Wilfried von Bredow · Thomas Noetzel Politische Urteilskraft
Wilfried von Bredow Thomas Noetzel
Politische Urteilskr...
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Wilfried von Bredow · Thomas Noetzel Politische Urteilskraft
Wilfried von Bredow Thomas Noetzel
Politische Urteilskraft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15978-2
Inhalt
Das Konze pt
1I
1.1 Urte ilen und Entsc heiden 1.2 Urte ilen - Entsc heiden - Handeln 1.3 Urteilskraft in de r Sphäre de r Politi k 1.4 Kleines Panoram a unterschiedlicher Beispie le 1.4.1 " In zwei Monaten haben wir I-lider in die Ecke gedrückt" 1.4.2 Soll ma n als Jude emig rieren? 1.4.3 Re ichswehr und Nationalsozia lismu s: Große Nähe, samt Amb ivalenz 1.4.4 Das Unternehmen Barbarossa 1.4.5 A ppell von 18 Atomwissenschaftlern vom 12. April 1957
13 14 15 17 18 19 20 22
1.4.6 Nachrüstungs-Turbulenzen 1979-1987 1.4.7 Hessen vom
25 26 27
1.5
30
Zum Aufbau Kogni tion
2
3
...
U..teil sfreih eit
35
2.1 Neuropolitologie? 2.2 Bedingte Fre iheit
39
Inrorm atl onsverarbetrun g und Mediennutzung
44
3.1 Irritation des politischen Systems 3.2 Digitale Revolutionierun g politischer Urteil skraft? 3.3 Bildung! ?
50
53
Vorurteile und Urteile
55
4.1 Vorurteilstheo rien
55
36
46
6
Inhalt
4.1. 1
Fehlurteil und Autorität
4.1.2 Kognitive Purifizierung 4.1.3 Systematisierungen 4.1.4 Moralisicrung und Funktionalität 4.2 Prekäre Rehabllitlerung des Vorurteils 4.3 Vorurteile als Haltung und Handlung 4.3. 1 Vorurteile und Gewa lt 4.3.2 Stereotype 5
62 64
64 65
Gerlihle
67
5.1 Gefühlsschwärmerei 5.2 Emotionen als politisches Prob lem
69
5.4 Geflihle als Erkenntnis- und Unc ilsquelle
72 73 75
Politi sche Bildung
77
5.3
6
55 56 59 61
Ein Fa tlbe ispie l: Jenningers Sc heitern
6.1 Ein Missverständnis
77
6.2 Z wei Perspekt ive n
78
6.3 Politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland
80
6.4
81
Ein Man ifest
6.5 Bürgerbewusstsein zwischen Enthusiasmus und Resignation 6.6 Politische Urteilskraft und politische Bildung
83 85
Ideengeschichtlicher Rundblick 7
Klugheit: Arfstoreles und di e praktische Philosophie
89
7. 1 Phronesis
90 92
7.2 7.3 8
Unstet ig ke it u nd Klughe it Pol itische Klughe it
95
Aufklärung: Von Machiavelli zu Arendt
98
8. 1 Wird in der Poli tik gelog en ? 8. 1. 1 Wenn schon, dan n ko nsequ e nt und gesch ickt (Machiave lli)
98 99
7
Inhalt
8.1.2 Um ke inen Preis, nie! (Kant) 8.2 Der Kampf um die Wah rhe it (A rendt) 8.3 Lüge als Last 8.4 Wahrheit in der Politik 8.5 Systeme de r Wah rheit - Systeme der Lüge 8.6 Was ist de nn e ine Lüge?
100 102 105 107 111 113
Disku rsethik und polit isch e Urteilskraft
115
Urte ilskraft und Verallgemeineru ng Verallgeme ineru ng und Gemeinsinn Ko mmunikative Vernu nft Wa nn dar f geschossen werde n?
11 6 11 7 11 9 12 1
10 Dezlsfonl smus: Entscheid ungen treffen
125
9
9.1 9.2 9.3 9.4
11
10. 1 Urte ilen und Entsc heiden in verschiedenen Lebensbereichen 10.2 Entsche idung und Nonn 10.3 Die Unumgänglichkeit der Entschei dung 10.4 Nonn und Ko ntingenz
133
Pra gm a tismus
135
11. 1 11.2 11.3 11.4
136 138 142 143
Wirklichkeit und Wah rheit Erfahrungen machen Die Ö ffent lichkeit und ihre Prob leme Urte ilskraft-Uto pien
125 128 132
Dummheitskuhuren 12 Weltan sch auungen und Ideologie 12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6
We ltanschauu ng, allgemei n Variatio nen Weltanschauungs-K ritik Ideologie Ideologie und Wahrhe it Ideologiekr itik, fa lsches Bewusstsein und Urte ilskra ft
149
149 150 15 1 153 155 156
8
Inha lt
13 Die FI.ucht nach vo rne: Uto pismus 13.1
D~ s Fe ld
•
13.2 Aktionsvorschriflen 13.2. 1 Disziplin und Solidarität: Edward Bellamy 13.2.2 Arbeiter. auf nach lkarien! 13.3 Pro und Contra 13.3.1 Die kühlen Anti-Utopisten 13.3.2 Die trotzigen Utopie-Verfechter 13.3.3 Abwägeng
14 Schreckliche ve rei nfacher
158 158 159 160 162 163 164 165 166 168
14.2.2 Pop ulismu s
168 169 169 171
14.3 Vorsicht beim Gebrauch 14.4 Beispiel Grass
172 173
15 NOnko nfor mismus a ls Snobismus
177
14.1 Vertra uen und Verantwortung
14.2 Stigmatisierung und VerfUhrungskraft 14.2.1 Terri bles simplificateurs
15. 1 Snobismus 15. 1.1 Kleid er machen Leute 15. 1.2 Po litischer Snobismus
15.2 Nonkonformismus 15.3 Snobistischer Nonkonformismus 15.3.1 Krawatten-Freiheit 15.3.2 Rad ical Chlc
16 f unda menta lismus und Fanatismus 16. 1 Fundamentalismus als Krisenerscheinung 16.2 Glauben und Wissen 16.3 Unerträgliche Irritationen 16.4 Fanatismus
177 177
178 180 182 182 184 186 186 188 191 194
9
lnhalt
17 Verschw örungstheor ien 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6
Verschwörungen in der Geschichte und im Alltag Permanenter Verdacht Unterscheidungen Symptome und Diskurse Einfach denken Zuversicht und Skepsis
\96 196 197 198 201 205 207
POLITISCH E VERIIALTENSLEHRE
\8 Was eine politische Verhaltenslehre soll und was sie nicht 211
kann 18.1 18.2 18.3 18.4
Rückblick Politische Verantwortung der Nichtpolitiker Gegenstandsbereiche Aufgaben einer politischen Verhaltenslehre
19 Partizipation 19. 1 19.2 19.3 19.4
Zoon politikon Partizipation und Repräsentation Partizipation als Problem Starke Demokratie?
20 Zivilcourage und Bürgersi nn 20.1 Definitionen 20.2 Beispiele 20.2. 1 Gegen Verantwortungsdiffusion 20.2.2 Unter härtesten politischen Bedingungen 20.3 Whistleblowing 20.4 Grenzen 20.5 Bürgersinn lernen?
