwei Extremen und einem sehr undefinierten Mittel einordnen. Personen neigen weniger zur Bejahung von Extrempositionen und müssen sich dann gezwungenermaßen der Mittelkategorie zuordnen. Die Folge ist, dass diese Kategorie die Mehrheit der Befragten ankreuzt und sie somit wenig aussagekräftig wird. In dem skizzierten Beispiel kommen zu der Kritik an der problematischen 3er-Skala als weiterer gravierender Mangel die asymmetrischen Antwortkategorien hinzu. Die Befragten haben lediglich die Wahl zwischen zwei positiven Antwortvorgaben, aber nur einer negativen Antwort. Dieses Angebot beeinflusst das Antwortverhalten der Befragten in beträchtlichem Umfang. Eine Reihe von Studien bewerten auf der Grundlage anderer Umfragedaten das Ausmaß der Unterstützung in der westdeutschen Bevölkerung deutlich negativer (siehe unter anderem Kaase 1985: 105ff; Fuchs et al. 1995: 330ff und Dalton 2004: 39f). Dieses Beispiel macht bereits deutlich, welche Bedeutung die Verwendung von bestimmten Indikatoren hat, wie wichtig eine zuverlässige Messung ist und wie schnell Ergebnisse auf Grund von Messfehlern unbrauchbar werden können. Daher wird sich dieser Beitrag nicht in der Darstellung bestehender Datenressourcen erschöpfen, sondern aufzeigen, auf was zu achten ist, die Verantwortlichen und deren Konzept beim Zustandekommen der Datensätze beleuchten und nicht zuletzt grundsätzliche Vor- und Nachteile kurz skizzieren. Zunächst wird jedoch in diesem Kapitel der Frage nachgegangen, was sind Daten? Entsprechend werden die unterschiedlichen Arten von Daten und deren Besonderheiten vorgestellt. Beispielhaft werden mit Hilfe der Daten aus dem Bereich Wahlforschung die Vor- und Nachteile diskutiert. Anschließend werden ausgewählte Datensätze dargestellt, die für die Politische Soziologie von besonderem Interesse sind. Entsprechend der Schwerpunktsetzung wird, soweit unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten möglich, die Qualität bewertet. Der Beitrag schließt mit einem Fazit.
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Daten und deren Charakteristika
Es gibt in der (international) vergleichenden Forschung unterschiedliche Arten von Daten. Zwei wesentliche analytische Unterscheidungskriterien lassen sich identifizieren. Zum einen kann nach Analyseebene differenziert werden: Man kann das Individuum (Mikro) betrachten oder größere Analyseeinheiten wie Länder, Parteien, Wahlen etc. (Makro) untersuchen. Die Einstellungs- und Verhaltensforschung greift vorwiegend auf Individual- bzw. Mikrodaten zurück, die häufig mit Hilfe von Interviews gewonnen werden. Diese Daten erlauben es, die Einstellungen und das Verhalten einer Person mit zahlreichen individuellen Merkmalen, aber auch mit Merkmalen auf der Makroebene in Beziehung zu setzen und
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damit Einflüsse auf individuelle Einstellungen und individuelles Verhalten genau zu untersuchen. Während auf der Mikroebene vorrangig Umfragen, aber auch Beobachtung und Experiment als Datenquellen verwendet werden, stützen sich Makroanalysen in der Regel auf Statistiken als Datenquellen. Daneben spielen aggregierte Individualdaten eine Rolle – auch wenn deren Aussagekraft mit Problemen behaftet ist – und Netzwerkanalysen sowie Ereignisdatensammlungen. Eine weitere wesentliche analytische Unterscheidung besteht darin, ob politische Orientierungen in verschiedenen Systemen zum selben Zeitpunkt verglichen werden (Querschnitt), oder ob Wandlungsprozesse in einem politischen System analysiert werden. Damit erhält man Längsschnittdaten, sogenannte Trends und Panels. Darüber hinaus gibt es noch kombinierte Längs- und Querschnittsstudien, die einen internationalen und intertemporalen Vergleich möglich machen. Kasten 1:
Mikro- und Makrodaten
Mikrodaten oder auch Individualdaten: Untersuchungsgegenstand ist das Individuum, und die Dimensionen stellen dessen Einstellungen und Verhalten dar. Die Datenquellen der Mikroebene bilden in der Regel Umfrage, Beobachtung und Experiment. Makrodaten oder auch Aggregatdaten: Dimensionen der Makroebene sind Strukturen und Prozesse bzw. Polity (Strukturen wie Aufgaben, Verfahrensregeln, Organisationen), Politics (Prozesse wie Willensbildung, Entscheidungsverfahren) und Policy (Inhalte wie Gesetze, Programme, Maßnahmen). Auf der Makroebene lassen sich als die wichtigsten Datenquellen identifizieren: amtliche Statistiken, Statistiken privater Organisationen, Ereignisdaten/Dokumentenanalysen, Netzwerkanalysen und aggregierte Individualdaten.
Die Querschnittsanalyse stellt die etablierteste Analysetechnik dar (Jahn 2006: 356). Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden verschiedene Fälle betrachtet. Damit wird eine Momentaufnahme von einer abhängigen Variablen möglich. Auf der Mikroebene kann beispielsweise die Bedeutsamkeit von Kandidatenimages für das Wahlverhalten der Befragten in der letzten Bundestagswahl erklärt werden. Auf der Makroebene könnte die Erklärung von Parteimitgliedschaften von Interesse sein. Die Längsschnittanalyse betrachtet dagegen nicht nur einen bestimmten Zeitpunkt, sondern hat mehrere Beobachtungspunkte. In diesem Fall spricht man von mehreren Erhebungswellen. Dies ermöglicht Aussagen darüber, ob und wie sich Variablen verändert haben. Im oben angeführten Beispiel wären auf der Mikroebene Aussagen darüber möglich, ob und wie sich die Bedeutsamkeit von Kandidatenimages für das Wahlverhalten verändert hat. Kam beispielsweise den Kandidatenimages beim Duell Merkel gegen Schröder eine größere Erklärungskraft für das Wahlverhalten zu als bei Stoiber gegen Schröder? Bezogen auf das angeführte Beispiel auf der Makroebene könnten Aussagen darüber getroffen werden, ob und wie sich die Bereitschaft in einer Partei Mitglied zu werden, im Zeitverlauf verändert hat. Am Beispiel der Messung von Wahlbeteiligung werden im Folgenden die Vorzüge und die Nachteile von Mikro- und Makrodaten dargestellt.
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Wahlbeteiligung als Forschungsgegenstand hat eine breite Tradition, was neben den theoretischen Gründen nicht zuletzt auf der exzellenten Datenlage beruht. Als Makrodaten sind die Wahlbeteiligungsraten in der Regel problemlos über statistische Wahlämter zu beziehen. Jedoch kann Wahlbeteiligung nicht nur über Makrodaten gemessen werden. Bevölkerungsumfragen erlauben ebenfalls Rückschlüsse auf das Ausmaß und das Niveau der Wahlbeteiligung. In der Regel werden in Surveys so genannte Wahlabsichtsfragen (finden im Vorfeld der Wahl statt) oder sogenannte Recallfragen (=Erinnerungsfragen) gestellt. Wie bereits erwähnt, geben die Daten der amtlichen Wahlstatistik Auskunft über die Höhe der Wahlbeteiligung. Diese Art der Messung der Wahlbeteiligung findet demnach auf der Makroebene statt. Der erste augenscheinliche Vorteil dieses Verfahrens ist die leichte Zugänglichkeit der Daten. Eine Auskunft über das Ausmaß und Niveau der Wahlbeteiligung zu erhalten, verursacht sowohl national als auch in der Regel international keine größeren Schwierigkeiten. Entsprechende Informationen halten die dafür zuständigen Ämter in einer schnell lieferbaren und analysetauglichen Form bereit. Darüber hinaus werden die Wahlbeteiligungsraten bereits seit Jahren erfasst, damit stehen Informationen über einen langen Zeitraum zur Verfügung. Des Weiteren sind diese Makrodaten nicht mit systematischen und Stichprobenfehlern behaftet. In der Konsequenz ermöglicht diese Form der Wahlbeteiligungsdaten den Forschern und Interessierten international vergleichende Analysen, auch langfristiger Entwicklungsprozesse. Offenkundig erlauben diese Makrodaten jedoch nur in sehr begrenztem Ausmaß Analysen und Aussagen über die Bestimmungsfaktoren der Wahlbeteiligung. Die Daten der amtlichen Wahlstatistik geben kaum Auskunft über die Frage, warum eine Person zur Wahl geht, während die andere nicht wählt. Ebenso wenig ist es möglich, unterschiedliche Arten von Nichtwählern zu identifizieren. Denn es erscheint plausibel, dass einige Bürger aus Protest der Wahl fern bleiben, während andere aus Überzeugung nicht wählen (zum Beispiel Zeugen Jehovas). Wieder andere sind vielleicht des Wählens überdrüssig. Neben dem Nachteil, wenig über die Bestimmungsfaktoren aussagen zu können, besteht die Gefahr des ökologischen Fehlschlusses. Dieses Problem entsteht dann, wenn Zusammenhänge zwischen Aggregatvariablen so interpretiert werden, als ob diese Zusammenhänge auf der Ebene der Individuen zu beobachten seien (Schnell/Hill/Esser 2005: 253).2 Wahlbeteiligung lässt sich auch auf der Mikroebene messen. Dieses Verfahren zur Messung besitzt den Vorzug, dass Analysen und Aussagen individueller Bestimmungsfaktoren möglich sind. Darüber hinaus erlauben Mikrodaten Aussagen über Effekte der Wahlbeteiligung. Gewonnen werden die Daten in Umfragen, in welchen entweder nach der Wahlabsicht gefragt wird oder ob der Befragte bei der letzten Wahl gewählt hat (=Recall). Die problematischen Punkte bei diesem Verfahren zur Messung der Wahlbeteiligung sind offensichtlich: Es wird nicht das tatsächliche Verhalten der Befragten erhoben, denn auf der einen Seite kann nur eine Verhaltensabsicht erfasst werden oder auf der anderen Seite ein erinnertes Verhalten. Beide Erhebungsmöglichkeiten sind durchgängig nur möglich in mehr oder weniger großem Abstand zum tatsächlichen Wahlakt, was Messfehler zur Folge haben kann. Ein Messfehler liegt im Stichprobenfehler begründet. Der zweite ist als systematischer Fehler definiert, denn der Recallfrage ist das Problem des Erinnerungsfehlers immanent. 2
Ausführlicher zu Methoden der Datenanalyse der Beitrag von Manuela Pötschke in diesem Band.
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Darüber hinaus kann das Antwortverhalten der Befragten sowohl bei der Wahlabsichts- als auch bei der Recallfrage durch den Faktor soziale Erwünschtheit beeinflusst werden. Tabelle 1: Vergleich Wahlbeteiligung: Ergebnis, Wahlabsicht, Recall, 1994-2002 Ergebnis 1994
79,0
1998
82,1
2002
79,1
Wahlabsicht
Recall
81,4 (+2,4) 91,2 (+9,1) 88,1 (+9,0)
85,9 (+6,9) 89,4 (+7,3) 87,7 (+8,6)
Quelle: Trafo-Querschnittsdatensatz 1994 bis 2002, eigene Berechnungen.
Ein Vergleich der Bundestagswahlen 1994 bis 2002 verdeutlicht die angeführten Nachteile: In keinem Wahljahr entsprechen die Ergebnisse, die auf den Mikrodaten beruhen, der jeweils tatsächlichen Wahlbeteiligung. Durchgängig gibt im Vergleich ein höherer Prozentsatz von Befragten an, bei der nächsten Wahl die Stimme abgeben zu wollen bzw. bei der letzten Wahl die Stimme abgegeben zu haben, als das Endergebnis der amtlichen Wahlstatistik ausweist. Mit bis zu über neun Prozentpunkten Differenz verursachen damit die auf Mikrodaten beruhenden Ergebnisse nicht unerhebliche systematische Fehler. Kasten 2:
Verfahren zur Messung der Wahlbeteiligung: Vor- und Nachteile von Mikround Makrodaten
Mikro-Ebene: Umfragedaten über Recall oder Wahlabsicht Vorteile: Möglichkeit zur Analyse individueller Bestimmungsfaktoren und Effekte der Wahlbeteiligung. Nachteile: Erfassung der Verhaltensabsicht oder des erinnerten Verhaltens; mehr oder weniger großer Abstand zum tatsächlichen Wahlakt; Stichprobenfehler und systematischer Fehler: soziale Erwünschtheit, Erinnerungsfehler. Makro-Ebene: Daten der amtlichen Wahlstatistik Vorteile: leichter Datenzugang; keine systematischen und Stichprobenfehler; Möglichkeit zur international vergleichenden Analyse langfristiger Entwicklungsprozesse. Nachteile: Begrenzte Möglichkeiten zur Analyse von Bestimmungsfaktoren der Wahlbeteiligung; Gefahr des ökologischen Fehlschlusses.
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Auswahl an Datensätzen für die Politische Soziologie
Wie bereits erwähnt, besteht mittlerweile ein breiter Fundus an national und international vergleichenden Datensätzen, mit denen Wissenschaftler thematisch breitgefächerte Forschungsfragen empirisch prüfen können. Eine sehr breite Darstellung verfügbarer Datensätze ist für das Anliegen dieses Buches nicht sinnvoll. Daher wird im Folgenden eine Auswahl dargestellt, die sich an der thematischen Schwerpunktsetzung dieses Bandes orientiert. Wie
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nachfolgend zu sehen, ergibt sich dabei eine noch sehr umfangreiche Liste an Mikro- und Makrodatensätzen. Die Darstellung umfasst folgende Punkte:
Informationen über Bezugsquellen Informationen über die thematischen Schwerpunkte Hintergrundinformationen über Verantwortliche, Infrastruktur und Anliegen Informationen über teilnehmende Länder, Zeitdauer Informationen über Stärken und Schwächen Informationen über die Bezugsquellen
Grundsätzlich kann zwischen zwei Arten von Datensätzen unterschieden werden. Zum einen existieren einmalige Projekte, d.h. es wird zu einem bestimmten Zeitpunkt ein thematischer Komplex erhoben. Zum zweiten gibt es auf mehrere Erhebungswellen ausgerichtete Projekte, die teilweise sogar den Status einer Dauerbeobachtung innehaben (Beispiel: ALLBUS). Die nachfolgende Präsentation der Datensätze setzt ihren Schwerpunkt auf die letztgenannten. Am Ende einer jeden Datensatz-Vorstellung findet sich ein Hinweis auf die Bezugsquelle der Daten. Ganz grundsätzlich sei jedoch auch auf ein Datenarchiv in Deutschland hingewiesen, das mehrere tausend Datensätze erfasst hat: Das Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln (http://www.gesis.org/ZA/index.htm).
3.1 Individualdatensätze 3.1.1
Nationale Datensätze
ALLBUS Seit 1980 wird alle zwei Jahre ein repräsentativer Querschnitt der deutschen Bevölkerung mit einem teils stetigen, teils variablen Fragenprogramm befragt (jeweils eigener inhaltlicher Schwerpunkt). Die Grundgesamtheit bestand vor 1990 aus allen wahlberechtigten Personen der alten Bundesrepublik, die in Privathaushalten leben (Nettostichprobengröße: 3000 Personen). Seit 1991 besteht die Grundgesamtheit aus der volljährigen Wohnbevölkerung in West- und Ostdeutschland (Nettostichprobengröße: 2400 Personen in West, 1100 Personen in Ost). Die Stichproben der Umfragen in den Jahren 1980 bis 1992 sowie 1998 wurden nach dem ADM-Stichprobendesign gebildet. 1994 und 1996 wurden dagegen Gemeindestichproben mit Ziehung von Personenadressen aus den Einwohnermelderegistern eingesetzt. Die Interviews werden face-to-face durchgeführt. Das Fragenprogramm umfasst ein bis zwei Themenschwerpunkte wie z.B. abweichendes Verhalten, religiöse Orientierungen, Einstellungen zu sozialer Ungleichheit, politische Partizipation. Zusätzlich enthält es Einzelindikatoren und kleinere Itembatterien zu verschiedenen weiteren Bereichen. Themenschwerpunkte werden im Allgemeinen in zehnjährigem Turnus, Einzelindikatoren und Itembatterien in zwei- oder vierjährigem Abstand repliziert. Darüber hinaus werden in jeder ALLBUS-Umfrage detaillierte demographische Informationen zum Befragten und seinem Ehe- bzw. Lebenspartner erfasst.
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ALLBUS dient der Untersuchung von Einstellungen und Verhaltensweisen der deutschen Bevölkerung. Die Replikation von Fragekomplexen aus dem ALLBUS und aus anderen Studien ermöglicht die Analyse von Entwicklungsprozessen und gesellschaftlichem Wandel. Darüber hinaus bieten die enge Kooperation mit dem amerikanischen General Social Survey (GSS) und insbesondere die Einbindung des International Social Survey Programme (ISSP) Möglichkeiten für international vergleichende Analysen (seit 1986 wird der deutsche Teil des ISSP meist zusammen mit dem ALLBUS durchgeführt). Der ALLBUS ist ein gemeinsames Vorhaben vom Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (im Folgenden wird die Abkürzung ZUMA verwendet) und dem Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung (im Folgenden wird die Abkürzung ZA verwendet) innerhalb der GESIS, das in Kooperation mit einem wissenschaftlichen Beirat realisiert wird. Dem wissenschaftlichen Beirat des ALLBUS gehören derzeit sechs Personen aus sechs verschiedenen Universitäten Deutschlands an. Die Abteilung ALLBUS bei ZUMA ist für das Forschungsprogramm und das Gesamtdesign des ALLBUS zuständig. Sie bereitet in enger Zusammenarbeit mit dem ALLBUS-Ausschuss die Studien vor und führt sie zusammen mit einem privaten Umfrageinstitut durch. Die Codebucherstellung, die Aufbereitung und Kumulation von Datensätzen, der Datenvertrieb und die Archivierung erfolgen durch das ZA in Köln. ALLBUS ist frei zu beziehen, lediglich eine Registrierung ist erforderlich (http://gesis.org/Dauerbeobachtung/Allbus/). Zum Teil wurden begleitend Methodenstudien durchgeführt, für die gesonderte Datensätze im ZA verfügbar sind (z.B. zu Interviewereffekten, zur Test-Retest-Reliabilität, Nonresponse-Problematik). Der Weiterbestand dieses Projektes ist gesichert, denn ALLBUS ist als Dauerbeobachtung seit 1987 im Rahmen der GESIS institutionalisiert. Die Umfragen davor, 1980 und 1986, wurden von der DFG gefördert. Politbarometer Seit 1977 wird das Politbarometer als monatliche repräsentative Umfrage von der Forschungsgruppe Wahlen e.V. für das Zweite Deutsche Fernsehen durchgeführt. Neben Einstellungen zu Parteien, zur politischen Agenda und zu Spitzenpolitikern werden Meinungen der deutschen Bevölkerung zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen abgefragt. Die Daten für das Politbarometer werden jeweils von Dienstag bis Donnerstag telefonisch erhoben und am Freitag werden die Ergebnisse veröffentlicht. Dabei werden in den westlichen Bundesländern jeweils ca. 1.000 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte befragt, in den neuen Bundesländern ca. 700. Eine Überquotierung des Ostens erfolgt, um eigenständige Aussagen über die ostdeutschen Länder treffen zu können. Die Zusammenfassung dieser Befragten führt nach Ausgleich der Überquotierung im Osten rechnerisch zu ca. 1.250 Interviews. Repräsentativität wird durch eine strenge Zufallsauswahl bei der Bestimmung der zu befragenden Personen gewährleistet. Für die Stichprobe wird eine zweistufige Zufallsauswahl verwendet. Zunächst werden Privathaushalte im RLD-Verfahren (randomize last digit) ausgewählt. Die so generierten Anschlüsse bilden die Brutto-Haushalts-Stichprobe der Untersuchung. Mit Hilfe eines Zufallverfahrens wird dann in der zweiten Stufe die
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Zielperson ausgewählt. Hierbei wird diejenige Person befragt, die von den Wahlberechtigten im Haushalt zuletzt Geburtstag hatte. Die Auswertung der Studie erfolgt gewichtet. Die Politbarometer-Daten können beim ZA in der GESIS bezogen werden. Der Zweck der Politbarometer-Daten beschränkt sich auf die Abbildung eines Stimmungsbildes. Entsprechend aktuell können sich Interessierte informieren, jedoch entsprechend eingeschränkt ist deren Verwendung für komplexe wissenschaftliche Themenfelder zu bewerten. Das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) Das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) stellt Mikrodaten für die sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Grundlagenforschung bereit. Das Panel ist als repräsentative Wiederholungsbefragung privater Haushalte in Deutschland konzipiert, die im jährlichen Rhythmus seit 1984 bei denselben Personen und Familien in der Bundesrepublik durchgeführt wird. Zur Befragungspopulation des SOEP gehören private Haushalte und deren Mitglieder, die das 17. Lebensjahr erreicht haben. Seit dem Befragungsjahr 2000 werden zusätzlich von den 16bis 17-jährigen Haushaltsmitgliedern jugendspezifische Biographiedaten erhoben; seit 2003 beantworten Mütter von Neugeborenen Fragen nach zentralen Indikatoren, die für die Entwicklungsprozesse von Kindern eine hohe Erklärungskraft aufweisen. Seit 2005 werden auch die Eltern von zwei- und dreijährigen Kindern gesondert befragt, d.h. seit dem Geburtsjahrgang 2003 stellt das SOEP auch eine Geburts-Kohortenstudie dar. Seit 2008 werden deswegen auch mit den Eltern vier- und fünfjähriger Kinder vertiefende Interviews geführt; ab 2009 zudem mit den Eltern älterer Kinder sowie mit den Kindern selbst, bevor diese mit dem 17. Lebensjahr zu regulären Befragungspersonen werden. Bereits im Juni 1990, also noch vor der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, wurde die Studie auf das Gebiet der ehemaligen DDR ausgeweitet, um anhand der Transformation einer Gesellschaft besonders aussagekräftige Daten zu gewinnen. Zur adäquaten Erfassung des gesellschaftlichen Wandels in den Jahren 1994/95 wurde die „ZuwandererStichprobe“ eingeführt. Weitere zusätzliche Stichproben wurden in den Jahren 1998, 2000, 2002 und 2006 in die laufende Erhebung integriert. Das Erhebungsprogramm wird ständig an neue Entwicklungen in der Gesellschaft angepasst. Der Datensatz gibt Auskunft über objektive Lebensbedingungen, zugleich auch über Persönlichkeitsmerkmale, Wertvorstellungen, Risikoeinstellungen und über dynamische Abhängigkeiten zwischen allen Bereichen und deren Veränderungen. Die Daten werden auch für die Sozialberichterstattung und Politikberatung eingesetzt. Mit Hilfe des SOEP können eine Vielzahl sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Theorien, insbesondere auch psychologischer Theorien, getestet werden. Das SOEP deckt ein weites Themenspektrum ab. Über die in allen Erhebungen abgefragten Themen, werden in jährlich wechselnden Schwerpunktthemen zusätzliche Informationen bereitgestellt, z.B. über Familie und soziale Dienste; Weiterbildung und Qualifikation; Soziale Sicherung; Energie- und Umweltverhalten. Die Durchführung und Entwicklung der Längsschnittstudie erfolgt in Form einer „Serviceeinrichtung für die Forschung“ im Rahmen der Bundesländer finanzierten LeibnizGemeinschaft (WGL) mit Sitz am DIW Berlin. Die Feldarbeit führt TNS Infratest Sozialforschung (München) unter dem Titel „Leben in Deutschland“ durch.
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Das SOEP wurde 1983 als Teilprojekt des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Sonderforschungsbereichs „Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik“ gegründet, der an den Universitäten Frankfurt/Main und Mannheim angesiedelt war. Von 1990 bis 2002 wurde das SOEP als DFG-Projekt gefördert, seit 2000 mit einer Zusatzfinanzierung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Seit dem Jahr 2003 ist das SOEP auf Beschluss der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) in die institutionelle Förderung durch Mittel des Bundes und der Länder im Rahmen der WGL aufgenommen. Über die Inhalte des SOEP entscheidet der SOEP-Beirat. Der Mikro-Datensatz des SOEP wird weltweit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen zu Zwecken der Forschung und Lehre gegen eine geringe Nutzungsgebühr zur Verfügung gestellt (Daten 1984-2006 auf DVD: 30 Euro; zu beziehen über DIW Berlin nach Registrierung). Der große Vorteil der SOEP-Daten liegt in ihrer Struktur. Dieser Datensatz besteht aus Paneldaten, was eine Analyse individueller Veränderungen im Zeitablauf ermöglicht.
3.1.2
Internationale Datensätze
Eurobarometer Das Eurobarometer wird im Auftrag der europäischen Kommission mindestens zweimal jährlich in allen EU-Mitgliedsstaaten durchgeführt. Die erste Eurobarometer-Umfrage wurde im Frühjahr 1974 veröffentlicht. In allen Mitgliedsstaaten besteht die Grundgesamtheit für die Erhebung aus allen Bürgern des Landes im Alter von 15 oder mehr Jahren. Die Stichprobengröße beträgt in allen Ländern 1000 Befragte (Ausnahmen: Großbritannien: n=1000 für GB und n=300 für Nordirland; Luxemburg: n=500-600; Deutschland: n=1000 für West und n=500 für Ost). Seit dem Eurobarometer 62 werden auch die neuen Mitgliedstaaten der EU-Erweiterung 2004 mit einbezogen (Malta und Zypern: n=500). Auch Rumänien und Bulgarien, sowie die Türkei, Kroatien, Nordzypern (n=500) und Mazedonien sind teilweise in neueren Standarderhebungen enthalten. Seit 1999 wird auch eine jährliche Erhebung in der Schweiz durchgeführt. Seit 2004 (Eurobarometer 62) wird der Standard Eurobarometer von TNS Opinion & Social, ein Konsortium aus Taylor Nelson Sofres (TNS) und EOS Gallup Europe, koordiniert. Seit Herbst 2004 führt TNS Infratest Sozialforschung die Eurobarometer-Erhebungen in Deutschland durch. Dabei werden pro Jahr sechs bis sieben Erhebungswellen mit jeweils 1500 Befragten realisiert. In allen Mitgliedsstaaten werden die Erhebungen auf Basis einheitlicher Anleitungen durchgeführt. Seit 1989 ist das grundlegende Verfahren der Stichprobenziehung in allen Ländern ein mehrstufiges Zufallsverfahren: Der erste Schritt ist die zufällige Auswahl von sampling points aus jedem Verwaltungs-/Regierungsbezirk des jeweiligen Landes. In einem zweiten Schritt werden Adressen-Cluster aus den „primary sampling units“ ausgewählt. Das Auswahlverfahren hierbei ist „random route“, ausgehend von einer zufällig ausgewählten Adresse. Abschließend wird in jedem Haushalt ein Befragter zufällig ausgewählt, z.B. anhand der first-birthday-Methode.
