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Jürgen Habermas Philosophisch-politische Profile Erweiterte Ausgabe
Suhrkamp Verlag
Dritte Auflage 1984 © Suhrk...
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SV
Jürgen Habermas Philosophisch-politische Profile Erweiterte Ausgabe
Suhrkamp Verlag
Dritte Auflage 1984 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1981 Alle Rechte vorbehalten Druck: MZ-Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen Printed in Germany
In Erinnerung an Theodor W. Adorno
Vorwort
Ich habe die Ausgabe von 1971 im wesentlichen um Beiträge aus den letzten zehn Jahren erweitert. Dadurch hat sich der Umfang ungefähr verdoppelt. Die chronologische Anordnung bemißt sich nach dem Erscheinungsdatum des jeweils ersten Artikels zu einem der behandelten Autoren. Die fünf im Anhang wiedergegebenen Rezensionen befassen sich mit Büchern, die den ideenpolitischen Hintergrund der deutschen Nachkriegsentwicklung, so oder so, beleuchten. Die Gründe, die mich zu einer erweiterten Ausgabe bewegt haben, decken sich nicht ganz mit den im Vorwort zur ersten Auflage erwähnten. Privatere Motive sind hinzugetreten. Es handelt sich ja um publizistische Nebenarbeiten, an denen ich hänge, weil sie ein für mich lebenswichtiges Geflecht intellektueller und persönlicher Beziehungen spiegeln. Autoren, die tot sind, oder Zeitgenossen, die, wie es ganz normal ist im Wissenschaftsbetrieb, anonym bleiben, kommen in die Fußnoten. Über Autoren aber, die noch antworten, und nicht nur so wie ein Text antworten können, schreibt man anders. Es sind Adressaten, Bezugspunkte des eigenen Bildungsprozesses. Über keinen dieser Autoren habe ich geschrieben, ohne daß er mir einen intellektuellen Anstoß gegeben hätte: von jedem könnte ich spontan genau den Gedanken nennen, der die Richtung meines Denkens bestimmt hat. Die behandelten Autoren gehören, wenn ich für Hannah Arendt, die streitbar ihren Mann gestanden hat, um Verständnis bitte - zur Generation der Väter. Natürlich, Wittgenstein, Benjamin und Alfred Schütz habe ich nicht mehr kennengelernt. Aber alle drei sind, während der 60er Jahre, intellektuell in den deutschen Sprachbereich zurückgekehrt; jeder hat, auf seine Weise, eine Welle der Rezeption ausgelöst - Benjamin die dramatischste, Wittgenstein die nachhaltigste. Heidegger, Jaspers und Gehlen gehören (wie auch Plessner) zu den während meiner Studienzeit einflußreichen, aus der Distanz wirkenden Gestalten. Heidegger bin ich nur einmal begegnet, als Zuschauer eines privaten Seminars in Gadamers Haus.
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Jaspers hat mir einmal, veranlaßt durch meinen Artikel in der FAZ, geschrieben, mit der Mischung aus Wohlwollen und Belehrung, die für ihn wohl nicht ganz untypisch war. Gehlen, den beunruhigendsten Intellekt, habe ich bei Schelsky getroffen. Mit den anderen verbinden mich vielfältige persönliche Beziehungen, sei es die durch sachlichen Umgang geprägte Beziehung des Respekts für den älteren Kollegen (Löwith, Plessner) oder die faszinierte Bewunderung für den wegweisenden Geist (Scholem, Hannah Arendt, Bloch); sei es die komplizierte Beziehung zum bedeutenden Vorgänger auf dem Lehrstuhl (Horkheimer) oder die der dankbaren Verehrung für Adorno, auch für Abendroth und Gadamer, die noch zu Lehrern geworden sind, als die Lehrzeit (bei Erich Rothacker und Oskar Becker) schon hinter mir lag; sei es schließlich die herzliche und vorbehaltlose Freundschaft mit Alexander Mitscherlich und Herbert Marcuse oder in letzter Zeit der freundlich-erinnerungsträchtige Umgang mit Leo Löwenthal. Wer sich diese Namen und Profile vergegenwärtigt, wird verstehen, warum ich den ad personam geschriebenen Artikeln meine frühe und vielleicht etwas naive Abhandlung über den deutschen Idealismus der jüdischen Philosophen vorangestellt habe. Ich bin in die unvergleichliche Produktivität dieser letzten Generation deutscher und jüdischer Philosophen wie in einen Sog hineingezogen worden. Über diese Emigranten, zu denen in gewisser Weise auch Mitscherlich gerechnet werden kann, läßt sich generalisierend eines sagen: Ordnungsdenker sind sie nicht. Ein Sinn für das, was bei den Leistungen sozialer und seelischer Integration, was in geschichtlichen und kulturellen Siegen auf der Strecke geblieben ist, macht sich, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe1, bei fast allen bemerkbar: in Benjamins Interesse an den Bruchstellen geschichtlicher Kontinuität; in Adornos Bekenntnis zum Fragment als Form der Erkenntnis; in Scholems Fahndung nach den innovativen Kräften des religiösen Untergrundes; in Blochs Geruch fürs Utopische noch in den banalsten Regungen; in Marcuses Hoffnungen auf die politische Produktivität von Randgruppen; in Plessners Gespür für das Exzentrische als die Stellung, die den Menschen anthropolo1 Im Vorwort zum Reclam-Band 9902, Stuttgart 1978.
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gisch auszeichnet; in Hannah Arendts Leidenschaft für jene seltenen Augenblicke, da die Masse, aus denen Institutionen geformt werden, noch flüssig ist. Der Sinn für die abgestoßenen, die unbeachteten Elemente der Geschichte, die der Rettung bedürfen, beflügelt kritisches Denken in praktischer Absicht. So ist Philosophie bei diesen Denkern nichts Reines und Unantastbares. Wenn ich an die Perspektive denke, aus der ich vor zehn Jahren die philosophisch-politischen Profile zusammengesetzt habe, stelle ich zwei Verschiebungen fest. Die eine betrifft den größer gewordenen Abstand zu der Tradition, in die ich während meiner Frankfurter Zeit hineingewachsen bin; die andere Verschiebung berührt den Blick auf Philosophie im ganzen. In der Zwischenzeit ist, sozusagen zwischen Martin Jay und David Held2, eine breite Literatur über das, was man im angelsächsischen Bereich Critical Theory nennt, entstanden. Soweit ich diese Dinge lese, gewöhnen sie mich an die objektivierenden, verfremdenden Blicke, die jäh auf etwas bislang eher intuitiv Gewußtes fallen. Dabei lerne ich Einzelheiten, von denen ich mir nichts habe träumen lassen. Sodann gibt es, aus der näheren Umgebung, scharfsinnige Analysen, die auf meine eigenen intellektuellen Abhängigkeiten, etwa meine Beziehung zu Adorno, Licht werfen und plötzliche Klarheiten schaffen - ich denke an Arbeiten von Albrecht Wellmer, Axel Honneth und Michael Theunissen. 3 Das erklärt, warum ich mich nun, wie an der Gedenkrede auf Marcuse oder an dem Bericht über Horkheimer und die Zeitschrift für Sozialforschung zu sehen ist, zur Frankfurter Tradition analytisch verhalten und die eigenen Intentionen auch als Rückkehr zur Formierungsperiode der kritischen Theorie begreifen kann. Auf diese Entstehungszeit hatte die »Dialektik der Aufklärung« lange den Blick verstellt.4 2 M. Jay, The Dialectical Imagination, Boston 1973 (dtsch.Ffm.1976) 3 D.Held, Introduction to Critical Theory, London 1980. 3 A. Wellmer, Kommunikation und Emanzipation. Überlegungen zur sprachanalytischen Wende der Kritischen Theorie, in: U. Jaeggi, A. Honneth, Theorien des Historischen Materialismus, Ffm. 1977, 465-500. A. Honneth, Adorno und Habermas, Merkur 374, Juli 1979, 648-664; M. Theunissen, Laudatio aus Anlaß der Verleihung des Adorno-Preises 1980. 4 H. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, Ffm. 1978.
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Ein anderer Perspektivenwechsel findet in diesem Band noch keinen Ausdruck. In der Einleitung von 1971 habe ich einer Theorie der Wissenschaften in praktischer Absicht das Wort geredet. Es ging mir damals um den internen Zusammenhang »der Logik der Forschung mit der Logik willensbildender Kommunikationen«. Ich würde heute den Akzent etwas anders setzen. Einerseits traue ich der Philosophie innerhalb der Wissenschaften selbst, im Hinblick vor allem auf jene rekonstruktiven Wissenschaften, welche die Grundlagen der Rationalität von Erfahrung und Urteil, Handlung und Verständigung aufklären, eine aktivere Rolle zu: teils als Zuarbeiter zu einer Theorie der Rationalität, teils als Platzhalter für empirische Theorien mit starken, universalistischen Ansprüchen, die sich noch nicht haben durchsetzen können. Andererseits würde ich die Funktionen der Aufklärung nicht länger auf die Rolle der Vermittlung allein zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis zuspitzen. Das im Verlauf der 70er Jahre deutlicher ins Bewußtsein getretene Problem, das ein beredter Neukonservativismus um so hastiger verdrängen möchte, ist vielmehr: wie die unter jeweils einem abstrakten Geltungsanspruch spezialisierten Wissenskomplexe, wie die als Expertenkulturen eingekapselten Sphären der Wissenschaft, der Moral und der Kunst geöffnet und, ohne daß ihr zerbrechlicher Eigensinn verletzt würde, so an die verarmten Traditionen der Lebenswelt angeschlossen werden können, daß sich die auseinandergetretenen Momente der Vernunft in der kommunikativen Alltagspraxis wieder zusammenfügen. Die der Lebenswelt zugewandte Interpretenrolle der Philosophie sehe ich heute eher so, daß sie dabei hilft, das stillgestellte Zusammenspiel des Kognitiv-Instrumentellen mit dem Moralisch-Praktischen und dem Ästhetisch-Expressiven wie ein Mobile, das sich verhakt hat, wieder in Bewegung zu setzen.5 Der Haken sitzt freilich ziemlich fest. Die Lebensformen kapitalistisch modernisierter Gesellschaften, und dazu bietet der bürokratische Sozialismus nur eine weniger attraktive Variante, werden zweifach entstellt: durch die unaufhaltsame Entwertung ihrer Traditionssubstanz und durch die Unterwerfung unter Imperative 5 Vgl. meine Rede: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, in: Kleine politische Schriften I-IV, Ffm. 1981.
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einer vereinseitigten, aufs Kognitiv-Instrumentelle beschränkten Rationalität. Die Philosophie, die im Inneren des Wissenschaftssystems den Platz für anspruchsvolle Theoriestrategien freihält, kann sich, nach außen gewendet, der Mission annehmen: die in ihre autonomen Bezirke zurückgezogene kulturelle Moderne geschmeidig zu machen, um sie einer Lebenspraxis zuzuführen, die doch gleichzeitig vor den Zumutungen eines unvermittelten Zugriffs der Experten behütet werden muß. Starnberg, im November 1980
J. H.
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Vorwort zur ersten Auflage
Die hier gesammelten Aufsätze, deren ältesten ich, unbeholfen genug, noch während meiner Studienzeit geschrieben habe, sind Ergebnis philosophischer Tagesschriftstellerei, und zwar einer recht bürgerlichen: überwiegend sind die Arbeiten aus Anlaß von Gedenktagen für philosophierende Zeitgenossen oder bei Gelegenheit gewichtiger philosophischer Veröffentlichungen entstanden. Einige frühe Aufsätze stehen noch in einem Kontext, der mir inzwischen selber fremd geworden ist. Das Interesse jedoch gilt dem politischen Einfluß von acht deutschen Philosophen; es richtet sich auf individuiertes Denken, das in einzelnen inkarniert ist; von deren Fleisch läßt es sich nicht ablösen. Ich habe den Eindruck, daß dieser Typus von Denken in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre eine Art Nachblüte gehabt hat - und nun sein Ende findet. Wenn dieser Eindruck nicht trügt, werden bestimmte typische Folgen des Philosophierens alsbald Vergangenheit sein. In der Einleitung zu diesem Bande untersuche ich die Frage, ob nicht auch und vielleicht gerade die politischen Folgen einer in großen Lehrern auftretenden Philosophie, auf die der Studentenprotest die Aufmerksamkeit einer argwöhnischen Öffentlichkeit wiederum gerichtet hat, einer bereits Geschichte gewordenen Gestalt der Philosophie zugehören. Andererseits wird Philosophie nicht einfach verschwinden (oder durch Methodologie ersetzt). Praktisch folgenreiche Interpretationen werden die Wissenschaften begleiten müssen, wenn wir nicht über dem Triumph der wissenschaftlichen Methode das Bewußtsein der dieser Methode auch eigentümlichen Bornierungen verlieren sollen. Marx hat die Philosophie totgesagt. Seitdem versucht das philosophische Denken in ein neues Element einzutreten. Im November 1970
J. H.
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Einleitung: Wozu noch Philosophie? (1971)
Vor fast neun Jahren hat Adorno die Frage: Wozu noch Philosophie? so beantwortet: »Philosophie, wie sie nach allem allein zu verantworten wäre, dürfte nicht länger des Absoluten sich mächtig dünken, ja, müßte den Gedanken daran sich verbieten, um ihn nicht zu verraten, und doch vom emphatischen Begriff der Wahrheit nichts sich abmarkten lassen. Dieser Widerspruch ist ihr Element.«1 Nun ist dieser Widerspruch das Element der ernst zu nehmenden Philosophie schon seit Hegels Tod. Die von Adorno aufgenommene Frage entspringt nicht einem Einfall, sie hat seit dem Ende der großen Philosophie wie ein Schatten alles Philosophieren begleitet. Freilich haben, in diesem Schatten, vier, fünf Philosophengenerationen Marxens Dictum von der Aufhebung der Philosophie überlebt. Heute drängt sich die Frage auf, ob sich die Gestalt des philosophischen Geistes ein zweites Mal verändert hat. Wenn damals, was man retrospektiv so genannt hat, die »große« Philosophie ein Ende gefunden hat, so scheinen heute die großen Philosophen selber dieses Schicksal zu teilen. Auch nach der Preisgabe des systematischen Anspruchs auf eine Fortsetzung der philosophia perennis hatte sich ja in den letzten anderthalb Jahrhunderten der Typus der in wirkungsvollen Lehrern (und Schriftstellern) auftretenden Philosophie behauptet; nun mehren sich die Anzeichen, die dafür sprechen, daß der Typus dieses in einzelnen Philosophen verkörperten Denkens seine Kraft verliert. Heideggers 80. Geburtstag war nur noch ein privates Ereignis; Jaspers' Tod blieb spurenlos; für Bloch scheinen sich in erster Linie die Theologen zu interessieren; Adorno hinterläßt ein chaotisches Gelände; Gehlens jüngstes Buch hat fast nur noch biographischen Wert - das ist gewiß eine deutsche, eine provinzielle Perspektive. Aber wenn ich recht sehe, ist in den angelsächsischen Ländern und in Rußland Philosophie seit Jahrzehnten in das Stadium eingetre1 Th. W. Adorno, Eingriffe, Ffm. 1963, S. 14.
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ten, für welches der Titel der offiziellen Fachzeitschrift2 die Disziplin auch in Deutschland schon längst reklamiert, eben in das Stadium der Forschung, die wissenschaftlichen Fortschritt kollektiv organisiert. Ich möchte darüber keineswegs lamentieren, aber dieser Umstand rechtfertigt zunächst eine Konzentration auf das deutsche Beispiel. Hier scheint das Phänomen auffällig ausgebildet zu sein, das uns interessiert: die Transformation eines Geistes, der sich, sozusagen bis gestern, im Medium der alten Philosophie bewegt hat. Freilich verfolge ich diese Frage nicht um einer erbaulichen Retrospektive willen. Nicht ein Abgesang auf Philosophie ist Ziel dieser Überlegungen, sondern die Exploration der Aufgaben, die dem philosophischen Denken heute legitimerweise sich stellen, nachdem nicht nur die große Tradition an ein Ende gelangt ist, sondern, wie ich vermute, auch der an individuelle Gelehrsamkeit und persönliche Repräsentation gebundene philosophische Denkstil.
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Ich möchte von vier Beobachtungen ausgehen, die man angesichts der deutschen Philosophie des letzten halben Jahrhunderts gewinnen kann. Zunächst (a) drängt sich die erstaunliche Kontinuität der Schulen und der prinzipiellen Fragestellungen auf. In den zwanziger Jahren sind im deutschen Sprachraum bereits die theoretischen Ansätze entstanden, die die philosophische Diskussion noch in den 50er und 60er Jahren beherrscht haben. Damals haben sich gegen die imperiale Stellung des Neukantianismus, dessen Einfluß weit über die deutschen Grenzen hinausreichte, im wesentlichen fünf philosophische Impulse durchgesetzt: mit Husserl und Heidegger eine teils transzendentallogische, teils ontologisch gerichtete Phänomenologie; mit Jaspers, Litt und Spranger eine an Dilthey anknüpfende, teils existentialistisch, teils neuhegelianisch eingefärbte Lebensphilosophie; mit Scheler und Plessner (und in gewisser Weise auch mit 2 Zeitschrift für philosophische Forschung.
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Cassirer) die philosophische Anthropologie; mit Lukás, Bloch, Benjamin, Korsch und Horkheimer eine auf Marx und Hegel zurückgreifende kritische Sozialphilosophie; und schließlich mit Wittgenstein, Carnap und Popper der im Wiener Kreis zentrierende logische Positivismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg, also nach der Exilierung und der Unterdrückung des besseren Teiles der deutschen Philosophie, sind diese Traditionen nun keineswegs abgerissen; vielmehr kehren, in leicht veränderter Konstellation, vielfach in denselben Personen, dieselben Theorien und Schulen wieder. Eine Ausnahme macht nur der inzwischen ungewöhnlich fruchtbar entfaltete und differenzierte, in den angelsächsischen Ländern zur herrschenden Philosophie gewordene Neopositivismus, der in den 50er Jahren von außen nach Deutschland zurückgewirkt hat und hier in den philosophischen Seminaren eine große indirekte Wirksamkeit gewonnen hat: von den erfolgreichen »Wiener« Emigranten ist niemand zurückgekehrt. Aber alle zentralen Figuren, die in den letzten zwei Jahrzehnten die philosophische Szene in Deutschland bestimmt haben, lassen sich zwanglos im Traditionsmuster der 20er Jahre lokalisieren: Heidegger und Jaspers, Gehlen, Bloch und Adorno, Wittgenstein und Popper. Die Kontinuität der Entwicklung wird durch ein weiteres (b) Moment noch verstärkt: durch die ungebrochen personalistische Erscheinungsform des philosophischen Denkens. Es ist kein Zufall, daß sich die philosophischen Konstellationen ohne große Schwierigkeiten durch Namen charakterisieren lassen. Bis heute hat sich das philosophische Denken in einer Dimension bewegt, in der die Form der Darstellung dem philosophischen Gedanken nicht äußerlich bleibt. Die tatsächliche Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft, die sich in dieser Art individuierten Denkens bisher ausgedrückt hat, fordert eine Kommunikation nicht nur auf der Ebene der propositionalen Gehalte, sondern zugleich auf der metakommunikativen Ebene interpersonaler Beziehungen. In dieser Hinsicht ist Philosophie nie Wissenschaft gewesen; stets blieb sie an die Person des philosophischen Lehrers (und Schriftstellers) gebunden. Daß sich Philosophie in Deutschland das rhetorische Element (übrigens auch bei denen, die im Namen einer szientisti-
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sehen Philosophie dagegen Sturm laufen3) bisher bewahrt hat, ist, wie der internationale Vergleich zeigt, per se ein auffälliger Umstand. Freilich zeichnet sich auch bei uns eine Depersonalisierung der Philosophie ab. Wahrscheinlich werden wir in wenigen Jahren jenen Gestus, der in den vergangenen Jahrzehnten noch selbstverständlich gewesen ist, als altmodisch empfinden; ich meine den rhetorischen Gestus, mit dem eben Heidegger und Jaspers, Gehlen, Bloch und Adorno als akademische Lehrer vor ihren Studenten, in der literarischen Öffentlichkeit, in der politischen Publizistik, sogar in den Massenmedien ihre Gedanken vertreten, geradezu exerziert und verbreitet haben. Wie das Beispiel Jaspers zeigt, bedarf es dazu keineswegs immer einer expressiven oder einer hoch stilisierten Sprache, obgleich die Wahl der philosophischen Schlüsselworte, wie trocken sonst das Kathederdeutsch sein mag, niemals nur terminologische Bedeutung, sondern auch Ausdrucksqualität für die Zwecke indirekter Mitteilung hat. Vielleicht wird bald, in der breiten Öffentlichkeit, an die Stelle einer in repräsentativen Personen auftretenden Philosophie das synthetische wissenschaftliche »Weltbild« treten, das entweder von den Popularisatoren unter den Einzelwissenschaftlern oder von nicht dilettantischen Wissenschaftsjournalisten in immer neuen Versionen entworfen wird. An der philosophischen Entwicklung in Deutschland ist ferner (c) die Fixierung an das zeitgeschichtliche Phänomen des Faschismus bemerkenswert. Die Gewalt dieses objektiven Vorgangs hat alle Lager polarisiert. Auch die Philosophen und die Philosophien der 20er und frühen 30er Jahre rücken zwangsläufig in die Perspektive der geistigen Vorgeschichte des Faschismus ein; sie können Indifferenz gegenüber dem, was gefolgt ist, nicht behaupten. Mit der Unschuld eines neutralistischen Selbstverständnisses ist es nach 1945 ohnehin vorbei. Die politische Lebensgeschichte trennt Exilierte (und Zurückkehrende) wie Bloch, Horkheimer, Adorno von den »inneren« Emigranten (vieler Schattierungen) wie Jaspers und Litt und von den intellektuellen Vorreitern oder temporären 3 Vgl. beispielsweise H. Albert, Plädoyer für kritischen Rationalismus, in: C. Grossner u.a. (Hrg.), Das 19. Jahrzehnt, Hamburg 1969, S. 277-305.
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Nothelfern des Regimes wie Heidegger, Freyer und Gehlen. Freilich hätte diese biographische Hypothek ihr Gewicht nicht über zwei Jahrzehnte behalten können, wenn nicht das Problem der mittelbaren intellektuellen Urheberschaft politischer Verbrechen, überhaupt der praktischen Folgen und Nebenfolgen des Philosophierens bestanden hätte und als systematische Frage doch zugleich unerledigt geblieben wäre. Trotz der von Jaspers angestoßenen und alsbald versickerten Diskussion über Schuld und kollektive Haftung hat keiner der Beteiligten die geistige Kausalität zwischen dem Gehalt einer philosophischen Lehre und ihren legitimierenden Funktionen für das Handeln anderer, die darauf sich berufen, auch nur an einem neutralen Beispiel wie Rousseau oder Nietzsche untersucht. Einerseits sind nicht-intendierte Folgen dem philosophischen Lehrer sowenig wie irgendeinem anderen Autor, wie man sagt: subjektiv zuzurechnen; und doch bleibt andererseits der objektive wirkungsgeschichtliche Zusammenhang einem philosophischen Werk sowenig wie irgendeinem anderen äußerlich. Das läßt sich mit Hegels Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit oder mit Marxens Kategorie des falschen Bewußtseins noch leidlich fassen. Wie aber, wenn das biographische Bewußtsein des Autors und das historiographische des Nachgeborenen nicht durch Zeit und soziale Rolle wohltuend getrennt sind, wie, wenn die Lehre und die Erfahrung der unbeabsichtigten politischen Folgen in der Selbstreflexion ein und derselben Person zusammenfallen und wiederum mit dem Blick auf künftige Praxis verarbeitet werden müssen? Wie sind radikales Denken und politisch folgenreiche Lehre möglich, aber so, daß der Philosoph weder seine Verantwortung moralisierend überdehnt (und im Erschrecken vor antizipierten Unbestimmtheiten erstarrt), noch einer objektiven Unverantwortlichkeit sich überläßt (und leichtfertig verfährt, sei es im Sinne des Aktionismus oder eines Rückzugs in Praxisabstinenz)? Erst eine befriedigende Antwort auf diese Frage würde die Chance eröffnen, Irrtümer, die das philosophische Denken auf der prekären Ebene der Wirkungsgeschichte begeht, zu identifizieren und das Irrtumsrisiko durch Lernen unter Kontrolle zu bringen. Bisher scheint Identitätsverlust die Strafe bereits für das Eingeständnis von Irrtümern zu sein- diese Erklärung jedenfalls legt das eigentümlich
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resistente Verhalten all derer nahe, welche einer Sache, die sie nicht gewollt haben, Sukkurs gegeben haben. Schließlich (d) ist das Philosophieren in Deutschland durch einen zeitkritischen Bezug ausgezeichnet, der eigentümlich in Widerspruch steht zu seinem Akademismus. Denn die Schulen, die sich der Schultradition verpflichtet fühlen und, sei es in Fortsetzung der Ontologie (wie die Neuscholastik oder Nicolai Hartmann), oder im Anschluß an die Reflexionsphilosophie (wie die Ausläufer des Neukantianismus), oder auf der Grundlage einer Kodifizierung der neueren analytischen Philosophie, so etwas wie »reine« Philosophie treiben wollen, haben, ungeachtet nützlicher Forschungen, Interpretationen von Rang und eigentlich produktive Geister nicht in gleichem Maße hervorgebracht wie die philosophischen Richtungen, die eine solche sublime Berührungsscheu nicht kultivieren. Die produktiveren Schulen haben mit dem Autonomieanspruch der auf Letztbegründung pochenden Ursprungsphilosophie gebrochen. Philosophische Anthropologie und, in einem geschichtsphilosophischen Zusammenhang, die kritische Sozialphilosophie versuchen, sich die materialen Gehalte der Humanwissenschaften zu integrieren. Hermeneutische Phänomenologie und Existentialismus sprengen auch da, wo sie explizit an Fragen der Tradition (etwa die Frage nach dem Sein des Seienden) anknüpfen, den Rahmen selbstgenügsamer theoretischer Philosophie. Sogar neopositivistische Wissenschaftstheorie und Sprachkritik haben, ihrem szientistischen Selbstverständnis zum Trotz, zunächst ein praktisches Interesse an Aufklärung und rationaler Lebensführung zum Ausdruck gebracht. Es gab daher keine nennenswerte philosophische Position, mit der nicht zugleich, wenigstens implizit, eine, wenn man das so nennen will, normative Theorie des gegenwärtigen Zeitalters verbunden gewesen wäre. Im Unterschied zum akademisch gezähmten philosophischen Lehrbetrieb in anderen Teilen der Welt haben die im Nachkriegsdeutschland dominierenden Lehrmeinungen (oft um den Preis analytischer Reinlichkeit) ein explosives zeitkritisches Potential enthalten, das vom autoritären Institutionalismus über seinsgeschichtlich stilisierte Kulturkritik und linken Kulturpessimismus bis zur radikalutopischen Gesellschaftskritik reichte.
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Diese Zeitkritik steht merkwürdig quer zu den objektiven Entwicklungstrends des Zeitalters: keine der genannten Philosophien verhält sich in ihren tieferen Intentionen zu der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung konform. Das gilt für die irrationalistischen Impulse Heideggers und Gehlens ebenso wie für die dialektische Kritik eines Bloch oder Adorno. Aber nicht nur dem rückwärts gewandten Eskapismus in die Unmittelbarkeit des Seins oder der großen Institutionen, nicht nur dem Transzendieren nach vorn und dem Denken in emanzipatorischer Absicht fehlt die Gelassenheit einer Philosophie, die sich entweder im juste milieu selbstsicher eingerichtet hat, die sich mit dem Fortschritt der Epoche eins weiß oder auf arbeitsteilige Forschung selbstzufrieden regrediert ist - auch dem liberalistischen Denken fehlen in unserem Lande solche Identifikationen. Das zeigt sich am untergründigen Jakobinertum eines Jaspers genauso wie an der abstrakt aufklärerischen Rigidität der von Popper Beeinflußten (wie Topitsch und Albert). Diese vierte Beobachtung (d) verweist, wie die vorangehende (c), auf den spezifisch deutschen Kontext, in dem während des vergangenen halben Jahrhunderts eine eigentümliche, andernorts schon zerfallene Gestalt des Geistes konserviert werden konnte. Dieses besondere Präparat aus Einsichtsfähigkeit und Autismus, Verstiegenheit und Sensibilität gehört in den Zusammenhang einer durch Retardierung und Ungleichzeitigkeit charakterisierten Entwicklung. Drei miteinander vereinbare Theorien der Ungleichzeitigkeit deuten dieselben als »typisch deutsch« klassifizierten Phänomene: die Theorie der zurückgebliebenen kapitalistischen Entwicklung4, die Theorie der verspäteten Nation5 und die Theorie der verzögerten Moderne.6 In diesen Rahmen fügen sich die speziellen Annahmen über soziale Herkunft und politische Stellung des deutschen Bildungsbürgertums, speziell des beamteten Geistes in Deutsch4 G. Lukács, Über einige Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands, in: Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1955, S. 31-74. 5 H. Plessner, Die verspätete Nation, Stuttgart 1959, vgl. unten S. 127. 6 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, vgl. unten S. 453.
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land ein.7 Schlüsselphänomene sind für alle diese Theorien: die Niederlage der Bauern, die Etablierung eines obrigkeitlich-landeskirchlichen Protestantismus, die territoriale Zersplitterung des Reiches und die Verspätung der nationalstaatlichen Einheit, die langsame Durchsetzung der neuen Produktionsweise, die verzögerte, dann aber explosive Entfaltung des industriellen Kapitalismus, der Klassenkompromiß zwischen einem politisch unselbständigen Bürgertum und einem in seinen sozialen Grundlagen und den bürokratisch-militärischen Herrschaftspositionen lange Zeit nicht erschütterten Adel, die ersatzreligiöse Heilsfunktion des Bildungshumanismus, radikalisierte, aber unpolitische Innerlichkeit, bürokratische Bindung des Geistes, Geistesaristokratismus und Staatsideologie, autoritär verfestigte Strukturen der bürgerlichen Kleinfamilien, gehemmte Urbanisierung usw., usw. Diese Liste mit oberflächlich charakterisierenden Stichworten ließe sich beliebig fortsetzen. Sie umschreibt einen Komplex von geschichtlichen Entwicklungen, die sich im Vergleich mit den Modernisierungsprozessen in England und Frankreich wie geologische Verwerfungen ausnehmen. Wenn die Theorien der Ungleichzeitigkeit, denen die parallelen Entwicklungen der Nachbarn als Normalvorbild dienen, zutreffen, läßt sich eine Ambivalenz einordnen, die Adorno pointiert so zum Ausdruck gebracht hat: »Waren tatsächlich über lange Zeiträume der früheren bürgerlichen Geschichte hinweg die Maschen des zivilisatorischen Netzes - der Verbürgerlichung - in Deutschland nicht so eng gesponnen, so erhielt sich ein Vorrat unerfaßt naturhafter Kräfte. Er erzeugte ebenso den unbeirrten Radikalismus des Geistes wie die permanente Möglichkeit des Rückfalls. Sowenig darum Hitler als Schicksal dem deutschen Nationalcharakter zuzuschreiben ist, so wenig zufällig war doch, daß er in Deutschland hinaufgelangte. Allein schon ohne den deutschen Ernst, der vom Pathos des Absoluten herrührt und ohne den das Beste nicht wäre, hätte der Hitler nicht gedeihen können. In den westlichen Ländern, wo die Spielregeln der Gesellschaft den Massen tiefer eingesenkt sind, wäre er dem Lachen verfallen.«8 7 F. K. Ringer, The Decline of the German Mandarins, Cambridge, Mass. 1969, vgl. unten S. 458ff. 8 Th. W. Adorno, Auf die Frage: Was ist deutsch?, in: Stichworte, Ffm. 1969, S. 106.
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Die gleiche Ambivalenz drückt sich im philosophischen Geiste aus. Die schiefe Stellung zu einem Prozeß der Vergesellschaftung, der selber abweichend vom normalen Gang der kapitalistischen Entwicklung, der Nationalstaatsbildung, der Modernisierung verläuft, macht diesen Geist sensibel für beides: für die Verluste an humaner Substanz, die die gewalttätig fortschreitende Rationalisierung einer in naturwüchsigen Antagonismen gleichwohl verharrenden Gesellschaft abverlangt, aber eben auch für die Notwendigkeit, diesen Fortschritt in einem zurückbleibenden Land zu forcieren, um die auf dem Hintergrund möglicher Rationalisierung erst recht hervortretende Barbarei der archaischen Lebensbereiche zu verringern. Die subtile Balance dieser gleichzeitig zu vollziehenden Einsichten, und das heißt: Einsicht in die Dialektik der Aufklärung, ist freilich gerade dort am schwierigsten, wo Philosophie sich selbst und ihre Stellung zum realen Prozeß nicht einzuschätzen vermag. Denn der Philosophie, die eines schlechthin Ersten mächtig zu sein wähnt und sich demiurgisch gebärdet, muß die Dialektik ihrer Einsicht entgleiten. Im Namen einer bloß evozierten Frühe oder Tiefe oder Ferne oder Stärke stemmt sie sich dann gegen den Zuwachs an Rationalität; oder sie opfert den Verstand im Namen einer überschwenglichen Vernunft den utopischen Gesichten - ein Rest von mystischer Verzückung auch dies. »Der heilige Ernst«, so schließt Adorno die erwähnte Überlegung, »kann übergehen in den tierischen, der mit Hybris sich buchstäblich als Absolutes aufwirft und gegen alles wütet, was seinem Anspruch nicht sich fügt.« 9 Diese Wut des philosophierenden Denkens war in Deutschland oft genug der Preis für eine Einsicht, die hier, eben aus jener schiefen Stellung, gewiß leichter zu gewinnen war als bei triumphierendem commonsense: daß nämlich der Absolutismus des Verstandes seinerseits die Methode zur Raserei macht. Wenn ein Zusammenhang zwischen den beobachteten Eigentümlichkeiten der deutschen Philosophie und jenen Eigentümlichkeiten der sozioökonomischen und politischen Entwicklung, die die Theorien der Ungleichzeitigkeit zu erklären beanspruchen, tatsächlich bestehen sollte, dann würde die Vermutung, daß es mit jenem 9 Ebda.
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Typus von Denken ein baldiges Ende haben wird, die Kraft einer Prognose erhalten. Denn inzwischen hat, ironischerweise vorbereitet durch sozialstrukturelle Umwälzungen unterm Naziregime, die Bundesrepublik während der Rekonstruktionsperiode die Ungleichzeitigkeiten ihrer Entwicklung wettgemacht: unter Bedingungen des administrativ geregelten Kapitalismus ist dieser Teil Deutschlands, zum erstenmal seit Jahrhunderten, zum Zeitgenossen des westlichen Europas geworden. Man hat immer noch eine magische Furcht es auszusprechen: wir leben heute in einem der sechs oder sieben liberalsten Staaten und in einem der sechs oder sieben Gesellschaftssysteme mit den geringsten inneren Konflikten (wie groß sie immer sein mögen). Was einmal spezifisch deutsche Konflikte waren, vergleichbar allenfalls mit denen Italiens, ist, trotz der neuen Spaltung der Nation, fast ganz verschwunden. Jene Konfliktspannungen, die einmal intellektuell produktiv gewesen, nämlich in Affektionen empfindsamer Sinne, in Stimulantien und geistige Provokationen umgesetzt worden sind, verlagern sich, im Zuge einer durchaus komfortablen Verschweizerung Europas, wie es scheint, nach Amerika — in den USA jedenfalls ist die Rede von einer kulturellen Europäisierung, sogar Germanisierung.10 Es wächst dort unter anderem ein kurioses Interesse an Fragestellungen und Traditionen, in denen wir philosophische Ansätze der 20er Jahre wiedererkennen können. Wenn jene Prognose stimmt, und mehr als eine gewisse Plausibilität können so locker gewebte Erwägungen gewiß nicht beanspruchen, stellt sich die Frage: Wozu noch Philosophie? von neuem und mit noch größerer Dringlichkeit. Wenn die Probleme des Entstehungs(und Konservierungs-)zusammenhangs einer spezifisch deutschen Denktradition entschärft sein sollten, könnte sich ein bloß kritisches Interesse mit der Aussicht begnügen: daß das Philosophieren in unserem Lande zugleich uninteressanter und ungefährlicher werden wird. Aber jenseits des guten Gefühls, sich nationaler Idiosynkrasien zu entledigen, bleibt unbefriedigt immer noch das beunruhigendere Interesse an der Frage: ob, nach dem Zusammenbruch der systematischen Philosophie und nun auch dem Zurück10 Z.B. C. E. Schorske, Weimar an the Intellectuals, The New York Review of Books, May 7, May 21, 1970.
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treten der Philosophen selber, Philosophieren überhaupt noch möglich ist, und wenn: zu welchem Ende Philosophieren nötig ist? Warum sollte nicht Philosophie, wie auch Kunst und Religion, dem weltgeschichtlichen Vorgang einer von Max Weber historisch beschriebenen, von Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik begriffenen Rationalisierung anheimfallen? Warum sollte nicht Philosophie selbst auf der Schädelstätte eines Geistes verbleichen, der sich nicht mehr als absoluter behaupten und wissen kann? Wozu noch Philosophie - heute und morgen?
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Um wenigstens versuchsweise eine Antwort zu finden, sollten wir uns der strukturellen Veränderungen vergewissern, die im philosophischen Denken mit jenem durch Hegels Tod signalisierten, von Löwith (Von Hegel zu Nietzsche) und Marcuse (Reason and Revolution) untersuchten Traditionsbruch eingesetzt haben. Zu diesem Zwecke möchte ich vier sehr vereinfachende Behauptungen über Philosophie, und zwar über die Grundintentionen, denen sie von ihren Anfängen bis zu Hegel gefolgt ist, aufstellen und erläutern. Natürlich stützen sich diese Behauptungen auf die bekannte Interpretation, daß die griechische Philosophie gegenüber der mythischen Form der Weltauslegung erstmals »den Anspruch des Logos«, was immer das heißen mag, zur Geltung gebracht hat. Philosophie ist wie der Mythos ein Deutungssystem, das Natur und Menschenwelt zugleich erfaßt: sie begreift den Kosmos, das Seiende im ganzen. In dieser Hinsicht kann Philosophie den Mythos ersetzen. Freilich erzählt sie nicht naiv Geschichten, sondern fragt methodisch nach Gründen. Obgleich Philosophie die Züge soziomorpher Weltbilder (Topitsch) niemals ganz abgestreift hat, folgt aus ihrem theoretischen Anspruch notwendig eine Depersonalisierung der Weltauslegung. Die plausible Einordnung von erklärungsbedürftigen Phänomenen in Zusammenhänge der Interaktion zwischen handelnden und sprechenden, mit überlegenen Kräften ausgestatteten Quasipersonen genügt dem Erklärungsanspruch der Philosophie nicht mehr. Sodann muß die Philosophie auch die
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Verbindung der mythischen Erzählung mit rituellem Handeln preisgeben. Eine gewisse Kultpraxis lebt zwar in hoch sublimierten Formen sogar bis in den universitären Betrieb der Seminare hinein fort; aber sie darf nicht länger thematisch zugelassen werden. Philosophie kann deshalb den Mythos in seinen Stabilisierungsleistungen für die Lebenspraxis nicht ersetzen. Ihr eigenes Verhältnis zur Praxis soll vielmehr mittelbar durch Einübung in eine theoretische Lebensform gesichert werden. Ausgehend von diesen globalen Feststellungen, möchte ich die folgenden Behauptungen verteidigen: a) Die Einheit von Philosophie und Wissenschaft ist bis Hegel nicht prinzipiell in Frage gestellt worden. Mit den Anfängen philosophischen Denkens ist der Begriff des theoretischen Wissens, für dessen Geltung Gründe namhaft gemacht werden können, erst ausgebildet worden; Philosophie und Wissenschaft waren fraglos eins. Die einsetzende Spezialisierung einzelner Wissensgebiete hat sich bis zum ausgehenden Mittelalter als eine interne Differenzierung vollzogen; die Disziplinen blieben, soweit sie, wie Mathematik oder Physik, einen theoretischen Anspruch stellen konnten, Teil der Philosophie. Soweit die Wissenschaften einem bloß deskriptiven Anspruch folgten, wie Historiographie oder Geographie, waren sie in den Vorhof einer theorielosen Empirie verbannt, aber eben durch diese negative Beziehung zur Philosophie als der eigentlichen Wissenschaft definiert. Das ändert sich erst mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaften, die sich zunächst noch als philosophia naturalis begreifen konnten. Aber auch ihnen gegenüber hat sich Philosophie nicht etwa auf formalwissenschaftliche Kompetenzen oder auf ergänzende Bereiche wie Ethik, Ästhetik, Psychologie zurückgezogen; zunächst hat sie den Letztbegründungsanspruch für alles theoretische Wissen, mit dem Metaphysik steht und fällt, behauptet: die Philosophie ist bis ins 19. Jahrhundert hinein Grundwissenschaft geblieben. b) Die Einheit von philosophischer Lehre und Tradition im Sinne herrschaftslegitimierender Überlieferung ist bis Hegel nicht prinzi-
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piell in Frage gestellt worden. Philosophie ist eine Gestalt des Geistes, die erst unter hochkulturellen Bedingungen, also in Gesellschaftssystemen mit staatlich zentralisierter Herrschaftsgewalt, entsteht; hier wird der Legitimationsbedarf des politischen Systems im allgemeinen durch Weltbilder mythologischer oder hochreligiöser Herkunft gedeckt. Obgleich der Wahrheitsanspruch der Philosophie mit dem Geltungsanspruch dieser Überlieferungen konkurriert, und obgleich bestimmte Philosophien immer wieder zu einzelnen Traditionsansprüchen auch öffentlich in Widerspruch geraten sind, ist doch philosophische Kritik niemals ganz aus dem Traditionszusammenhang herausgetreten. Solange Philosophie das Seiende im ganzen zu begreifen vorgibt, gestattet sie nämlich die Ableitung soziokosmischer Grundannahmen, die Funktionen der Herrschaftslegitimation übernehmen können. In der bürgerlichen Gesellschaft hat das rationale Naturrecht des 17. Jahrhunderts den christlichen Rechtfertigungen politischer Herrschaft den Rang streitig gemacht. c) Philosophie und Religion haben bis Hegel stets verschiedene Funktionen wahrzunehmen beansprucht. Seit der Spätantike ist das philosophische Denken genötigt, sein Verhältnis zur Heilswahrheit der jüdisch-christlichen Erlösungsreligion zu bestimmen. Die theoretischen Lösungen variieren von einer grundsätzlichen Kritik an der biblischen Überlieferung über Gleichgültigkeits- und Unvereinbarkeitserklärungen bis zu den großen Versuchen, die philosophische Erkenntnis mit Offenbarung oder Offenbarung mit philosophischer Erkenntnis zu identifizieren. Aber in keinem Fall, trotz Boetius, hat Philosophie, die ihren Anspruch ernst genommen hat, die Heilsgewißheit des religiösen Glaubens substituieren wollen. Sie hat niemals ein Erlösungsversprechen gegeben,Zuversicht verheißen oder Trost gespendet. Gewiß hat Montaigne mit der Behauptung, daß Philosophie studieren sterben lernen bedeute, nur einen alten Topos aufgenommen; aber die stoische Vorbereitung auf den eigenen Tod ist gerade Ausdruck der prinzipiellen Trostlosigkeit des philosophischen Denkens. d) Philosophie war Sache einer Bildungselite, sie hat niemals die Massen erreicht. Die Organisationsformen der philosophischen
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Lehre und die soziale Zusammensetzung ihrer Adressaten haben sich in der Geschichte der Philosophie gewandelt, aber faktisch, wie auch ihrem Selbstverständnis zufolge, ist Philosophie von Anbeginn jenen vorbehalten gewesen, die Muße hatten, d.h. von produktiver Arbeit freigesetzt waren. Das geistesaristokratische Vorurteil, daß die Vielen philosophischer Einsicht von Natur aus unfähig seien, hat die Philosophie bis Hegel begleitet. Es ist freilich im 18. Jahrhundert von den Repräsentanten der Aufklärungsphilosophie zeitweilig durchbrochen worden. Für deren Programmatik fehlte aber damals, ohne ein allgemeines Bildungssystem, die Grundlage. Was hat sich, wenn diese globalen Behauptungen zutreffen sollten, seit dem Tode des letzten systematischen Philosophen von unbestrittenem Rang geändert, welche strukturellen Veränderungen rechtfertigen die These vom Ende der »großen« Philosophie? Ich will versuchen, diese Frage durch Kommentare zu den vier genannten Behauptungen zu beantworten. ad a) Die Einheit von Philosophie und Wissenschaft ist inzwischen problematisch geworden. Die Philosophie mußte ihren Anspruch, Grundwissenschaft zu sein, gegenüber der Physik aufgeben, sobald sie eine Kosmologie nurmehr in Abhängigkeit von Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung und nicht mehr kraft eigener Kompetenz entwickeln und begründen konnte. Hegels Naturphilosophie blieb die letzte. In der Neuzeit hatte Philosophie ohnehin auf das Entstehen der modernen Wissenschaft in der Weise reagiert, daß sie ihren Letztbegründungsanspruch in die Form von Erkenntnistheorie kleidete. Aber nach Hegel ließ sich Ursprungsphilosophie auch in dieser Rückzugsposition nicht mehr verteidigen. Mit dem Positivismus resigniert Erkenntnistheorie zur Wissenschaftstheorie, also zur nachträglichen Rekonstruktion der wissenschaftlichen Methode. ad b) Auch die Einheit der Philosophie mit der Überlieferung ist mittlerweile problematisch geworden. Nach der Freisetzung der Physik von Naturphilosophie und nach dem Zusammenbruch der
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Metaphysik bildete sich die theoretische Philosophie zur Wissenschaftstheorie zurück oder wurde selbst zur Formalwissenschaft. Dadurch verlor die praktische Philosophie ihre Bindung an die theoretische. Mit den Junghegelianern, mit den systematischen Motiven, die dann in Marxismus, Existentialismus und Historismus entfaltet worden sind, hat sich die praktische Philosophie verselbständigt. Sie entbehrt fortan der ontologischen Begründung, die für Politik und Ethik seit Plato beansprucht worden war; sie hat sich zudem des forschen theoretischen Anspruchs begeben, mit dem die Geschichtsphilosophie die Sphäre der menschlichen Angelegenheiten (anstelle der Natur) zum ausgezeichneten Gegenstandsbereich gemacht hatte (Vico). Damit verlor Philosophie die Möglichkeit, soziokosmische Weltbilder zu stützen; nun erst konnte sie zur radikalen Kritik werden. Die verselbständigte praktische Philosophie ist in die Frontenbildung des europäischen Bürgerkrieges hineingezogen worden. Seitdem kann es so etwas wie eine revolutionäre (und eine reaktionäre) Philosophie geben. ad c) Auch das komplexe und wechselvolle Verhältnis von philosophischem Denken und Religion hat sich inzwischen geändert. Dabei müssen zwei Momente berücksichtigt werden. Auf der einen Seite mußte eine Philosophie, die mit ihrem Letztbegründungsanspruch die Idee des Einen oder Absoluten aufgegeben hat, auch die in den Hochreligionen entfaltete Idee des Einen Gottes radikaler kritisieren, als es bis dahin eine Metaphysik getan hatte, die in der aussichtsreicheren Position gewesen war, die konkurrierende Form der Weltauslegung entweder zu substituieren oder aber auf ihren Begriff zu bringen (um sie sich zu integrieren). Das nachmetaphysische Denken bestreitet keine bestimmten theologischen Behauptungen, es behauptet vielmehr deren Sinnlosigkeit. Es will nachweisen, daß in dem grundbegrifflichen System, in dem die jüdisch-christliche Überlieferung dogmatisiert (und damit rationalisiert) worden ist, theologisch sinnvolle Behauptungen gar nicht aufgestellt werden können. Diese Kritik verhält sich zu ihrem Gegenstand nicht mehr immanent; sie greift an die Wurzeln der Religion und macht den Weg frei zu einer (im 19. Jahrhundert einsetzenden) historisch-kritischen Auflösung der dogmatischen
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Gehalte selber. Auf der anderen Seite hat die verselbständigte praktische Philosophie das Erbe der Erlösungsreligion dort angetreten, wo die Metaphysik niemals hatte Ersatz- oder Konkurrenzfunktionen beanspruchen können. Der ambivalente Zusammenhang zwischen der Tradition der Augustinischen und Joachimitischen Geschichtstheologie mit der im 18. Jahrhundert entstandenen bürgerlichen Geschichtsphilosophie hatte das Eindringen von Heilsansprüchen in die Philosophie vorbereitet. Aber erst nachdem sowohl die kosmologische wie die transzendentalphilosophische Grundlage für eine Einheit der praktischen Philosophie mit der theoretischen zerbrochen und an die Stelle der Letztbegründung die auf die Sphäre der Gattungsgeschichte eingeschränkte Selbstreflexion getreten war, nahm Philosophie mit einer bezeichnenden Wendung ins Utopische und Politische ein bis dahin religiös gedeutetes Interesse an Befreiung und Versöhnung in sich auf. ad d) In Philosophie war der Widerspruch zwischen dem Vernunftanspruch auf universale Geltung der Erkenntnis und der bildungselitären Einschränkung des Zugangs zum Philosophieren auf wenige von Anbeginn angelegt. Seit Plato ist dieser Widerspruch oft in einer politischen Philosophie zum Ausdruck gebracht worden, die für die privilegiert Einsichtsfähigen Macht fordert, um zugleich der etablierten Herrschaft philosophische Rechtfertigung und der philosophischen Erkenntnis dogmatische Allgemeinheit zu verschaffen. Das Motiv einer geistig begründeten Elitebildung ist, wie Untersuchungen mit Studenten gezeigt haben11, in den bildungshumanistisch geprägten Gesellschaftsbildern bis heute wirksam geblieben. Freilich ist dieser Befund selbst Indikator einer Entwicklung, die mit der Ausdehnung des höheren Bildungssystems im 19. Jahrhundert, prototypisch in Deutschland, eingesetzt hat. Über die gymnasiale Lehrerausbildung an den philosophischen Fakultäten der neuen, durch Humboldts Reformen bestimmten Universitäten hat die als Fach und Hintergrundideologie der entstehenden Geisteswissenschaften etablierte Philosophie eine große Verbreitung in den Teilen des bürgerlichen Publikums gewonnen, 11 Habermas, v. Friedeburg, Oehler, Weltz, Student und Politik, Neuwied 1961.
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die sich selber als Bildungsbürgertum verstanden. Ohne Revision des bildungselitären Selbstverständnisses setzte in dem Augenblick, als Philosophie ihren eigentlich systematischen Anspruch aufgegeben hat, eine institutionell gesicherte Diffusion der schulmäßigen Philosophie ein. Auf dieser Basis ist sie ein Ferment der bürgerlichen Ideologiebildung gewesen. Eine ganz andere Wirksamkeit erlangte Philosophie auf dem Wege über Marx in der Arbeiterbewegung. Hier endlich schienen die elitären Schranken zu fallen, durch die sich die Philosophie mit sich selbst in Widerspruch gesetzt hatte. Auch das hatte Marx wohl im Sinne bei seiner Behauptung, daß Philosophie, wenn sie verwirklicht werden solle, aufgehoben werden müsse. Das philosophische Denken ist nach Hegel in ein anderes Medium übergetreten. Eine Philosophie, die jene vier erwähnten strukturellen Veränderungen in ihr Bewußtsein aufnimmt, kann sich nicht länger als Philosophie begreifen, sie versteht sich als Kritik. Kritisch gegen Ursprungsphilosophie, verzichtet sie auf Letztbegründung und auf eine affirmative Deutung des Seienden im ganzen. Kritisch gegen die traditionelle Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, begreift sie sich als das reflexive Element gesellschaftlicher Tätigkeit. Kritisch gegen den Totalitätsanspruch von metaphysischer Erkenntnis und religiöser Weltauslegung gleichermaßen, ist sie mit ihrer radikalen Kritik der Religion die Grundlage für die Aufnahme der utopischen Gehalte auch der religiösen Überlieferung und des erkenntnisleitenden Interesses an Emanzipation. Kritisch schließlich gegen das elitäre Selbstverständnis der philosophischen Tradition, besteht sie auf universeller Aufklärung - auch über sich selber. Diese Selbstaufklärung haben Adorno und Horkheimer als »Dialektik der Aufklärung« verstanden; sie terminiert in Adornos »Negativer Dialektik«. An diesem Punkt stellt sich freilich die Frage, ob nicht Philosophie, auf dem Wege zu Kritik und Selbstkritik, sich ihrer Gehalte beraubt hat und am Ende, entgegen dem Selbstverständnis einer kritischen Gesellschaftstheorie12, nurmehr das leere Exerzitium der Selbstreflexion darstellt, das an den 12 A. Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Ffm. 1969.
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Gegenständen der eigenen Tradition ansetzt, ohne selber noch eines systematischen Gedankens mächtig zu sein.13 Wozu, wenn es sich so verhielte, dann noch Philosophie?
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Philosophie hat in den letzten Jahrzehnten auf das öffentliche Bewußtsein einen politisch nachhaltigen Einfluß gewonnen, obgleich die Philosophen selbst in ihrem Auftreten und in ihrem Denken eher an die Traditionsgehalte und den Gestus als an den systematischen Anspruch der großen Philosophie gebunden waren. Das philosophische Denken hat im Stadium der Kritik, gleichviel, ob es sich seiner als Kritik inne war oder nicht, parasitär vom Erbe gezehrt. Gleichzeitig hat es jedoch der Bewegung des philosophischen Gedankens auch eine neue Dimension erschlossen: nämlich die einer materialen Wissenschaftskritik. Wie Philosophie ihr Verhältnis zur modernen Wissenschaft bestimmt hat, ist für die Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie selbst entscheidend gewesen. Seit dem 17. Jahrhundert sind die systembildenden und -sprengenden Impulse im allgemeinen von erkenntnistheoretischen Fragen ausgegangen. Nachdem dann aber Ursprungsphilosophie auch in ihrer erkenntnistheoretischen Form zusammengebrochen ist, hat, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Wissenschaftstheorie den Platz der Erkenntnistheorie eingenommen. Unter Wissenschaftstheorie verstehe ich eine im szientistischen Selbstverständnis der Wissenschaften betriebene Methodologie. Dabei nenne ich Szientismus den Glauben der Wissenschaft an sich selbst, nämlich die Überzeugung, daß wir Wissenschaft nicht länger als eine Form möglicher Erkenntnis auffassen dürfen, sondern Erkenntnis mit Wissenschaft identifizieren müssen.14 Szientistisch ist der Versuch, das Erkenntnismonopol der Wissenschaften 13 B. Willms, Theorie, Kritik, Dialektik, in: Über Th. W. Adorno, Ffm. 1968. S. 44ff., R. Bubner, Was ist Kritische Theorie?, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Ffm. 1971. 14 Vgl. Erkenntnis und Interesse, Ffm. 1968.
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zu begründen und das metatheoretische Selbstverständnis der Wissenschaften selbst in diesem Sinne zu normieren; auf einer Ebene subtiler Argumentation setzen diesen Versuch heute diejenigen Schulen innerhalb der analytischen Philosophie fort, die nach wie vor den Grundintentionen des Wiener Kreises folgen. Nun durfte der Szientismus noch vor wenigen Jahrzehnten als eine interne akademische Angelegenheit gelten. Das hat sich geändert, seitdem den Wissenschaftlern, die technisch verwertbares Wissen erzeugen, bedeutende gesellschaftliche Funktionen zugewachsen sind. In den industriell fortgeschrittenen Systemen sind das wirtschaftliche Wachstum und die Dynamik der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung vom wissenschaftlichen und technischen Fortschritt weitgehend abhängig geworden. Im gleichen Maße wie »die Wissenschaft« zur wichtigsten Produktivkraft wird und wie den Subsystemen Forschung und Bildung vielleicht sogar der funktionale Primat bei der Steuerung der sozialen Evolution zukommt (Luhmann), erhalten die handlungsorientierenden Begriffe des theoretischen Wissens, der wissenschaftlichen Methode und des wissenschaftlichen Fortschritts, erhalten die technischen Verwendungs- und die praktischen Aufklärungszusammenhänge, überhaupt die Umsetzung wissenschaftlicher Informationen in die Lebenspraxis, erhält die Interpretation des Verhältnisses von Erfahrung, Theorie und willensbildendem Diskurs mittelbar eine politische Bedeutung. Politisch folgenreich sind daher gleichermaßen die szientistische Deutung der Wissenschaft und deren Kritik. Diese Kritik folgt zwei Gesichtspunkten. Einmal wird der Szientismus der Forschungspraxis der Geschichts- und Sozialwissenschaften nicht gerecht. Solange für den Gegenstandsbereich kommunikativer Handlungssysteme noch kein theoretisch fruchtbares und operationalisierungsfähiges System von Grundbegriffen entwickelt ist, das mit den für den Objektbereich bewegter Körper und beobachtbarer Ereignisse etablierten Grundbegriffen vergleichbar ist, muß eine pseudonormative Wissenschaftstheorie, die eine differentielle Konstitution von Gegenstandsbereichen nicht einmal auf analytischer Ebene als Möglichkeit zuläßt, einen retardierenden Einfluß ausüben - jedenfalls auf die Entwicklung der Sozialwissen-
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Schäften, die kein technisch verwertbares, sondern handlungsorientierendes Wissen hervorbringen. Das ist gerade die Kategorie von Wissen, die für eine praktisch rationale Steuerung der Produktivkraft Wissenschaft samt ihren sozialen Folgen und Nebenfolgen funktional notwendig wäre. Zum anderen befestigt der Szientismus einen allgemeinen Begriff von Wissenschaft, der technokratische Steuerungsmechanismen rechtfertigt und rationale Verfahren zur Klärung praktischer Fragen ausschließt. Wenn aber praktische Fragen nicht mehr als wahrheitsfähig gelten und wenn die Entscheidung wahrheitsfähiger Fragen nur zu Informationen führen kann, die technisch verwertbar, d. h. der Orientierung zweckrationalen Handelns dienlich sind (wie es szientistischen Grundannahmen entspricht), dann ist der heute relevant gewordene Zusammenhang von wissenschaftlichtechnischem Fortschritt und gesellschaftlicher Praxis entweder eine Sache empirischer Analyse und technischer Kontrolle oder aber einer Rationalisierung überhaupt entzogen - und sei's willkürlicher Entscheidung oder naturwüchsiger Selbstregelung überlassen. Damit würde gerade der für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zentrale Fragenkomplex aus dem Bereich von Problemen, die einer diskursiven Klärung und rationalen Willensbildung zugänglich sind, herausgebrochen. Unvermeidlich wäre dann die Arbeitsteilung zwischen der technokratischen Planung der staatlichen Bürokratien und der Großorganisationen auf der einen und den mehr oder weniger autodidaktischen Bildungssynthesen einzelner Wissenschaftler oder Wissenschaftspublizisten auf der anderen Seite (die die Legitimationskraft eines szientistischen Wissenschaftsbegriffs aufrechterhalten müssen). Wenn hingegen demokratische Planung als Steuerungsmechanismus für entwickelte Gesellschaftssysteme nicht von vornherein ausgeschlossen werden soll, müßte eine Kritik, die das Erbe der Philosophie angetreten hat, (neben anderen) drei vordringliche Aufgaben übernehmen. Sie müßte das objektivistische Selbstverständnis der Wissenschaften und einen szientistischen Begriff von Wissenschaft und wissenschaftlichem Fortschritt kritisieren; sie müßte insbesondere Grundfragen einer sozialwissenschaftlichen Methodologie so behandeln, daß die Erarbeitung angemessener
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Grundbegriffe für kommunikative Handlungssysteme nicht gehemmt, sondern gefördert wird; sie müßte schließlich die Dimension klären, in der die Logik der Forschung und der technischen Entwicklung ihren Zusammenhang mit der Logik willensbildender Kommunikationen zu erkennen gibt. Eine solche Kritik würde sich also der Inhalte, die sie sich von den empirisch gehaltvollen Wissenschaften und den utopisch gehaltvollen Überlieferungen geben lassen muß, auf einer eigentümlichen Grundlage vergewissern müssen; sie wäre nach herkömmlichen Begriffen Theorie der Wissenschaften und praktische Philosophie in einem. Tatsächlich zeichnen sich gegenwärtig drei philosophische Ansätze ab, die durch diese Verbindung charakterisiert sind: der kritische Rationalismus Poppers, der aus einer Selbstkritik sowohl der empiristischen wie der sprachkonstruktivistischen Beschränkungen des logischen Positivismus hervorgegangen ist; sodann die methodische Philosophie P. Lorenzens und der Erlanger Schule, die im Anschluß an Motive H. Dinglers das praktisch-normative Fundament der Wissenschaften und einer rationalen Willensbildung freilegt; und schließlich, im Anschluß an Horkheimer, Marcuse und Adorno, die sogenannte Kritische Theorie, die das Programm einer Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie verfolgt. Wenn es eine Philosophie geben sollte, angesichts deren sich die Frage: Wozu noch Philosophie? nicht mehr stellt, würde es, unseren Überlegungen zufolge, heute eine nichtszientistische Wissenschaftsphilosophie sein müssen. Sie fände in dem schnell expandierenden Hochschulsystem, wenn sie mit den Wissenschaften und den Wissenschaftlern selber kommuniziert, eine breitere Basis der Wirksamkeit, als je eine Philosophie sie gehabt hat. Sie bedürfte nicht länger der Organisationsform der in einzelnen Philosophien auftretenden Lehre. Ihr fiele sogar, indem sie gegen die doppelte Irrationalität eines positivistisch beschränkten Selbstverständnisses der Wissenschaften und einer technokratisch von öffentlich diskursiver Willensbildung abgelösten Administration angeht, eine politisch folgenreiche Aufgabe zu. Gerade darum steht es aber nicht in der immanenten Kraft einer philosophischen Fachdiskussion, ob die heute erkennbaren Ansätze einer Theorie der Wissenschaften in
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praktischer Absicht sich zu praktischer Wirksamkeit entfalten werden. Eine Philosophie, die sich idealistisch diese Macht selber zutraute, hätte das Pensum vergessen, an dem sich die ins Stadium der Kritik eintretende Philosophie seit fast ein und einem halben Jahrhundert abgearbeitet hat. Das philosophische Denken sieht sich freilich nicht nur den Verfestigungen eines technokratischen Bewußtseins, sondern zugleich dem Zerfall des religiösen Bewußtseins konfrontiert. Erst heute zeigt sich, daß die bildungselitär beschränkte philosophische Weltauslegung auf die Koexistenz mit einer breitenwirksamen Religion geradezu angewiesen war. Philosophie ist, auch nachdem sie aus der jüdisch-christlichen Überlieferung die utopischen Impulse in sich aufgenommen hat, unfähig gewesen, die faktische Sinnlosigkeit des kontingenten Todes, des individuellen Leidens, des privaten Glücksverlustes, überhaupt die Negativität lebensgeschichtlicher Existenzrisiken durch Trost und Zuversicht so zu überspielen (oder zu bewältigen?), wie es die Erwartung des religiösen Heils vermocht hat. In den industriell entwickelten Gesellschaften beobachten wir heute zum ersten Mal den Verlust der, wenn schon nicht mehr kirchlich, so doch immer noch durch verinnerlichte Glaubenstraditionen abgestützten Erlösungshoffnung und Gnadenerwartung als ein allgemeines Phänomen; es ist zum erstenmal die Masse der Bevölkerung, die in den fundamentalen Schichten der Identitätssicherung erschüttert ist und, in Grenzsituationen, nicht aus einem vollständig säkularisierten Alltagsbewußtsein heraustreten und auf institutionalisierte oder doch tief internalisierte Gewißheiten zurückgreifen kann. Einige Indikatoren sprechen dafür, daß sich als Reaktion auf den massenhaften Verlust religiöser Heilsgewißheit ein neuer Hellenismus abzeichnet, also eine Regression hinter die in den monotheistischen Hochreligionen erreichte Stufe der in der Kommunikation mit dem Einen Gott gebildeten Identität. Die vielen kleinen subkulturellen Ersatzreligionen bilden sich in regional, inhaltlich und sozial außerordentlich differenzierten Randgruppen und Sekten aus. Sie reichen von transzendentaler Meditation über neue Kommunerituale, halbwissenschaftliche Trainingsprogramme, über die oft nur zum Scheine pragmatischen Zielsetzungen kollektiver Selbsthilfeorganisationen bis zur radika-
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len Ideologie kleiner aktionistischer Gruppen im Zeichen politischtheologischer, anarchistischer oder sexual-politischer Weltveränderung. Vielleicht sitzen alle diese Subkulturen einer ähnlichen Motivationsstruktur auf. In der Sicht der theologischen Tradition stellen sich die neuen Welt- und Existenzdeutungen als ein neues Heidentum dar, das sich in einem Pluralismus von Götzenanbetungen und Lokalmythologien Ausdruck verschafft. Solche rückwärts gewandten Vergleiche sind gefährlich. Sie treffen nicht die eigentümliche Ambivalenz, die überhaupt in den »neuen« Konfliktpotentialen steckt: ich meine die Zweideutigkeit von Motivationsentzug und Protest, die Zweideutigkeit von regressiver Entdifferenzierung und Innovation, die sich vermutlich auf der Ebene der Persönlichkeitsstrukturen ebenso wie auf der Ebene der gerade komplementäre Potentiale bindenden Gruppenstrukturen nachweisen ließen. Gegenüber diesen zwiespältigen Phänomenen des Zerfalls hochkulturell ausgebildeter Ich- und Gruppenidentitäten könnte ein in die Breite wirkendes philosophisches, mit den Wissenschaften kommunizierendes Denken nur die fragile Einheit der Vernunft, nämlich die in vernünftiger Rede sich herstellende Einheit der Identität und des Nicht-Identischen aufbieten.