211 212 21 4 217 220 220 223
225 228 231 232
233 234 235 236
238 240
2\ Ambiv alenz der Int ellektuellen
242
21.1 Intellektuellendämmenmg?
242
10
Inhalt
21.2 21.3 2 1.4 2 1.5
Ambivalenz der Figur Verant wortlichkeit Ambi valenz der Rolle Intellek tuelle und politische Urte ilskraft
22 Ironie als politische Haltung 22.1 Kritik der Ironie 22.2 Kontingenzbewältigung - West Virginia und Queer
Democracy 22.3 Ironie und politi sches System 22.4 Keine Demokratie ohne Ironie
23 T olera nz und Empathie 23.1 Diffuse Klarheit 23.2 Toleran z und Gew alt 23.3 Repressive Toleran z? 23.4 Toleran z und politische Urteilskraft 23.5 Empat hie 23.5.1 Soft Sk ills 23.5.2 Empath ie und So lidarität
24 Kein Kulturrela tivismus 24.1 24.2 24.3 24.4 24.5
Unterscheidungen und Wertu ngen Politisch, nicht metaphy sisch Finge rnägelbeispiel Menschenrechte und Konti ngenz Urteilen heißt werten
Literat urverzeichnts
244 246 248 250 252
253 256 258 260 264 265 267 268 270 272 273 274 276 278 281 282 284 287 289
1 Das Konzept
Politische' Urteilskraft ist die quant itativ nicht exakt enn inelbarc Fähigkeit eines Menschen. politische Sachverhalte möglichst angemessen in ihren allgemeinen Aspekten und in ihren Ausw irkungen auf sein eigenes Leben zu erkennen, entsprechende Schlussfolgerungen aus d ieser Lageanalyse zu ziehen und. wenn es denn nötig wird, sein eigenes Handeln daran auszurichten. Diese Fähigkeit gründet auf verschiedenen Eigenschaften und ist letztlich eine in Ausnahmefälle n intuitive, meistens aber über Erfahrungen und Lernen angeeignete Leben skunst. Unter politisch düsteren Umständen, etwa in totalitären Regimen und Diktaturen, kann sie zur Überlebenskunst werde n. Dies ist ein ziemlich weite r Begriff von politischer Urteilskraft . Erst im Dreiklang von Erkennen-Urteilen-Hand eln zeigen sich die methodische Geschicklichkeit, die inhaltl iche Stär ke und die nonnative Grad linigkeit politischer Urteilskraft. Man darf sich politi sche Urteilskraft freilich nicht als eine inte llektuelle und moralische Stärke vorste llen, die man analog zur Muskelstärke in Fitness-St udios kräftigen kann. Insofern hat der überlieferte, du rchaus ehrwürdige Begriff der Urte ilskraft auch etwas leicht Komisches. Denn allzu sc hnell verbinden sich mit dem Wort Kraft quasi automatisch (wenn auc h nicht unte r Physikern, die haben se hr spezielle Vorstell ungen darüber, was Kraft ist) körperbezogene Geda nkenver bindungen : Wenn jemand kräftig ist, dann hat er gut ausgebi ldete Muske ln, und wenn jemand, etwa als Sportler, kräftige r werden möchte , dan n gibt es für ihn oder für sie ausgetüftelte Trainingsprogramme. und manchmal noch dazu ein paar chemische Keulen. Zwar lassen sich die verschiedenen Komponenten politischer Urteilskraft trainieren. Das ist sogar eine wichtige, eigentlich sogar die allerwichtigste Aufgabe politischer Bildung und Weiterbi ldung. Dass die Inst itutionen und Theorien politi sche r Bildungsarbe it hä ufig wie eine Art kognit ives und moralisches Fitness-Studio aufgezogen sind, stellt allerdings ein Problem dar. Denn politische Urteilskraft umfasst neben manchen handwerk lichen Aspekten auc h eine besond ere Kunstfert igkeit. Man eignet sie sich nicht qua si linear an.
12
I Das Konzept
Ebenso ist vor der Gedankenverbindung ..politische Urteilskraft = treffsichere Kritik" an den politischen Verhältn issen zu warnen . Kritik, um Friedrich Theodor Vischer zu paraphrasieren, versteht sich immer von selbst. Sie ist ein durch nichts zu ersetzendes Verfahren im Zuge der Urteilsbildung.
Aber erstens ist die f rage der Treffsicherheit von Kritik ihrerseits immer nur kritisch zu beurteilen. Und zweite ns geht vor allem die Vorstellung, das s die politische Urteilskraft umso kräftiger ist, je heft iger die Kritik sic h äußert, in die Irre. Nichts gegen politische Kabarettisten, wirklich nicht. aber bei ihnen findet sich im Durchschnitt nicht mehr politische Urteilskraft als bei ihrem
Publikum. Zu dem Dreiklang Erkennen-Urteilen -Handeln kommt ein vierter Begriff hinzu, der sie gewissermaßen umschließt: Verantw ortung. Politische Urteilskraft und alle ihre Komponenten konstituieren und üben die individuelle Verantwortung. Nur Individuen verfügen über sie. Es mag ein kollektives Gedächtnis gebe n (obg leich das vielleicht auch nicht mehr als eine Me tapher ist); eine kollektive politische Urteilskraft gibt es nicht. Gerade im Verhältn is des einzelnen zu den versch iedenen Gruppen. Organisationen oder sonstwie durch eine kollektive Identität geprägten Gemeinschaften muss sich, will der einzelne Würde und Übers icht behalten. seine politische Ur teilskraft bewähre n - uriangesehen aller Arbe itsteilungen in geistigen und politischen Angelegenheiten. So ist das je denfalls in Gesellschaften. in denen die Menschenrec hte. etwa in Gestalt der Universalen Deklaration der Menschenrechte von 1948, zum unveräußerl ichen Gut der Individuen gehören. Unser Konzept der politischen Urteilskraft ist also selbstverständlich normativ. Was zunächst einmal soviel besage n soll wie: Wir möchten die Möglichkeiten erkunden. sie zu stärke n. Aber Normen auf dieser Ebene sind nicht einfach als benchmarks vorzustellen, mit deren Hilfe politisches verhalten sich eindeutig in die Kategorien .richtig' oder ,falsch' einordnen ließe. Soz iale Kontexte und Zeitumstände spielen bei einer fairen Beurteilung POHM tischen Verhaltens anderer Menschen eine wichtige, zuweilen die entscheldende Rolle, und beides genau zu durchdringen, ist vor allem nachträglich nicht einfach. Der Vorteil, den je mand, der im Nachhinein urteilt. ebe n deshalb für sich in Anspruch nimmt. erwei st sich so häufig als zwiespältig . Das stört uns an dem Optimismus und der nicht selten damit verbundenen Überheblichkeit vieler Erinnerungs-Manager. Zur angemessene n Beurteilung der politischen Urteilskraft von Menschen in Gegenwart und Verga ngenheit braucht es seinerseits politische Urteilskraft. M
M
I Das Konzept
13
1.1 Urte ilen und Entscheiden Das Gehirn, als das für das Urteilen entscheidende Organ, kann man zwar auch trainieren, jedoch erfolgt dies auf völlig andere Weise als bei jede r Art von Körper-Training. Und, das am Rande, die berühmt-berüchtigten Bewusstseinserweiterungen über Drogen verschiedener Art mögen in einzelnen Fällen trotz aller Risiken und Gefahren, die mit ihrer Einnahme verbunden sind, vielleicht unerwartete und bizarre Eindrücke jenseits der Pforten der Wahrnehmung erlauben - die Urteilskraft stärken sie gewiss nicht. Ein Urteil ist ein Akt der Entscheidung. Beide Begriffe ersche inen weitgehend identisch. Indes gibt es doch einen begrifflichen Unterschied zwischen dem Urteilen als einem möglicherweise längere Zeit in Anspruch nehmenden Vorgang der kritischen Bestandsaufnahme und Prüfung von Sachverhalten, Feststellungen und Behauptungen einerseits und der am Ende dieser Prüfzeit erfolgenden Entscheidung andererseits. Am Ende des Urteilens, wie lang und schwierig dieser Vorgang auch ist, steht die Entscheidung.