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Das Eurobarometer untersucht die soziale Situation der Bürger sowie soziale und politische Einstellungen zu zentralen Themen der Europäischen Union. Typische Fragenkomplexe beziehen sich auf die Zustimmung der Unionsbürger zur EU, auf ihren Kenntnisstand und ihr Informationsbedürfnis bezüglich der EU und auf ihre Meinung zu aktuellen EUpolitischen Fragen wie z.B. zur Aufnahme weiterer Staaten in die EU oder zum Euro. Mit den Eurobarometer-Umfragen soll die Informations- und Kommunikationsstrategie der EU verbessert werden und die Herausbildung einer europäischen öffentlichen Meinung unterstützt werden. Die Bürger sollen sich näher kommen, indem sie mehr über die Meinungen und Gedanken ihrer europäischen Mitbürger erfahren können. Folgende Eurobarometer-Umfragen lassen sich unterscheiden: Das Standard-Eurobarometer: Es wird zweimal im Jahr durchgeführt, im Frühjahr und im Herbst. Die zeitliche und inhaltliche Kontinuität der Umfragen ermöglicht es, Trends und Tendenzen über längere Zeiträume zu identifizieren und zu verstehen. Das Spezial-Eurobarometer: Daneben gibt es zusätzliche Erhebungswellen zu aktuellen speziellen Themen wie z.B. zu Energie- und Umweltfragen, Wissenschaft und Technologie oder zur Zukunft Europas. Es werden sowohl Ad-hoc- als auch Trenderhebungen durchgeführt. Die Eurobarometer-Daten sind über den ZA Online Study Catalogue (ZACAT/GESIS) verfügbar. Eurobarometer dienen vielen wissenschaftlichen Studien als empirische Grundlage zur Beantwortung der jeweiligen Forschungsfragen. Das ist nicht erstaunlich, denn die Vorteile der Eurobarometer liegen auf der Hand. Durch die hohe Anzahl der Teilnehmerländer, die Vielzahl an breit abgefragten Themenfeldern und den langen kontinuierlichen Erhebungszeitraum sind die Eurobarometer gut geeignet für Langzeitanalysen. Einschränkend muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass diese Umfragen nicht für wissenschaftliche Zwecke entwickelt wurden, sondern um ein Meinungsbild für die EU-Kommission bereitzustellen. Entsprechend werden auch die Fragen ausgewählt und die sich daraus ergebende Konsequenz ist, dass bestimmte Fragen in manchen Wellen nicht mehr erhoben werden. Dies betrifft beispielsweise die Standardvariable „Parteiidentifikation“, die zunächst kontinuierlich abgefragt wurde, aber seit 1994 fehlt (Ausnahme 2004). Zudem haben sich einige Male die Frageformate und/oder Antwortkategorien verändert, weshalb in diesen Fällen vergleichende Analysen nur mit Vorsicht durchgeführt werden können (z.B. Kirchgangshäufigkeit). European Election Studies (EES) Die EES untersuchen Wahlbeteiligung und Wahlverhalten bei europäischen Parlamentswahlen. Des Weiteren werden Einstellungen zur EU und ihrer Perfomanz erhoben. Das Projekt wurde 1979 von einer internationalen Gruppe von Wahlforschern ins Leben gerufen. Von 1979 bis 2004 wurden sechs Studien geplant und fünf Studien realisiert (die Wahl zum Europaparlament 1984 wurde nicht von einer Studie begleitet, allerdings wurden relevante Fragen im Eurobarometer vom Herbst 1984 eingesetzt). Die Studie von 2004 wurde in 24 der 25 EU-Mitgliedsstaaten durchgeführt. Die Organisationsstruktur des EES umfasst eine für Inhalt und Design verantwortliche Gruppe aus neun Forschern verschiedener Länder. Die Koordination liegt in Mannheim und
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die Datenaufbereitung und -integration erfolgt sowohl in Mannheim als auch in Bloomington. Die Daten der neuesten Studie (2004) sind auf deren Homepage frei verfügbar (www.europeanelectionstudies.net). European Social Survey (ESS) Das wichtigste inhaltliche Ziel des European Social Survey (ESS) besteht darin, die Einstellungen, Wertorientierungen und Verhaltensmuster der Bevölkerungen in den europäischen Staaten zu beschreiben und zu erklären sowie Trends zu ermitteln. Um die Entwicklungen in längerfristiger Perspektive analysieren und entsprechende Theorien prüfen zu können, ist der ESS als Zeitreihe und somit als kontinuierliches Projekt angelegt. Die Erhebungen finden in Zweijahresabständen statt. Die erste Erhebungswelle fand 2002/2003 statt, gefolgt von 2004/2005 und 2006/2007. Seit Januar 2008 ist die vierte Runde des ESS angelaufen. Für die erste Welle des ESS stehen Daten aus insgesamt 22 Ländern zur Verfügung. Im Zuge der zweiten Welle hat sich der Kreis der teilnehmenden Länder auf 26 vergrößert. In der dritten Welle sind weiterhin 26 Teilnahmeländer vertreten, jedoch unterscheidet sich die Zusammensetzung von der der zweiten Welle: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Lettland, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, die Schweiz, die Slowakische Republik, Slowenien, Spanien, die Türkei, die Ukraine, Ungarn und Zypern. Das Projekt wurde von einem Steering Committee der European Science Foundation (ESF) und einem Methodology Committee entwickelt. Zur Koordination des internationalen Projekts wurde im Jahr 2000 eine internationale Gruppe gebildet, die aus Vertretern der an der ersten Welle beteiligten Länder besteht. Die zentrale Steuerungsinstanz zur Organisation der entsprechenden Prozesse im Rahmen des ESS ist das sogenannte Central Coordinating Team (CCT). Das CCT umfasst Vertreter von sechs Institutionen aus fünf verschiedenen Ländern. Durch die vom CCT und den Expertengremien des ESS (Scientific Advisory Board; Questionnaire Module Design Teams; Method Group; Sampling Experts; Translation Taskforce) ausgeübten Kontroll- und Feedbackfunktionen konnten insbesondere Länder mit einer kürzeren Tradition der international vergleichenden empirischen Sozialforschung bzw. mit bislang vergleichsweise niedrigen methodischen Standards große methodische Fortschritte erzielen. Die Organisation, Vorbereitung und Durchführung des ESS in Deutschland wird von einem Projektteam aus fünf Wissenschaftlern geleistet. Aufgaben des nationalen Teams umfassen die folgenden Aufgabenbereiche: Übersetzung des internationalen Fragebogens, laufende Abstimmung mit der internationalen Projektgruppe und anderen deutschsprachigen ESS-Teilnehmerländern (Österreich, Schweiz, Luxemburg), Entwicklung der zusätzlichen deutschen Fragen sowie die Übersetzung und Anpassung der gesamten Studienmaterialien. Die Datenerhebung erfolgt in jedem Land durch ein Umfrageinstitut, in Deutschland Infas, das über ausreichende Erfahrung in der Durchführung nationaler wahrscheinlichkeitsbasierter Studien verfügt und face-to-face-Interviews (CAPI) auf höchstem methodischen Niveau durchführen kann. Generell wurde für den ESS das Kriterium der Repräsentativität für Personen über 15 Jahren in Privathaushalten, ungeachtet ihrer Nationalität,
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Staatsbürgerschaft oder Sprache, formuliert. Die Stichprobenziehung soll in allen Teilnehmerländern mittels eines strikt randomisierten Wahrscheinlichkeitsverfahrens (probability random sampling) erfolgen. Die ESS-Vorgabe für die minimale effektive Stichprobengröße, die nach Diskontierung von Designeffekten in den Teilnehmerländern erreicht werden soll, liegt bei 1500 Fällen (bzw. bei 800 Fällen in Ländern mit weniger als zwei Millionen Einwohnern). In Deutschland wurden diese Vorgaben mit Hilfe einer Einwohnermeldeamtsstichprobe und einer zweistufigen Stichprobenziehung umgesetzt (Auswahl von Gemeinden, Auswahl von Adressen aus den jeweiligen Einwohnermeldeamtsregistern). Da Westund Ostdeutschland nach wie vor als unterschiedliche Gesellschaften gelten können, war die Ziehung zweier unabhängiger, äquivalenter Stichproben in West- und Ostdeutschland erforderlich. Der Fragebogen besteht in der Regel aus vier Modulen, von denen zwei den fixen Bestandteil des ESS ausmachen. Diese beiden Standardmodule enthalten zum größten Teil bereits erprobte, theoretisch relevante Fragen nach verschiedenen individuellen Orientierungen und Verhaltensweisen der Bürger sowie eine sehr ausführliche Soziodemographie mit Angaben unter anderem zu Haushaltszusammensetzung, Geschlecht, Alter, Wohngegend, Bildung und Beruf. Die variablen Bestandteile des ESS-Fragebogens werden in allen Wellen über ein Wettbewerbsverfahren ausgewählt. Folgende Wechselmodule wurden bereits abgefragt: 2002/03: „Citizenship, Involvement, Democracy“ und „Immigration“; 2004/05: „Health and care seeking: health, medicine, and doctor/patient relations“, „Economic morality: trust and interactions between producers and consumers“ und „Family work and wellbeing: worklife balance“; 2006/07: „Personal and social well-being: creating indicators for a flourishing Europe“ und „The timing of life: the organisation of the life course in Europe“; 2008/09: „Experiences and expressions of ageism“ und „Welfare attitudes in a changing Europe“. Neben den Daten aus den Befragungen ist eine Reihe von Metadaten verfügbar, beispielsweise Material zur Studie selbst sowie Makrodaten. Das verfügbare Studienmaterial beinhaltet Informationen über die technischen Details, die Hintergründe des Projekts sowie die Ereignisse im Kontext der Erhebungsphase (z.B. Durchführung der Feldarbeit, Ausschöpfungsquoten und politische bzw. gesellschaftliche Ereignisse im Erhebungszeitraum). Im Bereich der Makrodaten sind z.B. Informationen über die politischen und die Bildungssysteme der Teilnehmerländer, über das Alters- und Bildungsprofil der Bevölkerung oder das Bruttosozialprodukt vorhanden. Das multinationale Design und die Koordination des Projektes wird durch die Europäische Kommission finanziert und zusätzlich von der European Science Foundation (ESF) bezuschusst. Die Kosten der nationalen Erhebungen werden von den jeweiligen Ländern getragen. Die DFG hat die deutsche Teilstudie des ESS mittlerweile in ihr Langfristförderprogramm aufgenommen. Die Daten sind für alle Interessierten über die Website frei zugänglich (www. europeansocialsurvey.org). Die Vorteile des ESS liegen in der hohen Qualität der Daten (siehe auch nachfolgende Erläuterungen), die sofort für die scientific community frei verfügbar gemacht werden, und in dem breit gefächerten Themenspektrum. Damit eignen sich die Daten für international vergleichende Langzeitanalysen. Allerdings sind bislang nur Daten aus drei Wellen (die
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vierte Welle läuft gerade an) verfügbar. Auf Grund des bislang relativ kurzen Zeitraums wurden die Wechselmodule noch nicht repliziert, was zur Folge hat, dass diese Themen nur für Querschnittsanalysen zur Verfügung stehen. Eine Replikation der bereits abgefragten Wechselmodule wird jedoch angestrebt. European Values Study (EVS) Die European Values Study wurde 1978 von der „European Value Systems Study Group“ (EVSSG), einem informellen Zusammenschluss von Sozialforschern, initiiert. Forschungsinteresse war, die Werteinstellungen zu untersuchen, die den europäischen sozialen und politischen Institutionen zugrunde liegen. Im Vorfeld der Wahlen 1981 wurden eine Erhebung geplant und Interviews in zehn europäischen Ländern durchgeführt. Um die Dynamiken des Wertewandels zu untersuchen, wurden zwei weitere Erhebungen durchgeführt (1990 und 1999/2000). In der zweiten Welle waren neben den europäischen Ländern auch die USA und Kanada vertreten. Die Anzahl der teilnehmenden Länder ist nicht konstant (nicht jedes Land ist in jeder Studie vertreten), ist aber seit der ersten Welle auf mittlerweile 33 Länder angestiegen. Die teilnehmenden Länder der jeweiligen Welle sind: 1981: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Kanada, Niederlande; Nord-Irland, Norwegen, Schweden, Spanien, USA; 1990: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland (Ost und West), Estland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Island, Kanada, Lettland, Litauen, Malta, Niederlande, Nord-Irland, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn, USA, Weißrussland; 1999/2000: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Nord-Irland, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Türkei, Ukraine, Tschechien, Ungarn, Weißrussland. Die Durchführung der Studie wird in jedem der untersuchten europäischen Länder von Fachleuten betreut. Inzwischen wurde die EVS mit dem World Values Survey (WVS) zu einer globalen Wertestudie ausgebaut und wird nun von einem globalen Netzwerk von Sozialwissenschaftlern betreut. Die EVS beziehungsweise WVS erheben mittels standardisierter Fragebögen in persönlichen Interviews Daten unter anderem zu religiösen Einstellungen und Praktiken europäischer Bürger über 18 Jahre. In manchen Ländern erfolgte die Stichprobenauswahl über Zufallsverfahren, in anderen Ländern über Quotenauswahl. Die Stichprobengröße beträgt mindestens 1000 Fälle. Die in Amsterdam registrierte EVS Stiftung ist maßgeblich an Planung und Finanzierung des EVS Projekts beteiligt. Das Board der Stiftung setzt sich aus einem Leiter, einem Sekretariat und sieben Mitgliedern zusammen. Das Council of Program Directors (früher: Steering Committee) ist als höchste Autorität für die Planung des EVS Projekts sowie für die Abstimmung des Fragebogens und methodische Fragen zuständig. Zu diesem Zweck finden jährliche Treffen mit allen Projektverantwortlichen der teilnehmenden Länder statt. Daneben existiert ein Executive Committee, das für Fragebogendesign und die Planung zukünftiger Studien zuständig ist. Des Weiteren gibt es eine Methodengruppe und eine
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Theoriegruppe, die für die Qualität der Umfrage und der Daten bzw. für die Themen und Fragestellungen der Studie zuständig sind. Die Daten der EVS und der WVS sind auf den offiziellen Homepages online öffentlich zugänglich (europeanvalues.nl; oder auch: dritte Welle im ZA; zweite Welle unter www.dans.knaw.nl, erste Welle im UK Data Archive, University of Essex). Die hohe Anzahl an teilnehmenden Ländern ist ein großer Vorteil, jedoch ist die Anzahl an Staaten nicht konstant. Ebenfalls nicht konstant sind die abgefragten Items. Darüber hinaus wurden im Laufe der Wellen sowohl Format als auch Inhalt der Fragen teilweise geändert, wodurch eine durchgängige Verwendung bestimmter Variablen schwierig wird. Grundsätzlich ist das Themenspektrum der EVS sehr fokussiert. Entsprechend limitiert das Forschungsinteresse das abgefragte Themenspektrum, so dass einige Items, die für die Politische Soziologie von Interesse sind, nicht abgefragt werden. Beispielsweise fehlen für den Bereich der Wahlforschung einige wichtige Standard-Items. International Social Survey Programme (ISSP) Das ISSP wurde 1984 von verschiedenen Forschungseinrichtungen aus Australien, Deutschland, Großbritannien und den USA gegründet. Es entwickelte sich aus einer Zusammenarbeit zwischen ALLBUS und GSS (General Social Survey, durchgeführt vom National Opinion Research Center, Universität Chicago). Mittlerweile sind 43 Länder am ISSP beteiligt, 2007 nehmen 49 Institute aus 41 Nationen am ISSP teil. Für die deutschen ISSP-Umfragen ist ZUMA verantwortlich. Das Entscheidungsgremium des ISSP ist die jährliche ISSP-Versammlung, auf der unter anderem über Methoden, Umfragethemen und Inhalte der ISSP-Fragebögen im Einzelnen entschieden wird. Die laufenden Geschäfte werden ehrenamtlich von einem gewählten Sekretär geführt, der von einem ebenfalls gewählten Komitee unterstützt wird. Zentrale, gemeinsame ISSP-Mittel zur Durchführung der nationalen Umfragen, zur Qualitätskontrolle oder zur Organisation des ISSP existieren nicht, daher muss jedes Mitglied die Umfragen selbst finanzieren und alle damit verbundenen Kosten tragen. Die Stichprobe sollte 10001400 Befragte umfassen und die Umfrage erfolgt face-to-face oder als Selbstausfüller. Das ISSP wird jährlich durchgeführt, wobei jeweils ein für die Sozialwissenschaft relevantes Modul abgefragt wird. Die jeweiligen Themen werden von einem Unterkomitee des ISSP entwickelt und in verschiedenen Ländern einem Pre-Test unterzogen. Dabei wird besonders darauf geachtet, dass die Themen in allen Ländern von Bedeutung sind und die Fragen in alle Sprachen übersetzt werden können. Neben Fragen zum Hauptthema umfasst jeder Fragebogen auch Fragen zur Einordnung der Befragten in einen sozialen und demographischen Hintergrund. Die Umfragen sind als Replikationsstudien konzipiert, so dass für verschiedene thematische ISSP-Module bereits drei Umfragen vorliegen. Die bisherigen Wellen beinhalten die folgenden Schwerpunkte: 1985 Role of Government I; 1986 Social Networks; 1987 Social Inequality; 1988 Family and Changing Gender Roles I; 1989 Work Orientations I; 1990 Role of Government II; 1991 Religion I; 1992 Social Inequality II; 1993 Environment I; 1994 Family and Changing Gender Roles II; 1995 National Identity I; 1996 Role of Government III; 1997 Work Orientations II; 1998 Religion II; 1999 Social Inequality III; 2000 Environment II; 2001 Social Relations and Support Systems; 2002 Family and Changing Gender Roles III; 2003 National Identity II; 2004 Citizenship; 2005
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Work Orientations III; 2006 Role of Government IV; 2007 Leisure time and sports; 2008 Religion III. Die Daten des ISSP sind im ZA frei verfügbar. Vorteilhaft am ISSP ist, dass auch nicht-europäische Länder an dem Programm teilnehmen und vertreten sind. Mittlerweile existiert ein großer Datenpool, welcher größtenteils alle zwei Jahre dieselben Länder umfasst. Auf Grund der relativ langen Zeitdauer liegen mittlerweile für einige Themen bereits Replikationsstudien vor, was Langzeitanalysen ermöglicht. Einige Wissenschaftler werden auf Grund der verhältnismäßig kurzen Fragebögen bestimmte Themen und Items vermissen. Sogenannte Standardfragen, die jedes Mal erhoben werden, existieren nicht. Vielmehr ist der jeweilige Fragebogen auf das Modul ausgerichtet. So fehlen denn beispielsweise klassische Fragen wie die nach der Wahlbeteiligung. World Values Survey (WVS) Der WVS wurde bisher fünf Mal durchgeführt (1981-1984, 1990-1993, 1995-1997, 1999-2004, 2005-2007) und im Abstand von fünf Jahren veröffentlicht (1990, 1995, 2000, 2005). Der WVS entstand aus dem European Values Survey (1981) heraus, der zunächst in zehn, später in 14 europäischen Ländern durchgeführt wurde. Mit der 1990er Welle des WVS wurde zum ersten Mal eine Umfrage des EVS im Rahmen des WVS repliziert. An der ersten Welle nahmen 42, an der zweiten Welle 54 und an der dritten Welle 62 Länder teil. Die Stichprobe ist jeweils mindestens 1000 bis 3000 Befragte stark. Die Umfrage wird mittels face-to-face Interviews unter Bürgern durchgeführt, die über 18 Jahre alt sind. In manchen Ländern erfolgt die Stichprobenauswahl über Zufallsverfahren, in anderen Ländern über Quotenauswahl. Der WVS untersucht soziokulturelle und politische Veränderungen weltweit (vor allem Wert- und Glaubenseinstellungen). Die rund 260 Fragen beleuchten Themengebiete wie beispielsweise traditionelle Werte, Einstellungen zu Familie, Arbeitsleben, Wirtschaft, Umwelt, Religion und Moral, nationale Identität. Demographische Daten umfassen u.a. Haushaltseinkommen, Anzahl der Personen im Haushalt, Beruf des Familienoberhaupts, Alter, Geschlecht, Beruf und Schulbildung des/der Befragten, Religions-, Partei- und Gewerkschaftszugehörigkeit und Rechts-Links-Selbsteinstufung. Die Studie wird von einem Netzwerk aus Sozialwissenschaftlern durchgeführt und jeweils in einem nationalen Rahmen finanziert (in Ausnahmefällen externe Finanzierung). Jede Forschergruppe erhält Zugang zu den Daten der anderen Teilnehmerländer und nimmt an internationalen Konferenzen teil, die dem Austausch und der Interpretation der Daten dienen. Organisiert wird die Studie von einem Steering Committe, das aus sechs Mitgliedern aus sechs verschiedenen Ländern stammt. Die wissenschaftliche Arbeit leistet das Scientific Advisory Committee, das sich aus 19 Mitgliedern verschiedener Länder zusammensetzt. Die Daten der jeweiligen Wellen des WVS sind z.B. im ICPSR Umfragedatenarchiv der University of Michigan (WVS und EVS 1981-2004 integrated data file) oder über deren Homepage frei verfügbar (www.worldvaluessurvey.org). Ähnlich wie bei der EVS sind die die Daten der WVS zu bewerten: Das spezielle Forschungsinteresse schränkt die Themenfelder ein und so genannte klassische Fragen wie
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nach der Wahlbeteiligung fehlen. Die Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen, wie teilnehmende Länder, Frageformate, Items (so werden „schwierige“ Fragen in manchen Ländern, beispielsweise in arabischen Ländern, nicht erhoben) schränken die Möglichkeiten von Langzeitanalysen ein. Vorteilhaft ist in jedem Fall die hohe Anzahl an Ländern und die Verfügbarkeit von vergleichenden Daten auch für nicht-europäische Länder.
3.2 Aggregatdatensätze Comparative Manifestos Project Das Manifesto-Projekt befasst sich seit seiner Gründung als Manifesto Research Group/ Comparative Manifestos Project (MRG/CMP) im Jahr 1979 mit verschiedenen Aspekten der Struktur und Leistungsfähigkeit von Parteiendemokratien. Kern des Projektes sind quantitative Inhaltsanalysen von Wahlprogrammen. Berücksichtigung finden rund 50 Länder, in welchen seit 1945 freie demokratische Wahlen abgehalten werden. Mit Hilfe der Inhaltsanalyse werden die politischen Positionen aller relevanten politischen Parteien in den Parlamenten gemessen. Im Rahmen des Abteilungsprogramms wird auf Basis der Manifesto-Daten untersucht, ob, inwieweit und unter welchen Bedingungen Parteien programmatisch auf ökonomische, soziale, kulturelle und internationale Herausforderungen reagieren. Damit werden programmatische Leistungsprofile und Leistungsbilanzen von Parteifamilien erstellt, um die Frage nach der Problemlösungskapazität von Parteien in unterschiedlichen institutionellen Settings zu beantworten. Im Mittelpunkt des Projektes stehen demokratietheoretische Herausforderungen an etablierte Demokratien der OECD-Länder und an junge Demokratien in Mittel- und Osteuropa. Dabei werden Unterschiede und Übereinstimmungen im programmatischen Angebot der Parteifamilien und in der Repräsentation von Wählerpräferenzen in Ost und West verglichen sowie programmatische Reaktionen auf die zusätzlichen Herausforderungen durch den Aufbau der Demokratie und den Umbau der Wirtschaftssysteme näher betrachtet. Das Projekt läuft seit 1989 und wird durch das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) finanziert. Die Daten sind auf zwei CD-ROMs erhältlich, welchen den Publikationen beigelegt sind (Budge, Ian/Klingemann, Hans-Dieter/Volkens, Andrea/Bara, Judith/Tanenbaum, Eric with Fording, Richard C./Hearl, Derek J./Kim, Hee Min/McDonald, Michael/Mendez, Silvia (2001): Mapping Policy Preferences. Estimates for Parties, Electors, and Governments 1945-1998, Oxford: Oxford University Press, including CD-ROM with MRG/CMP data for 25 countries 1945-1998; Klingemann, Hans-Dieter/Volkens, Andrea/Bara, Judith/Budge, Ian/ MacDonald, Michael (2006): Mapping Policy Preferences II. Estimates for Parties, Electors, and Governments in Eastern Europe, the European Union and the OECD, 1990-2003, Oxford: Oxford University Press, including CD-ROM with MRG/CMP data for 51 countries 1990-2003). Database on Political Institutions (DPI) Der Datensatz stellt Informationen über 177 Länder in einem Zeitraum von 1975 bis 2000 bereit. Es wurde von der Development Research Group der Weltbank initiiert. Die Variablen
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untersuchen Wahlen, Wahlregeln, politische Systeme, Regierungskoalition etc. und bieten sich als Einstieg für vergleichende Datenanalysen an. Der Datensatz ist frei verfügbar (http://econ.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/EXTDEC/EXTRESEARCH/0,,contentMDK:20649465~pagePK:64214825~piPK:64214943~theSitePK:469382,00.html). Eurostat Eurostat hat den Auftrag, der Europäischen Union einen hochwertigen statistischen Informationsdienst zur Verfügung zu stellen und die Union mit europäischen Statistiken zu versorgen, die Vergleiche zwischen Ländern und Regionen ermöglichen. Eurostat ist das statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften mit Sitz in Luxemburg. Es wurde 1953 für die Zwecke der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) gegründet, jedoch im Laufe der Jahre verbreiterte sich sein Aufgabengebiet. Hauptaufgabe Eurostats ist es, andere Generaldirektionen mit Statistiken zu versorgen und der Kommission und anderen europäischen Institutionen Daten für Konzeption, Durchführung und Analyse der Gemeinschaftspolitik zu liefern. Eurostat ist jedoch nur für die Verarbeitung und Veröffentlichung vergleichbarer statistischer Daten auf europäischer Ebene zuständig. Die Erhebung erfolgt durch die Statistikbehörden der Mitgliedstaaten. Sie prüfen und analysieren nationale Daten und übermitteln sie an Eurostat. Die Tabellen, die Eurostat veröffentlicht, gliedern sich in verschiedene Bereiche. Zum einen gibt es Strukturindikatoren, in denen der allgemeine wirtschaftliche Hintergrund, Beschäftigung, Innovation und Forschung etc. untersucht werden. Zum zweiten werden Informationen über nachhaltige Entwicklungen, über sozio-demographische Entwicklungen, Konsumstrukturen, demographische Strukturen etc. abgefragt. Der dritte Komplex bezieht sich auf Euro-Indikatoren, zum Beispiel Konjunkturerhebungen, Verbraucherpreise, volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Der letzte Bereich listet Langfristindikatoren mit Regionen und Städten, Außenhandel, Landwirtschaft etc. auf. Die Tabellen weisen unterschiedliche Länderbezüge auf, so beispielsweise die Eurozone (in 12, 13 oder 15 Länder) und die EU in unterschiedlicher Zusammensetzung: EU-27 (27 Länder), EU-25 (25 Länder), EU-15 (15 Länder) sowie einige Nicht-EU-Länder (Schweiz, Island, Türkei, Kroatien, Norwegen, Mazedonien, Japan, teilweise Balkanstaaten). Die Daten beziehen sich zumeist auf Prozent- oder Durchschnittsangaben aus den letzten Jahren. Die Daten können für registrierte Nutzer auf der Homepage von Eurostat heruntergeladen werden. (http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page?_pageid=1072,63728119&_dad=portal&_s chema=PORTAL). Freedom House Freedom House ist eine Forschungseinrichtung mit dem Ziel, das Konzept der liberalen Demokratie weltweit zu fördern. Es wurde 1941 gegründet und ist organisiert in einen Board of Trustees und einen Staff. Seit 1972 erscheint jährlich ein Bericht über den Grad Demokratischer Freiheiten, mit dem der gegenwärtige Stand der bürgerlichen und politischen Rechte in jedem Land der Welt gemessen wird. Der jährliche Bericht „Freedom in the World“ bewertet den Grad an
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Demokratie und Freiheit in Nationen und bedeutenden umstrittenen Territorien auf der ganzen Welt (2005: 192 Staaten und 14 umstrittene Territorien). Die politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten werden dabei auf einer Skala von 1 (am freiesten) bis 7 (am wenigsten frei) angegeben. Darüber hinaus wird ein jährlicher Bericht über die Pressefreiheit (Press Freedom Survey), über Governance in den Staaten der früheren Sowjetunion (Nations in Transit) und über Staaten im Grenzbereich der Demokratie (Countries at the Crossroads) erstellt. Freedom House wird zu etwa zwei Dritteln aus Geldern der US-Regierung finanziert. Dazu kommen Mittel verschiedener Stiftungen, etwa der Soros Foundation. Aufgrund dieser Finanzierungsstruktur wird die Organisation häufig mit dem Vorwurf politischer Parteilichkeit konfrontiert. Die Daten sind über die Homepage zu beziehen (http://www.freedomhouse.org/template.cfm?page=15). Governance Indicators Governance Indicators präsentieren sechs verschiedene Variablen bzw. Dimensionen: Voice and Accountability; Political Stability and Absence of Violence; Government Effectiveness; Regulatory Quality; Rule of Law; Control of Corruption. Mittlerweile stehen für 212 Länder Informationen über die Qualität der Regierungsform bereit. Abgefragt wurde der Indikator zwischen 1996 und 2006 – von 1996 bis 2000 in zweijährigem Turnus und ab 2002 in jährlichem Rhythmus. Die Daten werden zum Download auf der Homepage bereitgestellt (http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/WBI/EXTWBIGOVANTCOR/0,,contentMDK:20673879~menuPK:1742423~pagePK:64168445~piPK:64168309~theSitePK:1740530, 00.html). Human Development Index Der Human Development Index (HDI, Index der menschlichen Entwicklung) versucht seit 1990 mit einer Maßzahl den Stand der menschlichen Entwicklung in den Ländern der Welt zu verdeutlichen (2005: 177 Länder). Der HDI wird im Bericht zur menschlichen Entwicklung (Human Development Report, HDR) veröffentlicht, den das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) jährlich herausgibt. Anders als der Ländervergleich der Weltbank berücksichtigt er nicht nur das Bruttonationaleinkommen (BNP) pro Einwohner eines Landes in KKP-$ (Kaufkraftparität), sondern ebenso die Lebenserwartung und den Bildungsgrad mit Hilfe der Alphabetisierungsrate sowie die Einschulungsrate der Bevölkerung. Der Faktor Lebenserwartung gilt als Indikator für Gesundheitsfürsorge, Ernährung und Hygiene; das Bildungsniveau steht, ebenso wie das Einkommen, für erworbene Kenntnisse und die Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben für einen angemessenen Lebensstandard. Für alle drei Teilindikatoren werden Teilindizes nach einer bestimmten Formel berechnet. Kritische Stellungnahmen am HDI folgen der Sichtweise, dass kein Index eine allgemein akzeptierte oder gar verbindliche Reihenfolge festlegen kann, welches Land weiter entwickelt ist. So beklagten sich beispielsweise Frauengruppen über die hohe Position Japans, ostasiatische Länder wegen der Bewertung ihrer Menschenrechtslage. Auf Antrag
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Indiens und nach einem darauf folgenden Beschluss der UN-Generalversammlung wird der Bericht zur menschlichen Entwicklung seit Mitte der 1990er Jahre daher nicht mehr als „offizielles“ UN-Dokument geführt. Die Konstruktion des HDI wurde in den vergangenen Jahren mehrfach verändert (z. B. bei der Behandlung des Einkommens oder der Modifikation von Ober- und Untergrenzen). Daraus resultiert, dass die Ergebnisse über die Jahre nicht vergleichbar sind. Die Daten sind auf der Homepage erhältlich (http://hdr.undp.org/en/statistics/data/). Luxembourg Income Study (LIS) Die LIS ist ein kreuz-nationales Datenarchiv, das in Luxemburg seinen Sitz hat und sowohl Mikro- als auch Makrodaten enthält. Das non-profit Forschungsprojekt startete 1983 und hat mittlerweile über 30 Mitgliedsländer auf vier Kontinenten (Europa, Amerika, Asien und Ozeanien). Insgesamt wurden sechs Wellen durchgeführt: 1980, 1985, 1990, 1995, 2000 und 2004. Das Projekt begann unter der Trägerschaft des Großherzogs von Luxemburg und des Zentrums für Population, Armut und Policy Studien (CEPS). Das Projekt wird hauptsächlich durch die nationalen Forschungsstiftungen der Mitgliedsländer finanziert. In nationalen Umfragen werden Personen über 14 Jahre in hoch industrialisierten Ländern über folgende Themenbereiche befragt: Erwerbseinkommen; Vermögenseinkommen; Steuern; öffentliche Transferleistungen; Renteneinkommen und Soziodemographie. Derzeit sind Daten von 29 Ländern verfügbar und können über ZUMA erworben werden. GESIS-ZUMA ermöglicht deutschen Forschern die Analyse von LIS-Daten über eine Datenbank, da sie an der Finanzierung von LIS beteiligt ist. Vergleichende Analysen auf Grundlage dieser Daten sind nur eingeschränkt möglich, da nicht alle Länder zu allen Zeitpunkten erhoben wurden (http://www.lisproject. org/ dataccess.htm). OECD Die OECD entstand 1961 aus der OEEC und vereinigt 30 Länder der Welt, die sich zu Demokratie und Marktwirtschaft bekennen. Sie widmet sich folgenden Zielen: Förderung nachhaltigen Wirtschaftswachstums; Höhere Beschäftigung; Steigerung des Lebensstandards; Sicherung finanzieller Stabilität; Unterstützung der Entwicklung anderer Länder; Beitrag zum Wachstum des Welthandels. Jährlich werden 250 Studien angefertigt. Jedes OECD-Mitglied kann OECD-Länderstudien erhalten, mit vergleichbaren Statistiken und Wirtschaftsdaten zur Analyse der jeweiligen Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik. Darüber hinaus stehen den Mitgliedsländern alle Forschungen und Analysen, die das OECD-Sekretariat durchführt, zur Verfügung. Die OECD verfügt über umfassende Datensammlungen für die wichtigsten Volkswirtschaften der Welt. Zum Teil sind die Statistiken frei verfügbar oder als E-Book mit Grafiken aufbereitet. Komplette Datensätze bieten die Abonnements der Online-Bibliothek SourceOECD. Polity IV Polity IV beinhaltet jährliche Informationen über Regime- und Autoritätscharakteristika für alle unabhängigen Staaten (mit einer Population über 500 000) und umfasst die Jahre 1800
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bis 2004. Organisatorisch strukturiert sich Polity IV durch ein Advisory Board, das aus vier Mitgliedern des Core Research Teams und fünf externen Mitarbeitern besteht. Die Polity-Studie stellt eine der wichtigsten Indizes in der Demokratiemessung dar und wird zweimal jährlich erhoben: Mai und November. Die Datenbank enthält Informationen über 158 Länder hinsichtlich ihres Demokratiegrades aus den Jahren 2002/2003. Erfasst werden: Wettbewerbsgrad der politischen Beteiligung; Regulierung der politischen Partizipation; Wettbewerbsgrad der Rekrutierung der Exekutiven; Offenheit der Rekrutierung der Exekutiven und Begrenzung der Regierungsspitze. Der Datensatz umfasst 187 Länder in einem Zeitraum zwischen 1810 und 2000 und ist das Resultat der Zusammenarbeit zwischen Tatu Vanhanen und dem International Peace Research Institute. Sowohl der Index als auch der Datensatz stehen zum Download auf der Homepage bereit (http://www.cidcm.umd.edu/polity/data/). Statistisches Bundesamt Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand 1946 in Hamburg ein Statistisches Amt der britischen Besatzungszone. In der amerikanischen Zone wurden im Einklang mit den Prinzipien des staatlichen Aufbaus statistische Landesämter errichtet, deren Arbeiten von einem Statistischen Ausschuss beim Länderrat der amerikanischen Besatzungszone in Stuttgart koordiniert wurden. Mit dem Zusammenschluss der britischen und amerikanischen Besatzungszonen wurde das Statistische Amt des Vereinigten Wirtschaftsgebietes errichtet (1948), aus dem nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (1949) das Statistische Bundesamt hervorging. Davor sind schon seit dem 18. Jahrhundert Ansätze einer amtlichen Statistik in Deutschland vorzufinden. Heute bestehen in der Bundesrepublik Deutschland das Statistische Bundesamt, 14 statistische Ämter der Länder und rund 100 selbständige statistische Ämter in Städten und kommunalen Dienststellen. Sie bearbeiten den größten Teil der Bundes-, Landes- und Städtestatistik. Das statistische Bundesamt hat den Auftrag, statistische Informationen bereitzustellen und zu verbreiten, die objektiv, unabhängig und qualitativ hochwertig sind. Diese Informationen stehen allen zur Verfügung: Politik, Regierung, Verwaltung, Wirtschaft und Bürgern. Entsprechend dem föderalen Staats- und Verwaltungsaufbau der Bundesrepublik Deutschland werden die bundesweiten amtlichen Statistiken („Bundesstatistiken“) in Zusammenarbeit zwischen dem Statistischen Bundesamt und den Statistischen Ämtern der 16 Länder durchgeführt. Die Bundesstatistik ist also weitgehend dezentral organisiert. Im Rahmen dieser Arbeitsteilung hat das Statistische Bundesamt in erster Linie eine koordinierende Funktion. Für die Durchführung der Erhebung und die Aufbereitung bis zum Landesergebnis sind – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Statistischen Ämter der Länder zuständig. Um eine hohe Datenqualität zu gewährleisten, haben die statistischen Ämter des Bundes und der Länder Qualitätsstandards eingeführt und sich diesen verpflichtet. Das Themenspektrum der statistischen Ämter des Bundes und der Länder erstreckt sich hauptsächlich auf folgende Bereiche: Arbeitsmarkt, Bevölkerung, Preise, Verdienste und Arbeitskosten, volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Die meisten Statistiken werden jährlich erhoben. Ausnahmen sind Statistiken, die sich auf turnusmäßig durchgeführte Veranstaltungen beziehen, wie etwa Wahlen.