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1. Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen (1961)
Der Jude kann überhaupt in nichts, was das deutsche Leben anbetrifft, weder im Guten noch im Bösen, eine schöpferische Rolle spielen. Dieser Satz Ernst Jüngers hat den Antisemitismus der KonservativRevolutionären, in dessen Namen er vor einem Menschenalter geschrieben wurde, überlebt. Ich habe die gleiche Behauptung noch vor wenigen Jahren im Philosophischen Seminar an einer unserer großen Universitäten gehört. Juden, so hieß es, bringen es bestenfalls zu Sternchen zweiter Ordnung. Damals, als Student, habe ich nicht darüber nachgedacht; ich muß zwar zu dieser Zeit mit der Lektüre von Husserl und Wittgenstein, von Scheler und Simmel befaßt gewesen sein - ohne jedoch um die Herkunft dieser Gelehrten zu wissen. Der renommierte Philosophieprofessor aber, der seinen jüdischen Kollegen Produktivität absprach, hat darum gewußt. Merkwürdig starr und unangefochten erhalten sich gerade die Bestandteile einer Ideologie, die von jedem Lexikon ihrer Unstimmigkeit überführt werden können. Wenn es anginge, eine Gestalt des Geistes, wie die der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts, in Stücke zu zerbrechen, nach Anteilen zu scheiden und auf Waagschalen zu legen, so müßte sich gerade in der, angeblich doch dem deutschen Tiefsinn vorbehaltenen Domäne das Übergewicht derjenigen herausstellen, die das gleiche Vorurteil als die bloß kritischen Talente in die Vorhöfe des Genialen verweisen möchte. Wir wollen für längst Erwiesenes nicht noch einmal den Beweis antreten. Viel eher verlangt ein anderer Sachverhalt nach Klärung. Erstaunlich bleibt nämlich, wie produktiv sich aus der Erfahrung der jüdischen Tradition zentrale Motive der wesentlich protestantisch bestimmten Philosophie des Deutschen Idealismus erschließen lassen. Weil schon in den Idealismus selber kabbalistisches Erbe eingeströmt und von ihm aufgesogen ist, scheint sich dessen Licht im Spektrum eines Geistes um so reicher zu brechen, in dem etwas
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vom Geist der jüdischen Mystik, wie immer sich selbst auch verborgen, noch fortlebt. Die so abgründige wie fruchtbare Verwandtschaft der Juden mit der deutschen Philosophie hat teil an dem gesellschaftlichen Schicksal, das einst die Tore des Gettos aufgestoßen hat. Denn Assimilation, die Aufnahme der Juden in die bürgerliche Gesellschaft, ist eigentlich nur für die Minderheit der jüdischen Intellektuellen Wirklichkeit geworden. Die breite Masse des jüdischen Volkes war trotz einer anderthalb Jahrhunderte fortschreitenden Emanzipation über die Formalien der Gleichberechtigung nicht hinausgekommen; und auf der anderen Seite wurden auch die Hofjuden, ihre Nachfolger, die jüdischen Staatsbankiers des 19. Jahrhunderts, jüdische Geschäftsleute überhaupt, niemals ganz gesellschaftsfähig. Ja, sie selbst haben nicht einmal ernsthaft daran gearbeitet, die Schranken ihres unsichtbaren Gettos zu durchbrechen; eine allgemeine Emanzipation mußte ihre Privilegien bedrohen. Die Assimilation hat um den fortwährenden Fremdkörper der Judenschaft nur hauchdünn eine osmotische Haut gespannt. Ihr Medium war die akademisch erworbene Bildung, ihr Siegel oft genug die sozial erzwungene Taufe. Mochten diese Bildungsjuden geistig der Kultur ebenso viel zurückgeben, wie sie selbst ihr verdankten, so blieb doch ihre gesellschaftliche Stellung bis in die zwanziger Jahre hinein so zweideutig, daß ein Ernst Jünger nicht nur ihre Produktion als »Feuilleton-Geschwätz der Zivilisation« herabsetzen, sondern den Prozeß der Assimilation als solchen in Frage stellen konnte: Im gleichen Maße, in dem der deutsche Wille an Schärfe und Gestalt gewinnt, wird für die Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu können, unvollziehbarer werden und wird sich vor seiner letzten Alternative sehen, die lautet: in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein.
Das war 1930. Man gab denen, die sich einer dubiosen Politik der Apartheid nicht würden fügen können, damals schon das drohende Versprechen, das in den Konzentrationslagern so grauenvoll eingelöst worden ist. So erwuchsen dem Judentum gerade aus den Randschichten, die sich am erfolgreichsten assimiliert hatten, die Wortführer einer
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Rückwendung zu den Ursprüngen der eigenen Tradition. Diese Bewegung fand politisch im Zionismus Ausdruck; philosophisch in jenem gleichsam antizipierten Existentialismus eines Martin Buber, der sich an die letzte Phase der jüdischen Mystik anschließt. Der polnische und ukrainische Chassidismus des 18. Jahrhunderts zieht zwar aus kabbalistischen Schriften seine Ideen; aber die Lehre tritt so weit hinter der Persönlichkeit der chassidischen Heiligen zurück, daß die überlieferte Idealfigur des gelehrten Rabbiners von der des volkstümlichen Zaddik verdrängt wird. Dessen Existenz ist die ganz und gar lebendig gewordene Thora. In Bubers Eifer gegen die rationalistisch stillgelegte Lehre der Rabbiner, in seiner Aneignung der von mythischen Mären und mystischen Gesichten erfüllten Religion des Volkes, entzündet sich ein neues Pathos existentiellen Philosophierens: Mit der Zerstörung des jüdischen Gemeinwesens wurde die Fruchtbarkeit des Geisteskampfes geschwächt. Die geistige Kraft sammelte sich nunmehr auf die Erhaltung des Volks gegen die äußeren Einflüsse, auf die strenge Umzäunung des eigenen Bereiches, um das Eindringen fremder Tendenzen zu verhüten, auf die Kodifizierung der Werte, um aller Verschiebung vorzubeugen, auf die unmißverständliche, unumdeutbare, also konsequent rationale Formulierung der Religion. An die Stelle des gotterfüllten, fordernden, schöpferischen Elements trat immer mehr das starre, nur erhaltende, nur fortsetzende, nur abwehrende Element des offiziellen Judentums; ja, es richtete sich immer mehr gegen das Schöpferische, das ihm durch seine Kühnheit und Freiheit den Bestand des Volkstums zu gefährden schien, es wurde verketzernd und lebensfeindlich.
Der chassidische Impuls findet freilich erst in dem Werk Franz Rosenzweigs eine philosophische Sprache. Rosenzweig, der mit dem befreundeten Buber die Bibel ins Deutsche übertrug, hatte als Schüler von Friedrich Meinecke über Hegels Staatsphilosophie gearbeitet. In seinem eigenen großen Entwurf versucht er, wie schon von weitem der Titel des dreibändigen Buches, »Der Stern der Erlösung«, bekundet, eine Interpretation des idealistischen Denkens aus Tiefen der jüdischen Mystik. Er knüpft nicht nur als einer der ersten an Kierkegaard an; er nimmt auch Motive des sogenannten Spätidealismus, vor allem aus Schellings letzter Philosophie, auf; und verrät so den Stammbaum der Existenzphiloso-
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phie, Jahrzehnte bevor er von der offiziellen Philosophiegeschichte mühsam wiederentdeckt worden ist. Die Grundfrage, an der das idealistische Selbstvertrauen auf die Kraft des Begriffes zerbricht, ist die: »wie die Welt zufällig sein kann, obwohl sie doch als notwendig gedacht werden muß«. Das Denken arbeitet sich vergeblich an der undurchdringlichen Tatsache ab, daß die Dinge so und nicht anders, eben schlechthin zufällig sind, daß die geschichtliche Existenz der Menschen so tief in rätselhafte Willkür getaucht ist: Indem aber die Philosophie diese dunkle Voraussetzung alles Lebens leugnet, indem sie nämlich den Tod nicht für Etwas gelten läßt, sondern ihn zum Nichts macht, erregt sie für sich selbst den Schein der Voraussetzungslosigkeit ... Wollte die Philosophie sich nicht vor dem Schrei der geängsteten Menschheit die Ohren verstopfen, so müßte sie davon ausgehen: daß das Nichts des Todes ein Etwas, jedes neue Todesnichts ein neues, immer neu furchtbares, nicht wegzuredendes, nicht wegzuschreibendes Etwas ist... Das Nichts ist nicht Nichts, es ist Etwas ... Wir wollen keine Philosophie, die über die währende Herrschaft des Todes uns durch den All- und Einklang ihres Tanzes hinwegtäuscht. Wir wollen keine Täuschung. Die durchschaute Täuschung führt zu der Einsicht, daß die Welt, in der noch Lachen und Weinen ist, selber erst im Werden begriffen ist - die Erscheinungen suchen noch ihr Wesen. Im sichtbaren Geschehen der Natur entdeckt sich das Wachstum eines unsichtbaren Reiches, in dem Gott selber seiner Erlösung entgegensieht: Gott erlöst, in der Erlösung der Welt durch den Menschen, des Menschen an der Welt, sich selber.
Der Idealismus trat nur in Konkurrenz zur Theologie der Schöpfung; noch immer im Bann der griechischen Philosophie, blickte er nicht auf die unversöhnte Welt vom Standpunkt möglicher Erlösung. Seine Logik blieb an Vergangenheit haften: Wahre Dauerhaftigkeit ist stets in die Zukunft hinein. Nicht, was immer war, ist dauerhaft; nicht, was allzeit erneuert wird, sondern einzig, was kommt: das Reich. Dieser Sinn erschließt sich freilich nur einer Logik, die nicht, wie die idealistische, ihren sprachlichen Leib verleugnet; sie muß sich
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auf die in der Sprache niedergelegten Hintergedanken der Logik einlassen - Nachhall des alten kabbalistischen Gedankens, daß die Sprache Gott erreicht, weil sie von Gott ausgesandt ist. Der Idealismus verwarf die Sprache als Organon der Erkenntnis und erhob eine vergötterte Kunst zu ihrem Substitut. Ein Jude nahm Heidegger, dem philosophus teutonicus, diese eigentümliche Besinnung vorweg. Auf Feldpostbriefen schickte Rosenzweig gegen Ende des Ersten Weltkrieges das Manuskript dieses Buches nach Hause. Wie er damals an der Balkanfront den messianischen Beruf des jüdischen Exils begriff, bezeugt eine Stelle in einem dieser Briefe: Weil das jüdische Volk schon jenseits des Gegensatzes steht, der die eigentlich bewegende Kraft im Leben der Völker bildet, des Gegensatzes von Eigenart und Weltgeschichte, Heimat und Glaube, Erde und Himmel, so kennt es auch den Krieg nicht. Ein anderer jüdischer Philosoph hatte Weihnachten 1914 die ins Feld ziehenden Studenten im gleichen Sinne beschworen, daß der politische Ausdruck der messianischen Idee der ewige Friede sei: Da die Propheten als internationale Politiker das Böse nicht ausschließlich, noch vornehmlich in den Individuen erkannten, als vielmehr in den Völkern, so wurde ihnen das Verschwinden der Kriege, der ewige Friede unter den Völkern, zum Symbol der Sittlichkeit auf Erden. Hermann Cohen, der Kants Idee vom ewigen Frieden so eigentümlich ins Alte Testament zurücknimmt, steht allerdings in einem anderen Lager als Buber und Rosenzweig. Er repräsentiert die liberale Tradition der jüdischen Intellektuellen, die der deutschen Aufklärung innig verbunden waren und meinten, in ihrem Geiste mit der Nation sich überhaupt eins fühlen zu dürfen. Unmittelbar nach Kriegsausbruch hält Cohen in der Kantgesellschaft zu Berlin einen merkwürdigen Vortrag »Über das Eigentümliche des deutschen Geistes«; mit ihm stellt er dem imperialistischen Deutschland Wilhelms II. und seinen Militärs das Ursprungszeugnis des deutschen Humanismus aus. Empört weist er das »schmähliche« Wort von sich, welches zwischen dem Volk der Dichter und Denker auf der einen, dem der Kämpfer und Staatenbildner auf der anderen Seite unterscheiden wolle:
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Deutschland ist und bleibt in der Kontinuität des 18. Jahrhunderts und seiner weltbürgerlichen Humanität. Weniger weltbürgerlich ist der Ton, in dem er seine Apologie vorträgt: in uns kämpft die Originalität einer Nation, mit der keine andere sich gleichstellen kann. Diese Art Loyalität gegenüber dem Staat hat später diejenigen, die sich in verblendetem Stolz Nationaldeutsche Juden nannten, der tragischen Ironie einer Identifikation mit ihren Angreifern ausgeliefert. Cohen war das Haupt der berühmten Marburger Schule. In ihr mündete die jüdische Gelehrsamkeit einer Generation, die im Kantischen Geiste philosophierte und die Lehre des Meisters in eine Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaften transformiert hatte. Schon Kant selbst, der übrigens Mendelssohns Sprachkraft so sehr bewunderte, daß er einmal gestand: »wenn sich die Muse der Philosophie eine Sprache erkiesen sollte, so würde sie diese wählen« - Kant also bestimmte zum Partner des akademischen Streitgesprächs über seine Habilitationsschrift ebenfalls einen Juden, den ehemaligen Arzt Marcus Herz. Wie Lazarus Bendavid in Wien, so setzte dieser Herz in Berlin alles daran, Kantische Philosophie zu verbreiten. Der erste, der sich darüber hinaus den neuen Kritizismus produktiv angeeignet und damals schon radikal über dessen eigene Voraussetzungen hinausgetrieben hat, ist der genialische, in seiner Jugend von Spinoza inspirierte Salomon Maimon; er brachte es vom Bettler und Landstreicher zum mäzenatisch protegierten Gelehrten, dem der gewiß nicht bescheidene Fichte neidlos Überlegenheit zugestand. Maimon habe die Kantische Philosophie, so schrieb Fichte an Reinhold, von Grund auf umgestoßen: Das alles hat er getan, ohne daß es jemand merkt. Ich denke, die künftigen Jahrhunderte werden unserer bitterlich spotten. Nun, die deutschen Historiker haben keinen Anstoß genommen. Diese erste Generation der jüdischen Kantianer geriet in Vergessenheit, wie Kant überhaupt.
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Erst die Kampfschrift eines anderen Juden, Otto Liebmanns Ruf »Es muß auf Kant zurückgegangen werden«, hat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einem zweiten Kantianismus die Bahn gebrochen. Cohen konnte auf den von Maimon vorbereiteten Problemboden zurückkehren. Die Intention seines Lehrers hat der große Schüler Ernst Cassirer an Cohens Grab in die Worte zusammengefaßt: Der Vorrang der Aktivität vor der Passivität, des Selbständig-Geistigen vor dem Sinnlich-Dinglichen sollte rein und vollständig durchgeführt werden. Jede Berufung auf ein bloß Gegebenes sollte wegfallen: an Stelle aller angeblichen Grundlagen in den Dingen sollten die reinen Grundlegungen des Denkens, des Wollens, des künstlerischen und religiösen Bewußtseins treten. So wurde die Logik Cohens zur Logik des Ursprungs. Aber auch neben der direkten »Marburger Linie« hatten gerade jüdische Gelehrte wie Arthur Liebert, Richard Hönigswald, Emil Lask und Jonas Cohn an der kantisch gefärbten Erkenntnistheorie der Jahrhundertwende entscheidenden Anteil. Noch vom Marxismus entwickelten Max Adler und Otto Bauer eine Kantische Version. In diesem Klima gedieh üppig jener kommentierende und analysierende Scharfsinn, den ein ambivalentes Werturteil den Juden als Naturqualität beilegt - den übrigens auch ein Martin Buber der »abgelösten Geistigkeit« verdächtigt: eine von dem Wurzelgrund des natürlichen Lebens und von den Funktionen des echten Geisteskampfes abgelöste Geistigkeit, neutral, substanzlos, dialektisch, die sich an alle Gegenstände, auch an die indifferentesten hingeben konnte, um sie begrifflich zu zergliedern oder in Beziehung zueinander zu setzen, ohne auch nur einem wirklich schauend-triebhaft anzugehören. Nun mag erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Analyse, die sich geschichtsfremd und voraussetzungslos wähnt, den Neigungen jener Juden tatsächlich entgegengekommen sein, die einst die Freiheit des Gedankens durch Traditionsverzicht erringen mußten. Der Anschluß der dem Getto entwachsenden Generationen an den Stand einer aufgeklärten Kultur wurde mit dem Bruch althergebrachter Verpflichtung, mit einem Sprung in fremde Geschichte erkauft: Moses Mendelssohn mußte vor seinen Glaubensgenossen den Umgang mit deutscher Literatur geheimhalten! Vielleicht ist
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die Physiognomie des jüdischen Denkens auch dadurch geprägt worden, daß sich in ihm etwas von der Distanziertheit eines ursprünglich fremden Blicks erhalten hat. Wie dem Emigranten, der nach langer Zeit heimkehrt, das einst Vertraute nackter vor Augen steht; so ist auch dem Assimilierten eine besondere Scharfsichtigkeit eigen: ihm fehlt die Intimität mit jenen kulturellen Selbstverständlichkeiten, die, zum Material seiner Aneignung erkaltet, ihre Strukturen um so unverhohlener preisgeben. Andererseits hat gerade die rabbinische und erst recht die kabbalistische Hermeneutik der Heiligen Schrift jüdisches Denken jahrhundertelang in den exegetischen Tugenden des Kommentierens und Analysierens geschult. Und von Erkenntnistheorie wird es womöglich darum angezogen, weil deren Methode einer längst gewohnten mystischen Fragerichtung die rationalisierte Gestalt gibt. Die Stadien der Theogonie, die Entwicklungsgeschichte der werdenden Gottheit gewinnt ja der Mystiker aus einer Umkehrung des Weges seiner Seele zu Gott; sein Wissen ist deshalb immer schon durch eine Art transzendentale Besinnung auf die Weise der eigenen Erfahrung vermittelt. Nicht zufällig gebraucht Simmeis Einführung in die Philosophie die Mystik des Meisters Eckart als Schlüssel zu Kants Kopernikanischer Wendung. Die Anziehung Kants auf den jüdischen Geist erklärt sich natürlich in erster Linie daher, daß sich, außer in Goethe, in ihm die freie Haltung vernunftgläubiger Kritik und weltbürgerlicher Humanität zur hellsichtigsten und wahrhaftigsten Gestalt entfaltet hat. Sein Humanismus prägte jenen geselligen Verkehr, in dem eine Assimilation ohne Kränkung ihren frühen und einmaligen Augenblick erlebte: in den Berliner Salons um die Wende zum 19. Jahrhundert. Der Kritizismus war zudem auch das Medium der jüdischen Emanzipation vom Judentum selber. Er sicherte nicht nur urbane Gesinnung und weltläufige Toleranz auf seiten der Christen; er bot das philosophische Handwerkszeug, mit dessen Hilfe die großartige Selbstbewegung des jüdischen Geistes sich seines religiösen und sozialen Schicksals zu bemächtigen suchte. Kritik ist jüdische Philosophie in allen ihren Versionen geblieben. Eine bruchlose Emanzipation läßt die Gesellschaft freilich nicht zu.
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Weil die Assimilation Formen der Unterwerfung annahm, wurden viele in ihrem Privatleben um so jüdischer, je weniger ihnen eine rigorose Identifikation mit Erwartungen der Umwelt es noch gestattete, sich öffentlich irgend anders denn als ein betont Deutscher zu geben. Dieser sozialpsychologisch so durchsichtigen Spannung entspringt wohl auch ein nachgelassenes Werk von Cohen, das er dem Andenken seines orthodoxen Vaters gewidmet hat. Es heißt »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«. Der kantische Rationalismus hatte in der Marburger Schule das spezifische Pathos abgestreift, das er seiner lutherischen Herkunft verdankte; die Theorie wurde sozusagen noch einmal säkularisiert. Aber schließlich bricht die Decke der »Zivilisation«, in die sich die Zivilisationsjuden, wie man sie nannte, so ganz entäußert zu haben schienen; den alternden Cohen treibt die Frage nach der Verbindlichkeit des mosaischen Gotteswortes an den Rand seines Systems. Soweit die Menschlichkeit der Völker zur Prägnanz einer durch Philosophie und Wissenschaft geläuterten Kultur gediehen ist, teilen sie zwar dieselbe Religion der Vernunft. Der Begriff der Vernunft jedoch, der im Bilde einer Urquelle veranschaulicht werden kann, wird geschichtlich zuerst in den Zeugnissen der jüdischen Propheten erhellt. Mit letzter Anstrengung versucht Cohen, die Autonomie der Vernunft gegenüber dieser Positivität der Offenbarung zu retten. Sein philosophisches Gewissen beruhigt sich endlich bei dem verschlungenen Gedanken: Wenn ich schon für den Begriff der Religion auf die literarischen Quellen der Propheten hingewiesen bin, so bleiben diese doch stumm und blind, wenn ich nicht, freilich von ihnen belehrt, aber nicht schlechthin von ihrer Autorität geleitet, mit einem Begriff an sie herangetreten bin, den ich der Belehrung durch sie selbst erst zugrunde gelegt habe. Nun ist die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie unserer Gegenwart nicht etwa von Cohen, sondern von zwei anderen jüdischen Gelehrten bestimmt worden. Innerhalb Deutschlands hat sich weithin die Phänomenologie Edmund Husserls, international der von Ludwig Wittgenstein inaugurierte logische Positivismus durchgesetzt - in dieser Zeit die beiden erfolgreichsten philosophischen Theorien überhaupt.
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Im Todesjahr Hermann Cohens entsteht Wittgensteins berühmter Tractatus Logico-Philosophicus, der mit dem lapidaren Satz beginnt: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.« Unter seinem Einfluß stand der sogenannte »Wiener Kreis«, in dem Juden wie Otto Neurath und Friedrich Waismann eine bedeutende Stellung einnahmen. Später haben jüdische Emigranten der neuen Lehre mit zu ihrem weltweiten Siege verholfen; in den USA wirkte vor allem Hans Reichenbach, in Großbritannien Wittgenstein selbst. Er führte in Cambridge das Leben eines zurückgezogenen Privatdozenten. Ohne etwas zu veröffentlichen, vollzog er hier, in der Stille seiner Colloquien mit einem kleinen Schülerkreis, die Wendung von der logischen zur linguistischen Analyse. Dieser geht es nicht mehr in erster Linie um Analyse und folgerichtige Ausbildung einer tatsachenabbildenden Universalsprache. Sie dient überhaupt nicht einem systematischen, sondern nur mehr dem therapeutischen Zweck, beliebige Formulierungen sprachanalytisch zu untersuchen und ihren Sinn in »vollständiger Klarheit« auszudrücken. Die philosophischen Antworten bescheiden sich zu Empfehlungen dieser oder jener sprachlichen Ausdrucksweise und enden in der Artistik von Sprachspielen, die ihr Genüge ausschließlich in sich selber finden. Als Wittgenstein nach einem Schweigen von zweieinhalb Jahrzehnten, kurz vor seinem Tode, dem Drängen von Freunden und Schülern nachgibt, ein zweites Buch, seine »Philosophischen Untersuchungen«, erscheinen zu lassen, schickt er ihm das resignierte Wort voran: Ich hatte bis vor kurzem den Gedanken an eine Veröffentlichung meiner Arbeit bei Lebzeiten eigentlich aufgegeben ... Ich übergebe meine Bemerkungen mit zweifelhaften Gefühlen der Öffentlichkeit. Daß es dieser Arbeit in ihrer Dürftigkeit und der Finsternis dieser Zeit beschieden sein solle, Licht in ein oder das andere Hirn zu werfen, ist nicht unmöglich; aber freilich nicht wahrscheinlich. Wittgenstein rühmt als seine eigentliche Entdeckung die, die uns fähig macht, das Philosophieren an beliebiger Stelle abzubrechen. Die Philosophie soll zur Ruhe kommen, so daß sie nicht mehr von Fragen selber in Frage gestellt werden kann. Schon im Tractatus hatte sich der tiefere Impuls in dem Satz verraten:
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Wir fühlen, daß selbst, wo alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langem Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand? Wittgenstein zögert nicht, diese Einsicht auch auf seine eigenen Reflexionen anzuwenden: Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht,am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er hinaufgegangen ist ... Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. Ein solches Schweigen hat transitiven Sinn. Noch das Ausgesprochene muß in das gebrochene Schweigen wieder zurückgenommen werden. Wie ein Kommentar liest sich Rosenzweigs Bemerkung: Es gibt nichts im tieferen Sinn Jüdisches als ein letztes Mißtrauen gegen die Macht des Wortes und ein inniges Zutrauen zur Macht des Schweigens. Weil die eigene Sprache, das Hebräische, nicht die Sprache des Alltags, sondern als die heilige Sprache diesem entrückt war, ist dem Juden die letzte und selbstverständlichste Unbefangenheit des Lebens, in seiner Qual zu sagen, was er leidet, genommen: Mit seinem Bruder kann er deshalb überhaupt nicht sprechen, mit ihm verständigt ihn der Blick besser als das Wort... Gerade im Schweigen und in den schweigenden Zeichen der Rede fühlt der Jude auch seinen Sprachalltag noch heimisch in der heiligen Sprache seiner Feierstunde. Die Kabbala zeigt gegenüber den mystischen Traditionen anderer Herkunft einen charakteristischen Unterschied: Die schriftliche Überlieferung ist dürftig, die mystische Autobiographie fehlt ganz. Gersbom Scholem, der Historiker der jüdischen Mystik, berichtet von der eigenartigen Selbstzensur der Kabbalisten, die zum Schweigen oder doch zu einer nur mündlichen Überlieferung verpflichtete; Handschriften wurden getilgt, und wo sie dennoch erhalten blieben, gelangten sie nur selten zum Druck. Von daher gesehen,
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erscheint Wittgensteins Sprachgebrauch, wenn er vom Mystischen spricht, durchaus streng: Es gibt allerdings Unaussprechliches. Das zeigt sich, es ist das Mystische. Husserl hingegen versuchte, eben auf der strengen Beschreibung solcher Phänomene, die sich von sich »selbst« her zeigen, die intuitiv in unmittelbarer Evidenz »gegeben« sind, Philosophie als exakte Wissenschaft zu begründen. Die Absicht teilt die transzendentale Phänomenologie mit dem logischen Positivismus, nicht aber den Weg. Beide halten den Cartesischen Ansatz eines Zweifels fest, der niemals an sich selber verzweifelt; aber die »Sachen«, zu denen Husserl vordringen möchte, sind nicht die semantisch und syntaktisch analysierbaren Sätze der natürlichen oder wissenschaftlichen Sprachen, sondern Leistungen des Bewußtseins, aus denen sich die Sinnbezüge unserer Lebenswelt aufbauen. Diese Intentionen und ihre »Erfüllungen« wollte Husserl nicht ableiten, sondern von einem »denkbar letzten Erfahrungsstandpunkt« aus schlicht sehen lassen - darin unterschied er sich scharf von den Neukantianern, vom alten Idealismus überhaupt. Plessner begleitete eines Tages seinen Lehrer Husserl im Anschluß ans Seminar nach Hause: Als wir vor seiner Gartentür angelangt waren, kam sein tiefer Unmut zum Ausbruch: »Mir ist der ganze deutsche Idealismus immer zum Kotzen gewesen. Ich habe mein Leben lang« - und dabei zückte er seinen dünnen Spazierstock mit silberner Krücke und stemmte ihn vorgebeugt gegen den Türpfosten - »die Realität gesucht.« Unüberbietbar plastisch vertrat der Spazierstock den intentionalen Akt und der Pfosten seine Erfüllung. Husserl vereinsamte in seiner Freiburger Wohnung zusehends, als sich der politische Horizont verdüsterte. Seine Spätphilosophie — er starb 1937 - konnte er nur noch außerhalb der deutschen Grenzen, in Wien und Prag, öffentlich vortragen. Anders als Wittgenstein, nahm er den systematischen Anspruch nicht in die Selbstgenügsamkeit der linguistischen Glasperlenspiele oder gar in die Verschwiegenheit des mystisch Unaussprechlichen zurück. Er versuchte vielmehr noch einmal einen großen, einen letzten Entwurf, der die 5°
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Krisis der europäischen Wissenschaften als Krise des europäischen Menschentums begreifen und überwinden helfen sollte. Der Woge des faschistischen Irrationalismus wollte Husserl den Damm eines erneuerten Rationalismus entgegensetzen; denn: der Grund des Versagens einer rationalen Kultur liegt nicht im Wesen des Rationalismus selbst, sondern allein in seiner Veräußerlichung, in seiner Versponnenheit in Naturalismus und Objektivismus. Echt idealistisch glaubt er das Unheil wenden zu können, wenn es nur gelänge, die Geisteswissenschaften phänomenologisch exakt zu begründen. Ja, die Krisis schien geradezu darin zu wurzeln, daß ein veräußerlichter Rationalismus deren Begründung auf eine falsche und verhängnisvolle Weise versuchte; nämlich durch die naturwissenschaftliche Zurückführung aller geistigen Phänomene auf ihre physikalisch erklärbaren Unterlagen. Statt dessen soll nun der Geist in sich selber zurücksteigen und die ihm selbst verborgenen Leistungen des Bewußtseins aufklären. Husserl vertraut der weltbewegenden Kraft dieser »theoretischen Einstellung«: Das ist nicht nur eine neue Erkenntnishaltung. Vermöge der Forderung, die gesamte Empirie idealen Normen, nämlich denen der unbedingten Wahrheit, zu unterwerfen, ergibt sich daraus alsbald eine weitgehende Wandlung der gesamten Praxis des menschlichen Daseins, also des gesamten Kulturlebens. Mit einem fragwürdigen Wort möchte Husserl die Philosophen zu »Funktionären der Menschheit« berufen. Schon in früheren Werken hatte er ein Verfahren ausgearbeitet, mit dessen Hilfe sich die Phänomenologen der rechten Erkenntniseinstellung versicherten. Eine Art Entwirklichung der Wirklichkeit sollte die interessierte Verflochtenheit mit dem realen Lebensprozeß auflösen, um so reine Theorie zu ermöglichen. In dieser Enthaltsamkeit, der Epoche, wie er sie nannte, übte sich Husserl täglich in bewunderungswürdiger Askese; in ihr meditierte er Monate und Jahre; und aus den Stenogrammen solcher Meditationen stammen die Berge von nachgelassenen Forschungsmanuskripten, Zeugnisse einer Arbeitsphilosophie, die Husserl weder als Professor je vorgetragen noch als Autor veröffentlicht hat. - Worin er sich also übte, war eine
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methodische Veranstaltung. Ihr aber unterlegt der greise Philosoph, als die Politik ihn aus der Kontemplation herausreißt, einen geschichtsphilosophischen Sinn. Die auf dem Boden der Enthaltsamkeit von aller Praxis erwachsene Theorie soll am Ende die »neuartige Praxis« einer wissenschaftlich angeleiteten Politik ermöglichen: Eine Praxis, die darauf aus ist, durch die universale wissenschaftliche Vernunft die Menschheit nach Wahrheitsnormen aller Formen zu erziehen, sie zu einem von Grund aus neuen Menschentum zu verwandeln, befähigt zu einer Selbstverantwortung auf Grund absoluter theoretischer Einsichten. Das geschichtsphilosophische Mäntelchen war schon durchgescheuert, noch bevor Husserl es seiner im Kern unhistorischen Lehre überzog. Dennoch besticht seine Haltung: auf verlorenem Posten hält er am Pathos und an der Illusion reiner Theorie fest. Wie sehr dieser Posten verloren war, zeigte sich schon im Jahre 1929, als in Davos das berühmte Streitgespräch zwischen Cassirer und Heidegger stattfand. Das Thema hieß: Kant; in Wahrheit stand das Ende einer Epoche zur Diskussion. Der Gegensatz der Schulen trat hinter dem der Generationen zurück: Cassirer repräsentierte die Welt, der auch Husserl zugehörte, gegen dessen großen Schüler; die gebildete Welt des europäischen Humanismus gegen einen auf Ursprünglichkeit des Denkens sich berufenden Dezisionismus; dessen Radikalität griff der Goethe-Kultur in der Tat an die Wurzel. Nicht zufällig ist der Goethe-Kult zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Salon der Rahel Varnhagen kreiert worden. Denn nach dem Vorbild des »Wilhelm Meister«, der »Bildung zur Persönlichkeit« so eigentümlich und so trügerisch als eine Assimilation des Bürgerlichen an den Edelmann verstand, hat wohl niemand mit solcher Intensität gestrebt wie eben jene Juden, die man denn auch »Ausnahmejuden der Bildung« genannt hat. Was sie von ihr erwarteten, hat Simmel ausgesprochen: Vielleicht hat niemand ein so symbolisches Leben gelebt wie Goethe, weil er jedem nur ein Stück und Seiten seiner Persönlichkeit gab und zugleich doch »allen das Ganze«. In dieser Weise symbolisch zu leben, ist die einzige Möglichkeit, nicht Komödiant und Maskenträger zu sein.
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Der verinnerlichte Goethe verhieß nicht nur den Weg zur Assimilation, sondern gleichzeitig auch die Erlösung von ihrer Qual - stets eine Rolle spielen zu müssen, ohne mit sich selbst identisch sein zu dürfen. In dieser doppelten Hinsicht war die Kultur der deutschen Klassik für die Juden gesellschaftlich eine Lebensnotwendigkeit. Vielleicht verdanken wir darum gerade ihnen die sensibelsten ästhetischen Reflexionen: von Rosenkranz und Simmel selbst, über Benjamin und Lukács zu Adorno. Während jenes Davoser Gesprächs stellte ein Student drei Fragen an Cassirer; jede seiner Antworten endete mit einem Goethe-Zitat. Heidegger aber polemisierte gegen den faulen Aspekt eines Menschen, der die Werke des Geistes bloß benutzte; er, Heidegger, wolle in die »Härte des Schicksals zurückwerfen«. Die Diskussion endete damit, daß Heidegger die ausgestreckte Hand seines Partners zurückwies. Wie eine Fortsetzung liest sich heute, was Heidegger vier Jahre später auf der Leipziger Wahlkundgebung der Deutschen Wissenschaft im Namen der Hitlerpartei verkündete: Wir haben uns losgesagt von der Vergötzung eines boden- und machtlosen Denkens. Wir sehen das Ende der ihm dienstbaren Philosophie ... Der ursprüngliche Mut, in der Auseinandersetzung mit dem Seienden an diesem entweder zu wachsen oder zu zerbrechen, ist der innerste Beweggrund des Fragens einer völkischen Wissenschaft. Denn der Mut lockt nach vorne, der Mut löst sich vom Bisherigen, der Mut wagt das Ungewohnte und Unberechenbare. Diesem Unberechenbaren mußte Cassirer im gleichen Augenblick weichen. Die Emigration führte ihn über Schweden und England schließlich in die USA. Dort schrieb er sein letztes Werk über den »Mythos des Staates«; dessen Schlußkapitel handelt von der Technik moderner politischer Mythen. Es endet mit dem Kommentar zu einer babylonischen Legende: Die Welt der menschlichen Kultur konnte nicht entstehen, ehe die Finsternis des Mythos besiegt und überwunden war. Aber die mythischen Ungeheuer waren nicht endgültig vernichtet. Heideggers wie immer fragwürdiger Sieg über die humane Geistigkeit eines Cassirer gewinnt freilich Unerbittlichkeit erst dadurch, daß er die aufklärerische Position auch einer wirklichen Schwäche
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überführte: gegenüber dem als »radikal« proklamierten Denken reichen die Wurzeln des 18. Jahrhunderts nicht tief genug. Aber vor dem 18. Jahrhundert liegt kein jüdisches Abendland, liegt vielmehr das Mittelalter des Gettos. Ein Rückgang auf die Griechen, wo er von Juden versucht wurde, hat so immer etwas Kraftloses behalten - Kraft barg allein die Tiefe der eigenen Tradition, die Kabbala. Cabbalisten hatten über Jahrhunderte die Technik der allegorischen Auslegung ausgebildet, bevor Walter Benjamin die Allegorie als Schlüssel der Erkenntnis wiederentdeckte. Sie ist der Gegenbegriff zum Symbol. Als Welt der symbolischen Formen hatte Cassirer alle Gehalte des Mythos, der Philosophie, der Kunst und der Sprache begriffen, in deren objektivem Geist die Menschen miteinander kommunizieren, in dem sie überhaupt nur existieren können; denn in der symbolischen Form, so meinte Cassirer mit Goethe sagen zu dürfen, sei das Unbegreifliche getan, das Unaussprechliche zur Sprache, das Wesen zur Erscheinung gebracht. Aber Benjamin erinnert daran, daß sich die Geschichte in allem, was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Anbeginn hat, dem Ausdruck des Symbols und der Harmonie der klassischen Gestalt verschließt. Die Exposition der Weltgeschichte als Leidensgeschichte gelingt nur der allegorischen Darstellung. Allegorien sind nämlich im Reiche der Gedanken, was Ruinen im Reiche der Dinge sind: Unfreiheit, Unvollendung und Gebrochenheit der sinnlichen, der schönen Physis zu gewahren, war wesentlich dem Klassizismus versagt. Gerade diese aber bringt die Allegorien des Barocks, verborgen unter ihrem tollen Prunk, mit vordem ungeahnter Betonung hervor.
Vor dem allegorisch geschulten Blick verliert sich die Unschuld einer Philosophie der symbolischen Formen; vor ihm enthüllt sich die Brüchigkeit jenes von Kant und Goethe, wie es schien endgültig, gefestigten Bodens einer aufgeklärten Kultur der Schönheit. Nicht als hätte Benjamin deren Idee preisgegeben; aber er sah der Zwiespältigkeit jener »Bildungswerte« und »Kulturgüter« auf den Grund, die gerade Juden so naiv im Munde führten. In Wahrheit ist die Geschichte der Siegeszug der Herrschenden über die, die am Boden liegen:
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Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt man bezeichnet sie als die Kulturgüter ... Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist.
Benjamin nahm sich 1940 das Leben, als ihn, nach einer Flucht durch Südfrankreich, die spanische Grenzbehörde an die Gestapo auszuliefern drohte. Er hat geschichtsphilosophische Thesen hinterlassen, eines der bewegendsten Zeugnisse jüdischen Geistes. In ihnen ist die Dialektik der Aufklärung, die im gebrochenen Fortschritt der noch unentschiedenen Geschichte waltet, als allegorische Deutung festgehalten. Die neunte These lautet: Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette vor Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
Aber nicht erst Benjamin durchbricht den Zirkel des auf Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie eingeschworenen jüdischen Denkens, das sich dann in der Ausmessung der geschichtsphilosophischen Dimensionen so kühn entfalten wird. Schon Simmel, der mit George und Rilke ebenso befreundet ist wie mit Bergson und Rodin, überschreitet die Grenzen der damals herrschenden Schulphilosophien: Drei Kategorien von Philosophen gibt es: die einen hören das Herz der Dinge klopfen, die anderen nur das der Menschen, die dritten nur das der Begriffe; und eine vierte (der Professoren der Philosophie), die nur das Herz der Literatur hören.
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In Simmels Nachlaß findet sich ein charakteristisches Fragment zur Schauspielkunst. Es verarbeitet jene typische Erfahrung der assimilierten Juden, die ihrer privaten Existenz so oft den Zug nervöser Dynamik verleiht. Hannah Arendt, die kluge Historikerin des Antisemitismus, hat am Beispiel des Pariser Fin du siecle beschrieben, wie gerade die philosemitischen Kreise gebildeten Juden mit dem merkwürdigen Kompliment Zutritt gewährten, daß man ihnen ihre Herkunft gar nicht mehr ansehe: sie sollten Juden, aber nicht wie Juden sein. In diesem zweideutigen Hin und Her wurde jedes der in Frage stehenden Individuen ein gelernter Schauspieler, nur daß der Vorhang, der dem Spiel ein Ende machen sollte, nie mehr heruntergelassen wurde, und die Menschen, die aus ihrem ganzen Leben eine theatralische Rolle gemacht hatten, auch in der Einsamkeit nicht mehr wußten, wer sie eigentlich waren. Kamen sie in Gesellschaft, so erspähten sie instinktiv diejenigen, die ihresgleichen waren, erkannten sich automatisch an der ungewöhnlichen Mischung von Hochmut und Angst, die jede ihrer Gebärden bestimmt und festgelegt hatte. Hieraus entsprang dann das von Proust so ausführlich besprochene Augurenlächeln der Clique, das ... nur geheimnisvoll anzeigte, was alle anderen Anwesenden längst wußten, nämlich daß in jeder Ecke des Salons der Gräfin Sowieso noch ein Jude saß, der es nie zugeben durfte und der ohne diese, an sich ja belanglose Tatsache verrückterweise auch nie in die ersehnte Ecke gekommen wäre.
Juden, denen man obendrein die Erbarmungslosigkeit ihrer Umgebung als eine »hintergründige Dämonie des Maskenwechsels« persönlich zur Last legte, mußten für den Rollencharakter menschlicher Existenz überhaupt empfindlich werden. Wenn ich mit dieser geschärften Sensibilität eine Einsicht Simmels in Zusammenhang bringe, zieht das ihre Geltung nicht in Zweifel. In jener Abhandlung heißt es nämlich: Wir tun nicht nur Dinge, zu denen uns die Kultur- und Schicksalsschläge äußerlich veranlassen, sondern wir stellen unvermeidlich etwas dar, was wir nicht eigentlich sind ... Sehr selten bestimmt ein Mensch seine Verhaltungsart ganz rein von seiner eigensten Existenz her, meistens sehen wir eine präexistierende Form vor uns, die wir mit unserem individuellen Verhalten erfüllt haben. Dieses nun: daß der Mensch ein vorgezeichnetes
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Anderes als seine zentraleigene, sich selbst überlassene Entwicklung darlebe oder darstelle, damit er dennoch sein eigenes Sein nicht schlechthin verläßt, sondern das Andere mit diesem Sein selbst erfüllt und dessen Strömungen in jene vielfach geteilten Adern leitet, deren Wege, obgleich in einem vorgeschriebenen Flußbett verlaufend, das ganze innere Sein zur besonderen Gestaltung aufnimmt - das ist die Vorform der Schauspielkunst ... In eben dieser Bedeutung sind wir alle irgendwie Schauspieler.
Auch Helmuth Plessner entwickelte aus seiner »Anthropologie des Schauspielers« Anthropologie überhaupt. Der Mensch lebt nicht bloß wie das Tier im Zentrum seines Leibes, sondern fällt, ohne diese Zentrierung aufheben zu können, doch auch aus ihr heraus; er muß sich stets zu sich und anderen verhalten, ein selbstinszeniertes Leben nach den Regieanweisungen der Gesellschaft führen: Als das Verhältnis zu sich selbst ist der Schauspieler die Person einer Rolle, für sich und den Zuschauer. In dieser Verhältnismäßigkeit wiederholen Spieler und Zuschauer jedoch nur die Abständigkeit des Menschen zu sich und zueinander, die ihr tägliches Leben durchdringt ... Denn was ist schließlich dieser Ernst der Alltäglichkeit anderes als das Sich-einer-Rolleverpflichtet-Wissen, welche wir in der Gesellschaft spielen wollen? Freilich will dieses Spiel nicht darstellen, ... die Last des Bildentwurfs für unsere soziale Rolle ist uns durch die Tradition, in die wir hineingeboren werden, abgenommen. Trotzdem müssen wir, als virtuelle Zuschauer unsrer selbst und der Welt die Welt als Szene sehen ...
Eine Anthropologie, die den Menschen aus seinem Zwang zum Rollenspiel versteht, findet bruchlos ihre Fortsetzung in der Soziologie. Simmel wie Plessner haben soziologisch gearbeitet, ebenso Max Scheler, der eigentliche Begründer der philosophischen Anthropologie. Während seiner letzten Jahre lehrte Scheler Soziologie an der Frankfurter Universität, die sich durch die Wirksamkeit Franz Oppenheimers und Gottfried Salomons, Carl Grünbergs und Karl Mannheims gerade als Stätte soziologischer Forschung Ruhm erworben hatte. Max Horkheimer verband sein philosophisches Ordinariat mit der Leitung des Instituts für Sozialforschung. Und selbst ein Martin Buber wurde hier zum Soziologen. Wie überhaupt jüdischer Geist in der deutschen Soziologie dominierte - von den Tagen eines Ludwig Gumplowicz an. Die Juden mußten Gesell-
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schaft als etwas, woran man sich stößt, so aufdringlich erfahren, daß sie einen soziologischen Blick sozusagen von Haus aus mitbekamen. Auch in den Nachbarwissenschaften waren sie es, die als erste ihren Gegenstand unter soziologischem Aspekt zu betrachten lernten. Eugen Ehrlich und Hugo Sinzheimer begründeten die Rechtssoziologie. Ludwig Goldscheid und Herbert Sultan waren die führenden Finanzsoziologen. An der Macht des Geldes entzündete sich freilich die Phantasie jüdischer Gelehrter überhaupt wofür Marx, insbesondere der junge, ein Beispiel ist. Dabei mag die intime Feindschaft der Bildungsjuden zu den Geldjuden ein Motiv gewesen sein, jener sublime innerjüdische Antisemitismus gegen die Schicht, deren Imago von den Rothschilds geprägt war. Simmel, selber Sohn eines Kaufmanns, schrieb gar eine »Philosophie des Geldes«. Bei Simmel taucht aber auch schon, neben dem soziologischen, das andere für Juden typische Interesse an einer mystisch inspirierten Naturphilosophie auf. Er notiert einmal in sein Tagebuch: Nicht nur jeden Menschen, sondern auch jedes Ding so behandeln, als wäre es ein Selbstzweck - das gäbe eine kosmische Ethik. Der mystische Zusammenhang von Moral und Physik begegnet hier noch in kantischer Terminologie. Ein Freund Simmels, Karl Joel, schrieb über den »Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geist der Mystik«. Und in den zwanziger Jahren unternahm es David Baumgardt, das sogenannte Unrecht an Baader, den ein positivistisches Zeitalter so ganz vergessen hatte, wiedergutzumachen. In dieser Untersuchung über »Franz von Baader und die philosophische Romantik« stößt ein Jude auf die Goldader jener naturphilosophisch trächtigen Weltalterspekulationen, die von Jakob Böhme über den schwäbischen Pietismus zu den Tübinger Stiftlern: Schelling, Hegel und Hölderlin, führt. Vorher hatte schon Richard Unger, in dem spannungsreichen Verhältnis Hamanns zur Aufklärung, den »realistischen Zug« der protestantischen Mystik erkannt, die sich mit der Annahme eines Naturgrundes in Gott von der spiritualistischen Mystik des Mittelalters abhebt. Einen gewissen Einschlag dieser Tradition zeigen selbst die naturphilosophischen Entwürfe Schelers und Plessners. Sie verraten bei
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all ihrer nüchternen Verarbeitung der einzelwissenschaftlichen Materialien doch einen spekulativen Zug, der aus Naturmystik stammt; zur Idee des werdenden Gottes kehrt Schelers Kosmologie sogar ausdrücklich zurück. Aber allen diesen jüdischen Gelehrten scheint nicht voll zum Bewußtsein gekommen zu sein, welch eigentümlicher Trieb sie auf die Fährte dieser (eigenartigen) Tradition gesetzt hatte. Sie haben vergessen, was am Ende des 17. Jahrhunderts noch allgemein bekannt war und woran Scholem erinnert: damals ist Johann Jakob Spaeth, ein Jünger der Böhmeschen Mystik, von der Übereinstimmung dieser Lehre mit der Theosophie des Isaac Luria überwältigt, zum Judentum übergetreten. Und als umgekehrt der protestantische Pfarrer Friedrich Christoph Oetinger, dessen Schriften Hegel und Schelling ebensogut wie Baader gelesen hatten, wenige Jahre später den Kabbalisten Koppel Hecht im Frankfurter Getto aufsuchte, um in die jüdische Mystik eingeweiht zu werden, erwiderte ihm dieser: Die Christen haben ein Buch, das von der Kabbala noch viel deutlicher redet als der Sohar. Gemeint war Jakob Böhme. Diese Art »Theologie« hatte wohl Walter Benjamin bei seiner listigen Bemerkung im Auge, daß der historische Materialismus es ohne weiteres mit jedem würde aufnehmen können, wenn er nur die Theologie in seinen Dienst nähme. Das ist durch Ernst Bloch geschehen. Bloch verbindet im Medium einer marxistisch angeeigneten jüdischen Mystik das soziologische mit dem naturphilosophischen Interesse zu einem System, das, wie heute kein anderes, vom großen Atem des deutschen Idealismus getragen ist. Im Sommer 1918 erschien »Der Geist der Utopie«, der dem ökonomisch befangenen Marxismus den Spiegel vorhält: er gleiche einer »Kritik der reinen Vernunft«, zu der die »Kritik der praktischen Vernunft« noch geschrieben werden müsse. Die Wirtschaft ist hier aufgehoben, aber die Seele, der Glaube fehlt, dem Platz gemacht werden sollte; der tätig kluge Blick hat alles zerstört, gewiß vieles mit Recht zerstört ... Auch wurde der allzu arkadische, der utopisch-rationale Sozialismus mit Grund desavouiert, wie er seit der
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Renaissance wiederauftauchte als säkularisierte Weise des tausendjährigen Reiches und oft nur als wesenlose Draperie, Ideologie höchst nüchterner Klassenziele und Wirtschaftsrevolutionen. Aber damit ist freilich weder die utopische Tendenz in all diesem begriffen, noch die Substanz ihrer Wunschbilder getroffen und gerichtet, noch gar der religiöse Urwunsch verabschiedet ..., sich göttlich zu verwesentlichen, sich chiliastisch in Güte, Freiheit, Licht des Telos endlich einzubauen.
In der Lurianischen Mystik wird die Vorstellung entwickelt, daß das Weltall durch einen Prozeß der Einschrumpfung und der Zusammenziehung entsteht; Gott verschränkt sich in sich, er tritt sozusagen ein Exil in sich selbst an. Daraus erklärt sich dann die uranfängliche Undurchdringlichkeit und Kraft der Materie, auch die Positivität des Bösen, das sich nicht mehr leichthin zu einer Abschattung des Guten verflüchtigen läßt. Andererseits bleibt dieser dunkle Grund doch auch eine Natur in Gott, bleibt die Natur Gottes, selber eine göttliche Potenz - die Weltseele oder natura naturans. In diese Tiefen reicht der Begriff, den Bloch seinem spekulativen Materialismus zugrunde legt. Die Materie bedarf der Erlösung; denn seit jener theologischen Katastrophe, die der Sohar im Bilde eines »Bruchs der Gefäße« beschreibt, tragen alle Dinge einen Bruch in sich, sind, wie Bloch es ausdrückt, Auszugsgestalten ihrer selbst. Freilich war der Prozeß der Wiederherstellung fast schon wieder vollendet, als Adams Fall von neuem die Welt von ihren Stufen herabgestürzt, Gott selbst ins Exil zurückgeworfen hat. Dieses neue Weltalter ist, mit dem alten Ziel der Erlösung der Menschheit und der Natur, ja des vom Throne gestoßenen Gottes, nun den Menschen selber überantwortet. Mystik wird zu einer Magie der Innerlichkeit; denn jetzt ist das Äußerlichste vom Innerlichsten abhängig - ein altes Wort des Sohar verbürgt die Erlösung, sobald nur eine einzige Gemeinde vollkommene Buße tut. Das Gebet wird zur geschichtsphilosophisch bedeutsamen Manipulation. Bei Bloch nimmt die Stelle dieser religiösen Praxis die politische ein. Das Kapitel über »Marx, Tod und Apokalypse« trägt noch den Untertitel: über die Weltwege, wie das Inwendige auswendig werden kann. In ihm findet sich der Satz:
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Eine Verlegenheit ist die Materie von alters her, nicht nur für den Erkennenden, sondern eine Verlegenheit an sich selber; sie ist das eingestürzte Haus, in dem der Mensch nicht vorkam, die Natur ist ein Schutthaufen von betrogenem, gestorbenem, verdorbenem, verwirrtem und umgekommenem Leben ... Nur der gute, eingedenke, schlüsselhaltende Mensch kann in dieser Nacht der Vernichtung den Morgen herbeiziehen, wenn anders die unrein Gebliebenen ihn nicht schwächen und wenn anders sein Rufen nach dem Messias erleuchtet genug ist, um die errettenden Hände zu erregen, um sich der Gnade des Anlangens genau zu versichern, um in Gott die uns und ihn selber herüberziehenden Kräfte, die atembringenden, gnadenreichen Kräfte des Sabbathreiches zu erwecken, mithin um das rohe, satanisch atemraubende Brandmoment der Apokalypse sogleich in den Sieg zu verschlingen und zu verwinden.
In seinem fünfteiligen Werk über das Prinzip der Hoffnung hat Bloch diese frühe Vision, die ihren geistesgeschichtlichen Zusammenhang deutlicher verrät als alles Spätere, philosophisch geklärt. Den Schelling der »Weltalter« hat er nun im Marx der »Pariser Manuskripte« aufgehoben: Der menschliche Reichtum wie der von Natur insgesamt..., die wirkliche Genesis, ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten ausbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Sein ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.
Weil Bloch auf Schelling zurückgeht; und Schelling aus dem Geiste der Romantik das Erbe der Kabbala in die protestantische Philosophie des Deutschen Idealismus einholt - sind, wenn anders solche Kategorien überhaupt einen Sinn haben, die jüdischen Elemente der Blochschen Philosophie zugleich die wahrhaft deutschen. Hohn sprechen sie dem Trachten nach einer solchen Unterscheidung überhaupt. Wie Bloch aus Schellingschem, Plessner aus Fichteschem Geist den deutschen Idealismus sich anverwandelt und dessen vorauseilenden Einsichten am gegenwärtigen Stand der Wissenschaften bewährt haben, so sind es wiederum jüdische Gelehrte, Freunde Walter
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Benjamins, gewesen, die Hegels Dialektik der Aufklärung soweit zu ihrem Ende gedacht haben, wie irgend der währende Anfang den Blick auf das noch ausstehende Ende frei gibt: Theodor Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse; ihnen ist der frühe Georg Lukács vorangegangen. Allein, wo das Philosophieren beginnt, schließt der bloße Bericht; und nur darin bestand meine Aufgabe. 1 Ich habe gezögert, sie zu übernehmen. Würde nicht dieses wie immer hochherzig geplante Unternehmen doch dazu führen müssen, den Ausgetriebenen und den Erschlagenen noch einmal einen Judenstern anzuheften? Mit 15 oder 16 Jahren hockten wir an den Radiogeräten und erfuhren, was vor dem Nürnberger Tribunal verhandelt wurde; als andere dann, statt vor dem Grauenhaften zu verstummen, anhuben, über die Rechtmäßigkeit des Gerichts, über Verfahrensfragen und Zuständigkeiten zu streiten, gab es wohl jenen ersten Riß, der immer noch klafft. Gewiß ist es nur das Verdienst eines empfindlichen und verletzbaren Lebensalters, daß wir uns damals der Tatsache der kollektiv verwirklichten Unmenschlichkeit nicht im selben Maße verschlossen haben wie die meisten der Älteren. Aus dem gleichen Grunde blieb für uns die sogenannte Judenfrage eine sehr gegenwärtige Vergangenheit, aber eben nicht ein selbst Gegenwärtiges. Es bestand eine deutliche Sperre auch gegen das leiseste Beginnen, Juden von NichtJuden, Jüdisches von Nichtjüdischem, und sei es nur dem Namen nach, zu unterscheiden: obwohl ich jahrelang Philosophie studiert habe, war mir, bis ich diese Arbeit begonnen habe, nicht bei der Hälfte der genannten Gelehrten überhaupt ihre Herkunft bewußt. Solche Naivität halte ich heute nicht mehr für angemessen. Vor kaum 25 Jahren konnte der klügste und bedeutendste deutsche Staatsrechtler, nicht ein beliebiger Nazi, sondern Carl Schmitt, eine wissenschaftliche Tagung mit der ungeheuerlichen Parole eröffnen : 1 Ich habe diese Arbeit für eine Sendereihe des Norddeutschen Rundfunks über Portraits deutsch-jüdischer Geistesgeschichte geschrieben. Thilo Koch, auf dessen Initiative die Reihe zurückgeht, hatte alle Beteiligten gebeten, abschließend die Erfahrungen zu registrieren, die sie als Autoren bei der Bearbeitung ihres Themas gemacht haben.
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Wir müssen den deutschen Geist von allen jüdischen Fälschungen befreien, Fälschungen des Begriffes Geist, die es ermöglicht haben, daß jüdische Emigranten den großartigen Kampf des Gauleiters Julius Streicher als etwas Ungeistiges bezeichnen konnten. Ich unterstelle, daß man weiß, wer Julius Streicher war. Damals hat Hugo Sinzheimer aus seinem holländischen Exil mit einem Buch über die jüdischen Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft geantwortet. Im Schlußwort wendet er sich an eben diesen Carl Schmitt: Achtet man auf den Ursprung der wissenschaftlichen Tätigkeit der Juden in der Emanzipationszeit, so handelt es sich nicht um den Einfluß jüdischen Geistes auf deutsche wissenschaftliche Arbeit... Vielleicht nirgends in der Welt hat deutsches Geistesleben außerhalb des Ursprungs größere Triumphe gefeiert als gerade in dieser Zeit, da das Getto sich öffnete und die lange zurückgestauten geistigen Kräfte des Juden der damaligen Höhe der Kultur Deutschlands begegneten. Es ist deutscher Geist, der dem jüdischen Einfluß zugrunde liegt. Diese wahre Feststellung zu wiederholen und am Schicksal der jüdischen Philosophie noch einmal zu bewahrheiten, ist gewiß nicht unwichtig. Ihr liegt jedoch noch die Frage zugrunde, die der Gegner diktiert hat; unterdessen hat sich die Fragestellung des Antisemitismus selber erledigt - wir haben sie erledigt, durch physische Ausrottung. Darum kann es bei unserem Bemühen nicht mehr um Leben und Überleben von Juden gehen, um Einflüsse hin und her; es geht nur noch um uns selbst. Nämlich für das eigene Leben und Überleben ist das jüdische Erbe aus deutschem Geist unentbehrlich geworden. Im selben Augenblick, als deutsche Philosophen und Wissenschaftler es »auszumerzen« begannen, enthüllte sich die tiefe Zwiespältigkeit, die, als Gefahr der Barbarei für alle, den dunklen Grund des deutschen Geistes so unheimlich färbte - Ernst Jünger, Martin Heidegger, Carl Schmitt sind Repräsentanten dieses Geistes in seiner Größe, aber eben auch in seiner Gefährlichkeit: daß sie 1930, 1933 und 1936 so gesprochen haben, ist kein Zufall. Und daß diese Einsicht überdies ein Vierteljahrhundert danach nicht vollzogen worden ist, beweist die Dringlichkeit eines sondierenden Denkens um so mehr ... Dieses muß mit jenem
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fatalen deutschen Geiste eins sein und doch in ihm so weit mit ihm entzweit, daß es ihm sein Orakel stellen kann: ein zweites Mal darf er den Rubikon nicht überschreiten. Gäbe es nicht eine deutschjüdische Tradition, wir müßten sie heute um unseretwillen finden. Nun gibt es sie; weil wir aber deren leibhafte Träger getötet oder gebrochen haben; und weil wir soeben dabei sind, im Klima einer unverbindlichen Versöhnlichkeit alles vergeben und auch vergessen sein zu lassen (um so zu erreichen, was Antisemitismus nicht besser erreichen könnte); nötigt uns nun geschichtliche Ironie, die Judenfrage ohne Juden doch wiederaufzunehmen. Der deutsche Idealismus der Juden produziert das Ferment einer kritischen Utopie; deren Absicht findet keinen genaueren, würdigeren und schöneren Ausdruck als in dem sehr kafkaesken, dem letzten Stück der »Minima Moralia«: Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schrunde offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denkenden an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem, was ist, abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.
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2. Martin Heidegger a) Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935j1 (1953) Der Philosoph Martin Heidegger beschäftigt uns hier nicht als Philosoph, sondern in seiner politischen Ausstrahlung, in seiner Wirkung nicht auf die interne Diskussion der Gelehrten, sondern auf die Willensbildung entzündbarer und begeisterungsfähiger Studenten. Das Geniale ist zwielichtig, und vielleicht hat Hegel recht, daß sich weltgeschichtliche Individuen nicht mit moralischen Maßstäben messen lassen. Aber dort, wo das Zwielicht eine Ausdeutung des Genialen gewährt oder gar nährt, die politische Destruktion zur Folge hat, dort tritt die Wächterschaft der öffentlichen Kritik in ihre Rechte. Allein diese Kritik hat nicht mit dem zu rechten, was ihr unzugänglich bleibt: mit den Vorgängen im intimen Entscheidungsfeld privater Existenz, sie hat einfach die Bedingungen zu klären, unter denen öffentliche Störungen zustande kamen, Bedingungen also, die zu verändern sind, um dergleichen Störungen in Zukunft zu vermeiden. Seit 1945 ist von verschiedenen Seiten über Heideggers Faschismus verhandelt worden. Im Mittelpunkt dieser Diskussion stand zumeist die Rektoratsrede von 1933, mit der Heidegger die »Umwälzung des deutschen Daseins« feiert. Daran die Kritik aufhängen heißt: simplifizieren. Bedenkenswert ist doch vielmehr, wie der Autor von »Sein und Zeit« (das bedeutendste philosophische Ereignis seit Hegels »Phänomenologie«), wie also ein Denker dieses Ranges in einen so offenbaren Primitivismus verfallen konnte, als der sich die hektische Stillosigkeit jenes Aufrufs zur Selbstbehauptung der deutschen Universität bei nüchternem Zusehen erweist. Das Problem der faschistischen Intelligenz, das sich in diesem Vorgang verbirgt, wird um so schärfer und fordernder, wenn man bedenkt, daß es eine faschistische Intelligenz als solche nur darum 1 M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953.
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nicht gab, weil die Mediokrität der faschistischen Führungsgarnitur das Angebot der Intellektuellen nicht akzeptieren konnte. Die Denkenden, deren Motive und deren Mentalität dem Trend der faschistischen Leitbilder entsprachen, waren ja da. Heute Namen zu nennen, würde zu Mißverständnissen führen. Diese Kräfte waren da. Nur das mindere Format der politischen Funktionäre hat sie in die Opposition gedrängt, so daß die »Bewegung« ohne die zurechnungsfähigen Träger des kulturellen Erbes den Eindruck erzeugen konnte: als sei der Nationalsozialismus Strandgut aus den allgemeinen Strömungen des Jahrhunderts, unverwurzelt und deutscher Tradition fremd und aufgepfropft. Daß er keine notwendige Entwicklungsfolge der deutschen Tradition ist, steht allemal außer Frage. Aber daraus ist nicht abzuleiten, daß alle Versuche falsch und verwerflich sind, die im Sinne des Faustusromans Thomas Manns gerade die Verwurzelung der faschistischen Motive im Kern der deutschen Überlieferung sondieren und die Dispositionen freilegen wollen, die dann in einer Verfallsperiode zum Faschismus führen konnten. Das Problem der faschistischen Intelligenz stellt sich als das Problem der Vorgeschichte des Faschismus. Die deutsche Situation seit 1945 ist durch das konstante Ausweichen vor diesem Problem gekennzeichnet. Für beides, für die Berechtigung des Problems und für das Ausweichen vor ihm, gibt es seit kurzem ein bedeutendes literarisches Zeugnis: Heidegger hat unter dem Titel »Einführung in die Metaphysik« Vorlesungen aus dem Jahre 1935 herausgegeben. Wie aus dem Vorwort hervorgeht, sind die Zusätze in runden Klammern gleichzeitig geschrieben worden. Auf Seite 152 hat es Heidegger mit dem Nationalsozialismus zu tun, »mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen) ...« Da diese Sätze 1953 ohne Anmerkung erstmals veröffentlicht wurden, darf unterstellt werden, daß sie unverändert Heideggers heutige Auffassung wiedergeben. Es wäre müßig, das Wort von der inneren Wahrheit und Größe des Nationalsozialismus zu zitieren, wenn es sich nicht aus dem Zusammenhang der Vorlesung ergäbe. Heidegger bringt ausdrück-
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lich die Frage aller Fragen, die Frage nach dem Sein, mit der geschichtlichen Bewegung jener Tage zusammen. Bekanntlich steht für Heidegger die Gegenwart unter dem Geschick der Seinsvergessenheit. Die Völker haben zwar in ihren weitläufigen Umtrieben und Erzeugnissen ein Verhältnis zu den Gegenständen, sie sind aber aus dem Sein selbst schon längst herausgefallen. Daher »taumeln« wir, metaphysisch gesehen. Dieser Taumel manifestiert sich konkret in den Erscheinungen der Technik, wobei sich die Technik nicht überall gleich extensiv entfaltet hat. Vielmehr liegt Europa in einer großen Zange zwischen Rußland und Amerika, die in ihrem Wesen dasselbe sind: »Dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen«, für den Zeit nur noch Schnelligkeit bedeutet. Von beiden Seiten her legt sich über Europa die Verdüsterung der Welt, die Flucht der Götter, die Zerstörung der Erde, die Vermassung des Menschen und der Haß, der Verdacht gegen alles Schöpferische und Freie. Darum wird sich das Schicksal der Erde in Europa entscheiden, genauer: im Herzen des Volkes, das seine Mitte ausmacht und das »den schärfsten Zangendruck« erfährt: »das nachbarreichste Volk und so das gefährdetste Volk und in allem das metaphysische Volk«. Aber aus dieser Bestimmung wird es nur dann ein großes Schicksal schmieden, wenn es seine Überlieferung sich schöpferisch aneignet. Verstehen wir recht: in der politischen Situation von 1935, in der sich die Doppelfrontbildung Deutschlands gegen Ost und West abzeichnet, sieht Heidegger den Reflex einer seinsgeschichtlichen Lage, der sich seit über zweitausend Jahren vorbereitet hat und nun dem deutschen Volk eine weltgeschichtliche Mission überantwortet. Um die Physiognomie und daraus die eschatologische Strahlkraft der Vorlesung recht zu verstehen, gilt es, die Dialektik dessen, wogegen und wozu Heidegger seine Hörer von 1935 und seine Leser von 1953 aufruft, in den Griff zu bekommen. Er fordert die heroische Existenz gegen die fade Verfallenheit des Durchschnittlichen. Die eigentümliche Färbung dieses Postulats läßt sich nach drei Seiten hin skizzieren.