•
•
•
•
Das Urteil eines Gerichts in einem Strafprozess läuft erstens auf die Entscheidung über den Sachverhalt der Straftat und das Ausmaß der Täterschaft in den Grenzen von schuldig und unschuldig hinaus sowie zweitens auf die Entscheidung über das Strafmaß - ein rechtli ches Urteil. Das Urteil des Paris war die Entscheidung darüber, welche ihm als das schönste weibliche Wesen erschien. Leider war dieses ästhetische Urteil mit einem ziemlichen Mangel an politischer Urteilskraft verbunden und zeitigte deshalb höchst verhängnisvolle Folgen. Das Urteil des Vierstemekochs morgens auf dem Markt ist die Entscheidung darilber, was er aus dem Angebot der Gemüse-, Geflügelund Fischhändler für sein Restaurant kauft. Dabei leiten ihn Vorstellungen darilber, was saisonal besonders angemessen ist, wie es um die Frische des Angebots steht und vielleicht auch, sei es aus Geschmacksoder aus politischen Motivationen heraus, ob die landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus biodynamischem Anbau stammen oder nicht. Ein sinnliches Urteil. Das Urteil des Wählers am Tag der Bundestagwahl manifestiert sich in seiner Entscheidung darüber, welchem Kandidaten und welcher Partei er seine Stimme gibt. Oder ob er der Wahl fernbleibt. Ein politisches Ur-
/ Das Konzept
14
teil, nicht unbedingt ein absic htsvolles. aber jedenfalls in seinen Konsequenzen. Urteilen läuft immer aufs Entscheiden hinaus. DafUr gibt es, je nach dem Handlungsfeld, best immte und manchmal nicht ganz so bestimmte Kriterien. Ausgedrückt in der Sprache des Philosophen Volker Gerhardt (200 7, 2 17): Im Recht muss Recht gesprochen werden nach dem geltenden Gesetz; in der Moral hat sich jeder nach Grundsätzen zu richten, die für ihn selbst verbindlich sind, auch wenn andere ihnen nicht genügen. In bcidcn Bereichen bedarf es der Urteilskraft, um zu erkennen , ob die gemeinte Regel und der besondere Fall überhaupt zusammenpassen. Aber wenn Gesetz oder Grundsatz eine verbindli-
che Vorschrift machen, die für die gegebene Lage gilt, dann muss - entweder aus äußeren oder aus inneren GrUnden • entsprechend gehandeltwerden.
1.2 Ur teilen - Entsc he ide n - Ha ndeln Wir möchten dieses freundlich-bes timmte Diktum des Philoso phen vers uchsweise mit einem Fragezeichen versehen. Zumindest können wir dara uf verweisen, dass die direkte Linie vom Urte il zur Entsche idung zum Handeln (das auch ein Nichthande ln se in ka nn) keineswegs immer oder auch nur in der Mehrza hl der f älle zu denselben Handlungen führt. Wenn es bei eindeutigen Gesetzen und höchst einsic htigen und we it bekannten moralischen Grundsätze n zu unterschiedlichen Beurteilungen der z u entsc heide nden Sachverhalte kommt. dann mag das zwar auch an unterschiedlich a usgeprägter Urteilskraft liegen. Aber der Gegenschluss- bei gleich entwic kelter Urte ilsk raft kä men alle Urteilenden immer unausweichlich zur selben Entscheidung und den gleichen Hand lungen. der wäre doch viel zu voreilig. Gan z besonders wäre er dann vorei lig oder schlicht falsch, we nn wir unser Augen merk von der Sphäre des Rechts weg- und auf die Sphäre der Politik hinlenken. Schon moralische Grundsätze haben die me rkwürdige Eigenschaft, dass ihre Geltung mit Ausnahmen, Einschrän kungen, heimlicher Oppos ition koexistiert. Selbst in Utopien , ja gerade in Utopien gibt es jenes dickflüssige Misstrauen aller gegenüber allen, dass sie heimlich anders denken oder handeln könnten, als es die eise rn durchgesetzte n moralischen Gr undsätze verlangen. Keine Moral ohne Doppelstandard !
I Das Konzept
15
In der Sphäre der Politik aber , wo wir es mit Interessen und Werten der Akteure zu tun haben, mit ihren materiellen und ideelle n Zielen und wünsehen, gibt es solche aus sich heraus verbind lichen Leitlinien und Grundsätze nicht. Urteilen, Entscheiden und das sich anschließende Handeln sind nicht von einer " wahren Theorie" her zu bestimmen, wie uns Ernst Vollrath ( 1977, 70) im Ansc hluss an Edmund Burke nachdrücklich verdeutlic ht: Handeln von Menschen in der Welt ist seiner Modalität nach fau l, seiner Relation nach kontingent, seiner Qualität nach situativ und seiner Quantität nach partikulär, und durch die Handlungen in ihrer Pluralität gehen alle diese Charaktere in das Gewebe der Handlungen ein, jenes ,Ganzc' , das nie objektiv-apriori vorliegt, sondern stets nur als Bezugsgeflecht von Kondltionalltät und Faktizität wirklicher Handlungen von Menschen in der Welt. Das klingt ernüc hternd,jedenfalls dann, wenn man ursprünglich der Assoziation Urteilskraft durch Urteils-Krafttraining ein Stück weit folgen wollte. Aber das ist ei n Kalkül, das nur bei Nebensächlichkeiten aufgeht. Denn im geglückten politischen Urteil kommt immer auch eine spez ifische Kunst zum Ausdruck . Politische Lagen angemessen zu erfasse n und die eigenen Handlungsoptionen kritisch zu beurteilen sowie schließlich die - unter verschiedenen Gesichtspun kten - günstigste zu wählen, das ist viel mehr als das Ergebnis wissenschaftli cher Anstrengung. Geurteilt wird immer in lebe nsweltlichen Z usammenhängen. Deshalb kann es keine " Gesetze" de s richtigen politischen Urteile ns geben. Angemessenhe it ist aber ein Gefühl, das weder zu lehren noch zu lernen ist. Allein das Schärfen der Wahrnehmung für die jeweiligen Situation sdeutun gen und Lageansprüche kann geübt werden. Politische Urte ilskraft ist so Kern einer Politologie der Empfi ndsamkeit.
1.3 Urteilsk raft in der Sphä re de r Politi k Kontingent, komplex, situationsbcdingt, instabil und schwach sind die Adj ektive, die auf das Handeln in der Sphäre der Politik (besonders) zutreffen. Politische Urteilskraft ist das v ermögen, den Auswirkungen dieser Eigenschaften etwas entgegenzusetzen. Neutralisieren kann sie sie freilich nicht. Politische Urte ilskraft zeigt sich nicht zuletzt dann, wenn Menschen sich über die Bedi ngungen ihres Urtellens. Entscheidens und Handei ns weitge-
16
I Das Konzept
hend im Klaren sind, wenn sie der Komplexität des Handlungszusammenhangs gerec ht werden. we nn s ie eine angemessene Vorste llung von ihren Handlungsoptionen haben und wenn sie diejenige auswählen, die am eheste n situationsgerec ht ist und sich also " im Erfolg als das allge mein Gebotene erweist. Sie braucht die gleichcnnaßen sinnliche wie gedankliche Fähigkeit, im Singulären auf das Allgemei ne vorzugreifen, das sie im Augenblick der Entsc heidung noch nicht kennt. In ihr w irkt die individuell gesammelte Erfahrung, die persön lich zum Ausdruck kommen muss" (Gcrhardt 2007 , 4 18). Die Sphäre der Politik ist im übrige n nicht eng einzug renzen . Es geht dabe i nicht nur um den Einfluss von Staa t und politischen Institutionen der Gese llschaft auf die Menschen. Wir begreifen Politi k handlungsbezogen als das Streben und die Not wendigke it, eigenen Interessen und eigenen Wert vorstellungen Gelt ung zu verschaffe n. oder strukturbezoge n als das Verte ilungsschema von Interessen und Werten in der politischen Ges ellschaft . Dam it unterstellen wir. dass so gut w ie kein Bereich sozia len HandeIns gänzlich politik frei sein kann. Nur Erem iten haben nie etwa s mit Politik zu tun. Aber schon in kleineren sozialen Zusammenh änge n. in Familie n, Vere inen, Klöstern. um nur dre i Beispiele zu nennen, kann es zuweilen ziemlich politisch zugehe n und wird deshalb po litische Urteil skraft geb raucht. Der Hinweis a uf den Erfo lg des Handeins im vorigen Absatz ist auf den zweit en Blick allerding s nicht ohne Zwies pält igkeit. Politische Urteilskraft umfasst nämlic h nicht moralische Überlege nheit. Nac h dem Urteilen über die Konstellatio n kann a uch eine Handlungs-Entscheidung erfolgen . die. obe rflächlich betrachtet. dem Urteil entgegensteht oder ihm nicht zu ents prechen scheint. Hier kommen mensc hliche Eigens chaften wie Mange l an Mut und Faktoren wie Besorgnis um die eigene Sic herheit (ode r die der Familie) ins Spiel. Der Erfo lg politischer Urteilskraft kann auch ganz untersch iedlich beurteilt werden. wobei auch die vergehende Ze it eine Rolle spie lt. Was heute ange messen ersc hei nt. mag in längerer Perspektive fatale Aus wirkungen haben . Und was den Ze itgenoss en als schwächlich oder verboh rt ersche int, wird von Spätere n als we itsicht ig gelobt. Hier spielt. in Extremfällen, auch die Frage des Opfers eine Rolle. der Einsatz des Lebens mit dem Ziel, eine verderbliche po litische Entw icklung aufz uhalten. Auch für die nachvollziehende Analyse politischer Entscheidungen von Akteuren in der Vergangen heit braucht es po litische Urteilskraft. Abe r dabe i geht es (nur) um die Rekonstrukt ion konservierter Entsc heidungssituatio nen. Hier kann ma n gewiss ma nches falsch machen. abe r das bleibt vergleichswe ise he rrnlos.