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Im Gegensatz zu anderen Studien besteht bei amtlichen Statistiken eine Auskunftspflicht seitens der Befragten. Zu beziehen sind die Daten nach einer Registrierung bei Genesis. Genesis ist eine Auskunftsdatenbank, die die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder gemeinsam aufgebaut haben. Damit ist das breit gefächerte Datenangebot der amtlichen Statistik über das Internet zu erschließen. Welfare State Das Projekt The Welfare State wird vom Institute for Research in the Social Sciences der Universität von North Carolina unterstützt. Die Intention der Direktoren besteht in der Bereitstellung von Indikatoren für die Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten. Eine Aktualisierung des Data Sets, das ursprünglich aus dem Jahr 1997 stammt, wurde 2004 vorgenommen. Das Projekt stellt Informationen von 18 OECD-Ländern für unterschiedliche Bereiche der wohlfahrtsstaatlichen Politik bereit. Darüber hinaus werden wichtige politische, wirtschaftliche und demographische Variablen in der arbeitenden Bevölkerung zwischen 15-64 Jahren abgefragt (http://www.lisproject.org/publications/welfaredata/welfareaccess.htm).
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Qualität der Datensätze
Zu Qualitätskriterien der Umfrageforschung hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) eine Denkschrift veröffentlicht (Kaase 1999). Hier wird Qualität in unterschiedliche Dimensionen gegliedert: von der handwerklichen Korrektheit der methodischen Vorgehensweise über forschungsethische Grundsätze des Umgangs mit Befragten und ihren Aussagen bis hin zu Fragen der Dokumentation und Offenlegung der aus Umfragen hervorgegangenen Datensätze (Kaase 1999: 11ff). Bei der Denkschrift handelt es sich weniger um eine Festlegung von streng empirisch überprüfbaren Richtlinien als vielmehr um eine Methodenbeschreibung im Sinne der Darstellung von „best practices“ der Umfragforschung. Die darin aufgelisteten und beschriebenen Standards können Wissenschaftlern und anderen Anwendern von Datensätzen zur Bewertung von vorliegenden Datenbeständen dienen. Die Kriterien geben einen Hinweis darauf, welche Verfahren und Punkte als qualitätsgefährdend und welche als qualitätssichernd einzustufen sind, sowohl bei der Planung und Organisation der Studie als auch bei deren Durchführung bis hin zur Datenaufbereitung und Bereitstellung der Daten und weiterer Materialien, die die Studie betreffen. Neben diesen und anderen Aufsätzen und den darin enthaltenden Vorgaben zur Qualitätssicherung in der akademischen Forschung hat Ulrich Kohler (2008) einen innovativen Beitrag zur Diskussion über die Qualität bestehender Datensätze geleistet. Mittels empirisch überprüfbarer Standards vergleicht Kohler die Umfrage des European Quality of Life Survey (EQLS) 2003 mit anderen Surveys: Eurobarometer 62.1, European Social Survey (ESS) 2002/03, European Value Study (EVS) 1999 und das International Social Survey Program (ISSP) 2002. Die genannten Projekte liefern für die Politische Soziologie wertvolle Datenbestände, weswegen sie vorab kurz dargestellt wurden. Die folgende kurze Präsentation der Ergebnisse Kohlers dient der Darstellung möglicher empirisch überprüfbarer Kriterien und kann zukünftigen Anwendern den Blick für Stärken und Schwächen schärfen.
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Kohler definiert für vergleichende Surveys, dass folgende vier Ziele erreicht werden sollten: 1. 2. 3. 4.
Die befragte Population sollte mit der Population, die man beschreiben möchte, korrespondieren; die befragte Population sollte ein repräsentatives Sample der Zielpopulation sein; die Fragen sollten die substanziellen Themen erfassen; ein Survey sollte so nah wie möglich an den Events sein, die von substanziellem Interesse sind.
Kohler weist darauf hin, dass es zwischen den vier Zielen verschiedene Abstimmungen gibt. Nur eines der Ziele ist bei vollständigen Forschungsprogrammen von spezifischem Interesse. Zwar hängen die Anzahl der Länder und der aktuelle Anspruch vom Forschungsthema ab, aber nur das zweite Ziel ist konzeptionell von dem jeweiligen Forschungsthema unabhängig. Aus diesem Grund untersucht Kohler nur diese Dimension. Das Ziel seines Artikels ist ein Vergleich zwischen der Qualität der Samples der oben genannten Surveys. Als Ergebnis kann er festhalten: „The quality assessment has a clear winner, the European Social Survey“ (Kohler 2008: 420). Demnach hat der ESS die beste Dokumentation, benutzt den besten Sampling-Prozess und zeigt die geringsten Abweichungen zwischen internen und externen Repräsentativitätskriterien. Die EVS erweist sich als der zweitbeste Datensatz, dann folgen das ISSP, der EQLS und am Schluss das Eurobarometer. Bezogen auf das Kriterium Sampling-Methode ergibt sich folgendes Ranking unter den Umfragen: der ESS verwendet die qualitativ beste Methode, gefolgt vom EQLS, dem ISSP, der EVS und dem Eurobarometer. Die Praxis der Substitution zeigt das gleiche Bild. Die Back-Checking Regeln sind nur für drei der fünf Surveys vorzufinden, wobei der ISSP am besten abschneidet, dann der ESS und die EVS. Um das Ergebnis Kohlers nachvollziehen zu können, wird im Folgenden kurz sein Verfahren skizziert. So sind für den Sampling-Prozess die Sampling-Methode und die Regeln, die mit der Substitution und den Back-Checks verbunden sind, wichtige Komponenten. Das Simple Random Sample hat in der Studie die beste Qualität, das Quoten-Sampling die schlechteste. Mehrstufige Samples mit Random Route ist die am meisten genutzte SampleMethode. Für die Sample-Qualität haben Back-Checking-Regeln nur Bedeutung, wenn der Interviewer wenig Einfluss auf den Selektionsprozess hat. Um die Sample-Qualität zu messen werden häufig die Antwortquoten herangezogen. Die durchschnittlichen Antwortraten sind in drei der fünf untersuchten Surveys ähnlich, der ESS erreicht leicht höhere Werte und für das Eurobarometer werden keine Werte dokumentiert. Hohe Antwortraten werden häufig als ein Signal für eine gute Sample-Qualität interpretiert. Hohe Antwortraten sind jedoch häufig lediglich Indikatoren von mangelhaft kontrollierten Surveys. Das Random Route Light, bei dem nur der Interviewer die kontaktierte Person kennt und bei Nicht-Erreichen einen Stellvertreter befragen kann, ist der Kontrolle der Surveyleitung entzogen. Antwortquoten können somit nur als Qualitätsindikatoren betrachtet werden, wenn der Survey kontrolliert wird.
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Die Qualität eines Surveys hängt auch maßgeblich von Back-Checks ab. Back-Checking bedeutet, dass Respondenten zur Kontrolle von drei Faktoren nachkontaktiert werden: Ob der Respondent tatsächlich existiert, ob das Interview durchgeführt wurde und ob die Interviewer die Information korrekt aufgezeichnet haben. Die Qualität eines Samples kann mit dem Anteil der Respondenten, die nachkontaktiert werden, steigen. Betrachtet man die vorliegenden Informationen bezüglich der Surveys und der teilnehmenden Länder, so kann man den Länderfaktor berechnen, der Werte zwischen null und vier annehmen kann, wobei der ESS mit einem Wert von 3,9 den höchsten Wert erreicht. Diesen Faktor errechnet Kohler allerdings über bekannte Werte, die nicht für alle Surveys vorliegen – was Kohler selbst anmerkt. Die Sampling-Methode und die Regeln, die mit Substitution und Back-Checks zusammenhängen, sind wichtige Komponenten im Sampling-Prozess. Der ESS hat bei 84 Prozent der Länder die beste Sample-Methode angewandt und hat somit im Vergleich am besten abgeschnitten. Als nächsten Schritt prüft Kohler die Sample-Qualität über den üblichen Weg: Vergleich der bekannten Verteilung innerhalb der Population mit korrespondieren Distributionen des Samples. Die empirische Analyse wird von Kohler nur für Frauen durchgeführt, da Geschlecht leicht zu messen, die Verteilung relativ stabil ist und die Unterschiede zwischen Subgruppen relativ gering sind. Frauen sind tendenziell in den Studien überrepräsentiert. Alle Surveys – Ausnahme ESS – haben Gewichte eingeführt, um die Samples anzugleichen. Der Unterschied zwischen dem beobachteten und dem effektiven Frauenanteil ist am höchsten beim EQLS und Eurobarometer, etwas geringer beim ISSP und relativ klein bei den anderen Datensätzen. Das von Kohler anschließend geprüfte Kriterium ist das der Repräsentativität. Interne Kriterien der Repräsentativität dienen dem Zweck, Mängel bei Vergleichen zu beheben. Kohler untersucht den Anteil der Frauen bei heterosexuellen Paaren, wobei statistisch definiert ist, je mehr der Anteil vom wahren Wert 0,5 abweicht, desto schlechter ist das Sample. Die errechnete Differenz zwischen dem beobachteten Anteil an Frauen und dem wahren Wert von 0,5 erweist sich als bemerkenswert. Von 125 Werten sind 39 (31 Prozent) außerhalb der Konfidenzgrenzen – obgleich nur fünf Prozent der Werte außerhalb anzutreffen sein dürften. Der Vergleich der Surveys hinsichtlich interner Kriterien zeigt weniger ausgeprägte Qualitätsunterschiede: die durchschnittlichen Differenzen zwischen den beobachteten und den realen Frauenanteilen variieren zwischen drei und fünf Prozentpunkten und der Länderanteil außerhalb der Konfidenzgrenzen beträgt maximal 44 Prozent. Kohler hat in seiner Analyse die Qualität der Samples geprüft. Darüber hinaus macht die Untersuchung auf die Bedeutsamkeit von Hintergrundinformationen von Datensätzen aufmerksam. Nur wenn die methodischen Standards aller Phasen (Beispiel: Fragebogenkonstruktion, Sampling, Übersetzung, Pilotstudien, Erhebungsinstitut, Datenerhebung, Datenkontrolle, Datenbereinigung) eines Projektes transparent sind, sowohl in einem Land als auch länderübergreifend, und positiv geprüft wurden, kann ein Datensatz uneingeschränkt verwendet werden bzw. die Ergebnisse, die auf Basis des Datensatzes berechnet wurden, sinnvoll interpretiert werden.
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5
Silke I. Keil
Schlussbemerkung
Die Grundlage für den empirisch arbeitenden Wissenschaftler bilden Daten – sowohl Individual- als auch Aggregatdaten. Für international vergleichende Analysen wurden im Laufe der Zeit viele Daten erhoben, so dass mittlerweile eine ansehnliche Anzahl an qualitativ hochwertigen Datensätzen zur Verfügung steht. Welche Datenprobleme im internationalen Vergleich können grundsätzlich diagnostiziert werden? Ein erster Mangel ist hinsichtlich theorieorientierter, international vergleichender Längsschnittuntersuchungen zu konstatieren. Es liegen nur wenige entsprechende Untersuchungen vor. Ein weiteres Problem für den international vergleichenden Forscher stellt die unterschiedliche Datenlage in den einzelnen Ländern dar. Als problematisch einzustufen sind vor allem die Länder Südeuropas sowie Frankreich. Dagegen bildet die Datenlage für die empirische Untersuchung einer Forschungsfrage in folgenden Ländern kein Hindernis: USA, Kanada, Großbritannien, Deutschland, Niederlande, Skandinavien, Spanien (seit Mitte der 1980er Jahre), Osteuropa (seit 1990). Dies korrespondiert mit einem weiteren Hinweis: Der Professionalisierungsgrad in der Forschung variiert zwischen den Ländern. Ungeachtet der angeführten kritischen Punkte hat sich die Qualität der Daten sehr verbessert und somit auch der Bestand an Datensätzen für den (international) vergleichenden Forscher. Ebenso positiv hervorzuheben ist die gute Zugänglichkeit der Datensätze. Zum einen sind sie über die Datenarchive zu beziehen. Zum anderen können sie in der Regel auch kostenfrei über die jeweiligen Websites der Projektverantwortlichen heruntergeladen werden. Als qualitätssichernd einzustufen, sind auch die Hintergrundinformationen, die über die Datensätze bereitgestellt werden und in der Regel ebenfalls über die jeweiligen Websites verfügbar sind. Denn institutionelle und organisatorische Faktoren wirken sich genauso wie die Erhebung, Verarbeitung und Analyse auf die Datenqualität aus. Durch die mittlerweile erreichte Transparenz über die einzelnen Phasen ist es dem Nutzer möglich, die Datenqualität angemessen prüfen und einschätzen zu können. Die Beurteilung der Datenqualität ist ein langer Prozess. Neben Impulsen zu dessen Anstoß erscheint es angebracht, darauf zu achten, dass dieser auch am Laufen gehalten wird. Beispielhaft soll in diesem Zusammenhang auf ein Handbuch zur Bewertung von Datenqualität hingewiesen werden, welches unter der Leitung des Statistischen Bundesamtes und unter Mitarbeit der entsprechenden Institutionen in Schweden, Norwegen, Ungarn und Portugal entwickelt wurde: „Handbook on Data Quality Assessment Methods and Tools“. Das auf europäischer Ebene erarbeitete Handbuch zielt primär darauf ab, den nationalen statistischen Instituten eine Orientierung bei der Umsetzung ihrer Qualitätsziele zu geben, steht aber auch seit September 2007 allen Interessierten auf der Homepage von Eurostat zur Verfügung.
Literatur Alber, Jens/Fahey, Tony/Saraceno, Chiara (Hrsg.), 2008: Handbook of Quality of Life in the Enlarged European Union, London: Routledge. Baker, Kendall L./Dalton, Russel J./ Hildebrandt, Kai, 1981: Germany Transformed: Political culture and the New Politics, Cambridge et al.: Harvard University Press.
Die Datengrundlage der Politischen Soziologie in Forschung und Lehre
445
Dalton, Russel J., 2004: Democratic Challenges, Democratic Choices: the Erosion of Political Support in Advanced Industrial Democracies, Oxford et al.: Oxford University Press. Fuchs, Dieter/Guidorossi, Giovanna/Svensson, Palle, 1995: Support for the Democratic System, in: Klingemann, Hans-Dieter/Fuchs, Dieter (Hrsg.): Citizens and the State. Beliefs in Government Volume 1, Oxford/New York: Oxford University Press, 323-353. Jahn, Detlef, 2006: Einführung in die vergleichende Politikwissenschaft, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Kaase, Max (Hrsg), 1999: Qualitätskriterien der Umfrageforschung. Denkschrift, Berlin: Akademie Verlag. Kaase, Max, 1985: Systemakzeptanz in den westlichen Demokratien, in: Matz, Ulrich (Hrsg.): Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie. Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft DGfP, Heft 2, Köln et al.: Carl Heymanns Verlag, 99-125. Klingemann, Hans-Dieter/Fuchs, Dieter (Hrsg.), 1995: Citizens and the State. Beliefs in Government Volume 1, Oxford/New York: Oxford University Press. Kohler, Ulrich, 2008: Assessing the Quality of European Surveys. Towards an Open Method of Coordination for Survey Data, in: Alber, Jens/Fahey, Tony/Saraceno, Chiara (Hrsg.): Handbook of Quality of Life in the Enlarged European Union, London: Routledge, 405-423. Matz, Ulrich (Hrsg.), 1985: Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie. Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft DGfP, Heft 2, Köln et al.: Carl Heymanns Verlag. Schnell, Rainer/Hill, Paul B./Esser, Elke, 2005: Methoden der empirischen Sozialforschung, München/ Wien: Oldenbourg.
Methoden zur Datenanalyse Manuela Pötschke
1
Einleitung
Die Ziele sozial- und politikwissenschaftlicher Forschung können vielfältig sein. Neben der Beschreibung sozialer und gesellschaftlicher Verhältnisse kann ein Ziel dabei auch in der Testung oder Weiterentwicklung von Theorien liegen, die nicht unmittelbar aktuell politische Relevanz haben. Die spezifischen Ziele einer Sozialforschung manifestieren sich in konkreten Fragestellungen, in erwarteten Implikationen und daraus folgend in der Auswahl und Anwendung spezifischer Datenanalyseverfahren. Das Ziel des Beitrages besteht darin, einen Überblick über einige, zentrale Verfahren der Datenanalyse zu liefern und Entscheidungshilfen für ein bestimmtes Verfahren auf der Basis seiner Voraussetzungen und Potenziale zu geben. Eine umfassende Darstellung der Verfahren, insbesondere der Anwendung spezifischer Analysesoftware, ist hier nicht möglich, deshalb werden jeweils Quellen für weitere Informationen angegeben. In der Literatur wird häufig zwischen quantitativen und qualitativen Verfahren der Datenanalyse unterschieden. Dieser Differenzierung soll hier aus zwei Gründen nicht gefolgt werden: Erstens ist in den aktuellen Debatten eine Hinwendung zur Verbindung beider Ansätze zu beobachten. Zweitens ist im Forschungsprozess in der Regel eine pragmatische Nutzung verschiedener Ansätze in Abhängigkeit von der konkreten Forschungsfrage und vom Forschungsmaterial zu beobachten.1 Eine Frage, mit der alle Datenanalysen konfrontiert sind, ist die Frage, welche Aussagen auf der Basis von Stichprobenergebnissen über größere Gruppen möglich sind. Der zweite Abschnitt widmet sich deshalb den Grundlagen der Inferenzstatistik. In den daran anschließenden Abschnitten werden entsprechend der Unterscheidung unterschiedlicher Zielstellungen für die Datenanalyse spezifische Analyseverfahren vorgestellt. Im dritten Abschnitt geht es um die Deskription von systematischen Beobachtungen oder speziellen Fällen. Auf der Grundlage der univariaten Betrachtungen wird im vierten Abschnitt auf ein zentrales Vorgehen in der Sozialforschung, den Vergleich von Fällen, eingegangen. Darüber hinaus werden im Abschnitt 5 Verfahren vorgestellt, die Erklärungen liefern und in Abschnitt 6 solche, die latente Strukturen entdecken lassen. Die Verknüpfung von Erklärungsansätzen mit der Idee der latenten Struktur schlägt sich in Strukturgleichungsmodellen nieder (Abschnitt 7). Den Abschluss des Beitrages bildet ein Abschnitt über das Problem fehlender Fälle, vor dem alle Analyseverfahren stehen (Abschnitt 8).
1 Auf die unterschiedliche wissenschaftstheoretische Grundlegung, die die Differenz quantitativ-qualitativ begründet, kann hier nicht eingegangen werden.
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2
Manuela Pötschke
Grundgesamtheit und Stichprobe
In aller Regel sollen auf der Basis der Ergebnisse der empirischen Sozialforschung Aussagen über Strukturen oder Verhältnisse in größeren Gruppen, beispielsweise der bundesdeutschen Wahlbevölkerung, formuliert werden. Dabei stehen zumeist keine Informationen für die gesamte Gruppe zur Verfügung, sondern lediglich über einen Ausschnitt daraus. Die Gruppe, über die Aussagen erwartet werden, ist die Grundgesamtheit der Population. Die Gruppe, über die empirische Informationen vorliegen, ist die Stichprobe.2 Zwei Vorgehensweisen können unterschieden werden, wenn aus Stichproben Aussagen über die Grundgesamtheit abgeleitet werden sollen. Zum einen wird das Verfahren des Schätzens angewandt, wenn aus Stichprobendaten direkt Sachverhalte der Grundgesamtheit dargestellt werden. Ein typisches Beispiel dafür wäre die Angabe von Wählerpotenzialen der unterschiedlichen Parteien auf der Basis von Stichproben. Hier werden aus den Anteilen derer, die in der Stichprobe eine bestimmte Partei unterstützen, Konfidenzintervalle geschätzt, die den Bereich angeben, der den tatsächlichen Wert in der Grundgesamtheit mit einer hohen Wahrscheinlichkeit überdeckt. Die zweite Vorgehensweise wird als Hypothesentest bezeichnet. Hierbei geht es darum, spezifische Annahmen über Sachverhalte in der Population zu formulieren und mit Hilfe der Stichprobenbeobachtungen zu testen. Die Generierung der Stichprobe ist in beiden Fällen von besonderer Bedeutung. Denn prinzipiell sind für solche Rückschlüsse nur Zufallsstichproben geeignet. Die meisten statistischen Tests unterstellen sogar eine einfache Zufallsstichprobe, die in der Praxis jedoch nur dann realisiert wird, wenn die Population nicht zu groß ausfällt und eine Basis zur Stichprobenziehung wie beispielsweise eine Adress- oder Telefonliste der Einwohner einer Stadt vorliegt. Üblicherweise wird ansonsten mit geschichteten Zufallsstichproben gearbeitet.3 Das wesentliche Merkmal einer Zufallsstichprobe besteht darin, dass für jedes Element der Grundgesamtheit eine Wahrscheinlichkeit angegeben werden kann, in die Stichprobe zu gelangen. Diese angebbare Wahrscheinlichkeit ist die Voraussetzung für die Anwendung der sogenannten Inferenzstatistik. Sie besteht in der Ableitung von Aussagen über die Grundgesamtheit auf der Basis der Stichprobenbefunde. Bei dieser Ableitung kann der Forscher Fehleinschätzungen aufsitzen, wenn die Stichprobe – zufällig – einen Wert generiert, der kein gutes Abbild der Gegebenheiten in der Grundgesamtheit darstellt. Deshalb sprechen wir vom probabilistischen Charakter von Aussagen in der Sozialforschung, das heißt, dass sie mit Wahrscheinlichkeiten verbunden sind, die auch den Irrtum einschließen. Wir nennen sie deshalb auch Irrtumswahrscheinlichkeiten. Die allgemeine Logik der Übertragung von Stichprobenergebnissen auf die Grundgesamtheit besteht nun in der Frage, wie wahrscheinlich unser Stichprobenergebnis ist, wenn konkrete Annahmen über die Grundgesamtheit unterstellt werden. Die Annahmen über die Grundgesamtheit schlagen sich in der Formulierung von Hypothesen nieder. Die Alternativhypothese beinhaltet in aller Regel die eigentliche Forschungsidee. Die so genannte Nullhypothese formuliert das genaue Gegenteil und wird statistisch getestet. Wenn wir beispielsweise 2 3
Eine anschauliche Einführung in das Thema bieten Günter Buttler und Norman Fickel (2002). Eine sehr populäre Methode stellt das ADM-Design dar. Eine ausführliche Beschreibung findet sich in ADM (1999).
Methoden zur Datenanalyse
449
den Einfluss des politischen Interesses auf die Wahlbereitschaft betrachten, prüfen wir im Rahmen der Nullhypothese, dass das politische Interesse keinen Einfluss auf die Wahlbereitschaft hat. Die Alternativhypothese lautet: Das politische Interesse hat einen Einfluss auf die Wahlbereitschaft. Der nächste Schritt im Hypothesentest besteht nun in der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit für unser konkretes Stichprobenergebnis, wenn in der Grundgesamtheit die Nullhypothese gilt. Dazu kann das Wissen über die Verteilung von Stichprobenkennwerten bei unendlich oft gezogenen Stichproben aus der gleichen Grundgesamtheit genutzt werden.4 Für die Anwendung liegen für unterschiedliche Wahrscheinlichkeitsverteilungen Tabellen vor, die den einzelnen Prüfgrößen Wahrscheinlichkeiten zuordnen. Die Werte, die die Prüfgröße bei einer vorher festgelegten Irrtumswahrscheinlichkeit annimmt, werden im Rahmen von Hypothesentests als kritische Werte bezeichnet. Liegt die Wahrscheinlichkeit unseres Stichprobenergebnisses unter der üblicherweise zugrunde gelegten Irrtumswahrscheinlichkeit von 0,05 (5 %), dann sprechen wir von einem signifikanten Ergebnis. Das heißt, die Nullhypothese kann verworfen werden, wir nehmen die Alternativhypothese an. Liegt die Wahrscheinlichkeit unseres Stichprobenergebnisses über der Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 Prozent, muss die Nullhypothese angenommen werden. Signifikanz ist dabei die Wahrscheinlichkeit für einen konkreten Stichprobenbefund, wenn in der Grundgesamtheit die Nullhypothese gilt.
Im oben angeführten Beispiel bedeutet die Annahme der Nullhypothese, dass wir auf der Basis unserer Stichprobenergebnisse davon ausgehen müssen, dass in der Grundgesamtheit kein Einfluss des politischen Interesses auf die Wahlbereitschaft besteht. Und zwar auch dann, wenn in der Stichprobe – zufällig - ein Effekt zu beobachten war.
3
Beschreibende Verfahren
Beschreibende oder deskriptive Verfahren dienen vor allem dazu, die Komplexität von beobachteten Daten zu reduzieren. Durch die Zusammenfassung ähnlicher Bobachtungen kann ein klareres Bild über die Struktur einer Vielzahl von Beobachtungen gezeichnet werden. Diese Reduktion an Komplexität geht mit einem gewissen Informationsverlust einher, denn die Merkmalsausprägung in einer spezifischen Variablen für einen konkreten Fall geht verloren. Grundsätzlich können Beschreibungen über statistische Maßzahlen, Kategoriensysteme oder aber graphische Darstellungen realisiert werden. Die Wahl der graphischen Darstellung hängt dabei sehr eng mit den gewählten statistischen Maßzahlen zusammen. Deren Wahl basiert auf dem Skalenniveau der verwendeten Variablen. Das Skalenniveau einer
4 Dieser Vorgang kann experimentell im Rahmen des Urnenexperiments nachgestellt und veranschaulicht werden. Für eine interaktive Präsentation vgl. Peter Sedlmeier und Detlef Köhlers (2001).
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Manuela Pötschke
Variablen beschreibt dabei das Interpretationspotential der Kodierung einer inhaltlichen Information. Beispielsweise können wir uns für das subjektive Sicherheitsempfinden der Menschen interessieren und sie fragen, ob sie sich in ihrem Wohnumfeld sicher oder unsicher fühlen. Die beiden Antwortmöglichkeiten erhalten jeweils eine Zahl (1=sicher; 2=unsicher) zugewiesen. Andererseits könnten wir die Frage so formulieren, dass wir Abstufungen von Sicherheit oder Unsicherheit erheben und wir hätte dann beispielsweise vier Antwortmöglichkeiten: 1=sehr sicher; 2=eher sicher; 3= eher unsicher; 4=sehr unsicher. Kodierung bedeutet die Zuweisung von numerischen Relativen zu inhaltlichen Sachverhalten.
Aus den verschiedenen Kodierungen erwachsen nun unterschiedliche Skalenniveaus und damit verschiedene Möglichkeiten der Datenanalyse. Insgesamt werden vier Skalenniveaus unterschieden (vgl. Tab. 1). Das nominale Skalenniveau stellt die geringsten Anforderungen an die Kodierung der Variable. Es geht nur darum, unterschiedliche Kodes für unterschiedliche Ausprägungen zu verwenden. Nominale Merkmale können lediglich im Hinblick auf Gleichheit oder Ungleichheit von Fällen unterschieden werden. Beispiele dafür sind die Antwortmöglichkeiten „Ja“ versus „Nein“ auf die Frage nach dem Vorhandensein einer Parteipräferenz oder die Angabe einer Religion oder des Geschlechts. Entscheidend ist, dass Personen, die die gleiche Merkmalsausprägung aufweisen, auch den gleichen Kode erhalten und das Personen mit unterschiedlichen Merkmalsausprägungen auch unterschiedliche Kodes erhalten. Ordinalskalen unterscheiden sich von Nominalskalen dadurch, dass zusätzlich zur Gleichheits-/Ungleichheits-Relation eine Reihenfolge der Kodezuweisungen vorliegt. Die Abstände zwischen den einzelnen Merkmalsausprägungen können jedoch nicht als gleich breit interpretiert werden. Typische Beispiele für Variablen mit ordinalem Skalenniveau sind der höchste Schulabschluss einer Person oder ihre Platzierung in einem Wettbewerb. Es kommt hier auf den Rang an, den eine Person einnimmt. Nominale und ordinale Skalen werden auch als kategoriale Skalen bezeichnet. Die folgenden Intervall- und Ratioskalen können als metrische Skalen zusammengefasst werden. Variablen sind intervallskaliert, wenn die Merkmalsausprägungen nicht nur eine Reihenfolge (und damit auch Unterschiedlichkeit) aufweisen, sondern auch gleiche Abstände zwischen den Ausprägungen (Äquidistanz der Intervalle) unterstellt werden können. Intervallskalen besitzen allerdings keinen natürlichen Nullpunkt. Aus diesem Grund sind Verhältnisse zwischen den Ausprägungen nicht interpretierbar. Ein typisches Beispiel ist das Geburtsjahr einer befragten Person. Das einfachste Erkennungszeichen ratioskalierter Merkmale ist dagegen die Existenz eines natürlichen (echten) Nullpunktes, der erst den Vergleich von Verhältnissen zwischen Skalenwerten ermöglicht. Beispiele sind das Alter der befragten Personen oder ihr Einkommen.