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Es ist die »Stärke«, die den aristokratischen Einzelnen den gewöhnlichen Vielen überhebt. Der Edle, der den Ruhm wählt, wird vom Rang und der Herrschaft geadelt, die zum Sein selbst gehören, während die Vielen, die nach dem beifällig zitierten Heraklit satt sind wie das Vieh, die Vielen sind die Hunde und die Esel. Das Rangmäßige ist das Stärkere, weshalb sich das Sein dem entzieht, der auf Ausgleich, Entspannung, Einebnung bedacht ist: »Das Wahre ist nicht für jedermann, sondern nur für den Starken.« Ferner ist es der »Geist«, der den Denkenden gegenüber dem Intellektuellen auszeichnet. Das verständige Rechnen orientiert sich an den Gegenständen und macht sie verfügbar. Alle Dinge geraten vor seinem nivellierenden Zugriff auf eine Ebene, Ausdehnung und Zahl sind die vorherrschenden Dimensionen. »Können« heißt diesem Denken nicht mehr Verschwendung aus hohem Überfluß, sondern das schwitzende Ausüben einer Routine. Dieses Denken, das den Gesetzen der herkömmlichen Logik folgt, kann die Frage nach dem Sein nicht verstehen und erst recht nicht entfalten, weil die Logik selbst in einer Antwort auf die Frage nach dem Seienden gründet, die das Sein von vornherein zustellt. Die Studenten erfahren, daß die Überlegung, Berechnung und Betrachtung der vorgegebenen Gegenstände eine Sache bloßer Begabung und Übung und massenhafter Verteilung ist. Oberflächlich und tief, leer und gehaltvoll, unverbindlich und zeugend, spielerisch und ernst sind die gegensätzlichen Attribute von Intelligenz und Geist, eines Geistes übrigens, den Heidegger nachdrücklich, das läßt sich nicht leugnen, gegen alle Schwärmerei verteidigt. Nur die Intelligenz, nicht der Geist, soll, mit einem Seitenblick auf die parteioffizielle Eugenik, der gesunden leiblichen Tüchtigkeit und dem Charakter untergeordnet sein, denn die Entartung des Denkens zur Intelligenz kann nur durch ursprünglicheres Denken überwunden werden. - Schließlich ergänzt der »Mut« das Starke und das Geistige, der zweideutige Mut, der auch vor Gewaltsamkeit und Irrtum nicht zurückschreckt. Schein, Trug, Täuschung und Irre sind Mächte, die vom Sein selbst ereignet werden, nur der alltägliche Verstand erfährt nicht mehr ihre numinose Kraft und degeneriert sie zu bloßem Irrtum. Der Mutige wiederholt den im vorplatonischen Griechentum gelebten Anfang unseres geistesge-
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schichtlichen Daseins mit dem Ja zu all dem Befremdlichen, Dunklen, Ungesicherten des wahren Anfangs. Schließlich entfaltet der heroische Einzelne als Wagender sein volles Wesen: er ist der Gewalttätige, der Schaffende, der das Sein bewältigt, indem er das Ungesagte in seine Rede, das Ungeschaute in seinen Blick und das Ungeschehene in seine Tat bannt. Wobei Gewalt nicht die Banalität einer »rohen Willkür« besagen soll. Andererseits ist es der Kleinmütige, der auf Verabredung, Kompromiß und gegenseitige Versorgung absieht und demnach Gewalt nur als Störung seines Lebens empfinden kann. »Deshalb kennt der Gewalt-Tätige nicht Güte und Begütigung (im gewöhnlichen Sinne), keine Beschwichtigung und Beruhigung durch Erfolge oder Geltung.« Er verachtet den Schein der Vollendung. Der Gewalttätige setzt gegen die durchschnittliche Besorgung den denkerischen Entwurf, das bauende Bilden, das staatsschaffende Handeln. Der Gewalttätige ist der Hochragende, der unheimliche Einsame, schließlich der Ausweglose, für den Nicht-Dasein als höchster Sieg über das Sein gilt, dem sich Existenz tragisch vollendet »im tiefsten und weitesten Ja zum Untergang«, der im Wollen des Unerhörten alle Hilfe wegwirft. Wir stellen an Heideggers Vorlesung die Frage, woran sie appelliert, wozu sie aufruft und wogegen sie Front macht. Und wir erkennen unschwer, daß Heidegger aus dem Erlebnis Hölderlins und Nietzsches mit dem exzessiven Pathos der 20er Jahre und dem unmäßigen Selbstbewußtsein einer persönlichen und einer nationalen Mission den starken Auserwählten gegen den Bourgeois, das ursprüngliche Denken gegen den Commonsense und das Todesmutige des Außerordentlichen gegen die Gewöhnlichkeit des Gefahrlosen ausspielt, das eine erhebend, das andere verdammend. Überflüssig zu bemerken, daß ein solcher Mann unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts als ideologischer Einpeitscher wirken mußte, unter den exaltierten Bedingungen von 1935 als Prophet. Die Weise unserer Betrachtung ist in dem Sinne un-sachlich, als sie nicht auf den sachlichen Zusammenhang, sondern auf die Physiognomie der Vorlesung zielt. Sie ist legitim, solange es um den willensbildenden Akt der politischen Prägung geht. Die Physiognomie der Aussage verändert Situationen unmittelbar, sie ist der Herd der Ansteckung. Denn Stil ist gelebte Haltung, von ihm
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springt der Funke spontaner Verhaltensbildung über, er ist die perennierende Geburt existentieller Motive, an ihm entzündet sich der Appell. Es ist für die bewußte Geschichtsgebundenheit des Heideggerschen Philosophierens bezeichnend, daß sich der Appell verändert, während die Sinnstrukturen über die Jahrzehnte seiner Entwicklung ihre Kontinuität wahren. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Stabilität der fundamentalen Kategorien von »Sein und Zeit« bis zum Humanismusbrief zu erweisen. Dagegen drängt sich die Variabilität der Appellqualität von selbst auf. So ist heute von Hut, von Andenken, von Wächterschaft, von Huld, von Liebe, von Vernehmen, von Ergeben die Rede immer dort, wo 1935 die Gewalttat gefordert wurde, während Heidegger noch acht Jahre vorher die quasi-religiöse Entscheidung der privaten, auf sich vereinzelten Existenz pries als die endliche Autonomie inmitten des Nichts der entgötterten Welt. Der Appell hat sich mindestens zweimal, entsprechend der politischen Situation, verfärbt, während die Denkfigur des Ausrufs zur Eigentlichkeit und der Polemik gegen die Verfallenheit stabil blieb. Die Vorlesung von 1935 demaskiert schonungslos die faschistische Färbung jener Zeit. Sie hat aber nicht etwa nur äußerliche Motive, sondern auch solche, die sich aus dem Zusammenhang der Sache ergeben. Der seinsgeschichtlichen Konzeption zufolge durchläuft die abendländische Philosophie von Plato bis Nietzsche eine Entwicklung fortschreitender Seinsvergessenheit. Sie ist markiert durch drei große Schübe: durch die Umwandlung des vorsokratischen in das platonisch-aristotelische, des griechischen in das römisch-christliche und schließlich des mittelalterlichen in das neuzeitliche Denken. Heidegger fragt radikal und erschließt Ursprüngliches, der entdeckte Zusammenhang ist faszinierend; trotzdem ist die Konzeption im ganzen einseitig. Diese Einseitigkeit gründet in einem doppelten Mangel. Heidegger berücksichtigt nicht, daß seine spezifische Fragestellung keineswegs originell ist, sondern im Zusammenhang jenes eigentümlich deutschen Denkens entstanden ist, das über Schelling, Hölderlin und Hegel auf Böhme zurückgeht; des weiteren möchte er seine theologische Herkunft nicht mehr wahrhaben, wahrhaben, daß die geschichtliche Existenz von »Sein und
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Zeit« einen Bereich spezifisch christlicher Erfahrungen ausgrenzt, die über Kierkegaard zu Augustin zurückreichen. Für unsern Zusammenhang ist wichtig, daß mit der Verdrängung dieser beiden Umstände zwei wichtige Kontrollinstanzen entfallen. Wenn sich das Christentum mit der Verfestigung der Zweiweltensicht in den abendländischen Degenerationsprozeß als eine bloße Stufe einordnet, dann kann auch die - noch für Hegel so zentrale - Idee der Gleichheit aller vor Gott und der Freiheit eines jeden kein wirksames Gegengewicht mehr bieten, weder das individuell egalitäre Gegengewicht gegen das naturwüchsige Privileg des Stärkeren noch das kosmopolitische Gegengewicht gegen das Motiv der geschichtlichen Auserwähltheit des deutschen Volkes. Und wenn zweitens nicht anerkannt wird, daß seit Descartes neben der Linie des rechnend verfügbar machenden Denkens die andere des sinnverstehend Vernehmenden einherläuft, dann kommt die dialektische Plastizität der neuzeitlichen Entwicklung nicht heraus, eine Dialektik, die jenem durch Vergegenständlichung auf Beherrschung abzielenden Denken seine schöpferische Legitimation gibt und somit vor einseitiger Identifikation mit dem durchschnittlichen Meinen bewahrt. Von dieser Seite fehlt also das praktisch-rationalistische Korrektiv. Die Nährung antichristlicher und antiwestlicher Affekte hätte allein genügt, die Psychose eines von Heidegger nicht gewollten Irrationalismus zu fördern. Hinzu kommt aber nun Heideggers elementare Täuschung darüber, daß er ja seine Einsichten, die zur Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen führen sollten, daß er diese Einsichten 1935 unter den noch und gerade gültigen Bedingungen eben dieser technisch bestimmten Situation vortrug und damit geradezu notwendig jenen Automatismus des Mißverstehens auslöste, der seine Absicht, das technifizierte Leben zu überwinden, in ihrer tatsächlichen Ausführung verfälschte. Schien sich doch dieser philosophische Appell an die Studenten zunächst mit dem zu decken, was von ihnen als Offizieren später verlangt wurde. Gewiß, an der Scheinbarkeit dieser Deckung wird auch dadurch nichts geändert, daß ihr der Initiator, Heidegger selbst, jahrelang erlag. Immerhin bleiben zum Schluß noch zwei Fragen stehen: Worin gründet diese, wenn auch nur scheinbare, Deckung? Sollte der Faschismus mit deutscher
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Überlieferung vielleicht doch mehr zu tun haben, als man gemeinhin gerne wahrhaben möchte? Und zweitens: Warum veröffentlicht Heidegger heute, 1953, seine Vorlesung ohne Einschränkung? Konsequent ist das allerdings nur für eine Haltung, die gerade nicht, wie Heidegger doch verlangt, die Vergangenheit als ein noch Bevorstehendes immer wieder in Frage stellt, die vielmehr im Repetieren steckenbleibt. Konsequent ist auch das für eine Einschätzung, die nicht nur den eigenen Irrtum, sondern an Stelle einer moralischen Klärung auch den »Irrtum« der nationalsozialistischen Führung seinsgeschichtlich begründet. Angesichts der Tatsache, daß heute wieder Studenten dem Mißverstehen jener Vorlesung ausgesetzt sind, schreiben wir ungern und selbst wiederum mißverstehbar diesen Aufsatz. Er dient allein der Frage: Läßt sich auch der planmäßige Mord an Millionen Menschen, um den wir heute alle wissen, als schicksalhafte Irre seinsgeschichtlich verständlich machen? Ist er nicht das faktische Verbrechen derer, die ihn zurechnungsfähig verübten - und das böse Gewissen eines ganzen Volkes? Hatten wir nicht acht Jahre Zeit seither, das Risiko der Auseinandersetzung mit dem, was war, was wir waren, einzugehen? Ist es nicht die vornehme Aufgabe der Besinnlichen, die verantwortlichen Taten der Vergangenheit zu klären und das Wissen darum wachzuhalten? — Statt dessen betreibt die Masse der Bevölkerung, voran die Verantwortlichen von einst und jetzt, die fortgesetzte Rehabilitation. - Statt dessen veröffentlicht Heidegger seine inzwischen achtzehn Jahre alt gewordenen Worte von der Größe und der inneren Wahrheit des Nationalsozialismus, Worte, die zu alt geworden sind und gewiß nicht zu denen gehören, deren Verständnis uns noch bevorsteht. Es scheint an der Zeit zu sein, mit Heidegger gegen Heidegger zu denken.
b) Die große Wirkung (i959) »Die Hirten wohnen unsichtbar und außerhalb des Ödlandes der verwüsteten Erde, die nur noch der Sicherung der Herrschaft des
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Menschen nützen soll...« Der Sprachgestus des Schriftstellers Heidegger verrät etwas Abweisendes: Wohl wird der Leser vom Autor beansprucht, wird gar hereingezwungen in den Blick, der über Weltalter hinstreicht; doch wird ihm eher Gefolgschaft auf unwegsamen Pfaden zugewiesen als eine Gemeinsamkeit des Gesprächs gewährt. In so eigentümlicher Reserve hält nicht ein großer Philosoph auf geziemenden Abstand, hier achtet der prophetische Denker auf einen Unterschied im Rang. Kommunikation gehört nicht zu den Grundworten dieser Philosophie. Wir nützen dieweil die Gunst, die auch der schwerer zugängliche Adressat uns beläßt, und sprechen, um ihm doch zu »entsprechen«, chronistisch beiseite; blicken von der Warte des Jubiläums zurück auf eine machtvolle Wirkungsgeschichte - im Rahmen der Universität die größte eines Philosophen seit Hegel. Gewiß ist Heideggers Wirkung nicht auf die Universitäten beschränkt; ja, die Anhänglichsten versammeln sich eher ante portas. Diese kleinen Kreise, zu Sekten manchmal zusammengeschlossen, sind im Lande verstreut und schwer zu überschauen. In einer Hinsicht passen sie zum Auftreten des Denkers, der die Kongresse der Fachkollegen meidet und sich lieber den Kollegien von Laienbrüdern stellt. Unter ihnen sind die auf Bühler Höhe Erholung suchenden Wirtschaftskapitäne bereits zum sprichwörtlichen Ruhme gelangt. Vielleicht zeigt sich im liebenswürdigen Versuch, Manager für »Feldwege« zu interessieren, die andere Seite von Heideggers Realitätskontakt, die dem Sein sozusagen gegenüberliegende - Böswillige sehen darin Mystik mit »Masche« verwoben. Zuverlässiger ist indessen die Schulwirkung abzusehen. Eine große Zahl von Ordinarien und solchen, die es werden wollen, beruft sich auf Heidegger als den Urheber ihres Philosophierens; viele haben seine Motive aufgenommen und verarbeitet; die meisten sind von seinen Impulsen überhaupt erfaßt und umgetrieben worden. Freilich weisen die Positionen der Aneignung weit auseinander. Etwa von dem Versuch, den Weg, den Heidegger als Jesuitenschüler einst von Thomas über Brentano zu Husserl gekommen ist, zu einer erneuerten christlichen Philosophie zurückzugehen (Max Müller), reichen die Positionen bis hin zu der wissenden Bescheidenheit, die
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vom Scheitel der Metaphysik zur Sohle einer zerbrechlichen, der antiken behutsam nachgespürten Skepsis herabsteigt (Oskar Bekker). Etwa von dem Beschluß, mit der Metaphysik das Philosophieren überhaupt als eine bloße Propädeutik für »Heideggers Mythologie« hinter sich zu lassen (Walter Bröcker), reichen sie bis hin zu dem Beginnen, Heideggers Philosophie in den Horizont der großen Tradition zurückzunehmen und mit ihr wiederum zu versöhnen (Eugen Finck). Einige sind im kosmologischen Vertrauen auf eine sich gleichbleibende Natur aus der Dialektik der Geschichte ganz herausgesprungen (Karl Löwith). Andere Wege führen mit einem gleichsam festgehaltenen Heidegger entschieden zu Hegel zurück (Bruno Liebrucks); ja, ältere Schüler haben, merkwürdig nur auf den ersten Blick, von »Sein und Zeit« den Zugang zu Marx gefunden, um dann freilich die Begriffe der Daseinsanalytik in die einer Geschichtsphilosophie der Triebe zu übersetzen (Herbert Marcuse). Solche Positionen markieren Heideggers Schulwirkung allerdings von den Rändern her; nicht minder prominent als die Außenseiter sind die eigentlichen Schüler, teils streitbare »Orthodoxe«, teils milder gestimmte »Pädagogen«, denen weniger die Lehre um ihrer Reinheit willen als das Lehren um der Anleitung zum Denken willen am Herzen zu liegen scheint. Aus diesem Kreis sind sensibel interpretierende Untersuchungen zur Problemgeschichte der Philosophie hervorgegangen. Oft kreisen sie um Plato oder Descartes, deren Hinterlassenschaften als Zäsuren in der Geschichte jenes bis auf unsere Tage so durchaus »vergessenen« Seins gelten; immer beziehen sie sich auf den Prozeß einer »Selbstbemächtigung des Subjekts«, worin das Unheil der Gegenwart beschlossen sein soll. Nach außen drangen Heideggers Lehren bis ins lateinische Amerika, bis Japan; vor allem in Paris sind ihre Impulse bekanntlich aufgenommen worden. Fast hätte die Rückwirkung von jenseits des Rheins Heidegger nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Art Reimport werden lassen: damals gelangte »Sein und Zeit« zu den meisten Studenten auf dem Umweg über »Sein und Nichts«, über den Sartre der »Fliegen«. Eine Heidegger-Renaissance aus dem Geiste der Resistance - welche Quelle von Mißverständnissen!
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Nun fühlt sich freilich Heidegger inmitten der anschwellenden Literatur um ihn und über ihn ohnehin nicht eigentlich verstanden. Zu den bemerkenswerten Ausnahmen von dieser Regel gehört anscheinend eine in der Tat vorzügliche Arbeit des Tübinger Philosophen Walter Schulz. Bemerkenswert vor allem deshalb, weil sie den Gang des Heideggerschen Denkens in beinahe positivistischer Haltung als einen jedermann nachvollziehbaren Zusammenhang präzisiert. Nicht die Interpretation als solche, vielmehr ihr nüchtern untertreibender Duktus überrascht. Das existentielle Rankenwerk fällt. Denkfiguren treten reiner hervor. Ein gewisser Spielraum wird gewonnen für das Raffinement scholastischer Distinktionen - und damit für den von Heidegger sonst stets verpönten Scharfsinn des Verstandes eher als fürs bedächtige Andenken. Schulz analysiert etwa die wichtige Dialektik der »Entsprechung«: wir können das Sein nur in dem Maße denken und zur Sprache bringen, indem das Sein selber unser Denken ermöglicht und uns im Haus der Sprache wohnen läßt; mein mir nicht verfügbarer Seinssinn richtet mich erst in die Möglichkeit ein, in der ich ihm »entsprechen« kann. Formal betrachtet, findet sich indessen die gleiche Denkfigur auch in ganz anderen Konstellationen. So bei Marx, der Hegels Dialektik der Reflexion zu der von Theorie und Praxis über sich hinaustrieb. Diese Dialektik der Entsprechung sichert sich freilich durch den fortwährenden Bezug auf die Dialektik Hegels einen der Heideggerschen entgegengesetzten Sinn: die indirekte Gewalt der Gesellschaft über die Menschen soll aufgelöst, die des »Seins« hingegen im Menschen und durch ihn hindurch erst recht entbunden werden. Wie dem auch sei, an dieser Stelle soll der Hinweis nur ein Beispiel dafür sein, daß die bloßgelegten »Figuren« Heideggerschen Denkens sehr wohl die aus der Tradition vertrauten wiedererkennen lassen. Ihre Analyse vermittelt deshalb einen historisch distanzierten Nachvollzug dieses Denkens, der dessen totalem Anspruch merkwürdig entgleitet. In dem Maße, so scheint es, als Heidegger die gekonnte Entsprechung zum Sein wie ein Privileg handhabt, als er allein das Feld der seinsgeschichtlichen Erfahrung erweitert, die Autoren von Relevanz bezeichnet und die Schlüsselworte kreiert, werden sich die Nachgeborenen der epigo-
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nalen Zwangslage mit den Konsequenzen aus einem bereits angelegten Formalismus nur schwer entziehen können. Heidegger verknüpfte in »Sein und Zeit« die wesentlichen Motive Diltheys und Husserls: jener hatte historisch die Kulturen als Objektivationen eines immer aus dem Vorverständnis seiner Ganzheit zu begreifenden »Lebens« erfahren; dieser hatte im Rückgang auf die Leistungen des Bewußtseins die »Konstitution der Welt«, nämlich des Sinnes jeglicher Art von Seiendem, zum Thema reiner Deskription erhoben. Heidegger sucht nun das menschliche Dasein zugleich in seiner Geschichtlichkeit und in seiner Ganzheit aus ihm selber zu begründen. Es genießt den Vorzug, unter allem Seienden dasjenige zu sein, das sich auf den Sinn von Sein versteht: indem der Mensch arbeitend sich selbst erzeugt und erhält, bricht ihm das Seiende ringsum in seiner Bedeutsamkeit auf. Zu diesem Sein gelangt das Seiende nur in der Welt des Menschen; und dessen Wesen wiederum besteht darin, sich in einer Welt vorzufinden, die er gleichzeitig entwirft. Aus diesem Ansatz hat Heidegger mit bohrender Inständigkeit und wahrlich erschließendem Geschick in kraftvollen Spiralen die Analytik der Existenz herausgedrechselt. Sie ist der bislang letzte große Versuch der prima philosophia. Sie will sich mit der »Ganzheit des Daseins« eines ersten Anfangs versichern, aus dem das Sein alles Seienden sich begründen läßt; daher der Name der Fundamentalontologie. Seinen eigentlichen Erfolg erntet dieser Versuch jedoch erst - wenn diese plumpe Verkürzung gestattet ist — mit der Einsicht in den verschwiegenen Mißerfolg. Die zweite Hälfte von »Sein und Zeit« ist nie erschienen, weil die erste an eine doppelte Schranke stieß: das menschliche Dasein ist, jedenfalls so, wie es ist, der ontologischen Begründung seiner selbst gar nicht mächtig; darin enthüllt sich zugleich der durch und durch geschichtliche Charakter der Wahrheit, die als der offene Horizont aus der Welt des Menschen hervorgeht - die Wahrheit hat sozusagen einen Kern aus Zeit. So war denn Philosophie als Ursprungsphilosophie auch für Heidegger unmöglich geworden. An dieser Wegscheide, da Philosophie die Hinfälligkeit ihres ursprünglichen Anspruchs durchschaut und auf Selbstbegründung
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verzichtet, stellt sich folgenreich die Frage, woraus sie denn - wenn schon nicht aus sich selber - ihre Herkunft bestreitet. Heidegger hätte von den ontologisch festgestellten Strukturen des Daseins, den sogenannten Existentialien, zu den aus der konkreten Situation gezogenen faktischen Erfahrungen, zum sogenannten Existentiellen, zurückfragen können. Er hätte damit Philosophie ideologiekritisch mit der Geschichte dieser Situation, mit der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs, in Beziehung bringen können. Statt dessen unternimmt er die berühmte »Kehre« zur Geschichte der Existentialien selber, zur Geschichte des Seins. Auf den ersten Blick gibt diese sich in einer Verfärbung der Sprache zu erkennen. »Sein und Zeit« war tief in das geistige Klima der zwanziger Jahre eingelassen, aus dem sich die flagrante Ansteckung dieser Philosophie weit über den Bereich der Philosophie hinaus erst verstehen läßt. So beispielsweise gesteht Carl Friedrich von Weizsäcker zu Heideggers 60. Geburtstag freimütig: »... >Sein und Zeitenlarged mentality< that enables men to judge; as such, it was discovered by Kant — in the first part of his Cnüque of Judgement—who, however, did not recognize the political and moral implications of his discovery.) The very process of opinion-formation is determined by those in whose places somebody thinks and uses his own mind, and the only condition for this exertion of imagination is disinterestedness, the liberation from one's own private interests. Hence, even if I shun all Company or am completely isolated while forming an opinion, I am not simply together only with myself in the solitude of
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sehen Gesichtspunkten, und das heißt: die Richtigkeit von Normen prüft, nicht von Argumentation durch einen Abgrund getrennt ist, läßt sich auch für die Macht gemeinsamer Überzeugungen eine kognitive Grundlage in Anspruch nehmen. Dann ist Macht in der faktischen Anerkennung diskursiv einlösbarer und grundsätzlich kritisierbarer Geltungsansprüche verankert. Hannah Arendt sieht aber zwischen Erkenntnis und Meinung einen Abgrund klaffen, der durch Argumente nicht geschlossen werden kann. Sie sucht nach einer anderen Grundlage für die Macht der Meinung- und findet sie in dem Vermögen sprach- und handlungsfähiger Subjekte, Versprechen zu geben und zu halten: »Wir erwähnten bereits, daß Macht überall da entsteht, wo Menschen sich versammeln und zusammen handeln, und daß sie immer dann verschwindet, wenn sie sich wieder zerstreuen. Die Kraft, die diese Versammelten zusammenhält... ist die bindende Kraft gegenseitiger Versprechen, die sich schließlich in dem Vertrag niederschlägt.« {Vita Activa, S. 240) Als Basis der Macht betrachtet sie den unter Freien und Gleichen abgeschlossenen Vertrag, mit dem sich die Parteien gegenseitig verpflichten. Um den normativen Kern einer ursprünglichen Äquivalenz zwischen Macht und Freiheit zu sichern, vertraut sie am Ende der ehrwürdigen Figur des Vertrages mehr als ihrem eigenen Begriff einer kommunikativen Praxis. So tritt sie in die Tradition des Naturrechts zurück.
Philosophie thought; I remain in this world of mutual interdependence where I can make myself the representative of everybody eise. To be sure, I can refuse to do this and form an opinion that takes only my own interest, or the interests of the group to which I belong, into aecount; nothing indeed is more common, even among highly sophisticated people, than this blind obstinaey which becomes manifest in lack of imagination and failure to judge. But the very quality of an opinion as of a judgment depends upon its degree of impartiality.« (ebd., S. 115)
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12. Wolfgang Abendroth Der Partisanenprofessor (1966) An Universitäten wie Belgrad oder Zagreb kann man, wie gelegentlich auch in Frankreich, Professoren treffen, deren Herkunft und Typus deutschen Traditionen fremd ist. Auch wir haben politisch engagierte Hochschullehrer, und ein unakademischer Habitus wird nachgerade schon zu einer zweifelhaften Tugend. Aber jene Professoren denken nicht nur auf eine selbstverständliche Weise politisch, ihnen fehlen nicht nur Züge des akademischen Beamtentums - sie scheinen aus einer anderen Welt zu stammen. Sie sind unprätentiös und eigentümlich unberührt von professioneller Eitelkeit, Prestigedenken oder privatem Ehrgeiz. Vor allem sind sie naiv, und darum von entwaffnender Unerschrockenheit gegenüber institutioneller Autorität. Wer nur einen Abend unter ihnen sitzt, begreift, daß in der eher sensiblen als rauhen Kameradschaftlichkeit ihres Umgangs ein Moment festgehalten ist, das alle diese Qualitäten erklärt und glaubhaft macht, weil es sie aus dem Bereich persönlicher Anständigkeit heraushebt. Diese Leute haben als Partisanen in den Bergen gesessen und waren einmal darauf angewiesen, solidarisch zu handeln. Darum können sie es, ohne ein Verdienst daraus zu machen, in Situationen der Gefahr auch heute noch. Ich habe erst vor wenigen Jahren solche Partisanenprofessoren kennengelernt. Der einzige unter uns, an den sie mich erinnerten, war Wolfgang Abendroth. In unserem Lande war angesichts der eigenen Regierung Wohlverhalten oder Widerstand die Alternative, Partisanen im eigentlichen Sinn konnte es nicht geben. Wenn sich gleichwohl das fremde Muster als einziger Typus anbietet, um Abendroth zu charakterisieren, so spiegelt sich darin schon ein gutes Stück unserer Nachkriegsgeschichte. Der 20. Juli hat es zu akademischen Gedenkfeiern gebracht, die linke Illegalität bestenfalls zum akademischen Ärgernis. Abendroth stammt aus Elberfeld, aus einem Landstrich pietistischer Erweckungsbewegungen, aus der Stadt Friedrich Engels'.
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Schon der Großvater, ein Handwerksmeister, wurde auf Grund des Sozialistengesetzes verhaftet. Trotz starker naturwissenschaftlicher Neigungen studiert der junge Abendroth Jurisprudenz und Nationalökonomie an der Frankfurter Universität, die damals noch, in den zwanziger Jahren, so viele wissenschaftlich prominente und zugleich politisch wache Geister vereinigte. 1933 wird der angehende Gerichtsassessor kurz vor Abschluß der Prüfung aus dem Justizdienst entlassen. Zwei Jahre später promoviert er in Bern. Abendroth wählt nicht die beruflichen Chancen, die ihm die glanzvollen Examina in der Schweiz eröffnen. Er kehrt nach Deutschland in den Untergrund zurück. Die illegale Tätigkeit wird von politischen Verbindungen bestimmt, die Abendroth während seines Studiums geknüpft hatte. Er war »Neubeginnen«, einer kleinen Gruppe sozialistischer Intellektueller, beigetreten; ihr hatten zur gleichen Zeit Leute wie Erler, Richard Löwenthal, Schöttle und von Knoeringen angehört. 1937 geht die Sache schief. Abendroth kommt für vier Jahre ins Zuchthaus. Nach der Entlassung ist es freilich mit der erzwungenen Symbiose von politischen und kriminellen Häftlingen noch nicht vorbei. Der »Wehrunwürdige« muß in der Strafdivision 999 dienen. Über Griechenland gerät er in englische Kriegsgefangenschaft. Dort wendet sich das Blatt keineswegs. Erst Ende 1946 können Freunde seine Entlassung erreichen. In der sowjetischen Besatzungszone, wo die Eltern lebten, kann sich Abendroth habilitieren. Er wird Professor für Öffentliches Recht, erst in Leipzig und dann in Jena. Während dieser Zeit hält er an seiner Zugehörigkeit zur verbotenen SPD fest. Halb und halb erneuert sich die Illegalität. Im Dezember 1948 kann Abendroth sich dem Zugriff des NKWD in letzter Minute entziehen. Einen Ruf an die Freie Universität Berlin lehnt er ab und geht nach Wilhelmshaven an die Hochschule für Sozialwissenschaften. Diese dürftigen Daten einer Lebensgeschichte, auf deren Folie wohl mancher die eigene Vergangenheit schonungsloser zu Bewußtsein bringen könnte, als es die Konvention heute verlangt, sind nur indirekt zu erfahren. Abendroth will davon nichts wissen. Auf bürgerliche Ehrungen aus Anlaß eines 60. Geburtstages, ich sehe ihn vor mir, wird er kopfschüttelnd, mit freundlich-verlegenem Unverständnis reagieren. Ich versuche gar nicht erst, eine Laudatio
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an ihn zu richten. Aber uns selbst möchte ich bei dieser Gelegenheit daran erinnern, daß unter den Professoren der Bundesrepublik kaum ein zweiter so viel guten und überzeugenden Anlaß gibt, politisch hoffähig gewordene Vorurteile zu berichtigen. Der Wissenschaftler und Gelehrte Abendroth macht sowenig wie der Politiker ein Hehl daraus, wieviel er Marx verdankt. Gerade darum aber stemmt er sich gegen Dogmatismus. Für wenige ist das Prinzip herrschaftsfreier Diskussion so sehr zu einer Lebensfrage geworden. Abendroth selbst diskutiert leidenschaftlich. Jeden Donnerstagabend beginnt sein Oberseminar stets mit dem gleichen Ritual: Aus dem Kreis der Teilnehmer wird ein Diskussionsleiter gewählt, der auch den Professor in die Schranken weisen kann. Während der anderthalb Jahrzehnte, die Abendroth nun in Marburg lehrt, ist in diesen Seminaren ein äußerst wacher und intelligenter Nachwuchs groß geworden. Viele sind inzwischen avanciert. Alle erinnern sich an die bewegten Diskussionen, auch wenn manche es heute für besser halten, nicht mehr davon zu sprechen. Wir verdanken Abendroth wichtige Studien zur Geschichte der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaften. Aus diesen Arbeiten ist eine Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung hervorgegangen. Von Abendroth stammt auch der bisher gründlichste Beitrag zum Problem der innerparteilichen Demokratie. Ein schmerzliches Stück lebensgeschichtlicher Erfahrung wird darin wissenschaftlich verarbeitet: Unter dem Einfluß Wehners hatte die Sozialdemokratische Partei 1961 ihre sozialistischen Studenten und deren Förderer, darunter Abendroth, ausgeschlossen. Trotz der produktiven Forschungen auf politikwissenschaftlichen Gebieten ist Abendroth immer Staatsrechtler geblieben. Sein Herz gehört der Jurisprudenz. Seine glänzende Interpretation des Grundgesetzes, vor allem die konsequente Auslegung der sogenannten Sozialstaatsklausel, die er auf einer Staatsrechtslehrertagung gegen Forsthoff verteidigt hat, mußte den Widerspruch der Kollegen hervorrufen. Manchmal mag Abendroth selbst es bedauert haben, daß seine Arbeitskraft durch einen Lehrstuhl für Politik gebunden ist und nicht voll auf eine Kritik der heute wieder herrschenden Staatsrechtsauffassungen verwendet werden kann.
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Oft genügt die Sonde einer präzisen Erinnerung: Abendroth lebt in einem Bewußtsein, das Vergangenes unbarmherzig vergegenwärtigt. Für ihn gibt es keine Schranke zwischen heute und gestern; er lebt mit den Ereignissen der zwanziger und dreißiger Jahre wie mit Vorgängen, über die die Zeitungen eben berichten. Ein solches Bewußtsein ist in einer Epoche, die von ihren Verdrängungen lebt, eo ipso beunruhigend. Man wirft Abendroth Utopismus vor. Aber er, der übrigens die Theologie Karl Barths gründlich studiert hat, ist viel zu protestantisch, als daß er ein Schwärmer sein könnte. Wie immer auch die Kritik an Schwarmgeisterei als solche fragwürdig ist, Abendroth kann diesem selber dubiosen Zweifel nicht ausgesetzt werden. Am Ende eines Aufsatzes über die Verwirklichung der sozialen Demokratie gesteht er: »Diese kritischen Überlegungen geben kein Endziel an, das, einmal verwirklicht, ein vollendetes Paradies auf Erden schaffen könnte.«
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13. Herbert Marcuse
a) Einleitung zu einer Antifestschrift (1968) Günther Busch hat mich vorsorglich schon vor mehr als einem Jahr auf Herbert Marcuses bevorstehenden 70. Geburtstag aufmerksam gemacht. Er hatte so frühzeitig die Initiative in der richtigen Annahme ergriffen, daß alle die, die Herbert Marcuse kennen, eine Weile brauchen würden, um sich auf ein so unglaubwürdiges Datum vorzubereiten: biblisches Alter hatten wir ihm, bei aller Verehrung, noch nicht recht zugetraut. Nun hat nach dem Zeugnis, wenn nicht des Augenscheins, so doch der Urkunden, Herbert Marcuse Anspruch darauf, zu einem veritablen 70. Geburtstag geehrt zu werden. Aber wie soll man einen Herbert Marcuse »ehren«, wenn diese Kategorie auf ihn überhaupt Anwendung finden kann? Eine Festschrift tut es nicht, und eine Antifestschrift was ist das? Kurzum, ich habe keine Kollegen gebeten, keine Schüler aufgefordert, keine Etablierten eingeladen, nicht an Freunde mich gewandt - so ist niemand von denen repräsentiert, die nach einem guten Brauche und gewiß gerne dem Lehrer und dem Kollegen, dem Freunde Dank abgestattet hätten. Das soll niemanden kränken. Herbert Marcuse wird daran interessiert sein, zu erfahren, wie seine Gedanken unter den Jüngeren kritisch aufgenommen, diskutiert und, sei es noch im Widerspruch, fortgeführt werden. Deshalb enthält dieses Bändchen Beiträge jüngerer Philosophen und Soziologen, für die Herbert Marcuses Schriften ein Stachel gewesen sind: sie alle sind nicht zur Feier, sondern zur Kritik eingeladen worden, und niemand hat sich geziert. Allein Metakritik kann einem Philosophen der Kritik zur Ehre gereichen. Marcuse (mit Ludwig verwechselt ihn heute niemand mehr) hat in Deutschland nie gelehrt. Die eminente Wirkung, die er heute ausübt, ist allein literarisch begründet - und noch nicht sehr alt. Die intellektuelle Rückkehr Marcuses, der 1933 mit dem Institut für Sozialforschung über Genf und Paris nach New York emigriert ist,
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kann man auf 1956 datieren. Damals hat er die internationalen Freud-Vorlesungen in Frankfurt am Main mit zwei glanzvollen Vorträgen, die die Theorie des eindimensionalen Menschen in nuce schon enthielten, abgeschlossen. Aber noch fehlte die breite Resonanz; die Übersetzung von Eros and Civilization blieb damals fast unbemerkt. Das änderte sich erst in den sechziger Jahren. Viele Studenten hatten ihn schon gelesen, als Marcuse 1964 auf dem Heidelberger Soziologentag seine Polemik gegen Max Weber vortrug. Im Sommer 1967 betrat Marcuse die Berliner Szene als gefeierter Lehrer der Neuen Linken: das Bändchen Kritik der reinen Toleranz, eine Abrechnung mit dem Liberalismus, ist inzwischen zu einer, wenn auch nicht ganz unmißverstandenen, Fibel geworden. Die relativ späte und dann sehr schnelle Rezeption hat ein Bild von Marcuse entstehen lassen, dem etwas Unhistorisches anhaftet: es läßt die älteren Schichten nicht erkennen. Marcuses erstes, 1932 erschienenes Buch über Hegels Ontologie ist so gut wie unbekannt. Ich vermute, daß sich unter Marcuses heutigen Lesern nur wenige finden, die, wenn sie in jenem Buch auf den letzten Satz der Einleitung träfen, nicht völlig überrascht wären: »Was diese Arbeit etwa zu einer Aufrollung und Klärung der Probleme beiträgt, verdankt sie der philosophischen Arbeit Martin Heideggers.« Was Marcuse heute darüber denkt, weiß ich nicht; wir haben nie darüber gesprochen. Aber ich finde, daß jene Phase seiner Entwicklung nicht einfach eine Marotte war; und vor allem meine ich, daß man den Marcuse von heute ohne den von damals nicht richtig versteht. Wer in den Kategorien der Freudschen Trieblehre, aus denen Marcuse eine marxistische Geschichtskonstruktion entwickelt hat, wer in seiner neuerdings wieder hervorgekehrten Anthropologie die überlagerten Kategorien von Sein und Zeit nicht einmal mehr ahnt, ist vor handfesten Mißverständnissen nicht sicher. Marcuses ältere Arbeiten, die vor seiner Emigration in der Zeitschrift Die Gesellschaft, in den Philosophischen Heften und im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienen sind, repräsentieren den ersten originellen Versuch eines phänomenologisch gerichteten Marxismus; zumal die damals entdeckten Pariser
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Manuskripte gaben den unerwarteten Anknüpfungspunkt, um Sein und Zeit in eine materialistische »Daseinsanalytik« umzustülpen. Sartre ist sehr viel später auf diesen Weg, als Marcuse ihn längst verlassen hatte, gestoßen. Die linken Existentialisten in Paris und die Praxis-Philosophen in Prag und Zagreb konnten nach dem Kriege die Lebensweltanalysen des späten Husserl an die Stelle der Heideggerschen Daseinsanalyse setzen, aber beide »Schulen« stützen sich auf die phänomenologische Grundlage eines Marxismus, der von Herbert Marcuse eigentümlich antizipiert worden ist. Marcuse seinerseits hat in den letzten Jahren auf wichtige Begriffe der Sartreschen Philosophie zurückgegriffen; und im One-Dimensional Man erinnern Husserl- und Heidegger-Zitate an den phänomenologischen Ursprung seiner Kritik an Wissenschaft und Technik. Seitdem Marcuse dem Institut für Sozialforschung angehörte und einer der brillantesten Mitarbeiter der Zeitschrift für Sozialforschung wurde, hat ein neuer, durch die kritische Gesellschaftstheorie bestimmter Begriff von Philosophie das Erbe der Phänomenologie abgelöst. Aber mit der phänomenologischen Vorgeschichte hängt eine gewisse Sonderstellung zusammen, die Marcuse im Kreis der Frankfurter Philosophen eingenommen hat - und einnimmt. Im Vergleich zu Horkheimer und Adorno, in deren Schatten Marcuse lange gestanden hat, fällt der stärkere Zusammenhang mit der Schulphilosophie auf. Die radikale Entfernung Horkheimers und Adornos von der zeitgenössischen Philosophie, nicht nur der angelsächsischen, sondern auch der europäischen, erklärt sich daraus, daß beide gegen philosophische Traditionen des 20. Jahrhunderts, sieht man vom Einfluß des jüngeren Lukács ab, sich völlig resistent verhalten haben: die chronologisch letzten Anknüpfungspunkte sind Schopenhauer, Nietzsche, und vielleicht Bergson. Marcuse hingegen ist vom Freiburg der zwanziger Jahre geprägt worden. Er übernimmt unbedenklicher die systematische Intention, der die philosophische Überlieferung fast immer gefolgt ist. So ist das letzte Werk, der One-Dimensional Man, das einzige Zeugnis eines Versuchs, jene Analysen der spätkapitalistischen Gesellschaft, die dem spezifischen Ansatz der Frankfurter Soziolo-
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gie folgen, in einen systematischen Zusammenhang zu bringen und, wie vorläufig immer, eine »Theorie« zu geben. Dem entspricht ein zugreifender Duktus des Gedankens, der sich gegenüber dem Horkheimers und Adornos durch Direktheit auszeichnet. Wenn Marcuse zu wählen hätte zwischen dem Risiko, das damit verbunden ist, eine Intention auch um den Preis möglicher Mißverständnisse geradewegs zu formulieren, und jenen Skrupeln, die der indirekten wie der verschlungenen Rede aus Sorge, Subtiles sonst zu zerbrechen, den Vorzug geben - wenn dies die Wahl wäre, dann ginge Marcuse lieber das Risiko ein und entschlüge sich der Skrupel. Er spricht aus, was andere in der Schwebe lassen. Seine Skrupel scheinen heute eher die zu sein, daß eine Philosophie in praktischer Absicht praktisch folgenreich vertreten werden muß. Das existentialistische Moment, das in Marcuses Theorie lebendig geblieben ist, macht es möglich, jener resignativen Enthaltsamkeit gegenüber Praxis zu entgehen, die aus der Analyse zunächst sich anzubieten scheint. Marcuses Analyse des Spätkapitalismus ist unorthodox. Ein fortgeschrittener Stand der wissenschaftlich-technischen Entwicklung erlaubt beides: die Stabilisierung des gesellschaftlichen Systems auf der Grundlage der Kapitalverwertung in privater Form und zugleich die Legitimation der dadurch aufrechterhaltenen Herrschaftsbeziehungen. Die Integration ergreift auch den einst designierten Träger der Revolution, und sie verhindert die Konstituierung eines neuen. Gleichwohl soll an die Stelle des revolutionären Klassensubjekts nicht die eingestandene Ohnmacht einer auf sich selbst verwiesenen Kritik treten, sondern der spontane Protest der Einzelnen an den Rändern des Systems. Diese können sich mit den Entrechteten und den Pauperisierten innerhalb wie außerhalb des Systems verbünden; allein, da die Entrechtung und die Pauperisierung nicht mehr ohne weiteres mit Ausbeutung zusammengeht, ziehen auch diese ihre revolutionäre Zuversicht nicht mehr aus einer geschichtlichen Dynamik. Was bleibt, ist, auf der Grundlage eines überschießenden technologischen Potentials, der Wille und das Bewußtsein der Sensibelsten und der Einsichtigsten - die subjektive Weigerung. Die Theorie schreibt den Verhältnissen so viel unerschütterliche Objektivität zu, daß sie mit der
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Praxis nicht zu vermitteln ist, es sei denn subjektivistisch. Das erklärt einerseits die Wendung zur Anthropologie, die rechtfertigen muß, was das Potential der Geschichte nicht mehr herzugeben scheint; und andererseits eine gewisse Rückwendung zum Existentialismus, der Wissenschaft und Technik in ihrer gegenwärtigen Form zu einem historisch überholbaren »Entwurf« degradiert. So ist Herbert Marcuse zum Philosophen der Jugendrevolte geworden, mit Recht. Verständlicherweise, aber nicht ganz zu Recht, benutzen manche der jungen Revolutionäre seine Schriften als Legitimation für die unbestimmte Negation des Bestehenden. Die »große Weigerung« ist Metapher für eine Einstellung, aber nicht per se eine Einsicht. Marcuse hat eines mit dem anderen gewiß nicht verwechselt; gelegentlich aber muß er für eine solche Verwechslung herhalten. Das mag damit zusammenhängen, daß Marcuses Untersuchungen den Subkulturen des Protests vorausgegangen sind und nicht nachträglich auf diese reflektieren konnten. Marcuse hat die Analyse der Entstehung eines unerträglichen Zustandes und die kritische Anleitung zu seiner bestimmten Negation verbinden müssen mit der Expression der Unerträglichkeit dieses Zustandes, gegen den niemand protestierte. Was eine Subkultur des Protestes in Einstellungen und in Lebensformen verkörpern kann, verlangt einen anderen literarischen Ausdruck als die Analyse dieser Tatbestände. Wenn die Empörung allgemein ist, bedarf das Unerträgliche keiner Diskussion; wenn es aber nicht gefühlt wird, bedarf es der Expression, um die Tatbestände überhaupt sichtbar zu machen. Der Protest muß die Augen erst öffnen für das, was die Analyse fassen soll. Marcuses Untersuchungen hatten beide Funktionen zu übernehmen; auf die Arbeitsteilung zwischen dem Protest, der die Sinne schärft, und der Kritik, die begreifen macht, konnten sie sich nicht stützen. Das mag ein Grund sein, warum Marcuse denen, die ihm folgen, auch Anlaß zu Mißverständnissen gibt, nämlich dazu: die Artikulation einer Erfahrung mit der Analyse des Erfahrenen zu verwechseln - und die Attitüde der Weigerung mit bestimmer Negation. Ich habe den Eindruck, daß die Kritik, die sehr herbe Kritik an Marcuse zuweilen auf solche Mißverständnisse eher sich bezieht als
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auf Marcuses Argumente selber. Die Grundthese, die Marcuse seit Mitte der fünfziger Jahre immer wieder zu explizieren versucht und auf die der Entwurf seiner Theorie des Spätkapitalismus zurückgeht, ist: daß Technik und Wissenschaft in den industriell fortgeschrittensten Ländern nicht nur zur ersten Produktivkraft geworden sind, die das Potential für eine befriedete und befriedigte Existenz bereitstellt, sondern auch zu einer neuen Form von Ideologie, die eine von den Massen abgeschnittene administrative Gewalt legitimiert.1 Seit Herbert Marcuse in unserem Lande eine in die Breite wirkende Resonanz gefunden hat und sich die Massenmedien seiner als eines Idols der jungen Linken bemächtigt haben, verfestigt sich ein Bild, das von der Person und ihren wahren Intentionen sich immer weiter entfernt. Ich erkenne darin nicht mehr den aufrechten und mutigen Mann, dessen Immunität gegen falschen Beifall ich bewundere; ich erkenne darin nicht mehr die Züge des eigentümlichen, ein wenig altmodischen und fast schüchternen Charmes, der Herbert Marcuse unendlich liebenswert macht; und ich erkenne darin nicht mehr den Philosophen, der in Santa Barbara, an einem für europäische Augen spätsommerlichen Vorweihnachtstage, auf die suggestive Weite des ruhenden Ozeans zeigt, als wolle er das Element zum Zeugen anrufen: »Wie kann es da immer noch Leute geben, die die Existenz von Ideen leugnen?« Seit einem knappen Jahr stiftet der meistzitierte Satz Marcuses einige Verwirrung. Am Ende seines Aufsatzes Repressive Toleranz spricht Marcuse in Anführungsstrichen von einem »Naturrecht« auf Widerstand für unterdrückte und überwältigte Minderheiten: »Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen.« Ich würde wünschen, daß Marcuse diesen Satz noch einmal erläuterte. Er hat ihn 1965 in den USA geschrieben; und er hatte 1 Ich habe diese These in einem Aufsatz untersucht, vgl. Technik und Wissenschaft als Ideologie, edition suhrkamp 287.
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wohl jene Studenten vor Augen, die in den Südstaaten Seite an Seite mit den Negern für die verweigerten Bürgerrechte einer unterdrückten rassischen Minorität gekämpft und unter den Knüppeln einer brutalen Polizei geblutet haben. Diese Aktionen zogen ihr Recht aus dem manifesten Unrecht eines zerrissenen sittlichen Zusammenhangs; die Empörung der Unterdrückten war ihre Basis. Wo aber das Unrecht nicht manifest, die Empörung keine Reaktion von Massen ist, wo die Aufklärung den Parolen noch vorangehen und das Unerträgliche auf Definition noch warten muß, wo also, mit einem Wort, der Begriff die Realität noch nicht durchdrungen hat, dort, scheint mir, bleibt Gewaltanwendung subjektiv und verfällt den Maßstäben der Moral - die Dimension der Sittlichkeit kann sie sich nur vindizieren. Gewalt kann legitim nur in dem Maße gewollt und emanzipatorisch wirksam werden, in dem sie durch die drückende Gewalt einer als unerträglich allgemein ins Bewußtsein tretenden Situation erzwungen wird. Nur diese Gewalt ist revolutionär; die das ignorieren, tragen zu Unrecht das Bild Rosa Luxemburgs zu ihren Häupten.
b) Über Kunst und Revolution (1973) Herbert Marcuses vorletztes Buch Über die Befreiung ist erschienen, als die Protestbewegung soeben ihren Höhepunkt überschritten hatte: 1968 in USA und ein Jahr darauf in deutscher Übersetzung. Der paradoxe Titel des neuen Buches2 spiegelt die gründlich veränderte Situation; darin ist von >Revolte< die Rede, weil Marcuse heute die kommende Revolution in der Zeitspanne von Generationen mißt, während die massive Gegenbewegung die ironische Form einer vorbeugenden Konterrevolution anzunehmen scheint. Selbst in der Bundesrepublik, auf die dieses Bild trotz des »Radikalenerlasses« so recht nicht zu passen scheint, kann man auch Bestätigungen für diese Diagnose finden: so etwa läßt sich die rührende Eilfertigkeit verstehen, mit der Opposition und Regierung ein 2 Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt 1973.
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Grüppchen, das sich zur machtvollen Kaderpartei aufbläst, beim Wort nehmen - eine kraftmeiernde Selbststilisierung wird vorbeugend zur Realität gestempelt. Marcuses Buch ist in den Jahren 70/71 entstanden, bereits in der Flaute der Protestbewegung. Es enthält eine scharfe Kritik an der pseudomarxistischen Orthodoxie, die auch in den Reihen der Neuen Linken wieder aufgelebt sei. Sie drücke sich in einer ritualisierten Begrifflichkeit aus und führe zu einer Fetischisierung der Arbeiterklasse - wofür Marcuse nur die trockene Bemerkung übrig hat: ein neuer Aspekt des Warenfetischismus. Auf der anderen Seite richtet sich die Kritik aber auch gegen Clownerie und Sichgehenlassen, gegen die Gewaltspielerei des »revolutionären Selbstmordes« — dieser Appell an die Selbstkontrolle der Militanten ist ein neuer Ton. Aber nicht diese taktischen Bemerkungen machen das Thema des Buches aus. Seit den 30er Jahren hat Marcuse ein Problem nicht mehr losgelassen, das nun freilich durch die Erfahrungen der 60er Jahre in ein anderes Licht rückt - das Verhältnis von Kunst und Revolution, genauer: die Rolle, welche Kunst für die Revolutionierung einer abgestumpften Sinnlichkeit und der repressiven Triebstruktur spielen kann. Weil die bestehende Gesellschaft nicht nur im Bewußtsein der Menschen reproduziert wird, sondern auch in ihren Sinnen, muß die Emanzipation des Bewußtseins mit der der Sinne einhergehen - muß »die repressive Vertrautheit mit der gegebenen Objektwelt« aufgelöst werden. Nicht zufällig bedient sich der einstige Heideggerschüler der Sprache der Phänomenologie, wenn er eine radikale Veränderung für die »vorbewußte Konstitution der erfahrenen Welt« postuliert. Dahinter steht eine empirische Annahme. Gerade die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus, die beispiellose Dynamik einer Wohlstands- und konsumorientierten Gesellschaft, wird die »transzendendierenden«, die nicht-materiellen Bedürfnisse hervorbringen, die der Spätkapitalismus selbst nicht befriedigen kann. Die neuen Bedürfnisse manifestieren sich in den Werten und Verhaltensweisen subversiver Gegenkulturen, in denen das Potential der Kunst und der ästhetischen Erfahrungen zur politischen Kraft entbunden wird. Neu gegenüber diesen Thesen ist der Nachdruck, mit dem Marcuse dennoch die Spannung zwischen Kunst und Revolution betont.
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Wir lernen einen Marcuse kennen, der vor den Folgen einer Entdifferenzierung von Kunst und Leben erschreckt. Die Kunst darf nicht den surrealistischen Imperativ vollziehen und entsublimiert ins Leben übertreten. Nur als Kunst kann sie ihr radikales Potential ausdrücken. Die subversive Wahrheit der Kunst erscheint einzig in der Transformation der Wirklichkeit in Schein. Hatte Marcuse bisher den affirmativen Charakter des schönen Scheins als das Ideologische an der bürgerlichen Kunst kritisiert, so sieht er nun in der affirmativen Kraft eines vom Leben abgehobenen symbolischen Universums auch die Quelle der Negation des Bestehenden. Im Anblick einer Antikunst, die sich auf Marcuses frühere Thesen von der Aufhebung der Kunst berufen könnte, revoziert Marcuse seine Anklage: »Wenn wir einem Zerfall der bürgerlichen Kultur gegenüberstehen, der aus der inneren Dynamik des zeitgenössischen Kapitalismus und der Anpassung der Kultur an seine Erfordernisse resultiert, stimmt dann die Kulturrevolution, sofern sie darauf abzielt, die bürgerliche Kultur zu zerstören, nicht mit der kapitalistischen Anpassung und Neubestimmung der Kultur überein?« Marcuse ist den Grundpositionen der Adornoschen Ästhetik sehr nahe. Er setzt sich mit den seinerzeit im »Kursbuch« verbreiteten Thesen vom Ende der Kunst auseinander; auch im Sozialismus müßte die Kunst ihre Transzendenz behalten: »Ein Ende der Kunst ist nur vorstellbar, wenn die Menschen nicht mehr imstande sind, zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse, Schön und Häßlich, Gegenwärtig und Zukünftig zu unterscheiden. Das wäre der Zustand vollkommener Barbarei auf dem Höhepunkt der Zivilisation« - Marcuse wiederholt hier Alpträume von Vico und Nietzsche. In dieser Wendung gegen den Kulturanarchismus mag auch ein Stück unaufgelösten Antimodernismus stecken. Ich bin nicht sicher, ob Marcuse der experimentellen Logik jener künstlerischen Avantgarde ernstlich gerecht wird, die in der Nachfolge des Surrealismus mit extremen Mitteln, bis hin zum demonstrativen Verstummen, die versteinerten Sprach- und Verkehrsformen entblößt, d. h. bis an die Schwelle der Selbstnegation der Kunst negiert. Wie ungebrochen Marcuses Sensibilität in Traditionen der deutschen Romantik wurzelt, zeigt der Vergleich mit Geistern wie
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Benjamin und Adorno, die, bei allem Antiklassizismus, davon auch nicht ganz unberührt waren. Gleichwohl wäre es eine Fehleinschätzung, wenn man die Warnung vor einer Destruktion der Kunst als eigenständigen Universums bloß einem Rückfall in kulturkonservative Gesinnungen zuschieben wollte. Auf eine verständnisvolle Rezeption darf Marcuse heute in der Bundesrepublik kaum rechnen, ohnehin nicht bei seinen Gegnern, aber auch nicht bei denen, die seine Gegner geworden sind oder gleichgültig von ihm sich abgewendet haben. Die unorganisierten Reste der Neuen Linken, bei denen Resonanz möglich ist, haben keinen großen Handlungsspielraum mehr. Für die Szene, die Marcuse und die Protestbewegung hinterlassen haben, sind, wenn man von den parteitreuen Kommunisten und den zwischen Mao und Stalin angesiedelten Militanten absieht, zwei neue Kraftfelder charakteristisch. Auf der einen Seite haben sich diffuse und eher unpolitische Jugendkulturen gebildet, deren schon wieder kommerzialisierte Stimmung mit dem Modewort Nostalgie belegt wird. Ein neuer Historismus durchmustert die schnell gealterte Moderne nach Reizen und Dekorationen, die sich für den Privatgenuß von Gegenwerten und Komplementärerfahrungen zum Alltag der Leistungsgesellschaft eignen. Nachdem der Jugendstil, wahrlich eine Schatzkammer, geplündert worden ist, geht die Suche nach vorwärts in die 20er und 30er Jahre und nach rückwärts in Viscontis Spätromantik. Auf der anderen Seite haben die Jusos eine taktisch erfolgreiche Opposition geschaffen, die zum erstenmal in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine politisch folgenreiche Auseinandersetzung mit sozialistischen Gesellschaftsanalysen erzwungen hat. Marcuse glaubt nicht, daß die bestehende Konkurrenzdemokratie ein geeignetes Operationsfeld für den Übergang zu einem demokratischen Sozialismus darstellt. Demgegenüber versuchen die Jungsozialisten, dem Parteiestablishment klarzumachen, daß die Leistungsfähigkeit des spätkapitalistischen Wirtschaftssystems im Hinblick auf politisch gesetzte Prioritäten auf die Probe, und im (erwarteten) negativen Fall auch zur Disposition gestellt werden muß; und sie sehen, daß radikale Reformen nicht begonnen werden dürfen, bevor nicht der demokratische Staat über die gesetzlichen Mittel verfügt, um einer vorhersehbaren Obstruk-
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tionspolitik entgegenzutreten, die die Investitionsfreiheit der privaten Großunternehmen präventiv ausnützt. Was hingegen die Jusos mit Marcuse verbindet, kommt in ihrer erklärten »Doppelstrategie« zum Ausdruck: Erfolge innerhalb der bestehenden Institutionen werden nur dann nicht bürokratisch versickern, wenn eine gleichzeitige Politisierung des Bewußtseins großer Bevölkerungsteile jene neuen Bedürfnisse schafft, die veränderte gesellschaftliche Prioritäten allein rechtfertigen, durchsetzen und tragen können. Die Reste der nicht-organisierten Neuen Linken, eingeklemmt zwischen nostalgischen Kulturkomsum und erfolgreiche Jusokonkurrenz wenn das hierzulande die Szene ist, auf die Marcuses neues Buch auftrifft, dann ist Resonanz nicht wahrscheinlich, aber die Essenz des Marcuseschen Gedankens tritt auf diesem Hintergrund klar hervor. Seit der Entstehung des modernen Staates wird die politische Sphäre durch Staaten- und Bürgerkriege eingegrenzt und durch die Routinen der öffentlichen Bürokratien ausgefüllt. Gegen diesen Begriff von Politik, der sich auf Probleme der Machtverteilung und der administrativen Bearbeitung von gesellschaftlichen Materien beschränkt, haben Marcuse und die Neue Linke den Begriff einer stetigen und umfassenden Politisierung gesetzt, welche das Bewußtsein und die Sinnlichkeit der Subjekte selber ergreifen und die Wertstrukturen der Gesellschaft verändern soll. Das bedeutet eine kategoriale Verschiebung des politischen Handelns. Sobald die nicht-materiellen Bedürfnisse nach neuen solidarischen Beziehungen zwischen den Gruppen, den Generationen und den Geschlechtern, zwischen den Subjekten und der Natur, in die kollektive Willensbildung einbezogen werden, müßten Politik und Lebenspraxis in eine neue Konstellation treten. Diese Entstaatlichung der Politik bahnt sich beispielsweise in den öffentlichen Planungsprozessen an. Eine solche Entdifferenzierung bisher getrennter Medien stellt sich immer als Zerstörung eines relativ autonomen Bereichs dar. Nun hat die kulturrevolutionäre Bewegung das Ineinandergreifen verschiedener Entdifferenzierungsprozesse zu Bewußtsein gebracht: die wohl definierten Grenzen zwischen Krankheit und Normalität, zwischen Kunst und Leben, zwischen Politik und Kunst, zwischen privaten und öffentlichen Konflikten, zwischen
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Anpassung und Kriminalität haben sich gleichzeitig verschoben. Für staatliche Politik und Wissenschaftssystem zeichnet sich ab, was in anderen Bereichen schon in vollem Gange ist. Peter Gorsen hat in seinem Beitrag zum soeben erschienenen 4. Band der (von Gadamer herausgegebenen) Neuen Anthropologie zwei dieser Medienverschiebungen instruktiv behandelt: die Entästhetisierung der Kunst durch Aktions- und Abreaktionsspiele, Mixed Media, Concept Art, Land Art, durch Happening und Science-Fiction, durch Angleichung von Kitsch und Literatur usw.; und die Entpathologisierung des Kranken durch die neue Bewegung der Antipsychiatrie (Basaglia, Cooper), durch die Erschütterung der zwanghaften Autonomie bürgerlicher Normalität gegenüber dem Wahnsinn (Foucault) und durch die politische Umwertung des schizophrenen Rückzugs in eine konstruktive Ablösung von repressiven Lebensverhältnissen (Laing). Marcuse hat als einer der ersten die fragwürdige Autonomie des schönen Scheins analysiert; er hat zündende Argumente für eine neue, die Dimension der Sinnlichkeit, der Phantasie, der Wünsche einbeziehende politische Praxis entwickelt: davon handelt abermals das Kapitel über Natur und Revolution. Auf diesem Hintergrund gewinnt aber Marcuses neuerliche Wendung gegen die Zerstörung der Transzendenz des Schönen und gegen die Auflösung politischen Handelns in Aktionismus ihr besonderes Gewicht. Marcuse pocht darauf, daß die Entdifferenzierung der alten kulturellen Gliederungen nicht zur Entsublimierung der leidenschaftlichen Vernunft und der Kreativität führen darf. Die Konstellationen der bürgerlichen Kultur, die für drei oder vier Jahrhunderte selbstverständlich waren, sind in Bewegung geraten; aber diese Bewegung könnte sich nur um den Preis der Humanität selber darüber hinwegsetzen, daß auch in einem neuen gesellschaftlichen Universum Kunst, Politik und Lebenspraxis gegeneinander differenziert bleiben. Diese defensive Botschaft steht auf den ersten Blick in Widerspruch zur ungebrochenen revolutionären Rhetorik. Nach wie vor verteidigt Marcuse die Rebellion gegen »das Ganze«, den qualitativen Sprung, den Bruch mit dem Kontinuum der bisherigen Geschichte. Nach wie vor ist die Rede affirmativ; ihr theoretischer Gehalt ist
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eher etwas mager. Das Buch enthält nur die eine Hypothese, daß die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse Bedürfnisse neuer Art schafft, die der Spätkapitalismus nicht befriedigen kann. Und mit Recht ließe sich sagen, daß diese Hypothese nicht begründet, sondern in ihrer Geltung vorausgesetzt wird. Aber Einwände auf dieser Ebene würde ich für verfehlt halten. Denn nicht die Untersuchung sozialwissenschaftlicher Hypothesen ist das Ziel. Marcuses Argumente müssen vielmehr als Teil eines großen praktischen Diskurses verstanden werden, in dem es nicht um die Überprüfung empirischer Behauptungen, sondern um die Identifizierung und Rechtfertigung von verallgemeinerungsfähigen Interessen geht: um die radikale Neuinterpretation von Bedürfnissen und um die diagnostische Frage, ob die Masse der Bevölkerung in diesen Interpretationen das, was sie wirklich will, erkennen, ob sie sich darin wiedererkennen könnte.
c) Gespräch mit Herbert Marcuse (i977) I Habermas: Herbert, wir haben ja vor neun Jahren zu Ihrem 70. Geburtstag eine kleine Antifestschrift zusammengestellt, von Marcuse-Anhängern und Marcuse-Kritikern. Das war in einem Kontext, der sehr viel politischer war als der heutige. Deswegen gab es damals auch scharfe Töne wie in jeder politischen Auseinandersetzung. Ich finde, daß im allgemeinen der heutige Kontext, verglichen mit dem damaligen, zu bedauern, aber für Zwecke unseres Gesprächs wiederum auch nicht so unangenehm ist: wir können hier sommerlich entspannt einen Schritt zurücktreten und ... Marcuse: Da möchte ich doch protestieren. Habermas: Gut, gut. Marcuse: Ja, ich meine, wir sollten uns nicht einreden, daß wir heute von der Politik absehen oder die Politik aufs Nebengeleis stellen könnten, bis wir wieder mal Laune oder Zeit finden für ein politisches Gespräch.
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Habermas: Ich denke, daß wir heute ein politisches Gespräch, eine politische Diskussion führen werden ... Marcuse: Ja. Habermas: Aber eine, die nicht von unmittelbaren Konstellationen dieser oder jener Fraktionskämpfe bestimmt sein muß. Marcuse: Das sicher nicht. Habermas: Das hat ja auch einen Vorzug. Wir haben z. B. Zeit, mit einem kleinen biographischen Rückblick anzufangen. Dann würde ich ganz gern auf zwei, drei philosophisch-theoretische Fragen kommen, um erst am Schluß im engeren Sinne politisch zu diskutieren. Sie wissen, daß mich (schon wegen biographischer Ähnlichkeiten) immer Ihr Übergang von Heidegger zu Horkheimer, wenn ich das so sagen darf, interessiert hat. Lassen Sie mich anfangen mit einigen Fragen, die Ihre Freiburger Zeit betreffen, überhaupt die Jahre nach 1918. Zunächst einmal, 1932 ist Ihre Habilitationsschrift über Hegels Ontologie erschienen, das ist eine Untersuchung, die bis in den Titel hinein von Heideggerschen Problemstellungen geprägt gewesen ist. Im selben Jahr haben Sie in der Zeitschrift Die Gesellschaft die damals wiederentdeckten Marx-Texte über Nationalökonomie und Philosophie kommentiert, und ein Jahr später ist im Archiv für Sozialwissenschaft der Aufsatz über die »philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffs« erschienen. Das sind beides, so würden wir es wohl auch heute noch sehen, marxistische Arbeiten. Wie hat sich das miteinander vertragen, die Heideggersche Gedankenwelt und der Marxismus ? Marcuse: Ich glaube, daß der Übergang von dem, was Sie Heideggersche Gedankenwelt nennen, zum Marxismus kein persönliches Problem war, sondern ein Generationenproblem. Entscheidend war das Scheitern der deutschen Revolution, das meine Freunde und ich eigentlich schon 1921, wenn nicht sogar noch früher, mit der Ermordung von Karl und Rosa erlebt haben. Es schien nichts da zu sein, womit man sich hätte identifizieren können. Da kam der Heidegger, 1927 erschien Sein und Zeit. Ich hatte damals mein erstes Studium beendet, 1922 den Doktor gemacht, hatte eine Zeitlang in einem Antiquariat und Verlag in Berlin gearbeitet, war aber immer noch auf der Suche. Was geschieht nach dem Scheitern
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der Revolution? Eine Frage, die für uns ganz entscheidend war. Philosophie wurde damals durchaus gelehrt, die akademische Szene war beherrscht vom Neukantianismus, Neuhegelianismus, und da plötzlich erschien Sein und Zeit als eine wirklich konkrete Philosophie. Da war die Rede vom »Dasein«, von »Existenz«, vom »Man«, vom »Tode«, von der »Sorge«. Das schien uns anzugehen. Das dauerte bis ungefähr 1932. Dann haben wir allmählich gemerkt und ich sage »wir«, weil es eben wirklich nicht nur eine persönliche Entwicklung war-, daß diese Konkretion ziemlich falsch war. Das, was Heidegger getan hat, war im wesentlichen, die Husserlschen Transzendentalkategorien zu ersetzen durch seine eigenen. Anscheinend so konkrete Begriffe wie Existenz, Sorge wurden wieder verflüchtigt zu schlecht abstrakten Begriffen. Während der ganzen Zeit hatte ich schon Marx gelesen und habe fortgefahren, Marx zu lesen, und dann kam das Erscheinen der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte. Das war wahrscheinlich die Wende. Hier war in einem gewissen Sinne ein neuer Marx, der wirklich konkret war und gleichzeitig über den erstarrten praktischen und theoretischen Marxismus der Parteien hinausging. Und von da ab war das Problem Heidegger versus Marx für mich eigentlich kein Problem mehr. Habermas: Sie sagen, Heidegger erschien, als er mit Sein und Zeit auftrat, als jemand, der eine konkrete Philosophie angeboten hat. Marcuse: Ja. Habermas: Gerade wenn man aus einem marxistischen Interessenspektrum auf Heidegger sieht, fällt doch eher auf, daß hier ein transzendentales oder quasi-transzendentales, eben fundamentalontologisches Begriffssystem entwickelt wird für die Bedingung von Geschichte, für Geschichtlichkeit, aber gerade nicht für das Begreifen eines materiellen Geschichtsprozesses. Marcuse: Ja, bei Heidegger. In der Beschäftigung mit der Geschichtlichkeit verflüchtigt sich die Geschichte. Habermas: Trotzdem haben Sie damals an diese Fundamentalontologie angeknüpft und haben auch in diesen frühen Schriften, in den Philosophischen Heften und dann in den beiden erwähnten Aufsätzen, versucht, den ontologischen Rahmen in der Weise zu mobilisieren, daß Sie entfremdete Arbeit versus nicht-entfremdete Arbeit in diesen Begriffen formuliert haben.