f Das Konzept
17
Geht es indes um die Gegen wart und Zuk unft, kann politische Urteilskraft über Leben und Tod entscheiden. Schließlich ist in der eben zitierten Passage noch ein weiterer wichtiger Aspekte politischer Urteilskraft zur Sprache gebracht, das Gewicht von individue llen Erfahrungen.
1.4 Klein es Pa norama unte.-schied licher Beispiele
Politische Urteilskraft brauchen also beileibe nicht nur Politiker, wenn es auch gut wäre, besäßen diese eine Menge davon. Alle Menschen, die in irgendeiner Weise von der Sphäre der Politik ergriffen werden, also in der Tat alle, benötigen solche Urteilskraft. Mangelt es daran, kommt es zu Fehlurteilen und falschen Entscheid ungen für das eigene Handeln, was mehr oder weniger dramat ischen Folgen zeitigen kann. Zuweilen grenzt der Mangel an politischer Urteilskraft ans Groteske. Ohne Beispiele fehlt die Anschauung. Andererseits verwischen Beispiele auch klare Trennlinien. Das muss man in Rechnung stellen. Einige der Beispiele, die ausgewählt wurden, entstam men der Zeit des Beginns der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland. Die zwölf Jahre NSHerrschaft überschatten (nicht nur) die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, und sie wurden nach 1945 zu dem schwärzesten aller negat iver Bezugspunkte für den Aufbau neuer sozialer und politischer Strukturen. Jegliche politische Legitimation nach 1945 bedurfte eines entsprechenden Passworts: "nic ht nationalsozialistisch" im Westen und " antifaschistisch" in der sowjetsozialistisch aufgezogenen DDR. Politische Normen, politische Bildung, politische Urteilskriterien und politisches Verhalten in Deutschland stehen nach wie vor unter diesen Zeichen I . Das beeinflusst unmittelbar jedes hier entwickelte Konzept von politischer Urteilskraft. Die ausgewäh lten Beispiele illustrieren in erster Linie Defizite oder problematische Aspekte politischer Urteilskraft in bestimmten historisc hen I Mil dem Untergang von DDR und Sowjetsoz ialismus isl der in sich schillernde und fiir Zwecke der Propaganda gegen wesüic he Demokratie-Vorstellungen eingesetzte Antifaschismus zwar in den Hintergrund getreten.jedoc h keineswegs verschwunden. Das ist auch kaum zu erwarten, weil in ihm angemes>ene und faire historische Wertun gen unentwirrbar mit schiefen und aberwitzig verzerrten Deutungen verknotet sind. Ein Dokument dieses Sachverhalts auf hohem literarischen Niveau ste llt der dreibändige Roman Die ÄsthetIk des Widerstands von Peter Weiß ( 1975 - 1981) dar.
18
I Das Konzept
Situationen . Sie wurden aber nicht aus einem besserwi sse rischen Impuls ausgewählt, sondern um die Schw ierigkeiten. ja manc hmal die Dramatik der Konstellation plastisch hervortreten zu lassen .
1.4.1 " In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt " Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler, formal korrekt. als neuer Reichskanzler auf die Weimarer Verfassung vereidigt, die zu zerstören eines seiner propagierten Zie le war. Die Geschichte der nachei nander zwischen 1930 und 1932 scheiternden Kabinette Brüning, Sch leicher und Papen ist gut bekannt . e benso die Geschic hte der Berufung Hitlets durch den greisen Reichspräsidente n Hindenburg, der von seiner unmittelbaren Umgebung politisch gesteuert und manipuliert wurde. An der Jahreswende 1932/33 machte Papen das Angebot, Hitler solle Reichskanzler in einem konservativen Kabinett werden, mit ihm selbst und Hugenberg als Vertretern der Deutschnationalen, mit der Unterstützu ng des Stah lhelms und der hinter ihnen stehenden Industrie- und Agrarkreise. Als das Kabinett stand, gehörten ihm nebe n acht konservativen Ministern nur drei Nationalsozialisten an. Das Amt des Vizekanzlers und die Ressorts Militär, Wirtschaft und Außenpolitik fielen den Konservat iven zu. Der äußere Eindruck war der eines Koalitionskabinetts. in dem die nationalsozialistischen Ambitionen sicher abgedämmt werden konnten: .Wir haben ihn (Hitler) uns engagiert' , konnte Vizekanzler Papen als Initiator der Regierung im Blick auf seine eigene feste Verbindung zu Hindenburg triumphieren. Einem konservativen Kritiker, dem späteren Widerstandskämpfer Ewald von KleistSchrnenzin, erklärte Papen: , Was wollen Sie denn? Ich habe das Vertrauen Hin denourgs. In zwei Monaten haben wir Hitler in die Eeke gedrückt, dass er quietscht' {Brachet 1996, 213).
In Wirklichkeit, schreibt Karl Dietrich Bracher an gleicher Stelle, waren nicht die Nat ionalsozialisten, sondern ihre Part ner eingezäunt worden. Deren Selbstbewusstsein beruhte auf einer völlig falschen Lagebeurteilung - und anders als sie wusste Hitler genau, was er wollte:
I Das Konzept
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Als er gegen Ilugenbergs Widerstand die neuerliche Auflösung des Reichstags durchsetzte, war die Front der Nichtnatio nalsozialisten im Kabinett schon zerbrochen. Das wiederholte sieh nun von Kabinettsitzung zu Kabinettsitzung. Ein Widerstand auf dieser Ebene fand nicht statt. auch wenn die Nationalsozialisten erst wesentlich später die Mehrheit der Ministerposten besetzten.
1.4.2 Soll man als Jude emigrieren ? Da s zw eite Bei sp iel stammt a us dem Roman " De r Prinz der West End Avenue" vo n A lan Isler (1995) . Die Handlung dieses g leic he rmaßen sehr melancho lischen und se hr kom ischen Ro mans spie lt in eine m jüdisc hen Altersh eim in Manhattan, und e iner se ine r Protagonisten ist Otto Korner (früher Kö rne r). der. ein deutscher Jude im bü rgerlich en Mili eu, von den Na tiona lso zialisten in die Em igration getrieben wurde. Aber nicht dies allein, sonde rn auc h se in damals gezeigter katastrop ha ler M angel an po litischer Urteilskraft. wurde zu seinem le bens langen T ra um a. Als nach der Machtergrei fung die Well en der Gew a lt gegen die politischen Fe ind e des Reg ime s und die J uden nic ht abe bben . a ls der Boykott j üdischer Finnen s ich immer wei ter ausbreitet. d iskutiert man a uch in der Familie Körner darübe r, wie es we itergehen so ll. Isler besc hreibt e ine so lche Fam iliendebatte am 3 . A pril 1933 zwischen Ot to, sei ner Fra u Met a. d ie de n siebe njähri ge n Hugo neben sic h sitzen hat. und Otto s Vate r. Und wo ist Duo Körner während dieser häuslichen Szene? Er lehnt am Bücherschrank. ganz Lässigkeit. eine Hand in der Tasche, die andere leicht auf einem ledergebundenen Band von Goethes Gesammelten Werken. Meta kann sich nicht länger beherrschen. Sie appelliert an meinen Vater. "Sag ihm. dass wir alle weg müssen - du und Mutti auch. Lcla und Kurt, meine Eltern, wir müssen alle raus!" "Wir klich. Meta. lass Vater in Ruhe, er hat schon genug Sorgen." Mein nachsichtiger Tonfall ist nicht frei von Gereiztheit. " Wir können doch wohl nicht einfach alles liegen- und stehen lassen und zur Grenze rennen. bloß weil ein paar blödsinnige Rüpel hier verrückt spielen, wie?" Der Vater pflichtet mir bei.•.Noch ehe es Deutsche in Deutschland gab, gab es hier Juden." .Llnd sowie es hier Deutsche gab. gab es auch Antisemitismus."