Methoden zur Datenanalyse
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Tabelle 1: Skalenniveaus und Analysepotenzial Skalenniveau Kategorial Metrisch
damit feststellbar:
Nominalskala
Äquivalenz- bzw. Unterschiedsrelation
Ordinalskala
Ordnungsrelation
Intervallskala
Abstandsrelation
Ratioskala
Verhältnisrelation
3.1 Beschreibung von univariaten Verteilungen5 Wurden Daten standardisiert erhoben oder nach der Erhebung kodiert, steht an erster Stelle die deskriptive Analyse dieser Daten, um eine übersichtliche Darstellung der Verteilung zu erreichen. Wenn beispielsweise von 1000 Personen die Information vorliegt, wie stark sie sich für Politik interessieren, könnte zur Beschreibung der Verteilung für jede Person der spezifische Wert angegeben werden. Das ist sehr komplex und Strukturen oder Häufungen lassen sich nur sehr schwer erkennen. Eine Verbesserung wird erreicht, wenn ein typischer Wert für die Verteilung genannt werden kann. Diese Lagemaße beschreiben den Schwerpunkt der Verteilung und werden auch als Maße der zentralen Tendenz bezeichnet. Die Information, wie unterschiedlich die einzelnen empirischen Daten von diesem zentralen Wert abweichen, entnehmen wir der Streuung. Beide Maße gemeinsam beschreiben die Verteilung einer Variablen kompakt und gehaltvoll. Tabelle 2: Maße zur Beschreibung der Verteilung einer Variablen (univariate Verteilung) Skalenniveau Nominalskala
Ordinalskala
Intervall- und Ratioskalen
Lagemaß Modus, der Wert, der am häufigsten vorkommt
Median wenn n gerade: xn + xn +1 2 ~ x= 2 2
Streuungsmaß Devianz
Entropie
I
n D = −2 ¦ ln i ⋅n i n i =1
I
H = −¦ i =1
ni n i ln n n
Interquartilsabstand wenn n ungerade:
~ x = x n +1
IQ= Q0,75-Q0,25
2
Arithmetisches Mittel
Varianz
1 n x = ¦ xi n i =1
1n sx = ¦(xi −x)2 n i=1 2
Standardabweichung sx =
1 n ¦ ( xi − x ) 2 n i =1
Hinweis: n steht für den Stichprobenumfang bzw. für Zellhäufigkeiten; x steht für die Merkmalsausprägung der Variable; i steht als Subscript für jeden konkreten Fall
5 Hinweis zu den folgenden formalen Bezeichnungen: Die formalen Schreibweisen im Zusammenhang mit statistischen Modellen können zwischen unterschiedlichen Veröffentlichungen variieren, generell feststehende Regeln gibt es nicht. Es hat sich jedoch eingebürgert, für die Sachverhalte in Stichproben vor allem deutsche und für Aussagen in der Grundgesamtheit vor allem griechische Buchstaben zu verwenden. Dieser Regel wird hier ebenfalls gefolgt. Darüber hinaus werden große Buchstaben meist verwendet, wenn von einer Variable im abstrakten Sinne gesprochen wird. Steht eine Variablenausprägung oder der Bezug auf Fälle im Mittelpunkt, werden kleine Buchstaben genutzt.
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Manuela Pötschke
Zu den Lagemaßen gehören neben dem Modus der Median und das arithmetische Mittel. Zu den Streuungsmaßen gehören neben der Entropie der Interquartilsabstand und die Standardabweichung. Es wird jeweils das Lage- und das Streuungsmaß herangezogen, das die Informationsfülle der Variablen ausschöpft (vgl. Tab. 2). Liegen nominal skalierte Informationen vor, kann zur Beschreibung der Verteilung der Modus herangezogen werden. Er gibt an, welche Merkmalsausprägung in der Verteilung am häufigsten vorkommt. Wenn in einer Stichprobe mehr als die Hälfte der Befragten sagt, dass sie keine Parteipräferenz haben, dann ist der zugehörige Kode der Wert des Modus für diese Verteilung. Als Maße für die Streuung einer entsprechenden Verteilung stehen die Entropie und die Devianz zur Verfügung. Beide geben Informationen darüber, wie weit die beobachtete Verteilung einer nominalen Variable von der Gleichverteilung abweicht. Die Verteilung nominaler Variablen wird häufig in Form von Torten- oder Kreisdiagrammen graphisch dargestellt. Liegt ordinales Skalenniveau vor, kann zur Verteilungsbeschreibung auf den Median (~ x ) und den Interquartilsabstand zurückgegriffen werden. Der Median ist der Wert des Falles, der in der geordneten Wertereihe der Merkmalsausprägungen die Verteilung in zwei Hälften teilt. Der Interquartilsabstand beschreibt den Bereich der Werte der mittleren 50 Prozent der Fälle. Die graphische Darstellung erfolgt zumeist in so genannten Boxplots. Das arithmetische Mittel stellt den alltagssprachlich bekannten Durchschnitt einer Verteilung dar. Die Information über die Streuung findet sich in der Varianz, die als durchschnittliche quadrierte Abweichung zwischen Beobachtungswerten (xi) und dem Mittelwert x dargestellt wird. Die Quadrierung der Differenzen von Beobachtungswerten und dem arithmetischen Mittel verhindert das gegenseitige Ausgleichen von positiven und negativen Abweichungen. Gleichzeitig erschwert das Quadrieren das inhaltliche Verständnis für die Abweichungen, weil auch die Einheiten der Variablen quadriert werden. Betrachten wir z.B. die Angaben zum Einkommen einer Person und ihr Geburtsjahr erhalten wir Abweichungen in Quadrat-Euro und Quadratjahre, die nicht sehr instruktiv sind. Deshalb wird häufig aus der Varianz die Wurzel gezogen. Das resultierende Maß wird als Standardabweichung bezeichnet. Die Standardabweichung gibt dann die durchschnittliche Streuung der einzelnen empirischen Werte vom arithmetischen Mittel an. Folgen die Werte der Normalverteilung, die glockenförmig, symmetrisch und eingipflig ausfällt, dann liegen im Bereich plus/minus eine Standardabweichung vom Mittelwert ca. 68 Prozent aller Werte der Verteilung. Der Bereich plus/minus zwei Standardabweichungen um den Mittelwert beinhaltet ca. 95 Prozent der Werte und der Bereich plus/minus drei Standardabweichungen ca. 99 Prozent aller Werte. Um univariate Verteilungen vergleichen zu können, werden die Werte ztransformiert. Durch die Z-Transformation werden empirische Werte mit Blick auf ihren Mittelwert und ihre Streuung standardisiert. Die Berechnung erfolgt nach der Formel
zi =
xi − x sx
wobei:
zi xi
den z-transformierten Wert einer Beobachtung für den Fall i, den empirischen Wert einer Beobachtung für den Fall i
x
das arithmetische Mittel der Variable X und die Standardabweichung der Variable X beschreibt.
sx
Methoden zur Datenanalyse
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Daraus resultiert eine Verteilung, die einen Mittelwert von 0 und eine Standardabweichung von 1 aufweist und als Standardnormalverteilung bezeichnet wird.
3.2 Beschreibung von multivariaten Verteilungen Bisher wurde in die Beschreibung jeweils nur eine Variable einbezogen. In diesem Abschnitt soll es um die (gemeinsame) Verteilung von zwei oder mehr Variablen gehen. Die entsprechenden Maße werden Zusammenhangsmaße genannt und wieder skalenniveauspezifisch verwendet (vgl. Tab. 3). Für die Beschreibung der Verteilung mehrerer kategorialer Variablen wird zumeist auf Kreuztabellen zurückgegriffen. Die Randzellen dieser Kreuztabellen beinhalten die univariaten Häufigkeiten der einbezogenen Variablen. In den inneren Zellen der Kreuztabelle sind die absoluten Häufigkeiten der Personen angegeben, die jeweils eine spezifische Kombination von zwei Merkmalsausprägungen aufweisen. Als Maß des Zusammenhangs in einer solchen Kreuztabelle kann Chi-Quadrat herangezogen werden. Das Prinzip dieses Maßes beruht auf dem Vergleich der beobachteten Zellhäufigkeiten nij mit den erwarteten Zellhäufigkeiten eij.6 Die erwarteten Zellhäufigkeiten eij ergeben sich bei gleichen Randverteilungen und Unabhängigkeit der einbezogenen Variablen. Sie werden als Verhältnis des Produkts der jeweiligen Randhäufigkeiten ni. und n.j, die eine spezifische Zelle definieren, und des Stichprobenumfangs n berechnet. Fallen die beobachteten und die erwarteten Zellhäufigkeiten aufeinander, nimmt Chi-Quadrat den Wert 0 an. Das bedeutet, dass die Eigenschaft der Unabhängigkeit, die für die erwarteten Zellhäufigkeiten gegeben ist, auf die beobachteten Zellhäufigkeiten übertragen wird. Zwischen den betrachteten Variablen besteht dann kein Zusammenhang. Fallen beobachtete und erwartete Zellhäufigkeiten auseinander, ergibt sich ein Wert für Chi-Quadrat, der größer als 0 ist. In diesen Fällen kann ein Zusammenhang zwischen den betrachteten Variablen für die Stichprobe angenommen werden. Chi-Quadrat wird nicht nur als Maß für den Zusammenhang von kategorialen Variablen in Kreuztabellen verwendet, sondern auch als Prüfgröße im Hypothesentest, der der Frage nachgeht, ob in der Population ebenfalls ein Zusammenhang zwischen den Variablen zu erwarten ist. Die entsprechende Nullhypothese lautet, dass Chi-Quadrat in der Grundgesamtheit gleich 0 ist. Aus der Wahrscheinlichkeitstabelle kann dann wie in Abschnitt 2 beschrieben der kritische Wert abgelesen werden. Der Zusammenhang besteht auch in der Grundgesamtheit, wenn der berechnete empirische Wert für Chi-Quadrat über dem kritischen Wert der Chi-Quadratverteilung liegt.
6
In Kreuztabellen werden die Zeilen üblicherweise mit i und die Spalten mit j bezeichnet.
454
Manuela Pötschke
Tabelle 3: Maße zur Beschreibung der gemeinsamen Verteilung zweier Variablen (bivariate Verteilung) Skalenniveau Nominalskala
Zusammenhangsmaße Chi-Quadrat I
J
χ = ¦¦ 2
i =1 j =1
Ordinalskala
Gamma
γ = Intervall- und Ratioskalen
C−D C+D
(n
ij
− eij ) eij
2
Cramer‘s V
n n eij = i • • j n• •
Tau a C−D n ⋅ ( n − 1) τa = 2
Kovarianz
s xy =
1 n ¦ ( yi − y )(xi − x ) n i =1
V =
χ2 2 χ max
Tau b
τb =
C−D (C + D + T X ) ⋅ (C + D + TY )
Korrelation
r=
s xy sx ⋅ sy
Für die Interpretation der Stärke des Zusammenhangs zweier kategorialer Variablen reicht Chi-Quadrat nicht aus, da es keinen festen Wertebereich hat, sondern mit dem Stichprobenumfang und der Tabellengröße variiert. Das heißt, der Wert steigt bei gleichen Strukturen und einer Erhöhung der Fallzahl um den Faktor der Fallzahlerhöhung an. Zur Beurteilung der Stärke des Zusammenhangs sollte deshalb besser das Maß Cramer‘s V herangezogen werden. Es ist auf den Wertebereich 0 bis 1 standardisiert. Ein Wert von 0 bedeutet, dass kein Zusammenhang zwischen den Variablen besteht, ein Wert von 1 spricht für einen perfekten Zusammenhang der betrachteten Variablen. Für die Beurteilung der Effektstärke werden unterschiedliche Vorschläge unterbreitet.7 Sie hängt jedoch vor allem davon ab, welche Variablen in die Analyse einbezogen werden. Sind die Variablen gleichartig, bilden sie beispielweise ähnliche Einstellungen ab, kann eher ein hoher Wert für den Zusammenhang erwartet werden. Werden Struktur- und Einstellungsvariablen untersucht, kann der Zusammenhang geringer ausfallen und trotzdem bedeutsam sein. Für ordinale Variablen stehen unter anderen die drei Maße
γ ,τ a
und
τ b zur Verfü-
gung, die sich auf die Häufigkeit konkordanter (C), und diskordanter Paare (D) zweier Merkmalsausprägungen bei jeweils zwei Personen beziehen. Konkordante Paare sind dann gegeben, wenn die Ausprägungen der Variablen x und y in zwei Fällen gleichgerichtet sind. Das heißt, wenn die Variable x für die erste Person einen höheren Wert aufweist als für die zweite Person, dann nimmt auch die zweite Variable y einen höheren Wert für die erste Person im Vergleich zum Wert der zweiten Person an. In diskordanten Paaren sind höhere Werte für die erste Person im Vergleich zur zweiten in der einen Variablen mit niedrigeren Werten für die erste Person im Vergleich zur Zweiten zu beobachten. Davon unterschieden werden die x- bzw. y-verbundenen Paare (T), bei denen jeweils die Merkmalsausprägungen in einer der beiden Variablen für zwei Fälle gleich sind, die Merkmalsausprägungen in der anderen Variablen sich aber unterscheiden.
7 Kühnel/Krebs (2001: 356) schlagen vor, Werte zwischen 0,1 und 0,2 als eher geringen Zusammenhang und Werte, die über 0,2 liegen als mäßigen Zusammenhang zu interpretieren.
Methoden zur Datenanalyse
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Die Betrachtung der gemeinsamen Verteilung zweier metrischer Variablen besteht im Kern in der Interpretation der Abweichungen der empirischen Beobachtungen von den Mittelwerten der Variablen. Wenn für die betrachteten Fälle in einem Datensatz zu beobachten ist, dass ein überdurchschnittlicher Wert in der Variable X mit einem überdurchschnittlichen Wert in der Variable Y einhergeht, sprechen wir von einem positiven Zusammenhang. Geht ein überdurchschnittlicher Wert in der Variable X mit einem unterdurchschnittlichen Wert in der Variable Y einher, sprechen wir von einem negativen Zusammenhang. Schematische Darstellung der Korrelation
Abbildung 1:
perfekte, positive Korrelation: r=+1
3
0
2
1
1
0 1
2
3
4
5
0
1
4
3
2
4
keine Korrelation: r=0 5
5
4
0
perfekte, negative Korrelation: r=-1
5
2
3
4
3
2
1
5
0 0
1
2
Die durchschnittliche gemeinsame Abweichung der Fälle von den Mittelwerten
3
4
x
und
5
y
wird als Kovarianz bezeichnet. Wird diese Kovarianz auf die Streuungen (Standardabweichungen) der betrachteten Variablen X und Y bezogen, erhalten wir die Korrelation r (vgl. Abb. 1). Der Wert für die Korrelation liegt im Bereich von –1 für einen perfekten negativen Zusammenhang bis +1 für einen perfekten positiven Zusammenhang. Bei einem Wert für die Korrelation von 0 besteht kein Zusammenhang zwischen den beiden Variablen X und Y. Als Daumenregel für die Interpretation der Stärke eines Zusammenhangs metrischer Variablen aus dem Korrelationskoeffizienten geben Kühnel und Krebs (2001: 404- 405) an: -0,05 ≤ r ≤ 0,05: kein Zusammenhang -0,2 ≤ r ≤ -0,05 oder 0,05 ≤ r ≤ 0,2: geringer Zusammenhang -0,5 ≤ r ≤ -0,2 oder 0,2 ≤ r ≤ 0,5: mittlerer Zusammenhang -0,7 ≤ r ≤ -0,5 oder 0,5 ≤ r ≤ 0,7: starker Zusammenhang -1 ≤ r ≤ -0,7 oder 0,7 ≤ r ≤ 1: sehr starker (perfekter) Zusammenhang Die Kovarianz und die Korrelation als Maße für den Zusammenhang metrischer Variablen erlangen nicht nur mit ihrer eigentlichen Interpretation eine besondere Bedeutung, sondern auch als Bausteine für komplexe Verfahren, die in den Abschnitten 4 bis 8 vorgestellt werden.
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3.3 Beschreibung von textbasierten Informationen Zur Erhebung und Interpretation von textbasierten Daten liegen mittlerweile vielfältige Strategien vor, die jeweils für spezifische Fragestellungen entwickelt wurden. Diese Verfahren folgen meist nicht der Unterscheidung von Datenerhebungs- und Datenanalyseprozess. Vielmehr gehen beide Prozesse ineinander über. Ein Verfahren, das eine breitere Anwendung gefunden hat und eine engere Verbindung zu den statistischen Analyseverfahren aufweist, ist die Inhaltsanalyse. Unter Inhaltsanalyse kann mit Werner Früh (1991: 25) eine „empirische Methode zur systematischen, intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von Mitteilungen“ verstanden werden.
Die Definition von Früh beinhaltet neben den bestimmenden Merkmalen einer Inhaltsanalyse gleichzeitig die Anforderungen, die an ein solches Verfahren zu stellen sind. Neben der Forderung, systematisch vorzugehen und mit Hilfe einer Stichprobe aus dem vorhandenen Material zu Ergebnissen zu gelangen, stehen vor allem die Beachtung überprüfbarer Kriterien und die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Resultate und ihrer Gewinnung im Mittelpunkt. Diese Anforderungen sind deshalb hervorzuheben, weil für die statistischen Analysestrategien einheitliche und verbindliche Gütekriterien zwar selbstverständlich sind, für einige neuere Verfahren diese Kriterien aber nicht mehr ohne weiteres akzeptiert werden.8 Zu den klassischen Gütekriterien empirischer Sozialforschung zählen Objektivität, Reliabilität und Validität. Die Gütekritieren stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Unter Objektivität der Messung wird ihre Unabhängigkeit vom jeweiligen Forscher verstanden.
Objektivität der Messung stellt eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Reliabilität der Forschung dar. Reliabilität beschreibt die Replizierbarkeit empirischer Ergebnisse auf der Basis weiterer Daten oder Instrumente.
Reliabilität stellt eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Validität empirischer Forschung dar. Validität bezeichnet die Anforderung, dass ein Instrument genau den Sachverhalt misst, den es messen soll.
8 Zu den Gütekriterien empirischer Sozialforschung vgl. zum Beispiel Andreas Diekmann (1997: 216-219). Zur Diskussion der Gütekriterien und ihrer Anwendung in quantitativer und qualitativer Forschung vgl. Ines Steinke (2000).
Methoden zur Datenanalyse
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Das Ziel der Inhaltsanalyse besteht darin, anhand von Textmerkmalen und zusätzlicher Informationen Schlussfolgerungen über den Text, seinen Produzenten oder den Empfänger einer Mitteilung zu formulieren. Im Kern kann jede Inhaltsanalyse als Methode verstanden werden, die fixierte Kommunikation systematisch, regel- und theoriengeleitet analysiert und Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte dieses Prozesses zieht (Mayring 2000: 12-13). Die Vorteile der Inhaltsanalyse bestehen vor allem in drei, miteinander zusammenhängenden Sachverhalten: 1. 2. 3.
Die Untersuchung langfristiger sozialer oder kultureller Wandlungsprozesse wird ermöglicht. Es können Originalquellen verwendet werden, die in längst vergangenen Zeitabschnitten entstanden, so dass keine spezielle Datenerhebung notwendig wird. Bei der Inhaltsanalyse handelt es sich um ein nicht-reaktives Verfahren, denn die zu untersuchenden Texte entstehen häufig nicht im Zuge von spezifischen Datenerhebungen, sondern in anderen Zusammenhängen. Die Analyse der Texte, beispielsweise in Form von Dokumenten, war also nicht explizites Ziel ihrer Entstehung.
Die systematische Bearbeitung von Textmaterial besteht immer auch darin, Textelemente zu kodieren. Dabei stellt sich die Frage nach der Reliabilität der Kodierung. Reliabilität eines empirischen Instruments (hier des Kodierschemas) bedeutet, dass die Replizierbarkeit des Kategoriensystems gegeben ist. Generell können zwei Strategien zur Überprüfung der Reliabilität unterschieden werden (Diekmann 1997: 492): a. b.
zwei Kodierer arbeiten parallel und die Übereinstimmung der Kodierungen gibt ein Maß für ihre Reliabilität (Interkoderreliabilität); eine Person kodiert das Material zu zwei Zeitpunkten und die Übereinstimmung dieser Kodierungen gibt Auskunft über ihre Reliabilität (Intrakoderreliabilität).
Für die Berechnung der Reliabilität der Kodierung kann in Anlehnung an Diekmann (1997: 493) die folgende Formel Verwendung finden: Int (e)r (a )koderreliabilität =
2Ü Kt1 + Kt 2
Hier steht Ü für die Anzahl der übereinstimmenden Kodierungen für beide Kodierer (Interkoderreliabilität) oder für die Kodierungen einer Person zu zwei Zeitpunkten (Intrakoderreliabilität). Kt1 steht für die Gesamtzahl der Kodierungen des ersten Kodierers und Kt2 für die Gesamtzahl der Kodierungen des zweiten Kodierers (Interkoderreliabilität) oder für die Gesamtzahl der Kodierungen einer Person zu zwei Zeitpunkten (Intrakoderreliabilität). Der resultierende Wert kann als Anteil an übereinstimmenden Kodierungen verstanden werden. Je höher der Wert ausfällt umso besser eignet sich das Kategorienschema. Werte die kleiner als 0,9 sind, deuten auf eine problematische Kodierung hin. Nach der hauptsächlichen Orientierung der Textanalyse können formale von eher inhaltlichen Analysen unterschieden werden. Stehen formale oder formalisierbare Aspekte im
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Manuela Pötschke
Mittelpunkt, kann das Textmaterial in Form von Daten für fortgeschrittene statistische Analyseverfahren aufbereitet werden. In der Literatur werden formale Inhaltsanalysen auch häufig als quantitative Inhaltsanalysen bezeichnet und von qualitativen Inhaltsanalysen unterschieden. Die quantitative Inhaltsanalyse besteht dabei im Kern in einer Häufigkeitsbeschreibung von Textmerkmalen (Diekmann 1997: 481 ff). In Anlehnung an die oben beschriebenen Verfahren univariater und bivariater deskriptiver Statistik lassen sich entsprechende Textsegmente nach der Datenerhebung kodieren und analysieren. Dabei kann die Kodierung nach inhaltlichen oder syntaktischen Merkmalen erfolgen. So erlaubt einfaches Zählen verschiedener Wörter in einem Text oder die Gesamtzahl verwendeter Wörter einen Hinweis auf die Reichhaltigkeit der Kommunikationsfähigkeiten des Verfassers. Die Verwendung spezifischer Wortarten geben Hinweise auf die Beteiligung und die Aktivität oder Passivität des Verfassers. Bei einer quantitativen Inhaltsanalyse sind nach Diekmann (1997: 494) folgende Schritte zu absolvieren. 1. 2. 3.
4.
5. 6. 7.
Aus der theoretischen Fragestellung sind überprüfbare Hypothesen abzuleiten. Die zu betrachtende Grundgesamtheit ist anzugeben und eine mögliche Strichprobenziehung zu beschreiben. Die Analyseeinheiten sind zu definieren. Dabei kann es sich um einzelne Worte, Wortgruppen, Sätze, Aussagenzusammenhänge, aber auch ganze Textabschnitte oder Texte handeln. Die Definition der Analyseeinheiten ergibt sich aus der Fragestellung. Ein Kategorienschema ist zu konstruieren, dass die gleichen Anforderungen zu erfüllen hat wie die Kategorien einer standardisierten Erhebung im Rahmen einer Befragung. Die Kategorien sollen sich demnach ausschließen, einen Sachverhalt erschöpfend und präzise abbilden. Für eine erfolgreiche Analyse der Texte sind die Formulierung konkreter Kodieranweisungen und die Schulung der Kodierer notwendig. Nach Pretests mit Kontrolle der Interkoderreliabilitt und möglicher Überarbeitung der Kodieranweisungen kann die Hauptuntersuchung stattfinden. Der letzte Schritt besteht in einer systematischen Auswertung der erhaltenen Daten und der Präsentation der Ergebnisse.
Im Ergebnis eines solchen Vorgehens erschließt sich vor allem die Struktur des Textmaterials. Gleichzeitig eröffnet sich aber auch die Möglichkeit der sinnhaften Interpretation der Absichten und impliziten Erwartungen der Schreiber einer Textnachricht. Diese eher inhaltlich orientierten Inhaltsanalysen können weiter in diagnostische und prognostische Analysen differenziert und als qualitative Verfahren beschrieben werden. Die qualitative Inhaltsanalyse ist vor allem mit Philip Mayring (2000) verbunden, der sie systematisch dargestellt hat. Das Ziel der Inhaltsanalyse besteht auch hier im Rückschluss auf bestimmte Aspekte der Kommunikation durch systematisches, das heißt regel- und theoriegeleitetes Vorgehen bei der Untersuchung von fixierten Kommunikationsprozessen (Mayring 2000: 13). Der zentrale Unterschied zum gerade beschriebenen Ansatz ist darin zu sehen, dass im Vorfeld der Datenanalyse keine explizite Kenntnis der strukturierenden Kategorien besteht, sondern die Konstruktion des Kategoriensystems das Analyseergebnis selber darstellt. Dadurch können auch latente Strukturen entdeckt werden.
Methoden zur Datenanalyse
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Die Vorgehensweise zur Analyse textbasierter Daten lässt sich in drei Dimensionen beschreiben: Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung. Das Ziel der Zusammenfassung besteht darin, unter Beibehaltung der wesentlichen Textbestandteile das Material so zu reduzieren, dass es überschaubar ist. Unter Explikation wird dann verstanden, dass spezifische Begriffe oder Textsequenzen mit zusätzlichen Erläuterungen aus externen Quellen versehen und dadurch klarer werden. Die Strukturierung schließlich erlaubt die Präsentation des Materials in Form eines Kategorienschemas. Dieser Vorgang lässt sich zirkulär fortsetzen, wenn das gefundene Kategorienschema an neuen Texten überprüft wird.
4
Vergleichen
Von einigen Forschern wird der Vergleich als das bestimmende Verfahren in der Politikwissenschaft bezeichnet (vgl. die Beiträge in Kropp/Minkenberg 2005). Vergleiche basieren dabei immer auf den Beschreibungen von Verteilungen oder aber von Einzelfällen.
4.1 Vergleich von Anteils- und Mittelwerten Für den Vergleich von Anteilswerten steht die Prozentsatzdifferenz zur Verfügung. Sie stellt ein anschauliches Maß dar, wenn die Informationen weniger Gruppen miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen und bietet sich zum Beispiel an, wenn Unterschiede zwischen Männern und Frauen, zwischen hoch und gering Gebildeten, zwischen Armen und Reichen beschrieben werden sollen. Als Faustregel für die Interpretation schlagen Steffen Kühnel und Dagmar Krebs (2001: 319) vor, immer dann von einem starken Zusammenhang (bzw. einem großen Gruppenunterschied) zu sprechen, wenn die Prozentsatzdifferenz größer 25 ist. Eine Differenz von 10 Prozentpunkten wird als gering angesehen und wenn der Wert unter 5 Prozentpunkten liegt, sollte der Unterschied nicht mehr inhaltlich interpretiert werden. Die Beurteilung der Stichprobenbefunde kann durch einen Signifikanztest ergänzt werden. Liegt eine Zufallsstichprobe vor und ist der Stichprobenumfang hinreichend groß, kann von einer annähernden Normalverteilung der Prozentsatzdifferenz ausgegangen werden. Getestet wird dann die Nullhypothese, dass in der Grundgesamtheit kein Unterschied in den Anteilen zweier Gruppen besteht, die Anteilswertdifferenz also 0 beträgt ( δ π −π = 0 ). 1
2
Zur Prüfung des Vorliegens eines signifikanten Unterschiedes bietet sich die Berechnung der Z-Statistik an. Z=
wobei:
( p1 − p2 ) − δπ 1 −π 2 p1 ⋅ (1 − p1 ) p2 ⋅ (1 − p2 ) + n1 n2 p1, p2 die Anteilswerte in der ersten und zweiten Gruppe in der Stichprobe, δπ1-π2 den getesteten Wert der Anteilswertdifferenz in der Grundgesamtheit, n1, n2 die Stichprobenumfänge der beiden Gruppen beschreiben.
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Auch zur Beantwortung der Frage nach signifikanten Mittelwertunterschieden zwischen zwei Gruppen steht die Z-Statistik zur Verfügung. Analog zur Berechnung für die Anteilswertdifferenz wird dazu das Verhältnis aus der Differenz zwischen empirischer und getesteter Mittelwertdifferenz und der Summe der Standardabweichungen der Variablen in den beiden Gruppen berechnet. Wie in Abschnitt 2 beschrieben, werden die aus den Formeln berechneten empirischen Werte der Prüfgröße mit den kritischen Werten der jeweiligen Wahrscheinlichkeitsverteilungen verglichen. Liegt der Wert im Annahmebereich der Nullhypothese, dann besteht in der Grundgesamtheit (mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von weniger als 5 Prozent) kein Unterschied in den Anteilen oder Mittelwerten zweier Gruppen. Liegt der erhaltene Wert im Ablehnungsbereich der Nullhypothese, können auch für die Grundgesamtheit Unterschiede in Anteilen oder Mittelwerten konstatiert werden.
4.2 Fallkontrastierung Eine besondere Form des Vergleichs findet sich im Rahmen der qualitativen Analyseansätze in dem Vorschlag, Personen nach den Prinzipien der Fallkontrastierung auszuwählen und in die Analyse einzubeziehen. Das bedeutet, dass hier eine enge Verzahnung zwischen Analyse und Erhebung besteht, die nicht aufgelöst werden kann. Die Fallkontrastierung kann dabei als Spezialform des Vergleichs verstanden werden. Voraussetzung jeder Fallkontrastierung ist die Konstruktion eines „heuristischen Rahmens“ (Kelle/Kluge 1999), der die relevanten Vergleichsdimensionen zur Fallauswahl enthält. Dieser Rahmen sollte wenig informationshaltig und empirisch gehaltlos sein, sich jedoch auf abstrakte Theorien oder auf triviale Alltagskonzepte beziehen. Der Kern der Fallkontrastierung besteht in einer gezielten Auswahl unterschiedlicher Fälle, um möglichst die gesamte Heterogenität des Untersuchungsfeldes abbilden zu können. Das Ziel besteht dann in der vergleichenden Beschreibung dieser „Extremfälle“ und im Aufspüren von Unterschieden und nicht in Aussagen zur Häufigkeit der beobachteten Phänomene. Aus dem Fallvergleich, der jeweils nur unter Einbezug des vollständigen Datenmaterials möglich ist, resultiert ein Kategoriensystem, das ähnlich der Inhaltsanalyse wiederum als Analyseraster verwendet und weiter entwickelt werden kann. Aus dem Kategoriensystem werden durch die Beschreibung von spezifischen Kombinationen von Merkmalsausprägungen der untersuchten Fälle Typen entwickelt. Die Analyse ist dann erfolgreich, wenn die Fälle eines Typs möglichst homogen sind, zwischen den einzelnen Typen dagegen möglichst große Heterogenität beobachtet werden kann. Die gefunden Typen können danach die Grundlage für weitere interpretative oder quantitative Fragestellungen bilden und sowohl zur Theorietestung wie auch Theorieentwicklung genutzt werden.