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Marcuse: Ja, aber das war nicht mehr Heidegger. Das war eine Ontologie, die ich bei Marx selbst entdecken zu können glaubte. Habermas: War es so, daß Ihre politischen Grundpositionen festlagen seit 1918 und daß die eigentlich philosophischen Impulse erst nach und nach integriert worden sind mit politischen Auffassungen, oder ist das eher ein dialektischer Prozeß gewesen? Sie waren doch sogar in der Rätebewegung aktiv? Marcuse: Ich war involviert eine kurze Zeit, ich war Mitglied des Soldatenrats in Berlin-Reinickendorf 1918, ich bin sehr schnell aus diesem Soldatenrat wieder ausgetreten, als man dazu überging, ehemalige Offiziere hineinzuwählen, und habe dann eine ganz kurze Zeit der SPD angehört, bin da aber auch nach dem Januar 1919 wieder ausgetreten. Ich meine, daß meine politische Haltung in dieser Zeit festgelegt war in dem Sinne, daß sie kompromißlos gegen die Politik der SPD gerichtet, also in diesem Sinne revolutionär war. Habermas: Welche Rolle haben der Lukács von Geschichte und Klassenbewußtsein und der Korsch von Marxismus und Philosophie für Sie gespielt? Das müssen Sie vor Heidegger kennengelernt haben. Marcuse: Lukács habe ich vor Heidegger gelesen und kennengelernt, ja, Korsch, glaube ich, auch. Beide sind Beispiele dafür, im Marxismus mehr zu sehen als eine politische Strategie und eine politische Zielsetzung; bei beiden gibt es das, was Sie Ontologie genannt haben, die auf eine mehr oder weniger implizite ontologische Grundlage im Werk von Marx zurückweist. Habermas: Wie sind Sie ans Institut gekommen? Marcuse: Zufall. Durch Kurt Riezler, der damals Kurator der Frankfurter Universität und ein Freund von Horkheimer war. Ich weiß nicht mehr, wie ich Riezler kennengelernt habe, jedenfalls hat er die Verbindung zwischen dem Institut und mir vermittelt. Das war Ende 1932. Er war selbst ein Heideggerfreund. Habermas: Ah, das wußte ich nicht. Marcuse: Ja, er hat ein Buch über Parmenides geschrieben, das ganz heideggerisch ist. Er hat in seiner Person und in seinem Werk die Verbindung zwischen Institut auf der einen Seite und Heidegger auf der anderen Seite hergestellt; sonst war da keine Verbindung.
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Habermas: Kannten Sie das Institut, was wußten Sie vom Institut 1932? Marcuse: 1932 war vom Institut nur erschienen der erste Band der Zeitschrift für Sozialforschung. Das war das einzige, was ich wußte. Ich wollte dringend ans Institut gehen wegen der politischen Situation. Es war ganz klar, Ende 1932, daß ich mich niemals unter dem Nazi-Regime würde habilitieren können. Und das Institut hatte damals schon Vorbereitungen getroffen zu emigrieren, mit der Bibliothek usw. Habermas: Sie haben Horkheimer damals getroffen? Marcuse: Ich war Ende 1932 in Frankfurt, habe aber nur Leo Löwenthal getroffen, nicht Horkheimer, und Löwenthal hat dann sozusagen die Vermittlerrolle gespielt zwischen mir und Horkheimer. Habermas: Sie haben Horkheimer überhaupt erst ... Marcuse: ... ich glaube in Genf, 1933, kennengelernt. Habermas: Und dann kam es zu einer Zusammenarbeit nicht vor New York? Marcuse: Zu einer richtigen Zusammenarbeit ist es nicht vor New York gekommen. Habermas: Können Sie sagen, was in dieser für Sie doch neuen theoretischen Umgebung damals intellektuell der stärkste Anstoß war zu einer Umorientierung und Fortentwicklung Ihrer Gedanken? Marcuse: Ja. Erstens: die immerhin weitgehend unabhängige Erörterung des Marxismus, der Marxschen Theorie. Zweitens: die ausgezeichnete Analyse der politischen Situation. Niemand im Institut hat z. B. daran gezweifelt, daß Hitler an die Macht kommen würde und daß er, wenn er einmal an der Macht wäre, unvorhersehbare Zeit auch an der Macht bleiben würde. Und drittens: die Psychoanalyse. Ich hatte Freud schon vorher gelesen, aber meine systematische Beschäftigung mit Freud begann erst im Institut. Habermas: Welche Rolle spielte Fromm in dem Zusammenhang? Marcuse: Sie wissen wahrscheinlich aus eigener Erfahrung, daß die Organisation des Instituts einigermaßen hierarchisch war und autoritär. Habermas: Ich kann das bestätigen.
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Marcuse: Ich gehörte damals zu den marginalen Erscheinungen im Institut und wurde zu den wichtigen, großen Beratungen nicht hinzugezogen, also konnte ich die Interna nur indirekt erschließen. Der wirkliche Grund für Fromms Entfernung vom Institut war seine Entmannung der Freudschen Theorie, besonders die Revision des Freudschen Begriffs der Triebstruktur. Ob persönliche Dinge mitgespielt haben, darüber kann ich nur Vermutungen anstellen, ich weiß es nicht. Habermas: Für Sie hat also erst in dieser Zeit Freud in dem Sinn eine Rolle gespielt, daß eine marxistische Sozialpsychologie als eine Möglichkeit ... Marcuse: ... als eine Notwendigkeit empfunden wurde, als eine Notwendigkeit. Was hinter all diesen Arbeiten stand, war die Wirklichkeit des Faschismus. Und die Wirklichkeit des Faschismus mußte erklärt werden in Begriffen der Marxschen Theorie, nicht ad hoc zurechtgemacht, sondern aus der Marxschen Theorie selbst entwickelt. Und dazu schien eben in der Psychoanalyse eine ganze Tiefenschicht menschlichen Verhaltens aufgedeckt, die vielleicht einen Schlüssel liefern konnte zur Beantwortung der Frage, warum es 1918/19 schiefgegangen war. Warum wurde das geschichtlich außerordentliche Revolutionspotential damals nicht nur nicht genutzt, sondern für Jahrzehnte verschüttet, ja geradezu vernichtet? Die Psychoanalyse, besonders Freuds Metapsychologie, schien da bei der Klärung der Ursachen zu helfen. Lubasz: Warum war eigentlich das Institut dem Revisionismus von Erich Fromm so abhold? D. h. warum hat man damals vermutet, daß durch das Abgehen von einer strikten triebstrukturellen Interpretation der Psychoanalyse etwas verlorengehen würde? Marcuse: Der zentrale Punkt war und ist der explosive Inhalt der Freudschen Theorie der Instinkte - also nicht die Rückverwandlung, sondern die Verengung der Psychoanalyse zur Praxis unter Aufopferung der entscheidenden Theorieimpulse. Fromm war meiner Meinung nach einer der ersten, der die explosiven Elemente der Freudschen Theorie ausgeschaltet hat. Habermas: Ich wüßte ganz gern, ob Sie nicht retrospektiv dem Beitrag unrecht tun, den Fromm für die Entstehung der Kritischen Theorie geleistet hat.
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Marcuse: Ich fürchte, Sie haben recht - was den »frühen« Fromm betrifft. Habermas: War nicht das Programm einer marxistischen Sozialpsychologie von Fromm überhaupt in das Institut eingebracht worden, Ende der 20er Jahre schon? Sie waren damals nicht in Frankfurt, ich kann also nur fragen nach den Eindrücken, die sich für Sie ergaben in der ersten New Yorker Zeit. War es nicht, gewiß von Horkheimer herausgefordert, doch Fromm, der in einer eigenen und für die Kritische Theorie entscheidenden Variante eine Vermittlung von Marx und Freud versucht hat, d. h. klargemacht hat, daß der subjektive Faktor nicht mit einigen trivialpsychologischen Annahmen bestimmt werden kann, sondern eine, wie soll ich sagen, Integration Grundbegrifflichkeiten der Psychoanalyse und des Marxismus verlangt? Ist nicht das Fromm-Bild stark geprägt von der späteren Auseinandersetzung mit dem Revisionisten Fromm und kommt aber der Beitrag, den er in der Formationsperiode der Kritischen Theorie geleistet hat, nicht zu kurz? Marcuse: Ja, ich gebe das ohne weiteres zu. Und die Beschreibung, die ich gegeben habe, war, wie Sie ja gesagt haben, von der Position des späten Fromm eingefärbt. Der frühe Fromm, also, sagen wir mal, bis - wann ist das Buch Flucht vor der Freiheit erschienen? Lubasz: 1940. Marcuse: Wann? Nein, das Buch haben wir schon sehr scharf kritisiert. Aber die frühen Arbeiten von Fromm, besonders über das Christusdogma, und dann die ersten Aufsätze in der Zeitschrift, die sind aufgenommen worden als eine radikale marxistische Sozialpsychologie. Das ist richtig. Habermas: Können wir, da das jetzt ein aktuelles Thema zu werden scheint, noch ein bißchen auf die Arbeitsweise des Instituts in der New Yorker Zeit eingehen? Es gibt eine Gruppe hier in München um Herrn Dubiel, die sich mit dieser Phase der Institutsarbeit beschäftigt, und zwar unter Gesichtspunkten der Wissenschaftsorganisation. Vielleicht lese ich mal ein paar Sätze vor. Die These, die Herr Dubiel in seiner Arbeit Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Fallstudien zur Struktur und Geschichte der frühen Kritischen Theorie aufstellt, ist kurz die folgende: »Die Unterscheidung von Forschung und Darstellung« - Dubiel bezieht sich hier
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auf Bemerkungen, die Marx über den Aufbau des Kapital gemacht und die Horkheimer aufgenommen hat in seiner Antrittsrede, als er 1930 von Grünberg das Institut übernahm -, »die Horkheimer mit der Unterscheidung von fachwissenschaftlicher Analyse und philosophischer Konstruktion identifizierte, bildete die forschungsorganisatorische Substruktur der wissenschaftlichen Arbeit von Horkheimers Mitarbeiterkreis. Diese Substruktur bestand in der Differenzierung von kognitiven Rollen nach Maßgabe der Funktion von Forschung und Darstellung und einer spezifischen Verkettung dieser Funktionen im Forschungsprozeß selbst. Diese forschungsorganisatorische Struktur läßt sich in der Struktur des Kreises leicht identifizieren. Horkheimer beanspruchte die Funktion der Darstellung systematisch für sich, während seine Mitarbeiter auf die darauf bezogene Funktion fachwissenschaftlicher Dienstleistungen verpflichtet wurden.« Marcuse: Nein, also das ist eine unzulässige Trennung, eine völlig undialektische Trennung von Forschung und Darstellung, die im Institut wirklich nicht geübt worden ist. Es ist keineswegs so, daß Horkheimer die philosophische Anregung und Integrierung leistete und die Mitarbeiter sozusagen auf die Darstellung seiner Gedanken verwiesen wurden. Keineswegs. Jeder der Mitarbeiter hat gleichzeitig den hier für Horkheimer reservierten Bereich ebenfalls genutzt. Habermas: Dubiel sagt, Horkheimer habe von der diktatorischen Kompetenz des Institutsdirektors, auf die er explizit Wert legte, in folgender Weise Gebrauch gemacht. Er habe die philosophischpolitischen Fragestellungen, die aus einer Reflexion der geschichtlichen Situation stammten, entwickelt und festgelegt, über welche Themen gearbeitet werden sollte, ungefähr in welcher Interpretationsperspektive darüber gearbeitet werden sollte. Zweiter Schritt dann ... Marcuse: Er hat sie vorgeschlagen, nicht festgelegt. Habermas: Das ist schon eine wichtige Modifikation. Marcuse: Er hat dabei natürlich aufgrund seiner Stellung eine gewisse Übermacht gehabt. Aber die Sachen wurden, bevor man an die Ausarbeitung ging, selbstverständlich diskutiert. Wollen mal sehen, ob mir ein Beispiel einfällt.
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Habermas: Sie haben damals den Aufsatz über ... Marcuse: ... den liberalen und den totalitären Staat ... Habermas: ... ja, da war doch eine ... Marcuse: ... eine Rede Hitlers, die Rede vor dem Düsseldorfer Industrieklub, die wurde bekannt, und dann hat Horkheimer die Mitarbeiter zusammengerufen und auf Zeitungsartikel hingewiesen und die Frage gestellt, ob etwas und was an dieser Rede so bedeutsam sei, daß man es zum Gegenstand einer mehr oder weniger selbständigen Untersuchung und Darstellung machen sollte. Das wurde diskutiert und dann die Entscheidung gefällt. Horkheimer hat nicht diktatorisch gesagt: Jetzt wird darüber gearbeitet. Habermas: Man konnte Pollock und Grossman als Ökonomen betrachten, Fromm als Psychologen, Löwenthal als Literaturtheoretiker, Adorno und Marcuse als Ideologiekritiker usw. Hat eine Arbeitsteilung zwischen diesen Fachwissenschaftlern und Horkheimer bestanden, der die philosophische Generalperspektive entworfen und vorgeschlagen und später auch wieder in der Darstellung der Ergebnisse zur Geltung gebracht hat? Dubiel sagt, man müsse nur die einzelnen Nummern der Zeitschrift für Sozialforschung anschauen: alle Nummern sind von Horkheimer eingeleitet worden, und Horkheimer hat sogar Kommentare gegeben, etwa zu Pollocks Aufsätzen ... Marcuse: Pollock hat ja den Aufsatz geschrieben über den Staatskapitalismus, der meiner Meinung nach einer der allerersten Versuche war zu zeigen, daß der Spätkapitalismus aus inneren Gründen, aus rein ökonomischen Gründen nicht zusammenbrechen wird. Aber die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ist eben keine Einzelwissenschaft, man kann sie nicht als Einzelwissenschaft der philosophischen Integrierung gegenüberstellen, was immer das auch sein mag. Habermas: Das gilt ... Marcuse: ... genauso später für Neumann und Kirchheimer. Was sie betrieben, war nicht Einzelwissenschaft im Sinne der empirischen und in Bereiche abgegrenzten Forschung. Habermas: Mir scheint auch, daß Dubiel und seine Mitarbeiter einen zu scharfen Schnitt legen zwischen den integrativen Per-
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spektiven des Philosophen Horkheimer und den sogenannten Einzelwissenschaftlern. Sie meinen also, bereits die sogenannten Einzelwissenschaftler haben eine marxistisch inspirierte Sozialwissenschaft betrieben... Marcuse: Ja . .. Habermas: ... die von sich aus auf die Integration der verschiedenen Aspekte, der sozialpsychologischen, ökonomischen und staatstheoretischen Aspekte, angelegt war. Marcuse: Genau, ich meine, daß bis zum Ende die Marxsche Theorie selbst die integrierende Kraft war, die verhindert hat, daß z.B. ökonomische Probleme nur als einzelwissenschaftliche Probleme behandelt und erörtert wurden. Habermas: Vielleicht könnten wir an dieser Stelle einmal kurz betrachten, wie damals im Institut zusammengearbeitet wurde. Was heißt überhaupt »Institut«, das waren zwei Räume in der Columbia University? Marcuse: Das war ein ganzes Haus in der 117. Straße. Das Haus gehörte der Columbia University und wurde dem Institut zur Verfügung gestellt. Habermas: Und wie sah die Arbeit aus, ich meine die Zusammenarbeit? Wie muß man sich die vorstellen? Marcuse: Daß mehr oder weniger die Probleme und die Auswahl von Beiträgen von den Mitarbeitern für die Zeitschrift diskutiert wurden in Horkheimers Büro. Es beteiligte sich, wer gerade da war, Pollock, Löwenthal, die waren beide immer da, später kam Adorno hinzu, auch ich. Und, ja, da setzte sich schon die hierarchische Gliederung durch. Es bestand definitiv eine Kluft - auf der einen Seite Neumann, Kirchheimer, Grossmann und auf der anderen Seite die, die ich eben aufgezählt habe. Das war eine nicht von der Sache geforderte, sondern von der mehr oder weniger persönlichen Organisation ausgehende Diskriminierung. Habermas: Man könnte sagen, daß der engere Kreis zusammenfällt mit dem Kreis der Leute, die Horkheimers Intentionen am nächsten standen, seinen theoretischen Intentionen? Marcuse: Ja, das kann man sagen. Habermas: Wie spielte sich das nun ab? Die Zeitschrift war der organisatorische Mittelpunkt?
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Marcuse: Definitiv, ja. Habermas: So daß sich eigentlich alles in Form von Redaktionssitzungen abspielte? Marcuse: Allerdings. Die Manuskripte wurden vorgelegt, zuerst Löwenthal, dann gingen sie zu Horkheimer und wurden dann noch mal diskutiert. Habermas: Gab es Seminare? Marcuse: Regelmäßig? Nein. Seminare gab es, aber sie waren nicht beschränkt auf das interne Institut. Sie fanden im Rahmen von Abendvorlesungen statt, die an der Columbia University gehalten wurden. Habermas: Und da kamen auch Gäste? Marcuse: Da kamen auch Studenten von der Columbia University. Habermas: Und als Vortragende nur Institutsmitglieder? Marcuse: Ich glaube, ja. Habermas: Und das diente eher den Public relations, ich meine der Außendarstellung, um zu zeigen, daß Sie da waren. Marcuse: Ja. Habermas: Hat sich das Institut jemals, sagen wir, lokalisiert im Verhältnis zu stärker politisch organisierten Gruppen der Emigration? Marcuse: Das war streng untersagt. Horkheimer hat von Anfang an darauf bestanden, daß wir Gäste der Columbia University sind, Philosophen und Wissenschaftler. Irgendeine organisatorische Bindung konnte die prekäre administrative Grundlage des Instituts erschüttern. Also, von solchen Zusammenhängen konnte keine Rede sein. Habermas: In welche Perspektive haben Sie denn in der zweiten Hälfte der 30er Jahre gearbeitet? Die Zeitschrift erschien auf deutsch, bis 1940, glaube ich. Offensichtlich hatten Sie nicht das Ziel, in Amerika wirksam zu werden mit Ihrer Theorie. Hatten Sie bereits die Perspektive auf ein Deutschland nach dem Zusammenbruch des Faschismus? Marcuse: Ich habe mir die Frage nie vorgelegt. Ich möchte jetzt antworten: nein, diese Perspektive gab es nicht. Die Perspektive war: Wir werden hier in Amerika, hoffentlich, bleiben können für
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absehbare Zeit, wir müssen uns darauf einrichten. Der Gedanke, daß eine Rückkehr nach einem nichtfaschistischen Deutschland sozusagen vor der Tür stand, wurde nicht gedacht. Lubasz: Wie hat man sich zu jener Zeit die Verbindung zwischen der sich im Aufbau befindenden Theorie und einer möglichen Praxis vorgestellt, oder wurde das ausgeklammert? Marcuse: Wieder dieselbe Antwort: Wenn mit Praxis politische Betätigung in einer Organisation oder für eine Organisation gemeint ist: nein, es war nicht davon die Rede, daß man sich mit Gruppen identifizieren konnte, die politisch aktiv waren. Niemand im Institut hat z.B. jemals angenommen, daß nach dem Faschismus, wenn die SPD oder eine andere bürgerliche Partei zur Macht käme, die Sache wesentlich anders würde, daß dann eine revolutionäre Situation entstehen würde. Das Problem »Philosophie und Praxis«, wie es 1968 dann explodierte, war damals suspendiert. Habermas: Können Sie sagen, warum das Institut sich aufgelöst hat, warum Horkheimer und Adorno nach Kalifornien gegangen sind? Hatte das auch innere Gründe, hatte das Gründe, die in der Theorieentwicklung lagen, war man an ein Ende gekommen? Marcuse: In gewissem Sinne war man an ein Ende gelangt, und man war zugleich an einen Anfang gekommen. Das ist ein sehr interessantes Phänomen. Das Ende war, daß sich weder Horkheimer noch Adorno, um die beiden Hauptfiguren zu nennen, jemals mit dem amerikanischen Wissenschaftsbetrieb wirklich befreunden konnten. Das war für sie alles mehr oder weniger Positivismus, Psychologismus usw. Andererseits ist es immerhin aufschlußreich, daß Horkheimer und Adorno Amerika genau zu dem Zeitpunkt verließen, als das Institut, seine Theorie und seine Arbeit in Amerika Erfolg hatten und gewürdigt wurden, nämlich nach dem Erscheinen von Authoritarian Personality. Auf einmal, über Nacht, war die Arbeit des Instituts ein unentbehrlicher Bestandteil des amerikanischen Wissenschaftsbetriebs. Und da sind sie weggegangen. Habermas: Nun kann man allerdings sagen, daß die Diskussion über die A-Scale und die F-Scale nicht eigentlich eine Diskussion über Kritische Theorie war. Marcuse: Nein, aber das Buch hat ja, wenn ich mich recht erinnere, auch eine lange Einleitung von Adorno.
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Habermas: Nochmal zurück zu 1940/41. Warum hörte das in Columbia auf? Warum gingen die beiden nach Kalifornien? Das war doch der Verzicht auf die Fortsetzung der Zeitschrift, nicht? Warum? Marcuse: Ich glaube, Horkheimer hatte, wenn ich mich nicht täusche, politische Ängste, daß selbst in Amerika der faschistische Trend so stark würde, daß das Institut als solches gefährdet würde. Habermas: Können Sie, da es darüber in den Jahren nach 1968 Gerüchte gegeben hat, etwas über Ihre Tätigkeit unmittelbar nach dem Ende des Krieges, als Sie als Offizier der US-Armee nach Deutschland zurückkamen, berichten? Marcuse: Ich war zuerst in der Politischen Abteilung der OSS und dann in der Division of Research and Intelligence of the State Department. Meine Hauptarbeit war die Identifizierung von Gruppen in Deutschland, mit denen man nach dem Kriege zur Rekonstruktion zusammenarbeiten konnte; und die Identifizierung von Gruppen, die als Nazis zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Es gab da ein großes Entnazifizierungsprogramm. Es wurden Listen aufgestellt, basierend auf exakter Forschung, Berichten und Lektüre der Presse und was immer sonst noch, von denen, die als Nazis nach dem Kriege zur Verantwortung gezogen werden sollten. Es hieß später, ich sei ein CIA-Agent gewesen. Habermas: Ja, ja. Marcuse: Was Blödsinn ist, denn die OSS durfte noch nicht mal in die Nähe des CIA. Beide haben sich immer wie Gegner bekämpft. Habermas: Meine Frage hat ja nicht nur den Sinn, diesen Blödsinn vom Tisch zu bringen, sondern auch den, politisch zu klären, was denn eigentlich aus Ihren Vorschlägen geworden ist. Haben Sie den Eindruck, daß das, was Sie da getan haben, irgendeine Folge hatte? Marcuse: Das Gegenteil. Diejenigen, die wir z.B. als »ökonomische Kriegsverbrecher« an der ersten Stelle der Liste hatten, waren sehr bald wieder in den entscheidenden verantwortlichen Positionen der deutschen Wirtschaft wiederzufinden. Hier Namen zu nennen ist sehr leicht.
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Habermas: Vielleicht schließen wir diesen Teil unserer Diskussion ab. Nur noch eine Frage: Ich habe mir überlegt, wer denn außerhalb des Frankfurter Einzugsbereichs für Sie eine Figur gewesen sein könnte, die zu intellektueller Auseinandersetzung gereizt hat. Ich bin da nur auf Sartre gestoßen. Marcuse: Richtig. Habermas: Welche Bedeutung hat Sartre für Sie gehabt? Die Spuren sind ja bis zum Eindimensionalen Menschen zu sehen. Marcuse: Das ist eine späte oder verspätete Beschäftigung mit einer wirklich konkreten, nicht nur scheinkonkreten Ontologie. Das kann man ganz spezifisch zeigen. Bei Heidegger ist das Dasein neutral, d. h. ein abstrakter Begriff. Bei Sartre ist das Dasein z. B. in zwei Geschlechter gespalten - ein ganzer Bereich, der bei Heidegger überhaupt nicht vorkommt. In L'Etre et le Neant gibt es z.B. eine wirklich charmante Phänomenologie des Popos. Das hat mir gefallen. Habermas: Ja, auch Leute, die blicken können, müssen mindestens Augen haben. Marcuse: Bei Sartre gibt es wirklich eine konkrete Philosophie. Das hat sich dann auch bewahrheitet, denn der Weg von L'Etre et le Neant zu dem >politischen< Sartre ist ja ein sehr kurzer. Habermas: Sie betonen, daß das, was Sie von Freud gelernt haben, hier auf anderem Wege auch in eine linke Heidegger-Tradition Einzug gehalten hat, etwa bei Sartre. Ich habe diese Sache immer ein wenig anders gesehen. Ich glaube, daß Sie wirklich den Sartre, und zwar den Sartre von Marxismus und Existentialismus, in entscheidenden Dingen vorweggenommen haben in den frühen 30er Jahren. Ihr Versuch eines marxistischen Gebrauchs der Heideggerschen Fundamentalontologie ähnelt in Grundzügen dem, was Sartre im Übergang von L'Etre et le Neant zu marxistischen Positionen in den 50er Jahren dann - sicherlich ohne Ihre Arbeiten zu kennennachvollzogen hat. Marcuse: Ja, sicher. Habermas: Halten Sie es für falsch, das so zu sehen? Sie haben das dann natürlich in den 50er Jahren alles nicht mehr ernst genommen. Marcuse: Das stimmt nicht.
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Habermas: Doch, dann begann ja erst die marxistische Rezeption des späten Husserl und sogar Heideggers in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien. Marcuse: Da zeigt sich, daß vielleicht doch ein innerer begrifflicher Zusammenhang besteht in dem, was wirklich gut ist an Husserl und vielleicht sogar an Heidegger, denn dieser späte Husserlaufsatz über die Krisis der europäischen Wissenschaft ist ja, verglichen mit den vorhergehenden Transzendentalarbeiten, wirklich ein Neubeginn.
II Habermas: Ich würde ganz gern über ein paar theoretische Fragen mit Ihnen sprechen, Herbert, erstens über anthropologische Grundlagen der Gesellschaftstheorie bei Ihnen, dann über den Stellenwert, den die ästhetische Theorie hat, über das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft, über Ihre theoretische Einschätzung der politischen Demokratie, überhaupt des Liberalismus, und schließlich über das Verhältnis von Theorie und Praxis. Das wird uns dann ja unmittelbar zu politischen Fragen bringen. Vielleicht sollte ich noch sagen, aus welcher Perspektive ich meine Fragen stelle. Neben Adorno haben Sie mit Ihren Arbeiten auf mich persönlich den größten unmittelbaren Einfluß gehabt, und die Übereinstimmungen sind so groß, daß mir nur noch die Schwierigkeiten auffallen, die in dieser Theorie vielleicht auch drinstecken und auf die man stößt, wenn man das Interesse hat, diese Dinge weiterzutreiben. Das ist also der Geist, aus dem ich ein paar Fragen stellen möchte. Ich glaube, daß ich ab und zu einfach mal ein paar Stellen vorlese aus Ihren Sachen, dann wissen wir, worüber wir genau reden. Zuerst aus den Neuen Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus. Da findet sich eine Stelle, von der ich meine, daß sie ein Motiv in Ihrem Denken klarmacht, das bis heute, bis zu dem Buch Die Permanenz der Kunst, konstant geblieben ist, ein Motiv, das Sie übrigens von Horkheimer und Adorno trennt. Es heißt in diesem frühen Aufsatz von 1932:
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Gerade der unbeirrbare Blick auf das Wesen des Menschen wird zum unerbittlichen Antrieb der Begründung der radikalen Revolution. Daß es sich in der faktischen Situation des Kapitalismus eben nicht nur um eine ökonomische oder politische Krise handelt, sondern um eine Katastrophe des menschlichen Wesens, diese Einsicht verurteilt jede bloße ökonomische oder politische Reform von vornherein zum Scheitern und fordert unbedingt die katastrophische Aufhebung des faktischen Zustandes durch die totale Revolution. Erst auf der so gesicherten Grundlage, deren Festigkeit durch keine nur ökonomischen oder politischen Argumente erschüttert werden kann, erwächst die Frage nach den geschichtlichen Bedingungen und Trägern der Revolution. Jede Kritik, die sich nur mit dieser Theorie beschäftigt, also mit Klassenkampf und Diktatur des Proletariats, ohne sich mit ihrem eigentlichen Fundament auseinanderzusetzen, verfehlt ihren Gegenstand. Marcuse: Das ist aus den Beiträgen zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus? Habermas: Nein, aus Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, also dem Kommentar zu den Ökonomischphilosophischen Manuskripten. Das ist 1932. Marcuse: Ja. Habermas: Selbst wenn ich einen Hauch von expressionistischen Vokabeln (wie »totale Revolution«) abziehe, steckt hier ein Gedankenmotiv drin, das sich durchgehalten hat. Sie haben damals noch einen ontologischen Ansatz. Wenn Sie von »Fundament« sprechen, vom »Wesen des Menschen«, dann denken Sie immer noch daran, sich fundamentalontologische Perspektiven marxistisch anzueignen. Von diesem Begriffsrahmen haben Sie sich abgelöst. Andererseits hat man den Eindruck, daß später die Freudsche Metapsychologie die Rolle der Heideggerschen Existentialontologie übernommen hat. Ihr Marxismus hat bis heute einen stark anthropologischen Einschlag, wenn ich das so locker sagen darf. Marcuse: »Anthropologisch« meinen Sie jetzt im Sinne der philosophischen Anthropologie, nicht der Ethnologie? Habermas: Ja. Um vielleicht klarer zu machen, was ich meine, im Versuch über die Befreiung heißt es S. 25: Wir hätten dann diesseits aller Werte ein trieb-psychologisches Fundament für Solidarität unter den Menschen, eine Solidarität, die gemäß den
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Erfordernissen der Klassengesellschaft wirksam unterdrückt wurde, nunmehr aber als Vorbedingung von Befreiung erscheint.
Marcuse: Ja. Habermas: In diesem Sinne sprechen Sie sogar von den »biologischen Grundlagen« des Sozialismus, auch wenn Sie ein Fragezeichen dahintersetzen. Ganz deutlich hier in Ihrem letzten Buch, Permanenz der Kunst, noch einmal S. 25: »Die Verstrickung von Glück und Unglück, Heil und Unheil, Eros und Thanatos, kann nicht in Probleme des Klassenkampfs aufgelöst werden, die Geschichte hat einen naturhaften Boden« - das meine ich mit Anthropologie. »Der Mensch als Gattungswesen diesseits von allen Klassengegensätzen ist eine Bedingung der Möglichkeit der klassenlosen Gesellschaft. Die Menschheit als Realität, als die Gemeinschaft freier Individuen setzt eine Veränderung der organischen Entwicklung innerhalb der geschichtlich-gesellschaftlichen voraus.« Diese Veränderung der organischen Entwicklung konzipieren Sie auch aus der Perspektive einer Rückkehr zu einem naturhaften Boden - jedenfalls zu einem anthropologisch angelegten Potential. Marcuse: Aber keine Rückkehr. Jede Bedeutung, jede Erklärung in Begriffen von >Zurück zur Natur< würde ich kompromißlos ablehnen. Auch hier ist Natur etwas, das es erst herzustellen gilt. Habermas: Sie sprechen von einem naturhaften Boden, Sie sprechen auch von einer Triebstruktur, die zwar eine historische Dynamik entwickelt, aber doch zugleich der Boden ist für die vernünftige Organisation frei assoziierter Produzenten in einer künftigen Gesellschaft. Man fragt sich, wie solche starken anthropologischen Annahmen mit dem Historischen Materialismus, also schlicht mit der These der Veränderbarkeit der menschlichen Natur, vereinbar sind. Marcuse: Daß der Mensch einen Körper hat und daß der Mensch das hat, was der Freud Triebe nennt, und daß es im Menschen primäre Triebe gibt, heißt nicht, daß sie nicht veränderbar sind. Wenn ich von menschlicher Natur spreche, meine ich immer eine Natur, die den Menschen als ganzen verändern kann. Wenn die Triebstruktur in dem Sinne invariant ist, daß immer der Konflikt
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zwischen Eros und Thanatos zugrunde liegt, dann heißt das nicht, daß die Formen, in denen dieser Konflikt sich entwickelt, nicht geschichtlich und gesellschaftlich veränderbar sind. Es steht schon bei Freud, daß es Grade gibt, zu denen destruktive Energie erotischer Energie unterworfen werden kann. Das ist ja Veränderung der Triebstruktur, das hab ich ja nicht hinzugesetzt. Also ist es nicht richtig zu sagen, daß Freud eine unveränderliche menschliche Natur zugrunde lege, oder jedenfalls nur sehr bedingt richtig. Habermas: Was ich provisorisch anthropologische Grundlagen der Gesellschaftstheorie genannt habe, hat ja zwei Seiten, wie man an den Zitaten sieht. Auf der einen Seite dienen sie zur Begründung einer Radikalisierung des Revolutionsbegriffs oder einer radikalen Fassung des Revolutionsbegriffs. Sie sagen, es kann bei der Abschaffung des Kapitalismus gar nicht nur um die Überwindung einer bestimmten Gesellschaftsformation gehen, vielmehr würden die Veränderungen, die eine solche Abschaffung mit sich bringen würde, eine Umwälzung bedeuten, die tief in die vitale Struktur der einzelnen Persönlichkeit eingreift, in ihr Verhältnis zur Natur, in das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Es kann sich also nicht nur um, sagen wir mal, eine Auswechslung von gesellschaftlichen Organisationsprinzipien handeln. Marcuse: Anders formuliert - und um Hegel sein Recht zu geben -: um eine radikale Veränderung des Systems der Bedürfnisse. Habermas: Aber das System der Bedürfnisse war einfach ein Wort für die bürgerliche Gesellschaft und für eine Organisationsform der gesellschaftlichen Beziehungen, während Sie die Psychoanalyse hier als eine anthropologische Theorie benutzen. Schwingt nicht doch etwas mit vom Pathos des neuen Menschen, das in den 20er Jahren von vielen Seiten ... Marcuse: Ja, wozu brauchen wir eine Revolution, wenn wir keinen neuen Menschen kriegen? Das habe ich nie eingesehen. Wozu? Natürlich ein neuer Mensch. Das ist der Sinn der Revolution, wie sie Marx gesehen hat; es ist nicht der Sinn der bürgerlichen Revolution. In der bürgerlichen Revolution handelt es sich wirklich noch um die Etablierung der Herrschaft einer Klasse gegen eine untergehende Klasse. Dazu braucht man allerdings auch schon ein neues System der Bedürfnisse, aber nicht wirklich radikal einen
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neuen Menschen. Erst auf der geschichtlichen Stufe des Spätkapitalismus ist diese Forderung nach einem neuen Menschen als Hauptinhalt der Revolution akut geworden, weil erst jetzt - und das ist etwas, was man diskutieren sollte, ob es stimmt - das Potential da ist, das gesellschaftliche und natürliche und technische Potential, daß dieser neue Mensch hervortreten und verwirklicht werden kann. Spengler: Die Chinesen würden das sehr ungern hören, weil das Problem des neuen Menschen das einzige ist, das Marcuse und Mao auf einen Begriff bringt. Marcuse: Um so schlimmer für Mao. Es ist ein gefährlicher Begriff, und ich gebrauche ihn auch nicht, ich spreche nicht vom neuen Menschen. Lubasz: Was heißt das: ein neuer Mensch? Was kann man darunter verstehen? Marcuse: In Freudschen Begriffen: eine Veränderung der Triebstruktur, nach der destruktive Energie mehr und mehr in den Dienst erotischer Energie tritt, bis Quantität in Qualität umschlägt und die menschlichen Beziehungen (untereinander und zur Natur) befriedet und für Glück offen werden. Habermas: Warum haben Sie es eigentlich nötig, das Neue, das durch eine Revolutionierung der kapitalistischen Gesellschaftsform erreicht werden soll, in terms der Psychoanalyse zu formulieren? Marcuse: Warum? Habermas: Dem marxistischen »approach« liegt es doch näher, neue Persönlichkeitsstrukturen oder veränderte Persönlichkeitsstrukturen von außen nach innen zu begreifen, d.h. von neuen Organisationsformen des gesellschaftlichen Verkehrs her. Marcuse: Organisiert von Menschen, wie Sie eben gesagt haben. Eine neue Persönlichkeitsstruktur ist eine Vorbedingung radikaler Veränderung, des qualitativen Sprungs. Habermas: Aber man würde sagen, wenn eine Organisationsform des gesellschaftlichen Verkehrs möglich ist, in der die Spaltung zwischen privatistischer Existenz sowohl in der Arbeit wie auch im politischen Bereich aufgehoben wird, wenn es gelingt ... Marcuse: Erklären Sie: Was wird aufgehoben? Habermas:... wenn es gelingt, die Produktion und, entsprechend,
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die politische Willensbildung so zu organisieren, daß das, was nötig ist, abhängig gemacht werden kann von Entscheidungen, die aus einem gemeinsamen und zwanglos gebildeten Willen hervorgehen, d.h. wenn eine Gesellschaft radikal demokratisiert wird, dann entfallen überflüssige soziale Zwänge. Damit wird auch die Deformation der Persönlichkeitsstrukturen überflüssig. Das ist zumindest die übliche marxistische Perspektive, über eine Transformation von Persönlichkeitsstrukturen zu sprechen. Aber Sie wählen in Eros and Civilization den umgekehrten Weg. Marcuse: Wieso umgekehrt? Habermas: Sie wählen zunächst psychologische Grundbegriffe und sagen, wir wollen jetzt mal erklären, wie die Persönlichkeitsstrukturen aussehen unter der Herrschaft des Leistungsprinzips, und dann rekurrieren Sie auf den psychischen Apparat und setzen im Grunde auf eine Dynamik, die vorhistorisch ist, die natürlich historisch vermittelt ist ... Marcuse: Nein, ich frage: Wie ist es dazu gekommen, daß die psychische Struktur der Menschen die mögliche Revolution immer wieder entweder verhindert oder versaut hat. Und das ist eine geschichtliche Frage, nämlich wie die Gesellschaft, die Klassengesellschaft, die Triebstruktur manipuliert - nebenbei gesagt, erst ganz indirekt und dann mit dem Fortschritt der Technik und der Psychologie immer direkter und wirksamer. Habermas: Sie meinen also, dieser psychologisch-anthropologische Ansatz wird historisch in dem Augenblick überhaupt erst nötig, wo die Konfliktpotentiale in spätkapitalistischen Gesellschaften eher nach einer sozialpsychologischen als nach einer unmittelbar politisch-ökonomischen Analyse verlangen. Marcuse: Weil für die Ausbeutung und Unterdrückung in der spätkapitalistischen Gesellschaft die Manipulation der Triebstruktur einer der wichtigsten Hebel ist. Habermas: Der Vergesellschaftungsprozeß ist im Spätkapitalismus so integral geworden, daß er sozusagen natürliche Substrate angreift, die im liberalen Kapitalismus noch im Schutz der bürgerlichen Familie unangetastet geblieben sind. Marcuse: Z.B. die systematische Überaktivierung des Destruktionsbetriebs, die systematische Indoktrinierung von Gewalt, die
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systematische Abschaffung der Privatsphäre, neue Formen, viel wirksamere Formen der sozialen Kontrolle. Spengler: Wenn das so explizit auf den Spätkapitalismus bezogen wird, wie unterscheidet sich das dann z. B. von den Formen sozialer Kontrolle, die in der Sowjetunion praktiziert werden? Marcuse: Dort sind sie noch nicht in dieser Weise notwendig, weil dort, soweit ich es sehen kann, die Macht der herrschenden Bürokratie noch nicht in dieser allgemeinen Weise ein Legitimationsproblem geworden ist. Da geht es noch um eine Verbesserung des Lebensstandards, die ja die Bürokratie vorläufig noch leistet. Habermas: Um auf das anthropologische Element zurückzukommen. Sie sagen, Eros and Civilization hätten Sie geschrieben in Reaktion auf eine historische Lage, in der die Konflikte gerade bis in den psychischen Apparat hinein analysiert werden müssen. Marcuse: Das ist selbst ein historisches Phänomen. Habermas: Gut. Ich vermute allerdings, daß der Gebrauch, den Sie von der Freudschen Theorie machen, noch andere Gründe hat. Ich glaube, daß Sie in Triebstruktur und Gesellschaft die Freudsche Triebtheorie gebrauchen, um eine materialistische Version des Vernunftbegriffs zu gewinnen. Wenn das stimmt, dann frage ich: Kann man eigentlich Vernunft auf diesem Wege naturalistisch begründen? Vielleicht darf ich diese Frage anhand eines Zitats noch mal kurz erläutern. Also, in Triebstruktur und Gesellschaft stellen Sie einander gegenüber die Logik der Herrschaft und die Logik der Entfremdung, also das, was Horkheimer instrumentelle Vernunft nennt. Marcuse: Max Weber. Habermas: Ist das schon ein Max Weberscher term? Marcuse: Ich glaube, ja. Habermas: Ich glaub's nicht, aber ich will's nicht ausschließen. Das liest sich also hier auf S. 220 so: In dem Maße, in dem der Kampf ums Dasein der freien Entwicklung und Erfüllung individueller Bedürfnisse zu dienen beginnt, weicht die repressive Vernunft einer neuen Vernünftigkeit der Befriedigung, in der Vernunft und Glück zusammentreffen. Dann auf derselben Seite unten weiter:
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Wenn die private Existenz erst einmal nicht mehr abseits von und gegen das öffentliche Dasein geführt werden muß, dann könnten die Freiheit des Einzelnen und die der Gesamtheit vielleicht durch einen allgemeinen Willen in Einklang geraten, der sich in Einrichtungen zugunsten der individuellen Bedürfnisse äußern könnte. Die Triebverzichte und Verzögerungen der Erfüllung, die der allgemeine Wille fordert, müssen durchaus nicht düster und unmenschlich und ihre Vernunft nicht autoritär sein. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, wie kann die Zivilisation ungehemmt die Freiheit hervorbringen, wenn die Unfreiheit zum Anteil und zum Kernstück des psychischen Apparats geworden ist. Und wenn nicht, wer hat das Recht, objektive Wertmaßstäbe aufzustellen und sie durchzusetzen? Diese Frage hätte die Antwort nahegelegt, daß die Menschen selbst, natürlich nur dann, wenn sie als freie und gleiche in einer ungezwungenen Willensbildung zusammentreten, einen solchen allgemeinen Willen bilden können - und nur die Menschen selbst. Marcuse: Ja. Habermas: Also das Prinzip der, sagen wir, gewaltlosen Intersubjektivität der Verständigung, das Prinzip der Sprache, der sozusagen die Intention auf eine solche zwanglose Verständigung innewohnt, wäre wohl das Prinzip, auf das man hier rekurrieren müßte, wenn es darauf ankommt zu sagen, was denn eigentlich das Vernünftige an einer solchen neuen gesellschaftlichen Beziehung ist. Sie jedoch rekurrieren nicht auf das Prinzip einer vernünftigen Einigung, das, wenn es politisch verkörpert wird, einfach das Prinzip der Demokratie ist, sondern Sie rekurrieren an dieser Stelle auf das Prinzip der Erziehungsdiktatur. Sie sagen hier: »von Plato bis Rousseau besteht die einzige ehrliche Antwort in der Idee einer erzieherischen Diktatur, die von denen ausgeübt wird, denen man zutrauen könnte, daß sie das Wissen um das wirklich Gute erworben haben.« Nun frage ich mich, ob dieser Rekurs auf die Erziehungsdiktatur nur deshalb stattfindet, weil Sie meinen, das der Vernunft via Sprache innewohnende Telos zwangloser Einigung ist etwas, das historisch erst einmal hergestellt werden muß, und solange das nicht der Fall ist, muß man u. a. auch auf Mittel der Erziehungsdiktatur zurückgreifen. Oder hat Ihr Rekurs auf die Erziehungsdiktatur einen anderen Grund? Vielleicht den, daß Sie
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die Vernunft überhaupt nicht in Sprache oder in vernünftiger Einigung, in einer allgemeinen zwanglosen Willensbildung verankern, sondern eben sehr viel tiefer verankern - in einer Triebnatur, die sich in gewisser Weise als etwas der Vernunft Äußerliches zur Geltung bringt. Sie sehen, ich habe Schwierigkeiten mit Ihrem Versuch, Vernünftigkeit als etwas, das sich gegen instrumentell verkürzte Vernunft zur Geltung bringen läßt, auf dem Wege einer Triebtheorie zu begründen. Und ich habe den Verdacht, daß Sie auf Erziehungsdiktatur zurückgreifen, weil Sie eine naturalistische Begründung der Vernunft vornehmen. Marcuse: Ich würde heute nicht einfach von Erziehungsdiktatur sprechen. Die Stelle, die Sie zitiert haben, ist absichtlich provokativ formuliert. Vielleicht noch Erziehungsdiktatur innerhalb der Demokratie, aber nicht Erziehungsdiktatur schlechthin. Aber das ist nicht die Hauptfrage. In der Hauptfrage, der naturalistischen Begründung der Vernunft, würde ich allerdings wagen zu behaupten: ja, genau das scheint mir notwendig. Ich habe fast immer, wenn ich über diese Dinge in Vorlesungen gesprochen habe, deutlich gemacht: Was ich sage, beruht auf zwei Werturteilen, die selbst nicht wieder reduzierbar sind, nämlich: i. Es ist besser zu leben als nicht zu leben; 2. Es ist besser, ein gutes Leben zu haben als ein schlechtes. Das sind Werturteile, die irreduzibel sind. Wenn einer das nicht akzeptiert, dann ist er kein Diskussionspartner. Auf dem Boden dieser beiden Werturteile ergibt sich meiner Meinung nach die Möglichkeit einer Bestimmung des Vernunftbegriffs, nämlich: vernünftig ist diejenige Repression (denn der Vernunftbegriff ist ein repressiver Begriff, da ist meiner Meinung nach nicht der geringste Zweifel möglich), die in demonstrierbarer Weise die Chancen eines besseren Lebens in einer besseren Gesellschaft befördert. Habermas: Wer bestimmt, was das bessere Leben ist? Marcuse: Genau auf diese Frage würde ich die Antwort verweigern. Wenn jemand noch nicht weiß, was ein besseres Leben ist, ist er hoffnungslos. Habermas: Nein, das Problem ist ja, daß alle Leute ziemlich genau wissen, was ein besseres Leben ist, aber in diesen Auffassungen hie et nunc nicht übereinstimmen. Mit Herrn Dregger möchte ich auch keine Vorstellung vom guten Leben gemeinsam haben.
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Marcuse: Wem? Habermas: Herrn Dregger, nun, das ist eine ... Spengler: ... politisch unerfreuliche Erscheinung ... Habermas: ... eine CDU-Größe, die heute eine national-konservative Politik a la Strauß stützt und beispielsweise Werte der Sicherheit, Werte von »law and order«, Werte sozusagen eines sauberen Zusammenlebens, d.h. im Grunde Werte vertritt, von denen man in psychoanalytischer Perspektive sagen könnte, daß sich in ihnen eine Unterdrückung der Triebnatur spiegelt. Marcuse: Man kann zeigen, daß das, was der Mann sagt, falsch ist, daß das nicht zu einer besseren Gesellschaft führt, sondern zu einer Stabilisierung der bestehenden. Habermas: Nein. Die Wertmaßstäbe, von denen in dem Zitat die Rede ist, gewinnen Sie nicht aus den beiden Fundamentalwerturteilen, die Sie soeben angeführt haben. Das sind Leerformeln, die die Leute nach Belieben ausfüllen können. Wertmaßstäbe kriegt man nicht naturrechtlich vom Himmel, abstrakt und ein für alle Mal, sondern Wertmaßstäbe sind, sobald sie einen materiellen Gehalt haben, nicht unabhängig von den Problemen, die in einer konkreten historischen Situation gelöst werden müssen. Welches dann die vernünftigerweise zu verfolgenden und akzeptablen Werte sind, findet man doch eigentlich nur heraus ... Marcuse: ... durch Analyse der Bedingungen der Veränderung. Habermas:... wenn man plausibel machen kann, was alle in dieser Situation wollen könnten ... Marcuse: Ja, genau das. Habermas: Aber dann ist Vernunft etwas, das nicht in den Trieben sitzt, sondern dann ist Vernunft etwas, um es plakativ zu sagen, das in der Sprache sitzt; dann sitzt die Vernunft in den Bedingungen einer zwanglosen Willensbildung. Marcuse: Wir können einen allgemeinen Willen bilden nur auf der Grundlage der Vernunft und nie umgekehrt, und die Vernunft oder die Vernünftigkeit steckt in der Tat in den Trieben, nämlich in dem Drang erotischer Energie, die Destruktion aufzuhalten. Genau das würde ich als Vernunft definieren: Schutz des Lebens, Bereicherung des Lebens, Verschönerung des Lebens. Und das ist nach Freud in der Triebstruktur selbst angelegt.
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Habermas: In der Triebstruktur ist angelegt, was wir am Ende als unsere wirklichen Bedürfnisse erkennen. Die Schwierigkeit ist doch, daß sich diese wirklichen Bedürfnisse immer in einem historischen Medium darstellen, d.h. angesichts konkreter Probleme. Natürlich ist da auch etwas Allgemeines, was sich durchsetzt, und das können wir dann Eros nennen. Aber gestritten wird immer nur in bestimmten historischen Situationen, wo man genau sagen muß, was uns glücklicher macht, was die Umgebung schöner macht, was das Leben lebenswert macht. Marcuse: Aber das weiß man doch. Habermas: Da spricht der alte Philosoph aus Ihnen: »Das weiß man doch.« Marcuse: Es weiß doch jeder Mensch, daß die Natur schöner aussieht, wenn ich an den Ufern des Sees nicht ein sechzigstöckiges Gebäude hinstelle. Dazu gehört doch keine Philosophie, um das zu wissen. Das ist ein Appell an die Triebstruktur. Es sieht zweifellos schöner aus, es ist befriedigender, es ist beruhigender. Dasselbe gilt im Hinblick auf diese Scheißkernkraftwerke. Habermas: Wenn das so einfach wäre, dann hätten wir ja nicht die Scheiße, in der wir sitzen. Marcuse: Doch, das ist uns aufoktroyiert. Spengler: Der Faschismus in Deutschland ist historisch nicht so leicht abzutun. Marcuse: Na und? Spengler: Was machst Du in dem Fall, wo Menschen sich ein schöneres Leben in einer besseren Gesellschaft nur in einer faschistischen Gesellschaft vorstellen können? Marcuse: Eine faschistische Gesellschaft, d. h. eine Gesellschaft, die selbst auf Aktivierung und Superaktivierung von aggressiver und destruktiver Energie beruht, kann keine bessere Gesellschaft sein. Habermas: Sie haben zwei Anker für die Demonstration dessen, was vernünftig ist. Auf der einen Seite sagen Sie, es ist etwas intuitiv Zugängliches, es ist geradezu gesunder Menschenverstand zu wissen, was man eigentlich möchte. Marcuse: Menschenverstand und Menschentrieb. Habermas: Menschentrieb. Das ist der eine Anker. Und der andere
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Anker ist die Theorie. Sie sagen, wenn dann das, was selbstverständlich ist, so weit verdunkelt wird, und zwar durch analysierbare gesellschaftliche Zwänge, daß die Menschen das, was auf der Hand liegt, nicht mehr erkennen können, dann muß theoretisch untersucht werden, wie es zu dieser Verleugnung, dieser Illusionierung kommt, und dann sind es die Wenigen, die zu theoretischer Einsicht gelangen können. Mein Einwand geht dahin, daß Sie einerseits das, was Vernunft und vernünftig ist, seiner Struktur nach von Hegel haben. Sie entwickeln das in allen Ihren Büchern, selbst in Triebstruktur und Gesellschaft in einem Zwischenkapitel anhand der Phänomenologie des Geistes. Andererseits schieben Sie, wohl wissend, daß man die Hegelsche Logik nicht mehr einfach akzeptieren kann, den Hegel beiseite. Der Vernunftbegriff wird sozusagen anonym, verleugnet seine idealistische Herkunft und wird transplantiert in den Kontext der Freudschen Triebtheorie. Die Schwierigkeiten kamen eben heraus, als Sie sagten: Was vernünftig ist, das steckt insofern in den Trieben oder im Eros, als ja jedermann mit Händen greifen kann, was für ihn und für alle das Bessere ist. Marcuse: Nein, das ist zu flink. Der Vernunftbegriff steckt in der Triebstruktur insofern, als Eros identisch ist mit dem Streben, destruktive Energie zu bändigen. Habermas: In jeder konkreten Situation gibt es verschiedene Definitionen dessen, was unser gemeinsames oder gar das verallgemeinerungsfähige Interesse ist. Marcuse: Das ist der wichtigste Punkt. Ehrlich gesagt: Ich glaube nicht, daß es in einer gegebenen Situation unmöglich ist, zu bestimmen, generell zu bestimmen, was das allgemeine Interesse ist. Ich halte das für Ideologie der herrschenden Klasse. Mir scheint, daß es sehr wohl möglich ist zu bestimmen, was das Allgemeininteresse ist. Habermas: Wir haben allgemeine Wahlen, und man sieht, welche Parteien und welche Programme allgemein konsentiert werden, und das sind offensichtlich nicht die Parteien und die Programme, von denen Sie erwarten, daß sie das allgemeine Interesse ... Marcuse: ... Augenblick mal, wir haben allgemeine Wahlen, von denen im Grunde jedermann weiß, daß sie falsch sind. Was nötig ist, ist die Anstrengung der Theorie, die Demonstration der Kräfte,
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so daß wirklich jedem klar ist, was das Allgemeininteresse ist. Es ist ja selbst wieder eine Form der Repression, darauf zu bestehen, daß das Allgemeininteresse nicht allgemein bestimmbar sei. Ich finde, es wird immer leichter, es zu bestimmen. Habermas: Sie sagen, es muß theoretisch bestimmt werden. Marcuse: Es muß theoretisch demonstriert werden. Habermas: Was ist daran so einfach, wenn sich genau diese Theorie nicht etwa allgemeiner Anerkennung erfreut, sondern im Wissenschaftsbetrieb eher marginal ist? Und was ist denn das, worauf Sie sich berufen, wenn Sie sagen: Ich, Herbert Marcuse, kann sehr leicht zeigen heute, was im allgemeinen Interesse ist? Marcuse: Ich sage das nicht. Ich sage, mir und jedem anderen, der der Sprache fähig ist, kann gezeigt und dargelegt werden, was das allgemeine Interesse heute ist. Und daß es zweifelsfrei nicht bestimmbar ist durch das Pentagon. Habermas: Dieser Behauptung steht doch eine historische Evidenz entgegen. Marcuse: Nämlich? Habermas: Nämlich die Evidenz, daß heute nicht einmal mehr politisch organisierte Gruppen in den entwickeltsten Ländern identifiziert werden können, an deren Selbstverständnis diese Gesellschaftstheorie anknüpfen kann. Es ist doch konstitutiv für die Kritische Theorie gewesen, daß sie ihren Adressaten verloren hatte, ihren historischen Adressaten, zunächst mal in den 30er, 40er Jahren. In der klassischen Periode dessen, was heute Kritische Theorie heißt, ist die Einschätzung die gewesen, daß nur noch vereinzelte Individuen überhaupt in der Lage sind zu erkennen, worin das Unheil besteht. Und dem widersprechen Sie jetzt. Marcuse: Ich würde diese These nicht mehr gutheißen. Ich würde heute sagen, daß im Grunde jeder weiß, was nötig ist, daß das Allgemeininteresse an einer besseren Gesellschaft und die Möglichkeiten ihrer Realisierung demonstrierbar sind, und daß diese Gewißheit verdrängt wird. Und das hat im Grunde auch die Kritische Theorie immer gesagt oder gemeint: nicht nur einzelne Individuen - vielleicht können es nur einzelne unmittelbar artikulieren, aber an sich: jeder. Im übrigen haben radikale Veränderungen in der Geschichte nie mit Massenbewegungen angefangen.
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Habermas: Lassen Sie mich mal aus dem One-dimensional Man, den ich leider nur auf englisch hier habe, ein paar Stellen vorlesen, aus denen klar wird, wie Sie die Begriffe ansetzen, mit denen man das, was vernünftig ist, erkennen kann. Da geht es also um Allgemeinbegriffe, um Universalien, um die Art von Begriffen, denen ein kritisches Potential innewohnt. Auf Seite 211 heißt es: »[...] Universals are primary elements of experience - universals not as philosophic concepts but as the very qualities of the world with which one is daily confronted.« Das ist ungefähr das, was Sie eben auch gesagt haben: Jedermann kann im Grunde wissen, was schön und gut ist. Hier sprechen Sie von den »Substantive universals of duty, justice, happiness and their contraries«. It seems that the persistence of these untranslatable universals as nodal points of thought reflects the unhappy consciousness of a divided world in which that which is falls short off, and even denies that which can be. The irreducible difference between the universal and its particles seems to be rooted in the primary experience of the inconquerable difference between potentiality and actuality, between two dimensions of the one experienced world. The universal comprehends in one idea the possibilities which are realized and at the same time arrested in reality. Marcuse: Das ist orthodoxer Aristoteles. Habermas: Ja, das ist mit einem leichten Hegelschen Blick Aristoteles wiederbelebt, allerdings in einer fast phänomenologischen Sprache. Sie sagen hier, in »everyday life«, schon in der Lebenswelt, finden wir die Begriffe vor, mit denen wir unsere Werturteile formulieren - diese haben den Charakter, der von Hegel dahingehend analysiert worden ist, daß sie in gewisser Weise das, was ist, selbstkritisch übersteigen und mit dem konfrontieren, was die Sache sein könnte und sein sollte. Das ist philosophisch eher unbefriedigend, weil Sie ja die philosophischen Theorien, aus denen diese Begrifflichkeit stammt, systematisch nicht mehr verteidigen. Sie sind weder systematisch Aristoteliker, noch sind Sie systematisch Hegelianer. Wenn das aber so ist, dann müssen wir philosophisch auf eine andere Weise sagen, wie wir zu den normativen Grundlagen unserer Theorie kommen, um es mal ganz simpel auszudrücken. Und Sie versuchen das mit Freud. Sie sagen: Realitätsprinzip und Lustprinzip.
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Marcuse: Ja. Habermas: Sie charakterisieren die Prinzipien, unter denen die Triebstruktur gebildet wird, und sagen: Das, was diese beiden Prinzipien vereinigt, ist das, was vernünftig ist. Marcuse: Nicht nur vereinigt. Habermas: Oder versöhnt, ja? Marcuse: Wenn die Dynamik der beiden Prinzipien zur Emanzipation der erotischen Energie strebt. Habermas: Ja, gut, aber dann kann man doch auf der Ebene der Anwendung dieser Theorie zeigen, daß das zu allgemein ist, um wirklich jeweils zu identifizieren, was das Gute oder das Bessere oder das Wünschbare ist, oder gar das verallgemeinerungsfähige Interesse. Schauen Sie, Sie haben diese beiden Pole. Sie sagen auf der einen Seite, die Alltagswelt legt sich in einer Begrifflichkeit aus, die so ähnlich funktioniert, wie der Hegel das vom Begriff gesagt hat; deshalb ist die letzte Instanz, an die wir appellieren können (das glaube ich ja auch), das Selbstverständnis der Betroffenen selber. Marcuse: So wie sie sind. Habermas: Aber diese Betroffenen müßten sich, wenn wir das in der Sprache der bürgerlichen Sozialphilosophie sagen wollen, als freie und gleiche, als autonome Individuen an einem zwanglosen Prozeß der Willensbildung beteiligen können; dann könnten sie ihr Erfahrungspotential einbringen. Marcuse: Ja, da stimme ich mit Ihnen überein. Habermas: Gut, aber dann steckt das Vernünftige nicht so sehr in dieser Art alltäglicher Begrifflichkeit, sondern dann steckt die Vernünftigkeit in der Organisation einer zwanglosen, allgemeinen Willensbildung, d.h. im Telos einer gewaltfreien Intersubjektivität der Verständigung, und das Vernünftige steckt nicht per se in, sagen wir, einer Interessenstruktur, die nun in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen unterdrückt, deformiert oder freigesetzt wird. Marcuse: Die Vernünftigkeit kann nicht in einer Organisation als solcher bestehen, sondern nur in einer Organisation, die von Menschen geschaffen worden ist oder geschaffen wird, die dieser Vernünftigkeit folgen. Sie drehen die Sache um. Habermas: Nein, in der Idee, die wir alle davon haben, und die im
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Grunde tatsächlich jeder hat, soweit er überhaupt mit einem anderen je ein Wort gewechselt hat, um sich mit ihm zu verständigen. Marcuse: Ja. Habermas: In dieser Dimension steckt sozusagen unser intuitiver Begriff von Vernünftigkeit, aber nicht in unseren Interessenstrukturen. In der Triebstruktur steckt in der Tat der materielle Gehalt und das, worauf es dann in der konkreten Situation ankommt. Marcuse: Da steckt aber auch drin, wie dieses Was möglich ist, da steckt drin, wie Ihre herrschaftsfreie Organisation möglich ist, auf welcher Grundlage. Und in diesem Zusammenhang möchte ich doch auf den Begriff der Solidarität zu sprechen kommen. Die Solidarität an sich ist in keiner Weise ein Wert. Unter dem Naziregime gab es wirkliche Solidarität bis zum bitteren Ende. Solidarität an sich taugt nichts. Es gibt die Solidarität der Mafia, es gibt alle möglichen Solidaritäten. Solidarität muß begründet sein wiederum in einer Struktur, die die Menschen erotisch binden kann, d.h. einer klassenlosen Gesellschaft. Sie muß eine Wurzel haben in der Triebstruktur selbst. Die faschistische Solidarität ist offenbar gegründet auf Solidarität in Aggression und nicht auf Solidarität im Eros, nicht auf den Schutz des Anderen, auf die Pflege des Anderen, auf die Liebe zum Anderen, was es auch immer sei. Also, ich finde, ohne den Begriff der Solidarität kommt man nicht aus. Ihre allgemeine Willensbildung setzt ja Solidarität voraus. Eine allgemeine Willensbildung von Menschen, deren vitale Interessen einander entgegengesetzt sind, funktioniert nicht. Habermas: Wir können ja durchaus davon ausgehen, daß auch in allen künftigen Gesellschaften Interessengegensätze fortbestehen; es kommt doch darauf an, das, was in jeder Gesellschaft allgemein geregelt wird, so zu regeln, daß alle diesen Regeln mögen zustimmen können. Marcuse: Voraussetzung muß sein eine Übereinstimmung, eine mögliche Übereinstimmung der Interessen, die die Interessenkonflikte auf friedlichem Wege zu lösen erlaubt in einer sozialistischen Gesellschaft. Habermas: Vielleicht lassen wir das Vernunftthema jetzt einmal beiseite ...
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Spengler: Es ist ein bißchen inkonklusiv ausgelaufen. Habermas: Ja, wir kommen darauf zurück, wenn wir nun über ästhetische Theorie sprechen. Lubasz: Dann möchte ich nur noch sagen, bevor wir von dem Thema abkommen, ich habe das Gefühl, daß wir über Rousseau nicht hinausgekommen sind. Wir können einerseits sagen, daß das gesellschaftlich Vernünftige darin besteht, daß eine herrschaftsfreie Willensbildung möglich ist. Andererseits gibt es die Frage, wie es möglich ist, daß die Einzelnen, die sich an diesem Prozeß beteiligen, auch das Gute, das, was für die Allgemeinheit gut ist, wählen. Und da gibt es natürlich die großen zwei Rousseauschen Tricks erstens gibt es die >educational dictatorshiptrick to be forced to be freePraxis< und >Lebenswelt< als Richtlinien für den Gedanken der Befreiung von entfremdeter Arbeit nahm. Marcuse war der erste Heidegger-Marxist und nahm somit den späteren phänomenologischen Marxismus von Jean Paul Sartre, Karel Kosik, Enzo Paci und den jugoslawischen Praxis-Philosophen vorweg. (B) Inzwischen hatte Marcuse sich dem Frankfurter Institut ange-
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schlossen, das sich auf dem Weg in die USA befand. In seinem berühmten Aufsatz »Philosophie und kritische Theorie«, erschienen 1937, stellt Marcuse sich selbst als zum Kern der Frankfurter Tradition gehörend dar. Die Leerstelle des Daseins und der Geschichtlichkeit, der abstrakten Strukturen des Lebens, ist nun mit einer geschichtlich situierten Vernunft besetzt: Vernunft ist die Grundkategorie philosophischen Denkens, die einzige, wodurch es sich mit dem Schicksal der Menschheit verbunden hält.7 Der abstrakte, ungeschichtliche Vernunftbegriff im Kern der idealistischen Philosophie bietet sich für alle Formen der Ideologie an. Die bürgerlichen Ideale, die des kognitiven und moralischen Universalismus einerseits und die des expressiven Subjektivismus andererseits, führen jedoch auch einen utopischen Gehalt mit sich, der über die Schranken des falschen Bewußtseins hinausgeht. Für die kritische Theorie sind diese Ideale ausschließlich Möglichkeiten der konkreten gesellschaftlichen Situation: sie werden nur als ökonomische und politische Fragen relevant und betreffen als solche die Beziehungen der Menschen im Produktionsprozeß, die Verwendung des Produkts der gesellschaftlichen Arbeit, die aktive Teilnahme der Menschen an der ökonomischen und politischen Verwaltung des Ganzen.8 In der Forderung der Vernunft klingt nichts anderes an als eine alte Wahrheit, nämlich die Forderung nach der Schaffung einer gesellschaftlichen Organisation, in der die Individuen nach ihren Bedürfnissen gemeinsam ihr Leben regeln.9 Als Marcuse dies schrieb, war er sich bereits der Tatsache bewußt und bezog sich auch ausdrücklich auf sie, daß die Geschichte mit dem Faschismus und auch mit dem Stalinismus einen Verlauf genommen hatte, der den Voraussagen der Marxschen Theorie völlig entgegengesetzt war. Deshalb betont er gegenüber der de7 Philosophische und kritische Theorie (1937), in: Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1965) (= edition suhrkamp 101), S. 102127, Zitat S. 103. 8 Ebd.,S. 110. 9 Ebd., S. 109.
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skriptiven und der explanatorischen Rolle dieser Theorie ihre konstruktive Rolle, wobei er einräumt: Die kritische Theorie hat es in einem bisher nicht gekannten Maße mit der Vergangenheit zu tun.10 Marcuse stellte jedoch die revolutionäre Rolle der Dynamik der Produktivkraftentwicklung im Schoß des Kapitalismus noch nicht in Frage. Die Unterdrückung des Proletariats und dessen Mangel an revolutionärem Bewußtsein werden nach wie vor entsprechend dem alten Modell erklärt: Die Fesselung der produktiven Kräfte und die Niederhaltung des Lebensstandards kennzeichnen selbst die ökonomisch fortgeschrittensten Länder.11 In den folgenden Jahren entwickelte Marcuse die klassische Position der kritischen Theorie in sorgfältigen Untersuchungen über Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie. Zur gleichen Zeit hatten Horkheimer und Adorno, die nach Kalifornien umgezogen waren, bereits eine etwas andere Richtung eingeschlagen. Mit der Dialektik der Aufklärung verloren sie endgültig das Vertrauen in die revolutionäre Produktivkraftentwicklung und in den praktischen Einfluß des negativen Denkens. Sowohl die Produktivkräfte als auch das negative Denken wurden in der Perspektive ihrer Verschmelzung mit den Gegensätzen gesehen: mit den Kräften der Herrschaft. Im Laufe ihrer Entwicklung regredieren sie zusehends und werden den Imperativen einer instrumenteilen Vernunft untergeordnet, die nicht länger der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient, sondern die Autonomie eines Zwecks an sich erreicht. Die Totalität der instrumentellen Vernunft findet ihren Ausdruck in der totalitären Gesellschaft. Auf die Einzelheiten dieser düsteren Darstellung, die Marcuse sehr bald übernahm, möchte ich mich hier nicht einlassen. Im Vorwort zu einer englischen Übersetzung seiner vor drei Jahrzehnten in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienenen Aufsätze erklärte Marcuse den Bruch innerhalb seines Denkens so: 10 Ebd., S. 126. 11 Ebd., S. 126t.