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.Da siehst du - du sagst es ja selbst." Ich spreche, als hätte sie mir eine Trumpfkarte zugespielt. .,Antisemitismus ist nichts Neues in Deutschland. Glücklicherweise haben wir heute Gesetze gegen so etwas," "Gesetze? Was denn für Gesetze? Hitler ist das Gesetz. Streicher ist das Gesetz. Jüdische Richter werden öffentlich gedemütigt . Sie hängen uns auf der Straße auf." Wir haben heute morgen vo n einem jüdischen Anwalt gehört , der in Kiel von einer aufgebrachten Menge gelyncht worden ist. Sie wendet sich wieder an meinen Vater. " Hat Otto dir das erzählt? Vor drei Tagen musste Hugo in der Schu le auf der J udenbank sitzen. Sie haben seinen Kopf mit dem Greifzirkel gemessen, eine Demonstration der Unterlegenheit drec kiger J uden.. ."
"Ich persönlich..... Ich trinke einen Schluck Tee und schnalze mit der Zunge. .A h, ausgezeichnet! Darjeeling?" Ich stelle die Tasse ab und nehme einen Band Goethe hervor. " Ich persönlich rechne damit, jeden Augenblick eine öffentliche Ankündigung aus dem Radio zu hören: General von So-und So oder von Sound-So hat die Regierungsgewalt ilbemommen. Das ist eine Frage der Zeit." Ich durchblättere das Buch, als suchte ich cine passende Stelle. Aus Mctas Blick spricht unverhohlene Verachtung. Doch sie sagt nichts mehr (lsler 1995, 2950. Diese von seine r Frau durchschaute politische Blindheit und Selbstgefälligkeit verbreitet Otto in de n nächsten zwei Jahren in Artikeln für j üdisc he Zeitungen und Zeitsc hriften. Bis es zu spät ist. jedenfall s für seine Frau und se inen Sohn, die von den Nationa lsoz ialisten umgebracht werden. Otto entkommt und emigriert nach Ameri ka. Aber sein ganzes weiteres Leben liegt die Frage wie ein Alb auf seiner Brust: "Wi e viele Menschen außer meinem eige nen Fleisch und Blut hab ich wohl au f dem Gewissen? Lauthal s hätte ich schre ien sollen: "Juden, rennt um euer Leben! " (lsler 1995. 298 ).
1.4.3 Reichswehr und Nationalsozialismus: Große Nähe, samt Ambivalenz Welcher General von So-und-So hätte den n 1933 geg en Hitler und die, die ihm in den Sattel geholfen haben . die Regie rungsgewalt übernehmen können? Die oben beschriebene Fehlkalkulation von Papen und seinen Mitst reitern kam j a auch als Intrige geg en die Notve rordnungs-Regierung des Ge nerals von Schleicher in Gang. Hätte der von Hindenburg abserv ierte General putschen sollen? Überlegungen daz u. abe r doch sehr vage nur, gab es. Abe r so einfach wäre das nicht geworden, nicht zuletzt deshalb, weil Hitlers Machtübernahme in der deutschen Ö ffentlichk eit durchaus mit lauter Zu-
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stimmung aufgenommen wurde. Auch viele Menschen, die späte r selbst zu Opfern des neuen Regimes wurden, standen ihm zunächst begeistert bis abwartend-positiv gegenüber. Eine mehr begeistene als abwartende Stimmung konnte man auch im Offizierskorps der Reichswehr konstatieren. In seiner fiktiv-historischen Biographie der Familie Hammerstein-Equord zählt Hans Magnus Enzensberger (2008,1 08 f.) auf; " Die meisten Offiziere konnten dem Sog der ,nat ionalen Revolution' nicht widerstehen. Unter ihnen ....aren Männcr wie Claus von Stauffonberg (am 2 1. Juli 1944 erschossen), Henning von Tresckow (Selbstmord am 21. Juli), Wemer Graf von der Schulenburg (1944 hingerichtet), Pcter Graf Yorck von Wartenburg (1944 hingerichtet) und Albrecht Mertz von Quimheim (am 21. Juli erschossen. Ludwig Beck (am 20. Juli erschossen) sollte 1932 auf Wunseh des Wehrministers Groener wegen .natlonalsoziallstlscher Tendenzen' entlassen werden, was Hammerstein verhindert hat.. .Dem General von Hammerstein allerdings wird man keinerlei Sympathien für den Nationalsozialismus nachsagen können. Dennoch war seine Haltung nicht frei von Ambivalenzen und Fehleinschätzungen."
Der General von Hammerstein bekleidete seit 1930 den Posten des Chefs der Heeresleitung. die Reichswehr-Bezeichnung für die höchste Stellung innerhalb der Streitkräfte. Am 31. Januar 1934 schied er aus dem Amt und lebte, Ausnahme ist eine kurzzeitige Reaktivierung zu Beginn des 2. Weltkrieges, als General a. D. mit vielfaltigen Beziehungen ins Ausland in Berlin. Spätestens nach der Ausschaltung der SA-Führung durch Hitler am 30. Juni 1934, die diesem auch die Gelegenheit bot, eine Reihe unliebsamer Personen zu liquidieren, die mit dem so genannten Röhm-Putsch nichts zu tun hatten, darunter auch den General von Schleicher und seinen engsten Mitarbeiter, hatte Hammerstein nicht mehr die geringsten Illusionen über die Nationalsozialisten. Seine Kinder wuchsen in den Widerstand gegen den Nationalsozialismus hinein, und er scheint diese Bestrebungen, soweit er davon wusste, mehr als nur gebilligt zu haben. Unter den Reichswehr-Offizieren, an der Spitze und auf niedrigeren Rängen, gab es wenige mit ausgeprägter politischer Urteilskraft, noch weniger, die die Werte und Nonnen der Weimarer Republik akzeptierten. Enzensberger (2008, 109) macht eine polemisch zugespitzte, aber gewiss bedenkenswerte Bemerkung im Anschluss an seine Aufzählung von Offizieren,
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die 1933/34 an die " nationale Revolution" de r Nationalsozia listen gla ubten . sic h aber später zu Gegnern des Regimes entwick elten und in den W idersta nd gi ngen: ..Wer Leuten, die mit ihrem Leben beza hlt haben, aus ihren 'politischen Irrtümern einen Vorwurf macht. leidet an einer r ann nachträglicher Besserwisserei, die von moral insanity nicht weit entfernt ist.;; Da hat er woh l Recht. Aber er rührt damit auch zug leich an die empfi ndlichste Stelle eines nonnati ven Konzepts pofitische r Urteilskraft
J. 4." Das Unternehmen Barbarossa