Methoden zur Datenanalyse
5
461
Erklären
In diesem Abschnitt geht es nicht mehr um Beschreibung von Stichprobenergebnissen, sondern um Modelle zur Erklärung von empirischen Sachverhalten. Deshalb wird eine Unterscheidung zwischen den zu erklärenden Variablen (abhängige Variablen Y) und den erklärenden (unabhängige Variablen X) eingeführt. Die Entscheidung darüber, welche der Variablen die unabhängigen sind und welche Variable erklärt wird, folgt aus theoretischen Überlegungen und den daraus abgeleiteten Hypothesen. Im einfachsten Fall beinhaltet das Erklärungsmodell eine abhängige Variable und eine unabhängige Variable. Das Ziel der Erklärung besteht darin, durch den Einbezug von erklärenden Variablen X die Streuung einer abhängigen Variable Y besser vorhersagen zu können als es auf der Basis ihrer eigenen Verteilung möglich ist. Die Entscheidung für eines der Verfahren orientiert sich dabei am Skalenniveau der abhängigen Variable. Liegt metrisches Skalenniveau vor, wird das Model einer linearen Regression verwendet. Handelt es sich um kategoriales Skalenniveau, ist das Modell der logistischen Regression angemessen.
5.1 Lineare Regression Im Kern beinhaltet das lineare Regressionsmodell die Erklärung der Varianz in einer abhängigen Variablen (Y) auf der Basis der Kenntnisse der Verteilung einer oder mehrerer unabhängiger Variablen (X). Zum Beispiel können Zustimmungstendenzen zu Aussagen über die Demokratie9 durch ein individuelles Merkmal wie Arbeitslosigkeit (ja oder nein) erklärt werden. Formal kann das entsprechende Modell folgendermaßen formuliert werden:
y i = b0 + b1 x1 + ei wobei:
yi b0 b1 ei
den Wert einer abhängigen Variablen für eine Person i, den Wert der Konstanten, den Wert des Effekts der (ersten) unabhängigen Variable x1, den Wert des Residuums darstellt.
Die Güte von Regressionsmodellen lässt sich mit Hilfe des Determinationskoeffizienten (oder: Bestimmtheitsmaß) R2 abschätzen.
1 n ¦ ( yˆi − y )2 n i =1 2 R = n 1 ¦ ( yi − y )2 n i =1
9 Hierbei ist zu beachten, dass die meisten Skalen streng genommen die Anforderungen an das metrische Skalenniveau nicht erfüllen, sondern lediglich ordinal sind. In der Forschungspraxis wird jedoch häufig unterstellt, dass die Abstände zwischen den Skalenpunkten als gleich bewertet werden können.
462
Manuela Pötschke
yˆ i y
das arithmetische Mittel der abhängigen Variable,
yi n
den Wert der abhängigen Variable für den Fall i und den Stichprobenumfang beschreibt.
wobei:
den geschätzten Wert in der abhängigen Variable für den Fall i,
R2 gibt den Anteil der erklärten Varianz in Y durch alle im Modell befindlichen X – Variablen wieder. Dieses Maß liegt im Wertebereich zwischen 0 und 1. Nimmt es den Wert 0 an, liegt keine Erklärungskraft der unabhängigen Variablen vor. Je näher der Wert an 1 heranreicht, desto größer ist die Erklärungskraft. Im Ergebnis einer Regressionsschätzung wird die Veränderung in der abhängigen Variable in Abhängigkeit von der Veränderung in der unabhängigen Variable interpretiert. Nimmt b einen positiven Wert an, handelt es sich um einen positiven Effekt, das heißt, ein Anstieg in der unabhängigen Variable geht mit einem Anstieg in der abhängigen Variable einher. Ein negativer Wert spricht dafür, dass die Erhöhung in X eine Verringerung in Y mit sich bringt. Nimmt b den Wert 0 an, besteht kein Effekt der unabhängigen auf die abhängige Variable in der Stichprobe. Zur Signifikanzprüfung wird auf den T-Test zurückgegriffen. Wenn mehr als eine unabhängige Variable im Modell enthalten ist, sprechen wir von einem multiplen Regressionsmodell. In diesem Fall werden die Effekte auf der jeweils betrachteten Variable unter Konstanthaltung der anderen Variablen interpretiert. In multiplen Modellen ist dem Phänomen der Konfundierung von Effekten durch das so genannte Auspartialisieren Rechnung getragen. Konfundierte Effekte bestehen dann, wenn die unabhängigen Variablen nicht nur auf die abhängige Variable Wirkungen entfalten, sondern auch untereinander korreliert sind. Auspartialisieren meint die Bereinigung der Effektstärke einer unabhängigen Variablen um den Erklärungsbeitrag, der aus der Korrelation mit einer anderen unabhängigen Variablen resultiert. Die Interpretation eines linearen Regressionsmodells impliziert das Vorliegen der folgenden Grundannahmen.
Linearitätsannahme: Sie beinhaltet die Hypothese, dass das lineare Regressionsmodell in der Population für alle Ausprägungen der unabhängigen Variablen X gilt und dass der Einfluss von X auf Y unabhängig von den Ausprägungen von X oder Y immer gleich ist. Die graphische Darstellung einer linearen Beziehung ergibt eine Gerade. Erwartungswert der Residuen ist gleich 0: Der Mittelwert aller Residuen beträgt 0, das heißt, dass sich die Abweichungen der beobachteten Werte Werten
yˆ
yi
zu den geschätzten
auf der Regressionsgeraden in der Summe ausgleichen.
Unkorreliertheit der Residuen: Ist diese Grundannahme verletzt, liegt Autokorrelation vor. Autokorrelation erster Ordnung beschreibt die Abhängigkeit des Residualwertes vom Residualwert des im Datensatz vorangegangenen Falles. Dieses Phänomen tritt verstärkt in Panel- und Mehrebenendatenstrukturen auf. Als Test für das Vorliegen der Annahme in der Grundgesamtheit kann die so genannte Durbin-Watson-Statistik d herangezogen werden (DWS). Der Wertebereich der DWS liegt zwischen 0 und 4 (vgl. Abb. 2). Bei einem Wert von 2 liegt keine Autokorrelation vor, bei einem Wert von 0
Methoden zur Datenanalyse
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besteht positive und bei einem Wert von 4 besteht negative Autokorrelation. Der An-
nahmebereich für die Nullhypothese ( Δ =2) muss in Abhängigkeit von der Anzahl der unabhängigen Variablen im Modell und des Stichprobenumfangs aus der entsprechenden Wahrscheinlichkeitstabelle jeweils bestimmt werden. Die Besonderheit besteht hier darin, dass die angeführten kritischen Werte Bereiche markieren, die entweder zum Annahme- oder Ablehnungsbereich der Nullhypothese gehören, darüber hinaus aber Abschnitte umfassen, in denen keine konkrete Entscheidung über das Vorliegen von Autokorrelation in der Grundgesamtheit getroffen werden kann. Abbildung 2:
0
Wertebereich für die Durbin-Watson-Statistik dl
du
positive AK
2
Keine Autorkorrelation (AK)
dl
4
du
negative AK
Hinweis: dl und du stehen für die kritischen Werte aus der Wahrscheinlichkeitstabelle der DWS. Dl ist dabei die untere (lower) Grenze des Unsicherheitsbandes und du ist die obere Grenze (upper) des Unsicherheitsbandes. Treten empirische Werte auf, die innerhalb der Grenzen liegen, kann keine Entscheidung über das Vorliegen von Autokorrelation in der Grundgesamtheit getroffen werden.
Unkorreliertheit der Residuen mit X: Die Abweichungen der empirischen Beobachtungen von den geschätzten Werten (eij) hängen in ihrer Größe nicht von X ab. Identifizierbarkeit einer Gleichung: Zur Spezifikation einer Modellgleichung müssen mehr empirische Informationen vorliegen als Parameter, die geschätzt werden sollen. Homoskedastizität der Residuen: Die Varianzen der Residuen bei unterschiedlichen Ausprägungen von X sind gleich.
5.2 Logistische Regression Ist die abhängige Variable nicht metrisch sondern kategorial skaliert, ist die Schätzung eines logistischen Modells dem linearen Modell vorzuziehen. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Zum einen ist für kategoriale Variablen die Grundannahme der Varianzgleichheit der Residuen nicht gewährleistet, vielmehr ist sie eine Funktion des mittleren Wertes. Zum zweiten würden bei der Anwendung eines linearen Modells für eine kategoriale abhängige Variable Werte geschätzt, die außerhalb des theoretisch möglichen Wertebereichs liegen. Im einfachsten Fall hat die abhängige Variable zwei Ausprägungen (dichotom). Als zu erklärende Variable wird dabei nicht Y selber aufgefasst, sondern entweder das entsprechende Logit oder das Odd. Das Logit ist das logarithmierte Chancenverhältnis zwischen einer Wahrscheinlichkeit und ihrer Gegenwahrscheinlichkeit. Das Odd beschreibt das Chancenverhältnis selber. Die formale Schreibweise des Modells kann demgemäß auf unterschiedliche Arten erfolgen.
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Manuela Pötschke
§π · ln¨¨ 1 ¸¸ = β 0 + β1 x1 © π0 ¹ wobei:
β0 β1
die Konstante und den Regressionskoeffizienten bezeichnet, der den Effekt der einbezogenen unabhängigen Variable x1 beschreibt
Diese Darstellung kann durch die Anwendung der Exponentialfunktion auch in der folgenden Form beschrieben werden:
π1 = eβ ⋅ eβ x 1 − π1 0
wobei:
eβ 0 e β1
1 1
die Konstante und den Effektkoeffizienten bezeichnet, der den Einfluss der einbezogenen unabhängigen Variable xi beschreibt
Regressionskoeffizienten beziehen sich also auf das Logit, Effektkoeffizienten beziehen sich auf das Odd. Die Schätzung der logistischen Funktion erfolgt auf der Basis des MaximumLikelihood-Verfahrens, das heißt, es werden die Koeffizienten geschätzt, die die gegebenen Beobachtungen am besten abbilden. Die logistische Regression findet in der angewandten Politikwissenschaft häufig Verwendung. Das liegt daran, dass in Fragebögen sehr viel mehr kategoriale als metrische Variablen generiert werden. Zum Beispiel können wir die Tatsache, ob sich jemand einer Partei verbunden fühlt oder nicht durch das Alter der Person und ihr Geschlecht versuchen zu erklären. Im Ergebnis werden dann spezifische Chancen für eine Parteipräferenz für Männer und Frauen bzw. Jüngere und Ältere berechnet. Auch der Frage danach, welche Partei präferiert wird, kann mit Hilfe eines logistischen Modells nachgegangen werden.
5.3 Panelanalyse Panelanalysen untersuchen Stabilität und Wandel auf individueller oder aggregierter Ebene. Die Phänomene Stabilität und Wandel implizieren dabei bereits das definierende Kriterium für Panelmodelle: den Einbezug der Zeit. Die Grundlage für Panelanalysen bilden Paneldaten, zu deren Generierung dieselben Personen (oder andere Analyseeinheiten) möglichst mit demselben Instrument wiederholt befragt werden. Am wenigsten komplex lassen sich Panelanalysen mit Hilfe von Mobilitätstabellen realisieren (vgl. Tab. 4).
Methoden zur Datenanalyse
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Tabelle 4: Beispiel einer Mobilitätstabelle
Arbeitslos gemeldet zu t1
Ja Nein
Arbeitslos gemeldet zu t2 ja nein Stabilität Wandel Wandel Stabilität
Wandel ist immer dann gegeben, wenn Veränderungen in den Merkmalsausprägungen zu beobachten sind und zwar unabhängig davon, welche Richtung diese Veränderung annimmt. Von Stabilität wird gesprochen, wenn die Merkmalsausprägungen gleich bleiben. Veränderungen können auf der Basis von Mobilitätstabellen jedoch immer nur auf Aggregatebene, nicht aber auf individueller Ebene nachgezeichnet werden. Darüber hinaus unterschätzen sie möglicherweise Wandlungsprozesse, da in der Regel die Ergebnisse aus zwei oder mehreren Zuständen dargestellt werden und die Prozesse zwischen den Erhebungszeitpunkten nicht eingehen. Über die Analyse von Mobilitätstabellen hinaus kann der Einbezug einer Zeitvariable in anderen Analyseverfahren elaborierte Panelanalyen ermöglichen, die dann auch individuelle Veränderungen untersuchen lassen.
5.4 Mehrebenenanalyse Im Rahmen der Mehrebenenanalyse wird das grundlegende (lineare oder logistische) Regressionsmodell so erweitert, dass die gleichzeitige Schätzung von Variationen auf unterschiedlichen Ebenen ermöglicht wird. Konzeptionell liegt den Überlegungen eine VariablenTypologie zugrunde, die auf Lazarsfeld und Menzel (1961) zurückgeht (vgl. Tab. 5). Tabelle 5: Lazarsfeld-Menzel-Typologie von Variablen (Lazarsfeld/Menzel 1961) Einheit
Absolute Eigenschaften
Eigenschaften nach der Verteilung
Eigenschaften nach der Struktur
Eigenschaften nach der Inklusion
Ebene 1 Ebene 2
absolut global
komparativ analytisch
relational strukturell
kontextuell
Absolute Merkmale sind solche, die erhoben werden, ohne dass Wissen über andere Fälle vorhanden ist (beispielsweise das Geschlecht einer Person, ihre Religion, Zufriedenheit usw.). Komparative Merkmale setzen dagegen die Eigenschaft einer Person ins Verhältnis zu anderen, z.B. wenn von einem überdurchschnittlich hohen Einkommen für eine Person gesprochen wird. Relationale Merkmale werden vor allem im Rahmen von Netzwerkanalysen untersucht. Sie bezeichnen die Stellung einer Person in einer Struktur als Inhaber eine Rolle. Kontextuelle Merkmale spielen im Rahmen der Mehrebenenanalyse eine besondere Rolle. Sie beschreiben nämlich die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten Gruppe, also z.B. die Zugehörigkeiten von Personen zu Haushalten. Auf der Aggregatebene lassen sich analog zu den Merkmalsbeschreibungen der ersten Ebene globale Merkmale von analytischen und strukturellen Merkmalen unterscheiden. Globale Merkmale beschreiben das Aggregat ohne Rückgriff auf Informationen aus der
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Manuela Pötschke
Individualebene. Ein Beispiel für ein globales Merkmal ist die Größe eines Aggregats. Dagegen resultieren analytische und strukturelle Merkmale aus den Individualdaten der jeweiligen Elemente einer Gruppe. Die Arbeitslosenquote in einer Region ergibt sich aus den individuellen Beobachtungen darüber, ob und wie viele Personen einer Region arbeitslos gemeldet sind bzw. nicht. Strukturelle Merkmale schließlich greifen die Beziehungsmuster der Individuen in einer Gruppe auf und beschreiben beispielsweise eine Schulklasse als integrierend, wenn sie intern stark vernetzt ist und als desintegrierend, wenn nur wenige bilaterale Beziehungen in der Klasse bestehen. Bei der Mehrebenenanalyse handelt es sich nun um die Umsetzung der Idee der Abhängigkeit des Verhaltens von Personen von Merkmalen ihrer eigenen Person und Gegebenheiten ihrer Umwelten in ein statistisches Modell.10 Die formale Modellbeschreibung ergibt sich als Erweiterung des linearen Modells: 1. Ebene:
yij = β 0 j + β1 x1i + ε i
2. Ebene:
β 0 j = β 0 + u0 j
wobei:
β0 j
die Konstante bezeichnet, die in Abhängigkeit der Kontextzugehörigkeit variiert,
β1
den Effekt der einbezogenen unabhängigen Variable x1i bezeichnet, der für alle
εi
Kontexte als konstant modelliert wird und für den Residualterm der Beobachtungseinheit steht.
Inhaltlich bedeutet die Erweiterung der ursprünglichen Gleichung, dass nicht mehr davon ausgegangen wird, dass die Regressionskonstante für alle Personen in allen Gruppen gleich ist, sondern dass die Regressionskonstante zwischen verschiedenen Kontexten variiert. Die geschätzte Konstante ß0 gibt dann einen mittleren Wert über alle Gruppenkonstanten an (fixed effect). Als Varianzkomponente für diese Konstante wird u0j in die Gleichung einbezogen (random effect). Wenn das Modell lediglich aus der Konstante, ihrer Variation und dem Residualterm besteht, also wenn keine unabhängigen Variablen zur Erklärung herangezogen werden, wird es als Nullmodell bezeichnet. Auf seiner Basis lassen sich die Anteile erklärbarer Varianzen auf den einzelnen Ebenen bestimmen. Das heißt, man erhält Informationen über den Anteil der Varianz des Verhaltens der Personen, die auf Merkmale der Person selber zurück geführt werden (ohne sie explizit zu nennen), und über den Anteil der Varianz, der auf der Zugehörigkeit dieser Person zu einem ganz spezifischen Kontext basiert. Wird das Gleichungssystem mit einer unabhängigen Variable um eine Varianzkomponente für den Regressionseffekt erweitert, dann ergibt sich das folgende Gleichungssystem. 1. Ebene:
yij = β 0 j + β1 j x1ij + ε i
10 Für ein ausführliches Beispiel zur Mehrebenenanalyse zum Thema Wertewandel findet sich in Markus Klein und Manuela Pötschke (2004).
Methoden zur Datenanalyse 2. Ebene:
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β 0 j = β 0 + u0 j β1 j = β1 + u1 j
wobei:
β 0 j die Konstante bezeichnet, die in Abhängigkeit von der Kontext-
β1 j
zugehörigkeit variiert, den Effekt der einbezogenen unabhängigen Variable x1i bezeichnet, der
ε ij
für die Kontexte j spezifisch modelliert wird und für den Residualterm der Beobachtungseinheit i im Kontext j steht.
Schätzen wir ein Modell unter den Annahmen dieser Gleichung, heißt das, dass die mittleren Schätzungen der abhängigen Variablen zwischen den Gruppen unterschiedlich ausfallen und dass gleichzeitig die Effekte der unabhängigen auf die abhängige Variable gruppenspezifisch variieren. Die Schätzung der Koeffizienten in einem Mehrebenenmodell erfolgt iterativ und häufig mittels der Maximum Likelihood-Methode (ML). In Abhängigkeit von der Fallzahl der Untersuchungseinheiten innerhalb der Gruppen auf der zweiten Ebene erfolgt eine Anpassung der Schätzwerte in Richtung des durchschnittlichen Zusammenhangs in allen Einheiten der zweiten Ebene. Die Schätzungen der Koeffizienten erfolgt so, dass die Wahrscheinlichkeit für die beobachteten Daten unter dem konzipierten Modell maximiert wird. Ein Problem des ML-Schätzverfahrens besteht darin, dass in manchen Verteilungen mehrere lokale Maxima vorhanden sind. Wenn das der Fall ist, kann nicht garantiert werden, dass der gefundene Wert auch das absolute Maximum präsentiert. Ebenso sind Verteilungen denkbar, die über kein Maximum verfügen. Die iterative Schätzung konvergiert dann nicht und es gibt kein Schätzergebnis. Zur Schätzung stehen zwei Varianten zur Verfügung: die „Full Maximum Likelihood“und die „Restricted Maximum Likelihood“-Variante. Bei der ersten Version sind in kleinen Stichproben verzerrte Varianzschätzungen möglich. Deshalb sollte mit Blick auf die Robustheit der Varianzen und Standardfehler eher die zweite Variante gewählt werden. Ein Maß für die Anpassungsgüte eines Modells ist die Devianz. Sie wird in der Mehrebenenanalyse in der Regel als -2log Likelihood ausgegeben und nimmt Werte näher an 0 an, je besser das Modell mit den empirischen Daten übereinstimmt. Der Modellvergleich kann vor diesem Hintergrund auf der Basis des Vergleichs zweier -2log Likelihood-Werte als Likelihood-Ratio-Test realisiert werden. Als Referenzmodell zur Präsentation erklärungsmächtiger Variablen kann in einem ersten Schritt das oben beschriebene Nullmodell dienen. Beim Modellvergleich wird der Nullhypothese nachgegangen, dass die Einbeziehung zusätzlicher erklärender Variablen in ein Modell keine weitere Erklärungskraft mit sich bringt, d.h., dass die Differenz der Devianzwerte 0 beträgt. Diese Differenz folgt der χ 2 - Verteilung, wobei die Freiheitsgrade11 sich als Differenz der in die Mo-
11 Für einige Wahrscheinlichkeitsverteilungen gilt, dass ihr Verlauf von so genannten Freiheitsgraden abhängt. Unter Freiheitsgraden wird dabei die Anzahl frei variierbarer Werte einer Datenreihe unter spezifischen Restriktionen verstanden. Beispielweise beträgt der Freiheitsgrad für das arithmetische Mittel n-1. Ist das arithmetische Mittel einer Datenreihe gegeben, können für n-1 Fälle beliebige Werte eingesetzt werden. Der Wert des letzten Falles ergibt sich
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Manuela Pötschke
delle einbezogenen Anzahlen von Parametern ergeben. Besteht zwischen den Devianzen der zu vergleichenden Modelle ein signifikanter Unterschied, so ist das Modell mit dem kleineren Betrag das besser angepasste Modell. Über die Frage danach, welches Modell besser angepasst ist, stellt sich die Frage nach dem konkreten Anteil erklärter Varianzen durch die einbezogenen unabhängigen Variablen. Als Referenzmodell dient wieder das Nullmodell. Die Berechnung des Anteils erklärter Varianz wird nun in der Regel als Verhältnis der Differenz der Gesamtvarianzen von Nullund Erklärungsmodell und der Gesamtvarianz des Nullmodells definiert.
R2 =
var( yij ) M 0 − var( yij ) M 1 var( yij ) M 0 wobei:
var( yij ) M 0 die Gesamtvarianz des „Empty Model“ und
var( yij ) M 1 die Gesamtvarianz des alternativen Modells bezeichnet.
Problematisch ist die Berechnung des Anteils erklärter Varianz auf diesem Wege dann, wenn auch Kovarianzen zwischen den erklärenden Variablen in das Modell aufgenommen worden sind. Dann ist zu beobachten, dass die Erklärungsleistung des Modells mit Kovariaten geringer ausfallen kann als die Erklärungsleistung des Nullmodells. Die Vorschläge in der Literatur zur Lösung dieses Problems, die sich weiter auf die Gesamtvarianzen stützen, sind nicht vollständig überzeugend. Geeigneter scheint die Berechnung des Maddala-R2 zu sein, die sich auf die Devianzwerte stützt.
§ − 2 log Likelihood M 1 − (−2 log Likelihood M 0 ) · ¸ Maddala − R 2 = 1 − exp¨ ¸ ¨ n ij ¹ © wobei:
− 2 log Likelihood M 1 die Devianz des alternativen Modells, − 2 log Likelihood M 0 die Devianz des „Empty Model“ und nij
die Fallzahl bezeichnet.
Das Ergebnis der Berechnung kann mit 100 multipliziert als prozentualer Anteil der erklärten Varianz durch die Variablen, die im alternativen Modell enthalten sind, interpretiert werden. Es kann sich dabei sowohl um die Erklärungskraft der Varianzen der unabhängigen Variablen als auch um Kovarianzen zwischen unabhängigen Variablen handeln. Mehrebenenanalysen stellen eine Möglichkeit der Erweiterung einfacher linearer Regressionsmodelle12 dar. Eine Erweiterung in eine andere Richtung findet sich mit den Strukturgleichungsmodellen, die im nächsten Abschnitt vorgestellt werden.
dann aus der Eigenschaft des Mittelwertes, dass die Abweichungen der einzelnen Werte aufsummiert 0 ergeben müssen. (vgl. ausführlich dazu Diehl/ Arbinger 1991: 88) 12 Auch logistische Regressionsmodelle können im hier beschriebenen Sinne als Mehrebenenmodelle erweitert werden. Zu einer ausführlicheren Beschreibung vgl. Snijders/Bosker (1999) oder Hox (2002).
Methoden zur Datenanalyse
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5.5 Strukturgleichungsmodelle Strukturgleichungsmodelle können als Zusammenschluss zweier Ideen verstanden werden: der Idee latenter Strukturen und der Idee der Erklärung der Varianz einer abhängigen Variable auf der Basis der Varianz von unabhängigen Variabeln aus der Regressionsanalyse. Strukturgleichungsmodelle können deshalb auch als Regressionsmodelle auf latenter Ebene verstanden werden. Latente Strukturen oder Konstrukte sind solche, die sich der direkten Messung entziehen. Im Gegensatz dazu stellen die Daten, die beispielsweise im Rahmen einer Befragung gewonnen wurden, manifeste Indikatoren, also messbare Konstrukte, dar. Der Prozess der Übertragung abstrakter Sachverhalte aus Theorien in messbare Konstrukte wird in der Datenerhebung als Operationalisierung bezeichnet. Diese Idee kehrt sich jetzt um: aus den manifesten Indikatoren sollen Rückschlüsse auf latente, abstrakte Sachverhalte gezogen werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Merkmalsausprägung einer Person auf dem latenten Konstrukt die Antworten auf passende manifeste Indikatoren, bestimmen. Vor diesem Hintergrund lassen sich sowohl eine gelungene Operationalisierung wie auch Theorien testen. Wenn im Vorfeld der Analysen Modellvorstellungen darüber bestehen, welche latenten Faktoren sich in den manifesten Indikatoren niederschlagen, bezeichnet man das Vorgehen als konfirmatorische Faktorenanalyse. Die latenten Konstrukte werden als Faktoren bezeichnet. In der Formulierung theoretisch fundierter Hypothesen besteht dann der erste Schritt bei der Entwicklung und Interpretation eines Strukturgleichungsmodells. Diese Hypothesen lassen sich im zweiten Schritt in ein Pfadmodell übersetzen, das die erwarteten Elemente und die Beziehungen zwischen ihnen beinhaltet. Die Modellstruktur muss dabei in zwei Hinsichten spezifiziert werden, denn innerhalb des Strukturgleichungsmodells werden Struktur- und Messmodell unterschieden und einer gleichzeitigen Prüfung unterzogen. Beim Messmodell handelt es sich um die Verknüpfung zwischen manifesten Indikatoren und latenten Konstrukten. Das Strukturmodell beschreibt die Effekte eines latenten auf ein anderes latentes Konstrukt. Nehmen wir an, wir möchten politisches Engagement dadurch erklären, dass eine Person eine spezifische Einstellung zur Demokratie aufweist. Beide Konstrukte lassen sich nicht direkt messen, sondern müssen über eine Vielzahl von Items erhoben werden. Die Abbildung der Konstrukte in den Items und ihre Beziehung untereinander wird im Rahmen des Messmodells spezifiziert. Der Einfluss der Demokratieeinstellung auf das politische Engagement wird dann mit dem Strukturmodell spezifiziert. Für die im dritten Schritt erfolgende Identifikation des Modells sind zwei Bedingungen zu erfüllen: Erstens muss die Anzahl der zu schätzenden Parameter gleich oder kleiner als die Anzahl der empirischen Informationen sein. Die Erfüllung dieser Bedingung kann über die so genannte t-Regel geprüft werden. Dabei gilt: t≤
( p + q )( p + q + 1)
wobei:
2 p q
für die Anzahl der x-Variablen und für die Anzahl der y-Variablen steht.
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Zweitens müssen die latenten Variablen Skalen enthalten. Dazu werden die Varianzen der latenten Variablen entweder auf eine Konstante festgesetzt oder aber die Skalierung eines manifesten Indikators wird für die latente Variable übernommen. Abbildung 3:
δ1 θ
δ2 δ3
δ4 δ5 δ6 wobei:
Schematische Darstellung eines Strukturgleichungsmodell
X1 X2
ξ1
X3
Y1 η
Y2 Y3
ε1 ε2 ε2
X4 X5
ξ2
ζ3
X6 ξ (Ksi) die unabhängige (exogene) latente Variable, η (Eta) die abhängige (endogene) latente Variable, X die Messvariablen für Ksi und Y die Messvariablen für Eta, sowie δ (Delta) die Residualvariablen für X, ε (Epsilon) die Residualvariablen für Y, ζ (Zeta) die Residualvariable für Eta und θ (Theta) die Kovarianz der Residualvariablen Delta oder Epsilon abbildet.
Die Basis der im vierten Schritt zu erfolgenden Parameterschätzung eines Strukturgleichungsmodells bildet die Varianz-Kovarianz-Matrix oder die Korrelationsmatrix der manifesten Indikatoren. Das heißt, dass die Daten nicht direkt, so wie sie im Datensatz enthalten sind, verwendet werden, sondern die entsprechenden Quellen der Analyse erst geschaffen werden müssen. In einem der bekanntesten Programme zur Analyse von Strukturgleichungsmodellen, LISREL, ist ein entsprechendes Tool enthalten (PRELIS). Im Ergebnis der Strukturgleichungsmodelle können unstandardisierte oder standardisierte Koeffizienten interpretiert werden. Dadurch ist ein Koeffizientenvergleich nicht ohne weiteres möglich, denn ihre Höhe hängt von der Skalierung der manifesten Variablen ab. Besser lässt sich der Vergleich mit den standardisierten Koeffizienten realisieren, da diese nur Werte im Bereich zwischen -1 und +1 annehmen können. Die Koeffizienten des Messmodells werden mit λ (Lambda) und die Koeffizienten des Regressionsmodells mit γ (Gamma) bezeichnet. Der Interpretation der Koeffizienten geht die Beurteilung des Gesamtmodells voraus. Dafür stehen unterschiedliche Anpassungsmaße zur Verfügung. Diese Anpassungsmaße
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geben Auskunft darüber, ob die modellimplizierte erwartete Varianz-Kovarianz-Matrix der empirischen Varianz-Kovarianz-Matrix entspricht (oder ihr ähnlich ist) oder ob die beiden Matrizen deutlich auseinander fallen. Im ersten Fall bildet das Modell eine gute Möglichkeit zur Voraussage der Beobachtungen und es ist angepasst. Im zweiten Fall ist das Modell nicht gut an die empirischen Beobachtungen angepasst und muss modifiziert werden. Wenn über die anstehende Modifikation theoretische Vorüberlegungen bestehen, kann der beschriebene Analyseprozess neu begonnen werden. Wenn es keine theoretischen Vorüberlegungen gibt, sondern die Modellentwicklung am empirischen Material erfolgt, dann ist das Vorgehen eher explorativ.
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Strukturen entdecken
Wenn das Ziel der Analyse nicht die Testung, sondern die Entdeckung latenter Strukturen aus den empirischen Daten ist, dann können unter anderen die folgenden, Struktur entdeckenden Verfahren genutzt werden.
6.1 Faktorenanalyse Faktorenanalysen dienen der Bündelung von Variablen mit gleichen inhaltlichen Intentionen. Dabei wird wie in den Strukturgleichungsmodellen unterstellt, dass latente, unbeobachtbare Merkmale einer Person bestimmte Antworten auf konkrete Fragen hervorrufen. Beispielsweise können eine Vielzahl von Items mit Aussagen über die moderne Gesellschaft und politische Gegebenheiten darauf untersucht werden, ob hinter den konkreten Items latente Dimensionen stehen, die die Beantwortung der Items bestimmen. Auch die Generierung eines explorativen Faktorenmodells basiert auf der Kovarianz-Matrix aller einbezogenen manifesten Variablen. Grundsätzlich können nach der Intention der Analyse unterschiedliche Arten der Faktorenanalyse unterschieden werden. Die so genannte Hauptkomponentenanalyse repliziert die Kovarianz-Matrix und dient der Strukturentdeckung. Die entsprechenden Faktorladungen, die den Zusammenhang zwischen Faktor und Item beschreiben, können als Kovarianzen interpretiert werden. Demgegenüber eignet sich die Hauptachsenanalyse auch für Kausalanalysen. Die Faktorladungen werden dort als Regressionskoeffizienten einer bivariaten Regression der Itembewertung auf die Faktoren interpretiert. Der Anteil der Streuung einer Variable, der durch das Faktorenmodell erklärt werden kann, wird als Kommunalität bezeichnet. In diese Erklärung werden die extrahierten Faktoren einbezogen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie das Eigenwertkriterium erfüllen. Das Eigenwertkriterium sagt, dass die Faktoren extrahiert werden, die einen Eigenwert größer als 1 haben. Das bedeutet, die extrahierten Faktoren erklären jeweils mehr als die Varianz einer einbezogenen (z-standardisierten) manifesten Variable. Denn der Eigenwert eines Faktors gibt an, welcher Anteil der Gesamtstreuung aller Variablen des Faktorenmodells durch diesen Faktor erklärt wird.