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daß das Vorliegende vor der Zeit von Auschwitz geschrieben wurde, trennt es zutiefst von der Gegenwart. Das Konkrete darin ist seither vielleicht nicht falsch, aber doch zu etwas Vergangenem geworden: Erinnerung an etwas, das an einem bestimmten Punkt seine Wirklichkeit verloren hatte und wieder aufgenommen werden mußte (...). Das Ende einer Geschichtsperiode und die Schrecken einer zukünftigen kündigten sich an in der Gleichzeitigkeit des spanischen Bürgerkriegs und der Moskauer Prozesse.12 Marcuse beschrieb diese neue Periode als Totalisierung der instrumenteilen Vernunft, das heißt, im Lichte seiner eigenen Untersuchung in Der eindimensionale Mensch: Produktivität und Wachstumspotential dieses Systems stabilisieren die Gesellschaft und halten den technischen Fortschritt im Rahmen von Herrschaft.13 Daran anschließend stellt er sich die zentrale Frage, ob das Fehlen einer Vermittlung die Theorie widerlege. Adorno beantwortete diese Frage mit einem eingeschränkten Nein und erklärte seine Antwort im Rahmen seiner Negativen Dialektik. Marcuse hingegen hielt an einer affirmativen Antwort fest; ihm zufolge hatte die frühere Theorie mit ihrem Begriff einer freien und vernünftigen Gesellschaft nur einen Fehler begangen: sie hatte nicht zuviel versprochen, sondern zuwenig. (C) Die Gründe, weshalb Herbert Marcuse an beidem zugleich festhalten konnte, nämlich an der Kritik der instrumentellen Vernunft von Horkheimer und Adorno und an der politischen Intention der frühen Kritischen Theorie, werden in Triebstruktur und Gesellschaft dargelegt; dem für Marcuse wohl typischsten Buch. Lassen Sie mich zunächst die Ausgangsfrage darstellen. Mit Horkheimer und Adorno stimmte Marcuse in der Annahme überein, daß der Entwurf der instrumenteilen Vernunft mit der Ausdehnung des Kapitalismus das gesamte Universum von Sprache und Handeln, von geistiger und materieller Kultur »modeln« würde: 12 Herbert Marcuse, Negations: Essays in Critical Theory. Boston: Beacon Press (1968), S. XV. 13 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Übersetzt von Alfred Schmidt. Neuwied und Berlin: Luchterhand (1967), (1968), S. 15.
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Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System, das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt.14 Andererseits hält Marcuse immer noch daran fest, daß derselbe Entwurf die Stabilität einer Herrschaft untergrabe, welche Technik und praktische Vernunft verschmelzen läßt, da dieprogressive Reduktion physischer Arbeitskraft (im materiellen Produktionsprozeß (tendenziell) zu einer möglichen »Befreiung von entfremdeter Arbeit« führt.15 Wenn diese objektiven Möglichkeiten überhaupt einen Gehalt haben, dann müssen wir uns jedoch auf eine Subjektivität verlassen, die einem utopischen Horizont immer noch zugänglich ist. Die Frage lautet also: wie konnte Marcuse an die Wiedergeburt einer rebellischen Subjektivität glauben, wenn er das erste der beiden Argumente akzeptiert hatte, das im Grund das Hauptargument der Dialektik der Aufklärung war: daß nämlich mit jedem Sieg über die äußere Natur die innere Natur jener, die immer neue Siege erringen, noch stärker versklavt wird? Gerade an dieser Stelle hat Marcuse große Vorbehalte, die auf seiner charakteristischen Lesart von Freuds Trieblehre in ihrer spätesten Fassung beruhen. Das Argument läßt sich in Kürze so darstellen: selbst wenn das Individuum, der einzige Träger der Vernunft, von einer totalitären Gesellschaft immer stärker aufgesogen wird und selbst wenn diese Reduzierung des Ich ohne Grenzen ist, dürfen wir immer noch auf die Wiedergeburt einer rebellischen Subjektivität aus einer Natur heraus hoffen, die älter ist als Individuierung und Vernunft und unterhalb dieser Ebene entsteht. Marcuse hat ein chiliastisches Vertrauen in eine erneuernde Dynamik der Triebe, die sich durch die Geschichte hindurcharbeitet, mit der Geschichte schließlich bricht und am Ende zurücklassen wird, was dann als Vorgeschichte erscheinen wird. Erinnern wir uns, wie er Freuds Theorie des Vatermordes interpretierte: 14 Ebd., S. 19. 15 Psychoanalyse und Politik, a.a.O., S. 74. 33°
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Die Dynamik der Herrschaft, die mit der Aufrichtung des Despotismus anhebt, zur Revolution führt und nach dem Versuch der ersten Befreiung mit der Wiedereinsetzung des Vaters in verinnerlichter und verallgemeinerter, das heißt vernünftiger Form endet, wiederholt sich, nach Freud, während der gesamten Geschichte der Kultur und Zivilisation, wenn auch in abgeschwächter Form, nämlich als Rebellion aller Söhne gegen alle Väter in der Pubertät, als Zurücknahme dieser Rebellion nach Überwindung der Pubertät und endlich als Einordnung der Söhne in den gesellschaftlichen Zusammenhang in freiwilliger Unterwerfung unter die gesellschaftlich geforderten Triebverzichte, wodurch die Söhne selbst Väter werden. Diese psychologische Wiederholung der Dynamik der Herrschaft in der Kultur findet ihren weltgeschichtlichen Ausdruck in der immer wiederkehrenden Dynamik der Revolutionen der Vergangenheit. Diese Revolutionen zeigen eine beinahe schematische Entwicklung. Der Aufruhr gelingt, und bestimmte Kräfte versuchen, die Revolution auf ihren extremsten Punkt zu treiben, auf dem, von dem aus vielleicht der Übergang in neue, nicht nur quantitativ, sondern qualitativ verschiedene Verhältnisse gelänge - und an diesem Punkt wird die Revolution gewöhnlich besiegt und die Herrschaft auf höherer Stufe verinnerlicht, wieder aufgerichtet und weitergeführt. Wenn die Freudsche Hypothese wirklich zu Recht besteht, dann können wir die Frage wagen, ob es neben dem geschichtlich-gesellschaftlichen Thermidor, der in allen Revolutionen der Vergangenheit nachzuweisen ist, nicht auch einen psychischen Thermidor gibt; werden die Revolutionen vielleicht nicht nur von außen besiegt, umgekehrt und zurückgenommen, ist nicht vielleicht in den Individuen selbst schon eine Dynamik wirksam, die eine mögliche Befreiung und Befriedigung innerlich verneint und die Individuen nicht nur äußerlich sich der Verneinung beugen läßt?16
Auf den ersten Blick ist diese Überlegung nichts anderes als eine Übersetzung dessen, was die Dialektik der instrumenteilen Vernunft bedeutet, in die Sprache Freuds. Bei genauerer Lektüre tritt jedoch die Differenz in den Vordergrund: sie liegt in der Bewegung, welche die inneren oder triebgebundenen Kräfte von den äußeren oder gesellschaftlichen Kräften zu trennen versucht. Wenn der psychische Thermidor im Verhältnis zum geschichtlich-gesellschaftlichen Thermidor eine eigene Dynamik erlangt, dann kann die Gesellschaftstheorie nicht mehr allein den Schlüssel liefern, sondern nur zusammen mit der Trieblehre. Die Frage, ob der 16 Ebd., S. 47.
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psychische Thermidor stets von neuem wiederholt werden müsse, gewinnt eine beinahe existentialistische Würde, da die Antwort auf diese Frage nicht länger davon abhängt, ob der Spätkapitalismus als ökonomisches und politisches System seine inneren Konflikte in Schach zu halten vermag oder nicht. Im Hinblick auf die Vorgeschichte der Triebe hält Marcuse zwei zusammenhängende Thesen aufrecht: 1. Es gibt keinen endgültigen Gegensatz zwischen Eros und Thanatos; trotz ihres Antagonismus sind beide ihrer Natur nach konservativ, beide streben nach Befriedigung, beide sind unproduktiv und in ähnlicher Weise gegen einen unnachgiebigen Existenzkampf gerichtet. 2. Sobald der Fortschritt der Zivilisation, der auf der repressiven Veränderung der Triebe beruht, ein Mehrprodukt steigert, das nicht zu individueller Befriedigung führt, stehen sowohl Eros als auch Thanatos vor einer Herausforderung. Wenn nämlich die Triebunterdrückung ihre Funktion zur notwendigen Selbsterhaltung verliert, werden die beiden konservativen Kräfte sich hinter der Bühne der Zivilisation verbünden und den Abzug von Energien aus der entfremdeten Arbeit fordern. Diese Theorie leidet an der Schwäche, daß sie ihre eigene Möglichkeit nicht zu erklären vermag. Wenn die rebellische Subjektivität ihre Wiedergeburt einer Herkunft zu verdanken hätte, die jenseits einer allzu korrumpierten Vernunft liegt, ist schwerlich zu erklären, weshalb einige unter uns überhaupt in der Lage sein sollten, diese Tatsache zu erkennen und Gründe für ihre Verteidigung anzugeben. In dieser Hinsicht war Adorno der konsequentere Denker. So unplausibel das Argument auch erscheinen mag, es hatte doch die Funktion, eines der bewundernswertesten Merkmale von Herbert Marcuse festzuhalten: daß er nicht dem Defätismus anheimfiel. Die Suche nach einer »Trieb«-Basis des Sozialismus hat jedoch noch einen wichtigeren Aspekt. Immerhin ist diese Bemühung das Resultat einer wahrhaft philosophischen Intention. Marcuse wollte nicht in den Existentialismus zurückfallen, er wollte nicht bloß an die vitalen Freiheitsbedürfnisse appellieren oder bloß das Pathos der Emanzipation beschwören. Er empfand eine Verpflichtung
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dazu, theoretische Erklärungen zu geben, um damit das Handeln auf Vernunft zu gründen. Überdies war Marcuse einer der wenigen Philosophen, die in strenger und dramatischer Weise auf die Ernsthaftigkeit ihrer philosophischen Einstellung hin geprüft wurden. Im Sommer 1967 war Marcuse an der Freien Universität Berlin einer Situation ausgesetzt, in der er wußte, daß jedes einzelne Wort unwiderrufliche Folgen haben konnte. Er war eingeladen worden, um über das Problem der Gewalt in der Opposition zu sprechen und hatte die Einheit von moralischer, sexueller und politischer Rebellion behauptet, als er mit Fragen über das Zweifelhafte von moralischen Rechtfertigungen konfrontiert wurde. Einige dieser Fragen deuteten auf eine bei den Studenten damals weitverbreitete Neigung hin, den politischen Aktivismus von den mühsamen Hemmungen moralisch-praktischer Überlegungen zu befreien. Ein Student beklagte sich über die Schwierigkeiten, die er in Diskussionen mit Arbeitern erlebt hatte: Es ist manchmal komisch gewesen in den letzten Wochen bei den Diskussionen auf dem Kurfürstendamm, wenn die Studenten den Angestellten und Arbeitern klarmachen wollten, was ihnen fehle, daß der Arbeiter dann antwortete: »Ich verstehe nicht - mir geht es doch gut.« Versuchen Sie einmal, einem Arbeiter klarzumachen, was ihn Vietnam angeht, gerade in Amerika, wo der Arbeiter daran verdient, daß in Vietnam Krieg gemacht wird. Was also ist der Haken, an dem die studentische Opposition sich aufhängt? Die Dritte Welt. Wir hängen unseren Protest, unsere Emotionen daran auf, daß dort Menschen verbrannt werden. Mir scheint es aber unzulässig, auf humanitärer Basis zu argumentieren, wenn der Terror aus der Humanität hervorgegangen ist. 17
Der Student bezog sich, wenn auch in einer elliptischen und irreführenden Weise, offensichtlich auf den Kernpunkt in der Kritik der instrumentellen Vernunft. Marcuse ließ sich jedoch keineswegs beirren: Ich halte es für eine äußerst gefährliche Argumentation, daß man mit humanitären Argumenten heute nicht mehr operieren kann. (...) Wenn ich wirklich radikal humanitäre Argumente ausschalte, auf welcher Basis kann 17
Das Ende der Utopie, a.a.O., S. 60f.
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ich dann dem spätkapitalistischen System entgegenarbeiten? (...) Wir müssen endlich einmal wieder lernen, was wir während der faschistischen Periode vergessen haben oder Sie, die ja erst nach der ersten faschistischen Periode geboren wurden, noch nicht ganz sich zum Bewußtsein gebracht haben - daß humanitäre und moralische Argumente nicht bloß verlogene Ideologie sind, sondern zentrale gesellschaftliche Kräfte werden können und werden müssen.18
Ein anderer Student entgegnete auf diese direkte Antwort mit einer moralischen Skepsis, die hierzulande oft den starken Einfluß von Carl Schmitt sogar auf die Linke deutlich macht: Votum in bezug auf das Widerstandsrecht. Dieses Widerstandsrecht haben Sie in Ihrem Toleranz-Essay in Anführungszeichen gebracht, jetzt haben Sie es ein wenig verändert, nämlich interpretiert als ein altes Prinzip. Was bedeutet Widerstandsrecht? Worauf gründet es sich? Worauf bezieht es sich? Ist das eine überhistorische Menschheitskonvention? Ist das ein romantisches Relikt des Naturrechts ? Oder ist es ein selbstgesetztes Recht als Ausfluß einer neuen Anthropologie? (...) Wie kann sich die Negation, sofern sie eine Aktion selbst ist, zugleich Position ist, auf etwas berufen, was sie selbst erst hervorbringen müßte?19
In diesem Augenblick entschied sich Marcuse dafür, lieber inkonsequent als unverantwortlich zu sein. Er schob seine eigenen Zweifel an einer korrumpierten praktischen Vernunft, die angeblich von der Totalität der instrumenteilen Vernunft aufgesogen worden sei, beiseite. Seine Antwort war klar und unmißverständlich: Die Lehre vom Widerstandsrecht hat immer behauptet, daß die Berufung auf das Widerstandsrecht die Berufung auf ein höheres Recht ist, das allgemeine Gültigkeit hat, das heißt das über das selbst definierte Recht und Privileg einer bestimmten Gruppe hinausgeht. Und es besteht wirklich eine enge Verbindung zwischen dem Widerstandsrecht und dem Naturrecht. Nun, Sie werden sagen, daß es ein solches allgemeines höheres Recht eben nicht gibt. Ich glaube, das gibt es. Wir nennen es heute nicht mehr Naturrecht, aber ich glaube, wenn wir heute sagen: das, was uns zum Widerstand gegen das System berechtigt, ist mehr als das relative Interesse einer spezifischen Gruppe, ist mehr als etwas, das wir selbst definiert 18 Ebd., S. 61. 19 Ebd., S. 74.
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haben, so können wir das demonstrieren. Wenn wir uns berufen auf das Recht der Humanität auf Frieden, auf das Recht der Humanität, die Ausbeutung und Unterdrückung abzuschaffen, dann sind das nicht selbstdefinierte spezielle Gruppeninteressen, sondern in der Tat Interessen, die als allgemeines Recht demonstrierbar sind. Deswegen können wir auch heute noch das Widerstandsrecht als ein mehr als relatives Recht in Anspruch nehmen und sollten es in Anspruch nehmen.20
Vor seinem achtzigsten Geburtstag, bei der Vorbereitung eines Interviews zu diesem Anlaß, führten Herbert Marcuse und ich ein langes Gespräch darüber, wie wir die normative Basis der kritischen Theorie erklären könnten und sollten. Als ich ihn im letzten Sommer wiedersah, lag Herbert Marcuse auf der Intensivstation eines Frankfurter Krankenhauses, umgeben von Apparaten auf beiden Seiten des Bettes. Keiner wußte, daß dies der Anfang vom Ende war. Bei dieser Gelegenheit, die tatsächlich unsere letzte philosophische Begegnung war, stellte Herbert Marcuse die Verbindung zu unserer Kontroverse vor zwei Jahren her, indem er zu mir sagte: Siehst Du, jetzt weiß ich, worin unsere elementarsten Werturteile gründen - im Mitleid, in unserem Gefühl für das Leiden anderer.
20 Ebd., s. 80.
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Auch in einem trivialen Sinne ist Benjamin aktuell: an ihm scheiden sich heute die Geister. Die Fronten, die sich seit dem Erscheinen der »Schriften« Benjamins1 während der kurzen, fast eruptiven Wirkungsgeschichte in der Bundesrepublik abzeichnen, sind in der Biographie Benjamins vorgezeichnet. Für Benjamins Lebensgeschichte ist die Konstellation Scholem, Adorno und Brecht bestimmend gewesen, auch die jugendliche Abhängigkeit von Gustav Wyneken, dem Schulreformer, und später die Nähe zu den Surrealisten. Scholem, der nächste Freund und Mentor, ist heute durch Scholem vertreten, durch den unpolemischen, überlegenen und ganz unnachgiebigen Anwalt des Bezirks in Benjamin, der von Überlieferungen der Jüdischen Mystik eingenommen war. 2 Adorno, Erbe, kritischer Partner und Wegbereiter in einer Person, hat die erste Welle der posthumen Benjaminrezeption nicht nur eingeleitet, sondern auch geprägt 3; nach dem Tode Peter Szondis (der ohne Zweifel hier und heute an meiner Stelle gestanden hätte) wird Adornos Position vor allem durch Benjamins Herausgeber, Tiedemann und Schweppenhäuser, gewahrt.4 Brecht hat Benjamin,
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für den er eine Art Realitätsprinzip gewesen sein muß, dazu gebracht, mit der Esoterik des Stils und des Gedankens zu brechen; im Gefolge Brechts können marxistische Kunsttheoretiker, wie H. Brenner, Lethen und Scharang, heute Benjamins Spätwerk entschieden in die Perspektive des Klassenkampfes einrücken. 5 Gustav Wyneken, von dessen Vorbild sich der in der Freien Schulgemeinde aktive Benjamin während seiner Studienzeit losgesagt hat6, signalisiert fortbestehende Bindungen und Impulse; dieses Jungkonservative in Benjamin hat heute in Hannah Arendt, die den suggestiblen, verletzbaren Ästheten, Sammler und Privatgelehrten Benjamin gegen die ideologischen Ansprüche der marxistischen und zionistischen Freunde in Schutz nehmen möchte, eine intelligente und streitbare Apologetin gefunden. 7 Benjamins Nähe zum Surrealismus schließlich ist mit der zweiten Welle der Benjaminrezeption, die ihre Anstöße durch die studentische Revolte erhalten hat, wieder bewußt geworden; das belegen unter anderem die Arbeiten von Bohrer und Bürger. 8 Zwischen diesen Fronten entsteht eine Benjaminphilologie, die sich zu ihrem Gegenstand gelehrt verhält und dem Unvorsichtigen respektabel anzeigt, daß dieses kein unbetretenes Terrain mehr ist.9 Zum Streit der Parteien, in dem das
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Bild Benjamins nahezu zersplittert, bietet die akademische Behandlung der Sache womöglich ein Korrektiv, aber sicher keine Alternative. Zudem sind die konkurrierenden Interpretationen Benjamin nicht übergestülpt; es ist wohl nicht bloß Geheimniskrämerei, die, wie Adorno berichtet, Benjamin veranlaßt hat, seine Freunde voneinander fernzuhalten: nur als surrealistische Szene vollziehbar wäre etwa die Vorstellung, Scholem, Adorno und Brecht zum friedlichen Symposion am runden Tisch, unter dem Breton oder Aragon hocken, während Wyneken an der Tür steht, versammelt zu sehen, sagen wir zu einem Disput über den »Geist der Utopie« oder gar den »Geist als Widersacher der Seele«. Benjamins intellektueller Existenz hat soviel Surreales angehaftet, daß man sie nicht mit unbilligen Konsistenzforderungen konfrontieren sollte. Benjamin hat auseinanderstrebende Motive verknüpft, aber nicht eigentlich vereinigt; und hätte er sie vereinigt, dann in so vielen Einheiten, wie es Momente gibt, in denen ein interessierter Blick nachgeborener Interpreten die Kruste durchbohrt und dorthin vordringt, wo das Gestein noch lebt. Benjamin gehört zu jenen unübersichtlichen Autoren, deren Werk auf eine disparate Wirkungsgeschichte angelegt ist; diese Autoren treffen wir immer nur an in der aufblitzenden Aktualität eines für historische Sekunden die Herrschaft antretenden Gedankens. Was Aktualität sei, pflegte Benjamin anhand der talmudischen Legende zu erläutern, derzufolge »die Engel - neue jeden Augenblick in unzähligen Scharen - geschaffen (sind), um, nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufzuhören und in Nichts zu vergehen.« (A. S. Bd. 2, S. 374) Ich möchte ausgehen von einem Satz, den Benjamin einmal gegen das Verfahren der Kulturgeschichte gewendet hat: »Sie (die Kulturgeschichte) vermehrt wohl die Last der Schätze, die sich auf dem Rücken der Menschheit häufen. Aber sie gibt ihr die Kraft nicht, diese abzuschütteln, um sie dergestalt in die Hand zu bekommen.« (ebd., S. 312) Eben darin sieht Benjamin die Aufgabe der Kritik. Nicht unter dem historischen Gesichtspunkt der aufgespeicherten Kulturgüter betrachtet Benjamin die Dokumente der Kultur, die 1971), dann Aufsätze von B. Lindner, L. Wiesenthal, P. Krumme und eine kommentierte Bibliographie (S. 8 5 ff.) mit Hinweisen auf Dissertationen über Benjamin, die in Arbeit sind.
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zugleich solche der Barbarei sind, sondern unter dem kritischen Gesichtspunkt, wie er sich steif ausdrückt, des Zerfalls der Kultur »in Güter, die der Menschheit ein Objekt des Besitzes« werden können. Von »Aufhebung der Kultur« spricht Benjamin freilich nicht. I Von Aufhebung der Kultur spricht Herbert Marcuse 1937 in einem Aufsatz über den affirmativen Charakter der Kultur. 10 An der klassischen bürgerlichen Kunst kritisiert er den Doppelcharakter einer Welt des schönen Scheins, die sich autonom, d. h. jenseits des bürgerlichen Konkurrenzkampfes und der gesellschaftlichen Arbeit etabliert hat. Diese Autonomie ist scheinhaft, weil die Kunst den Glücksanspruch der Individuen nur im Bereich der Fiktion gelten läßt und die Glücklosigkeit der täglichen Realität verschleiert; zugleich ist an der Autonomie der Kunst auch etwas Wahres, weil das Ideal des Schönen die Sehnsucht nach einem glücklicheren Leben, nach der im Alltag vorenthaltenen Humanität, Freundlichkeit und Solidarität auch zum Ausdruck bringt und damit das Bestehende transzendiert: »Die affirmative Kultur war die geschichtliche Form, in der die über die materielle Reproduktion des Daseins hinausgehenden Bedürfnisse der Menschen aufbewahrt blieben, und insofern gilt von ihr wie von der Form der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der sie zugehört: das Recht ist auch auf ihrer Seite. Sie hat zwar die >äußeren Verhältnisse< von der Verantwortung für die Bestimmung des Menschen< entlastet - so stabilisiert sie deren Ungerechtigkeit -, aber sie hält ihnen auch das Bild einer besseren Ordnung vor, die der gegenwärtigen aufgegeben ist.« (ebd., S. 88) Dieser Kunst gegenüber bringt Marcuse den ideologischen Anspruch zur Geltung, die Wahrheit, die in den bürgerlichen Idealen ausgesprochen, aber der Sphäre des schönen Scheins vorbehalten ist, beim Wort zu nehmen, und das heißt: Kunst als eine von der Realität abgespaltene Sphäre aufzuheben. 10 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt 1965, S. 56-101.
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Wenn der schöne Schein das Medium ist, in dem die bürgerliche Gesellschaft ihre eigenen Ideale zwar ausdrückt, aber deren Suspendierung zugleich verschleiert, dann führt die Ideologiekritik der Kunst zur Forderung, autonome Kunst aufzuheben, Kultur überhaupt in den materiellen Lebensprozeß zurückzunehmen. Die Revolutionierung der bürgerlichen Lebensverhältnisse bedeutet Aufhebung der Kultur: »Insoweit die Kultur die erfüllbaren aber faktisch unerfüllten Sehnsüchte und Triebe der Menschen gestaltet hat, wird sie ihren Gegenstand verlieren ... Die Schönheit wird eine andere Verkörperung finden, wenn sie nicht mehr als realer Schein dargestellt werden, sondern die Realität und die Freude an ihr ausdrücken soll.« (ebd., S. 98 f.) Marcuse hat sich damals, im Anblick der faschistischen Massenkunst, über die Möglichkeit einer falschen Aufhebung der Kultur nicht täuschen können. Ihr hat er eine andere Politisierung der Kunst entgegengehalten, die dreißig Jahre später, auf den blumengeschmückten Barrikaden der Pariser Studenten, für einen Augenblick konkrete Gestalt anzunehmen schien. In seinem Essay über Befreiung hat Marcuse die surrealistische Praxis der Jugendrevolte als die Aufhebung der Kultur gedeutet, mit der die Kunst ins Leben übertritt.11 Ein Jahr vor Marcuses Aufsatz über den affirmativen Charakter der Kultur war am gleichen Ort, in der Zeitschrift für Sozialforschung, Benjamins Abhandlung über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erschienen. (A. S. Bd. 2, S. 148185) Es scheint so, als habe Marcuse die subtileren Beobachtungen Benjamins nur auf den ideologiekritischen Begriff gebracht. Thema ist wiederum die Aufhebung der autonomen Kunst. Der profane Schönheitsdienst hat sich erst mit der Renaissance herausgebildet, um für dreihundert Jahre in Geltung zu bleiben, (ebd., S. 155) In dem Maße, wie die Kunst von ihrem kultischen Fundament abge-
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löst wird, erlischt der Schein ihrer Autonomie, (ebd., S. 159) Benjamin begründet seine These, »daß die Kunst aus dem Bereich des >schönen Scheins< entwichen ist«, mit dem veränderten Status des Kunstwerks und einer veränderten Rezeptionsweise. Mit der Zertrümmerung der Aura verschiebt sich die innerste symbolische Struktur des Kunstwerks derart, daß die dem materiellen Lebensprozeß enthobene und ihm gegenübertretende Sphäre zerfällt. Das Kunstwerk zieht seinen ambivalenten Anspruch auf gebieterische Echtheit und Unantastbarkeit ein. Es gibt sowohl historische Zeugenschaft wie auch das kultische Gefälle zum Kunstbetrachter preis. Schon 1927 hatte Benjamin notiert: »Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei Meter vom Körper entfernt.« (A. S. Bd. 2, S. 160) Das banalisierte Kunstwerk gewinnt auf Kosten seines Kulturwertes Ausstellungswert.12 Der veränderten Struktur des Kunstwerks entspricht eine veränderte Organisation der Wahrnehmung und der Rezeption von Kunst. Als autonome ist Kunst auf individuellen Kunstgenuß angelegt, nach dem Verlust ihrer Aura auf Massenrezeption. Der Kontemplation des vereinzelten kunstbetrachtenden Individuums stellt Benjamin die reizstimulierte Zerstreuung im Kollektiv gegenüber: »Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart des sozialen Verhaltens gegenüber.« (A. S. Bd. 1, S. 171) In der Kollektivrezeption sieht Benjamin zudem einen Kunstgenuß, der instruktiv und kritisch zugleich ist. Den nicht ganz konsistenten Äußerungen meine ich den Begriff einer Rezeptionsweise entnehmen zu können, den Benjamin an den Reaktionen eines entspannten und doch geistesgegenwärtigen Filmpublikums gewonnen hat: »Man vergleiche die Leinwand, auf welcher der Film abrollt, mit der Leinwand, auf welcher sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlas12 »Gewisse Madonnenbilder bleiben fast das ganze Jahr über verhangen, gewisse Skulpturen an mittelalterlichen Domen sind für den Betrachter zu ebener Erde nicht sichtbar. Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstausübungen aus dem Schöße des Rituals wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte.« (A. S. Bd. 1,
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sen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht... In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese (Film)bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chokwirkung des Films, die, wie jede Chokwirkung, durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will. Kraft seiner technischen Struktur hat der Film die physische Chokwirkung, welche der Dadaismus gleichsam in der moralischen noch verpackt hielt, aus dieser Emballage befreit.« (ebd., S. 171 f.) Das entauratisierte Kunstwerk setzt in einer diskreten Folge von Choks Erfahrungen frei, die bisher im esoterischen Stil eingeschlossen waren. An der geistesgegenwärtigen Verarbeitung dieser Choks beobachtet Benjamin die exoterische Auflösung jenes kultischen Bannes, mit dem die bürgerliche Kultur den einsamen Betrachter kraft ihres affirmativen Charakters belegt. Benjamin begreift den Funktionswandel der Kunst, der im Augenblick der Emanzipation des Kunstwerks »von seinem parasitären Dasein am Ritual« eintritt, als Politisierung der Kunst: »An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.« (ebd., S. 156) Freilich sieht Benjamin wie Marcuse im Anblick der faschistischen Massenkunst, die mit dem Anspruch einer politischen auftritt, die Gefahr einer falschen Aufhebung autonomer Kunst. Diese Propagandakunst der Nazis vollstreckt zwar die Liquidierung der Kunst als eines autonomen Bereichs, aber hinter dem Schleier der Politisierung dient sie in Wahrheit der Ästhetisierung nackter politischer Gewalt. Sie ersetzt den zerstörten Kultwert der bürgerlichen Kunst durch den manipulativ hergestellten. Der kultische Bann wird nur gebrochen, um synthetisch erneuert zu werden: die Massenrezeption wird zur Massensuggestion.13 Benjamins Kunsttheorie entfaltet anscheinend den ideologiekritischen Begriff von Kultur, an den Marcuse ein Jahr später anknüpfen 13 »Die faschistische Kunst wird nicht nur für Massen, sondern auch von Massen exekutiert ... (Sie) versetzt die Exekutierenden ebenso wie die Rezipierenden in einen Bann, unter dem sie sich selber monumental, d.h. unfähig zu wohlüberlegten und selbständigen Aktionen erscheinen müssen ... Mit der Haltung, die der Bann ihnen auferlegt, kommen, so lehrt der Faschismus, die Massen überhaupt erst zu ihrem Ausdruck.« (A. S. Bd. 2, S. 509f)
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wird. Allein, die Parallelen täuschen. Ich sehe vier wesentliche Unterschiede. a.) Marcuse verfährt mit den exemplarischen Gestalten der bürgerlichen Kunst ideologiekritisch, indem er den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit feststellt; aus dieser Kritik ergibt sich die Aufhebung der autonomen Kunst nur als die Konsequenz eines Gedankens. Benjamin hingegen erhebt nicht kritische Forderungen gegen eine in ihrer Substanz noch unerschütterte Kultur. Er beschreibt vielmehr den tatsächlichen Prozeß des Zerfalls der Aura, auf die die bürgerliche Kunst den Schein ihrer Autonomie gründet. Er verfährt deskriptiv. Er beobachtet einen Funktionswandel der Kunst, den Marcuse erst für den Augenblick der Revolutionierung der Lebensverhältnisse antizipiert. b.) Auffällig ist sodann, daß sich Marcuse, wie die idealistische Ästhetik überhaupt, auf die im bürgerlichen Bewußtsein selbst als klassisch anerkannten Perioden beschränkt. Er orientiert sich an einem Begriff des Kunstschönen, der am Symbolischen, worin das Wesen zur Erscheinung kommt, gewonnen ist. Die klassischen Kunstwerke - in der Literatur sind es insbesondere der Roman und das bürgerliche Trauerspiel - eignen sich wie im Bereich der politischen Philosophie das rationale Naturrecht, eben wegen ihres affirmativen Charakters als Gegenstände der Ideologiekritik. Benjamins Interesse aber gilt den nicht-affirmativen Formen der Kunst; in der Untersuchung über das barocke Trauerspiel hat er am Allegorischen einen Kontrastbegriff zur individuellen Totalität des verklärenden Kunstwerks gewonnen. 14 Die Allegorie, die die Erfahrung des Leidvollen, Unterdrückten, Unversöhnten und Verfehlten, die Erfahrung des Negativen ausdrückt, widerstreitet einer positiv Glück, Freiheit, Versöhnung und Erfüllung vorspiegelnden und vorschießenden symbolischen Kunst. Während diese der Ideologiekritik zur Entschlüsselung und Überwindung bedarf, ist jene 14 »Während im Symbol mit der Verklärung des Untergangs das transfigurierte Antlitz im Lichte der Erlösung sich flüchtig offenbart, liegt in der Allegorie die facies hippocratia der Geschichte als erstarrte Urlandschaft vor Augen ... Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist diese nur in den Stationen ihres Verfalls.« (Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 182f.)
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selber Kritik - oder vielmehr auf Kritik verweisend: »Was dauert, ist das seltsame Detail der allegorischen Verweisungen: ein Gegenstand des Wissens, der in den durchdachten Trümmerbauten nistet. Kritik ist Mortifikation der Werke. Dem kommt das Wesen dieser mehr als jeder anderen Produktion entgegen.« (Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 202) c.) In diesem Zusammenhang ist ferner bemerkenswert, daß Marcuse die avantgardistischen Transformationen der bürgerlichen Kunst, die sich dem direkten Zugriff der Ideologiekritik entziehen, ausspart, während Benjamin den Prozeß der Aufhebung autonomer Kunst an der Geschichte der Moderne nachweist. Benjamin, der das Auftreten der großstädtischen Massen als eine Matrix ansieht, »aus der alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neugeboren hervorgeht« (A. S. Bd. 1, S. 172), entdeckt die Berührung mit diesem Phänomen gerade in den Werken, die sich ihm gegenüber hermetisch zu verschließen scheinen: »Die Masse ist Baudelaire derart innerlich, daß man ihre Schilderung bei ihm vergebens sucht.« (Ch. Baudelaire, Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, S. 128)15 Benjamin folgt den Spuren der Moderne, weil sie zu dem Punkt führen, wo »der Bereich der Dichtung von innen gesprengt wird«. (A. S. Bd. 2, S. 201) Die Einsicht in die Notwendigkeit der Aufhebung autonomer Kunst entspringt der Rekonstruktion dessen, was die avantgardistische Kunst, indem sie die bürgerliche transformiert, von dieser preisgibt. d.) Schließlich besteht die entscheidende Differenz zu Marcuse darin, daß Benjamin die Auflösung der autonomen Kunst als Ergebnis einer Umwälzung in den Reproduktionstechniken begreift. Am Vergleich der Funktionen von Malerei und Photographie zeigt Benjamin exemplarisch die Folgen der mit dem 19. Jahrhundert vordringenden neuen Techniken, die gegenüber den traditionellen Abdruckverfahren des Gießens, Prägens und Holz15 Darum wendet sich Benjamin gegen das oberflächliche Verständnis des l'art pour l'art: »Es wäre der Augenblick, an ein Werk zu gehen, das wie kein anderes die Krisis der Künste, von der wir Zeuge sind, erhellen würde: eine Geschichte der esoterischen Dichtung ... Auf ihrem letzten Blatt müßte man das Röntgenbild des Surrealismus finden.« (A. S. Bd. 2. S. 207)
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Schneidens, des Kupferstichs und des Steindrucks eine neue, allenfalls mit der Erfindung des Buchdrucks vergleichbare Stufe darstellen. Zu seiner Zeit konnte Benjamin an Schallplatte, Film und Rundfunk eine Entwicklung beobachten, die sich mit den elektronischen Medien beschleunigt fortgesetzt hat. Die Reproduktionstechniken greifen in die innere Struktur der Kunstwerke ein. Das Werk büßt einerseits eine raumzeitliche Individualität ein, andererseits gewinnt es an dokumentarischer Authentizität. Die Zeitstruktur von Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit, die die fürs autonome Kunstwerk typische Zeitstruktur von Einzigkeit und Dauer ersetzt, zerstört die Aura, »die einmalige Erscheinung einer Ferne« und schärft den »Sinn für das Gleichartige in der Welt«. Die ihrer Aura entkleideten Dinge rücken zudem den Massen dadurch näher, daß das technische Medium, das sich zwischen die selektiven Sinnesorgane und den Gegenstand schiebt, diesen genauer und realistischer abbildet. Die Authentizität der Sache verlangt freilich einen konstruktiven Einsatz der abbildrealistischen Mittel, also Montage und literarische Interpretation (Beschriftung der Photographie).16
II Benjamin läßt sich, wie diese Unterschiede zeigen, nicht von einem ideologischen Begriff der Kunst leiten; er hat mit der Auflösung autonomer Kunst etwas anderes im Sinn als Marcuse mit seiner Forderung nach Aufhebung der Kultur. Während Marcuse Ideal und Wirklichkeit konfrontiert und den unbewußten Gehalt der bürgerlichen Kunst, welche die bürgerliche Realität zugleich recht16 Auch hier sieht Benjamin den Dadaismus als einen Vorläufer der technischen Künste mit anderen Mitteln: »Die revolutionäre Stärke des Dadaismus bestand darin, die Kunst auf ihre Authentizität zu prüfen. Man stellte Stilleben aus Billets, Garnrollen, Zigarettenstummeln zusammen, die mit malerischen Elementen verbunden waren. Man tat das ganze in einen Rahmen. Und damit zeigte man dem Publikum: Seht, Euer Bilderrahmen sprengt die Zeit; das winzigste authentische Bruchstück des täglichen Lebens sagt mehr als die Malerei. So wie der blutige Fingerabdruck eines Mörders auf einer Buchseite mehr sagt als der Text. Von diesen revolutionären Gehalten hat sich vieles in die Photomontage hineingerettet.« (Versuche über Brecht, S. 206)
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fertigt und wider Willen denunziert, ins Bewußtsein hebt, verzichtet Benjamins Analyse auf die Form der Selbstreflexion. Während Marcuse durch die analytische Zersetzung eines objektiven Scheins die Veränderung der entschleierten materiellen Lebensverhältnisse vorbereiten und die Aufhebung der Kultur, in der diese Lebensverhältnisse sich stabilisieren, einleiten möchte, kann Benjamin seine Aufgabe nicht in der Attacke gegen eine Kunst sehen, die schon in Auflösung begriffen ist. Seine Kunstkritik verhält sich zu ihren Gegenständen konservativ, gleichviel ob es sich ums barokke Trauerspiel, um Goethes Wahlverwandtschaften, Baudelaires Fleurs du Mal oder den sowjetischen Film der frühen zwanziger Jahre handelt; sie zielt zwar auf »die Mortifikation der Werke« {Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 202), aber die Kritik verübt am Kunstwerk eine Abtötung nur, um das Wissenswürdige aus dem Medium des Schönen ins Medium des Wahren zu transportieren — und dadurch zu retten. Den Impuls zur Rettung erklärt Benjamins eigentümliche Konzeption der Geschichte.17 In der Geschichte waltet eine mystische Kausalität derart, daß »eine geheime Verabredung (besteht) zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem ... Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.« (Geschichtsphilosophische Thesen, A. S. Bd. 1, S. 269) Dieser Anspruch kann nur durch eine immer wieder erneuerte kritische Anstrengung des historischen Blicks auf eine erlösungsbedürftige Vergangenheit erfüllt werden; und diese Anstrengung ist im eminenten Sinne konservativ, »denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte«, (ebd., S. 270) Wird der Anspruch verfehlt, dann droht Gefahr »sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern«.18 17 Tiedemann, Studien, a.a.O., S. 103ff.; H. D. Kittsteiner, Die Geschichtsphilosophischen Thesen, in: Alternative H. 55/56, S. 243-251. 18 Die rettende Kraft der zurückdenkenden Kritik ist freilich nicht mit der Einfühlung und dem Nacherleben zu verwechseln, das der Historismus von der Romantik übernommen hat: »Mit der Romantik setzt die Jagd nach dem falschen Reichtum ein, nach der Einverleibung jeder Vergangenheit, nicht durch die fort-
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Das Kontinuum der Geschichte besteht für Benjamin in de Permanenz des Unerträglichen; Fortschritt ist die ewige Wieder kehr der Katastrophe: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Ide der Katastrophe zu fundieren«, notiert Benjamin in einem Entwui zur Baudelaire-Arbeit, »daß >es so weiter gehtEntkunstung der Kunst< generalisiert und zusammengefaßt: »Von der Autonomie der Kunstwerke, welche die Kulturkunden zur Empörung darüber aufreizt, daß man sie für etwas Besseres hält, ist nichts übrig als der Fetischcharakter der Ware ... Als tabula rasa subjektiver Projektionen wird das Kunstwerk entqualifiziert. Die Pole seiner Entkunstung sind, daß es sowohl zum Ding unter Dingen wird wie zum Vehikel der Psychologie des Betrachters. Was die verdinglichten Kunstwerke nicht mehr sagen, ersetzt der Betrachter durch das standardisierte Echo seiner selbst, das er aus ihnen vernimmt. Diesen Mechanismus setzt die Kulturindustrie in Gang und exploitiert ihn.« (ebd., S. 33) Die historische Erfahrung, die in diese Kritik der Kulturindustrie eingeht, ist Enttäuschung nicht sowohl über die Verfallsgeschichte von Kunst, Religion und Philosophie als vielmehr über die Geschichte der Parodien ihrer Aufhebung. Die Konstellation der bürgerlichen Kultur im Zeitalter ihrer klassischen Entfaltung war, wenn eine grobe Andeutung gestattet ist, gekennzeichnet durch die Auflösung traditionalistischer Weltbilder, also einmal durch den Rückzug der Religion in den Bezirk privatisierter Glaubensmächte, sodann durch das Bündnis einer empiristischen und einer rationalistischen Philosophie mit der neuen Physik, und schließlich durch eine autonom gewordene Kunst, die komplementär Auffangstel-
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lungen für die Opfer der bürgerlichen Rationalisierung einnimmt. Die Kunst ist das Reservat für eine, sei es auch nur virtuelle Befriedigung jener Bedürfnisse, die im materiellen Lebensprozeß der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam illegal werden: ich meine das Bedürfnis nach einem mimetischen Umgang mit Natur, der äußeren ebenso wie der des eigenen Leibes; das Bedürfnis nach solidarischem Zusammenleben, überhaupt nach dem Glück einer kommunikativen Erfahrung, die den Imperativen der Zweckrationalität enthoben ist und der Phantasie ebenso Spielraum läßt wie der Spontaneität des Verhaltens. Diese Konstellation der bürgerlichen Kultur war keineswegs stabil; sie währte, wie der Liberalismus selber, sozusagen nur einen Moment und verfiel dann der Dialektik der Aufklärung (oder vielmehr dem Kapitalismus als deren unwiderstehlichem Vehikel). Schon Hegel verkündet in seinen Vorlesungen über die Ästhetik24 den Verlust der Aura der Kunst. Indem er Kunst und Religion als beschränkte Formen des absoluten Wissens, welche die Philosophie als das freie Denken des absoluten Geistes durchdringt, begreift, setzt er die Dialektik einer »Aufhebung« in Gang, die alsbald die Grenzen der Hegelschen Logik überschreitet. Hegels Schüler vollziehen eine profane Kritik erst der Religion und dann der Philosophie, um schließlich die Aufhebung der Philosophie und deren Verwirklichung in der Aufhebung der politischen Gewalt terminieren zu lassen: das ist die Geburtsstunde der Marxschen Ideologiekritik. Was in der Hegelschen Konstruktion noch verschleiert war, tritt nun hervor: die Sonderstellung, die die Kunst unter den Gestalten des absoluten Geistes insofern einnimmt, als sie nicht, wie die subjektivierte Religion und eine szientifizierte Phi24 »Die Kunst in ihren Anfängen läßt noch Mysteriöses, ein geheimnisvolles Ahnen und eine Sehnsucht übrig ... Ist aber der vollkommene Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten, so wendet sich der weiterblickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres zurück und stößt sie von sich fort. Solche eine Zeit ist die unsere. Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen - es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.« (Theorie Werkausgabe, Bd. 13, S. 142)
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losophie, Aufgaben für das ökonomische und das politische System übernimmt, sondern residuale Bedürfnisse, die im »System der Bedürfnisse«, eben der bürgerlichen Gesellschaft, nicht befriedigt werden können, auffängt. Deshalb blieb die Sphäre der Kunst von Ideologiekritik eigentümlich verschont - bis in unser Jahrhundert. Als auch sie schließlich der Ideologiekritik verfiel, stand die ironische Aufhebung von Religion und Philosophie bereits vor Augen. Die Religion ist heute nicht einmal mehr Privatsache; aber im Atheismus der Massen sind auch die utopischen Gehalte der Überlieferung untergegangen. Die Philosophie ist ihres metaphysischen Anspruchs entkleidet, aber im herrschenden Szientismus sind auch die Konstruktionen zerfallen, vor denen eine schlechte Realität sich rechtfertigen mußte. Inzwischen steht gar eine »Aufhebung« der Wissenschaft vor der Tür, die zwar den Schein der Autonomie zerstört, aber weniger um diskursiver Steuerung, als vielmehr einer Funktionalisierung des Wissenschaftssystems für naturwüchsige Interessen zu weichen.25 In diesem Zusammenhang steht auch Adornos Kritik einer falschen Aufhebung der Kunst, welche zwar die Aura zerstört, aber mit der herrschaftlichen Organisation des Kunstwerks zugleich dessen Wahrheitsanspruch liquidiert. Die Enttäuschung an der falschen Aufhebung, sei es der Religion, der Philosophie oder der Kunst, kann eine Reaktion des Innehaltens, wenn nicht des Zögerns derart hervorrufen, daß man eher gegen das Praktischwerden des absoluten Geistes überhaupt mißtrauisch wird als seiner Liquidierung zustimmt. Damit verbindet sich eine Option für die esoterische Rettung der wahren Momente. Das unterscheidet Adorno von Benjamin, welcher darauf besteht, daß die wahren Momente der Überlieferung für den messianischen Zustand entweder exoterisch oder gar nicht gerettet werden. Gegen die falsche Aufhebung der Religion setzt Adorno, atheistisch wie Benjamin (wenn auch nicht in der gleichen Weise), die Einbringung der utopischen Gehalte als Ferment eines unnachgiebigen kritischen Denkens, aber eben nicht in der Form einer verallgemei25 Diese These haben G. Böhme, W. van den Daele und W. Krohn in ihren Arbeiten zur Finalisierung der Wissenschaft entwickelt.
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nerten profanen Erleuchtung. Gegen die falsche Aufhebung der Philosophie setzt Adorno, antipositivistisch wie Benjamin, die Einbringung des transzendierenden Impetus in eine Kritik, die in gewisser Weise autark ist, aber eben nicht in die positiven Wissenschaften eindringt, um in Form einer Selbstreflexion der Wissenschaften allgemein zu werden. Gegen die falsche Aufhebung der autonomen Kunst setzt Adorno Kafka und Schönberg, die hermetische Moderne, aber eben nicht die Massenkunst, welche die auratisch eingekapselten Erfahrungen öffentlich macht. Nach der Lektüre des Manuskripts zum Kunstwerkaufsatz wendet Adorno (in einem Brief vom 18. März 1936: Adorno, Über Walter Benjamin, S. 126-134) gegen Benjamin ein, »daß die Mitte des autonomen Kunstwerks nicht selber auf die mythische Seite gehört ... So dialektisch Ihre Arbeit auch ist, sie ist es nicht beim autonomen Kunstwerk selbst; sie sieht vorbei an der elementaren und mir in der eigenen musikalischen Erfahrung täglich evidenteren Erfahrung, daß gerade die äußerste Konsequenz in der Befolgung des technologischen Gesetzes von autonomer Kunst diese verändert und sie anstelle der Tabuierung und Fetischisierung dem Stand der Freiheit, des bewußt Herstellbaren, zu Machenden annähert.« (ebd., S. 127 f.) Nur das den Massen unzugängliche formalistische Kunstwerk widersteht, nach dem Zerfall der Aura, den Zwängen der Assimilation an die vom Markt bestimmten Bedürfnisse und Einstellungen der Konsumenten. Adorno verfolgt eine Strategie des Überwinterns, deren Schwäche ersichtlich in ihrem defensiven Charakter liegt. Interessanterweise läßt sich Adornos These mit Beispielen aus Literatur und Musik belegen, soweit diese von Reproduktionstechniken abhängig bleiben, die einsame Lektüre und kontemplatives Hören, also den Königsweg bürgerlicher Individuierung vorschreiben. Für die kollektiv rezipierten Künste - Architektur, Theater, Malerei - zeichnet sich hingegen ebenso wie für die Gebrauchsliteratur und -musik, die von den elektronischen Medien abhängig geworden ist, eine Entwicklung ab, die über bloße Kulturindustrie hinausweist und Benjamins Hoffnung auf eine verallgemeinerte profane Erleuchtung nicht a fortiori entkräftet. Freilich behält die Entritualisierung der Kunst auch für Benjamin
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einen zweideutigen Sinn. Es ist, als befürchte Benjamin eine Tilgung des Mythos ohne eintretende Befreiung - so als würde der Mythos sich am Ende geschlagen geben müssen, aber seine Gehalte der Umsetzung in Tradition gleichwohl vorenthalten können, um noch in der Niederlage zu triumphieren. Die Bilder, welche die Tradition allein dem Innersten des Mythos abjagen kann, drohen, nachdem der Mythos das Gewand des Fortschritts angelegt hat, zu Boden zu fallen und der rettenden Kritik auf immer verlorenzugehen. Der in der Moderne nistende Mythos, der sich im Fortschrittsglauben des Positivismus ausdrückt, ist der Feind, dem Benjamin das ganze Pathos der Rettung entgegengesetzt. Die Entritualisierung, weit davon entfernt, ein Garant der Befreiung zu sein, droht mit einem spezifischen Verlust an Erfahrung.
IV Benjamin hat sich gegenüber dem Verlust der Aura stets ambivalent verhalten.26 In der Aura des Kunstwerkes ist nämlich die der Erneuerung bedürftige historische Erfahrung einer vergangenen Jetztzeit eingeschlossen; der undialektische Zerfall der Aura wäre ein Verlust jener Erfahrung. Schon zu einer Zeit, als Benjamin, der Student, sich noch zutraute, das Programm der kommenden Philosophie zu entwerfen (A. S. Bd. 2, S. 27-41), steht der Begriff einer unverstümmelten Erfahrung im Zentrum der Überlegungen. Benjamin polemisiert damals gegen die »gleichsam auf den Nullpunkt, das Minimum von Bedeutung reduzierte Erfahrung«, d.h. gegen die Erfahrung physikalischer Objekte, an der Kant paradigmatisch seinen Versuch der Analyse der Bedingungen möglicher Erfahrung orientiert hatte. Benjamin verteidigt demgegenüber die komplexeren Erfahrungsarten der Naturvölker und der Wahnsinnigen, der Hellseher und der Künstler. Damals verspricht er sich noch von der Metaphysik die Wiederherstellung eines systematischen Erfahrungskontinuums. Später hat er der Kunstkritik diese Aufgabe 26 »Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts wirkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal. Das ist es, was deren schwermutvolle und mit nichts zu vergleichende Schönheit ausmacht.« (A. S. Bd. i, S. 158)
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zugemutet; sie soll das Schöne ins Medium des Wahren transponieren, wobei »Wahrheit nicht Enthüllung ist, die das Geheimnis vernichtet, sondern Offenbarung, die ihm gerecht wird«. (Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 12) Die Stelle des schönen Scheins als der notwendigen Hülle nimmt schließlich der Begriff der Aura ein, die, indem sie zerfällt, das Geheimnis der komplexen Erfahrung offenbart: »Die Erfahrung der Aura beruht auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.« (Baudelaire, S. 157) Die auratische Erscheinung kann nur im intersubjektiven Verhältnis des Ichs zu seinem Gegenüber, dem alter ego, eintreten. Wo die Natur so »belehnt« wird, daß sie die Augen aufschlägt, verwandelt sich der Gegenstand in ein Gegenüber. Universale Beseelung der Natur ist das Zeichen magischer Weltbilder, in denen die Trennung zwischen der Sphäre des Objektivierten, über das wir manipulativ verfügen, und dem Bereich des Intersubjektiven, in dem wir einander kommunizierend begegnen, noch nicht vollzogen ist. Statt dessen ist die Welt nach Analogien und Entsprechungen organisiert, wofür die totemistischen Klassifikationen ein Beispiel geben. Ein subjektivistischer Rest der Wahrnehmung solcher Korrespondenzen sind die synästhetischen Verbindungen. 27 An der auratischen Erscheinung entwickelt Benjamin den emphatischen Begriff einer Erfahrung, die der kritischen Bewahrung und Aktualisierung bedarf, wenn anders das messianische Versprechen des Glücks je soll eingelöst werden können; andererseits handelt er aber affirmativ vom Verlust der Aura. Diese Zweideutigkeit drückt 27 »Wesentlich ist, daß die correspondances einen Begriff der Erfahrung festhalten, der kultische Elemente in sich schließt. Nur indem er sich diese Elemente zueigen machte, konnte Baudelaire voll ermessen, was der Zusammenbruch eigentlich bedeutete, dessen er, als ein Moderner, Zeuge war. Nur so konnte er ihn als die ihm allein zugedachte Herausforderung erkennen, die er in den Fleurs du Mal aufgenommen hat.« (Ebd., S. 147) »Baudelaire beschreibt Augen, von denen man sagen möchte, daß ihnen das Vermögen, zu blicken, verloren gegangen ist.« (Ebd., S. 158)
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sich auch darin aus, daß Benjamin an autonomer Kunst genau jene Leistungen hervorhebt, die auch das entritualisierte Kunstwerk auszeichnen. Auch die des Kultischen vollends entkleidete Kunst, exemplarisch die surrealistische (deren Vertreter Baudelaires Begriff der correspondances wieder aufgenommen haben), zielt auf dasselbe wie die autonome Kunst, nämlich darauf: Gegenstände im Netz der wiederentdeckten Korrespondenzen als beglückendes Gegenüber zu erfahren: »Die correspondances stellen die Instanz dar, vor der der Gegenstand der Kunst als ein treulich abzubildender, dadurch allerdings durch und durch aporetischer, vorgefunden wird. Wollte man versuchen, im Material der Sprache selbst diese Aporie nachzubilden, so käme man dahin, das Schöne zu bestimmen als den Gegenstand der Erfahrung im Stande des Ähnlichseins.« (ebd., S. 148 Anm.) Die Zweideutigkeit läßt sich nur auflösen, wenn wir die kultischen Momente im Begriff der auratischen Erscheinung von den allgemeinen Momenten trennen. Mit der Aufhebung der autonomen Kunst und dem Verfall der Aura verschwinden der esoterische Zugang zum Kunstwerk und dessen kultischer Abstand vom Betrachter, damit auch die Kontemplation des einsamen Kunstgenusses; aber jene Erfahrung, welche die zerborstene Hülle der Aura freigibt, war in der Erfahrung der Aura auch schon enthalten: nämlich die Verwandlung des Gegenstandes in ein Gegenüber. Dadurch öffnet sich ein Hof überraschender Korrespondenzen der belebten Natur mit der unbelebten, worin uns auch die Dinge in den Strukturen verletzbarer Intersubjektivität begegnen. In solchen Strukturen entzieht sich das erscheinende Wesen dem distanzlosen Zugriff auf Unmittelbares; die in der Ferne gebrochene Nähe des Anderen ist die Signatur möglicher Erfüllung und eines wechselseitigen Glücks.28 Benjamins Intention zielt auf einen Zustand, in dem die esoterischen Erfahrungen des Glücks öffentlich und allgemein geworden sind. Denn erst in einem Kommunikationszusammenhang, in den Natur geschwisterlich, als wäre sie wieder aufgerichtet, einbezogen ist, können auch die Subjekte ihren Blick aufschlagen. 28 Zu Adornos insbesondere in den Minima Moralia (Frankfurt 1951) vorgetragenen Spekulationen über Naturversöhnung vgl. meine beiden Essays in diesem Band, S. 160 ff.
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Die Entritualisierung der Kunst birgt das Risiko, daß das Kunstwerk mit seiner Aura auch den Erfahrungsgehalt preisgibt und nur noch banal ist; der Aurazerfall eröffnet andererseits erst die Chance der Verallgemeinerung und der Verstetigung der Glückserfahrung. Die Hüllenlosigkeit des exoterisch gewordenen Glücks, das der auratischen Brechung entbehrt, begründet eine Verwandtschaft mit der Erfahrung des Mystikers, der im Zustand der Ergriffenheit mehr an der Aktualität der Nähe und der fühlbaren Präsenz Gottes als an Gott selber interessiert ist. Allein der Mystiker schließt die Augen und ist einsam; seine Erfahrung ist so esoterisch wie deren Überlieferung. Genau dieses Moment trennt die Glückserfahrung, der Benjamins rettende Kritik gilt, von der religiösen. Profan nennt deshalb Benjamin die Erleuchtung, die er an der Wirkung surrealistischer Werke erläutert, welche nicht mehr Kunst sind, im Sinne der autonomen, sondern Manifestation, Parole, Dokument, Bluff und Fälschung. Solche Werke bringen uns zu Bewußtsein, daß »wir das Geheimnis nur in dem Grade durchdringen, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich erkennt«. (A. S. Bd. 2, S. 213) Profan ist diese Erfahrung, weil sie exoterisch ist.29 Keine noch so inständig um die Seele des Freundes ringende Interpretation, von der Scholems Beitrag zu dem Band Zur Aktualität Walter Benjamins ein faszinierendes Beispiel ist30, kann Benjamins Bruch mit der Esoterik hinwegreden. Politische Einsichten nötigen Benjamin, angesichts des heraufziehenden Faschismus, mit jener Esoterik des Wahren zu brechen, für welche der junge Benjamin den dogmatischen Begriff der Lehre reserviert hatte.31 29 Dies ist auch der Grund, warum Benjamin den privaten Haschischrausch nicht als Modell dieser Erfahrung akzeptiert: »Der Leser, der Denkende, der Wartende, der Flaneur, sind ebensowohl Typen des Erleuchteten wie der Opiumesser, der Träumer, der Berauschte. Und sind profanere.« (Ebd., S. 213) 30 Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstags von Walter Benjamin herausgegeben von Siegfried Unseld, st 150, Frankfurt 1972. 31 »Und damit läßt sich die Forderung an die kommende Philosophie endlich in die Worte fassen: aufgrund des Kantischen Systems einen Erkenntnisbegriff zu schaffen, der dem Begriff einer Erfahrung korrespondiert, von der die Erkenntnis Lehre ist.« (A. S. Bd. 2, S. 39)
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Benjamin schreibt einmal an Adorno, »daß die Spekulation ihren notwendig kühnen Flug nur dann mit einiger Aussicht auf Gelingen antritt, wenn sie, statt die wächsernen Schwingen der Esoterik anzulegen, ihre Kraftquelle allein in der Konstruktion sieht«. (Briefe 2, S. 793) Ebenso entschieden wendet sich Benjamin gegen die Esoterik der Erfüllung und des Glücks. Benjamin will, und das klingt wie eine Absage an Scholem, »die wahre, schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung ... Sie liegt in einer profanen Erleuchtung, einer materialistischen, anthropologischen Inspiration«, zu der der einsame Rausch allenfalls die Vorschule abgeben kann. (A. S. Bd. 2, S. 202) Wenn wir von hier aus auf Benjamins These von der Aufhebung der autonomen Kunst zurückschauen, sehen wir, warum sie eine ideologiekritische These nicht sein kann: Benjamins Theorie der Kunst ist eine Theorie der Erfahrung (aber nicht der Erfahrung der Reflexion).32 Die Erfahrung der Aura hat in den Formen der profanen Erleuchtung die auratische Hülle gesprengt und ist exoterisch geworden. Sie verdankt sich nicht einer Analyse, die Verdrängtes ans Licht hebt, ein Reprimiertes freisetzt. Sie wird auf andere Weise gewonnen als Reflexion es vermöchte: nämlich durch das Wiederaufnehmen einer Semantik, die Stück für Stück aus dem Inneren des Mythos herausgelöst und in den Werken der großen Kunst messianisch, d.h. für den Gebrauch der Emanzipation freigesetzt und zugleich aufbewahrt worden ist. Unerklärlich in dieser Konzeption ist freilich der eigentümliche Sog, gegen den eine rettende Kritik sich stemmen muß: ohne deren permanente Anstrengung müßten, so ist die Vorstellung, die tradierten Zeugnisse punktueller Befreiungen vom Mythos und die ihm abgerungenen semantischen Gehalte ins Leere fallen; die Gehalte der Tradition verfielen einem spurenlosen Vergessen. Warum? Benjamin war offensichtlich der Meinung, daß Sinn kein vermehrbares Gut ist und daß Erfahrungen des ungekränkten Umgangs mit Natur, mit den Anderen und mit dem eigenen Ich nicht beliebig erzeugt werden können. Benjamin hat wohl eher daran gedacht, daß das 32 »Es wäre nachzuweisen, daß die Theorie der Erfahrung das keineswegs geheime Zentrum aller Konzeptionen Benjamins darstellt.« P. Krumme, Zur Konzeption der dialektischen Bilder, in: Text und Kritik, a.a.O., S. 80 Anm. 5.
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semantische Potential, aus dem die Menschen schöpfen, um die Welt mit Sinn zu belehnen und erfahrbar zu machen, zunächst im Mythos niedergelegt ist und von diesem entbunden werden muß daß aber dieses Potential nicht erweitert, sondern immer nur transformiert werden kann. Benjamin befürchtet, daß während dieser Transformation die semantischen Energien entweichen und der Menschheit verlorengehen könnten. Anhaltspunkte für diese verfallsgeschichtliche Perspektive gibt Benjamins Sprachphilosophie; in ihr ist die Theorie der Erfahrung fundiert.33 V
Benjamin hat zeitlebens an einer mimetischen Theorie der Sprache festgehalten. Auch in den späteren Arbeiten kommt er auf den onomatopoetischen Charakter der einzelnen Worte, sogar der Sprache im ganzen zurück. Unvorstellbar ist ihm, daß sich das Wort zur Sache zufällig verhalte. Worte begreift Benjamin als Namen; indem jedoch der Mensch den Dingen Namen gibt, kann er deren Wesen treffen oder verfehlen: die Benennung ist eine Art Übersetzung des Namenlosen in den Namen, die Übersetzung aus der unvollkommeneren Sprache der Natur in die Sprache des Menschen. Benjamin hat das Eigentümliche der Menschensprache nicht in ihrer syntaktischen Organisation (für die er sich nicht interessierte), noch in der Darstellungsfunktion gesehen (die er gegenüber der Ausdrucksfunktion für untergeordnet hält34). Nicht die humanspezifischen Eigenschaften der Sprache interessieren Benjamin, sondern die Funktion, die sie mit den Tiersprachen verbindet: die expressive Sprache, so meint er, ist nur eine Form 33 Schon im Programm der kommenden Philosophie findet sich der Hinweis: »Ein in der Reflexion auf das sprachliche Wesen der Erkenntnis gewonnener Begriff von (Philosophie) wird einen korrespondierenden Erfahrungsbegriff schaffen, der auch Gebiete, deren wahrhafte systematische Einordnung Kant nicht gelungen ist, umfassen wird.« (A. S. Bd. 2, S. 38 f.) Das habe zu Lebzeiten Kants schon Hamann versucht. 34 »Das Wort soll etwas mitteilen. Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes. Das Wort als äußerlich mitteilendes, gleichsam eine Parodie des ausdrücklich mitteilbaren Wortes.« (A. S. Bd. 2, S. 22)
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jenes animalischen Instinktes, der sich in den Ausdrucksbewegungen manifestiere. Diese wiederum bringt Benjamin mit dem mimetischen Vermögen zusammen, Ähnlichkeiten wahrzunehmen und zu reproduzieren. Ein Beispiel ist der Tanz, in dem Expression und Mimesis verschmelzen. Er zitiert einen Satz von Mallarme: »Die Tänzerin ist nicht eine Frau, sondern eine Metapher, die aus den elementaren Formen unseres Daseins einen Aspekt zum Ausdruck bringen kann: Schwert, Becher, Blume oder andere.« (A. S. Bd. 2, S. 91) Die ursprüngliche Mimesis ist Abbildung der Korrespondenzen: »Bekanntlich war der Lebenskreis, der ehemals vom Gesetz der Änlichkeit durchwaltet schien, umfassend; im Mikrokosmos wie im Makrokosmos regierte sie. Jene natürlichen Korrespondenzen erhalten erst ihr eigentümliches Gewicht in der Erkenntnis, daß sie samt und sonders Stimulanten und Erwecker des mimetischen Vermögens sind, welches im Menschen ihnen Antwort gibt.« Was sich in der sprachlichen Physiognomik wie in den Ausdrucksgebärden überhaupt äußert, ist nicht ein bloß subjektiver Zustand, sondern durch diesen hindurch der noch nicht unterbrochene Zusammenhang des menschlichen Organismus mit der umgebenden Natur: die expressiven Bewegungen sind mit den auslösenden Qualitäten der Umgebung systematisch verknüpft. So abenteuerlich diese mimetische Theorie der Sprache klingt, recht hat Benjamin mit der Vermutung, daß die älteste semantische Schicht die der Expressionen ist. Der expressive Reichtum der Primatensprache ist gut erforscht, und »soweit Sprache lautgebender emotionaler Ausdruck ist, besteht kein grundsätzlicher Unterschied zum vokalen Ausdrucksvermögen der nichtmenschlichen Primatenfamilie«.35 Man könnte spekulieren, daß ein semantischer Grundbestand aus den subhumanen Formen der Kommunikation in die Menschensprache eingegangen ist und ein nicht vermehrbares Potential an Bedeutungen darstellt, mit denen die Menschen die Welt im Lichte 35 D. Ploog, Kommunikation in Affengesellschaften und deren Bedeutung für die Verständigungsweisen des Menschen, in: H.-G. Gadamer u. P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 141 f. Zu Benjamins Sprachphilosophie, die in der bisherigen Diskussion eher vernachlässigt worden ist, vgl. H. H. Holz, Prismatisches Denken, in: Über W. Benjamin, a.a.O., S. 62-110.
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ihrer Bedürfnisse interpretieren und dadurch ein Netz von Korrespondenzen erzeugen. Wie dem auch sei, Benjamin rechnet mit einem solchen mimetischen Vermögen, mit dem die Gattung an der Schwelle zur Menschwerdung, bevor sie in den Prozeß ihrer Selbsterzeugung eintritt, ausgestattet war. Es gehört zu Benjamins (unmarxistischen) Grundüberzeugungen, daß Sinn nicht wie Wert durch Arbeit produziert, sondern allenfalls in Abhängigkeit vom Produktionsprozeß umgeformt werden kann.36 Die geschichtlieh sich wandelnde Interpretation der Bedürfnisse schöpft aus einem Potential, mit dem die Gattung haushalten muß, weil sie es wohl transformieren, aber nicht bereichern kann: »Dabei ist zu bedenken, daß weder die mimetischen Kräfte, noch die mimetischen Objekte oder Gegenstände, (die, könnte man hinzufügen, etwas von den Auslöserqualitäten des Zwingenden und des Prägnanten behalten haben) im Laufe der Jahrtausende die gleichen blieben. Vielmehr ist anzunehmen, daß die Gabe, Ähnlichkeiten hervorzubringen - zum Beispiel in den Tänzen, deren älteste Funktion das ist - und daher auch die Gabe, solche zu erkennen, sich im Wandel der Geschichte verändert hat. Die Richtung dieser Änderung scheint durch die wachsende Hinfälligkeit des mimetischen Vermögens bestimmt zu sein.« (ebd., S. 96L) Dieser Vorgang hat eine ambivalente Bedeutung. In dem mimetischen Vermögen sieht Benjamin nicht nur die Quelle des Bedeutungsreichtums, den die in der soziokulturellen Lebensform entbundenen Bedürfnisse in der Sprache über eine dadurch erst humanisierte Welt ausgießen; er sieht in der Gabe, Ähnlichkeiten wahrzunehmen, auch das Rudiment des einst gewaltigen Zwangs, ähnlich zu werden, d. h. zur Adaptation gezwungen zu sein - das animalische Erbe also. Insofern ist das mimetische Vermögen auch die Signatur einer ursprünglichen Abhängigkeit von den Gewalten der Natur: sie spricht sich in den magischen Praktiken aus, lebt in der Urangst animistischer Weltbilder fort, bleibt im Mythos erhalten. Die Bestimmung der Menschengattung ist es dann, jene Abhängigkeit zu liquidieren, ohne 36 Die These, »daß Sinn, Bedeutung usw. - marxistisch — nur durch die weltgeschichtlichen Arbeitsprozesse der Menschengattung — in denen diese sich selbst produziert - erzeugt wird, hat Benjamin sich nicht zu eigen gemacht«. B. Lindner, a.a.O., S. 55.