Bevor es am 1.9.1939 zum Krieg zwischen Deut schland und Polen kam, fand ein diplomatisc hes Ringen de r euro päischen Mäc hte um mögl iche Bünd niskonste llationen statt . Sowohl Großbritannien als auch Frankreich versuchten dabei schon im Mai 1939, die Sowjetunion als Ver bündeten gegen De utschland zu gewin nen. Diese Orient ierung der beiden westeuropäisc hen Mäch te stellte e inen gewissen Kurswec hsel in ihrer Außenpo litik gegen über der Sowjetunion da r. Bis Mine der 1930er Jahre war das Verhältnis der Siegermäc hte des Ersten Weltkrieges zur Sowjetun ion deutlich ge kennzeichnet durc h den seit dem Sieg der bolschewisti schen Okto berre vol ution das internationa le Syste m bestimme nden Konflikt antagonistischer Gesellschaft sordnungen. Der ideologisch und mac htpolitisc h fundie rte Ost- West-Ko nflikt stand eine r kohärenten Abweh r der politische n Neuordnungsansprüche Deutsch lands, Italiens und Japans entgegen. Die West mächte (einschließlich der USA) versuc hten lange Ze it, durch Besch wicht ig ung der territo rialen Ansprüc he der fasc hist ischen Staa ten einen offe nen m ilitärisc hen Konfl ikt z u verh indern. Erst nachde m Deutschl and gezei gt harre, das s es d urch eine Politik des Appeasement nic ht zu besänftigen war (Missachtung aller Abs prac hen nach de m so ge nannte n .Münchener Abkom men"), bemühten sich insbesondere Frankreich und Gro ßbritan nien um die Bildung e iner gege n Deutschland gerichteten Koa lition. Im Vordergrund ihrer diplomat ischen Bemühungen stand dabe i die Verhinderung eines de utschen Angriffs auf Polen. Es zeigte s ich be i de n franz ösisch- britisch-russischen Verhandlungen j edoch, dass die UdSSR nic ht bereit wa r, e ine Garantieerklärung gege nüber Polen abzugeben. Die po lnische Regieru ng lehme es daraufhin ab, der Roten Armee im Kriegsfall ein Durchmarschrecht durc h Polen e inzuräu men. Parallel zu ihren Ver-
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handlungen mit Großbritannien und Frankreich intensivierte die sowjetisc he Außenpolitik ihre Kontakte zum nationalsozialistischen Regime. Nach dem die deutsche Regierung der russischen Führung mitgeteilt hatte, Deutsch land sei bereit, die russischen Expansio nsinteressen, die im wesen tlichen Finnland, Litauen, Estland, Lettland; Ostpolen und Teile Rumäniens (Bessarabien) betrafen, anzuerkennen, kam es zwisc hen den beiden Mächten zu einer Annähe rung. Ersten Ausdruck fand diese in dem am 20.8. 1939 abgesc hlossenen Kreditabkommen, welches die sowjetischen Lieferungen von Lebensmitte ln und Rohstoffen regelte. Im Gege nzug liefe rte Deutsch land Industrie- und Rüstungsgüter. Ebenfalls im Aug ust 1939 kam es zum Absc hluss eines deutsc hsowjet ischen Nic htangriffspakts. Dieser Pakt hatte ein gehe imes Zusatzprotokcll, in dem Deutschland und die Sowjetunion die Aufteilung Polens beschlossen und ihre jeweilige n Interessensphären in Osteuropa definierte n. Dieses Protokoll sprac h Estland, Lettland, Finnland und Bessarabien dem Interessengebiet der Sowje tunion zu. Litauen wurde zuerst dem deutsche Einflussgebiet zugeordnet, jedoch kurze Zeit nach Niederlegung des gehe imen Zusatzprotokolls gege n deu tsche Gebietsgewinne in Polen ausge tauscht. Die Vorausse tzung für die Entstehung des Hitler-Stalin-Pakts war seine sozusagen jeder zeit mögliche Auflösung bis hin zu eine r militärischen Konfrontation Deutsc hlands und der Sowjetunion. Der Gedanke zu einem solchen Angriff war in der deutsc hen Führung sc hon länger gere ift, denn bereits am 4.9.193 6 hatte Hitler, in einer Denkschrift zur Rüstungspolitik. den Grun dgedanken eines .unvermeidbaren'' Krieges gegen Russland geäußert. Alle Bedenken, einen Zwei -Fronte n-Krieg unmög lich gewin nen zu können, wurde n i~ Sommer 1940 endgü ltig übe r Bord geworfen. Im Juli dieses Jahres informierte der Chef des Wehrmachtfü hru ngsstabes. Alfred Jodl, seine Mitarbeiter über den Beschluss der nationalsozialistischen Führung ,,zum frühestmöglichen Zeitpunkt durch einen -überraschenden Überfall auf Sowjetrussland die Gefahr des Bolschewismus ein für alle Mal aus der Welt zu scha ffen." Am 22.6.1941 begann dann der Krieg gege n die Sowjetunion unte r dem Code namen Unternehmen Barbarossa. Die' sowjetische Führung hatte eine ähnliche Wahrnehm ung, was die Dauer und Zuverlässigkeit des deutsch-sowjetischen Nic htangriffspakts betraf. Auch sie ging von der Vorstellung aus, dass es notwe ndigerweise zu einem militärischen Konflikt mit Deutschland kom men würde. Trotz dieser prinzipiellen Wahrne hmung wurde Stalin durch den deutsc hen Angriff völlig
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überrasc ht. Bis zum Beg inn des Unternehmens Barbarossa erfüllt e d ie Sowjetunion ihre Vertragsverpflichtun gen . Den ang rei fende n deutsc hen Divisionen rollten russisc he Züge mit Getreidelieferungen und Rohstoffen entgegen. Die politischen und m ilitärisc hen Reaktionen de r UdSS R zeichnete n sich d urch Hilflosigkeit und Cha os aus. So ge lang es de r We hrmach t, ihren Überras chu ngsangr iff bis an d ie Stad tgrenzen Moskaus zu trage n. Doch die so wjetisc he Führung hätte es besser w issen können, war es de m sowj etischen Geheimd ien st doch in de n zwanziger und dreißiger Jah ren ge lungen . vor allem in Großbritannien und Deutschland Agenten in wich tigen Reg ierungsämtern anzuwerben . die unter anderem Hinwe ise auf den bevorste henden deu tsche n Angriff lieferten. Der so gen annte Cambridge Ring um Kim Philby, Dona ld Maclean und ande re und der de utsche Agent Richard Sorge wie sen schon unmittel ba r nach der Entscheidun g de r de utsch en Führu ng, den Angriff au f die Sowjetunion zu pla nen, auf d iese Kriegsvorbe reitung en hin. A llerdings schenkte Sta lin diesen Berichten ke inen G laube n. Vielmeh r hielt er d ie Nachric hte n für Desinformationsmaterial des b ritisch en Geheimd ienstes, der die Sowjetunion in einen Krieg m it Deutschland tre iben wo lle. Dass die englischen Agente n a llesamt der Obersch icht bezi ehungsweis e der oberen Mine lsch ic ht der b ritischen Gese llschaft ange hörten vers tärkte das M isstra uen der sowjetischen Füh rung. Die Reaktion a uf d ie ge lieferten Information en zur bevo rstehend en Invas io n bestan d dann auc h dari n, d ie br itischen Zuträger einer intensiven Übe rprüfung zu unterziehe n. Das s de r de utsche Jo urnalist Richard Sorge ebe nfall s übe r d ie Angriffsplä ne informie rte, wurde mit de m Hinwe is abge tan, So rge gä lte a ls ideo log isch unzu verlässig. Hinzu kam, dass das Polit büro sic h se lbst wo hl nicht e ingestehen konnte, m it dem Setzen a uf d ie deutsche Karte einen schweren Fehler begangen zu haben. Diese Fehlbe urteilung hane katast ro phale Folgen und war bis zum Ende der Sowjetunion g ut geh ütete s Staatsgehei mnis. Hier dränge n s ich e inige Fragen auf: Welchen Zusammenhang gibt es zwische n der Struktur des poli tischen Ent scheidu ngssystem s und der Anfälligkeit für Fehlurte ile? Sind totalitäre poli tische Sys teme, Autokratie n anfälIiger für Fehlurteile der polit ische n Elite als Demokratien? We lchen Einfluss auf politische Entscheidungen habe n individuelle kognitive Wahm ehmungsstrukturen? Welch e Funktionalität hat da s Leug nen unlie bsamer Realität?