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Die Ergebnisse der Faktorenanalyse finden sich in der Faktorladungsmatrix. Faktorladungen sind Korrelationen zwischen den Faktoren und den einbezogenen manifesten Indikatoren, die im Hauptachsenmodell auch als Regressionskoeffizienten interpretiert werden können. Dabei ist in der Regel auf die rotierte Lösung Bezug zu nehmen, da sie eine höhere Trennschärfe der Faktorladungen ausweist. Trennschärfe bedeutet, dass die Faktorladungen für eine Variable möglichst hoch für einen der Faktoren und möglichst niedrig für alle anderen ausfallen.
6.2 Clusteranalyse Während in der Faktorenanalyse mehrere Variablen zusammengefasst werden, dienen Clusteranalysen der Bündelung von gleichartigen oder ähnlichen Fällen. Dadurch können Aggregate in Gruppen stratifiziert werden, die jeweils markante Kombinationen von Merkmalsausprägungen aufweisen. Die statistisch realisierten Gruppen können im besten Fall als inhaltlich relevante Typen definiert werden, die das Ergebnis der Analyse darstellen und gleichzeitig die Basis für weitere Untersuchungen liefern. Ein sehr typisches Beispiel für Clusteranalysen bilden die Identifizierung von Lebensstilen und Milieus. Anhand des Konsum- und Freizeitverhaltens der Befragten sowie spezifischer Einstellungen zum Leben, zur Gesellschaft und zur Politik werden Gruppen von Befragten identifiziert, die in den Merkmalen ähnlich sind. Das Vorgehen bei einer Clusteranalyse besteht in drei Schritten. Nach der Bestimmung der Ähnlichkeit von Fällen entweder anhand von Ähnlichkeits- oder von Unähnlichkeitsmaßen, wird ein geeigneter Fusionierungsalgorithmus ausgewählt, der in einer festzulegenden Zahl von Clustern kumuliert. Die beste Lösung stellt dabei einen Kompromiss zwischen zwei Anforderungen dar. Auf der einen Seite sollen möglichst wenige Cluster generiert werden, damit die Differenzierung übersichtlich bleibt, auf der anderen Seite bringt die Erhöhung der Anzahl von Clustern eine höhere Homogenität innerhalb der Cluster mit sich, die entstandenen Typen sind dann besser zu beschreiben. Ausgangspunkt einer Clusteranalyse ist die Kreuztabelle aller beobachteten Objekte mit den Informationen zum Grad der Ähnlichkeit zu allen anderen Objekten. Je größer der Wert eines verwendeten Ähnlichkeitsmaßes ausfällt, desto ähnlicher sind sich die betrachteten Objekte. Werden Distanzmaße verwendet, dann gibt ein höherer Wert eine größere Unähnlichkeit der betrachteten Objekte an. Die Auswahl spezifischer Ähnlichkeitsmaße richtet sich nach dem Skalenniveau der betrachteten Variablen. Liegt eine binäre Eigenschaftsstruktur der Objekte vor, heißt das, dass ein Merkmal entweder vorliegt oder nicht. Dann kann auf Maße wie den Tanimoto(Jaccard)-Koeffizienten, den Russel und RaoKoeffizienten oder das Simple Matching zurückgegriffen werden. Das Prinzip dieser Maße besteht in der Betrachtung der Anteile gemeinsamer Eigenschaften der beobachteten Objekte im Verhältnis zur Zahl der Eigenschaften, die nur bei einem der Objekte auftreten. Der Tanimoto(Jaccard)-Koeffizient berechnet sich beispielsweise als
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Tanimoto(Jaccard)-Koeffizient = wobei:
a
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a a+b+c
für die Anzahl der Eigenschaften steht, die zwei Objekte gemeinsam aufweisen, für den Anteil der Eigenschaften, die lediglich das erste Objekt aufweist und die Anzahl der Eigenschaften bezeichnet, die lediglich das zweite Objekt aufweist.
b c
Die Reihenfolge der Betrachtung der Objekte spielt dabei keine Rolle, es handelt sich um ein symmetrisches Maß. Der Wertebereich des Koeffizienten liegt zwischen 0 und 1, wobei ein Wert von 0 „Unähnlichkeit“ und ein Wert von 1 „Ähnlichkeit“ bedeutet. Beim Russel und Rao-Koeffizienten wird darüber hinaus auch die Anzahl der jeweiligen nicht vorhandenen Eigenschaften für jedes Objekt mit einbezogen. Der M-Koeffizient (Simple-Matching-Koeffizient) schließlich bezieht nicht nur die Anzahl der bei beiden Objekten gegebenen Merkmale ein, sondern auch die Anzahl der Merkmale, die bei beiden Objekten fehlen. Die Entscheidung für ein bestimmtes Maß resultiert aus der Überlegung, ob das Fehlen einer Eigenschaft inhaltlich die gleiche Bedeutung haben soll wie das gemeinsame Vorhandensein einer bestimmten Eigenschaft. Sie kann also nicht allgemeingültig getroffen werden, sondern hängt von der konkreten Frage ab. Weisen Merkmale kategoriales Skalenniveau mit mehr als zwei Ausprägungen auf, müssen sie im Rahmen einer Dummykodierung in eine Vielzahl von Variablen zerlegt werden. Dabei wird für jede Kategorie eine eigene Variable gebildet, die entweder den Wert 1 annimmt, wenn die Kategorie zutrifft oder den Wert 0 in allen anderen Fällen. Die Anzahl der zu bildenden Variablen ergibt sich dabei aus der Differenz „Anzahl der Kategorien – 1“. Liegt metrisches Skalenniveau der Eigenschaften vor, werden in der Regel Distanzmaße zur Interpretation der Ähnlichkeit von Objekten herangezogen. Zwei Objekte sind sich ähnlich, wenn ihre Distanz klein ist. Bei einem Wert von 0 sind die Objekte mit Blick auf die einbezogenen Merkmale identisch. Eines der verbreiteten Maße stellt die Minkowski-Metrik dar. Minkowski-Metrik:
d k,l =
r
J
r
¦x
kj
− x lj
j=1
wobei:
dk,l xkj, xlj r
die Distanz der Objekte k und l angibt, den Wert der Variablen j bei Objekt k, l bezeichnet und als Minkowski-Konstante einen Wert ≥ 1 annimmt.
Wird für r der Wert 1 verwendet, erhält man die so genannte City-Block-Metrik, bei einer Quadrierung (r=2) erhält man die Euklidische Distanz zwischen den Objekten. Das erste Verfahren wird ebenfalls in der Netzwerkanalyse angewandt und vor allem bei der Cluste-
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rung von Standorten verwendet. Unter Verwendung der Euklidischen Distanz wird den größeren Distanzen eine höhere Bedeutung zugewiesen als den kleineren Distanzen. Das zweite Maß mit größerer Verbreitung für die Interpretation von Distanzen für metrische Variablen ist der Q-Korrelationskoeffizient. J
rk , l =
¦(x J
¦(x j =1
wobei:
jk
− xk ) ⋅ ( x jl − xl )
j =1
J
jk
− xk ) 2 ⋅ ¦ ( x jl − xl ) 2 j =1
x jk
die Ausprägung der Eigenschaft j bei Objekt k (bzw. l) und
xk
den Durchschnitt der Eigenschaften bei Objekt k (bzw. l) beschreibt.
Etwas problematischer ist der Fall dann, wenn die Eigenschaften, die zum Vergleich der Objekte herangezogen werden sollen, eine gemischte Skalenstruktur aufweisen. In diesen Fällen können nach dem Skalenniveau getrennte Maße berechnet und dann mittlere Werte verwendet werden. Oder aber die metrischen Skalen werden in kategoriale umgewandelt. Im letzteren Fall ist ein Informationsverlust mit dem expliziten Vorgehen verbunden. Auf der Basis der Ähnlichkeitswerte für jeweils zwei Objekte in Form einer Distanzmatrix werden danach durch monothetische oder polythetische Algorithmen Gruppen von jeweils ähnlichen Objekten gebildet. Bei monothetischen Verfahren wird jeweils nur eine Variable für die Zusammenführung herangezogen, bei polythetischen Verfahren werden Variablenbündel einbezogen. Letzteres ist sozialwissenschaftlichen Fragen angemessen. Aus der Vielzahl der Möglichkeiten sollen hier partitionierende und hierarchische Vorgehensweisen zur Clustergenerierung vorgestellt werden. Mit partitionierenden Verfahren werden die einzelnen Objekte einer gegebenen Gruppierung aus einer Startpartition so lange zuund weggeordnet bis eine optimale Lösung erreicht ist. Bei den hierarchischen Verfahren kann eine Zuordnung der Objekte im Laufe der Gruppierung nicht mehr aufgehoben werden. Hier kann entweder von den Einzelobjekten ausgehend, eine Zusammenfassung ähnlicher Objekte zu Gruppen erfolgen (agglomerative Algorithmen) oder anders herum können von einer Gesamtheit ausgehend, unterschiedliche Gruppen gebildet (divisive Algorithmen) werden. Für den Zusammenschluss unterschiedlicher Objekte im Rahmen der agglomerativen Algorithmen können unterschiedliche Vorgehensweisen gewählt werden. Mit dem SingleLinkage-Verfahren werden zuerst die Objekte zusammengefasst, die die kleinsten Distanzen aufweisen. Dieser Vorgang wiederholt sich so lange, bis alle Objekte einer Gruppe zugewiesen sind. Das Complete-Linkage-Verfahren verwendet im Zuge der Fusionierung dagegen die größten Distanzen und generiert eher kleine Gruppen. Die größte Verbreitung unter den Fusionierungsalgorithmen hat das Ward-Verfahren erlangt. Hierbei werden die Objekte zu Gruppen vereinigt, die ein vorgegebenes Heterogenitätsmaß am wenigstens vergrößern. Dieses Maß kann z.B. die Fehlerquadratsumme sein. Nach der Fusionierung steht vor dem Forscher die Aufgabe, die Zahl der Cluster zu bestimmen, die als Lösung angesehen werden können. Dabei kann er sich an der Verände-
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rung des Heterogenitätsmaßes in Abhängigkeit von der Clusterzahl orientieren. Diese Veränderung kann im Rahmen eines Liniendiagramms das so genannte Elbow-Kriterium verdeutlichen, das die Zahl der zu verwendenden Cluster an der Stelle beschreibt, an der ein deutlicher Knick in der Kurve des Heterogenitätsmaßes zu verzeichnen ist. Die statistischen Ergebnisse der Clusteranalyse sind abschließend inhaltlich zu beschreiben. Dabei wird auf die Merkmalsausprägung der einbezogenen Variablen, die das Cluster typischerweise beschreiben, zurück gegriffen.
6.3 Biographieforschung Die Grundlage für lebensverlaufsbezogene Fragestellungen sind kontinuierliche Daten zu einer Person, die entweder im Rahmen von wiederholten Befragungen oder aber in biographischen Interviews erhoben werden. Zur Analyse quantitativer Daten kann auf die Ereignisdatenanalyse zurückgegriffen werden. Ereignisdatenanalysen rücken die Abfolge sozialer Ereignisse im Zeitverlauf und die Intervalle zwischen diesen Ereignissen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Zeitdauer zwischen zwei Ereignissen wird als Episode bezeichnet. So können im Rahmen der Arbeitsbiographie eines Menschen Phasen der Arbeitslosigkeit abgelöst werden von Beschäftigungszeiträumen. Durch den Einbezug der Zeitdauer einer Episode sind Ereignisdaten besser zur Prozessanalyse geeignet als Querschnittsdaten oder sogar Panelinformationen, die letztlich nur Ereignisse zu bestimmten Zeitpunkten betrachten. Sind abhängige und unabhängige Variablen jedoch zeitsensibel, spielt der Zeitpunkt der Datenerhebung für Querschnitts- oder Paneldaten eine wichtige Rolle. Wird beispielsweise im Sozio-Oekonomischen Panel (SOEP) jährlich gefragt, ob eine Person arbeitslos gemeldet ist, so kann die gleichbleibende Beantwortung der Frage bedeuten, dass kein Wechsel zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung stattgefunden hat oder aber auch, dass im Jahr zwischen den Befragungen mehrere Wechsel stattgefunden haben und zum konkreten Befragungszeitpunkt wieder der ursprüngliche Zustand besteht.13 Das heißt, Ereignisdatenanalysen erlauben die angemessenere Darstellung von Wandel und integrieren im Analyseansatz die Idee, dass das Auftreten von Ereignissen im Zeitverlauf variiert. Soziologisch relevante, typischerweise untersuchte Ereignisse im Lebensverlauf der Menschen sind Arbeitslosigkeits- und Beschäftigungsphasen, Familienveränderungen wie Geburt von Kindern, Eheschließungen und Scheidungen, Schulbiographien und Auszug aus dem Elternhaus sowie Tod. Das Aufeinanderfolgen von Ereignissen über die Zeit beschreibt einen Prozess. Hierbei sind determinierte von stochastischen Prozessen zu unterscheiden. Determinierte Prozesse beschreiben eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Stochastische Prozesse beschreiben Wahrscheinlichkeiten eines Zustandes als Folge eines anderen Zustands. Das heißt, die Wirkung kann, muss aber nicht eintreten. Stochastische Prozesse können mit Coleman (1991: 6) durch folgende Merkmale beschrieben werden: 13
Deshalb werden im SOEP die Personeninformationen durch biographische Informationen ergänzt.
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Manuela Pötschke Wechsel erfolgen nur zwischen diskreten Zuständen. Die zugrundeliegende Zeitachse ist kontinuierlich nicht diskret, das heißt, dass Veränderungen zwischen Zuständen zu jedem Zeitpunkt erfolgen können. Die Zustandswechsel können reversibel (Arbeitslosigkeit) oder irreversibel (Tod) sein. Im Zentrum der Ereignisdatenanalyse steht die Bestimmung der Faktoren, die diesen Prozess beeinflussen. In bestimmten Fällen ist es möglich, dass sich Prozesse nicht vollständig beobachten lassen, wenn z.B. Zeiträume noch andauern.
Die Analyse biographischer Interviews kann darüber hinaus mit interpretativen Verfahren erfolgen, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll. Darüber hinaus stellen sie ein Anwendungsfeld der Inhaltsanalyse dar (vgl. Abschnitt 3.3).
6.4 Diskursanalyse Diskursanalysen gehen der Frage der Reproduktion von Sinn durch Sprache nach und folgen damit sehr häufig einem konstruktivistischen Paradigma. Sie können als Verfahren beschrieben werden, die sich mit dem tatsächlichen Gebrauch von Sprache und anderen Symbolen beschäftigen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Interpretationen zeit- und kontextabhängig ausfallen, aber auf rekonstruierbaren Regeln des Deutens und Handelns basieren. (Keller 2004: 8) Die Basis für Diskursanalysen bilden in aller Regel Texte, die entweder ohne Bezug zum Analysevorhaben entstanden sind (nichtreaktiv, zum Beispiel in Form von Zeitungsartikeln, Büchern) oder aber mit dem Ziel der Analyse erhoben werden (zum Beispiel in Form von Experteninterviews, biographischen Interviews oder narrativen Interviews). Diskursanalysen können als Entwicklung aus der Kommunikationsforschung heraus verstanden werden, die im Kern der Frage nachgehen, wer, mit welchen Mitteln und an welchen institutionellen Orten wie mit wem kommuniziert. Dabei stehen nicht nur Individuen im Fokus der Betrachtung, sondern auch kollektive Akteure. Der Subjektposition als verfügbarer Sprecherrolle kommt dabei besondere Bedeutung zu. In Verbindung mit Rollentheorien der politischen Administration beispielsweise kann dieser Ansatz fruchtbare Erträge zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen liefern. Klimawandel als gesellschaftliches Problem wurde erst dann auch angemessen wahrgenommen, als es in spezifischer Weise von relevanten Sprechern als Thema definiert und kommuniziert wurde. Expertise in den Naturwissenschaften reichte dafür nicht aus. Der Untersuchungsgegenstand der Diskursanalyse wird durch die konkreten Äußerungen selber gebildet. Das zugrunde liegende interpretative Paradigma dieses Ansatzes führt zu der Auffassung, dass Diskurse die Wirklichkeit konstituieren, indem sie Deutungszusammenhänge produzieren und prozessieren (Keller 2004). Die Institutionalisierung der Diskurse erfolgt in Gestalt von Dispositiven, die Macht im Sinne von Verbindlichkeit beinhalten oder entfalten können. Die Analyse der Texte erfolgt in zwei Schritten: einer Einordnung des Textes in den kontextuellen Rahmen und einer Feinanalyse der Daten. Die kontextuelle Einordnung er-
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folgt mit Blick auf drei Dimensionen: die Entstehungszeit des Dokumentes, den institutionell-organisatorischen Kontext und die Situation seiner Entstehung. In der Feinanalyse der Daten wird dann auf Deutungsmuster zurückgegriffen, die den typischen Sinn einer Aussage in seinem zeit-räumlichen Kontext darstellen. Zentraler Bestandteil so genannter qualitativer Analysestrategien ist darüber hinaus die Selbstreflexion der Wissenserzeugung durch die beteiligten Forscher im Analyseprozess. Diese Prozesse führen zu einer permanenten Infragestellung und Begründungsnotwendigkeit der gefunden Ergebnisse, wodurch die Erkenntnisse einer gewissen Relativierung ausgesetzt sind. Kritisch zu bewerten sind an entsprechenden Analysen die fehlende Vergleichbarkeit von Ergebnissen und damit die fehlende Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse, die Abhängigkeit der Interpretation vom Forscher und die fehlende Erklärung von Phänomen durch den beschreibenden Charakter des Verfahrens.
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Das Problem fehlender Fälle
Ein Sachverhalt, der unabhängig vom konkreten Analyseverfahren in allen statistischen Untersuchungen eine Rolle spielt, ist die Frage nach den fehlenden Fällen. Grundsätzlich lassen sich hierbei Unit Nonresponse und Item Nonresponse unterscheiden. Unit Nonresponse beschreibt die Nichtteilnahme einer in die Stichprobe gezogenen Person an der gesamten Datenerhebung. Mittlerweile liegen zahlreiche Studien zur Teilnahmebereitschaft und den Möglichkeiten ihrer Erhöhung vor (Engel et al. 2004). In der Datenanalyse wird als Korrekturmittel häufig eine Gewichtung vorgeschlagen. Unter Item Nonresponse wird dagegen verstanden, wenn eine Person zwar an der Erhebung, zum Beispiel einer Befragung, teilnimmt, dann aber einzelne Fragen nicht beantwortet. Dafür kann es unterschiedliche Gründe geben. Zum Beispiel ist die Frage nach dem persönlichen Einkommen als heikle Frage einzustufen, die nur ungern beantwortet wird, weil die Menschen glauben, dass das Einkommen niemanden etwas angeht. Oder Fragen werden von den Befragten übersehen, sie empfinden sie als schwierig zu beantworten und wollen keine Anstrengung unternehmen oder keinen Fehler machen. Für die Datenanalyse sind Item Nonresponses unproblematisch, solange die fehlenden Fälle zufällig auftreten (CMAR: Completely Missing at Random). In diesen Fällen können bei kleinem Ausmaß die entsprechenden Fälle aus den Analysen ausgeschlossen oder aber verschiedene Ersetzungsprozeduren vorgenommen werden. Beim Ausschluss von Fälle ist jedoch zu beachten, dass dadurch die Datenbasis reduziert wird (listwise deletion: ein Fall wird ausgeschlossen, sobald er in einer Variable einen fehlenden Wert hat) oder dass die Datengrundlage unterschiedlich groß ausfällt (pairwise deletion: die Fälle werden für die jeweilige Teilanalyse ausgeschlossen, sobald sie in einer der beteiligten Variablen einen fehlenden Wert aufweisen). Auch für den Fall, dass die fehlenden Fälle von dritten Variablen abhängen, gibt es Ersetzungsmöglichkeiten (MAR: Missing at Random). Zum Beispiel könnte in einer empirischen Erhebung beobachtet werden, dass jüngere Personen häufiger nicht auf die Frage nach dem politischen Interesse geantwortet haben als ältere Personen. Kann ein solches
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Erklärungsmodell für das Fehlen der Werte plausibel präsentiert werden, können für die Personen, die nicht geantwortet haben, die Schätzwerte aus einer Regression als Interessenswerte eingetragen werden. Lediglich für den Fall, dass die mangelnden Angaben eine Funktion der konkreten Frage sind (MNAR: Missing Not at Random), muss von Verzerrungen ausgegangen werden, die die Analyseergebnisse fragwürdig erscheinen lassen und die nicht ohne weiteres gelöst werden können. Ein typisches Beispiel dafür ist die Beobachtung, dass die Prognose von Wahlerfolgen kleiner Parteien aus Umfragedaten nur unzureichend gelingt. Das liegt daran, dass Personen mit einer Wahlpräferenz für z.B. rechte Parteien seltener die entsprechende Frage beantworten als Personen, die eine der großen Volksparteien präferieren. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit der Beantwortung dieser Frage ist eine Funktion der Antwort selber.14 Klassischerweise werden als Reaktion auf fehlende Werte entweder die entsprechenden Fälle aus den Analysen ausgeschlossen oder aber über spezielle Einsetzungs- bzw. Imputationsverfahren Werte an ihrer Stelle generiert. Komplexere Imputationsverfahren werden in modell- und datenbasierte Verfahren unterschieden. Die Entscheidung für ein spezifisches Umgehen mit fehlenden Werten hängt davon ab, welche Annahmen über die Art und den Umfang der Ergebnisverzerrungen vorliegen.
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Fazit
In den vorangegangenen Abschnitten ist deutlich geworden, dass zur Interpretation empirischer Beobachtungen vielfältige Verfahren zur Verfügung stehen. Die Auswahl einer geeigneten Verfahrensgruppe richtet sich zuerst nach der inhaltlichen Fragestellung der Forschung. In Abhängigkeit vom Skalenniveau der einbezogenen Variablen können danach konkrete Verfahren ausgewählt werden, die angemessene Schätzungen erlauben. Dabei steht das Ziel im Mittelpunkt, Aussagen über die Grundgesamtheit auf der Basis von unverzerrten Stichprobenergebnissen formulieren zu können, die sozialwissenschaftliche Theorien testen oder aber weiter entwickeln. Diese Übersicht soll die Entscheidung für ein bestimmtes Verfahren erleichtern. Für die konkrete Anwendung und die ausführliche Darstellung von Interpretationen und Algorithmen muss auf weiterführende Literatur zurückgegriffen werden.
Empfehlungen für weiterführende Literatur Backhaus, Klaus/Erichson, Bernd/Plinke, Wulff, 2006: Multivariate Analysemethoden, Berlin: Springer. Behnke, Joachim/Gschwend, Thomas/Schindler, Delia/Schnapp, Kai-Uwe (Hrsg.) 2006: Methoden der Politikwissenschaft. Neuere qualitative und quantitative Analyseverfahren, Baden-Baden: Nomos.
14 Zu den Mustern fehlender Werte und Möglichkeiten der Bearbeitung vgl. Donald B. Rubin und Roderick J.A. Little (1987).
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Testfragen: 1. 2.
Wodurch sind die unterschiedlichen Skalenniveaus charakterisiert. Welche Maße können zur Beschreibung der Verteilung unterschiedlicher Variablen herangezogen werden? 3. Beschreiben Sie ein Maß für die Güte eines linearen Regressionsmodells. 4. Beschreiben Sie das Prinzip der logistischen Regression. 5. Warum sollte bei einer dichotomen abhängigen Variable eine logistische Regression der linearen Regression vorgezogen werden? 6. Beschreiben Sie die Grundannahmen der linearen Regression. 7. Mit welcher Zielstellung führen Sie Clusteranalysen durch und mit welchem Ziel Faktorenanalysen? 8. Was sind latente Konstrukte? 9. Beschreiben Sie ein Strukturgleichungsmodell, um politische Informiertheit zu erklären. 10. Mit welchem Ziel führen Sie eine Inhaltsanalyse durch?
Vergleichende Politische Soziologie: Quantitative Analyse- oder qualitative Fallstudiendesigns? Vergleichende Politische Soziologie
Bernhard Ebbinghaus
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Einführung
Der Vergleich gilt als „die“ sozialwissenschaftliche Methode, die besonders der vergleichende Politikwissenschaft (comparative politics) ihre Bestimmung gibt. Bereits bei den Klassikern der Politischen Soziologie, Tocqueville, Marx und Weber, nimmt der Vergleich unterschiedlicher politischer Regime, Gesellschaftssysteme und Kulturkreise eine wichtige Rolle ein. Meilensteine der Politischen Soziologie wie Civic Culture von Almond und Verba (1963) untersuchten die politische Einstellungen zur Demokratie in fünf Ländern, noch umfassender verglichen Party System and Voter Alignments von Lipset und Rokkan (1967b) die politischen Spaltungsstrukturen Westeuropas und The Silent Revolution von Inglehart (1977) den Wertewandel in westlichen Gesellschaften. Die Politische Soziologie widmet sich der Beziehung zwischen Gesellschaft und Politik – den gesellschaftlichen Grundlagen politischen Handelns und staatlicher Herrschaft sowie deren Folgen für die Gesellschaft. Als „siamesischer Zwilling“ mit soziologischem und politikwissenschaftlichem Kopf hat das Fach bereits früh den internationalen und interdisziplinären Austausch gesucht.1 In der deutschen Politischen Soziologie haben sich Politikwissenschaft (DVPW) und Soziologie (DGS) eher auseinander entwickelt. Während die Politikwissenschaft zunehmend mikro-orientierte empirische Wahl-, Elite- und Parteienforschung Deutschlands im internationalen Vergleich betreibt, streben die Soziologen eine neue „Soziologie der Politik“ an, die dem „etatistischen Verständnis der Politikwissenschaft zu entgehen“ sucht, dessen postmoderne Themenränder aber auszufransen drohten (Nassehi/Schroer 2003: 11). In der englischsprachigen Political Sociology dominiert nach wie vor die makrohistorisch vergleichende Analyse von Nationalstaat und Zivilgesellschaft unter der Herausforderung von Globalisierung (Janoski et al. 2005; Kate Nash/Scott 2001), die politikwissenschaftliche Politische Soziologie hat sich eher in ihre Teildisziplinen differenziert und spezialisiert, die teilweise unter dem Begriff „political behavior“ (Goodin/ Klingemann 1996) subsumiert werden. Wozu sollen wir politische Prozesse vergleichen? Da die Politische Soziologie die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Politik untersucht, kommt sie nicht ohne den Vergleich aus. Dogan and Pelassy raten in How to Compare Nations (1990) „Comparing to escape from Ethnocentrism“ – nur der Blick über den Tellerrand hilft, die eigene Gesell1 Das Committee on Political Sociology ist eines der ältesten Forschernetzwerke, es ist zudem eine Kooperation der Politikwissenschaften (International Political Science Association, RC 6) und der Soziologie (International Sociological Association, RC 18).
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schaft besser zu verstehen. Der interkulturelle Vergleich unterschiedlicher politischer Systeme erlaubt es, die institutionellen und kulturellen Besonderheiten hervorzuheben und Gemeinsamkeiten politischer Prozesse zu entdecken. Auch für die Analyse der Grenzen des internationalen Vergleichs bedarf es der komparativen Methode: Es gilt im Zeitalter der Globalisierung auch zu untersuchen, inwiefern Gesellschaften durch allgemeine exogene Prozesse beeinflusst werden und inwieweit die Politik von anderen Ländern lernen kann. Der Vergleich wird auch als Methode der Überprüfung von Hypothesen, als quasiExperiment, angewendet: „comparisons control“ – der gezielte Vergleich kann zur Kontrolle von Erklärungsfaktoren dienen (Sartori 1994: 15). Mit der Ausnahme der politischen Psychologie verfügt die Politische Soziologie nicht über das Experiment, in dem durch die Manipulation der Versuchsanordnung und die zufällige Verteilung der Probanten auf Experimental- und Kontrollgruppe Kausalität unmittelbar im Labor untersucht werden kann. Stattdessen ist sie auf die Beobachtung realer politischer Vorgänge angewiesen, die sie in Fallstudien nachzeichnen, in kontrollierten Vergleichen ausgewählter Fälle systematisch analysieren oder bei Massenphänomenen mit Hilfe der Statistik auswerten kann. Die komparative Methode ist nicht nur auf den internationalen Vergleich beschränkt, sie ist auch bei einer Einzelfallstudie und bei der statistischen Analyse von Datensätzen von Bedeutung. Die unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen bei der Auswahl der Fälle, den verwendeten Konzepten und den Strategien des Vergleichs stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages. Dabei kann hier nur auf einige grundsätzliche Aspekte eingegangen werden, nicht auf die in den letzten Jahren angewachsene umfangreiche Literatur zur vergleichenden Methode.2
2
Forschungsprozess
Der Forschungsprozess kann idealtypisch in mindesten sechs Schritte eingeteilt werden (siehe Abbildung 1), die von der Forschungsfragestellung bis zu den Forschungsergebnissen reichen. Während die externe Einbettung des Projektes in den Kontext der bisherigen Forschungsansätze und -ergebnisse am Anfang und Ende des Projektes bedeutend sind, umfassen die Zwischenschritte der eigenständigen Forschungsarbeit eher interne Analyseschritte, die die interne Validität verbessern sollen (Janoski/Hicks 1994). Vor allem die Zwischenschritte werden nicht immer nacheinander, sondern manchmal auch nebeneinander abgearbeitet bzw. gedanklich bereits aufeinander bezogen. Als ersten Einstieg gilt es, die Forschungsfrage und Zielsetzung im Kontext des Forschungsgebietes zu verorten und zu begründen. Zweitens, soll danach das Forschungsdesign entsprechend der Forschungsfrage und Zielsetzung unter theoretischen und forschungspragmatischen Erwägungen konzipiert werden: die Vergleichsstrategie, die Untersuchungseinheiten und der Zeithorizont müssen bestimmt werden. Drittens, werden anhand von Primär- oder Sekundärdatenerhebungen
Als deutsche Einführung siehe Jahn (2006) bzw. neuere Sammelbände (Kropp/Minkenberg 2005; Pickel et al. 2003). Auch die oft leidenschaftlich geführte anglo-amerikanische Debatte zwischen quantitativen und qualitiativen Ansätzen (Brady/Collier 2004; King et al. 1994) wird hier nicht näher ausgeführt (vgl. Ebbinghaus 2005).