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daß die Kräfte der Mimesis und die Ströme der semantischen Energien versiegen; denn damit würde die poetische Fähigkeit, die Welt im Lichte menschlicher Bedürfnisse zu interpretieren, versagen. Dies ist der profane Inhalt der messianischen Verheißung. Benjamin hat die Geschichte der Kunst, vom kultischen bis zum nachauratischen Kunstwerk, als Geschichte der Versuche begriffen, jene unsinnlichen Ähnlichkeiten oder Korrespondenzen abzubilden, aber gleichzeitig den Bann zu lösen, der einst auf dieser Mimesis ruhte. Göttlich nannte Benjamin diese Versuche, weil sie den Mythos brechen und dessen Reichtum gleichwohl erhalten und freisetzen. Wenn wir Benjamin bis hierher folgen, stellt sich die Frage, woher denn jene göttlichen Kräfte rühren, die zugleich bewahren und befreien. Auch die Kritik, auf deren konservativ-revolutionäre Kraft Benjamin setzt, muß sich ja retrospektiv auf vergangene Jetztzeiten richten; sie findet die Gebilde, in denen die dem Mythos abgejagten Gehalte abgelagert sind, also die Dokumente vergangener Befreiungstaten vor. Wer bringt diese Dokumente hervor, wer sind ihre Verfasser? Offensichtlich wollte Benjamin nicht idealistisch einer unableitbaren Erleuchtung großer Autoren, also einer ganz und gar nicht profanen Quelle vertrauen. Wohl war er der idealistischen Beantwortung der Frage nahe genug; denn eine Theorie der Erfahrung, die in einer mimetischen Theorie der Sprache begründet ist, erlaubt keine andere. Dem aber standen Benjamins politische Einsichten entgegen. Benjamin, der an Bachofen die Vorwelt entdeckt hat, der Schuler kannte, Klages studierte und schätzte, mit Carl Schmitt korrespondierte, dieser Benjamin konnte als jüdischer Intellektueller im Berlin der zwanziger Jahre dennoch nicht ignorieren, wo seine (und unsere) Feinde standen. Dieses Bewußtsein hat ihn zu einer materialistischen Antwort genötigt. Das ist der Hintergrund der Rezeption des Historischen Materialismus, den Benjamin freilich mit der am Modell der rettenden Kritik entwickelten messianischen Geschichtsauffassung vereinigen mußte. Dieser gezähmte Historische Materialismus sollte auf die offene Frage nach dem Subjekt der Kunst- und Kulturgeschichte eine zugleich materialistische und doch mit Benjamins eigener
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Theorie der Erfahrung kompatible Antwort geben. Daß dies gelungen sei, war Benjamins Irrtum - und der Wunsch seiner marxistischen Freunde. Der ideologiekritische Begriff der Kultur hat den Vorzug, die kulturelle Überlieferung methodisch als einen Teil der sozialen Evolution einzuführen und einer materialistischen Erklärung zugänglich zu machen. Benjamin ist hinter diesen Begriff zurückgegangen, weil sich diejenige Kritik, die die Geschichte der Kunst unter dem Aspekt der Rettung messianischer Augenblicke und der Bewahrung eines gefährdeten semantischen Potentials aneignet, nicht als Reflexion eines Bildungsprozesses, sondern als Identifikation und Wiederholen von emphatischen Erfahrungen und utopischen Gehalten verstehen muß. Benjamin hat auch die Philosophie der Geschichte als Theorie der Erfahrung konzipiert.37 In diesem Rahmen ist aber eine materialistische Erklärung der Geschichte der Kunst, auf die Benjamin aus politischen Gründen nicht verzichten will, unmittelbar nicht möglich. Darum versucht er eine Integration dieser Lehre mit Grundannahmen des Historischen Materialismus. Seine Absicht spricht er in der ersten geschichtsphilosophischen These aus: der bucklige Zwerg Theologie soll die Puppe Historischen Materialismus in Dienst nehmen. Dieser Versuch muß scheitern, weil er der anarchistischen Konzeption der Jetztzeiten, die das Schicksal intermittierend gleichsam von oben durchschlagen, die materialistische Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung nicht einfach eingefügt werden kann. Dem Historischen Materialismus, der mit Fortschritten in der Dimension nicht nur der Produktivkräfte, sondern auch der Herrschaft rechnet, kann eine antievolutionistische Geschichtskonzeption nicht wie eine Mönchskapuze übergestülpt werden. Meine These ist, daß Benjamin seine Intention, Aufklärung und Mystik zu vereinigen, nicht eingelöst hat, weil der Theologe in ihm sich nicht dazu verstehen konnte, die messianische Theorie der Erfahrung für den Histori37 Das belegt u.a. die 14. Geschichtsphilosophische These; Benjamin interessiert eher der Erfahrungsgehalt der Französischen Revolution als die objektiven Veränderungen, zu denen sie geführt hat: »Die Französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so, wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert.«
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sehen Materialismus dienstbar zu machen. Soviel, meine ich, ist Scholem zuzugeben. Auf zwei der Mißlichkeiten möchte ich eingehen: auf die merkwürdige Adaptierung der Marxschen Ideologiekritik und auf die Idee einer politisierten Kunst. VI Benjamin hat 1935 auf Wunsch des Instituts für Sozialforschung ein Expose angefertigt, in dem er zum ersten Mal Motive der Passagenarbeit vorstellt (Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts). Rückblickend auf die lange Entstehungsgeschichte spricht Benjamin in einem Brief an Adorno von einem Umschmelzungsprozeß, »der die ganze, ursprünglich metaphysisch bewegte Gedankenmasse einem Aggregatzustand entgegengeführt hat, in dem die Welt der dialektischen Bilder gegen Einreden gesichert ist, welche die Metaphysik provoziert«. (Briefe 2, S. 664) Er verweist dabei auf »die neuen und eingreifenden soziologischen Perspektiven, die den gesicherten Rahmen der interpretativen Verspannungen hergeben«, (ebd., S. 665) Adornos Antwort auf dieses Expose und seine Kritik an der ersten Baudelairestudie, die Benjamin drei Jahre darauf der »Zeitschrift für Sozialforschung« anbietet, reflektieren, wie ich meine, sehr genau die Art, wie sich Benjamin marxistische Kategorien anverwandelt, - und zwar sowohl durch das, was Adorno versteht, als auch durch das, was er mißversteht. 38 Adornos Eindruck ist, daß sich Benjamin in der Passagenarbeit Gewalt antue, um dem Marxismus Tribute zu zollen, die weder diesem noch Benjamin selber zum Guten ausschlagen. Er moniert das Verfahren, »einzelne sinnfällige Züge aus dem Bereich des Überbaus materialistisch zu wenden, indem man sie zu entsprechenden Zügen des Unterbaus unvermittelt und wohl gar kausal in Beziehung 38 Ich beziehe mich auf die beiden Briefe Adornos an Benjamin vom 2. August 1935 und vom 10. November 1938 ( Briefe, Bd. I, S. 671 ff. und S. /82ff.) Dazu die Antwort Benjamins ebd., S. 79off. Zu diesem Komplex vgl. auch: J. Taubes, Kultur und Ideologie, in: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, Stuttgart 1969, S. 117-138.
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setzt«, (ebd., S. 705) Insbesondere bezieht er sich auf den bloß metaphorischen Gebrauch der Kategorie des Warenfetischs, von dem Benjamin in einem Brief an Scholem angekündigt hatte, er stünde in derselben Weise im Zentrum der neuen Arbeit wie der Begriff des Trauerspiels im Mittelpunkt seines Barockbuches. Adorno spießt die vordergründig materialistische Tendenz auf, die »Inhalte Baudelaires unmittelbar auf benachbarte Züge der Sozialgeschichte seiner Zeit, und zwar möglichst solche ökonomischer Art, zu beziehen«. Dabei mache Benjamin den Eindruck eines Schwimmers, »der mit mächtiger Gänsehaut ins kalte Wasser sich stürzt«. Dieses scharfsichtige Urteil, das auch dann nichts an Triftigkeit verliert, wenn man Adornos Rivalität zu Brecht in Rechnung stellt, kontrastiert nun eigentümlich mit dem uneinsichtigen Insistieren darauf, daß der Freund die »ausgesparte Theorie« und die »fehlende Interpretation« nachholen möge, damit die dialektische Vermittlung zwischen den kulturellen Charakteren und dem gesamtgesellschaftlichen Prozeß sichtbar werde. Adorno hat niemals erkennbar gezögert, Benjamin genau die ideologiekritische Intention zu unterstellen, der seine eigenen Arbeiten folgen zu Unrecht. Das zeigt sich exemplarisch an den Einwänden, die Benjamin bewegen sollten, den für die Theorie der Erfahrung zentralen Begriff des dialektischen Bildes zu revidieren - damit »eine Bereinigung der Theorie selbst gelingen könne«, (ebd., S. 672) Adorno sieht nicht, wie legitim es ist, das Vorhaben einer Urgeschichte der Moderne, die ja auf die Entschlüsselung einer verschütteten und vom Vergessen bedrohten Semantik abzielt, mit hermeneutischen Mitteln, eben durch die Deutung dialektischer Bilder, bewältigen zu wollen. Für Benjamin lösen sich unter den Anstoß des Neuen, in dem sich die Kontinuität des Immergleichen durchsetzt, Bildphantasien des Urvergangenen ab, sie »erzeugen, in Durchdringung mit dem Neuen, die Utopie«. Benjamin spricht, in seinem Expose, von dem kollektiven Unbewußten, in dem die Erfahrungen ihr Depot haben. An diesem Sprachgebrauch stößt sich Adorno mit Recht. Aber zu Unrecht meint er, daß die Entzauberung des dialektischen Bildes in ungebrochen mythisches Denken zurückführen müsse; denn die Archaik in der Moderne, in der Adorno eher die Hölle als
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das goldene Zeitalter sehen möchte, enthält eben jene Erfahrungspotentiale, die auf den utopischen Zustand der befreiten Gesellschaft hinweisen. Modell ist der Rückgriff der Französischen Revolution auf die römische Antike. Hier benützt Benjamin den Vergleich mit der Verwertung der Traumelemente beim Erwachen, die ja im Surrealismus zu einer Technik ausgebildet worden ist und die Benjamin, irreführend genug, einen Schulfall dialektischen Denkens nennt. Adorno nimmt dieses Wort zu wörtlich. Das dialektische Bild als Traum ins Bewußtsein zu verlegen, erscheint ihm der bare Subjektivismus. Der Fetischcharakter der Ware, so hält er Benjamin entgegen, ist keine Tatsache des Bewußtseins, sondern dialektisch in dem eminenten Sinn, daß er Bewußtsein produziert, nämlich archaische Bilder in den bürgerlich entfremdeten Individuen. Aber Benjamin braucht sich diesem ideologiekritischen Anspruch nicht zu stellen; Benjamin will nicht hinter die Bewußtseinsformation zurückgreifen auf die Objektivität eines Verwertungsprozesses, durch den der Warenfetisch Gewalt gewinnt über das Bewußtsein der Individuen. Benjamin will und braucht in der Tat nur »die Auffassungsweise des Fetischcharakters im Kollektivbewußtsein« zu untersuchen, weil die dialektischen Bilder Bewußtseinsphänomene sind, und nicht- wie Adorno meint - ins Bewußtsein verlegt werden. Freilich hat sich auch Benjamin selbst über die Differenz getäuscht, die zwischen seiner Verfahrungsweise und der marxistischen Ideologiekritik besteht. In den nachgelassenen Manuskripten zur Passagenarbeit heißt es einmal: »Wenn der Unterbau gewissermaßen im Denk- und Erfahrungsmaterial den Überbau bestimmt, diese Bestimmung aber nicht die des einfachen Abspiegelns ist, wie ist sie dann, ganz abgesehen von ihrer Entstehungsursache (!), zu charakterisieren? Als deren Ausdruck. Der Überbau ist der Ausdruck des Unterbaus. Die ökonomischen Bedingungen, unter denen die Gesellschaft existiert, kommen im Überbau zum Ausdruck.« (zit. nach Tiedemann, a.a.O., S. 106) Ausdruck ist eine Kategorie der Benjaminschen Theorie der Erfahrung; sie bezieht sich auf jene unsinnlichen Korrespondenzen zwischen belebter und unbelebter Natur, auf denen der physiognomische Blick sowohl des Kindes wie des Künstlers liegt. Ausdruck ist für Benjamin eine
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semantische Kategorie, die dem, was Kassner, selbst Klages intendiert haben, eher gerecht wird als dem Basis-Überbau-Theorem. Dasselbe Mißverständnis zeigt sich gegenüber der Ideologiekritik, wie Adorno sie geübt hat, wenn Benjamin zu Kapiteln des späteren Wagnerbuches bemerkt: »Eine Tendenz dieser Arbeit (hat mich) besonders interessiert: das Physiognomische unmittelbar, fast ohne psychologische Vermittlung, im gesellschaftlichen Raum anzusiedeln.« (Briefe 2, S. 741) In der Tat hatte Benjamin Psychologie nicht im Sinn, aber ebensowenig eine Kritik des notwendig falschen Bewußtseins. Seine Kritik galt den kollektiven, in den Ausdruckscharakteren des täglichen Lebens wie in Literatur und Kunst sich niederschlagenden Bildphantasien, die der geheimen Kommunikation des ältesten Bedeutungspotentials menschlicher Bedürfnisse mit den kapitalistisch erzeugten Lebensbedingungen entspringen. Adorno appelliert im Briefwechsel über die Passagenarbeit an das Ziel, »deretwillen Sie das Opfer der Theologie bringen«. (Briefe 2, S. 672) Benjamin hat zwar dieses Opfer gebracht, indem er die mystische Erleuchtung nur mehr als profane, d. h. verallgemeinerbare, exoterische Erfahrung akzeptierte. Aber Adorno, der gegenüber Benjamin gewiß der bessere Marxist gewesen ist, hat nicht gesehen, daß der Freund insofern das theologische Erbe preiszugeben niemals bereit gewesen ist, als er seine mimetische Theorie der Sprache, seine messianische Theorie der Geschichte und sein konservativ-revolutionäres Verständnis von Kritik gegen Einwendungen des Historischen Materialismus, soweit diese Puppe nicht einfach in Regie zu nehmen war, immer immun gehalten hat. Das zeigt sich auch dort, wo sich Benjamin als engagierter Kommunist bekannte: in seiner Zustimmung zur instrumentellen Politisierung der Kunst. Ich verstehe diese Zustimmung, die in dem Vortrag »Der Autor als Produzent« (Versuche über Brecht, S. 95-116) am deutlichsten wird, als eine Verlegenheit, die daraus resultiert, daß aus der rettenden Kritik keineswegs, wie aus der bewußtmachenden, eine immanente Beziehung zur politischen Praxis zu gewinnen ist. Ideologiekritik ist, wenn sie im scheinbar allgemeinen Interesse das partikulare der Herrschenden aufdeckt, eine politische Kraft.
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Soweit sie die normativen Strukturen, die das Bewußtsein der Unterdrückten gefangenhalten, erschüttert und in politischem Handeln terminiert, zielt Ideologiekritik auf die Entbindung der in die Institution eingelassenen strukturellen Gewalt. Sie ist auf die partizipatorische Tilgung der freigesetzten Gewalt gerichtet. Strukturelle Gewalt kann auch präventiv oder reaktiv von oben entbunden werden. Dann hat sie die Form der faschistischen Teilmobilisierung von Massen, die die freigesetzte Gewalt nicht tilgen, sondern diffus »ausagieren«. Ich habe gezeigt, daß in diesem ideologiekritischen Bezugsrahmen der von Benjamin entwickelte Typus von Kritik keinen Platz findet. Eine Kritik, die zum Sprung in vergangene Jetztzeiten ansetzt, um semantische Potentiale zu retten, hat eine höchst vermittelte Stellung zur politischen Praxis. Darüber hat Benjamin hinreichend Klarheit sich nicht verschafft. In dem frühen Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt« unterscheidet er die rechtssetzende von der rechtserhaltenden Gewalt: diese ist die legitime Gewalt, die von den Organen des Staates ausgeübt wird; jene ist die in Krieg und Bürgerkrieg freigesetzte strukturelle Gewalt, die latent in allen Institutionen anwesend ist. 39 Die rechtsetzende Gewalt hat nicht, wie die rechtserhaltende, instrumentellen Charakter, sie vielmehr »manifestiert« sich. Und zwar manifestiert sie die in Deutungen und Institutionen verkörperte strukturelle Gewalt in jener Sphäre, die Benjamin wie Hegel dem Schicksal vorbehält: In Kriegs- und Familienschicksalen. Freilich, Veränderungen in dieser Sphäre der Naturgeschichte verändern nichts: »Ein nur aufs Nächste gerichteter Blick vermag höchstens ein dialektisches Auf und Ab in den Gestaltungen der Gewalt als rechtssetzender und rechtserhaltender zu gewähren ... Dies währt solange, bis 39 In diesem Zusammenhang übt Benjamin am Parlamentarismus eine Kritik, die Carl Schmitts Bewunderung gefunden hat: »Sie (die Parlamente) bieten das bekannte jammervolle Schauspiel, weil sie sich der revolutionären Kräfte, denen sie ihr Dasein verdanken, nicht bewußt geblieben sind. In Deutschland insbesondere ist denn auch die letzte Manifestation solcher Gewalten für die Parlamente folgenlos verlaufen. Ihnen fehlt der Sinn für die rechtssetzende Gewalt, die in ihnen repräsentiert ist; kein Wunder, daß sie zu Beschlüssen, die dieser Gewalt würdig wären, nicht gelangen, sondern im Kompromiß eine vermeintlich gewaltlose Behandlungsweise politischer Angelegenheiten pflegen.« (A. S. Bd. 2, S. 53 f.)
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entweder neue Gewalten oder die früher unterdrückten über die bisher rechtssetzende Gewalt siegen und damit ein neues Recht zu neuem Verfall begründen.« (ebd., S. 65) Wir begegnen wiederum der Benjaminschen Schicksalskonzeption, die ein naturgeschichtliches Kontinuum des Immergleichen behauptet und kumulative Veränderungen in den Strukturen der Herrschaft ausschließt. Hier setzt die Figur der rettenden Kritik an; und nach dieser Figur bildet Benjamin damals den Begriff der revolutionären Gewalt: er belehnt gleichsam den Akt der Interpretation, die aus dem vergangenen Kunstwerk den punktuellen Durchbruch durchs naturgeschichtliche Kontinuum herausholt und für die Gegenwart aktualisiert, mit den Insignien der Praxis. Das ist dann die »reine« oder die »göttliche« Gewalt, die auf die »Durchbrechung des Umlaufs im Banne der mythischen Rechtsformen« (ebd.) abzielt. Benjamin konzeptualisiert die »reine« Gewalt im Rahmen seiner Theorie der Erfahrung; darum muß er sie der Attribute zweckrationalen Handelns entkleiden: die revolutionäre Gewalt ist ebenso wie die mythische eine, die sich manifestiert - sie ist die »höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen«, (ebd., S. 66) Konsequenterweise bezieht sich Benjamin auf Sorels Mythos vom Generalstreik und auf eine anarchistische Praxis, die sich dadurch auszeichnet, daß sie den instrumenteilen Charakter des Handelns aus dem Bereich der politischen Praxis verbannt und Zweckrationalität zugunsten einer »Politik der reinen Mittel« negiert: »Über die Gewaltsamkeit (einer solchen Praxis darf) ebensowenig nach ihren Wirkungen wie nach ihren Zwecken, sondern allein nach dem Gesetz ihrer Mittel geurteilt werden.« (ebd., S. 58) Das war 1920. Neun Jahre später schreibt Benjamin seinen berühmten Aufsatz über die surrealistische Bewegung, mit der Baudelaires Idee einer Verschwisterung von Traum und Tat inzwischen Macht gewonnen hatte. Was Benjamin als reine Gewalt konzipiert hattein der surrealistischen Provokation hatte es überraschend Gestalt angenommen - in den surrealistischen Unsinnsakten war Kunst in expressives Handeln überführt, die Trennung zwischen poetischem und politischem Handeln aufgehoben worden. So hat Benjamin im Surrealismus die Bestätigung seiner Kunsttheorie sehen können. Dennoch fanden die Illustrationen der reinen Gewalt, die der
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Surrealismus gegeben hat, in Benjamin einen ambivalenten Zuschauer. Politik als Darstellung oder gar dichterische Politik-als Benjamin diese Realisation sah, mochte er sich den prinzipiellen Unterschieden zwischen politischem Handeln und Manifestation denn doch nicht verschließen: »das hieße, die methodische und disziplinäre Vorbereitung der Revolution völlig zugunsten einer zwischen Übung und Vorfeier schwankenden Praxis hintansetzen.« (A. S. Bd. 2, S. 212) Benjamin hat sich daher, gefördert durch den Kontakt mit Brecht, von seinen früheren anarchistischen Neigungen gelöst und das Verhältnis von Kunst und politischer Praxis dann vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der organisatorischen und propagandistischen Verwertbarkeit der Kunst für den Klassenkampf gesehen. Die entschlossene Politisierung der Kunst ist ein Konzept, das Benjamin vorfand. Er mag gute Gründe gehabt haben, dieses Konzept aufzugreifen - allein, eine systematische Beziehung zu seiner eigenen Theorie der Kunst und der Geschichte hatte es nicht. Indem Benjamin es umstandslos akzeptiert, gesteht er stillschweigend ein, daß aus seiner Theorie der Erfahrung eine immanente Beziehung zu politischer Praxis nicht sich gewinnen läßt: die Erfahrung des Choks ist keine Handlung, und die profane Erleuchtung keine revolutionäre Tat.40 Den Historischen Materialismus »in den Dienst zu nehmen« für die Theorie der Erfahrung war Benjamins Absicht; aber sie mußte zu einer Identifizierung von Rausch und Politik führen, die Benjamin nicht wollen konnte. Die Entbindung der kulturellen Überlieferung von den semantischen Potentialen, die dem messianischen Zustand nicht verlorengehen dürfen, ist nicht dasselbe wie die Entbindung der politischen Herrschaft von struktureller Gewalt. In einer Theologie der Revolution liegt Benjamins Aktualität nicht.41 Seine Aktualität vielmehr zeigt sich, wenn wir nun versuchen, Benjamins Theorie der Erfahrung umgekehrt für den Historischen Materialismus »in Dienst zu nehmen«. 40 Vgl. dazu K. H. Bohrer, Die gefährdete Phantasie ..., a.a.O., insbes. S. 53£f. Ferner: B. Lypp, Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft, Frankfurt 1972. 41 Vgl. H. Salzinger, W. Benjamin - Theologe der Revolution, in: Kürbiskern, Jg. 1969, S. 629-647.
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VII Eine dialektische Theorie des Fortschritts, die der Historische Materialismus zu sein beansprucht, ist auf der Hut: was sich als Fortschritt präsentiert, kann sich bald als die Perpetuierung des vermeintlich Überwundenen zu erkennen geben. Immer mehr Theoreme der Gegenaufklärung sind deshalb der Dialektik der Aufklärung, immer mehr Elemente der Fortschrittskritik der Theorie des Fortschritts einverleibt worden - um einer Idee des Fortschritts willen, die subtil und unnachgiebig genug ist, um sich nicht blenden zu lassen vom bloßen Schein der Emanzipation. Einem freilich muß sie widersprechen: der These nämlich, daß die Emanzipation selbst verzaubert.42 Im Begriff der Ausbeutung, der die Marxsche Kritik bestimmt hat, waren Armut und Herrschaft noch eins. Die Entwicklung des Kapitalismus hat uns inzwischen gelehrt, zwischen Hunger und Unterdrückung zu differenzieren. Die Entbehrungen, denen durch die Vermehrung des Wohlstandes begegnet werden kann, sind andere als die, denen ein Wachstum nicht des gesellschaftlichen Reichtums, sondern der Freiheit abhelfen kann. Bloch hat in »Naturrecht und menschliche Würde« diese Unterscheidungen eingeführt - Differenzierungen im Begriff des Fortschritts, zu denen der Erfolg der unterm Kapitalismus entfalteten Produktivkräfte nötigt.43 Je mehr in den entwickelten Gesellschaften die Möglichkeit sich abzeichnet, Repression mit Wohlstand zu vereinbaren, also Forderungen, die sich ans ökonomische System richten, zu erfüllen, ohne daß die genuin politischen Forderungen eingelöst sein müßten, um so mehr verschiebt sich hier der Akzent von der Abschaffung des Hungers auf Emanzipation. Nun war Benjamin in der auf Marx zurückgehenden Tradition einer 42 In dieser Perspektive wird die Kritische Theorie als »moderne Sophistik« gesehen, beispielsweise bei R. Bubner, Was ist Kritische Theorie?, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt 1971. 43 E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt 1961: »Die Sozialutopie ging auf menschliches Glück, das Naturrecht auf menschliche Würde. Die Sozialutopie malte Verhältnisse voraus, in denen die Mühseligen und Beladenen aufhören, das Naturrecht konstruierte Verhältnisse, in denen die Erniedrigten und Beleidigten aufhören.« ebd., S. 13.
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der ersten, der ein weiteres Moment im Begriff der Ausbeutung und dem des Fortschritts herausgehoben hat: neben Hunger und Unterdrückung Versagung, neben Wohlstand und Freiheit - Glück. Benjamin sah die Glückserfahrung, die er profane Erleuchtung nannte, gebunden an die Rettung der Tradition. Der Glücksanspruch kann nur eingelöst werden, wenn die Quelle jener semantischen Potentiale nicht versiegt, die wir zur Interpretation der Welt im Lichte unserer Bedürfnisse brauchen. Die Kulturgüter sind die Beute, die die Herrschenden im Triumphzug mit sich führen; darum muß der Prozeß der Überlieferung dem Mythos entwunden werden. Nun ist zwar die Entbindung der Kultur nicht möglich ohne die Überwindung der in den Institutionen verankerten Repression; aber für einen Moment drängt sich der Verdacht auf: ob vielleicht eine glücklose und unerfüllte Emanzipation ebenso möglich sei wie der relative Wohlstand ohne Aufhebung der Repression? Keine ungefährliche, aber auch keine ganz und gar müßige Frage an der Schwelle des posthistoire, wo die symbolischen Strukturen verbraucht und durchgescheuert, ihrer imperativen Funktionen entkleidet sind. Benjamin hätte jene Frage nicht gestellt. Er hat auf dem zugleich spirituellsten und sinnlichsten Glück als einer massenhaften Erfahrung bestanden; ja, er war von der Aussicht auf die Möglichkeit des definitiven Verlustes dieser Erfahrung geradezu terrorisiert, weil er, mit einem starren Blick auf den messianischen Zustand, beobachtete, wie der Fortschritt durch den Fortschritt sukzessive um seine Erfüllung betrogen wurde. Kritik an der kautskyanischen Lesart des Fortschritts ist darum der politische Inhalt der geschichtsphilosophischen Thesen. Auch wenn man nicht für jede einzelne der drei Dimensionen geltend macht, daß Fortschritte in der Vermehrung des Wohlstands, der Erweiterung der Freiheit und der Beförderung des Glücks keine Fortschritte darstellen, solange Wohlstand, Freiheit und Glück nicht allgemein geworden sind, läßt sich für die Hierarchie der drei Dimensionen jedenfalls glaubhaft machen, daß Wohlstand ohne Freiheit kein Wohlstand und Freiheit ohne Glück keine Freiheit sind. Benjamin war tief davon durchdrungen: auch der partiellen Fortschritte können wir vor dem Jüngsten Tage nicht sicher sein. Diese emphatische Einsicht hat
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Benjamin freilich in jene Schicksalskonzeption eingewoben, derzufolge geschichtliche Veränderungen keine Veränderungen bewirken, es sei denn, sie reflektierten sich in den Ordnungen des Glücks: »Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks.« In dieser totalisierenden Perspektive werden die kumulative Entfaltung der Produktivkräfte und die gerichtete Veränderung in den Strukturen der Interaktion zu einer ununterscheidbaren Reproduktion des Immergleichen zurückgespult. Vor dem manichäischen Blick Benjamins, der Fortschritt allein an den Protuberanzen des Glücks wahrzunehmen vermochte, breitet sich die Geschichte aus wie das Kreisen eines ausgeglühten Planeten, auf den Blitze herniederzucken dann und wann. Das nötigt zur Deutung des ökonomischen und des politischen Systems in Begriffen, die eigentlich nur den kulturellen Prozessen angemenssen wären: in der Ubiquität des Schuldzusammenhangs tauchen unerkennbar jene Evolutionen unter, die, bei all ihrer fragwürdigen Partialität, nicht nur in der Dimension der Produktivkräfte und des gesellschaftlichen Reichtums statthaben, sondern sogar in der Dimension, in der die Unterscheidungen angesichts der Wucht der Repression unendlich schwierig sind: ich meine Fortschritte, gewiß prekäre und vom Rückfall permanent bedrohte, in den Produkten der Legalität, wenn nicht gar in den formalen Strukturen der Moralität. In der Melancholie der Erinnerung an das Versagte und in der Beschwörung der verlöschenden Momente des Glücks droht der historische Sinn für die profanen Fortschritte zu verkümmern. Wohl erzeugen diese Fortschritte ihre Regressionen, aber an diesen setzt ja das politische Handeln an. Benjamins Kritik des leeren Fortschritts zielt gegen einen freudlosen Reformismus, dessen Sensorium längst abgestumpft ist gegen die Differenz zwischen der verbesserten Reproduktion des Lebens und einem erfüllten Leben, sagen wir eher: einem Leben, das nicht verfehlt ist. Aber scharf wird diese Kritik nur, wenn es gelingt, jene Differenz sichtbar zu machen an den unverächtlichen Meliorisierungen des Lebens. Diese schaffen keine neuen Erinnerungen, aber sie lösen alte und verhängnisvolle auf. Die Schritt für Schritt vorgenommenen Negationen der Armut und selbst der Unterdrükkung sind, das ist zuzugeben, eigentümlich spurenlos: sie erleich-
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tern, aber sie erfüllen nicht, denn nur die erinnerte Erleichterung wäre Vorstufe zur Erfüllung. Angesichts dieses Umstandes gibt es indessen zwei überanstrengte Positionen. Die auf pessimistische Anthropologien gestützte Gegenaufklärung gibt zu wissen vor, daß die utopischen Bilder der Erfüllung lebensdienliche Fiktionen einer endlichen Kreatur sind, die ihr bloßes Leben zum guten niemals wird transzendieren können. Die dialektische Theorie des Fortschritts andererseits ist sich der Prognose sehr sicher, daß eine gelingende Emanzipation auch Erfüllung bedeutet. Benjamins Theorie der Erfahrung könnte, wenn sie nicht Kutte, sondern Kern des Historischen Materialismus wäre, der einen Position begründete Hoffnung, der anderen einen prophylaktischen Zweifel entgegensetzen. Hier ist die Rede nur vom Zweifel, von dem Zweifel, den Benjamins semantischer Materialismus nahelegt: dürfen wir die Möglichkeit einer bedeutungslosen Emanzipation ausschließen? Emanzipation heißt in den komplexen Gesellschaften partizipatorische Umformung administrativer Entscheidungsstrukturen. Könnte eines Tages ein emanzipiertes Menschengeschlecht in den erweiterten Spielräumen diskursiver Willensbildung sich gegenübertreten und doch des Lichtes beraubt sein, in dem es sein Leben als ein gutes zu interpretieren fähig ist? Die Rache einer für die Legitimation von Herrschaft über die Jahrtausende ausgebeuteten Kultur bestünde dann, im Augenblick der Überwindung uralter Repressionen, darin, daß sie keine Gewalt, aber auch keinen Gehalt mehr hätte; ohne die Zufuhr jener semantischen Energien, denen Benjamins rettende Kritik galt, müßten die endlich folgenreich durchgesetzten Strukturen des praktischen Diskurses veröden. Benjamin ist nahe daran, der Gegenaufklärung auch noch den Vorwurf der leeren Reflexion für eine Theorie des Fortschritts zu entwinden. Wer darin Benjamins Aktualität sucht, setzt sich freilich dem Einwand aus, daß den emanzipatorischen Anstrengungen im Anblick einer unerschütterten politischen Realität nicht leichtfertig weitere Hypotheken, und seien sie noch so sublim, aufgebürdet werden sollten - first things first. Ich meine freilich, daß ein differenzierter Begriff des Fortschritts eine Perspektive schafft, die nicht einfach den Mut hemmt, sondern das politische Handeln
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treffsicherer machen kann. Denn unter historischen Umständen, die den Gedanken an Revolution verbieten und die Erwartung lange anhaltender umwälzender Prozesse nahelegen, muß sich auch die Vorstellung von der Revolution als dem Bildungsprozeß einer neuen Subjektivität wandeln. Dazu mag Benjamins konservativrevolutionäre Hermeneutik, die die Geschichte der Kultur unter dem Aspekt der Rettung für den Umsturz entziffert, einen Weg weisen. Eine Theorie der sprachlichen Kommunikation, die Benjamins Einsichten in eine materialistische Theorie der sozialen Evolution zurückbringt, müßte zwei Sätze Benjamins zusammendenken. Ich meine die Behauptung, »daß es eine in dem Grade gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft gibt, daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: die eigentliche Sphäre der Verständigung, die Sprache«. (A. S. Bd. 2, S. 55) Und ich meine die Warnung, die dazugehört: »Pessimismus auf der ganzen Linie! Jawohl und durchaus ... vor allem aber Mißtrauen, Mißtrauen und Mißtrauen in alle Verständigung zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen. Und unbegrenztes Vertrauen allein in I. G. Farben und die friedliche Vervollkommnung der Luftwaffe.« (ebd., S. 214)
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15. Gershom Scholem Die verkleidete Tora (1978) Lieber, hochverehrter Herr Scholem, auf Einladung der deutschen Botschaft kommen wir, Bürger der Bundesrepublik Deutschland, nach Israel, um Sie zu feiern. Auch wenn wir uns auf das freundliche Einverständnis des Jubilars stützen dürfen, können wir der delikaten Frage nicht ausweichen, was uns zu diesem Schritt eigentlich berechtigt. Wer würde auf den Gedanken kommen, ein ähnliches Aufgebot, sagen wir: zum 80. Geburtstag von Jean-Paul Sartre nach Paris zu entsenden? Wenn wir in Scholems Fall, ohne Anmaßung, ein Gratulationsrecht besonderer Art in Anspruch nehmen, dann kann sich das nur auf eine einfache Tatsache gründen. Heute besitzen wir, ich scheue nicht die possessive Wendung, neun Bücher, die Scholem in deutscher Sprache geschrieben hat; die Meisterschaft der makellosen wissenschaftlichen Prosa beweist, daß ihr Autor in diese Sprache hineingeboren worden ist. Eine einfache Tatsache wäre dies freilich nur, wenn die Gemeinsamkeit der Muttersprache bedeuten würde, daß wir dieselbe Kultur teilen, dieselben Traditionen und dieselben historischen Erfahrungen. Nun hatten Juden und Deutsche ein Stück Geschichte gemeinsam. Aber sie haben die Risiken, den Schmerz und die Opfer weniger geteilt als aufgeteilt, aufgeteilt in sehr ungleicher Weise, und dies schon lange bevor die physische Gewalt der einen gegen die anderen jeden Gedanken an Gemeinsamkeit ausgelöscht hat. Das haben Sie, Herr Scholem, mir, das haben Sie uns klargemacht. Lassen Sie mich einen Augenblick von »uns«, d.h. von der Generation sprechen, deren geistige Entwicklung nach dem Kriege mit der Erinnerung an die Katastrophe eingesetzt hat. Für uns war Ihre Rede von 1966, in der Sie die tiefen Asymmetrien in den deutsch-jüdischen Beziehungen aufgedeckt haben, ein Schock. Hatten wir nicht soeben in den besten Traditionen, den einzigen,
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die die Korruption überdauerten, Ströme jüdischer Produktivität erkannt, hatten wir diese nicht zum ersten Mal ohne Vorbehalte anerkannt? Standen wir nicht unter dem intellektuell beherrschenden Einfluß eines Marx, Freud, Kafka? Waren wir nicht von denen als Schüler akzeptiert worden, die wie Bloch, Horkheimer, Adorno, Plessner und Löwith aus der Emigration zurückgekehrt waren? Hatten wir nicht, dank Adornos, dank Ihrer Hilfe Walter Benjamin entdeckt? Und das war nur der dramatischste Fall. Andere Linien führten zu Hannah Arendt, Norbert Elias, Erik H. Erikson, Herbert Marcuse, Alfred Schütz, führten zurück zu Karl Kraus, zu Franz Rosenzweig, zu Georg Simmel, zu den FreudoMarxisten der zwanziger Jahre. Mir war, zu alledem, ein merkwürdiges Buch über die Hauptströmungen der jüdischen Mystik1 in die Hände gefallen, das mich mit Verwandtschaftsbeziehungen zwischen der Theosophie Jakob Böhmes und der Lehre eines Mannes namens Isaak Luria überraschte. Hinter Schellings Weltaltern und Hegels Logik, hinter Baader standen also nicht nur, wie wir es gelernt hatten, die schwäbischen Geistesahnen, nicht nur Pietismus und protestantische Mystik, sondern, vermittelt durch Knorr von Rosenroth, jene Version der Kabbala, in deren antinomistischen Konsequenzen deutlicher als irgendwo sonst die Denkfiguren und Antriebe der großen dialektischen Philosophie vorausgedacht worden waren. Scholem hieß der Autor, der mir diese Einsichten eröffnet hat2; und von diesem Scholem lasen wir dann einige Jahre später, daß die Assimilation der Juden an die deutsche Kultur, der wir doch das alles zu verdanken hatten, ein »von Anbeginn falscher Start« gewesen sei: »Die Emanzipation brachte die entschlossene Verleugnung der jüdischen Nationalität als eines Partners in [der deutsch-jüdischen] Auseinandersetzung mit sich, eine Verleugnung, die ebensosehr von den Deutschen gefordert wie von der Avantgarde der Juden ... zugestanden wurde.«3 1 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, Frankfurt a. M. 1967. 2 Vgl. meinen Aufsatz über Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus - Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Kontraktion Gottes, in: Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1971, S. 172227. 3 Gershom Scholem, Judaica II, Frankfurt a. M. 1970, S. 25.
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Bei dieser Wahrheit verspüre ich noch heute eine Reaktion der Abwehr, aber es ist eine Wahrheit, und zwar die historische Wahrheit, aus der Ihr Lebenswerk seine Berechtigung zieht. Heute glaube ich, beide Seiten zu sehen. Nachdem alles vorüber war, ist eine letzte Generation von jüdischen Gelehrten, Philosophen, Schriftstellern, Künstlern zurückgekehrt und hat eine intellektuelle Wirkung in Deutschland entfaltet wie kaum je zuvor. Auf diese deutsch-jüdischen Traditionen erwerben wir, auch und gerade nach Auschwitz, in dem Maße ein Recht, wie es uns gelingt, sie produktiv fortzusetzen, sie so zu benützen, daß wir den an Marx, an Freud, an Kafka geschulten Blick der Exilierten auf uns selber richten, um die entfremdeten, die verdrängten, die erstarrten Anteile als etwas vom Leben Abgespaltenes zu identifizieren. Dies ist die Zukunft der zur Vergangenheit gewordenen Assimilation des deutsch-jüdischen Geistes. Die Zukunft aber, für die Sie, Herr Scholem, einstehen, ist eine andere. In Johann Peter Hebel finden Sie die große Ausnahme, denjenigen, der den Juden als Juden gelten ließ, der »am Juden gesehen [hat], was er zu geben und nicht, was er aufzugeben hatte«.4 Es gehört zu Ihren tiefsten Überzeugungen, daß die Symmetrie von Geben und Nehmen allein hergestellt werden konnte durch die Rückwendung des jüdischen Geistes und der jüdischen Nation zur eigenen Geschichte. So haben Sie alles darangesetzt, daß heute die Welt der jüdischen Mystik, Schätze also, die die Juden aus Eigenem zu vergeben haben, aus dunklen Quellen geborgen sind und vor aller Augen ausgebreitet daliegen. Damit haben Sie die Situation des Gebens und des Nehmens geklärt. Meine Aufgabe ist es darum, nicht, wie das Protokoll es vorsieht, eine Lobrede zu halten, sondern eine Rede des Dankes. Wer Dank sagt, muß sagen können, wofür er sich bedankt. Das will ich versuchen, aber die Aufgabe ist gar nicht so einfach. Die Transparenz von Scholems gelehrter Rede ist nämlich durchsichtig nur auf den ersten Blick; seine historisch-philologische Darstellung hat viele Schichten. Ich bin unfähig, den Philologen und Historiker Scholem zu würdigen; aber wer sich in Scholems Schriften vertieft, bemerkt hinter dem Wissenschaftler andere Sorten von Philologen: 4 Scholem, Judaica II, S. 40.
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den Liebhaber, den Entdecker, den kämpferischen Zionisten, und schließlich den Philologen, der über seinem Gegenstand zum Theoretiker wird. Man muß Sie nicht, Herr Scholem, zu Ackermann begleitet haben, zu dem Antiquariat, an dem seit mehr als fünfzig Jahren keiner Ihrer Besuche in München vorbeiführt, um in Ihnen den philologischen Liebhaber zu erkennen. Aus dem achtzigjährigen Scholem spricht der schiere Büchernarr, wenn er sich daran erinnert, wie er als Siebzehnjähriger an einem Karren neben der Berliner Universität Lichtenbergs Satire auf Lavaters Bekehrungsversuch an Moses Mendelssohn für fünfzig Pfennig erstanden hat, um schmunzelnd hinzuzufügen: im vergangenen Jahr sei ein Exemplar dieser Schrift für fünfzehnhundert DM angeboten worden. 5 Ferner bricht die Leidenschaft des philologischen Entdeckers durch, wenn Scholem sich an jenen Handschriftenfund des Jahres 1938 im New Yorker jüdisch-theologischen Seminar erinnert, mit dem er ein generationenaltes Rätsel der Reuchlin-Forschung aufklären konnte: »Es war eine wahre Feierstunde für mich, als ich auf diese Blätter blickte, die so gut wie sämtliche Zitate in Reuchlins Werk in sich schlössen.«6 Man hatte bis dahin nicht gewußt, wie Reuchlin an die vielen, oft falsch zitierten Kabbala-Quellen herangekommen war. Damit Scholem in der Tradition der Wissenschaft vom Judentum zum Entdecker, zum vorurteilslosen Erforscher der Symbolwelt der jüdischen Mystik werden konnte, bedurfte es allerdings eines weiteren Impulses. In der unermüdlichen Anstrengung dieses großen Philologen stekken der intellektuelle Antrieb, die historische Erfahrung und die Sensibilität der jugendbewegten Generation vor dem Ersten Weltkrieg. Die Wendung, die Scholem der Kabbala-Forschung gegeben hat, ist von dem Bewußtsein, welches die zionistische Bewegung in ihm geweckt hat, inspiriert. Er selbst sieht die Erschließung der jüdischen Mystik als Teil dieser »auf die Wiedergeburt des jüdischen Volkes ... gerichteten Bewegung, durch die auch eine neue Sicht der jüdischen Geschichte möglich wurde«.7 5 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt a. M. 1977, S. 69. 6 Gershom Scholem, Judaica III, Frankfurt a. M. 1973, S. 252. 7 Scholem, Judaica III, S. 261.
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Noch mehr als der unbestechliche Wissenschaftler, der närrische Liebhaber, der leidenschaftliche Entdecker, mehr als der geschichtsbewußte Volkserzieher fasziniert mich aber der Theoretiker, der Scholem gar nicht sein will und der sich hinter vielen philologischen Mauern verschanzt. Philologen müssen auch die Gegenstände, von denen ein Text handelt, verstehen, sonst können sie ihren Text nicht verständlich machen. Je mehr diese Gegenstände dem Alltagsbewußtsein entrückt sind, um so weniger kann das philologische Handwerk bloß instrumentell ausgeübt werden, um so mehr muß der Philologe auch ein Experte seines Gegenstandsbereichs werden. So sind die großen Philologen und Historiker der Geisteswissenschaften immer auch ein Stück Jurist, Theologe oder Philosoph geworden. Wie aber verhält sich der Philologe, der es mit mystischen Texten zu tun hat? Er muß eine doppelte Distanz überbrücken. Schon die Texte selbst drücken ja eine Art Ironie aus, auf die die Romantiker, bis hin zu Kierkegaard, reflektiert haben: diese Texte sollen das Unaussprechliche aussprechen, sollen mitteilen, was als nicht mitteilbar gilt. Diese Distanz ließe sich noch überwinden, wenn der Interpret dieser indirekten Mitteilungen zum religiösen Experten, wenn er zum Mystiker werden könnte. Aber das steht nicht zu seiner Disposition, auch Scholem ist nicht selber Mystiker. Darum muß sich hier der Philologe dem Gegenstand über eine Theorie des Gegenstandes nähern. Die theoretische Aneignung des Gehaltes mystischer Überlieferungen ist die einzige Brücke, über die die Philologie der Mystik, wenn sie irgend etwas verstehen und verständlich machen will, gehen muß. Soweit ich seine Schriften überblicke, hat Scholem freilich nur ein einziges Mal als Theoretiker gesprochen, unter einem Titel übrigens, der das schlechte historisch-philologische Gewissen verrät; ich meine die »Zehn unhistorischen Sätze über Kabbala«.8 Dieser kurze Text unterscheidet sich von Scholems anderen Schriften dadurch, daß die cartesische Klarheit der Sprache dialektischer Begrifflichkeit, fast dialektischen Bildern weicht. Scholem bedient sich an dieser einen Stelle jener Diktion enthüllender Rätselhaftig8 Scholem, Judaica III, S. 264 ff.
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keit, die er an seinem Freund Benjamin bewundert hat. Der Text beginnt mit dem Hinweis auf das Ironische, das der Philologie einer mystischen Disziplin wie der Kabbala anhaftet: »Bleibt in ihm, dem Philologen, sichtbar etwas vom Gesetz der Sache selbst oder verschwindet gerade das Wesentliche in dieser Projektion des Historischen?« Die Antwort ist zweideutig. Erst eine verfallende Tradition kann zum Gegenstand der Philologie werden und bedarf ihrer; aber auch die Größe einer Tradition wird erst durch das Medium der vergegenständlichenden Aneignung sichtbar - »echte Tradition bleibt verborgen«. In den neun Abschnitten, die auf diesen ersten folgen, nennt Scholem alle theoretischen Motive, die man in seinen materialen Arbeiten als systematische Gelenke der Interpretation wiederfindet. Lassen Sie mich wenigstens zwei dieser Motive, ein erkenntnistheoretisches und ein geschichtsphilosophisches, hervorheben. Das erste Motiv wird durch die Begriffe Offenbarung, Tradition, Lehre umschrieben. Einen Ausgangspunkt bietet die rabbinische Parabel, daß die heiligen Schriften einem großen Haus mit vielen Gemächern gleichen, und vor jedem Gemach liegt ein Schlüssel aber es ist nicht der richtige. Alle Schlüssel sind vertauscht. 9 Tradition wird hier in ein kafkaeskes Licht getaucht. Denn was heißt Tradition? Zunächst einmal: Lehre. Die Lehre des prophetischen Wortes ist jenes Medium der Wissensvermittlung, das mit den großen Weltreligionen entstanden ist. Das rabbinische Judentum hat die Praxis der Lehre, die Exegese heiliger Schriften zu einer Hochform stilisiert. In dieser Form hatte sie noch der sechzigjährige Scholem kennengelernt, als er bei dem Rabbiner Isaak Bleichrode seine hebräischen Studien aufnahm und »den Talmud lernte«.10 Aber war das noch Lehre, noch Tradition in einem ungebrochenen Sinne? Im 19. Jahrhundert hatten sich die Geisteswissenschaften entwikkelt. Ein zweideutiges Produkt der Aufklärung, bildeten sie die modernen Schleusen, durch die die Ströme der Tradition gebrochen wurden. Die Struktur der Überlieferung war hermeneutisch zu 9 Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M. 1973, S.22. 10 Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S. 63. 382
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Bewußtsein gebracht, Tradition und Lehre war als dogmatische Form des Denkens durchschaut worden. Andererseits lag es im Interesse der Geisteswissenschaften, daß sich jene Traditionen, die sie wie immer reflexiv doch auch fortsetzten, nicht in pure Meinungen auflösten. So bewegten sie sich in jener merkwürdigen Ambivalenz zwischen der Erhellung von Dokumenten, aus denen wir noch Lebenswichtiges lernen können, und der Entzauberung ihres dogmatischen Geltungsanspruches. Diese Ambivalenz beunruhigt eine an ihren Gegenständen Anteil nehmende Philologie bis auf den heutigen Tag. Von Schleiermacher bis Gadamer versucht die philosophische Hermeneutik damit fertig zu werden, indem sie das, was die geisteswissenschaftliche Methodik zugleich ermöglicht und vernichtet, nämlich die Aneignung von Tradition, zusammenhalten möchte!11 Dieses selbe Problem stellt sich auch für Scholem; aber er zeigt sich nicht beunruhigt. Er nämlich kann dem Problem des Historismus, von dem ich hier spreche, mit einem an der Kabbala geschulten und geschärften Begriff der Tradition begegnen. Lassen Sie mich das erklären. Der Mystiker, der sich auf Erleuchtungen, und das heißt auf einen unmittelbaren, intuitiven Zugang zum göttlichen Lebensprozeß beruft, ist der geborene Konkurrent zu den bestellten Verwaltern des authentischen göttlichen Wortes, zur Priesterschaft - auch wenn die jüdische Mystik bis ins 17. Jahrhundert als rechtgläubig aufgetreten und überwiegend als konservative Kraft wirksam gewesen ist. Die Kabbalisten haben ein natürliches Interesse daran, die mündliche Tora gegenüber der Bibel aufzuwerten; sie verleihen den Kommentaren, mit denen sich jede Generation von neuem die Offenbarung aneignet, einen hohen Rang. Sie identifizieren die Offenbarung nicht länger mit der schriftlichen Tora. Für sie ist die Wahrheit nicht fixiert, nicht in einer wohlumschriebenen Menge von Aussagen positiv ausgedrückt, so daß sich Überlieferung in einer möglichst getreuen Reproduktion erschöpfen könnte. Als Offenbarung gilt vielmehr der Prozeß der Überlieferung selber, die Offenbarung ist auf den schöpferischen Kommentar angewiesen. Die schriftliche Tora wird durch die mündliche erst vollständig; die 11 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960.
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Stimme Gottes spricht durch den Interpretationsstreit der Schriftgelehrten aller Generationen, bis zum Jüngsten Tage.12 Mit diesem Streit würde die göttliche Quelle selbst versiegen. Später wird diese kabbalistische Auffassung noch einmal radikalisiert. Schon die schriftliche Tora gilt nun als eine Übersetzung des göttlichen Wortes in die Sprache der Menschen, schon sie ist eine bloße und bestreitbare Interpretation. Alles ist mündliche Tora; die schriftliche ist ein mystischer Begriff, der auf den messianischen Zustand einer künftigen Erkenntnis verweist.13 Wir wissen von der Offenbarung, aber alle Schlüssel zu ihr sind vertauscht. Um diesen Punkt, den die jüdische Mystik unter vielen Symbolen und Gleichnissen variiert, kreist Scholems Denken beharrlich. 14 Hier scheint er die Auflösung für das Problem zu suchen, wie die Fehlbarkeit der menschlichen Erkenntnis, wie die historische Vielfalt der Interpretationen mit dem unbedingten und universalen Anspruch auf Wahrheit vereinbart werden kann. Die Tora wendet in der überquellenden Fülle ihres Sinns jeder Generation, sogar jedem Einzelnen ein anderes Gesicht zu und ist doch dieselbe. Die Tora vom Baume der Erkenntnis ist eine verhüllte Tora. Sie wechselt ihre Kleider, und diese Kleider sind die Tradition. Erst im Stande der Erlösung, wenn Theorie und Praxis, der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens vereinigt sind, tritt die Tora unverhüllt ans Licht. Erst in diesem Licht wird die Mannigfaltigkeit der widerstreitenden Interpretationen ihre verborgene Einheit zu erkennen geben. Der mystische Begriff der Tradition deckt also einen messianischen Begriff der Wahrheit, der sich dem Historismus gewachsen zeigt. Die Dimension der Zeit, die Jahrhunderte, über die das Lehrgespräch nicht abreißt, und die auf den Fluchtpunkt eines schließlich erzielten Konsensus gerichtet sind (»in the long run« heiß die säkularisierte Formel bei Peirce), erlaubt es, die Fehlbarkeit des Erkenntnis^roze5ses mit der Aussicht auf Unbedingtheit der Erkenntnis selbst zu versöhnen. 12 Gershom Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1970, S. 9off. 13 Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 71 ff. 14 Judaica III, S. 67ff., S. i87ff., S. 265 t; Grundbegriffe, S. 90-120; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 46ff., S. 5off.
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Aus dieser Perspektive verlieren auch die objektivierenden Geisteswissenschaften den Schrecken der Relativierung aller Geltungsansprüche. Wie menschliche Erkenntnis überhaupt, so teilen auch sie mit den Traditionen, die sie aneignen, den zwiespältigen Status einer verkleideten Tora, welche die Funken der Wahrheit birgt, ohne das Licht der Gewißheit zu gewähren, bevor der Jüngste Tag anbricht. Freilich rechnet diese Theorie der Wahrheit mit einem nicht nur rückwärts gewandten Begriff von Tradition. Tradition gilt nicht mehr als die Fortschreibung und Erneuerung des alten Wahren; wie in der mystischen Erleuchtung kann die Wahrheit in die Tradition einbrechen und die Kontinuität der Überlieferung aufsprengen. Tradition gründet nicht in einer unzweideutig offenbaren Erkenntnis, sondern in einer Idee des Erkennens, deren messianische Einlösung noch aussteht; deshalb lebt sie von der Spannung ihrer konservativen und ihrer utopischen Gehalte. Dieser Traditionsbegriff nimmt Revolutionen nicht weniger in sich auf als Restaurationen; er streift dem, was wir einmal Tradition genannt haben, den dogmatischen Charakter ab. Hier greifen das erkenntnistheoretische und das geschichtsphilosophische Motiv ineinander. Wie der Komplex Erkenntnis, Tradition, Lehre, so kann der Gedanke von der schöpferischen Kraft der Negation, der Selbstnegation Gottes als ein weiteres Beispiel für den systematischen Ertrag einer »unhistorischen« Lesart der Kabbala dienen. Unter Scholems »Zehn unhistorischen Sätzen« findet sich auch der folgende: »Die materialistische Sprache der Lurianischen Kabbala, besonders in ihrer Deduktion des Zimzum (der Selbstverschränkung Gottes), legt den Gedanken nahe, ob die Symbolik, die sich solcher Bilder und Reden bedient, nicht etwa auch die Sache selbst sein könnte.«15 Während Schöpfungsvorgänge im Bereich des mythischen, aber auch des metaphysischen Denkens stets als eine Schöpfung aus Etwas, aus dem Chaos oder aus einer der schöpferischen Prinzipien vorausliegenden Materie gedacht worden sind, kommt mit der jüdisch-christlichen Formel von der Creatio ex nihilo ein radikal 15 Scholem, Judaica III, S. 266.
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neuer Gedanke zum Zuge: das Nichts, aus dem der absolute Wille die Welt schafft, darf nicht länger als eine Potenz außerhalb der Schöpfermacht vorgestellt werden. Gerade das mystische Denken, das sich in den göttlichen Lebensprozeß versenkt, beißt sich an dieser Formel fest.16 An das Konzept, daß Gott in seine eigenen Urgründe hinabsteigt, um sich selber aus ihnen zu schaffen, kann Isaak Luria (wie auch Jakob Böhme) anknüpfen, um die Schöpfung aus dem Nichts nach dem dialektischen Bild eines Gottes zu denken, der sich zusammenzieht oder kontrahiert, womit er in sich selbst einen Abgrund erzeugt, in den er herabsteigt, in den er sich zurückzieht und so den Raum erst freigibt, den die Kreaturen einnehmen werden. Der erste Akt der Schöpfung ist eine Selbstnegation, durch die Gott sozusagen das Nichts hervorruft - eine Lehre, die sich in strikten Gegensatz zu den aus dem Neuplatonismus stammenden Emanationsvorstellungen setzt. Dieses Modell bietet die einzig konsequente Lösung des Theodizeeproblems: »Eine vollkommene Welt kann nicht erschaffen werden, weil sie dann Gott selber wäre, der sich nicht verdoppeln, sondern eben nur einschränken kann. Die Naivität, die von Gott erwartet, sich selbst zu wiederholen, liegt dem Kabbalisten fern. Gerade weil Gott sich niemals wiederholen kann, muß eine Schöpfung dieser - ich möchte hegelisch sagen - Entfremdung unterliegen, in der sie, um sie selber zu sein, das Böse aus sich herausstellen muß.«17 Die Selbstverschränkung Gottes ist die archetypische Form des Exils, der Selbstverbannung, die erklärt, »warum alles Sein von jenem Urakt an ein Sein im Exil ist und der Rückführung und Erlösung bedarf«.18 Von dieser Konzeption des Abgrundes oder der Materie oder des Zorns, wohinein ein Gott sich in seinem wörtlich verstandenen Egoismus zurückzieht, führen verschiedene Linien über Schelling und Hegel zu Marx. Eine erste Linie endet in der materialistischen Naturdialektik: denn schon für den lurianischen Mystiker bedeutet die immerwährende Schöpfung, daß sich die Kontraktion Gottes in jedem Naturvorgang erneuert, daß sich 16 Scholem, Grundbegriffe, S. 5 3 ff. 17 Gershom Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, Frankfurt a. M. 1977, S. 79. 18 Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 151.
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in jedem Lebensprozeß die Berührung mit dem Nichts wiederholt. Eine weitere Linie führt zur revolutionären Geschichtstheorie, eine dritte zum Nihilismus einer nachrevolutionären Aufklärung. Mit diesen beiden letzten Motiven hat sich Scholem intensiv beschäftigt.19 Es liegt auf der Hand, daß ein Gott, der sich selbst verbannt, die historischen Erfahrungen des Exils mit schwerer Bedeutung auflädt. Und zwar mit einer apokalyptischen Bedeutung dort, wo die Gewalt des Negativen, das Leiden an den Katastrophen der Vertreibung, der Unterdrückung und der Isolierung, schon als Anzeichen für die schöpferische Kraft des Negativen, für eine Wende zum Guten gedeutet wurden. Das Hölderlinsche Wort von der größten Gefahr, in der das Rettende wächst, ist hier vorweggenommen. Wenn sogar die Schöpfung mit einer Selbstexilierung Gottes beginnt, dann bedeutet der Augenblick der größten Katastrophe einen Hinweis auf die Chance der Erlösung: »Wenn Ihr auf die unterste Stufe gesunken seid, in der Stunde erlöse ich Euch.«20 Freilich hat die Gedankenwelt des Isaak Luria weniger die apokalyptischen Vorstellungen der Spontaneität und Unberechenbarkeit der Erlösung gestützt als vielmehr den Messianismus derer, die die Erlösung »bedrängen« wollten. Der Akt der Selbstverbannung bedeutet ja auch, daß sich Gott zurückzieht und anderen einen Bereich der Freiheit und der Verantwortung einräumt. Sein Rückzug ist die Bedingung für die Katastrophen, die mit dem »Bruch der Gefäße« schon im göttlichen Lebensprozeß selber einsetzen, und die sich, mit Adams Fall, erst recht in der Geschichte der Völker wiederholen. Ja, Gott hat sich so weit zurückgezogen, daß die Rückführung der Dinge an ihren ursprünglichen Ort dem Menschen überantwortet ist. Wie jede Sünde den Urvorgang der göttlichen Selbstverbannung wiederholt, so trägt jede gute Tat zur Heimführung der Verbannten bei: »Das Kommen des Messias bedeutet für Luria nicht mehr als die Unterschrift unter ein Dokument, das wir selber schreiben.«21 Der Mystik war der 19 Grundbegriffe, S. 84ff.; Judaica III, S. 198-217; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 135ff.; Von der mystischen Gestak der Gottheit, S. 77ff. 20 Scholem, Grundbegriffe, S. 135. 21 Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 156f.
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Gedanke einer magischen Kraft der Kontemplation, welche Bewegungen im Herzen der Gottheit erzwingen und im Innersten der Welt den Prozeß der Wiederaufrichtung der gefallenen Natur vorbereiten kann, immer schon vertraut. Die spätere Kabbala wendet diese innere Bewegung ins Äußere, in einen messianischen Aktionismus, der schließlich den profaneren Sinn einer politischen Befreiung aus dem Exil erhält. Vom frühen Marx bis zu Bloch und dem späten Benjamin heißt es dann: keine Resurrektion der Natur ohne Revolutionierung der Gesellschaft. Sabbatai Zwi und Nathan Gaza, sein Prophet, haben nun aber von diesen Ideen nicht nur einen messianischen, sondern einen antinomistischen Gebrauch gemacht.22 Sabbatei Zwi wurde vom Sultan vor die Wahl gestellt, das Martyrium zu erleiden oder zum Islam überzutreten. Er entschloß sich zur Apostasie, und dieser Abfall des Messias wurde, nach dem Vorbild des Zimzum, als schöpferischer Akt des Abstiegs ins Dunkle verstanden und gerechtfertigt. Der Abfall ist tragischer Bestandteil der Mission, die die Macht des Widergöttlichen aus dessen innerstem Bereich heraus überwinden soll. Scholem hat die nihilistischen Konsequenzen dieser Lehre an den frankistischen Sekten studiert. Er hat die Erscheinungen des religiösen Nihilismus durch die Geschichte der Ketzer über Taboriten und Adamiten, über Beginen und Begarden, die Brüder und Schwestern vom freien Geist bis zu frühen gnostischen Sekten zurückverfolgt.23 Sie alle wollten durch eine gesetzesbrecherische Praxis den wahren, messianischen Sinn des Gesetzes erfüllen. Das Modell vom Abstieg Gottes in den Abgrund deckte im häretischen Messianismus der Sabbatianer ungeheure Visionen von der erlösenden Kraft des Subversiven, deckte die zugehörigen Rituale, die die Kraft der Negation im Vollzug von gleichzeitig zerstörerischen und befreienden Handlungen manifestieren sollten. Wenn man Scholems Darstellung des religiösen Nihilismus im 18. Jahrhundert heute liest, drängen sich Parallelen auf, die man freilich nur sehr vorsichtig ziehen darf. Scholem betont und belegt an biographischen Beispielen die Tendenz zum Umschlagen der 22 Scholem, Hauptströmungen, S. 315-355. 23 Gershom Scholem, Der Nihilismus als religiöses Phänomen, in: Eranos-Jahrbuch 1974, Leiden 1977, S. 1-50.
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Mystik in Aufklärung. Der Nihilismus eines Jakob Frank scheint die jüdische Mystik auf einen Punkt zu treiben, wo die religiöse Hülle von innen aufgesprengt wird, so daß sich die tieferen Impulse mit den neuen Ideen der Französischen Revolution verbinden können. Diese Umsetzung religiöser Gehalte in politische ist freilich so oft ohne spezifische Vermittlung zustande gekommen, daß man sich fragt, ob nicht der Antinomismus seinerseits schon auf den Verfall des Religiösen reagiert, ähnlich wie der Surrealismus auf den Verfall der auratischen Kunst in der Moderne. Wir kennen Benjamins Interesse für den Surrealismus; gab es Parallelen zu Scholems Interesse für den Antinomismus? Die Fälle des religiösen und, wenn man so will, des künstlerischen Nihilismus ähneln sich darin, daß der eigentliche Gehalt der Religion, der eigentliche Gehalt der Kunst, die Substanz dieser Wertsphären (wie Max Weber sagte) im Augenblick ihres Zerfalls durch radikale Aufhebung oder Destruktion gerettet werden sollte. Das erklärt den Showcharakter der sich selbst konsumierenden Handlungen und den Schock, auf den sie abzielten. Ähnliche Züge zeigt übrigens eine aktuelle Spielart des Terrorismus, der, von den Beteiligten aus gesehen, darauf gerichtet sein könnte, den wahren Gehalt der Revolution durch schockierende Schaustellungen purer Destruktion in dem Augenblick zu retten, wo in den entwickelten Ländern Revolution kaum noch möglich ist, wo der moderne Staat und diejenige revolutionäre Praxis, die ihm entspricht, zerfallen, jedenfalls einer schwer abzuschätzenden Transformation unterliegen. Ich habe nur diese beiden Motive, das erkenntnistheoretische und das geschichtsphilosophische, aus Scholems verzweigtem Denken herausgezogen. Beide wirken sich aus auf seine Einschätzung des Zionismus und des Judentums heute. Die politische und geistige Energie von vielen Generationen jüdischer Intellektueller hat sich niedergeschlagen in den universalistischen Werten der Emanzipationsbewegungen, der bürgerlichen wie der sozialistischen. Demgegenüber besteht Scholem darauf, daß dieser Universalismus einer Verkörperung bedarf. Er preist am Zionismus, daß er keine messianische Bewegung ist, sondern mit den Beschränkungen der histo-
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risch-politischen Existenz rechnet. Andererseits identifiziert Scholem das Judentum ebensowenig mit der politischen Gestalt Israels wie mit der Traditionsgestalt seiner religiösen Überlieferung. Er sieht in ihm in erster Linie ein moralisches Anliegen, ein geschichtliches Projekt, das nicht ein für allemal definiert werden kann. Das Judentum ist ein spirituelles Unternehmen; es lebt aus religiösen Ursprüngen, aber es vermag auch deren Säkularisierung zu überleben. Dieser Begriff des Judentums ist vage. Er bezieht sich auf eine geschichtliche Partikularität. Und doch drückt sich darin ein allgemeineres Problem aus: Wie kann, unter Bedingungen der Moderne, ein Volk seine Identität wahren? Sie sind, Herr Scholem, 1970 in einem Interview nach der Bedeutung gefragt worden, die das kabbalistische Denken für das Judentum heute haben könne. Seinerzeit haben Sie bezweifelt, daß die Kabbala noch eine vitale Antwort auf unsere Situation findet. Gleichzeitig haben Sie sich aber in Ihrer Antwort einer kabbalistischen Denkfigur bedient: »Good will appear as non-God. All the divine and symbolic things can also appear in the garb of atheistic mysticism.« Nachdem die Autorität der Stimme, die da sagt: »Ich bin der Herr, Dein Gott« nicht mehr fraglos gilt, bleibt allein eine ihrem Begriffe nach verwandelte Tradition, die kein Verbrechen kennt außer einem: ein Verbrechen begeht, wer das lebendige Band zwischen den Generationen zerschneidet. Unter den modernen Gesellschaften wird nur diejenige, die wesentliche Gehalte ihrer religiösen, über das bloß Humane hinausweisenden Überlieferung in die Bezirke der Profanität einbringen kann, auch die Substanz des Humanen retten können. Für das Judentum, für Israel stellt Scholem die Frage der Identität so: »Die brennende Landschaft der Erlösung hat den historischen Blick des Judentums wie in einem Brennpunkt auf sich gesammelt. Es ist kein Wunder, daß die Bereitschaft zum unwiderruflichen Einsatz aufs Konkrete, das sich nicht mehr vertrösten will, eine aus Grauen und Untergang geborene Bereitschaft, die die jüdische Geschichte erst in unserer Generation gefunden hat, als sie den utopischen Rückzug auf Zion antrat, von Obertönen des Messianismus begleitet ist, ohne doch - der Geschichte selber und nicht einer Metageschichte verschworen - sich ihm verschreiben zu
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können. Ob sie diesen Einsatz aushält, ohne in der Krise des messianischen Anspruchs, den sie damit mindestens virtuell heraufbeschwört, unterzugehen - das ist die Frage, die aus der großen und gefährlichen Vergangenheit heraus der Jude dieser Zeit an seine Gegenwart und seine Zukunft hat.«24
24 Scholem, Grundbegriffe, S. 167.
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16. Hans Georg Gadamer Urbanisierung der Heideggerseben Provinz (1979) 1. Pfingsten 1940 hat Gadamer in Weimar eine Hegeltagung mit einem Vortrag über >Hegel und die antike Dialektik< eröffnet. Die Reaktion, die der Außenseiter im Kreise der Hegelforscher damals ausgelöst hat, muß, wenn man der immer noch halb erschrockenen Reminiszenz des 77jährigen glauben darf, nicht allzu freundlich gewesen sein: »Nun zählte ich nicht zu den Hegelianern. Aber schließlich war es nicht verboten, trotzdem etwas von Hegel zu verstehen, oder doch? ... Ich erholte mich von dieser seelischen Strapaze durch einen Besuch bei den Gräbern unserer großen Dichter auf dem Weimarer Friedhof.«1 Inzwischen ist Gadamer immer noch kein Hegelianer; aber er ist es, der in den 60er Jahren die Deutsche Hegel-Vereinigung ins Leben gerufen hat; er hat wichtige internationale Tagungen angeregt, auf denen Hegelspezialisten ihre Arbeiten diskutierten; und auf seine Initiative ging der Stuttgarter Hegelkongreß im Jubiläumsjahr 1970 zurück. Jener Vortrag, der bei seiner Premiere, wohl weil er Hegel zu nahe an Plato herangerückt hatte, auf Ablehnung gestoßen war, eröffnet übrigens heute ein Buch, das Gadamers Hegelstudien zusammenfaßt2; das Buch schließt mit einer Abhandlung über »Hegel und Heidegger«. Und dies sind nun in der Tat die beiden Gestirne, die Gadamers Denkweg erleuchtet haben. Als sich die Stadt Stuttgart entschloß, einen Hegel-Preis zu stiften, hat Gadamer, dessen Initiative auch hier unverkennbar war, seinen Einfluß geltend gemacht, um zu erreichen, daß Heidegger als erster den Preis erhielte. Der erste Preisträger hieß dann Bruno Snell. Diese Vorgeschichte wird das Kuratorium bedacht haben, als es dieses Mal den Preis, im Wechselspiel mit bedeutenden Geisteswissenschaftlern, wieder an einen Philosophen verliehen hat, und zwar an diesen Philosophen, der sich selbst mit der Bemerkung zu 1 H. G. Gadamer, Philosophische Lehrjahre, Frankfurt 1977, S. 115 f. 2 Hegels Dialektik, Bonn 1971.