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1.4.5 Appell von 18 Atomwissenschaftlern vom 12. April 195 7 Unser nächstes Beispiel hat mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun. Es gilt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als ein besonders lichter Moment zivilgesellschaftlicher - politischer Urteilskraft. Der Appell von 18 deutschen Atomwissenschaftlem für den Verzicht der Bundesrepubltk Deutschland auf Atomwaffen vom 12.4.1957 hatte seinerzeit in der durchaus hitzigen öffentlichen Debatte über Pläne, die Bundeswehr atomar zu bewaffnen, eine große Wirkung. Schließlich gehörten zu den Unterzeichnern so prominente Physiker wie Max Born, Otto Hahn, Wemer Heisenberg, Max von Laue, Fritz Strassmann oder C. F. von Weizsäcker. Der Text des Appells ist sachlich-aufklärend gehalten und informiert im ersten Teil über die verheerenden Wirkungen von Atomwaffen auch kleineren Kalibers. Im zweiten Teil des Appells definieren sich die Unterzeichner ausdrücklich als Nichtpolitiker. die aber als Wissenschaftler auch eine Verantwortung für die möglichen Folgen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit haben. Aus dieser Verantwortung heraus argumentieren sie, dass es für ..ein kleines Land wie die Bundesrepubllk'' am günstigsten wäre (nämlich als Schutz des Landes und als Förderung des Weltfriedens), ..wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jede r Art verzichtet." Sie bekunden auch ihre Entschlossenheit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen nicht zu beteiligen. Dieser Appell hat, wie man weiß, den damaligen Bundeskanzler Adenauer und vor allem den Verteidigungsminister Strauß ziemlich verärgert. In der Öffentlichkeit ist er hingegen ilberwiegend begrüßt worden. Die öffentliche Akzeptanz ihres Urteils haben die Atomwissenschaftler durch einen letzten Absatz noch erhöht. Und der lautet so: ..Gleichzeitig betonen wir, dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.t" Aus heutiger Perspektive erscheint der Appell zwiespältiger. Eine Atombewaffnung der Bundeswehr, bei welcher die nuklearen Waffensysteme allein der Entsche idungskompetenz der Bundesregierung unterstellt wären, war sowieso das Allerunwahrscheinlichste, selbst wenn einige deutsche Der Text des A ppells ist abged ruckt bei: Klaus von Schubert (Hg): Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutsc hland. Dok umentation 1945-1977 , Teil 11 . Bonn (B undeszentrale für politische Bildun g) 1978, S. IE2f.
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Politiker mit e inem solchen Gedanken gespielt haben mochten. Und das Plädoyer für den Ausbau der Atomenergie-Produktion zu friedlichen, d. h. rein wirtschaftlichen Zwecke n klang schon in den 1980e r Jahren anach ronistisch. In der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls. Heute könnten sich die Machthaber in Teheran auf die G örtinger 18 berufen.
1.4.6 Nach rüstungs- Turbulenzen 1979-/987 1979 ware n viele Hoffnungen. die sich e in paar Jahre zuvo r am KSZE· Prozess und der Ost-West-Entspannung festgemacht hatten, schon wieder verflogen. Den Ost-west-M ächte n, obgleich auf manchen nic ht so gut sichtbaren Ebene n durchaus koo perativer geworden. dro hte e in Rückfa ll in den Kalten Krieg. Die USA und UdSSR rüsteten we iter a uf, und durch die Einführurig weitreichender Mitte lstrecke nraketen , die im Prinzip jeden Z ielpunkt in Westeuropa erreiche n konnten , nic ht aber die USA bedrohten , schien es der Führu ng in Moskau zu geli ngen, einen sicherheitspo litisc hen und strategischen Keil zwischen die NATO-M itg lieder diesseits und jenseits des Atlantiks zu treiben. In dieser Situat ion fasste die NATO, nicht zuletzt auf Betre iben von Bundeskanzler Helmut Sc hm idt, ihren soge nannten Doppelbesch luss: Entwe der würde die UdSS R in den nächsten vie r Jahren ihre " eurostrateg ische n" Raketen (in der NATO-Tenn inologie SS 20 genannt) unschädlich mac hen oder die NATO würde ihrerseits nach Ab lauf diese r Frist mit nuklearen Waffensysteme n gleicher Re ich weite " nachrüsten" . Diese r Nachrüstungsbeschluss der NATO löste in den Folgejahren in vie len westlichen Hauptstädten große Demonstration en gege n die westliche Positio n in diesem Raketen poker aus. Nationale Friedensbeweg ungen vernetzten sich europäisch und transatlantisch und o rga nisierte n Kam pagnen gegen die zunächst ja noch gar nicht akute Stationierung von Persh ing 11Raketen und nuklear bestüc kten Marschflugkörpe rn. Die Argume ntation der Nach rüstungsgegner. die von den westlic hen Komm unisten und komm unistischen .Frontorganisationen'', aber auch von vie len Gruppierungen in de n Kirchen und im Bürgertum vertrete n wurde n, oft mit einer an Panik grenzenden Furcht verm ischt, lief da rauf hina us, dass j egliche Art von Politik mit nukleare n Mittel n gleic hermaßen unmora lisch w ie politisch desaströs sei. " Lasst uns Schluss machen mit der Atombewaffnung , und zwar sofo rt und bed ingungslos" , so kann man diese Haltung zusa mmenfassen.
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Die sowjetische Filhrung war von den Protesten im westlichen Lager sehr ang etan. Dass die Slogans der westlichen Friedensbewegungen auch unter der e igenen Bevölkerung Anklang find en kön nten , da s wurde zwar a uch gesehen. Ab er m it d iese m Aspek t der Entw icklung würde man schon fert ig werde n. Jed enfalls verste ifte sich d ie Haltun g in Mos ka u, da s Abrü stun gsangebo t im NAT O-Doppe lbeschluss wurd e abge lehnt. Denn d ie Nachrüstung, dessen wa r man sic h sicher, würde j a doc h nic ht stan finden, weil der Widerstan d dagegen im We ste n zu stark war . Das Schicksal der Regierung von Helmut Sc hm idt, der 1982 nicht zuletzt an se iner eigenen, mehrhe itlich friedensbe wegt orie ntie rte n Parte i scheiterte, schien das zu bestät igen. 1984 (ein Jah r mit eine r sc hwa rzen po litis chen Aura) beg ann d ie westliche Nac hrüs tung aber doch. Ein Jahr später rückte in Moskau M ichail Gorbatschow an d ie Sp itze der UdSSR, und im Dezember 1987 einigten sich d ie USA und die UdSSR auf die wei tgehe nde Abrüstung ihrer eurostrategisc hen Wa ffen . Ein Sieg hat vie le Väter und Mütter. Der Vertrag über d ie Abrüstung de r we itre ichende n M inelstreckenwaffen wurd e 1987 allüberall - und mit Recht ais ein großer Schri tt in Richtung a uf den Abbau wechselse itiger Bedrohu nge n im Ost-West-K onfli kt betrachtet. Das s dieser Konfli kt selbst schon bald verblasst se in würde , ahnte da mal s allerdings ka umjemand. Wer hat nun in den polit isch en Auseinandersetzunge n po litische Urteil skraft demon striert ? He lmut Sc hmidt, der als einer der ersten im Westen die Gefahr der nuk learstrategische n Abk oppe lung Euro pas vo n de n USA be merkt und lautstark Alarm ge sch lagen hat? Die NATO-Gremien, d ie d ieses seltsame linkage zwischen Ab- und Nac hrüstung konstru ierten und es m ühevoll, abe r da nn doc h erfolgreich über die Ze it reneten? Die Friede nsbewegung und ihre Mitg lieder, d ie in ihrer Mehrzahl schlicht und einfach einen Atomkrieg in Europa befürchteten, und zwar in un mittelbarer Zukunft? Die Moskau er Fü hrung, die den Do ppe lbeschluss ignoriere n zu kö nnen glaubte. weil die Öffen tlichk eit de s Westen s po larisiert war?