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die empirischen Grundlagen qualitativer und/oder quantitativer Informationen entsprechend der entwickelten Hypothesen und Messkonzepte erhoben und für die weitere Analyse systematisiert. Viertens, werden diese Daten ausgewertet mit Hilfe von qualitativen bzw. quantitativen Analyseverfahren (dies reicht von der historischen Fallstudie bis zur Mikrozensusanalyse). Diese Ergebnisse werden in einem fünften Schritt zur Überarbeitung des Theorierahmens verwendet und in eventuell notwendigen weiteren Schleifen erfolgt eine Verbesserung des Forschungsdesigns, der Datenerhebung und Datenanalyse. Abschließend, werden wiederum in einem externen Analyseschritt die gewonnenen eigenen empirischen Ergebnisse und theoriegeleiteten Erkenntnisse mit denen der Forschungsliteratur abgeglichen und ein Ausblick auf weiterführende Forschung erwogen bzw. die Generalisierbarkeit der Erkenntnisse durch eine erweiterte Analyse von Fällen angewendet.
2.1 Fragestellung Am Anfang jedes Forschungsvorhabens sollte die Fragestellung und Zielsetzung des Projektes im Kontext des bisherigen Forschungstandes herausgearbeitet werden. Die Fragestellung sollte einerseits aus der Analyse der bisherigen Forschung als nicht trivial und weiterführend begründet werden, anderseits sollte sie auch durchführbar und ertragreich sein. Welche theoretischen und methodischen Ansätze sind für die Untersuchung relevant? Worin besteht eine Erkenntnislücke, die den Aufwand eines Forschungsprojektes rechtfertigt? Die Fragestellung ergibt sich in der Regel aus dem Vorwissen und den im jeweiligen Fachgebiet noch offenen Fragen. In der Sozialforschung, insbesondere beim internationalen Vergleich, sollte auch die „Abduktion“ (Pierce) angewandt werden, d.h. der Forscher versucht, das eventuell voreingenommene Vorwissen im Prozess der Untersuchung selbstkritisch zu hinterfragen (Sturm 2006). Gemäß der wissenschaftlichen Maxime des „on the shoulder of giants“ (Merton 1965) sollte ein Forschungsvorhaben auf die bereits gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse aufbauen und versuchen, über diese hinauszugehen. Als Ausgangsbasis dient deshalb eine gründliche Sichtung der vorhandenen theoretischen Ansätze, angemessenen Methoden und empirischen Ergebnisse des Forschungsgebiets. Ein solcher „state-of-the-art“ Überblick steht in der Regel am Anfang eines Forschungsvorhabens und nimmt auch in Forschungsanträgen (z.B. DFG Leitlinie: „2.1 Stand der Forschung“) eine gewichtige Rolle ein. Dieser Literaturüberblick soll der Verortung des Vorhabens im Forschungsgebiet dienen und die Notwendigkeit des Projektes aufgrund des bisherigen Forschungsstandes begründen. Es sollte also vermieden werden bereits Bekanntes nur zu replizieren oder gar als neu auszugeben, stattdessen sollte der eigene – über die bisherige Forschung hinausgehende – Beitrag der Untersuchung herausgesellt werden.
2.2 Zielsetzung Die wissenschaftliche Zielsetzung eines Forschungsvorhabens kann vielfältig sein: die Beschreibung von Sachverhalten; die Exploration möglicher Erklärungen; die empirische Über-
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prüfung einer gegebenen Theorie; die Prognose zukünftiger Entwicklungen; die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Erreichung bestimmter gesellschaftlicher Ziele; oder die Evaluation politischer Maßnahmen. Am Beispiel der Wahlforschung lässt sich dies verdeutlichen. Die statistische Analyse einer Wählerumfrage kann zum Beispiel Aufschluss geben über die religiöse Orientierung von Wählern der Christdemokratischen Partei: Wie hoch ist der Anteil unter Katholiken im Vergleich zu nicht konfessionell gebundenen? Die Exploration könnte dazu dienen, Erklärungen zu suchen, die den höheren Anteil unter Katholiken erklären können, z. B. durch Analyse weiterer potenzieller Variablen. Eine Wählerbefragung könnte auch als Überprüfung der „Freezing“-These von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan (1967a) dienen: Erklärt die Spaltungslinie Kirche-Staat noch heute das Wahlverhalten? Eine politische Partei könnte z.B. eine Prognose der zukünftigen Wahlchancen anhand von Umfragtrends in Auftrag geben. Schließlich könnten Forscher die Folgen einer geplanten bzw. erfolgten Änderung des Wahlsystems, wie sie beim Wechsel zur „2. Republik“ in Italien in den 1990er Jahren geschah, evaluieren. Entsprechend der sehr unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Grundorientierungen kann der politikwissenschaftliche Vergleich entweder zur kontrastierenden Beschreibung und zum kontextbezogenen Verständnis der Besonderheit eines Falles im Spiegel der anderen verwendet werden (ideographisch) oder aber zur theoriegeleiteten HypothesenGenerierung und -Überprüfung eines allgemeingültigen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung (nomothetisch). Auch im letzteren Fall der empirisch-analytischen Vorgehensweise gibt es zwei unterschiedliche Kausalperspektiven, die das Erkenntnisinteresse bestimmen: So kann der Forschende rückblickend Erklärungen für ein konkretes Phänomen („Was erklärt die Varianz auf Y“) suchen oder vorwärtsblickend die Überprüfung eines durch eine Theorie vorgegebenen Mechanismus („Wozu führt X?“) anstreben (Ganghof 2005). Bei ersterer, y-zentrierter Vorgehensweise würde das substantielle Interesse (Erklärung der Parteinkonkurrenz) vor der Auswahl der Erklärungsansätze und der möglichen Methodik stehen, bei zweiter, xzentrierter Forschungsstrategie würde die Ursache-Wirkungs-Hypothese einer Theorie (z.B. die Medianwähler-These) und ein hierfür geeignete Forschungsmethodik vor der Wahl des Untersuchungsgegenstandes (die Annäherung von Parteien im Wahlkampf um die Position des Medianwählers) stehen. In der vergleichenden Politischen Soziologie, vor allem in den eher makro-historischen Ansätzen dominiert bisher eher die ideographische und rückblickende y-zentrierte Perspektive, in den eher quantitativen Individualdatenanalysen und (der experimentellen politischen Psychologie) die x-zentrierte Perspektive.
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Die Vergleichstrategie
Ein wesentlicher Schritt ist die Wahl und Begründung der Vergleichsstrategie. Wozu dient der Vergleich? Sollen Gemeinsamkeiten oder Unterschiede hervorgehoben werden? Steht das Verstehen des Außergewöhnlichen oder die Auffindung allgemeiner Regelmäßigkeiten im Vordergrund der Untersuchung? Die Wahl des zu erklärenden Phänomens und die ontologische Perspektive bedingen entsprechende Vergleichsstrategien (Tilly 1984):
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Bernhard Ebbinghaus Wenn es um die Einmaligkeit eines Phänomens geht, dann wird in der Regel ein „individualisierender Vergleich“ (individualizing comparison) gewählt (Tilly 1984), der entweder in einer Einzelfallstudie das Besondere beschreibend herausarbeitet oder aber in einem kontrastierenden Vergleich mit anderen Fällen hervorhebt. Reinhard Bendix beschreibt in Kings or People (1978) die spezifischen Wege von monarchischen zu demokratischen Herrschaftssystemen in der englischen, französischen, deutschen, russischen und japanischen Geschichte. Die Vorgehensweise ist eher ideographisch, sie versucht jeden Fall in seiner Ganzheit holistisch zu verstehen. Zum Verständnis von Unterschiedlichkeit wird hingegen beides, eine ideographische Kenntnis der Besonderheit eines Falles im Vergleich zu anderen, aber auch eine allgemeine nomothetische Erklärung der Unterschiede, miteinander verbunden. Social Origins of Dictatorship and Democracy von Barrington Moore (1966) erklärt die unterschiedlichen Wege zu Demokratie, Faschismus oder Sozialismus von westlichen und asiatischen Nationalstaaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Folge der Koalitionsbildungen zwischen Bourgeoisie und Agrarinteressen. Charles Tilly (1984) bezeichnet diese Strategie als „variation finding“ (systematischer Vergleich). Schließlich gibt es auch Vergleiche, die dazu dienen, nicht die Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten aufzudecken. Ein solcher generalisierende Vergleich, nach Tilly (1984) universalizing comparison, zielt darauf ab, entweder die gleichen Effekte als allgemeine Gesetzmäßigkeit zu erklären oder aber bei graduellen Unterschieden diese in einer Korrelationsanalyse als Folge eines linearen Zusammenhangs der unabhängigen Variablen nachzuweisen. Für die Aufdeckung von Regelmäßigkeiten ist die Fallorientierte intensive Analyse wenig zielführend. Stattdessen wird versucht, Regelmäßigkeiten für möglichst viele Fälle zu belegen. Ein Beispiel hierfür ist Lipsets These in Political Man (1960), dass Demokratie und wirtschaftliches Niveau zusammenhängen.
Jede dieser drei Vergleichstrategien, der Suche nach Einmaligkeit, Unterschiedlichkeit oder Gleichförmigkeit, kann mit unterschiedlichen Forschungsmethoden bearbeitet werden. Vergleichende Forschung kann mehr oder weniger Fall-orientierte intensive Analyse betreiben, bzw. mehr oder weniger Variablen-orientierte extensive Analyse. Ersteres wird meist mit der qualitativen und Letzteres mit der quantitativen Forschungstradition verbunden (Ragin 1987). Die Fallstudie, als intensive Fall-orientierte Forschungsmethode untersucht den Einzelfall als „Ganzes“. Sie kann dabei diesen als Sonderfall hervorheben, seine Unterschiedlichkeit erklären zu suchen oder den Fall als Paradebeispiel für ein allgemeines Phänomen beschreiben. In der Regel überwiegt eher die ideographische Vorgehensweise mit reichhaltiger holistischer Analyse von Prozessinformationen. Der logische Vergleich kann die Ergebnisse der intensiven, ideographischen Fallstudien systematisch über mehrere wenige Fälle hinweg auf ihre logische Konsistenz von Bedingungen und Effekten analysieren. Der Vergleich kann dazu dienen, die Einmaligkeit eines Falls im Vergleich zu anderen offen zu legen, die Unterschiede zwischen Fällen anhand unterschiedlicher Konfigurationen zu erklären oder aber einen allgemeingültigen Zusammenhang als notwendige Voraussetzung für ein Phänomen für die ausgewählten Fälle zu
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belegen. Der logische Vergleich, kann beides, intensive ideographische Erkenntisse und extensive logische Analyse in nomothetischer Absicht verbinden. Die statistische Analyse einer großen Anzahl von Fällen hingegen ist vor allem auf die extensive Analyse mit nomothetischer Zielsetzung angelegt. Sie versucht in der Regel, einen allgemeinen Zusammenhang für den Durchschnittsfall zu belegen, Unterschiede in den Ergebnissen sind aufgrund der unterschiedlichen Ausgangsvariablen zu erklären und Einmaligkeit wird nur als Abweichung (Outlier) angesehen. Tabelle 1: Strategien des Vergleichs Fallstudie (N=1) Einmaligkeit Unterschiedlichkeit Gleichförmigkeit
*** ** * intensive Analyse Fall-orientiert interne Validität ideographisch
Logischer Vergleich (kleines N) * *** **
Statistische Analyse (großes N) * ** *** extensive Analyse Variablen-orientiert externe Validität nomothethisch
3.1 Auswahl der Untersuchungseinheiten Was wird in der Politischen Soziologie als Fall verglichen? Im internationalen Vergleich werden als Untersuchungseinheit (unit of analysis) Regierungen oder andere staatliche Akteure, die politischen Systeme oder gar das Gesellschaftssystem (z.B. politische Kultur) als Analyseebene betrachtet. Neben der nationalen Ebene sind auch die subnationale Ebene, z.B. regionale Wahlen, oder auch die supranationale Ebene, z.B. Europaparlamentswahlen, mögliche Analyseebenen. Die Untersuchungseinheiten werden wir im Folgenden als Fälle (cases) bezeichnen, da sie als Kontext und Konfiguration für die Kausalprozesse betrachtet werden. Eine wichtige Entscheidung ist die Definition der Grundmenge der Fälle und deren Auswahl. In der englischen Methodendiskussion wird oft nach der Zahl der Fälle unterschieden, d.h. ob nur ein Fall (case study) oder mehrere (meist gezielt) ausgewählte Fälle (smallN), oder gar viele (mehr oder weniger zufällig) ausgewählte Fälle (large-N) zur Analyse herangezogen werden. Die Anzahl der Fälle muss jedoch mit der Anzahl der Beobachtungseinheiten (units of observation) nicht übereinstimmen, so können mehrere zeitlich oder räumlich unterscheidbare Beobachtungspunkte als Evidenz für Aussagen auf der Fallebene dienen. Ausschlaggebend für die Anzahl der Fälle ist die analytische Ebene, auf der der Vergleich gezogen wird. So könnte eine vergleichende Analyse „nur“ die nationale Stimm- und Sitzverteilung untersuchen, eine andere jedoch auch die jeweiligen regionalen Wahlergebnisse in Form einer ökologischen (räumlichen) Analyse, und eine weitere Analyse von Umfragedaten könnte die individuellen Wahlabsichten (z.B. Eurobarometer) untersuchen. Die Beobachtungen auf der subnationalen Ebene würden in solchen ökologischen Analysen oder Individualdatenanalysen weit größer sein als die Anzahl der Beobachtungen der landesweiten Ergebnisse.
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Für den internationalen Vergleich bleibt jedoch die Anzahl der Untersuchungseinheiten gleich der Zahl der nationalen Wahlsysteme. Auch bei einer Mehrebenenanalyse mit nationalen, regionalen und individuellen Wahldaten bleibt der Freiheitsgrad für die oberste (nationale) Analyseebene der gleiche, egal wie viele Beobachtungen und Ebenen darunter einbezogen werden. In der Regel werden bei Studien mit kleiner Fallzahl diese Fälle bewusst aufgrund der Vergleichsstrategie gewählt. Die Auswahl dient hier der Kontrolle bestimmter Kontextbedingungen entsprechend der Vergleichen Methode (siehe unten), sie sollte aufgrund bestimmter vorab bekannter, theoretisch relevanter Eigenschaften getroffen werden. Pragmatische Erwägungen wie vorhandene Vorkenntnisse (bspw. Sprachfähigkeiten, die für Feldstudien und Originalquellen wichtig sind) oder Zugang zu Informationen (z.B. Verfügbarkeit von Datensätzen) können jedoch die Auswahlmöglichkeiten einschränken. Hier besteht dann die Gefahr einer Auswahlverzerrung (bias), wenn über die einseitig ausgewählten Fälle hinaus auf allgemeine Zusammenhänge geschlossen wird. Die Besonderheit der Vergleichenden Methode kleiner Fallzahlen liegt also in der bewussten strategischen Auswahl von Fällen zur Kontrolle von Kontextbedingungen, während die statistische Analyse die Grundgesamtheit wenig kritisch hinterfragt. Statistische Analysen berufen sich auf das Gesetz der großen Zahl und streben danach möglichst viele Untersuchungseinheiten (oder eine Stichprobe hiervon) einzuschließen. Dies stößt jedoch bei Vergleichen auf der Aggregatsebene nationaler Systeme auf Grenzen. Worin besteht die Grundgesamtheit, auf die sich die Politische Soziologie bezieht? Sind es alle unabhängigen Nationalstaaten, die gegenwärtig als solche von der UNO anerkannt werden? Oder gar: Sind es alle früheren, gegenwärtigen und zukünftigen territorialen politischen Einheiten? In der Regel grenzen wir den Gültigkeitsraum durch Theorien mittlerer Reichweite auf Zeit-Raum-System-Koordinaten ein, z.B. auf die „westlichen“ Demokratien seit dem zweiten Weltkrieg, die wirtschaftlich führenden OECD-Länder oder die EU-Mitgliedsländer zu einem bestimmten Zeitpunkt der Erweiterungsstufen. In der Regel handelt es sich bei so eingegrenzten Teilwelten wiederum um Grundgesamtheiten. Nur selten wird eine Zufallsstichprobe aus den circa 200 UN-Mitgliedsländern gezogen, vielmehr handelt es sich meist um mehr oder minder ausgewählte Fälle einer solchen kategorialen Grundgesamtheit. Bei allen Vergleichen von politischen Systemen handelt es sich um heterogene Fälle, die das kontingente Resultat historischer Nationalstaatsbildungsprozesse und politischer Entscheidungen sind (Ebbinghaus 2005). Welche Nationalstaaten aus den unzähligen politischen Einheiten des Mittelalters durch langwierige Machtbildungsprozesse aber auch historische Zufälligkeiten entstanden, welche Länder Mitglied internationaler Organisationen wurden, ist Ergebnis zahlreicher politischer Entscheidungen und Zufälle. Zudem sind diese politischen Makroeinheiten sehr heterogen, so unterscheiden sie sich in ihrer Größe und Ressourcenausstattung erheblich. Auch die Anzahl bestimmter Merkmalskonfigurationen ist kontingent: Es gibt z.B. mehrere nordische Länder mit hohen Wohlfahrtstaatsausgaben in OECD-Vergleichen, denen die USA als vielfach größerer Einzelfall mit niedrigen Wohlfahrtsstaatsausgaben gegenüberstehen. Häufigkeitsbezogene Inferenzschlüsse sind wegen der ex ante Selektivität und Heterogenität von Nationalstaaten nur bedingt aussagekräftig. Mit jeder zusätzlichen Untersuchungseinheit erhöht sich zwar die Zahl der Fälle („N“), dies hat jedoch Auswirkungen für die Art der Analyse. Bei wenigen Fällen ist eine intensive
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Analyse in ganzheitlichen Kontextanalysen, die anhand einer fallbezogenen Prozessanalyse die kausalen Mechanismen im jeweiligen Kontext analysieren kann (within-case analysis), noch möglich (Mahoney 2003). So können z.B. Kenntnisse über die spezifische politische Kultur der USA und Frankreichs in die Interpretation der Wirkungsweise unterschiedlicher Präsidialsysteme als erklärende Faktoren eingehen. Umso mehr Länder in einer Untersuchung gleichzeitig betrachtet werden, desto schwieriger sind solche intensiven Analysen durchzuführen bzw. in die Gesamtanalyse zu integrieren. Mit zunehmender Anzahl wird deshalb eher eine extensive Analyse angewandt, die über alle Fälle hinweg vergleichend (cross-case analysis) nach Regelmäßigkeiten sucht und hierzu standardisierte Variablen analysiert.
3.2 Zeithorizont Neben der Wahl der Fälle ist die Bestimmung des Zeithorizonts eine wichtige Eingrenzung des Forschungsobjektes mit weitreichenden methodischen und theoretischen Implikationen. King, Keohane und Verba empfehlen in Designing Social Inquiry (1994) die Anzahl der Fälle durch eine Ausweitung der zeitlichen Dimension zu erhöhen. Leider erhöht dies zunächst nur die Zahl der Beobachtungen, aber nicht notwendiger Weise die Zahl der Fälle im engeren Sinn. Nur dann, wenn die beobachteten Kausalfaktoren und Effekte voneinander unabhängig sind, kann man hier von unterschiedlichen Fällen sprechen. Zeitreihen mit hoher Autokorrelation der abhängigen und unabhängigen Variablen erhöhen also keineswegs die Anzahl der Fälle (Kittel 1999), allenfalls die Zahl der Beobachtungen. Die Staatsausgaben eines Jahres sind z.B. mit den Ausgaben des Vorjahres hoch korreliert, was auf pfadabhängige Prozesse und die Bedeutung zeitunabhängiger Variablen hinweist. Der relevante Zeithorizont eines Projektes sollte genau bedacht werden, damit auch Ursache und Wirkung in ihrem Zeitverlauf richtig analysiert werden (siehe Tabelle 2). Nur einige spezifische politikwissenschaftliche Fragestellungen können mit einer synchronen Analyse adäquat behandelt werden, nämlich solche, die eine unmittelbare Gleichzeitigkeit von Ursachen und Effekten implizieren. Die kurzfristige Reaktion von Wählerstimmungen auf wirtschaftliche Konjunkturschwankungen wäre ein solches Beispiel. Nach Paul Pierson (2003) können auch längere Zeithorizonte von Kausalfaktoren und Wirkungen berücksichtigt werden: (1) ein kurzfristiges Ereignis mag wie ein politischer „Meterorit“ Langzeitfolgen nach sich ziehen (z.B. Italiens Bestechungsskandale Anfang der 1990er Jahre führten zum Zusammenruch des etablierten Parteiensystems); (2) es kommt zu langfristigen unterirdischen Verwerfungen, die plötzlich vulkanartig ausbrechen (z.B. zunehmende Politikverdrossenheit äußert sich im kurzfristigen Wahlerfolg der niederländischen Rechtspartei nach der Ermordung von Pim Fortuyn); (3) langfristige Ursachen führen zu kumulativen Effekten über eine längere Zeitspanne (z.B. in Folge des Strukturwandels erodiert die traditionelle sozialdemokratische Wählerbasis in der Arbeiterschaft). Zudem können die Entstehungsgründe gegenwärtiger Institutionen nicht aus ihrer heutigen Funktionalität erklärt werden: Nach Lipset und Rokkan (1967a) entstand die spezifische Konfiguration des Parteiensystems in Westeuropa bereits vor der Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts. Das gegenwärtige
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Parteiensystem muss also keineswegs die gegenwärtigen Interessenlagen des Medianwählers widerspiegeln, da sich neue Parteien nur mit hohen Kosten etablieren können. Tabelle 2: Zeithorizont für Ursache und Wirkung (nach Pierson) Zeithorizont der Wirkung (abhängige Variable) Kurz
Lang I
Zeithorizont der Ursache (unabhängige Variable)
Kurz
Lang
Tornado (unmittelbare Effekte) III Erdbeben (Schwellenwerte, Kausalketten)
II Meteorit/Ausrottung (kumulative Effekte) IV Globale Erwärmung (kumulative Bedingungen und Effekte)
Quelle: Pierson (2003: 179, 192); Übersetzung: vgl. Jahn (2006: 186).
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Konzepte
Um zu vergleichen bedarf es vergleichbarer Untersuchungsgegenstände und allgemeiner Begriffe, die diese benennen. Wenn politische Phänomene unter gleichen Begriffen erfasst werden, diese aber in der jeweiligen Kultur etwas anderes bedeuten, würde man sprichwörtlich „Äpfel mit Birnen“ vergleichen. Einerseits besteht die Gefahr des „conceptual stretching“ (Sartori 1970), d.h. Konzepte zu weit zu dehnen, nur um unvergleichliches vergleichbar zu machen, anderseits bedarf es abstrakter genereller Konzepte, um über lokale Besonderheiten hinweg politische Prozesse mit einem allgemeinem Begriffsapparat vergleichen zu können. Damit Begriffe einen umfassenderen Gegenstandsbereich abdecken (Extension) müssen sie auf einem höheren Abstraktionsniveau angesiedelt werden als spezifischere Begriffe, die mehr inhaltliche Bestimmtheit haben (Intension). Hierarchische Begriffe, wie z.B. unterschiedliche Formen des Autoritarismus (bürokratischer und populistischer Autoritarismus) fügen qualifizierende Adjektive zum Begriff Autoritarismus hinzu und schränken diesen so auf zusätzliche Bedingungen und damit auf weniger Fälle ein. Bei hierarchischen Begriffen bildet man zunächst den Oberbegriff, die primäre Kategorie, und fügt dann Unterformen durch weitere Zusatzbedingungen hinzu: Alle diese Untergruppen zusammen bilden dann den Gruppenbegriff. Anders bei radialen Konzepten (Collier/Mahon 1993), die von verschiedenen Erscheinungsformen ausgehen, die mit einem Begriff meist lose verbunden werden. Verschiedene Attribute können funktionale Äquivalente darstellen und die Gesamtmenge aller dieser Attribute (sekundäre Merkmale) macht das Begriffsfeld des Sammelbegriffs (primäres Merkmal) aus, der entsprechend alle Fälle einschließt. Zu den Kennzeichen der Demokratie gehört effektive politische Beteiligung (partizipatorische D.), hinzu kommt in manchen Demokratien weitreichende Beschränkungen staatlicher Macht (liberale D.) oder die Erreichung relativer Gleichheit (egalitäre D.).
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Abbildung 2:
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Hierarchische und Radiale Kategorien
Quelle: Collier/Mahon (1993: 846, 850); vgl. Jahn (2006: 216, 218); eigene Darstellung.
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Die Fallstudie
Bei einer ideographischen Vorgehensweise wird oft mit Hilfe einer (Einzel-) Fallstudie (N=1) ein impliziter Vergleich unternommen, der die Singularität des untersuchten Falles unterstreicht und diese hermeneutisch aus den spezifischen Kontexteigenschaften zu verstehen sucht. Mit einer Einzelfallstudie können aber durchaus auch nomothethische Ziele verfolgt werden: Sombarts „Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?“ (1906) zielte auf eine Widerlegung der Marxschen These von der revolutionären Situation in einer hochkapitalistischen Gesellschaft ab und suchte nach alternativen Erklärungen. Ob solche Fallstudien als vergleichend bezeichnet werden können, hängt von der Verortung des Falls in der Forschungsliteratur, den bisherigen theoriegeleiteten Erwartungen und empirischen Vergleichsstudien ab. Die Evidenz wird hier im Wesentlichen aufgrund zeitlicher, räumlicher oder disaggregierter Prozessbeschreibungen innerhalb der Fallstudien (within-case analysis) erbracht, d.h. es wird vor allem auf interne Validität Wert gelegt. Wenn die Fallstudie zur Generierung neuer Hypothesen führt, wie im Fall von Lijpharts bahnbrechender Studie über die Niederlande The Politics of Accommodation (1968), so bedarf es der
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Überprüfung in weiteren ähnlichen Fällen, um zu klären, ob die These der Konkordanzdemokratien auch externe Validität über den bisher untersuchten Fall hinaus beanspruchen kann. Entsprechend der Wahl des Falles können die Vorteile der Fallstudie in der ideographischen Beschreibung eines besonderen Falles, in der möglichen Generierung eines neuen Erklärungsansatzes oder aber in der nomothetischen Überprüfung gegebener Hypothesen an typischen oder wichtigen Testfällen liegen. Eine Fallstudie kann also einen Fall auf unterschiedliche Weise diskutieren, oder wie es Gerring auf Englisch treffend ausdrückt „to make a case“ (2001: 215-222): a. b.
c. d.
ein typischer Fall (typical case), der als durchschnittlicher Fall aus einer Gruppe ähnlicher Fälle als repräsentativ gelten mag, ein außergewöhnlicher Fall (extreme case), der besonders weit vom Durchschnitt in der untersuchten Dimension abweicht, dies kann z.B. der Ausreißer in einer statistischen Analyse oder ein „Sonderfall“ sein der im Vergleich zu anderen als außergewöhnlich gilt; ein paradigmatischer Fall (crucial case), der als besonders eindeutiger Testfall für eine Hypothese gelten kann oder aber als idealtypischer Fall für eine neues Paradigma; ein kontrafaktischer Fall (contrafactual case), der als Gedankenexperiment (Weber), als Vergleichsfolie zu einem real eingetretenen Fall konstruiert wird.
Fallstudien zeichnen sich durch die ideographische Fallanalyse der Kausalprozesse unter der holistischen Berücksichtigung der spezifischen Kontextfaktoren aus. Fallstudien verwenden verschiedene Methoden der intensiven Fallanalyse. Für die politikwissenschaftliche Analyse sind besonders von Bedeutung (Mahoney 2003): 1.
2.
3.
Musterüberprüfung (pattern matching, Campbell 1975), indem eine für den internationalen Vergleich aufgestellte Hypothese über Zusammenhänge auf Phänomene innerhalb eines Falles angewandt wird, z.B. wenn die internationalen PISA Ergebnisse auf regionaler Ebene für die deutschen Bundesländer verglichen werden. Prozessanalyse (process tracing, George/McKeown 1985), die einen postulierten Zusammenhang anhand einer detaillierten Analyse des politischen Prozesses, insbesondere der kausalen Mechanismen, untersucht. Ereignissequenzanalyse (causal narrative, Sewell 1996), die eine Sequenz von Ereignissen beschreibt und in ihren Bestandteilen auf allgemeine Muster hin analysiert (z.B. event-structure analysis, Griffin 1993);
Auch der paarweise Vergleich (binary comparison) wird zunächst oft zur kontrastierenden Beschreibung verwendet, er kann aber durchaus auch versuchen, die Unterschiede exemplarisch zu erklären. S.M. Lipset erklärt in Continental Divide (1990) die spiegelbildlichen Unterschiede zwischen US amerikanischem und kanadischem Wertesystem mit dem Ausgang des Unabhängigkeitskrieges.
Vergleichende Politische Soziologie
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Die Vergleichende Methode von John Stuart Mill
Der systematische Vergleich weniger ausgesuchter Fälle gilt als „die“ Vergleichende Methode schlechthin (Lijphart 1971). Einerseits bietet der Vergleich weniger Fälle noch die Möglichkeit der intensiven ideographischen Fallanalyse (Ragin 1987) und anderseits kann durch gezielte Auswahl eine theoriegeleitete Überprüfung bestimmter Variablen unter Kontrolle anderer gemäß den Regeln der Millschen Logik des Vergleichs durchgeführt werden (Mill 1843). Die Forschungsstrategie der Vergleichenden Methode besteht nicht alleine in der extensiven logischen Analyse der Kausalzusammenhänge über alle Fälle hinweg, sondern basiert in der Regel auch auf intensiver Analyse der Kausalprozesse der Fälle (Mahoney 2003), in eigener Primärforschung oder zumindest der sekundären Auswertung von vorhanden Fallstudien. Den systematischen Vergleich weniger Fälle können nach John Stuart Mill unterschiedliche Auswahlprinzipien anleiten (Przeworski/Teune 1970):
Die Konkordanzmethode (method of agreement) erklärt zwei Fälle mit gleichförmigen Effekten durch den Ausschluss aller Bedingungen, die sich unterscheiden, sodass nur noch gleichförmige Ursachen als Erklärung verbleiben. Es werden also hier möglichst unterschiedliche Systeme mit jedoch ähnlichem zu erklärendem Effekt (most dissimilar system, similar outcome = MDSO) verglichen, um möglichst viele Variablen durch die Auswahl bereits zu „kontrollieren“, d.h. logisch für eine Erklärung auszuschließen. Nach der Differenzmethode (method of difference) können als Ursache für einen zu erklärenden unterschiedlichen Effekt alle gleichförmigen Ausgangsbedingungen ausgeschlossen werden und es verbleiben nur solche Bedingungen, die wie der Effekt variieren als Ursache. Hier werden also Fälle möglichst ähnlicher Systeme mit jedoch unterschiedlicher abhängiger Variable (most similiar system, dissimilar outcome = MSDO) ausgewählt, damit möglichst viele potenzielle unabhängige Variablen kontrolliert werden.
Beide Strategien der Fallauswahl zielen also auf die Kontrolle möglichst vieler Variablen durch die gezielte Auswahl sehr ähnlicher bzw. sehr unterschiedlicher Systeme, dies hat dann Konsequenzen für die Logik des Vergleichs. Nach Mill können die beiden Logiken auch verbunden werden in der kombinierten Differenzmethode (joint method of agreement and difference), d.h. es wird zunächst nach einer Erklärung zweier Gemeinsamkeiten (dem Effekt) und dann nach einer Erklärung für das Nicht-Eintreten dieses Effektes gesucht. Mill selbst hatte Zweifel, ob diese induktiv Vergleichende Methode tatsächlich zur Auffindung von Erklärungen sozialer Phänomene verwendet werden kann, da es nur selten Fälle in der sozialen Realität gibt, die die Isolierung und den Ausschluss ursächlicher Faktoren mithilfe dieser Methoden angesichts der unzähligen konkurrierenden Variablen erlauben. Als Auswahlstrategie kann sie durchaus hilfreich sein, die mögliche Anzahl von Variablen zu reduzieren, um dann in intensiven Fallstudien eine genauere Prozessanalyse der Ursachen zu verfolgen. Zudem können die Konkordanz- und Differenzmethode zur deduktiven Überprüfung von theoriegeleiteten Hypothesen an empirischen Fällen dienen.