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charakterisieren pflegt, er sei Heideggerschüler und habe das Handwerk der klassischen Philologie erlernt. Keiner könnte heute überzeugender als er den größer gewordenen Abstand zwischen Philosophie und Geisteswissenschaften überbrücken. Das Brückenschlagen kennzeichnet Mentalität und Denkstil dieses Gelehrten überhaupt: »Distinguendum, gewiß, aber mehr noch: man muß zusammensehen.«3 Diese Maxime stammt aus Gadamers Mund, aber, noch Gadamerscher formuliert, müßte sie heißen: man muß überbrücken. Nicht nur den Abstand zwischen Disziplinen, die sich voneinander entfernt haben, sondern vor allem den Zeitabstand, der die Nachgeborenen von überlieferten Texten trennt, den Abstand zwischen verschiedenen Sprachen, der die Kunst des Interpreten herausfordert, und jenen Abstand, den die Gewaltsamkeit radikalen Denkens erzeugt. Nun war Heidegger ein solcher radikaler Denker, der um sich herum eine Kluft aufgerissen hat. Gadamers große philosophische Leistung sehe ich darin, daß er diese Kluft überbrückt. Das Bild der Brücke legt freilich falsche Konnotationen nahe, erweckt den Eindruck, als gebe hier jemand pädagogische Hilfestellung beim Versuch, sich einem unzugänglichen Ort zu nähern. So meine ich es nicht. Ich würde daher lieber sagen: Gadamer urbanisiert die Heideggersche Provinz. Freilich müßte man dabei im Sinne behalten, daß wir mit >ProvinzBildungGemeinsinnUrteilskraftGeschmack< usw. zu erneuern? Einen Humanismus, der dem Erfahrungszusammenhang von Stadtbürgern entsprungen ist und dessen Bedrohung stets mit dem Zerfall von Urbanität zu tun hatte. 6 Vorwort zur 2. Auflage von > Wahrheit und Methoden XXIII.
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Gadamer ist Heidegger weiter gefolgt als die meisten; er hat die >Kehre< mitvollzogen, mit der Heidegger das transzendentale Selbstverständnis von »Sein und Zeit« revidiert hat. Hier nun ist der kurze Bericht über einen Disput aufschlußreich, den Gadamer mit Löwith hatte, als sie während der 50er Jahre ein gemeinsames Seminar über Heideggers Schrift »Vom Wesen der Wahrheit« abhielten. Löwith »hatte den jungen Heidegger für sich entdeckt und selbstverständlich auch den Rang von >Sein und Zeit< nicht verkannt. Aber die >Kehre< und die Rede vom Sein, das nicht das Sein des Seienden sein soll - das hielt er für Mythologie oder Pseudopoesie. Aber« - so verteidigt nun Gadamer den Lehrer - »es ist nicht Mythologie und nicht Poesie, sondern Denken, auch wenn die poetisierende Gleichnisrede oder gar der dichterische Versuch von der Sprachnot des neuen Denkens ein oft verwirrendes Zeugnis ablegen. Ich habe versucht, mir auf meine Weise durch Heideggers Denken gleichwohl weiterhelfen zu lassen.«7 Wenn ich recht sehe, kann Gadamer das Andenken, das die Sprachlosigkeit des Mystikers auszeichnet, nur darum so emphatisch als Denken verteidigen, weil er sich das Sein als Tradition zurechtlegt, weil er sich dem gestaltlosen Sog des schwerelosen Seins nicht überläßt, sondern, den Blick zu Hegel zurückwendend, dem massiven Traditionsstrom der objektiv gewordenen, der konkreten, an ihrem Ort und zu ihrer Zeit tatsächlich gesprochenen Worte Rechnung trägt. Ob hier ein produktives Mißverständnis vorliegt, ist vielleicht nicht so wichtig; wie könnte eine Tradition lebendig bleiben, wenn sie sich nicht über Mißverständnisse fortpflanzte? Immerhin hat den Autor von »Wahrheit und Methode«, wie das Nachwort zur dritten Auflage zeigt, ein Umstand nachdenklich gestimmt. Gadamer hat immer wieder darauf hingewiesen, daß die philosophische Hermeneutik nicht zur Wissenschaftstheorie verkürzt werden dürfte, daß das Phänomen des Verstehens die Weltbezüge einer kommunikativ verfaßten Lebensform vor aller Wissenschaft charakterisiert. Tatsächlich hat aber die Wirkungsgeschichte seines Buches tiefe Spuren in der Theorie der Wissenschaften und in den Sozial- und Geisteswissenschaften selbst hinterlassen. Die an 7 Lehrjahre, 177.
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dieses Buch anschließende Diskussion hat nicht so sehr die Wissenschaften am Erfahrungsbereich von Philosophie und Kunst relativiert als vielmehr die hermeneutische Dimension innerhalb der Wissenschaften, vor allem innerhalb der Sozial- und Naturwissenschaften freigelegt. Die philosophische Hermemeutik hat in den letzten Jahren, gefördert durch die englische Übersetzung von »Wahrheit und Methode«, gefördert auch durch des Autors vielfältige Gastaufenthalte an amerikanischen Universitäten, nachhaltig auf die angelsächsische Diskussion eingewirkt. Ihr Einfluß ist nicht auf die Divinity Schools beschränkt geblieben. Sie hat sich mit Impulsen verbunden, die durch die Protestbewegung freigesetzt worden sind. Man hat Gemeinsamkeiten gesehen, mit der Sprachanalyse des späten Wittgenstein, mit Thomas Kuhns postempiristischer Wissenschaftstheorie, sie ist mit phänomenologischen, mit interaktionistischen und ethnomethodologischen Ansätzen der verstehenden Soziologie verschmolzen worden. Diese Wirkung kehrt keineswegs den polemischen Sinn hervor, der in dem Titel »Wahrheit und Methode« angelegt ist; sie zeigt im Gegenteil, daß die Hermeneutik gerade zur Selbstaufklärung des methodischen Denkens beigetragen hat, zur Liberalisierung des Wissenschaftsverständnisses und sogar zur Differenzierung der Forschungspraxis. 5. Zugegeben ist gewiß, daß die Hermeneutik weder ihre Absichten noch ihre Wirkungen in diesem Horizont eines gewandelten Selbstverständnisses moderner Wissenschaften erschöpft. Wie die Phänomenologie und die Sprachanalyse rückt sie alltägliche Lebensverhältnisse in den Vordergrund und fördert die Aufklärung über tiefliegende Strukturen der Lebenswelt. In der Tradition der Humboldtschen Sprachphilosophie, und in gewisser Weise parallel zu dem durch Hegel belehrten Pragmatismus eines Peirce, eines Royce, eines George Herbert Mead, hebt die Gadamersche Hermeneutik die sprachliche Intersubjektivität hervor, die die kommunikativ vergesellschafteten Individuen vorgängig verbindet. Sie verfolgt mit Hartnäckigkeit die Frage nach der Form und dem Inhalt »der Solidarität, die alle Sprecher einer Sprache eint«.8 8 H. G. Gadamer, Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt 1976, 10.
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Diese Frage gewinnt hohe Aktualität gerade in unseren Tagen, da sich einem sensibilisierten Alltagsbewußtsein die Gefährdungen historischer Lebensformen aufdrängen, Gefahren einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Imperative eines ungesteuerten ökonomischen Wachstums, durch bürokratische Eingriffe, durch die externen Kosten der verrechtlichten, förmlich organisierten Bereiche unserer Gesellschaft. Gadamer scheut sich nicht, Heideggers Kritik an dem »sich selber kreuzigenden Subjektivismus der Neuzeit« auf die gesellschaftliche Realität auszudehnen. Er beobachtet die Verselbständigung von gesellschaftlichen Subsystemen, »deren Eigenart die Selbstregulierung ist und die damit stärker ... an das in Regelkreisen organisierte Leben denken lassen«, um warnend hinzuzufügen: »Es wäre jedoch ein Irrtum, den Herrschaftswillen zu verkennen, der sich in diesen neuen Methoden der Beherrschung von Natur und Gesellschaft seinen Ausdruck geschaffen hat.«9 Hier berührt sich die Technikkritik Heideggerscher Provenienz mit einer aus anderen Quellen gespeisten Kritik der instrumenteilen Vernunft. Beide kommen darin überein, daß der Gewalt und Ausschließlichkeit des objektivierenden Denkens die philosophische Auszeichnung der Subjektivität entspricht. Und beide verstehen unter Subjektivität ein steif gewordenes Selbstbewußtsein, eine verhärtete Autonomie, die für Zwecke der Selbstbehauptung instrumentalisiert worden ist. Hier stellt sich Gadamer in eine sehr deutsche Tradition. Er folgt einer Selbstauslegung der Moderne, gegen die von anderer Seite im Namen der Legitimität der Neuzeit Bedenken vorgetragen worden sind. Wenn ich Gadamers philosophische Wirkung im politischen Kontext der deutschen Nachkriegsgeschichte lokalisieren sollte, so würde ich als bedeutendstes Element, als reinigendes Element hervorheben: die großartige Vergegenwärtigung der humanistischen, auf die Bildung des freien Geistes gerichteten Tradition, die sich als geheime Konkurrenz und als Ergänzung zur prägenden Kraft moderner Wissenschaft durch die Neuzeit hindurchzieht. Aber Gadamer selbst weist darauf hin, daß in Deutschland, das aus eigener Kraft keine Revolutionen zuwege gebracht hat, der ästheti9 Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 24.
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sehe Humanismus stets stärker ausgeprägt war als der politische. Wenn man im Blick hält, daß in den Nationen Westeuropas mehr politisches Bewußtsein in die Humaniora eingegangen ist10, legt sich in unserem Kontext die Frage nahe, worin die größere Gefahr liegt: darin, die Tradition der Griechen zu einer Vorgestalt der Moderne herabzuwürdigen, oder darin, die Würde der Moderne selbst zu verkennen. Am Ende würde Gadamer diese Alternative zurückweisen zugunsten der Würde der Tradition, gewiß nicht von Tradition überhaupt, sondern der Traditionen, deren Macht in ihrer Vernünftigkeit begründet ist. »In Wahrheit beruht Tradition, die nicht die Verteidigung des Herkömmlichen, sondern die Fortgestaltung des sittlich-sozialen Lebens überhaupt ist, stets auf Bewußtmachung, die in Freiheit übernimmt.«11 Allerdings, in Freiheit übernehmen wir Traditionen nur dann, wenn wir beides, ja und nein, sagen können. Ich meine, daß man gerade die Aufklärung, das universalistische 18. Jahrhundert nicht aus der humanistischen Tradition ausblenden darf. Mit diesem Zusatz will ich aber nicht das letzte Wort behalten. Gadamer ist der erste, der die Offenheit des Gesprächs betont. Von ihm können wir alle die hermeneutische Grundweisheit lernen, daß es eine Illusion ist, zu meinen, man könne das letzte Wort behalten.
10 Vorwort zur z. Aufl. von >Wahrheit und Methoden XIV. 11 Nachwort zur 3. Aufl. von >Wahrheit und Methoden 533 f.
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18. Alfred Schütz Die Graduate Faculty der New School of Social Research (1980)
Zum ersten Mal kam ich im Winter 1967-1968 nach New York, um an der New School zu lehren. An diesem Ort zu lehren und in dieser Stadt zu leben erwiesen sich als zwei zwar zusammenhängende Unternehmungen, aber doch als zwei verschiedene Arten von aufregenden Erfahrungen. Als damals die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Aufstände in den schwarzen Ghettos einen Höhepunkt erreichten, als viele Studenten sich entschlossen, nach Kanada zu gehen, Präsident Johnson seinen Rücktritt erklärte, das East Village sich in das blühende und leidende Zentrum der Gegenkultur verwandelte, während die Upper West Side bei jedermann den Eindruck erweckte, sie befinde sich am Rande eines unaufhaltsamen Zerfalls, und als die Shakespeare Company »Hair«, jenes leidenschaftliche und stürmische Musical aufzuführen begann, das bald danach ein weltberühmtes Stück wurde, da zeigte die Stadt eine seltsame Mischung aus hellenistischem Charme, aus Verzweiflung und Rebellion. Wie anders war doch die New School! Nicht daß sie von dieser Unruhe unberührt geblieben wäre - im Gegenteil. Für mich war die New School aber nicht bloß Teil oder Bruchstück eines fremden Landes, in dem ich mich zufällig aufhielt. Als jemandem, der im Kontext der deutschen Nachkriegsuniversität und in der Tradition der deutschen Philosophie erzogen worden war, erschien mir die New School gleichsam extramural, als eine Welt für sich, mit einer besonderen Bedeutung. Lassen Sie mich daran erinnern, daß viele von jenen, die damals an der Graduate Faculty lehrten, die Kontinuität dessen repräsentierten, was Alwin Johnson einst begründet hatte. Hans Staudinger, Adolf Löwe, Arnold Brecht und Erich Hula stellten immer noch eine direkte Verbindung zur University in Exile her, zu jener frühen Periode, als Emil Lederer, Eduard Heimann, Max Wertheimer, Hans Speier, Albert Salomon und alle die anderen das unverwech-
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seibare Bild der New School geprägt hatten. In den 6oer Jahren bildeten zudem Aaron Gurvitch, Hans Jonas und Hannah Arendt jene einmalige Dreierallianz, die das philosophische Profil der New School bestimmte. Und schließlich waren im Fachbereich für Soziologie der Geist und die Theorie von Alfred Schütz noch sehr lebendig - dank der einflußreichen Lehrtätigkeit von einem seiner einstigen Schüler, Peter Berger. Schon ganz zu Anfang konnte ich feststellen, daß die Uhren an diesem Ort etwas anders gingen. Ich erinnere mich an den Empfang nach meiner Ankunft im Hause des Präsidenten Everett. Während dieser ersten Begegnungen fühlte ich mich durch eine, wenn auch geringfügige Zurückhaltung meiner Person gegenüber irritiert. Erst später, als ich von jedermann warmherzig aufgenommen worden war, erkannte ich eine unauffällige Generationsverschiebung: ich war aus Frankfurt gekommen, aus dem Institut für Sozialforschung von Horkheimer und Adorno, und der Schatten des Mißtrauens galt nicht mir persönlich, sondern galt einer ambivalenten Vergangenheit, die in einer lebendigen Erinnerung immer noch präsent war. Meine Frau und ich erlebten dieses Zeitmaschinenphänomen an vielen gastfreundlichen Abenden auch auf andere Weise, als nämlich der Zeitenabstand, der eine Generation von der anderen trennt, aufgehoben wurde und als wir uns in die intellektuelle Szene der späten zwanziger und dreißiger Jahre zurückversetzt fühlten. Diese Aufnahme, auf die ich sehr stolz bin, war wie das Öffnen einer Tür. Als ich eintrat, fand ich einen überraschenden Weg zurück zu vertrauten Traditionen, bekannten intellektuellen Einstellungen und Motiven, die, wie ich erst dann bemerkte, in einem anderen Zusammenhang erhalten geblieben waren als dem, in dem ich sie kennengelernt hatte. Hier im Exil hatten die tiefsten deutschen Traditionen ihre moralische Integrität und damit auch jenes Element des ungebrochenen Selbstvertrauens bewahrt, ohne das Ideen ihre Kraft verlieren. Ich kann der New School nicht zurückgeben, was ich ihr schulde; und auch für die bescheidenere Absicht, zumindest die Art der Schuld zu erläutern, die ich abtragen müßte, werden persönliche Erinnerungen nicht ausreichen. Abgesehen vom allgemeinen Ein-
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fluß, den das Leben im akademischen Rahmen der Schule auf mich ausübte, habe ich viel aus den Werken einiger ihrer hervorragendsten Angehörigen gelernt, und lerne daraus immer noch. Sicherlich ist es nicht überraschend, daß ich im Bereich der Gesellschaftstheorie am meisten von Alfred Schütz und von Hannah Arendt gelernt habe. Lassen Sie mich drei Leistungen von grundlegender Bedeutung erwähnen: die Rekonstruktion eines aristotelischen Begriffs der »Praxis« für die politische Theorie, die Einführung eines Husserlschen Begriffs der »Lebenswelt« in die Gesellschaftstheorie, und die Wiederentdeckung von Kants Kritik der Urteilskraft für eine Theorie der Rationalität. 1. Als Hannah Arendt in ihrem Buch The Human Condition (deutsch: Vita Activa, Stuttgart 1960), das ich immer noch für ihre bedeutendste philosophische Arbeit halte, die ehrwürdige Unterscheidung zwischen poiesis und praxis wieder aufnahm, war sie nicht in erster Linie an einer Erneuerung der aristotelischen Theorie interessiert. Ihre unmittelbare Absicht war eine systematische und keine philologische: die elementaren Begriffsverwirrungen aufzulösen, die aus der spezifisch modernen Versuchung resultierten, die politische Praxis der Bürger auf eine Art des instrumenteilen Handelns oder der strategischen Interaktion zu reduzieren. Das Ergebnis ihrer Kritik ist ein Begriff des Handelns als »Praxis«, der die historischen Erfahrungen und die normativen Perspektiven dessen artikuliert, was wir heute partizipatorische Demokratie nennen; dieser Begriff ist nicht weniger modern, sondern nur adäquater als die meisten Handlungstheorien von heute, die auf Hobbes, Bentham oder Marx zurückgehen. Hannah Arendt hebt vor allem drei Momente hervor: das Faktum der menschlichen Pluralität, die symbolische Natur der menschlichen Beziehungen, und das Faktum der menschlichen Natalität, als Gegensatz zur Mortalität (oder Sterblichkeit, in dem Sinne, der Lebewesen voraussetzt, die wissen, daß sie sterben müssen). Die Analyse des ersten Merkmals (Pluralität) richtet sich auf die Intersubjektivität des gemeinsamen Handelns, in der die vielfachen Perspektiven der Beteiligten, die notwendigerweise verschiedene Standpunkte einnehmen, wechselseitig verbunden sind. Die vereinigende Kraft der Intersubjektivität wahrt die Pluralität der
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individuellen Perspektiven; selbst im Falle einer gewaltsamen Unterdrückung kann Intersubjektivität nicht durch eine höherstufige Subjektivität ersetzt werden. Die Analyse des zweiten Merkmals richtet sich auf die Sprache als Mechanismus zur Abstimmung verschiedener Handlungen aufeinander. In der Kommunikation treten die Individuen aktiv als einzigartige Lebewesen auf; gleichzeitig müssen sie einander in ihrer Verantwortung, d.h. in ihrer Fähigkeit, ja und nein sagen zu können, letztlich als gleich anerkennen. Solange wie Menschen in der Absicht miteinander sprechen, einen Konsensus zu erzielen, begründet die Idee eines gemeinsamen Verständnisses, die in Sprache eingelassen ist, Ansprüche auf eine radikale Gleichheit, die zwar zeitweise suspendiert, aber nicht für immer unterdrückt werden kann. Die Analyse des dritten Merkmals (Natalität) enthüllt das Phänomen des freien Willens im Handelnden. Die Geburt jedes Einzelwesens ist das Versprechen eines neuen Anfangs; Handeln heißt fähig zu sein, die Initiative zu ergreifen und das Nichtantizipierte zu tun. Gerade dieses innovative Potential macht den Bereich der Praxis verletzbar und von schützenden Institutionen abhängig. Erst wenn diese Institutionen aus der Kraft gemeinsamer Überzeugungen derjenigen hervorgehen, die in Übereinstimmung handeln, nehmen sie die Form einer »Konstitution der Freiheit« an; und Freiheit kann nur solange erhalten werden, als die politischen Institutionen wiederum jene Quelle unbeschädigter Intersubjektivität schützen, aus der eine kommunikativ erzeugte Macht entspringt. Von Hannah Arendt habe ich gelernt, wie eine Theorie des kommunikativen Handelns anzugehen ist; was ich nicht zu sehen vermag, ist, daß dieser Zugang im Widerspruch stehen soll zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Vielmehr finde ich darin ein präzises analytisches Instrument, um die marxistische Tradition vor ihren eigenen produktivistischen Verirrungen zu bewahren. Was Marx als kritisch-praktische Tätigkeit, als revolutionäre Praxis im allgemeinsten Sinne bezeichnete, könnte nicht treffender erläutert werden, als Hannah Arendt dies in ihrem Kapitel »Der Abgrund der Freiheit und der novus ordo saeclorum« tat, wo sie die emanzipatorische Freiheit, als Ergebnis einer Befreiung, mit der
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kreativen Freiheit verbindet, die sich aus der Spontaneität eines Neubeginns ergibt. 1 2. Hannah Arendt lokalisiert Praxis im »Raum der Erscheinung«, in den die Handelnden eintreten, wo sie sich begegnen, wo sie gesehen und gehört und jeden Tag herausgefordert werden. Als politische Theoretikerin war sie in erster Linie an der normativen Frage interessiert, wie dieser Raum als öffentlicher Bereich institutionalisiert werden sollte. Der Sozialwissenschaftler muß sich hingegen mit der deskriptiven Frage befassen, wie dieser Raum der Erscheinung, der den Horizont des Alltagslebens bildet, tatsächlich funktioniert. Alfred Schütz widmete sein Leben der Antwort auf diese Frage. Zu diesem Zweck benutzte und transformierte er Husserls Begriff der »Lebenswelt«. Lassen Sie mich nur einen zentralen Gedanken erwähnen, dessen Implikationen bisher dunkel geblieben sind. Vielleicht war Schütz mit seinen eigenen Klärungsversuchen nicht ganz zufrieden. Er kam immer wieder auf die Anfänge seines Entwurfs zurück, analysierte die Lebenswelt vom selben Ausgangspunkt her immer wieder von neuem. Dieser Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen dem »Problematischen« und dem »Selbstverständlichen«. Schütz faßte die Lebenswelt als den ungeprüften Boden der Alltagspraxis auf. Deshalb bemühte er sich zunächst um die Erklärung, was es heißt, etwas als selbstverständlich, als bis auf weiteres »fraglos Gegebenes« aufzufassen. Lassen Sie mich den Sachverhalt in meinen eigenen Worten ausdrücken. Im kommunikativen Handeln können die Beteiligten ihre verschiedenen Pläne nur unter der Bedingung aufeinander abstimmen, daß sie eine gemeinsame Definition jener Situation erzielen, mit der sie sich zu befassen haben. Sie bieten verschiedene Interpretationen an und versuchen zu einer Übereinstimmung zu gelangen. Bei diesen Interpretationsleistungen bezieht jeder Handelnde sich auf einen gemeinsamen Wissensbestand, der von einer gemeinsamen kulturellen Überlieferung bereitgestellt wird. Eben dieses Hintergrundwissen repräsentiert den Kontext der Lebenswelt, und in dieses 1 Hannah Arendt, The Life of Mind. New York 1978, Bd. 2, S. 195 ff.; deutsch: Das Leben des Geistes. München 1979, Bd. 2, S. 185-202.
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Wissen ist auch das kommunikative Handeln eingebettet. Die entscheidende Frage heißt nun: in welchem Sinne dürfen wir diese Hintergrundannahmen und Gewohnheiten der Alltagskommunikation als Wissen auffassen? Es gibt zwei verschiedene Aspekte. Einerseits ist denjenigen, die in Übereinstimmung handeln, die Lebenswelt im Modus einer impliziten Gewißheit als Hintergrund gegeben; wir haben dieses Wissen, ohne von ihm zu wissen. Diese Gewißheit steht in einem scharfen Kontrast zu der jedes einzelnen Wissenselements, das in einer Äußerung ausgedrückt wird. Jede solche Äußerung kann zurückgewiesen werden. Alter kann den Geltungsanspruch, den Ego mit seiner Äußerung erhebt, mit Nein beantworten. Wenn es aber andererseits ein wesentliches Merkmal des Wissens ist, daß es eine interne Beziehung zu Geltungsansprüchen und zur Kritik hat und daß es somit problematisch werden kann, dann haben jene Hintergrundannahmen und Gewohnheiten, die stets für selbstverständlich gehalten werden, gerade nicht die elementare Eigenschaft des Wissens. Was außer jedem Zweifel steht, erscheint so, als ob es niemals problematisch werden könnte; es kann höchstens zusammenbrechen. Die Annahme, daß die Lebenswelt für selbstverständlich gehalten wird, erweist sich somit als paradox. Das Hintergrundwissen, das in Form der Gewißheit des Alltagslebens wirkt, ist Paradigma für das, was wir mit Gewißheit wissen; gleichzeitig fehlt ihm aber die Eigenschaft des wahren Wissens - aufgrund seiner eigentümlichen Gewißheit kann es nicht in jene Dimension eingehen, in der seine Geltung intentional in Frage gestellt und bewußt akzeptiert werden könnte. Nur unter dem kontingenten Zwang einer problematischen Situation kommt es vor, daß relevante Stücke des Hintergrundwissens zutage treten. Erst ein Erdbeben macht uns darauf aufmerksam, daß wir die Festigkeit des Bodens für etwas Selbstverständliches hielten. Und selbst in so problematischen Situationen steht uns nur jener Teil unseres Hintergrundwissens zur Verfügung, der aus seiner Einschließung in kulturelle Überlieferungen, gesellschaftliche Institutionen, in Fertigkeiten und Kompetenzen, die im Modus eines selbstverständlichen, intuitiven Know how präsent sind, freigesetzt wird. Das Hintergrundwissen wird erst dann zum
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expliziten Wissen, wenn es Stück für Stück in semantische Gehalte der Rede derjenigen umgewandelt wird, die gemeinsam handeln. Daraus ergibt sich eine wichtige methodologische Konsequenz. Kulturelle Überlieferung, soziale Integration und Sozialisation sind drei verschiedene Funktionen ein und desselben Prozesses der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt, der durch das Medium kommunikativen Handelns kanalisiert wird. In dem Maße, wie die Sozialwissenschaften sich mit diesem Prozeß befassen, stehen sie vor der Aufgabe, einen Hintergrund zu analysieren, der für selbstverständlich gehalten wird. Die einzige verfügbare Methode ist eine, die zur Hauptsache von Philosophen betrieben wird: die rationale Rekonstruktion des vortheoretischen, impliziten Know how kompetenter Subjekte. A. Schütz erkannte, daß die Sozialwissenschaften von einer philosophischen Methode einen empirischen Gebrauch machen mußten. Was er nicht erkannte, war das Problem, daß es nicht einfach von der Wahl einer theoretischen Einstellung abhängt, ob der Wissenschaftler tatsächlich den Zugang zur Lebenswelt findet. Ebensowenig steht ihm die Totalität des für eine Lebenswelt konstitutiven Hintergrundwissens zur Verfügung, es sei denn, daß eine Herausforderung auftritt, angesichts deren die Lebenswelt als ganze problematisch wird. Die Analyse der Lebenswelt ist ein selbstrückbezügliches Unternehmen. Der Wissenschaftler könnte gar nicht die Hoffnung haben, sie zu erfassen, gäbe es nicht die provokative Bedrohung der symbolischen Strukturen jener Lebenssphären, deren Reproduktion vom kommunikativen Handeln abhängig ist. Heute besteht eine solche Bedrohung. Sie geht zurück auf die immer umfassenderen Prozesse des Zur-Ware-Werdens und der Bürokratisierung, auf die zunehmende Autonomie der ökonomischen und administrativen Subsysteme, die die Lebenswelt mit Imperativen der instrumentellen Rationalität konfrontieren und damit nicht nur die traditionellen Lebensformen untergraben, sondern auch in die kommunikative Infrastruktur gerade jener Sphären eindringen, in denen die Menschen immer noch gemeinsam handeln müssen. Ich glaube aber nicht, daß wir die heute so deutlich gewordene Verdinglichung der Lebenswelt erfolgreich analysieren können,
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wenn wir uns nicht auf eine ihr selbst entstammende normative Perspektive stützen. Im Gegensatz zu Alfred Schütz verfügte Hannah Arendt mit der Idee einer unbeschädigten Intersubjektivität über eine solche Perspektive. 3. Hannah Arendt brachte den dritten Teil ihres postumen Werks, Das Leben des Geistes, nicht zum Abschluß. Sie wollte darin das Vermögen der Urteilskraft analysieren, das sie als Kern der rationalen Orientierungen in der Vita Activa betrachtete. Sie wollte die moralischen und politischen Implikationen in jener spezifischen »Erweiterung der Denkungsart« herausarbeiten, die Kant zufolge den Menschen erlauben, zu urteilen. Diese Erweiterung ergibt sich daraus, »>daß man sein Urteil an die Urteile anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt< [KU § 40] (...) Kritisches Denken (...) vergegenwärtigt die anderen und bewegt sich damit potentiell in einem öffentlichen, nach allen Seiten offenen Raum (.. .)«.2 Dies ist eine erste Annäherung an einen Begriff kommunikativer Rationalität, der in Sprache und Handeln selber eingelassen ist. Unter diesem Gesichtspunkt erinnert Hannah Arendts Interpretation von Kants Kritik der Urteilskraft an die Interpretation, die G. H. Mead von Kants Kritik der praktischen Vernunft gegeben hat. Beide konvergieren im Entwurf einer Ethik der Kommunikation, welche die praktische Vernunft an die Idee eines universalen Diskurses bindet. Es war gerade das Werk von G. H. Mead, das, nebenbei gesagt, Alfred Schütz herausforderte, als er zum ersten Mal in die Vereinigten Staaten kam, um das deutsche Erbe von Husserl und Max Weber mit der großen Tradition des amerikanischen Pragmatismus zu verbinden. Das gibt mir die Gelegenheit zu einer letzten Bemerkung. Letztes Jahr veröffentlichte Hans Jonas ein wichtiges Buch über Ethik in der technischen Zivilisation: Das Prinzip Verantwortung3 Ich war überrascht zu sehen, daß er dieses Buch nach so vielen anderen, englisch abgefaßten Büchern, in deutscher Sprache geschrieben hatte. Jonas erklärt diesen Entschluß im Vorwort: wenn er das Argument in seiner erworbenen Sprache hätte formu2 Ebd., S. 257; deutsche Ausgabe S. 210. 3 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a.M. 1979.
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lieren wollen, dann hätte ihn dies zwei- bis dreimal soviel Zeit gekostet. Wir haben von Mary McCarthy erfahren, daß Hannah Arendt bis zuletzt ähnliche Zweifel hegte. Diese Fakten sind erwähnenswert, weil sie nur die Kehrseite einer Medaille sind: sie geben uns einen Eindruck von den enormen Anstrengungen, die in die Verpflanzung von Gedanken deutscher Herkunft in den objektiven Geist dieses Landes eingingen, wobei auch deutlich wird, wie tief die Affinitäten zwischen amerikanischen und deutschen philosophischen Überlieferungen seit Ch. S. Peirce sind. Im Hinblick auf die bewundernswerten Leistungen möchte ich der New School dafür Dank sagen, daß sie ein so seltener Ort der wechselseitigen Befruchtung und der intensivsten deutsch-jüdisch-amerikanischen Assimilation des Geistes ist. [Aus dem Englischen übersetzt von Max Looser.]
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18. Max Horkheimer Die Frankfurter Schule in New York (1980) Vor zehn Jahren hat der Kösel-Verlag die neun Bände der zwischen 1932 und 1941 erschienenen »Zeitschrift für Sozialforschung«, ergänzt um eine Einleitung von Alfred Schmidt und ein Gesamtregister, nachgedruckt. In einer hellblauen Kassette macht der Deutsche Taschenbuch Verlag diesen Reprint nun auch einer breiteren Schicht von Käufern zugänglich. Auf den ersten Blick mag das nicht so ungewöhnlich sein. Immerhin enthält die Zeitschrift die klassischen Texte der Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, das 1933 über Genf nach New York emigrieren mußte. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Zeitschrift weiterhin in deutscher Sprache von einem Pariser Verlag veröffentlicht; die letzten vier Hefte erschienen in New York, nunmehr auf englisch. Für jene Gruppe von Emigranten, die die Öffentlichkeit rückblickend, eigentlich erst seit dem Ende der sechziger Jahre, mit dem Namen der Kritischen Theorie in Verbindung bringt, war die Zeitschrift für Sozialforschung lebenswichtig. Sie bildete den organisatorischen Kern und das geistige Zentrum ihrer Arbeit. Wissenschaftliche Diskussionen fanden meist in der Form von Redaktionssitzungen statt, Forschungsaufgaben hingen eng mit Publikationsplänen zusammen. Die Zeitschrift war mehr als nur das Organ einer Gruppe von Wissenschaftlern, sie war konstitutiv für eine Schule. Daran hat Horkheimer, der Herausgeber, seine Leser nie im Zweifel gelassen. Die Auswahl der Hauptaufsätze begründet er im Vorwort zum sechsten Jahrgang unverblümt: »Wir haben uns entschlossen, auch insofern eine philosophische Tradition fortzusetzen, als neben der wissenschaftlichen Zulänglichkeit vor allem Denkart und Richtung des Interesses bei der Auswahl der Aufsätze entscheiden. Die tragenden Artikel auf den verschiedenen Gebieten sollen eine gemeinsame philosophische Ansicht entwickeln und zur Anwendung bringen. Wenn schon auf anderen Lebensgebieten die Gleichgültigkeit gegenüber allgemeinen menschlichen Angelegen-
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heiten und der Verzicht auf vernünftige Entscheidung Platz greifen und der Relativismus gerade unter den Aufrichtigen zur eingestandenen geistigen Haltung wird, so darf die Wissenschaft selbst um so weniger darauf verzichten, bestimmte Gedanken durchzuhalten.« (Jg. 6,1) Aus diesen Worten spricht keineswegs Dogmatismus, sondern die entschiedene Präferenz für Forschungsinteressen, die sich schon in den Themen des allerersten Heftes ausgedrückt hatten. Die theoretischen Schwerpunkte Die Nr. 1 hatte Horkheimer mit einem Aufsatz über »Wissenschaft und Krise« eröffnet. Er entwickelt dort die Grundzüge einer Wissenschaftskritik, in der sich die bis in den Positivismusstreit der 6oer Jahre reichende Doppelfront abzeichnet: die Stellung gegen Szientismus und Metaphysik. Diese beiden entgegengesetzten Varianten eines in denselben Traditionen wurzelnden Theorieverständnisses bilden den Hintergrund, vor dem Horkheimer in den folgenden Jahren, zusammen mit Herbert Marcuse, den Ansatz zu einer kritischen Gesellschaftstheorie ausarbeiten wird. Ähnlich wie Husserl in seiner Untersuchung zur »Krisis der europäischen Wissenschaften« will Horkheimer durch das objektivistische Selbstverständnis der empirischen Wissenschaften hindurchgreifen, um den lebensweltlichen Kontext der Forschung, die Fäden, die aus der gesellschaftlichen Praxis bis in die Methodologie hineinreichen, bloßzulegen. Auch die anderen Abhandlungen jenes ersten, noch in Frankfurt erscheinenden Heftes bilden charakteristische Ausgangspunkte für die spätere Theorieentwicklung. Erich Fromm schreibt über die Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie, Löwenthal und Adorno über Literatur- und Musiksoziologie, Friedrich Pollock und Henryk Großmann über Kapitalismus, Wirtschaftskrise und die »Aussichten auf eine planwirtschaftliche Neuerung«. Erich Fromm konzipiert mit wenigen energischen Annahmen Grundlagen für eine fruchtbare marxistische Aneignung der Psychoanalyse. Die ausgebliebene Revolution, der Erfolg der faschistischen Diktatur in Deutschland, die bürokratische Entstellung des
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Sozialismus im stalinisierten Rußland - das waren zeitgeschichtliche Ereignisse, die den Sinn für die psychischen Vermittlungen zwischen Bewußtseinswandel und sozialökonomischen Veränderungen geschärft hatten. Nun soll die Psychoanalyse zeigen, wie sich der Druck ökonomischer Situationen über die Triebstruktur in Handlungsweisen und Ideologien umsetzt. Eine ähnlich folgenreiche Integration der Freudschen Entwicklungspsychologie in die Gesellschaftstheorie hat später nur noch Talcott Parsons zustande gebracht. Im Frankfurter Institut haben sich alsbald alle Mitarbeiter des engeren Kreises dieses von Fromm geschaffenen Instrumentariums bedient. Das gilt auch für die Kulturtheorie, für die die Arbeiten von Löwenthal, Adorno und Benjamin repräsentativ sind. Löwenthal beklagt schon in jenem ersten Aufsatz »das schiefe Verhältnis« der Literaturwissenschaft zu Psychoanalyse, Geschichte und Soziologie, die Neigung, ihre Gegenstände metaphysisch zu verzaubern. Andererseits soll der »Zusammenhang zwischen kulturellen und wirtschaftlichen Vorgängen« keineswegs empiristisch, etwa im Sinne einer Bindestrich-Soziologie untersucht werden. Die Frankfurter setzen ihre Analysen werkimmanent an, radikalisieren aber die Untersuchung der ästhetischen Form so weit, daß das gesellschaftliche Getriebe, die im Ökonomischen wurzelnde Psychodynamik aus den scheinbar entferntesten, esoterischsten, verschlossensten Chiffren des Kunstwerkes entschlüsselt werden kann. Löwenthals ideologiekritische Untersuchungen im Umkreis der Roman- und Dramenliteratur des europäischen Bürgertums haben den Weg gebahnt, auf dem sich inzwischen Generationen von Germanistikstudenten wie selbstverständlich bewegen. Löwenthal setzt ebenso hartnäckig an formalen Elementen, z.B. Rahmenerzählung und Dialogführung, wie an der Organisation des Stoffes und der Motivwahl an. Die Methode einer fast detektivischen Fahndung nach dem gesellschaftlichen Gehalt der ästhetischen Form tritt noch prononcierter hervor in Adornos Studien zu Schönberg und Wagner oder in Benjamins Aufsatz über Baudelaire, faszinierende Zeugnisse einer als Gesellschaftstheorie durchgeführten Ästhetik, zu der sich allenfalls in den Arbeiten von Lukács Parallelen finden.
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Die konventionellsten unter den theoretisch tonangebenden Arbeiten sind die Beiträge zu dem vierten Thema, das zunächst durch Aufsätze von Pollock und Großmann angeschlagen wird. Sonst bildet in einer marxistisch orientierten Zeitschrift die Politische Ökonomie das Herzstück. Tatsächlich gehören Übersichten zur planwirtschaftlichen Literatur (von Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer) zum festen Bestand der Zeitschrift; und über Themen der Arbeiterbewegung informiert ein Rezensionsteil, der unter dem Stichwort »Soziale Bewegung und Sozialpolitik« geführt wird. Aber die ökonomische Theorie wird nicht eigentlich weiter entwikkelt; Pollocks interessante Thesen zum Staatskapitalismus (und Wittfogels berühmte Untersuchungen zum orientalischen Despotismus) sind eher eine Bestätigung für den symptomatischen Wechsel der theoretischen Perspektive. Aufmerksamkeit finden weniger die konflikterzeugenden Mechanismen des Wirtschaftssystems als vielmehr die den Krisen nachgewachsenen Auffangmechanismen der staatlichen Konfliktverarbeitung und der kulturellen Integration. Auf dieser Linie liegen auch die politikwissenschaftlichen und rechtstheoretischen Arbeiten von Franz Neumann und Otto Kirchheimer; diese beiden Juristen, die erst in der Emigration zu den Mitgliedern des Instituts gestoßen sind und mit ihrer sozialdemokratischen Orientierung etwas am Rande des engeren Kreises bleiben, haben originelle Ansätze zu einer bis heute aktuell gebliebenen Demokratietheorie entwickelt. Die großen Aufsätze spiegeln die unvergleichliche Produktivität eines kleinen Kreises von Gelehrten, die sich in der Emigration auf enger gewordenem Raum um das Banner der Zeitschrift scharen. Die Zeitschrift war so etwas wie ein Fokus - wenn es je, datierbar und lokalisierbar, eine Frankfurter Schule gegeben hat, dann hier in New York, zwischen 1933 und 1941, in jenem von der Columbia University zur Verfügung gestellten Haus 429 auf der Westseite der 117. Straße.
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Was die Zeitschrift zu einem Dokument macht Gerade der Hauptteil der Zeitschrift, von dem bisher die Rede war, ist nun freilich arg geplündert worden. 1970, als der Reprint zuerst erschien, waren bereits alle wichtigen Aufsätze von Marcuse, Adorno und Benjamin, von Löwenthal und Fromm, von Neumann und Kirchheimer in Einzelausgaben veröffentlicht worden. Endlich hatte sogar Horkheimer, nach jahrelangem Zögern, einem Nachdruck seiner Aufsätze aus der Zeitschrift zugestimmt; den beiden 1968 erschienenen Bänden schickt er ein distanzierendes Vorwort voraus. Er will die »ökonomischen und politischen Vorstellungen«, die in den 30er Jahren den Horizont seiner Überlegungen gebildet hatten, für die Gegenwart nicht mehr gelten lassen; die Studenten warnt er: »Unbedachte und dogmatische Anwendung kritischer Theorie auf die Praxis in der veränderten historischen Realität vermöchte den Prozeß, den sie zu denunzieren hätte, nur zu beschleunigen.« (Kritische Theorie, Bd. I, S. IX, Frankfurt 1969.) Wenn nun aber, derart an den rechten Platz gerückt, alles Wichtige schon veröffentlicht war, warum dann noch ein Nachdruck der Zeitschrift mit allem Drum und Dran? Zufälligerweise hat mich Horkheimer selbst in die glückliche Lage versetzt, eine Antwort darauf geben zu können. Während meiner Assistentenzeit am Frankfurter Institut, in der zweiten Hälfte der 50er Jahre, waren es nämlich die eben erwähnten Bedenken, die ihn veranlaßten, uns von der Lektüre der Zeitschrift abzuhalten. Ein vollständiges Exemplar blieb wohlverwahrt in einer zugenagelten Kiste im Keller des Instituts, unserem Zugriff entzogen. So kam es, daß ich damals nur einzelne Hefte kennenlernte und die Zeitschrift als ganze erst zu einem Zeitpunkt in die Hand bekam, als die substantiellen Teile schon andernorts publiziert worden waren. Ich ging davon aus, daß ich alles Wesentliche kannte, und war deshalb überrascht, als ich entdeckte, was es mit jenen »umfangreichen Besprechungsteilen« auf sich hatte, die auf der Rückseite der einzelnen Hefte angekündigt waren: eine Zeitschrift ist dann doch etwas anderes als die theoretisch tonangebenden Abhandlungen, die sie enthält. Bücher haben ihre Schicksale. Sie können verlorengehen, vergessen
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werden, wieder auftauchen. Selbst Bücher, die für eine Zeit präsent bleiben, haben ihre Schicksale. Neuauflagen sind wie Ränder, an denen sich mit jeder veränderten Situation, jeder neuen Generation von Lesern eine weitere Schicht von unvorhergesehenen Reaktionen absetzt. Anders verhält es sich mit periodischen Veröffentlichungen; sie stellen sich einer solchen Wirkungsgeschichte selber in den Weg. Zeitschriften begrenzen mit dem Rhythmus ihres Erscheinens die eigene Aktualität. Jede neue Nummer entwertet die vorangehende; und mit der letzten Nummer wandert eine Zeitschrift ins Archiv. Periodika sind ihrem Erscheinungsraum inniger verhaftet als Monographien der Jahreszahl ihres Erstdruckes. Freilich haben sie eine andere Chance: sie können, wenn sie nur genug vom Geist einer Zeit absorbiert haben, zu einem Dokument werden. Und manchmal haben auch Dokumente Schicksale. Vielleicht ist das ein Schlüssel für die Analyse der Wirkung dieser Zeitschrift für Sozialforschung. In ihr nehmen Aufsätze, die die Positionen der Schule definieren, weniger als die Hälfte eines Heftes ein. Der Besprechungsteil erfordert weit mehr als ein Drittel des Platzes. Und da die Redaktion auf äußerst konzentrierten, kurzen Besprechungen besteht, werden jährlich mehr als 350 Publikationen behandelt - im Laufe der Jahre fast dreieinhalbtausend Titel. Zu den Richtlinien der Redaktionspolitik, die Horkheimer in dem erwähnten Vorwort erläutert, gehört nicht nur der Ausbau einer theoretischen Position: »Wenn angesichts der intellektuellen Ratlosigkeit die unbeirrte Verfolgung bestimmter Ideen auf den verschiedenen Gebieten der Gesellschaftstheorie besonders notwendig ist, so bedarf doch jede Art philosophischen Denkens einer fortwährenden Beobachtung der einzelwissenschaftlichen Arbeit. Diese Orientierung soll für den Leser unserer Zeitschrift vor allem durch die Besprechungen erleichtert werden. Wir versuchen, auf jede für die Theorie der Gesellschaft, auch auf abgelegenen Fachgebieten nur irgend wichtige Publikation wenigstens hinzuweisen. Der Aufsatzteil selbst ist durch solche Studien von Spezialisten erweitert, die mit Fragen der Sozialwissenschaft zusammenhängen. Unterschiede der theoretischen Einstellung treten hier ganz hinter die Klärung einzelner Sachverhalte zurück. Die Kritik an der positivistischen Schule
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hindert uns nicht, ihre fachlichen Leistungen anzuerkennen und zu fördern.« Jg. 6,2) Im gleichen Heft stehen neben Arbeiten von Horkheimer, Marcuse und Fromm Abhandlungen von Otto Neurath ud Paul Lazarsfeld: der eine stammt aus dem Wiener Kreis, der andere ist auf Sozialerhebungen, auf Techniken der Sozialforschung spezialisiert. Der untertreibende Hinweis auf »die fortwährende Beobachtung der einzelwissenschaftlichen Arbeit« zielt aber vor allem auf den Rezensionsteil; dahinter verbirgt sich die imponierende Leistung von Leo Löwenthal, in dessen Händen die Fäden der redaktionellen Arbeit zusammenliefen. Ohne ihn, ohne den von ihm betreuten Rezensionsteil hätte die Idee nicht verwirklicht werden können, die Horkheimer im Vorwort zum ersten Heft unter dem Stichwort »Sozialforschung« entworfen hatte - die Idee einer auf die gegenwärtige Epoche gerichteten Theorie der Gesellschaft, die sich dem Urteil der empirischen Forschung in allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen unterwirft. Die Einheit der Sozialwissenschaften Die Hintergrundphilosophie der Deutschen Historischen Schule hatte für zwei, drei Generationen der Geisteswissenschaften eine einheitsstiftende Kraft entfaltet, die von Dilthey auf den Begriff gebracht worden war. Etwas Ähnliches gelingt Horkheimer mit dieser Zeitschrift für die Sozialwissenschaften, wenn auch nur für die Spanne eines knappen Jahrzehnts. Die im Besprechungsteil ausgebreitete und verarbeitete Literatur liefert das spröde Material, das sich fast zwanglos in den theoretischen Rahmen fügt; an ihm bewährt sich die organisierende Kraft der zentralen Forschungsinteressen. Der Besprechungsteil gliedert sich in die Gebiete Philosophie, allgemeine Soziologie, Psychologie, Geschichte, Soziale Bewegung und Sozialpolitik, Spezielle Soziologie und Ökonomie; bei der »Speziellen Soziologie« sind auch politische Wissenschaft, Kulturanthropologie und Rechtstheorie untergebracht. Nie wieder sind gleichzeitig disziplinäre und nationale Entfernungen in den Sozialwissenschaften auf so einleuchtende Weise überbrückt wor-
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den, nie wieder hat sich die Einheit der Sozialwissenschaften so überzeugend dargestellt wie hier, aus der Perspektive eines unorthodox fortentwickelten, eines, wie Merleau-Ponty sagt, »westlichen« Marxismus, welcher das Erbe der Deutschen Philosophie von Kant bis Hegel mit der Tradition der Gesellschaftstheorie von Marx bis Durkheim und Max Weber verschmilzt. Dabei spielt die innermarxistische Diskussion kaum eine Rolle. Gewiß, da schreiben Lukács oder Borkenau über die alte MarxEngels-Gesamtausgabe, Korsch über Lenin, Paul Mattik über den frühen Sidney Hook, Marcuse über Cornu und Marxologisches aus Frankreich. Labriola wird rezensiert oder die bekannte krisentheoretische Abhandlung von Natalie Moszkowska. Das alles bleibt aber frei von den Akzenten des sonst üblichen Meinungskampfes zwischen den Fraktionen. Karl Korsch beispielsweise interessiert sich mehr für Donoso Cortes, für den Aufbau der Staatsgewalt im faschistischen Italien, für die Sorelstudien von Michael Freund, für die lehrreichen Ambivalenzen in dem Buch eines jungkonservativen Autors wie Wilhelm Eschmann (über die »Revolution« von I933). Horkheimer und Löwenthal hätten ihre ehrgeizigen redaktionspolitischen Ziele nicht verwirklichen können, wenn sie nicht international bekannte Fachvertreter, beispielsweise Alexandre Koyre, Maurice Halbwachs, Raymond Aron und George Friedmann aus Paris, Moris Ginsberg und T. H. Marshall aus England, Charles A. Beard, Margaret Mead, Harold D. Laswell und Otto Lipmann aus den USA, zur Mitarbeit gewonnen hätten. Die Zeitschrift verfügt über beneidenswerte Ressourcen; sie kann viele aus dem Kreis der deutschen Emigranten zur Mitarbeit heranziehen. Natürlich gibt es charakteristische Lücken; es fehlen Ernst Bloch und Hannah Arendt, auch Hans Morgenthau. Aus dem Kreis der New School sind nur Adolf Löwe und Hans Speier dabei. Aber immerhin gehören zu den Rezensenten Ernst von Aster, Otto Fenichel, P. Honigsheim, Karl Landauer, Karl Löwith (erst aus Rom, dann aus Japan), Ernst Manheim, Siegfried Marck, Paul Massing, Hans Mayer, F. Neumark (aus Istanbul), Arthur Rosenberg, Ernst Schachtel und Günther Stern. Vereinzelte Beiträge schreiben Ossip Flechtheim, Hans Gerth, Bernhard Groet-
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huysen, A. R. Gurland, Herta Herzog, Ernst Krenek, Frieda Reichmann und Paul Tillich. Die Redaktion kann diesen Reichtum an Experten nutzen, um die verschiedensten Forschungsrichtungen sorgfältig zu beobachten. Die Zeitschrift kann das deutsche Publikum mit neueren ausländischen Strömungen bekanntmachen, so mit der funktionalistischen Schule der amerikanischen Kulturanthropologie (Malinowski, M. Mead, R. Benedict), mit soziologischen Entwicklungen, sei es in der Durkheimschule oder in der Chicagoer Schule, mit A. C. Pigou und den Anfängen der Wohlfahrtsökonomie, mit dem Pragmatismus von G. H. Mead und Dewey, mit den großen historischen Arbeiten von Pirenne oder Toynbee. Vor allem kann die Zeitschrift kritisch auf theoretische Neuerungen reagieren: auf Kurt Lewins Feldtheorie, auf die Anfänge der analytischen IchPsychologie, auf das umwälzende Werk von Keynes und die Arbeiten Joan Robinsons oder auf die Bewegung der Unified Science, die aus dem logischen Empirismus hervorgeht. Das sind einige Beispiele für die Integrationskraft und die Reaktionsfähigkeit eines ungewöhnlichen Instruments; sie illustrieren auch die Bandbreite intellektueller Reize, für die die Zeitschrift ein mit Genauigkeit unterscheidendes Sensorium bereithält. Hätte sie nur dies geleistet: mit philosophischer Inspiration die Einheit der Sozialwissenschaft für einen historischen Augenblick zu vergegenwärtigen, die Zeitschrift wäre dadurch allein zu einem wirkungsträchtigen Dokument geworden. Aber ich bezweifle, daß diese Leistung zustande gekommen wäre ohne den zeitgeschichtlichen Antrieb. Helmut Dubiel hat in einer vorbildlichen Untersuchung (in seinen 1978 bei Suhrkamp erschienenen »Studien zur frühen Kritischen Theorie«) verfolgt, wie die historisch-politischen Erfahrungen mit dem Ende der revolutionären Arbeiterbewegung, mit dem Naziregime und dem Stalinismus tief in die Entwicklung der Kritischen Theorie selbst eingegriffen, wie sie die Hoffnungen, die am Anfang des Projektes gestanden hatten, nach und nach erdrückt und den inneren Kreis zu jener negativ-dialektischen Spielart von Totalitarismustheorie gedrängt haben, mit der dann Horkheimer und Adorno, nur noch die Kritik der instrumentellen Vernunft in Händen, nach Deutschland zurückgekehrt sind.
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Der zeitgeschichtliche Antrieb Das Vorwort, das Horkheimer im Juli 1940 zum ersten englischsprachigen Heft schreibt, verrät die Motive, von denen die Zeitschrift bis dahin gelebt hatte: »Wir haben bisher die Zeitschrift hauptsächlich deshalb nicht in Amerika veröffentlicht, weil in den vergangenen acht Jahren die meisten unserer Leser Europäer waren. Indem fast alle Beiträge auf deutsch erschienen, konnte sie ihren eigentlichen Zweck erfüllen; philosophische und wissenschaftliche Traditionen, die in Deutschland nicht länger verfolgt werden konnten, wurden hier in der Muttersprache fortgesetzt. Die Sprache, in der Artikel geschrieben werden, bleibt nicht ohne Einfluß auf den Gedanken. Aber diese Überlegung muß nun hinter unserem Wunsch zurücktreten, unsere Arbeit, sogar ihrer äußeren Form nach, in den Dienst des amerikanischen Gesellschaftslebens zu stellen. Philosophie, Kunst und Wissenschaft haben in fast allen Teilen Europas ihre Heimat verloren.« (Jg. 8,321) Wer sich den Besprechungsteil der vier Hefte anschaut, die dann noch in englischer Sprache erschienen sind, sieht, woran die Zeitschrift zugrunde gegangen ist - die Nabelschnur zur wissenschaftlichen Kultur des Heimatlandes war zerschnitten. Bis dahin hatten die Emigranten nach Deutschland geblickt, mit jenem eigentümlichen Blick, in dem sich Liebe, ja Abhängigkeit mit Trauer, Bitterkeit und Schrecken mischten. In den vielen aufgeschreckten Blicken ist etwas eingefangen worden, was die Lektüre der Besprechungen bis auf den heutigen Tag für jeden, dem die Namen noch etwas sagen, zu einer beklemmenden Erfahrung macht: In diesem Teil der Zeitschrift spiegelt sich die Dekomposition des Geistes auf deutschen Universitäten. Die ersten, aus Frankfurt publizierten Hefte leben noch ganz in der akademischen Welt der 20er Jahre. Die Fülle der Kurzbesprechungen schafft Überblick über ein vertrautes Gelände. Da sind die bekannten Sozialwissenschaftler wie Vierkandt, Tönnies und Thurnwald, Karl Mannheim, Alfred Weber, Emil Lederer, Robert Michels, Theodor Geiger oder A. v. Martin. Noch werden im gleichen Atemzug besprochen C. G. Jung neben Freud, Hans Freyer neben Neurath, Ludwig von Mises neben Lenin, Kurt
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Breysig neben Franz Mehring. Der Bogen reicht von Eugen Rosenstock bis Nicolai Hartmann, von Lujo von Brentano bis Kautsky, von Alfred Schütz und Eduard Heimann bis Kuczynski, von Malinowski über Bergson bis Croce. In dieser friedlichschiedlichen Runde sind nur wenige scharfe Töne zu vernehmen. Adorno spricht von Spenglers polternd generösem Pathos, der junge Dolf Sternberger hat ein unbeirrtes politisches Gespür für Othmar Spanns zeitsymptomatischen Stellenwert. Kritisch ist auch Richard Löwenthal: Damals noch marxistisch, nimmt er genau die von Schumpeter und Weber angeregte Demokratietheorie auseinander, auf die er sich selbst später zurückziehen wird. Aber noch betont Karl Korsch die Stärken der Theorie von Carl Schmitt; und Hans Speier meldet erst vorsichtig Bedenken gegen die Reduktion des Politischen auf Freund-Feind-Verhältnisse an. Im übernächsten Heft hat sich die Atmosphäre mit einem Schlage verändert: Als dasselbe Buch, Carl Schmitts »Begriff des Politischen«, in dritter Auflage erscheint, kann sich Marcuse darauf beschränken, die teils opportunistischen, teils scharfmacherischen Textänderungen schlicht aufzuzählen, die der Autor nach dem 30. Januar 1933 stillschweigend vorzunehmen für nötig gehalten hatte. Zur gleichen Zeit warnt allerdings Horkheimer vor pauschalen Urteilen, indem er auf »die gegenwärtig in Deutschland maßgebenden, soziologisch äußerst komplizierten intellektuellen Strömungen« hinweist. Aus den Rezensionen der deutschsprachigen Publikationen ergibt sich tatsächlich ein kompliziertes Bild. Natürlich verfolgt die Zeitschrift die Werke der Emigranten, auch derjenigen, mit denen ein persönlicher Kontakt nicht zu bestehen scheint, etwa die Arbeiten von Karl Mannheim, Ernst Heller, Helmuth Plessner, Leo Strauss, E. Voegelin, W. Hallgarten oder Gotthard Günther. Das Hauptaugenmerk richtet sich aber auf die Autoren, die deutsche Wissenschaftstraditionen in Deutschland fortsetzen können: auf Jaspers, Litt, Nicolai Hartmann in der Philosophie oder auf Franz Schnabel, Friedrich Meinecke, Erich Kahler, Hermann Oncken unter den Historikern. Das Fortschreiten von Editionen (Hegel, Dilthey) wird ebenso sorgfältig registriert wie die schwer überschaubaren politischen Differenzierungen innerhalb bekannter schulen (wie der Heideggerschen in Freiburg oder der von Felix
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Krüger in Leipzig). Mit Marcuse, Löwith und Günther Stern (der nach dem Kriege unter dem Pseudonym Günther Anders bekannt geworden ist) verfügt die Zeitschrift über drei Philosophen, die im Freiburg Husserls und Heideggers intellektuell aufgewachsen sind. Nicht ohne Aufatmen beginnt Marcuse Ende 1936 eine Sammelrezension mit der Feststellung, daß einige Arbeiten aus dem Umkreis Heideggers, obwohl sie nicht in den Aufgabenkreis einer Zeitschrift für Sozialforschung gehörten, eine Besprechung verdienen, weil sie sich ohne Anpassung an die herrschende Ideologie »um eine sachliche Behandlung ihres Gegenstandes bemühen«. Man bemerkt die Anstrengung, aus der Ferne die verwischten Konturen doch noch zu erkennen. Nicht untypisch ist, was Adorno über »Die Schichten der Persönlichkeit« von Erich Rothacker schreibt, dasselbe Buch, das wir als Rothackerschüler nach dem Kriege fürs Psychologiestudium ohne die scharfsichtigen Unterscheidungen des New Yorker Beobachters aus dem Jahre 1938 benutzt haben: »Das Buch zeigt die Gelehrsamkeit der Diltheyschule und ist geschickt organisiert. Auffallend die politische Zurückhaltung. Die übliche Nutzanwendung der organisch geschichteten Persönlichkeit unterbleibt. Das Kapitel über Völkerpsychologie kann wegen seiner Betonung historischer Momente gegenüber den Invarianten als versteckte Polemik wider die Rassedoktrin gelten. Die Namen von Autoren wie Bergson, Koffka, W. Stern, Geiger, Kurt Goldstein sind genannt. Freilich nicht der Freuds. Man vermißt ihn um so mehr, als die einzige Idee, die über den Rahmen des Lehrbuchs hinausgeht, die von den >Schichten< der Person und ihrem Verhältnis, in der Freudschen Theorie der >Systeme< Unbewußt, Vorbewußt und Bewußt und in seinen Ausführungen über ihre topologische und dynamische Interpretation unmittelbar angelegt ist.« (Jg. 7,423) Auf einem anderen Blatt stehen Günther Sterns bittere Bemerkungen über C. G. Jungs ebenfalls 1936 veröffentlichte amerikanische Vorlesungen, worin dieser sich behutsamer ausgedrückt hatte als »rasch nach der Neuordnung« in Deutschland: »Es wäre ungerecht, Jungs Begabung für geographische Variationen unter den Scheffel zu stellen.« Auf einem anderen Blatt erst recht stehen Erich Triers Berichte aus Frankfurt über die neuesten Entwicklungen in der
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Evangelischen Theologie (Barth, Gogarten, Müller) oder gar Hugo Marxens und Hans Mayers Berichte aus Zürich über jenes todtrauriee Satyrspiel, das Carl Schmitt und seine Schüler, das Leute wie Ernst Anrieh, E. R. Huber, Ernst Forsthoff, Otto Koellreutter, Herbert Krüger und Karl Larenz im deutschen Staatsrecht damals in Szene setzten. In diesem Kontext steht die Abhandlung von Herbert Marcuse über den »Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung«- Erst mit dieser Arbeit löst sich Marcuse von seinem Lehrer Heidegger, dessen Rektoratsrede und dessen Artikel in der Freiburger Studentenzeitung vom 10. November 1933 auch unter seinen exilierten Schülern sofort die Runde gemacht hatten. Marcuse löst sich von Heidegger freilich mit einem Kunstgriff. Carl Schmitts Dezisionismus gilt als das aufgelöste Rätsel einer abstrakten, vom gesellschaftlichen Lebenszusammenhang sich abwendenden Existentialontologie: »Der Existentialismus bricht zusammen in dem Augenblick, da sich seine politische Theorie verwirklicht.« Und mit ironischer Zustimmung zu Carl Schmitt, der verkündet hatte, am Tage der Machtergreifung sei »Hegel gestorben«, heißt es: »Der Existentialismus hat die größte geistige Erbschaft der deutschen Geschichte ausgeschlagen. Nicht mit Hegels Tod, sondern jetzt erst geschieht der Titanensturz der klassischen deutschen Philosophie.« Jg., 3,194) Ein Ende mit zwei Fortsetzungen Diese Stimmung hat sich im Laufe der Jahre verdichtet. Sie hat die normativen Grundlagen der kritischen Theorie selbst angegriffen und damit das Ende der Zeitschrift herbeigeführt. Martin Jay erwähnt in seiner umfassenden historischen Darstellung der Frankfurter Schule (Dialektische Phantasie, Frankfurt 1973, 203) die finanziellen Schwierigkeiten, die es unmöglich machten, alle Institutsprogramme weiterzuführen. Aber die Zeitschrift ging zu Ende, weil eine innere Uhr abgelaufen war. Der Entschluß zur Umstellung der Zeitschrift auf eine amerikanische Leserschaft brachte vordergründig den Willen zum Ausdruck,
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das Institut stärker in der empirischen Forschung zu engagieren und ins Wissenschaftssystem an Ort und Stelle zu integrieren. Der Radio-research der Gruppe um Paul Lazarsfeld bietet den Anknüpfungspunkt; ein Heft der Zeitschrift wird Problemen der Massenkommunikation gewidmet. Aufschlußreicher sind aber Horkheimers »Notizen« im selben Heft. Sie offenbaren nicht nur eine gewisse Hilflosigkeit, sondern vor allem Halbherzigkeit bei dem erklärten Versuch, die kritischen Gehalte theoretischer Begriffe wie heimliche Sprengsätze in Erhebungstechniken einzubauen. Dieser Versuch kam zu spät, nämlich zu einem Zeitpunkt, als die kritische Theorie den Boden unter ihren Füßen bereits verloren und sich dem Sog einer die Vernunft und den Glauben an die Vernunft aufzehrenden Dialektik der Aufklärung überlassen hatte. Zu weit war die Resignation 1941 fortgeschritten. Im vorletzten Heft veröffentlicht Horkheimer seinen Aufsatz über »Das Ende der Vernunft«, der in nuce die »Kritik der instrumenteilen Vernunft« vorwegnimmt. Verlorengegangen war das Vertrauen in die Kraft der philosophischen Tradition, in die utopischen Gehalte der bürgerlichen Ideale, in jenes Vernunftpotential der bürgerlichen Kultur also, das unter dem Druck der entwickelten Produktivkräfte in sozialen Bewegungen freigesetzt werden würde. Ausgehöhlt war der rationalistische Kern der kritischen Theorie, die sich zugetraut hatte, auf dem Wege einer immanent ansetzenden Kritik an den Gestalten des objektiven Geistes zu unterscheiden »zwischen dem, was der Mensch und die Dinge sein können, und dem, was sie faktisch sind«. (Jg. 5,23) Mit Recht hatte Marcuse diese Unterscheidung den »zentralen Hebel der Theorie« genannt. Nun aber schien alle Vernunft aus der Realität entwichen zu sein. Die Produktivkräfte hatten sich in die Destruktivkräfte der Kriegsmaschinerie verkehrt; und wo war die soziale Bewegung, das »Subjekt« geblieben, das die Theorie »tragen« sollte - »das Bewußtsein bestimmter Gruppen und Individuen, die um eine vernünftige Organisation der Gesellschaft im Kampfe stehen«? Übrig bleibt, seit 1941, die Diagnose eines Selbstzerstörungsprozesses der Vernunft, welche alle wichtigen Motive der in den 70er Jahren erneuerten Fortschrittskritik vorwegnimmt - freilich ohne die pausbäckige Forschheit derer, die heute die Dialektik der
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Aufklärung in eine schlichte Philosophie der Nachaufklärung umsetzen. Zwei Linien führen von diesem Punkt aus, wo die Zeitschrift zu existieren aufhörte, wo mit ihr die klassische Gestalt der Theorie zerfiel, in die späten sechziger Jahre. Adorno und Marcuse haben aus der »Dialektik der Aufklärung« entgegengesetzte Konsequenzen gezogen. Während Marcuse den historisch verdunkelten Anspruch der Vernunft triebtheoretisch unter die Schwelle der Kultur zurückverlegt, setzt Adorno seine entleerte Hoffnung auf das einsame Exerzitium der sich selbst verneinenden Philosophie. Eine dritte Möglichkeit verkörpert Leo Löwenthal, auf den der Schatten der beiden anderen gefallen ist: Man kann gegen die anklagende These vom Ende der Vernunft Einspruch erheben, ohne zwischen Metaphysik einerseits und einer der modischen, der wissenschaftlich avancierten Formen einer Liquidierung der Vernunft andererseits wählen zu müssen. Die philosophische Erschöpfung, die heute die intellektuelle Szene, nicht nur in der Bundesrepublik, lähmt, macht wieder neugierig auf Versuche der kritischen Theorie, die Anfang der 40er Jahre abgebrochen worden sind. Vielleicht erklärt sich der Abbruch des Unternehmens auch daraus, daß selbst die, die dem Marxismus das Pseudonym der kritischen Theorie verliehen haben, noch nicht unorthodox genug verfahren sind. Weil sie, was Marx »Produktivkräfte« genannt hatte, zu traditionell verstanden haben, mußten sie alsbald feststellen, daß das Anwachsen der Kräfte kognitiv-instrumenteller Rationalität nicht schon menschenwürdige Lebensformen verbürgt. Vielleicht sind ja die eigentlich produktiven Kräfte, die vernünftigen Potentiale, eher in den Verständigungs- als in den Arbeitsverhältnissen angelegt.