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Abbildung 3:
Die „vergleichende Methode“
most similar systems, different outcomes (MSDO)
most different systems, similar coutcomes (MDSO)
most similar systems, similar outcomes (MSSO)
Differenzmethode (method of difference)
Kongruenzmethode (method of agreement)
Analyse notwendiger Bedingungen
Fall AV
AV* UV
I a ... w x y
= = =
II a ... w Ńx Ńy
Fall AV
AV* UV
I a ... v x y
= =
II b ... w x y
Fall AV
AV* UV
I a ... v x y
= =
II b ... w x y
Als Todsünde des Vergleichs wird von vielen Methodikern die Auswahl von Fällen mit gleichförmigem Effekt (selection by outcome) abgelehnt. So kritisierte Barbara Geddes (1990) die Studie von Theda Skocpol (1979), die die erfolgreichen Revolutionen Frankreichs, Russlands und Chinas verglich, um deren gemeinsame Ursachen herauszuarbeiten. Eine solche „Selection by Outcome“ Studie vermag durchaus die notwendigen Bedingungen (necessary conditions) für diese und nur diese Fälle aufzuzeigen. Dies entspricht dem Ziel der „verstehenden Erklärung“. Um aber eine generalisierende Aussage hieraus zu schließen, bedarf es der Überprüfung an weiteren Fällen mit der angenommenen Ursachenkonstellation, um zu untersuchen, ob die notwendigen auch hinreichende Bedingungen (sufficient conditions) sind.
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Qualitativ vergleichende Analyse (QCA)
Die QCA-Methode (qualitative comparative analysis) ist eine von Charles Ragin (Ragin 1987) weiterentwickelte Logik des Vergleichs, die es erlaubt mit Hilfe der Boolschen Algebra bereits wenige Fälle systematisch zu vergleichen. Statt der gezielten Auswahl von Fällen zur Kontrolle bestimmter Variablen werden bei der QCA-Methode möglichst alle relevanten Fälle erhoben und die Konfiguration des Ursachenbündels und deren Wirkung auf ihre logische Konsistenz hin überprüft. Die Boolesche Algebra ermöglicht kausale Komplexitäten abzubilden: das logische UND (y) erlaubt kontingente Bedingungen zu erfassen (z.B.: Z=AyB,
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d.h. wenn A und B dann Z); das logische ODER (+) fasst Äquifinalität verschiedener Ursachenbündel mit ähnlicher Wirkung zusammen (z.B.: Z=A+B, d.h. wenn A oder B dann Z). In der Regel handelt es sich bei der QCA-Methode um eine synchrone Analyse der möglichen logischen Aussagen zwischen einer Konfiguration von Bedingungen und dem zu erklärenden Ereignis für eine kleinere Anzahl von Fällen. Da es sich um logische Aussagen handelt, sind die Bedingungen und Ereignisse nominale Variablen, die dichotom mit „falsch“ oder „wahr“ zu kodieren sind, damit sie anhand einer Wahrheitstabelle auf ihre logische Konsistenz überprüft werden können. Die Zahl der möglichen Kombinationen wächst exponentiell mit der Anzahl von binären Variablen (2n), bei 2 Bedingungsfaktoren sind es vier Kombinationen, bei 3 schon 8 Kombinationen, bei 4 bereits 16 Kombinationen und so weiter. Um die logische Analyse vieler Variablen und Fälle zu erleichtern gibt es ein Computerprogramm (QCA) mit hilfreichen Algorithmen zur Konsistenzüberprüfung von Wahrheitstafeln und parsimonischen Reduktionsalgorithmen komplexer logischer Aussagen. Die QCA-Methode kann zur induktiven Suche von möglichst sparsamen logischen Aussagen über die notwendigen und hinreichenden Bedingungen verwendet werden, sie kann aber auch als deduktiver Test vorab formulierter Hypothesen dienen. Ein anschauliches Beispiel für den Nutzen der QCA-Methode ist Ragins Überprüfung einer These Stein Rokkans zur Erklärung unterschiedlicher Spaltungsstrukturen der Arbeiterbewegung in Westeuropa (vgl. Jahn 2006; Ragin 1987). Die historische Analyse zeigt nach Rokkan (1970), dass die Spaltung der Arbeiterschaft, die in Deutschland, Norwegen, Finnland und Island sowie Frankreich, Spanien und Italien in der Zwischenkriegszeit auftrat, eine Folge der religiösen, agrarischen und nationalstaatlichen Spaltungsstrukturen vor dem Ersten Weltkrieg war. Die QCA-Methode erlaubt nun, diese Aussage mit den empirischen Befunden auf ihre logische Konsistenz zu überprüfen. Einerseits zeigt sich die Spaltung der Arbeiterbewegung in den protestantischen (bzw. religiös gemischten) Ländern, die nur eine kurze Zeit zur Nationalstaatsbildung hatten, während in den katholischen Ländern ein Konflikt zwischen Staat und Kirche während des Prozesses der Nationalstaatsbildung ebenfalls zu einer solchen Spaltung führte. Diese logischen Aussagen können nun auch anhand der nicht eingetretenen Fälle (ohne Spaltung) überprüft werden. Da jedoch einige mögliche Kombinationen unter den untersuchten Fällen nicht vorkommen, bleibt der Ausgang hier zwangsläufig offen. Ragin bezeichnet dieses Problem als beschränkte Vielfalt (limited diversity). So macht Rokkans These, die sich nur auf die beobachtbaren Fälle bezieht, implizit Annahmen über die nicht beobachtbaren Fälle. Würde man die Möglichkeit berücksichtigen, dass die unbeobachteten Kombinationen auch das Phänomen hervorrufen könnten, so würde sich die Wahrheitstafel ändern und damit müssten auch erweiterte Kausalbedingungen formuliert werden. Mit Hilfe dieses Verfahrens kann also offen gelegt werden, was die impliziten Annahmen bei nicht beobachtbaren Kombinationen sind. Ein weiteres Problem der QCA-Methode ist die Ausschließlichkeit logischer Aussagen. Ein Fehler in der Kodierung kann bereits zu einer veränderten logischen Aussage führen, auch wenn es mehrere Fälle mit der richtigen Kombination gibt. Es gilt also in entsprechenden intensiven Fallstudien, die interne Validität der kodierten Variablen zu sichern und die Kodierungsentscheidungen offen zu legen, um so eine Reanalyse zu ermöglichen.
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Tabelle 3: Rokkans Erklärung der Spaltung der Arbeiterbewegung (QCA nach Ragin) Länder Deutschland Finnland, Island, Norwegen Spanien Frankreich Italien Niederlande, Schweiz Großbritannien Dänemark, Schweden Österreich, Irland Belgien, Luxemburg Nicht beobachtete Kombinationen (implizite Annahme)
N 1 3 1 1 1 2 1 2 2 2 0 0 0 0 0 0
S 1 1 1 1 1 0 0 0 0 0 (1)? (0)? (0)? (1)? (1)? (0)?
C 1 1 0 0 0 1 1 1 0 0 0 0 0 1 1 1
R 1 0 0 0 0 1 0 0 1 1 0 1 1 0 1 1
L 1 0 1 0 0 0 1 0 1 0 1 0 1 1 0 1
E 0 0 1 1 0 1 1 1 0 0 0 1 1 0 0 1
S= Ce Ce cr cr cr
(cr)
(Ce) (Ce)
N: Anzahl der Fälle; S: Spaltung der Arbeiterschaft (Explanandum); C: Staatskirche; R: Integration der Katholischen Kirche; L: Landbesitzerinteressen; E: Frühe Staatsbildung; S: Kausalbedingung (großer Buchstabe: wahr, kleiner Buchstabe: nicht zutreffend) für Explananduum; 1: wahr, 0: nicht zutreffend, ?: unbekannt; ( ): implizite Annahme aufgrund limited diversity. Quelle: Ragin 1987: 129; vgl. Jahn 422-423; eigene Darstellung.
In Anlehnung an die Mengenlehre und fuzzy logic entwickelte Charles Ragin die FuzzySet/QCA-Methode (Ragin 2000), die einige Nachteile der binären QCA-Methode umgeht. Statt einer Dichotomisierung erlaubt FS/QCA die Verwendung von qualitativen und quantitativen Skalierungen, die prozentmäßige Abstufungen von „ganz im Set“ (1) über den Schwellenwert „weder, noch“ (0,5) bis „nicht im Set“ (0) ermöglichen. Gerade bei typologisch vergleichenden Analysen kann fuzzy-set von Vorteil sein. In der vergleichenden Wohlfahrtstaatsforschung nach Esping-Andersen kann zwischen drei Idealtpyen unterschieden werden, die in der Realität nur annähernd erreicht werden (z.B. gelten die Niederlande als Mischtyp zwischen konservativem und sozialdemokratischem Wohlfahrtstaatsregime, es könnte also bspw. als 75% konservativ und 25% sozialdemokratisch klassifiziert werden). Die jeweiligen fuzzy-set-Skalenwerte können mit den logischen Operatoren verrechnet werden: NICHT (~A=1-A), UND (AyB=min(A,B)), bzw. ODER (A+B=max(A,B)). Des Weiteren können Unschärfebereiche, die fehlerhafte Kodierungen oder Messungen berücksichtigen, vorab definiert werden. Darüber hinaus können auch Häufigkeitskriterien eingeführt werden, die einen probabilistischen Test erlauben. Die Fuzzy-Set-Analyse ermöglicht die Überprüfung von komplexen Kausalmodellen auf ihre notwendigen und hinreichenden Bedingungen, dies erfordert jedoch genügend differenzierte theoriegeleitete Hypothesen, gut durchdachte und begründete Kodierungen und ausreichend Fälle (eher ein mittleres N).
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Quantitativ vergleichende Analysen
Die quantitativ vergleichenden Verfahren umgehen das „kleine N“-Problem, indem sie möglichst viele Fälle mit statistischen Verfahren auswerten. Bei Querschnittsanalysen können einerseits beschreibende statistische Maße (z.B. Korrelation eines bivariaten Zusammenhangs) verwendet werden, anderseits auch schließende Verfahren (z.B. OLS-Regressionsanalyse), wobei hier die relativ geringe Zahl der Fälle die Freiheitsgrade und damit die Zahl der möglichen Variablen sehr einschränkt. Bei einfachen linearen Zusammenhängen können bereits durch eine Auswahlverzerrung bei der Grundgesamtheit sehr unterschiedliche Ergebnisse entstehen. Beispielsweise ist der Zusammenhang zwischen Wirtschaftsniveau und Sozialausgaben bei einem internationalen Vergleich der OECD-Länder noch linear ansteigend, bei einer Konzentration auf die EU-Mitgliedsländer vor der Osterweiterung gibt es jedoch keinen statistischen Zusammenhang mehr (Ebbinghaus 2005). Wegen dieser Auswahlverzerrung („selection bias“) wird in der Regel für quantitative Verfahren möglichst eine Vergrößerung der Fallzahlen angeraten, dies lässt sich jedoch wegen Datenmangels, aber auch wegen inhaltlicher Bedenken, vor allem bezüglich der Vergleichbarkeit der Fälle, nicht immer verwirklichen. Bei Panelanalysen werden Zeitreihen (pooled time series) von Aggregatdaten mehrerer Länder gemeinsam in einem Modell analysiert (Kittel 2005). Diese Methodik wurde mit der Verfügbarkeit von Zeitreihen-Datensätzen internationaler Organisationen (Eurostat, OECD, IMF, UN) seit drei Jahrzehnten in der international vergleichenden Politikwissenschaft, vor allem der politischen Ökonomie, häufig verwendet (Obinger et al. 2003). Vielen quantitativ orientierten Forschern schien diese Methode das Problem der kleinen Fallzahl zu umgehen, da die Zahl der Beobachtungen sich nun aus der Multiplikation der Anzahl von Zeitpunkten mit der Anzahl von Ländern ergibt. Weil es sich jedoch nur selten um unabhängige Beobachtungen handelt, kann hier die Zahl der Fälle für den Makrovergleich trotz vieler Zeitpunkte nicht erhöht werden. Neben den spezifischen Problemen der Zeitreihenanalyse, der Nichtstationarität von pfadabhängigen Prozessen und der Autokorrelation von Variablen über die Zeit hinweg, ergibt sich bei der „pooled time series“ noch das spezifische Problem der Heteroskedastizität und der Scheinkorrelation durch externe Schocks im Querschnittsvergleich (Kittel 2006), die unter Umständen durch entsprechende statistische Verfahren ausgeräumt werden können. Neben der statistischen Analyse von Aggregatdaten, können auch Makrovergleich und Umfragedatenanalyse in einer Mehrebenenanalyse verbunden werden. Bereits Przeworski und Teune (1970) haben in ihrem Lehrbuch zur Vergleichenden Methode für sehr unterschiedliche Fälle (MDSD) eine Regressionsanalyse „unterhalb“ der Systemebene vorgeschlagen, die zunächst versucht universelle Zusammenhänge auf der Individualebene zu untersuchen und dann die noch verbleibende Varianz zwischen den Ländern zu erklären. Dabei sollten die Länder nicht mehr mit ihrem Eigennamen, sondern mit Variablen bezeichnet werden, so zum Beispiel dem Entwicklungsniveau einer Gesellschaft. Die Mehrebenenanalyse (multilevel analysis) verwendet die gängige Regressionsanalyse, jedoch werden neben Individualdaten auch Aggregatdaten in einem hierarchisch linearen Modell gleichzeitig analysiert. Zunächst wird das Modell auf der „unteren“ 1. Ebene berechnet und dann unter
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Einbezug von Variablen der „oberen“ 2. Ebene versucht, die erklärte Varianz zu erhöhen. Eine Makrovariable (z.B. die Wirtschafskraft eines Landes) könnte zu einem konstanten Effekt führen (z.B. die postmaterialistischen Einstellungen sind im Durchschnitt in „reicheren“ Ländern höher), sie kann auch zusätzlich mit den Variablen auf der unteren Ebene interagieren (z.B. der schichtspezifische Effekt ist in weniger wohlhabenden Länder stärker ausgeprägt). Auch hier stellt sich das Problem der kleinen Fallzahl durch die beschränkte Anzahl von Ländern für die international vergleichbare Umfragedaten zur Verfügung stehen (z.B. 26 im European Social Survey, Welle 2). Es können also nur sehr wenige Makrovariablen gleichzeitig analysiert werden. Es empfiehlt sich hier nur solche Makrovariablen aufzunehmen, deren Einfluss durch theoriegeleitete Hypothesen zu erwarten und durch bisherige Querschnittsanalysen gut belegt sind. Bei Ländervergleichen mit zu wenigen nationalen Erhebungen bleibt nur die Möglichkeit, eine Metaanalyse (Wagner/Weiß 2006) der nationalen Modelle aus den Mikrodatenanalysen systematisch zu vergleichen.
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Fazit
Oft wird der Vergleichenden Methode mit wenigen Fällen der Vorwurf entgegengehalten: „many variables, but small N“ (Lijphart 1971), es gibt zu wenig Fälle, um alle potenziell relevanten Variablen zu überprüfen. Ob dies ein Problem ist, hängt davon ab, ob die Vergleichende Methode induktiv zur unbedachten Suche von beobachteten Regelmäßigkeiten oder deduktiv als theoriegeleitete Überprüfung von Hypothesen verwandt wird. Tatsächlich werden bei induktiver Verwendung immer mehr Variablen, die potenzielle Alternativerklärungen darstellen, als Fälle vorhanden sein, bei deduktiver Verwendung kann es durchaus Vergleichstrategien und gezielt ausgewählte Fälle geben, die eine Falsifizierung bzw. eine Bestätigung einer Hypothese erlauben. Ähnliches gilt im Prinzip auch bei statistischen Analysen mit großem N: Induktive Suche nach einer hohen erklärten Varianz (z.B. mithilfe der Stepwise-Regressionsanalyse) sind gegenüber theoriegeleiteten deduktiven Überprüfungen von Hypothesen eher zweifelhafte Unterfangen, egal wie viele Fälle und Variablen berücksichtigt werden können. Der Unterschied zwischen intensiver und extensiver Analyse ist von zentraler Bedeutung für die Bewertung des Problems der kleinen Fallzahl. Intensive Analysen von der Einzelfallstudie bis zum systematischen Mehrländervergleich mit qualitativen Prozessinformationen zielen auf interne Validität, während sich extensive quantitative Querschnittsanalysen von Datenmatrizen mit großem N auf externe Validität berufen. Wenn eine intensive Fallanalyse zum Schluss kommt, dass eine bestimmte Kombination von Ursachen das Phänomen erklärt, so beansprucht sie interne Validität, d.h. der Forscher ist sich der Kombination von Merkmalen, die dem internationalen Vergleich zugrunde liegen, aufgrund einer Tiefenuntersuchung relativ sicher, während eine quantitative Studie externe Validität beansprucht, da sie einen statistischen Zusammenhang zwischen verschiedenen Variablen für eine größere Anzahl von Fällen (und oft noch mehr Beobachtungen) belegen konnte, jedoch die internen Validität der Sekundäranalyse aufgrund der Verwendung von Massendaten Dritter kaum nachprüfen kann.
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Der Unterschied zwischen qualitativer und quantitativer Vorgehensweise zeigt sich auch im Umgang mit nicht theoriekonstistenten Fällen. Die statistische Analyse sieht Ausreißer (outliers) eher als zu vermeidenden Störfaktor, der durch Messfehler oder unzureichende Spezifikation entsteht. Bei qualitativen Analysen (QCA) kommt einem abweichenden Fall hingegen eine besondere Bedeutung zu und es gilt, diesen Fall mit weiteren Bedingungen zu berücksichtigen, meist geschieht dies durch eine komplexere Konfigurationserklärung. Auch wird der QCA-Methode vorgeworfen, dass eine einzige falsche Kodierung eines Falles bereits zu einer Veränderung der logischen Konfigurationsanalyse führen kann, während bei statistischen Modellen, die auf Wahrscheinlichkeitsannahmen beruhen, Fehlerabweichungen innerhalb gewisser Grenzen zugelassen sind. Auch bei QCA-Methoden insbesondere der Fuzzy-Set-QCA, können durchaus Häufigkeitskriterien mit Wahrscheinlichkeitsannahmen angewandt werden, wenn es denn genug Fälle ähnlicher Konfiguration gibt.
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Verzeichnis der Autoren
Kai Arzheimer ist Lecturer in German and West European Politics am Department of Government der University of Essex. Veröffentlichungen u.a.: Die Wähler der Extremen Rechten, 1980-2002, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008; Electoral Behaviour (hrsg. mit Jocelyn Evans), London et al.: Sage 2008; 'Dead Men Walking?' Party Identification in Germany, 1977-2002, in: Electoral Studies 25 (2006), 791-807. Email:
[email protected] Sarah Bastgen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der School of Communication Management der International University in Germany, Bruchsal. Email:
[email protected] Daniela Braun ist Projektmitarbeiterin am Mannheimer Zentrum für europäische Sozialforschung (MZES) und Doktorandin in der deutsch-französischen Doktorandenschule „Comparing Democratic Societies in Europe“ (CODESE) der Universität Stuttgart und dem Institut d'Etudes Politiques (IEP) von Bordeaux. Veröffentlichungen u.a.: Die schwierige Suche nach Ergebnissen der Wahlen zum Europäischen Parlament: Ein neuer Datensatz für die Wahlen 1979 bis 2004, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 39 (2008), 84-93 (mit Markus Tausendpfund). Email:
[email protected] Bernhard Ebbinghaus ist Professor für Makrosoziologie an der Universität Mannheim. Er ist außerdem Direktor des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) und Akademischer Direktor des Doktorandenzentrums für die Sozial- und Verhaltenswissenschaften (CDSS) der Graduate School of Economic and Social Sciences (GESS). Veröffentlichungen u.a.: Reforming Early Retirement and Social Partnership in Europe, Japan and the USA, Oxford: Oxford University Press 2006; Transformationen des Kapitalismus. Festschrift für Wolfgang Streeck zum sechzigsten Geburtstag. Schriften aus dem MaxPlanck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln, Band 57, Frankfurt/Main: Campus 2006 (hrsg. mit Jens Beckert, Anke Hassel und Philip Manow); The Politics of Pension Reform: Managing Interest Group Conflicts, in: Clark, Gordon L./Munnell, Alicia H./Orszag, J. Michael (Hrsg.): The Oxford Handbook of Pensions and Retirement Income, Oxford: Oxford University Press 2006, 759-777. Email:
[email protected] 504
Verzeichnis der Autoren
Oscar W. Gabriel ist Professor für Politikwissenschaft, Direktor am Institut für Politikwissenschaft bzw. Sozialwissenschaften und Leiter der Abteilung „Politische Systeme und Politische Soziologie“ an der Universität Stuttgart. Er ist u.a. Co-Direktor des Laboratoire Européen Associé „Comparing Democratic Societies in Europe”. Veröffentlichungen u.a.: Bürger und Demokratie im vereinigten Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift 48 (2007), 540-552; Der gesamtdeutsche Wähler. Stabilität und Wandel des Wählerverhaltens im wiedervereinigten Deutschland, Baden-Baden: Nomos 2007 (hrsg. mit Hans Rattinger und Jürgen W. Falter); Sozialkapital und die Zukunft der Demokratie, Wien: WUV 2002 (mit Volker Kunz, Sigrid Roßteutscher und Jan van Deth). Email:
[email protected] Dieter Grunow ist Professor für Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Er ist u.a. Geschäftsführender Direktor des Rhein-Ruhr-Instituts für Sozialforschung und Politikberatung e.V. (RISP) sowie Vorstandsmitglied des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ). Veröffentlichungen u.a.: Bürokratiekritik in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung: Impulse für Verwaltungsreformen?, in: Der moderne Staat 1 (2008), 121-140 (mit Daniela Strüngmann); Politikfeldbezogene Verwaltungsanalyse. Ein Studienbuch, Opladen: Leske + Budrich 2003 (Hrsg.); Verwaltung in Nordrhein-Westfalen, Münster: Aschendorff Verlag 2003 (Hrsg.). Email:
[email protected] Kim Jucknat ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der School of Communication Management der International University in Germany, Bruchsal. Veröffentlichungen u.a.: Professionalisierung des Wahlkampfes in Deutschland – wie sprachen und sprechen Parteien ihre Wähler an?, in: Grabow, Karsten/Köllner, Patrick (Hrsg.): Parteien und ihre Wähler. Gesellschaftliche Konfliktlinien und Wählermobilisierung im internationalen Vergleich, Sankt Augustin/Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung 2008 (zusammen mit Andrea Römmele); Die Personalisierung der Wahlkampfberichterstattung in Deutschland und den USA: Köpfe und Themen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 37 (2007), 147-159. Email:
[email protected] Uwe Jun ist Professor für Politikwissenschaft (Westliche Regierungssysteme) an der Universität Trier. Veröffentlichungen u.a.: Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern (mit Melanie Haas und Oskar Niedermayer), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008; Economic Efficieny – Democratic Empowerment. Contested Modernization in Britain and Germany, Lanham: Lexington 2007 (mit Ingolfur Blühdorn); Wandel von Parteien in der Mediendemokratie. SPD und Labour Party im Vergleich, Frankfurt/Main: Campus 2004. Email:
[email protected] Verzeichnis der Autoren
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Viktoria Kaina war bis September 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur „Politik und Regieren in Deutschland und Europa“ der Universität Potsdam und ist zurzeit als freie Wissenschaftlerin tätig. Veröffentlichungen u.a.: Declining trust in elites and why we should worry about it – With empirical evidence from Germany, in: Government and Opposition 43 (2008), 405-423; Legitimacy, trust and procedural fairness: Remarks to Marcia Grimes’ study, in: European Journal of Political Research 47 (2008), 510-521; European identity. Theoretical perspectives and empirical insights, Münster et al.: Lit-Verlag 2006 (hrsg. mit Ireneusz Pawel Karolewski). Email:
[email protected] Silke Keil ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften, Abteilung für Politische Systeme und Politische Soziologie der Universität Stuttgart und Geschäftsführerin der deutschen Teilstudie des European Social Survey. Veröffentlichungen u.a.: Participation in France and Germany (hrsg. mit Oscar W. Gabriel und Eric Kerrouche) [im Erscheinen]; Empirische Wahlforschung: Kritik und Entwicklungsperspektiven, in: Falter, Jürgen W./Schoen, Harald (Hrsg.): Empirische Wahlforschung. Ein Handbuch, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, 611-641 (mit Oscar W. Gabriel); Wahlkampfkommunikation in Wahlanzeigen und Wahlprogrammen. Eine vergleichende inhaltsanalytische Untersuchung der von den Bundestagsparteien vorgelegten Wahlprogramme und Wahlanzeigen in den Bundestagswahlkämpfen 1957 bis 1998, Frankfurt/Main et al.: Peter Lang 2003. Email:
[email protected] Werner J. Patzelt ist Professor für Politische Systeme und Systemvergleich am Institut für Politikwissenschaft der TU Dresden. Veröffentlichungen u.a.: Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriss des Faches und studiumbegleitende Orientierung, 6., erneut überarbeitete Aufl., Passau: Richard Rothe 2007; Grundriss einer Morphologie der Parlamente, in: Patzelt, Werner J. (Hrsg.): Evolutorischer Institutionalismus. Theorie und empirische Studien zu Evolution, Institutionalität und Geschichtlichkeit, Würzburg: Ergon-Verlag 2007, 483-564; Parlamente und ihre Funktionen. Institutionelle Mechanismen und institutionelles Lernen im Vergleich, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003. Email:
[email protected] Manuela Pötschke ist Akademische Rätin für das Lehrgebiet Angewandte Statistik am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel. Veröffentlichungen u.a.: Mehrebenenanalyse, in: Behnke, Joachim/Gschwend, Thomas/ Schindler, Delia/Schnapp, Kai-Uwe (Hrsg.): Methoden der Politikwissenschaft. Neuere qualitative und quantitative Analyseverfahren, Baden-Baden: Nomos 2006, 167-179; Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft in Telefoninterviews. Versuch einer mehrebenenanalytischen Erklärung, in: ZA-Information (2006): 59, 1-17 (mit Christina Müller); Akzeptanz internetgestützter Evaluationen an Universitäten, in: Zeitschrift für Evaluation 2 (2006), 227248 (mit Julia Simonson). Email:
[email protected] 506
Verzeichnis der Autoren
Andrea Römmele ist Professorin für Kommunikationsmanagement an der International University in Germany, Bruchsal. Sie ist geschäftsführende Herausgeberin der Zeitschrift für Politikberatung. Veröffentlichungen u.a.: Handbuch Politikberatung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006 (zusammen mit Svenja Falk, Dieter Rehfeld, Martin Thunert); Direkte Kommuniaktion zwischen Parteien und Wählern, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005. Email:
[email protected] Siegrid Roßteutscher ist Professorin am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u.a.: Religion, Konfession, Demokratie. Eine international vergleichende Studie zur Natur religiöser Märkte und der demokratischen Rolle religiöser Zivilgesellschaften, Baden-Baden: Nomos 2008. Email:
[email protected] Herman Schmitt ist Projektleiter am Mannheimer Zentrum für europäische Sozialforschung (MZES) und Privatdozent an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u.a.: Politische Parteien, Links-Rechts-Orientierungen und die Wahlentscheidung in Frankreich und Deutschland, in: Falter, Jürgen W./Gabriel Oscar W./Weßels, Bernhard (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2002, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, 551-571; Politische Repräsentation in Europa. Eine empirische Studie zur Interessenvermittlung durch allgemeine Wahlen, Frankfurt/Main: Campus 2001; Political Representation and Legitimacy in the European Union, Oxford: Oxford University Press 1999 (hrsg. mit Jacques Thomassen). Email:
[email protected] Harald Schoen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Veröffentlichungen u.a.: Turkey's bid for EU membership, contrasting views of public opinion, and vote choice. Evidence from the 2005 German federal election, in: Electoral Studies 27 (2008), 344-355; Identity, Instrumental Self-Interest and Institutional Evaluations. Explaining Public Opinion on Common European Policies in Foreign Affairs and Defence, in: European Union Politics 9 (2008), 5-29; Personality Traits, Partisan Attitudes, and Voting Behavior: Evidence from Germany, in: Political Psychology 28 (2007), 471-498 (mit Siegfried Schumann). Email:
[email protected] Rudolph Speth ist Privatdozent an der Freien Universität Berlin, freier Journalist und Publizist. Veröffentlichungen u.a.: Integration und Interessen. Lobbyismus in der EU – zivilgesellschaftlicher Reichtum oder demokratisches Defizit?, in: vorgänge, (2006): 2, 15-22; Gemeinwohl als Wohl der Nation. Die Veränderungen des Gemeinwohldiskurses im 19. Jahrhundert. in: Buchstein, Hubertus/Schmalz-Bruns, Rainer (Hrsg.): Politik der Integration. Symbo-
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le, Repräsentation, Institution, Baden-Baden: Nomos 2006, 369-388; Nation und Revolution. Politische Mythen im 19. Jahrhundert, Opladen: Leske + Budrich 2000. Email:
[email protected] Jan van Deth ist Professor für Politische Wissenschaft und International Vergleichende Sozialforschung an der Universität Mannheim. Er ist u.a. korrespondierendes Mitglied der Königlichen Niederländischen Akademie der Künste und Wissenschaften sowie Sprecher des deutschen Koordinationsteams für den European Social Survey. Veröffentlichungen u.a.: The Handbook of Social Capital, Oxford: Oxford University Press 2008 (hrsg. mit Dario Castiglione und Guglielmo Wolleb); Civil Society and Governance in Europe: From National to International Linkages, Cheltenham: Edward Elgar 2008 (hrsg. mit William Maloney). Email:
[email protected] Christian Welzel ist Professor für Politikwissenschaft an der Jacobs Universität Bremen und Co-Direkter des World Values Survey. Veröffentlichungen u.a.: Are Levels of Democracy Influenced by Mass Attitudes?, in: International Political Science Review 28 (2007), 397-424; Individual Modernity, in: Dalton, Russell J./Klingemann, Hans-Dieter (Hrsg.): The Oxford Handbook of Political Behavior, New York: Oxford University Press 2007, 185-295; Modernization, Cultural Change and Democracy: The Human Development Sequence, New York: Cambridge University Press 2005 (mit Ronald Inglehart). Email:
[email protected] Annette Zimmer ist Professorin für Sozialpolitik und Vergleichende Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie ist außerdem Gesellschafterin des Zentrums für Nonprofit-Management. Veröffentlichungen u.a.: Gemeinnützige Organisationen im gesellschaftlichen Wandel, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007 (mit Eckhard Priller); Vereine - Zivilgesellschaft konkret, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007; Governance and Civil Society, in: Brix, Emil/Nautz, Jürgen/Trattnigg, Rita/Wutscher, Werner (Hrsg.): State and Civil Society, Wien: Passagen Verlag 2007, 167-177. Email:
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