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19. Leo Löwenthal Ein Glückwunsch (1980)
Vor wenigen Tagen hat Leo Löwenthal in unserem Starnberger Institut einen Vortrag gehalten; es war ein souveräner Rückblick auf die eigenen literatursoziologischen Arbeiten. Dabei ist mir klar geworden, daß die breite Rezeption der Frankfurter Theorie nur die allgemeinsten Züge dieses imponierenden Lebenswerkes erfaßt hat. Von dem Namen »Frankfurter Schule« pflegt sich Löwenthal ohnehin mit der Bemerkung zu distanzieren, das klinge ja eher nach einer Taxiadresse. Der Lichtkegel der öffentlichen Aufmerksamkeit hat die Details eines Werkes, das sich mit den kunstsoziologischen Arbeiten von Lukács, Kracauer und Adorno messen kann, am Rande liegen lassen; und die Einzelheiten sind es doch, in denen diese Studien die Eigenart ihres Autors enthüllen, Studien, die die literarischen Zeugnisse des bürgerlichen Zeitalters als »Nachrufe auf die Sozialisationsmuster vergangener Jahrhunderte« entziffern. Die Gesammelten Schriften, deren ersten Band der Verleger heute vorlegt, werden die Gelegenheit und den Anreiz dafür bieten, Leo Löwenthals intellektuelle Physiognomie von dem Hintergrund des Kreises um Horkheimer, dem er sich mit seiner Produktivität selbstlos eingeordnet hat, stärker als bisher abzuheben. Ein kurzer Glückwunsch kann sich diese Aufgabe, die ernstere Anstrengungen erfordert, nicht zum Ziel setzen; an Ort und Stelle möchte ich nur den Wunsch zum Ausdruck bringen, daß sich alsbald ein Kundiger finden möge, der sich einer solchen gleichermaßen reizvollen wie rühmlichen Aufgabe mit dem rechten Augenmaß anzunehmen die Fähigkeit hat. Ich selbst möchte, lieber Leo, auf einen Zug eingehen, den Du mit Deinen Freunden teilst, der eine Mentalität kennzeichnet, die Dich, die Euch nicht nur von der amerikanischen Umgebung, sondern auch von den nach dem Kriege in Deutschland aufgewachsenen Generationen trennt. Ich meine jene charakteristische Unbeirrbarkeit, mit der Ihr Euch traut und zutraut, Werturteile in theoreti-
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scher Einstellung zu fällen. Dazu fehlt heute Sozialwissenschaftlern und Philosophen nicht nur der Mut, sondern auch das gute Gewissen. Seid Ihr nun die Dogmatiker, oder sind die anderen die Defaitisten? Zuletzt ist Dir in Starnberg begegnet, was Du immer wieder erlebst. In Deinem Vortrag hast Du, wie stets, mit großer Selbstverständlichkeit das Recht beansprucht, beispielsweise zwischen Literatur als Kunst und jener Trivialliteratur zu unterscheiden, die nur zum Konsumgut, zur Ware, zum Mittel der Manipulation taugt. Deine literatursoziologischen Forschungen gehen von der Prämisse aus, daß der Wissenschaftler erkennen kann, wann ein Kunstwerk etwas zu sagen hat, wann es einen kognitiven Gehalt hat, und wann es zur Massenkultur gehört, bloß Symptom für etwas anderes ist, das sich in ihm einen ideologischen Ausdruck verschafft. Wieder hat man Dir in der Diskussion den Vorwurf des Elitismus gemacht, und natürlich hast Du in gespielter Unschuld zurückgefragt: »Was, bitte, ist so schlecht an Eliten, wenn sie über ein geschultes Urteilsvermögen verfügen?« Übrigens unterstelle ich, daß Du tatsächlich unschuldig bist in einer Hinsicht: die jüngsten bundesrepublikanischen Versuche, den ideologisch verbrauchten Begriff der Elite wieder aufzupäppeln, wären Dir, wenn Du sie kennen würdest, keine erwünschte Nachbarschaft. Es geht ja auch um etwas anderes. Wenn man überlegten, theoretisch folgenreichen Werturteilen den kognitiven Status nicht schlechthin absprechen will, zeigt sich an der Haltung, die Du so eindrucksvoll verkörperst, ein Problem, dessen man sich nur mit positivistischer Naivität entschlagen könnte. Bei allem methodisch gebotenen Fallibilismus - ist nicht die Sicherheit des wertenden Urteils auch eine Funktion der begründeten Selbstsicherheit derjenigen, die es fällen? Für diese Mentalität der Selbstsicherheit finden sich übrigens viele Beispiele in den Gesprächen, die Leo Löwenthal mit Helmut Dubiel geführt hat: »Nicht wir haben die Praxis verlassen, die Praxis hat uns verlassen.«1 Und an anderer Stelle heißt es: »Im Grunde, wenn ich das arrogant ausdrücken darf, ich habe nicht die 1 Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, Ffm. 1980, 79.
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Politik und die Revolution verlassen, die Revolution hat mich verlassen.«2 Das ist die Linie, auf der sich auch Horkheimer, Marcuse und Adorno immer dagegen gewehrt haben, daß die Theorie durch eine schlechte Wirklichkeit, der sie doch den Spiegel vorhalten will, umstandslos sollte falsifiziert werden können. Das klingt fatal in den Ohren anständiger Wissenschaftler und ist doch eine Selbstverständlichkeit für eine Theorie, die neben den deskriptiven eben auch normative Gehalte hat. Es geht eher um die Art der normativen Gewißheiten, die Art der Vergewisserung des Normativen, die sich unnachahmlich in dem folgenden Bekenntnis ausdrückt: »Die ersten Jahre im Institut waren auch eine Art vorweggenommener Utopie, wir waren anders und wußten es besser.«3 Ich sehe schon die Kritiker, die das aufspießen, die das als dogmatische Besserwisserei abtun und der Attitüde der deutschen Mandarine in die Schuhe schieben. Auch wenn ich selbst diese Haltung einer Mentalität zugeschrieben habe - so einfach läßt sich eine ernste Sache nicht auf bloß Psychologisches reduzieren. Gewiß, nicht ganz und gar abwegig ist die Vermutung, daß das ehrwürdige deutsche Gymnasium die Folie bildet für jene Werturteile, die den Heutigen nicht mehr schlechthin evident erscheinen wollen. Der beinahe 8ojährige Löwenthal scheint nur eine Autorität vorbehaltlos anzuerkennen, und zwar die seiner Lehrer am Frankfurter Goethegymnasium von 1918: »Sie waren so gut, daß sie zum Teil Honorarprofessoren an der Universität wurden«.4 Und heute noch wird Löwenthal von dem Verdacht geplagt, er habe sich bleibende Bildungsschäden, bis ins hohe Alter, zugezogen, weil er vor Abschluß der Oberprima nach Hanau zum Militär einrücken mußte. Trotzdem - der Mentalität »Wir waren anders, wir wußten es besser« kommt man mit solchen Reminiszenzen nicht bei. Etwas aufschlußreicher ist schon jene Situation im New York der dreißiger Jahre, als sich die Gruppe um Horkheimer entschloß, die Zeitschrift für Sozialforschung in deutscher Sprache fortzuführen, dies in der Überzeugung, die »deutsche Sprache sei im kleinen Kreis 2 Ebd., 226. 3 Ebd., 75. 4 L. Löwenthal, a.a.O., 71.
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des Instituts besser aufgehoben als im Dritten Reich«.5 Dieser Entschluß war nicht selbstverständlich. Er bedeutete die Abgrenzung gegenüber amerikanischer Wissenschaft, gegenüber der Kultur der nächsten Umgebung, und er war nur möglich dank einer für Emigranten einzigartigen wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Diese Selbstbehauptung einer an deutsche Traditionen geknüpften Identität mag die Gewißheit in fundamentalen Wertentscheidungen ebenso erfordert wie ihrerseits bekräftigt haben. Allein, Werturteile in theoretischer Einstellung müssen am Ende brüchig werden, müssen in starren Dogmatismus übergehen, wenn sich ihre Gültigkeit nicht an der in ihrem Lichte durchgeführten Kritik auch bewährte. Eben das war der Fall. Hatten Horkheimer, Pollock und Löwenthal nicht schon 1930 die Katastrophe von 1933 kommen sehen? Hatte Löwenthal nicht schon 1937 aus Hamsuns Werk eben den Charakter herausgelesen, der sich 1940 an Hamsuns Verhalten bestätigen sollte? Wer die Schwierigkeiten sozialwissenschaftlicher Prognosen kennt, wird einer Theorie, die sich auf solche Leistungen berufen kann, analytische Kraft nicht ganz absprechen wollen. Damit haben wir aber die Versuche, einen bestimmten Zug in der Mentalität der Frankfurter, der sie des Dogmatismus verdächtig macht, auf kontingente Umstände zurückzuführen, hinter uns gelassen. Vielmehr drängt sich nun die Frage auf, ob die ältere Schule mit ihren Werturteilen nicht vielleicht auch recht haben könnte. Lassen Sie mich kurz zu dem Beispiel, von dem ich ausgegangen bin, zurückkehren. Wenn sich Löwenthal gegen alle surrealistischen und nachsurrealistischen Einebnungen, entgegen den modischen Aufwertungen des Trivialen und des Kitschigen zutraut, Literatur als Kunst von Literatur als Massenkultur zu unterscheiden, bewegt er sich nicht auf gängigen Bahnen der Kulturkritik, sondern läßt sich von einer präzisen Intuition leiten. In der Kunst sucht Löwenthal die Botschaft des gesellschaftlich Unerlösten: »Kunst ist in der Tat das große Reservoir des geformten Protestes gegen das gesellschaftliche Unglück, der die Möglichkeit des gesellschaftlichen Glücks durch5 M. Horkheimer, Kritische Theorie, Ffm. 1968, Bd. I, Vonv. XVI.
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schimmern läßt.«6 Wenn sich aber im Kunstwerk die beharrlich protestierende Stimme der Verlierer, der am Rande Verharrenden, über die die Weltgeschichte hinweggegangen ist, meldet, läßt sich auch identifizieren, was nicht zur Kunst gehört. Massenkultur ist, wo alles beim alten bleibt: »Bei Hamsun zum Beispiel sind selbst die Randfiguren Schweinehunde, da gibt es überhaupt kein Erlösungsphänomen, da wird nirgends angekündigt, daß es auch anders sein könnte und müßte. Und das ist für mich der Prüfstein gewesen zu unterscheiden, was ein echtes Kunstwerk ist und was nicht.«7 In Deinem Interesse an der Geschichte der Verlierer, lieber Leo, drückt sich eine Parteinahme aus, die Du mit großer Objektivität wahrnimmst. Ein Werturteil verdankt die analytisch erhellende Kraft einer Objektivität. So hat mich stets beeindruckt, was Du über Franz von Baader sagst, dem Du Deine Dissertation gewidmet hast: auch Baader sei ein Verlierer, weil es in Deutschland eine wirkliche Restaurationsphilosophie ebensowenig gegeben habe wie eine politisch emanzipierte Aufklärung. Ich habe mir nur darum erlaubt, auf einen charakteristischen Zug in der Mentalität der älteren Frankfurter Generation einzugehen, weil Leo mit dieser gelegentlich irritierenden Unbeirrbarkeit einen ganz anderen Zug verbindet, der ihn von seinen Freunden unterscheidet: Leo verfügt so sehr über den Charme derer, die sich selbst in Frage zu stellen bereit sind, er ist von so großer, so selbstverständlicher Bescheidenheit, daß er, im Kreise seiner Freunde, eigentlich der einzige ist, der sich jene methodisch gemeinte Arroganz des Urteils gestatten kann, ohne mißverstanden zu werden. Dieser unendlich liebenswerte Zug seiner Person mag auch erklären, warum sich Leo Löwenthal seiner amerikanischen Umgebung, der empirischen Forschung und der analytischen Denkweise am weitesten geöffnet hat; warum er als einziger von den älteren Frankfurtern der großen Philosophie Amerikas, ohne Pragmatismus von Peirce bis George Herbert Mead seinen Respekt nicht versagt hat; warum er seit einem Vierteljahrhundert mit außerordentlichem Erfolg einen Lehrstuhl an einem der führenden soziologischen Departements in den USA innehat; warum schließlich er es gewesen ist, der in den 6 L. Löwenthal, a.a.O., 175. 7 Ebd. 176!
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entscheidenden Jahren im Institut für Sozialforschung die Geschäfte geführt, der die Zeitschrift für Sozialforschung nicht nur redigiert, sondern vor allem die Regie für einen Rezensionsteil übernommen hat, welcher historische Bedeutung erlangt hat. Daß Hans Mayer diese Leistungen eines geschäftsführenden Herausgebers der Zeitschrift für Sozialforschung noch vor wenigen Tagen 8 als die eines »Redaktionssekretärs« kennzeichnen und verkennen konnte, sagt eher etwas aus über den unaufdringlichen Stil des Mannes, den wir heute feiern.
8 In: Die Zeit vom i. Nov. 1980.
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Anhang: Zur Deutschen Ideologie
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Zur Kritik an der Geschichtsphilosophie (1960)
Reinhart Koselleck und Hanno Kesting begreifen die gegenwärtige Weltkrise als Ausbreitung der mit der Französischen Revolution ausbrechenden Krise des europäischen Bürgerkrieges über den ganzen Erdball. Der Ost-West-Konflikt gewinnt im utopischen Selbstverständnis konkurrierender Geschichtsphilosophien Gestalt. Diese haben in der Kritik, die sich Aufklärung nannte, ihre gemeinsame Wurzel. Derart erscheinen Kritik und Krise einander zugeordnet. Im 18. Jahrhundert trete die Geschichte über die Ufer der Tradition, beginne die »utopische Moderne«, die im 20. Jahrhundert ihr Ende finden soll; mit ihr verliere die Deutung der Gegenwart aus dem Horizont möglichen Fortschritts, mit ihr Geschichtsphilosophie als solche ihr Recht. Und zwar stellt sich ihnen dieser Vorgang so dar, als schriebe die kritisierte Geschichte selber die Metakritik der Geschichtsphilosophie. Koselleck1 begreift die Aufklärung aus einer Dialektik von Politik und Moral, die in der Ausgangsstellung der bürgerlichen Intelligenz im absolutistischen Staat vorgezeichnet ist. Unter dem Absolutismus wird der konfessionelle Bürgerkrieg stillgestellt. Der Monarch erfüllt den Auftrag der Friedensstiftung durch Monopolisierung der öffentlichen Gewalt und eine Privatisierung der bürgerlichen Gesellschaft. Das Staatsinteresse ist der Kompetenz des Gewissens entzogen und der Souveränität des Fürsten ausschließlich überantwortet. Die Gesinnungen bleiben, wie in Hobbes' Staatslehre, für die Regierung folgenlos. Politische und moralische Gesetzlichkeit sind streng getrennt. Die Staatsraison verlangt vom Fürsten ein Verhalten nach Regeln der Klugheit; die privatisierte Religion von den Untertanen ein Verhalten nach Regeln der Sittlichkeit. Bevor Kant am Ende des folgenden Jahrhunderts die Übereinstimmung des einen mit dem anderen, die Konvergenz von Politik und Moral K. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959
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selbstverständlich als ein Postulat der Rechtslehre aufstellen kann, vollzieht sich jener Prozeß der Kritik, der die bürgerliche Gewalt selber zur öffentlichen erhebt. Der zuvor private Raum der Innenwelt weitet sich zur Öffentlichkeit aus, und die Kraft der Öffentlichkeit durchdringt den Staat. Die bürgerlichen Privatleute schließen sich zum Publikum zusammen; ihr Raisonnement schafft eine indirekte Gewalt; in den Salons, den Klubs und den Logen, Kaffeehäusern und Tischgesellschaften findet eine moralische Gerichtsbarkeit, die schließlich auch den Fürsten vor ihr Forum zitiert, ihre frühen Institutionen. Koselleck untersucht an exemplarischen Zeugnissen der Geistesgeschichte die Etappen der Politisierung, von der humanistischen Bibelkritik angefangen, über die unpolitische Kritik der Gelehrtenrepublik, die indirekt politische Kritik der Literaten bis zur Anwendung der Gesetze reiner und praktischer Vernunft auf die Gesetze von Staat und Gesellschaft Turgot und Kant. Die kritische Annektion der öffentlichen Gewalt durch die Privatsphäre scheint vor allem darum so »kritisch«, weil sie sich nicht als ein politischer Akt versteht: »das heißt die Krise war nur deshalb eine solche, weil sie als politische Krise im Grunde verdeckt blieb.« Noch deutlicher: »Die Moralisierung der Politik war um so mehr eine Entfesselung des Bürgerkriegs, als in dem Umsturz, in der >RevolutionMenschen< gegen die des >UnmenschenÜberhebung< (das philosophische Gegenstück zur hybris des tragischen Helden) sie doch vor der >Buße< nicht retten kann, brechen diese die Herrschaftsmacht der verschlingenden Räume und einer verschlingenden Zeit. In ihrem Kampf gegen die Baale protestieren sie gegen die ungebrochenen Mächte des Ursprungs. Sie stellen ihnen die eine Macht entgegen, die verzerrt auch in ihnen ist.« Gegen den ontologischen Schein reiner Theorie setzen die Dialektiker ein Erkennen, das durch Interesse hindurch seine Intention erfüllt. Die protestierende Parteinahme für die gelingende Identität und die glückende Kommunikation ist dialektisch, ja, Dialektik besteht geradezu in dem Neinsagen, dessen Schwierigkeiten Heinrich verhandelt, weil in den versöhnten Lebenszusammenhang die dämonischen Mächte selbst mit eingehen müßten und nicht zugunsten eines aparten Bereichs der reinen Einheit negiert werden können: ihnen selber muß die Macht des lösenden Wortes, dem sie dann verfallen, entrungen werden. Die Verräter können und müssen daran erinnert werden, daß sie sich selber verraten. Proteste gewinnen Kraft nur in dem Maße, in dem sie sich mit dem, wogegen sie sich richten, erst einmal identifizieren. In diesem Sinne wird Eulenspiegel als ein Konformist gedeutet, der durch pointiertes Mitmachen die Wahrheit über den Konformismus an den Tag bringt. Techniken dieses listigen Widerstandes verfolgt die Untersuchung auch an Odysseus und dem listenreichen Brecht, an den Inversionen der Tierfabeln und der Dreigroschenoper. Unter dem von Heinrich entfalteten Gesichtspunkt zeigt sich schließlich die Zusammengehörigkeit von ontologischem und positivistischem Bewußtsein. Beide verfallen dem suggestiven Schein reiner Theorie, beide teilen die Intention, eine in Dämonenfurcht lebende Welt durch abstrakte Trennungen zu entdämonisieren. Sei es, daß Vernunft zu regloser Kontemplation des Ewigen sich erhebt, sei es, daß sie zum Instrument der Bearbeitung des Verfügbaren herabgesetzt wird - der Wiederkehr der bloß verdrängten Mächte stehen Ontologie und Positivismus gleichermaßen hilflos gegenüber. Denn der Aufstieg zur indifferenten Ursprungsmacht des einen unaussprechlichen Seins macht ebenso unfähig zur Reflexion der Widerstände und zur protestierenden Rede wie die
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Austreibung empiristisch sinnloser Sätze unter dem Zwang restringierter Erfahrung. Die letzte Gestalt, die Heidegger der Ontologie gegeben hat, ist Kehrseite der gleichen Münze, welcher der Positivismus seinen Stempel der Sprachlosigkeit aufgedrückt hat. Jene Ontologie macht die Worte zum Fetisch, betet ihre Wurzeln an, glaubt sie nur an den verehrten Ursprüngen rein zu haben; unterdessen macht der Positivismus die Worte nominalistisch zu Zeichen, mit denen er beliebig verfährt, er entleert die Sprache und widerruft ihre vereinigende Macht. Mit dem Hinweis auf diesen richtigen Zusammenhang zwischen dem Wortfetischismus Heideggers und dem Zeichennominalismus der strikten Erfahrungswissenschaften dürften wir es freilich nicht bewenden lassen. Immerhin hat sich die organisierte Forschung zu einer Produktivkraft der industriellen Gesellschaft entfaltet; die technische Verwertung ihrer sprachlosen Informationen hält uns am Leben, auch wenn sie zugleich auf der Ebene, die Heinrich einzig im Auge hat, an der Zerstörung desselben Lebens arbeitet, solange die dialektische Aufgabe des »Übersetzens« nicht gelingt. Gewiß geht es darum, einen praktisch folgenreichen Wissensstand nicht nur in die Verfügungsgewalt der technisch hantierenden Menschen weiterzugeben, sondern auch in den Sprachbesitz der kommunizierenden Gesellschaft zurückzuholen - es geht um eine Rückübersetzung wissenschaftlicher Resultate in den Horizont der Lebenswelt. Aber könnten wir den positivistisch betriebenen Forschungsprozeß mit gleichem Erfolg oder der gleichen tröstlichen Folgenlosigkeit aufheben, die wir wohl erwarten dürfen, wenn einst die Spuren der letzten Ontologien verweht sind? Das Übersetzen, das erweckende Aussprechen gilt als Schlüssel zur Versöhnung. Für Heinrich wird Lebendigkeit mit Teilhabe an Sprache synonym, Wirklichkeit mit sprachlicher Wirklichkeit identisch. Das scheint mir von Tillichs Theologie der Verkörperung her verständlich, aber im Zuge einer durch Walter Benjamin inspirierten Auseinandersetzung mit der Ontologie nicht ganz konsequent. Wenn Heinrich der positivistischen Gestalt der Sprachlosigkeit (der Operationellen Zeichenverwendung in formalisierten Sprachen) oder auch dem eigentümlichen Zwang der formalen Logik zur Eindeutigkeit, gegen die er die Zweideutigkeit des
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dialektischen Neinsagens aufbietet, im Ernst nachgegangen wäre, so würde er in diesem »Verrat«, von dem die modernen Wissenschaften geradezu leben, das System gesellschaftlicher Arbeit entdeckt haben. Mir will scheinen, daß Heinrich infolge eines religionsphilosophischen Ansatzes seinen Blickwinkel auf den Ursprung jenes Prozesses einschränkt, in dessen Verlauf die menschliche Gattung den »Mächten« Mündigkeit abringt. So werden die mythischen Anfänge nicht eigentlich auf die Kategorien der entwickelten Gesellschaft, um deren Sprachlosigkeit es dem Verfasser doch geht, bezogen; Sprache wird nicht in ihrer Vermittlung durch Arbeit begriffen. Damit mag es zusammenhängen, daß Heinrich am Ende glaubt, seine Einsichten unter dem Titel eines neuen Existentials resümieren zu können: der Angst der Fundamentalontologen stellt er den »Sog« gegenüber - ein merkwürdiger Rückfall in dieselbe Ontologie, die doch der eigenen Kritik anheimfiel.
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Die verzögerte Moderne (1965)
Einst war es selbstverständlich, daß Soziologen ihren höchsten Ehrgeiz darein setzten, ihre Gegenwart als Geschichte zu begreifen. Zusammen mit dem Erbe der Geschichtsphilosophie sind die historisch gerichteten Gegenwartsanalysen heute, jedenfalls unter Fachkollegen, in Verruf geraten. Der Königsweg der älteren Soziologie ist von engherzigen Methodologen nur zu erfolgreich als ein Holzweg verurteilt worden. Fast gehört schon Mut dazu, das in der deutschen Tradition freilich nie ganz abgerissene Band zwischen engagierter Wissenschaft und politischer Schriftstellerei wieder enger zu knüpfen. Direkter Einfluß unter dem Deckmantel der Expertise ist allemal gefahrloser. Dahrendorf geht das Risiko ein; er rückt mit einer Handvoll globaler Annahmen und informierter Vereinfachungen der Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen im Deutschland der letzten hundert Jahre zu Leibe.1 Dabei fallen Späne. Aber Dahrendorf führt den Hobel nicht ohne Kunst und nicht ziellos. Er fragt nach den Ursachen für die Hemmungen der liberalen Demokratie in Deutschland. Er fragt in politischer Absicht: Was muß geschehen, damit auch Deutschland ein Land liberaler Demokratie werden kann? Ich gestehe, daß mir Deutschlandbücher ein Greuel sind. Oft sind sie selber nur Ausdruck des Problems, das sie lösen wollen. Sie sind einer Perspektive verhaftet, die Dahrendorf glücklicherweise schon auf der ersten Seite ironisch zusammenklappt: Deutsche Sorgen sind nicht sozial, sondern national. Als die Freien Demokraten im Koalitionshandel Justiz- und Wissenschaftsministerium ohne Zögern für ein Ressort opferten, an das sich gesamtdeutsche Imaginationen und nationale Sonntagsreden knüpfen lassen, haben sich die deutschen Liberalen wieder einmal 1 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965.
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dafür entschieden, die nationalen Sorgen wichtiger zu nehmen als den Schutz des rechtlichen und des sozialen Status der Bürger. Wir nennen den biederen republikanischen Geist, der bis zur mißlungenen Revolution im Jahre 1848 von Beschwernissen der Identitätssuche noch nicht gekrümmt und zu nationalliberaler Anpassung noch nicht genötigt war, altliberal. Entsprechend darf die Perspektive dieses Buches jungliberal heißen. Daß sie heute nur auf dem Umwege einer eigentümlich angelsächsischen Verfremdung hergestellt werden kann, ist selbst ein Symptom. In unserem Lande kann ein abstrakter Liberalismus nicht ohne Gewaltsamkeit, nicht ohne den fingierten Blick des Emigranten überhaupt zur Geltung gebracht werden. Übrigens verdankt Dahrendorf einem wirklichen Emigranten, dem heute in London lehrenden Philosophen K. R. Popper, die Programmatik der offenen Gesellschaft. Dahrendorf verzichtet darauf, die deutschen Traditionen von innen zu kritisieren. Während der letzte vergleichbare Versuch eines Soziologen, Helmuth Plessners Analyse der verspäteten Nation, noch an das Selbstverständnis Kants und Diltheys zwanglos angeknüpft hatte, müssen wir uns nun mit den Augen eines soziologisch belehrten Locke und Burke betrachten. Die Verbindung mit Tocqueville, die der Titel, nicht eben bescheiden, herstellen möchte, leuchtet mir weniger ein. »Demokratie in Deutschland« ist politischer Traktat, Einführungsvorlesung und Theorie der Demokratie in einem. Dahrendorf behandelt sein Thema auf drei Ebenen: Er beschreibt kritische Tatbestände, er versucht Erklärungen unter theoretischen Gesichtspunkten, und er entwickelt programmatisch die Grundsätze einer politischen Verfassung der Freiheit. Die Tatbestände arrangiert Dahrendorf mit pädagogischem Geschick. Er zerstört die Legende von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft und bringt die Schranke zwischen den Sozialschichten zu Bewußtsein, die unsere Gesellschaft immer noch in zwei mehr oder weniger streng separierte Hälften teilt. Er belegt noch einmal die drastische Ungleichheit der Bildungschancen. Er macht auf die mangelnde Autonomie der Schule gegenüber dem Elternhaus aufmerksam und zeigt die politisch fragwürdigen Fol-
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gen einer derart familienorientierten Erziehung. Die Randexistenz von Gastarbeitern, Geisteskranken und Gefangenen, das soziale Verhalten gegenüber Kindern, Kranken und Alten macht Dahrendorf zum Zeugen für jene achtlose Brutalität, die die Spuren von Auschwitz erkennen läßt: So schält sich eine »Normalrolle« heraus: der Nicht-Gastarbeiter, NichtAbnorme, der erwachsene Mann, der weder zu jung noch zu alt ist, kein Gebrechen hat und das Natürliche liebt, der gedankenlos-kräftige junge Mann also zwischen fünfundzwanzig und vierzig oder vielleicht zwanzig und fünfunddreißig Jahren. Die Enge der sozialen Perspektive, die aus diesem Institution gewordenen Bild des Menschen spricht, die Reduktion menschlicher Vielfalt gleichsam auf den Wehrdienstfähigen ist das Brutale am Konformitätsdruck der deutschen Gesellschaft. Solche Beobachtungen und Kommentare tragen die Steine zusammen, aus denen das Mosaik der deutschen Gesellschaftsstruktur entsteht. Den theoretischen Gesichtspunkt liefert der Begriff der Moderne. Die Entwicklungstendenz von der Herkunftsgesellschaft zur Leistungsgesellschaft bezeichnet den Weg der Modernität. In dem Maße, wie die traditionellen Lebensformen zerfallen, wachsen für jeden die Chancen, sich seine Positionen aus eigener Kraft zu erwerben. Gewiß fördern Industrialisierung und Urbanisierung diese Freiheit, aber erst die politische Verfassung der Freiheit begründet eine moderne Gesellschaft dauerhaft. Mit einer verspätet einsetzenden, aber beschleunigten Industrialisierung ist in Deutschland der Unterbau der Moderne im Kaiserreich geschaffen worden; gleichwohl hat sich eine politische Verfassung nach dem liberalen Muster der angelsächsischen Länder nicht durchgesetzt. Nicht die verspätete Nation, sondern die verzögerte Moderne ist mithin die Ebene, auf der Dahrendorf die deutsche Frage diskutiert. Die Antworten, die er findet, sind nicht überraschend. Wenn man die deutsche Entwicklung am englischen Modellfall mißt, zeigen sich Abweichungen, die sich alle als Hemmnis für die Entfaltung einer bürgerlichen Demokratie auswirken konnten. Zunächst bleiben die Garantien der staatsbürgerlichen Gleichheit unvollständig oder haben nur eine formale Geltung. In ihrer
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modernisierten Welt leben die Deutschen als unmoderne Menschen. Sodann sind die institutionellen Ordnungen eher darauf angelegt, Konflikte zu unterdrücken als die offene Konkurrenz von Interessen zu regeln. Das soziale Muster des Parteienkampfes und der Auseinandersetzung von Regierung und Opposition findet in anderen Bereichen keine Entsprechung. Ferner hat sich nach dem Ende des Kaiserreichs keine sozial einheitliche und selbstbewußte Führungsschicht etabliert. Die gleichsam gestaltlos gewordene Elite wird seither durch ein Kartell der Angst zusammengehalten. Schließlich vermittelt die deutsche Familie ein Wertsystem, das die intimitätsbezogene Innerlichkeit gegenüber den öffentlichen Tugenden prämiiert. Sie verankert das politisch wirksame Potential einer unpolitischen Haltung. Diese vier Feststellungen hätten sich leicht in das bekannte Schema eines schwachen und politisch unselbständigen Bürgertums einfügen lassen: In Deutschland hat der industrielle Kapitalismus spät und heftig in einem politischen Rahmen eingesetzt, der nicht in bürgerlichen Revolutionen gezimmert worden ist. Dahrendorf macht davon keinen Gebrauch - nicht weil ihm das Schema zu grob wäre, sondern weil er die Entwicklung zur »Moderne« von den Interessengegensätzen, die das 19. Jahrhundert beherrscht haben, loslöst. Er vermeidet nicht den Eindruck, als seien die Massendemokratien ohne den Druck der organisierten Massen selber entstanden. Die politischen und erst recht die sozialen Rechte, die den vollen Status aller Bürger sichern, scheinen sich zwanglos als ein Nebenprodukt der kapitalistischen Entwicklung zu ergeben. Unverkennbar und wohl kaum vermeidbar hat die Arbeiterbewegung während des Kaiserreichs auch autoritäre Züge ihres Gegners übernommen. Jedoch entwirft Dahrendorf von Sozialdemokratie und Gewerkschaften so einseitig ein Porträt roter Preußen, daß man versucht ist, ihre historische Rolle zu vergessen - schließlich waren sie Triebkraft für die Realisierung der Gleichheitsrechte. Dahrendorf neigt zu der Annahme, daß Institutionen marktwirtschaftlicher und politischer Freiheit stets einander stützen. Der
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Weg der Moderne, den die Deutschen in den letzten hundert Jahren zögernd und mit vielen Unterbrechungen gehen, scheint nur durch Schutthalden von Traditionen verlegt zu sein, die in der Nazizeit dann endlich abgeräumt wurden. Dieses Bild ist merkwürdig flächig. In ihm sind alle Kategorien von Freiheitsbedrohung ausgespart, die der kapitalistische Weg zur Moderne doch auch selber erzeugt hat. Aus diesem programmatisch eingeengten Blickwinkel stellt sich das Kaiserreich als autoritärer Wohlfahrtsstaat dar, während die in der Bundesrepublik angesammelte Macht einer organisierten Wirtschaft unter dem liberalen Glanz des privatisierenden Volkswagenwerks dahinzuschmelzen scheint. Dahrendorf stellt Marktrationalität und Planrationalität so gegenüber, als sei in dem einen Prinzip der Heilige Geist, im anderen der Beelzebub verkörpert. Sind nicht Markt und Plan Organisationsformen, die sich nur im Hinblick auf bestimmte Ziele unter bestimmten Umständen und in bestimmten Anwendungsbereichen als rational erweisen können? Auch die Parallele zwischen wirtschaftlicher Konkurrenz und einer politischen Willensbildung durch den Streit von Parteien darf uns nicht zu der Annahme verleiten, als seien die Konflikte auf dem Markt und auf der politischen Bühne im Ernst nach dem gleichen Prinzip geregelt. Auf dem Markt gibt es keine Diskussion, sondern nur die zweckrationale Wahl angemessener Strategien. Demokratischen Entscheidungen hingegen geht eine Diskussion voraus, die sich nicht nur auf die Organisation von Mitteln, sondern auch auf die Wahl von Standards der Beurteilung und der Bewertung erstreckt. Dort werden Interessen nur durchgesetzt, hier müssen sie begründet, hier können sie durchschaut werden. Dahrendorf schließt mit einer kühnen Interpretation der deutschen Nachkriegsentwicklung. Er hegt keine Illusionen und nährt keine. Am Urteil über die DDR, auch an der nüchternen Einschätzung des 20. Juli, zeigt sich noch einmal die Unbefangenheit des Autors und die ironische Stellung des liberalen Geistes in unserem Lande. Er, der auf Traditionen des 17. Jahrhunderts zurückgeht, hieße in England vermutlich konservativ, in Amerika sicher republikanisch - hier aber bringt er mühelos alles Bestehende gegen sich auf.
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Im Juni 1924 hat Carl Grünberg, Professor der Staatswissenschaften an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt, zur Einweihung des soeben gegründeten Instituts für Sozialforschung, dessen erster Direktor er war, eine Festrede gehalten. Grünberg rechtfertigte damals die Einrichtung eines Forschungsinstituts mit dem Hinweis auf die Massenausbildung an deutschen Universitäten: »Diese sind, ihrer ursprünglichen, rein wissenschaftlichen Widmung entgegen, zu MandarinenAusbildungsanstalten geworden. Wenn ich das Wort >Mandarin< hier verwende, so nur wegen seiner Prägnanz ... Das Mandarinat, d. h. die Gesamtheit der an den Hochschulen fachlich ausgebildeten Gesellschaftsfunktionäre: der Richter, Anwälte, Verwaltungsbeamten, Handelskammersyndici, Mittelschullehrer, Ärzte usw. ist für den normalen Ablauf des Gesellschafts-, Wirtschafts- und Rechtslebens eine nicht wegzudenkende Voraussetzung.«2 Sosehr Grünberg sich bemüht, den pejorativen Klang des >Mandarins< zu überspielen - er gebraucht den abwertenden Terminus, um den Verfall der deutschen Universität, die sich nicht mehr den wissenschaftlichen Studien allein widmen könne, sondern immer mehr von Bedürfnissen der >Mandarinenausbildung< in Anspruch genommen werde, zu charakterisieren. Eben diese Perspektive nennt freilich Fritz K. Ringer typisch für die »deutschen Mandarine«.1 Er seinerseits reserviert das Wort gerade für die Statthalter der alten Universität, die Grünberg im Schwinden begriffen sieht. Gemessen an dem geistesaristokratischen Selbstverständnis der Repräsentanten einer bildungshumanistischen Überlieferung jener Art, wie sie in Deutschland die Philosophischen Fakultäten und 1 F. K. Ringer, The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community 1890-1933, Harvard University Press, Cambridge, Mass. 1969. 2 Frankfurter Universitätsreden, Bd. XX, 1924.
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auch die Gymnasien geprägt hat, ist das Wort so schlecht nicht gewählt. Ringer rekonstruiert eine Welt, die keineswegs, wie er glaubt, 1933 untergegangen ist. Ich kenne die Lebensgeschichte des noch in Deutschland geborenen Autors nicht; man gewinnt den Eindruck, daß er sich durch die Perspektive derer (vielleicht seiner Lehrer?) bestimmen läßt, die 1933 aus Deutschland vertrieben wurden-und für die dieses Datum zugleich das Ende einer ganzen Tradition bedeuten mußte. Jedoch gelangen erst heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, jene Tendenzen, deren Einsetzen Ringer in der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtet, zu einem definitiven Ende. Dafür gibt es handfeste Indikatoren. Erst heute, in den 70er Jahren, erzwingen neue Hochschulgesetze die Aufgliederung der Philosophischen Fakultät in Fachbereiche und damit die Auflösung des institutionellen Kerns der Ideologie des deutschen Bildungshumanismus. Dahinter verbirgt sich die Umwandlung einer Fakultät, die sich (neben der aus ihrem Schoß hervorgegangenen naturwissenschaftlichen Fakultät) als die einzig »wissenschaftliche« verstanden hatte, in eine Institution für Lehrerbildung. Mit dieser Umstellung auf Funktionen der Massenausbildung wird ein Alptraum, der an Philosophischen Fakultäten seit über 100 Jahren geträumt worden ist, zur Realität. Ringer verfolgt, vor allem gestützt auf Friedrich Paulsens ehrwürdige »Geschichte des gelehrten Unterrichts«, den Kampf, den die »Mandarine« seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gegen die Imperative der Modernisierung ausgefochten haben. Diese Abwehr drückt sich im Verhältnis der akademischen Lehre zur Berufsausbildung, im Verhältnis der Universitäten zu den Technischen Hochschulen, im Verhältnis der Gymnasien zu den Mittelschulen mit nicht-humanistischen Lehrplänen (Realgymnasien, Oberrealschulen), sie drückt sich schließlich in der Kluft zwischen Volks- und Sekundärschulen aus. Erst heute werden die Technischen Hochschulen, die sich seit einigen Jahren, ergänzt um einige geisteswissenschaftliche Lehrstühle, »Technische Universitäten« nennen durften, in eine Gesamthochschule integriert. Erst heute gehen die sozialdemokratisch geführten Landesregierungen daran, das dreigliedrige Schulsystem (Volksschule, Realschule, Gymnasium) abzubauen und
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durch eine differenzierte Einheitsschule zu ersetzen. Erst heute befaßt sich die Konferenz der Kultusminister mit einer entsprechenden Integration der Lehrerausbildung aller Stufen. Erst heute bahnt sich ein Wandel in der sozialen Zusammensetzung der Studentenschaft an.3 Erst heute, mit der Studentenrevolte, ändert sich das politische Bewußtsein der Studenten.4 Die Zeitperspektive, die Ringer mit dem Blick auf 1933 leitet, ist deshalb verschoben: Ringer versucht eine Welt zu rekonstruieren, in der ich mich noch während meines Studiums in den frühen 50er Jahren ganz selbstverständlich bewegt habe. Freilich begreift er sie nicht in denselben Kategorien, in denen wir uns von der Tradition unserer Lehrer inzwischen gelöst haben. Ringers Konstruktion des »Mandarinen« lehnt sich an Max Webers Analyse der chinesischen Beamtengelehrten nur metaphorisch an. Sie bezieht sich auf die spezifisch deutsche Ausprägung des akademisch gebildeten Bürgertums. Diese Schicht differenziert sich zwar mit der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft in allen europäischen Ländern und in Amerika seit dem 18. Jahrhundert gegenüber den kapitalbesitzenden und gewerbetreibenden Repräsentanten des Bürgertums; sie gewinnt eine relative Distanz zu den Klassen, die unmittelbar in den Produktions- und Distributionsprozeß einbezogen sind. Aber in Deutschland wird diese Gruppe, die man bis heute »die Akademiker« nennt, nicht von den Angehörigen der freien Berufe, wie Ärzten und Rechtsanwälten, eben von den »Professionals« geprägt, sondern von den beamteten Akademikern, von Pfarrern, Gymnasiallehrern und vor allem: von Professoren. Diese Gruppe ist in ihrem Stil durch die dreifache Herkunft aus dem evangelischen, oft pietistisch bestimmten Pfarrhaus, aus den Kreisen der höheren juristisch geschulten Beamten der monarchischen Verwaltung und schließlich der Welt der humanistischen Gelehrsamkeit bestimmt. In Deutschland charakterisieren die Standes3 1929 stammten 2%, bis Anfang der 60er Jahre immer noch erst 5% der Studenten aus Arbeiterfamilien. Inzwischen ist der Anteil auf 8% gestiegen. 4 Noch 1957 war das politische Bewußtsein von mehr als der Hälfte eines Samples Frankfurter Studenten durch die Ideologie des Bildungshumanismus geprägt. Vgl. J. Habermas, L. v. Friedeburg, Ch. Oehler, F. Weltz, Student und Politik, Neuwied, 3. Aufl. 1969.
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merkmale des beamteten Geistes ein Bildungsbürgertum, das sich selbst gerne durch den Gegensatz zum »Besitzbürgertum« definiert hat. Dieses »akademische« Selbstverständnis gewinnt im Deutschland des 19. Jahrhunderts objektive Anerkennung. Es begründet ein Sozialprestige, das übrigens bis heute den Universitätsprofessoren vor Ärzten, Ministern und Unternehmern die Spitze der Statuspyramide sichert: »In democratic and highly industrialized societies, a university degree or position competes with several other measures of social value and esteem, the most important among them being political and economic in origin. In Germany before 1890, by contrast, academic values bore the stamp of public and official recognition ... University professors, the mandarin intellectuals, spoke for this distinctive elite and represented its values.«5 Voreilig ist freilich Ringers Schluß vom Prestige auf die tatsächliche Machtposition: »The nonentrepreneural upper middle-class, the mandarin aristocracy, had become the functional ruling class of the nation.«6 Natürlich ist die akademische Elite niemals eine herrschende Klasse gewesen. Ein Indiz dafür ist bereits die Ideologie, die Ringer doch untersucht - das bildungshumanistische Gesellschaftsbild war von Anbeginn eine Defensivideologie. Die deutschen Mandarine hatten mit dem staatlichen Monopol für das höhere Bildungswesen, dessen Selbstverwaltungsautonomie sie durch geschickte Rechts- und Kulturstaatstheorien gegen eine voroder halbkonstitutionelle Monarchie absichern konnten, gewiß auch zentrale gesellschaftliche Funktionen inne. Aber die Qualitäten, die in Deutschland ihr »Mandarinentum« begründeten, können nicht aus diesen Funktionen abgeleitet werden. Die deutschen Mandarine haben als Beamte immer nur über delegierte Macht verfügt; sie waren stets abhängig von einer monarchischen Staatsgewalt, die bis 1918 auf einem Klassenkompromiß zwischen ökonomisch herrschendem Bürgertum und politisch (wie auch militärisch und diplomatisch) einflußreichem Agraradel beruht hat. Für diese Herrschaft hatten die Mandarine allerdings eine unentbehrliche Legitimationsfunktion: sie stützten das Bild einer neutralen Staats5 S. 38. 6 Ebd.
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gewalt und rechtfertigten die apolitische Rolle der Bürger in einem autoritären Gemeinwesen. Ringer sieht zu Recht, daß die »Herrschaft« der Mandarine nur in einer Zwischenphase der kapitalistischen Entwicklung 7 möglich war, und zwar nur in einem Lande, in dem die ökonomisch sich durchsetzende Klasse politisch zunächst nicht zur Herrschaft gelangt ist. Auch die Periodisierung, die Ringer vornimmt, ist plausibel: nach der schnell einsetzenden Konzentrationsbewegung des Kapitals und einer hastigen Industrialisierung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts werden politische Spannungen manifest, die sich nach 1890 immer deutlicher in der geisteselitären Abwehr gegen das »Maschinen- und Massenzeitalter« reflektieren. Ringer beschreibt die Periode zwischen 1890 und 1919 als Zeit des Ursprungs der kulturellen Krise. Die Krise selbst beherrscht dann, nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, die Zeit von 1918 bis 19,33,m der ein traditionalistisch nur noch verbrämter Irrationalismus die Oberhand gewinnt. Allein, in Bedrängnis geraten die Mandarine nicht weil ihre »Herrschaft«, sondern weil die Basis der Herrschaft zusammengebrochen ist, für deren Legitimation der beamtete Geist bis dahin nützliche Dienste geleistet hatte: die bürgerliche Demokratie der Weimarer Zeit hatte für die untertanenwirksamen Bekenntnisse der Unpolitischen keinen Bedarf mehr. Die reaktiv in einen Politisierungsprozeß hereingezogenen Mandarine, die sich nicht mehr länger mit dem Staat eins fühlen durften, gerieten in eine Identitätskrise, die unbeabsichtigt mit den Phasen einer von anderen, mächtigeren Kräften ausgelösten Staatskrise synchron verlief. Die jämmerliche Rolle der deutschen Universitäten im Jahre 1933 und unterm Naziregime ist ohne die anhaltende Demoralisierung vor 1933 gar nicht zu begreifen. Ringers Untersuchung hat das Verdienst, die Struktur der Vorgeschichte einer Zerstörung der akademischen Vernunft deutlich gemacht zu haben. Freilich hätte er gut daran getan, seine Mandarinenkonstruktion in einen größeren theoretischen Rahmen einzuordnen. Ringer nimmt von den drei Ansätzen zu einer Theorie der Ungleichzeitigkeit, die jene als »typisch deutsch« klassifizierten 7 S. 6 ff.
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Phänomene erklären will, keine Notiz. Gerade die Funktionen des deutschen Bildungsbürgertums und speziell der beamteten Geisteselite lassen sich in der Theorie der zurückgebliebenen kapitalistischen Entwicklung8, in der Theorie der verspäteten Nation9 und in der bei Ringer wenigstens angedeuteten Theorie der verzögerten Moderne10 plausibel ableiten. Bei der Ausführung seiner Konstruktion kann sich Ringer als ein offensichtlich von der Wissenssoziologie Mannheimscher Prägung stark beeinflußter Historiker auf große Fertigkeiten stützen. Den Vorzügen des wissenssoziologischen Ansatzes entspricht allerdings eine gewisse Blickverengung. Ringer konzentriert sich auf die Geschichte der wissenschaftlichen Lehrmeinungen vor allem in Pädagogik, Soziologie, Ökonomie und Psychologie. Auf diesen Gebieten ist der Autor zu Hause; hier differenziert er überzeugend zwischen den beiden Flügeln: den »Modernisten« auf der einen Seite, die, wie Max Weber, an Grundüberzeugungen der Mandarinenüberlieferungen festhalten und doch, wenn auch nicht ohne Melancholie, dem Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft nüchtern Rechnung tragen; und den »Orthodoxen« auf der anderen Seite, die den harten Kern der Mandarine darstellen und in den 20er Jahren in affektive Reaktionen und weltanschaulichen Irrationalismus abgleiten. Hier, in den Traditionen der deutschen Sozialwissenschaften, ist Ringer sicher, auch wenn seine Darstellung gelegentlich in textbook-Stil verfällt und nicht mehr klar auf die Hypothesen bezogen bleibt.11 Aber die deutschen Sozialwissenschaften, die für die Ideologie des Bildungshumanismus gewiß auch charakteristisch sind, nehmen doch im Vergleich mit den philologisch-historischen Wissenschaften eine eher periphere Stellung ein. Germanisten, Historiker, Juristen und Theologen tauchen bei Ringer nur am Rande auf, obgleich diese die Kernfächer der deutschen Historischen Schule repräsentieren. Bereits im zweiten Kapitel, das einem globalen Rückblick auf die Mandarinentraditio8 G. Lukács, Über einige Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands, in: Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1955, S. 31-74. 9 H. Plessner, Die verspätete Nation, Stuttgart 1959. 10 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965. 11 Merkwürdigerweise wird Oppenheimer nicht erwähnt.
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nen dienen soll, wäre die Rekonstruktion der gut ausgebildeten Hintergrundphilosophie der Gründergeneration der deutschen Historischen Schule, also der Niebuhr, Savigny, Ranke, der Brüder Schlegel, Grimm und Humboldt nützlich gewesen. 12 Dilthey nimmt diese Überlieferung gewiß auf, aber die organizistische Theorie der Volksgeister, die bis auf Herder und Moser zurückgeht, hat bei ihm ihre Unschuld schon eingebüßt. Statt im Brockhaus unter »Geist« und »Bildung« nachzuschlagen, hätte sich Ringer besser an Hildebrandts berühmte Artikel im Grimmschen Wörterbuch gehalten. Nun würde die Verengung des Spektrums der Geisteswissenschaften auf die sozialwissenschaftlichen Disziplinen (auf Diltheys »systematische Geisteswissenschaften«) nicht so sehr ins Gewicht fallen, wenn nicht ein anderes Handicap hinzukäme: ohne eine wirkliche Kenntnis der Philosophie läßt sich das breite Material unter dem Gesichtspunkt der politisch folgenreichen Ideologie des Bildungshumanismus nicht überzeugend strukturieren. Ringer geht nur auf die philosophischen Diskussionen ein, die auf die Soziologie der 20er Jahre unmittelbar Einfluß gehabt haben: auf Dilthey, auf den Neukantianismus, auf die Historismus-Diskussion. Phänomenologie (Husserl, Heidegger), Existentialismus (Jaspers) und philosophische Anthropologie (Scheler, Plessner) werden kaum erwähnt, und die marxistische Linke (Lukäcs, Bloch, Korsch) wird ebenso ausgespart wie die konservativ-revolutionäre Rechte (E. Jünger, Freyer, C. Schmitt). Wichtig für die geistige Konstellation jener Jahre war vor allem der Einfluß, den Nietzsche auf eine höchst dialektische und zugleich vertrackte Weise auf alle Lager ausgeübt hat. Professor Nietzsche, daran darf man im Zusammenhang mit Ringers Thema erinnern, hat in Basel klassische Philologie gelehrt. Kurzum, mit dem begrifflichen Instrumentarium der zeitgenössischen Philosophie hätte Ringer die geologischen Verwerfungen in der geistigen Landschaft der Weimarer Republik genauer abbilden können. Er hätte beispielsweise an den philosophisch motivierten Antworten auf die Rationalisierungs12 Vgl. die Arbeiten zu Geschichte und Theorie der Historischen Schule in: E. Rothacker, Mensch und Geschichte, Bonn 1950; ders., Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Bonn 1947.
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these Max Webers, die so verschiedene Autoren wie Landshut, Kracauer, Löwith und Freyer in heute noch faszinierenden Untersuchungen gegeben haben, nachweisen können, daß sich damals die divergierenden Standpunkte gerade in der Kritik der Moderne getroffen haben. Oder mit der exemplarischen Analyse einer Schrift wie der von Jaspers zur geistigen Situation der Zeit (1931) (die schon im Inhaltsverzeichnis von technischer Massenordnung, nivellierter Bildung, von den anonymen Mächten und der Herrschaft des Apparates spricht), hätte Ringer zeigen können, daß noch die Klarsichtigsten den Mandarinenjargon und das geisteselitäre Bezugssystem mit Spengler und Jünger und dem damals einflußreichen Ortega y Gasset geteilt haben. Gleichwohl gelingt Ringer gerade in den Schlußpartien des Buches eine sehr überzeugende Darstellung der Ambivalenz, die das Verhältnis der Mandarine zum heraufziehenden Faschismus bestimmt haben. Ringer sieht genau, daß eine Affinität eher auf der Ebene von Attitüden und tiefsitzenden Ressentiments als auf der Ebene theoretischer Überzeugungen bestanden hat. Der antimodernistische Affekt, die Verachtung der Massen, das Mißtrauen gegen deklarierte Interessen, eine verblasene Überparteilichkeit, die soziologisch schlicht unbrauchbare Begrifflichkeit der Mandarinenkultur und eine Geistigkeit, die von Anbeginn den Umstand kompensieren mußte, daß jeweils die anderen es waren, die die Macht hattendas alles hat die Sprangers nicht zu Kriecks und Bäumlers gemacht, aber es hat sie gegenüber den Nazis wehrlos gemacht. Bis 1933 schien der Gegensatz zwischen unseren Geistesaristokraten und den Rechtsradikalen eher eine Sache der Manieren und des Tones zu sein - wenn die Mandarine den nationalistischen Studenten etwas vorzuwerfen hatten, dann die »Politisierung« der Hochschule. Den Kern der nationalen Bewegung hielten sie für »echt«. Wäre der Ungeist nicht in Stiefeln aufgetreten, hätte man ihn vollends als Geist vom eigenen Geiste verstehen (und mißverstehen) können. Ringer macht die Verfallsgeschichte der Mandarinenkultur, obwohl er sie auf dieses traurige Ende hin komponiert, nicht zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus. Er begreift die politischen Laster des deutschen Bildungshumanismus als Kehrseite seiner lugenden - der eminenten wissenschaftlichen Produktivität und
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der weittragenden geistigen Impulse, die von deutschen Universitäten, bis in die dreißiger Jahre, ausgegangen sind. Ringers Respekt gegenüber dem Gegenstand verrät bei der Behandlung Max Webers und Karl Mannheims gar die Identifikation des Schülers mit dem Lehrer. Diese behutsame, gelegentlich liebevolle Objektivität läßt Stärken hervortreten, die andererseits auch Fragen provozieren: ich meine die Frage, ob es vergleichbare Theoreme nicht auch in anderen Ländern gegeben hat; und dann die Frage, ob die Mandarine nicht auch recht gehabt haben. Tönnies' Kategorienpaar »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« mag ein kulturkritisches Potential enthalten, aber analoge Begriffsbindungen finden sich auch bei Durkheim (mechanische und organische Solidarität), bei Cooley (Primärgruppe und Sekundärgruppe) und bei Redfield (ländliche und städtische Gemeinschaft). An vielen Stellen hätte erst der internationale Vergleich die spezifische Nuance herausgebracht, die die deutschen Geisteswissenschaften von den westlichen Wissenschaftstraditionen getrennt und auf eine höchst fragwürdige Weise exploitierbar gemacht hat. Dabei muß freilich auch die Frage erlaubt sein, ob es nur die Bornierungen sind, die deutsche von westlichen Traditionen lange Zeit geschieden haben. Ringer macht den kategorialen Rahmen der eigenen Interpretationen und Bewertungen nicht explizit. Es ist aber unschwer zu sehen, daß er politische Systeme in entwickelten industriellen Gesellschaften an dem beispielsweise von Lipset, Kornhauser und Bendix verwendeten neoliberalen Deutungsmuster repräsentativer Regierungssysteme mißt; und daß er methodologisch die Grundüberzeugungen eines moderierten, eher von Max Weber oder Parsons als von Hempel und Feigl bestimmten Empirismus teilt. Darin ist Ringer unerschüttert; ihm liegt der Gedanke fern, daß in dem kulturkonservativen Bezugssystem der deutschen Mandarine auch Erfahrungen verarbeitet und Problemstellungen verdeckt sein könnten, die in einem angemessenen Bezugssystem neu formuliert werden und heute noch systematisches Interesse beanspruchen könnten. Diesen Gedanken hätte er sich nicht so einfach vom Leibe halten können, wenn er nicht einen in der deutschen Tradition tief verwurzelten, nämlich auf Hegel und Marx zurückgehenden Argu-
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mentationszusammenhang vollständig ausgeblendet hätte. Einsicht in die Dialektik der Aufklärung13 ist noch nicht Antimodernismus. Die eigentümliche Melancholie, die mit den unvermeidlichen, aber akzeptierten Fortschritten jenes von Max Weber untersuchten Rationalisierungsprozesses auch die Erinnerung an die Opfer und die nicht eingelösten utopischen Gehalte der bürgerlichen Emanzipation in sich aufnimmt, ist noch nicht Kulturpessimismus. Die Kritik am objektivistischen Selbstverständnis einer Sozialwissenschaft, die sich über den Umstand der symbolischen Vorstrukturierung ihres Gegenstandsbereichs methodologisch nur unzureichend Rechenschaft gibt, ist noch nicht Wissenschaftsfeindschaft. Und Opposition gegen einen Szientismus, der den Zusammenhang zwischen Wissenschaftstheorie und Grundfragen der praktischen Philosophie leugnet, ist noch nicht Obskurantismus. 14 Ringer hat sein Buch offensichtlich fertiggestellt, bevor ihn die von der studentischen Revolte ausgehenden intellektuellen Impulse erreichten. Ich habe den Eindruck, daß die Konfliktpotentiale, die die amerikanischen Intellektuellen heute verarbeiten müssen, einen Wandel der Perspektive herbeiführen. Man beginnt die Potentiale einer abweichenden Entwicklung nicht mehr nur mit den Augen des Orthopäden, sondern mit den krisengeschärften Sinnen eines Beteiligten wahrzunehmen. Ich lese in der New York Review of Books vom 7. Mai 1970: »Confronting Germany as an alien entity and as an external threat, the American intellectual's task was to explain why Germany was different. Today American interest in Weimar has an opposite premise: a sense of kinship. Caught in a crisis ourselves, we turn to Weimar because its tragic experience of dissolution - political, social, and cultural - seems to promise understanding of our own Situation. It is not the abhorrent strangeness of Weimar society that strikes us now, but our affinity 13 Horkheimer und Adorno, Amsterdam 1947. 14 Diese denunziatorischen Gleichsetzungen werden im deutschen Sprachbereich von denen vorgenommen, die die berechtigte Kritik an der Ideologie des deutschen Bildungshumanismus unzulässigerweise, wie mir scheint, auf Traditionen ausdehnen möchten, die bei Ringer ausgespart sind: auf die marxistisch inspirierte Auseinandersetzung mit dem Neopositivismus. Ein militantes Beispiel gibt H. Albert, Plädoyer für kritischen Rationalismus, in: C. Grossner et al. (Hg.), Das 198. Jahrzehnt, Hamburg 1969, S. 277ff.
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with it.«15 Ich wage über die Triftigkeit dieser Einschätzung nicht zu urteilen. Aber Ringers vorzügliches Buch gehört gewiß noch zu denen, die es sich zur Aufgabe machen, zu erklären, »why Germany was different«.
15 C. E. Schorske, Weimar and the Intellectuals, 1. c, p. 22.
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Jürgen Habermas Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 1 Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung Bd. 2 Kommunikative vs. funktionalistische Vernunft Die Theorie des kommunikativen Handelns dient der Klärung der Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie. Auf einer ersten Ebene versteht sie sich als Beitrag zur soziologischen Handlungstheorie. Indem sie theoriegeschichtliche Rekonstruktion mit Begriffsanalyse verbindet, schließt sich die Untersuchung auch in methodischer Hinsicht an Parsons' Werk von 1937 (The Structure of Social Action) an. Allerdings geht sie nicht mehr von der Struktur der Zwecktätigkeit aus, sondern konzentriert sich auf die Verständigungsleistungen, durch die Aktoren ihre Handlungen koordinieren. Der Grundbegriff des kommunikativen Handelns erschließt den Zugang zu drei Themenkomplexen, die miteinander verschränkt sind: zum Begriff der kommunikativen Rationalität, zu einem zweistufigen, die Paradigmen von Handlung und System verknüpfenden Gesellschaftskonzept, und zu einem theoretischen Ansatz, der die Paradoxien der Moderne mit Hilfe einer Unterordnung der kommunikativ strukturierten Lebenswelt unter die Imperative verselbständigter formal organisierter Handlungssysteme erklärt. In der Einleitung wird die These begründet, daß die Rationalitätsproblematik nicht von außen auf die Soziologie zukommt, sondern von innen aufbricht. Für jede Soziologie mit gesellschaftstheoretischem Ehrgeiz stellt sich das Problem der Verwendung eines normativ gehaltvollen Rationalitätsbegriffs auf drei Ebenen gleichzeitig. Sie kann dem Zusammenhang zwischen (a) der metatheoretischen Frage nach den Rationalitätsimplikationen der grundlegenden Handlungsbegriffe, (b) der methodologischen Frage nach den Rationalitätsimplikationen eines sinnverstehenden Zugangs zum Objektbereich und (c) der empirischen Frage, in welchem Sinn die Modernisierung einer Gesellschaft als Rationalisierung beschrieben werden kann, nicht ausweichen. Diese drei Fragen bieten den Leitfaden für eine systematische Aneignung der Theoriegeschichte.
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Max Webers Theorie der Rationalisierung erstreckt sich einerseits auf den Strukturwandel religiöser Weltbilder und das kognitive Potential der ausdifferenzierten Wertsphäre Wissenschaft, Moral und Kunst, andererseits auf das selektive Muster der kapitalistischen Modernisierung (Kapitel II). An dem aporetischen Gang der marxistischen Rezeption der Weberschen Rationalisierungsthese von Lukäcs bis Horkheimer und Adorno zeigen sich die Grenzen des bewußtseinstheoretischen Ansatzes und die Gründe zu einem Paradigmenwechsel von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln (Kapitel IV). In diesem Lichte fügen sich G. H. Meads kommunikationstheoretische Grundlegung der Sozialwissenschaften und E. Durkheims Religionssoziologie so zusammen, daß das Konzept der sprachlich vermittelten normengeleiteten Interaktion im Sinne einer begrifflichen Genese erklärt werden kann. Die Idee der Versprachlichung des Sakralen bietet im übrigen den Gesichtspunkt, unter dem Meads und Durkheims Annahmen zur Rationalisierung der Lebenswelt konvergieren (Kapitel V). Anhand der Theorieentwicklung von T. Parsons läßt sich das Problem der Verknüpfung von System- und handlungstheoretischen Grundbegrifflichkeiten gut analysieren. Dabei werden die Ergebnisse der, systematischen Fragen gewidmeten, Zwischenbetrachtungen aufgenommen (Kapitel VII). Die erste Zwischenbetrachtung nimmt Max Webers Handlungstheorie zum Ausgangspunkt, um den formal pragmatischen Ansatz einer Theorie des kommunikativen Handelns darzustellen (Kapitel III). Die zweite Zwischenbetrachtung entwickelt zunächst das Konzept der Lebenswelt und verfolgt dann den evolutionären Trend zur Entkoppelung von System und Lebenswelt so weit, daß Max Webers Rationalisierungsthese umformuliert und auf gegenwärtige Verhältnisse angewendet werden kann (Kapitel VI). Die Schlußbetrachtung führt die theoriegeschichtlichen und die systematischen Untersuchungen zusammen; sie soll einerseits die vorgeschlagene Interpretation der Moderne an Verrechtlichungstendenzen und neuen Konfliktpotentialen einer Überprüfung zugänglich machen und andererseits die Aufgaben präzisieren, die sich heute einer kritischen Gesellschaftstheorie stellen (Kapitel VIII).
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Inhalt Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung I. Einleitung: Zugänge zur Rationalitätsproblematik: 2. Rationalität - eine vorläufige Begriffsbestimmung; 2. Einige Merkmale des mythischen und des modernen Weltverständnisses; 3. Weltbezüge und Rationalität, Aspekte des Handelns in vier soziologischen Handlungsbegriffen; 4. Die Problematik des Sinnverstehens in den Sozialwissenschaften II. Webers Theorie der Rationalisierung: 1. Okzidentaler Rationalismus; 2. Die Entzauberung religiösmetaphysischer Weltbilder und die Entstehung moderner Bewußtseinsstrukturen; 3. Modernisierung als gesellschaftliche Rationalisierung: die Rolle der protestantischen Ethik; Rationalisierung des Rechts und Gegenwartsdiagnose III. Erste Zwischenbetrachtung: Soziales Handeln, Zwecktätigkeit und Kommunikation: 1. Aspekte der Rationalität des Handelns; 2. Formale und empirische Pragmatik IV. Von Lukács zu Adorno: Rationalisierung als Verdinglichung: 1. Max Weber in der Tradition des westlichen Marxismus; 2. Die Kritik der instrumentellen Vernunft Bd. 2: Kommunikative vs. funktionalistische Vernunft V. Paradigmenwechsel bei Mead und Durkheim: Von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln: 1. Zur kommunikationstheoretischen Grundlegung der Sozialwissenschaften; 2. Die Autorität des Heiligen und der normative Hintergrund kommunikativen Handelns; 3. Die rationale Struktur der Versprachlichung des Sakralen
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VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt: 1. Das Konzept der Lebenswelt und der hermeneutische Idealismus der verstehenden Soziologie; 2. Entkoppelung von System und Lebenswelt VII. Talcott Parsons: Konstruktionsprobleme der Gesellschaftstheorie: 1. Von der normativistischen Theorie des Handelns zur Systemtheorie der Gesellschaft; 2. Die Wendung zur Systemtheorie; 3'. Theorie der Moderne VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx: 1. Ein Rückblick auf Max Webers Theorie der Moderne; 2. Marx und die These der inneren Kolonialisierung; 3. Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie Literaturverzeichnis Namensverzeichnis
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