1.4.7 Hessen vorn Bei den Landta gswahlen in Hessen am 2 7. Ja nuar 2008 ergab s ich eine politisch neuartige Kon ste llatio n. we il fünf Parteien mit eigenen Fraktionen im Landtag vertrete n wa ren - d ie ne ue Partei Die Linke, herv orgegangen aus
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POS und der sozialdemokratischen Absplitterung WASG , hatte neben den beiden großen (C DU und SPD) und den beiden kleinen Parte ien (FDP und Die Grünen) den Sprung über die Fil nfprozenthürde gerade eben gesc hafft. Die Zeit der Alleinregierung war jetzt für die CDU (42 Mandat e) vorbei. Für eine Koalition mit der FDP ( 11 Mandate) reichte es nicht, denn die Mindestmehrheit, die im hessischen Landtag benötigt wird, beträgt 56 Mandate. Unter anderem wegen der polari sierenden Wirkung von Min isterpräsident Roland Koch (COU) kam abe r auc h die rechnerisch mögli che Große Koaliti on nic ht in Frage , auch nicht eine sogenannte Jamaika-Koalition aus COD . FDP und den Gr ünen. Die SPD (42 Mandate) konnte aber auch mit den Grünen (9 Mandate) keine Regierung bilde n, und die FDP verweigerte sich einer rot-grün -gel ben Koalition. Blieb die Linke (6 Mandate). Die war (und ist) teil-stigmati siert, einmal als SED/PDS -Nachfolgepartei, dann aber auch speziell aus sozialdemokratischer Sicht. weil der Parteivorsitzende der Linken ein ehemaliger Parteivorsitzender der SPD ist, - Oskar Lafontaine. Wie bekan nt, hat die Vorsitzen de des Landesverbandes der SPD in Hessen, Andrea Ypsilanti, in dem verbal ziemlich bruta len personenbezogenen Wahlkampf, die Abwahl von Minister präside nt Koch zu einem ihrer vordringlic hsten Wahlziele gemacht. Sie hat sich allerdings auch darauf festgelegt, keiner lei Bündnis mit der Linken einzugehen. Das war ganz klug, we nn auch nicht ohne Risiko. Denn Stim men für die Partei der Linken kommen in der Regel aus dem Pool, aus dem auch die Stimmen für die SPD kommen . Wenn nun die Linke an der FUnfprozent hürde scheitert, ein im Januar 200 8 durchau s nicht unwahrscheinliches Szenario, dann wären dam it St immen aus de m linken Poo l verloren gegangen. Deshalb sollten Wäh ler. die mit dem Gedanken spielten, die Linke zu wählen, davon abgeschrec kt werden und stattdessen SPD wählen. Außerdem legte sich die hesslsc he SPD ein deutl ich links von der Mitte anges iedeltes Wah lprogramm zu. um Wähler am linken Ra nd nicht an die Partei der Linken zu verlieren. Das Problem war nur, dass die Linke eben nicht an der Fünfprozentürde scheite rte und dass die sich im Aufwi nd befind liche SPD da nn doc h nicht die CDU (d ie sta rke Stimmenverluste erlitt) überflüge ln konnte. Das Wahlv ersprechen von Frau Ypsilanti erwies s ich als Bumerang. Sie versuchte ein Auswelchman över. nämlic h ein Regierungsb ündn is mit den Grünen, das von der Linken ge billigt wird. Damit scheiterte sie aber, das erste Mal an der eigenen Courage und an einer ein zigen .Dissidentin" in der SPD- Fraktion, das zweite Mal gleich an vier sozialdemokratischen Land tagsmitgliedem, die
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um keinen Preis eine Regierung stützen wo llten, die von der Billigung de r Linken abhängt. Deshalb gab es am 18. Januar 2009 erneut Landtagswahlen in Hessen, die von der CDU (kaum Stimmenzuwae hs) und ihrem WunschKoalitionspart ner FDP (starker Stimmenzuwachs) gewonnen wurde n. Die SPD ver lor star k, die Grünen ge wan nen daz u, und die Partei der Linken kam wiederu m, diesma l soga r e in wenig komfortabler, über die FünfprozentH ürde.
Dieser Wahlausgang interes siert hier abe r nicht. Viel interessanter sind die Fragen nach politisc her Urteilskraft. Man stößt dabe i auf eine Menge Defizite: Die. Wahlkampfakzent e von Min iste rpräside nt Koch ber uhten auf katastrophalen Fehlei nschät zungen. Demgegeniiber wa r das Wahl kampfversprechen der SPD ("ni cht mit der Linken" ) risi koreic h. aber eigentlich vertretbar. Auch dass Fra u Ypsilanti nach der Wahl die Li nke e inzubinden versucht hat, ist politi sch sinnvoll ge wese n - dem Vorwurf des Bruchs e ines Wahl versprechens hätte sich mit kühlen Gründen begeg nen lassen. Verständlich ist freilich, dass CDU und FDP unermiidlich auf diesen Punkt hin gew iesen haben , denn die SP D managte den Überga ng vo n der Position " nie mit den Linken" vor der Wahl zur Position "wi r wollen regieren, und dazu bra uche n wir die Billig ung de r Linken" auf sehr unprofessio nelle Weise (was im iibrige n auc h m it der Konstellation nach den B ürgerschaftswahlen in Hamburg und mit de r Figur des ung lücklich agierenden Parte ivorsitzenden Beck zu tun hatte). O ffen bar ist aber de r Mangel an politi sc her Urteilskra ft bei der Führung der hessischen SPD am deutlichsten im Umgang mit de njenigen SPDMitgliede rn zu Tage getreten, die dem Umsch wenk en skeptisch gegenü berstande n. Sie sind aufk lassische Funktionärsmanier ma rginalisiert, nicht etwa integriert worde n. Eine kleine Farce spie lte sich noch a b, a ls a lle Ambit ionen von Frau Ypsilanti schon verflogen und Ne uwahlen beschlossen waren: Da trat die Ehefrau eines pro minenten nordhessischen Kom munalpoli tikers de r SPD aus der Partei m it de r Begr iind ung aus, die Partei habe die " vier Abwe ichler" in den Reihen der eigenen Landtagsfraktion nicht ge biihrend abgestra ft.
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1.5 Z um Aufbau
Den Zusammenhang zwi schen politischer Urteilskraft und einer nach unse-
ren Vorste llungen funktionierenden Demokratie hat zuletzt logo Juchler (2005) in seiner verdienstvollen Habi litationsschrift hergestellt. Der Schwerpunkt seiner Überlegungen liegt auf der ••normativen Grundlegung der Politikdidakt ik", so der Untertitel. Es geht ihm um ein "normatives Bürgerfeitbild für die politische Bildung" , um einen Wissenskanon und um dessen Vermittlu ng im Politikunterricht. Auc h unsere eigenen Reflexionen zur Stärkung politischer Urteilskraft rücken die po litische Gesellschaft. in der wir leben. nicht aus dem Blickfeld, und die Vermittlun gsaspekte schulischen oder akademischen Politik-U nterrichts werde n von uns nicht außer acht gelassen . Jedoch setzen wir auf einer ande ren Ebene an. wenn wir nach den Bedingungen der Möglichkeit und nach den geistesgeschic htlichen Trad itionen politischen Urteilens fragen. Diesen beide n Fragen sind die ersten beiden Teile unserer Arbeit gew idmet. Der erste Teil kreist um Kognitio ns-Aspekte. Exkursionen in die Landschaften der Neurophysik und -chemie und anderer neuer Wissenschaftszweige , in denen es darum geht. ob es letztlich angemessen ist, menschliche Entscheidungsfreiheit zu postulieren. gehören ebenso in diesen Teil wie die Ana lyse des Urtelle ns, die Frage nach der Rolle von Gefühlen in der Politik sowie den Möglichkeiten und Grenzen der Aufnahme und kritische n Verarbeitung von Infonnationen. In einem weiteren Kapitel dieses Te ils wird danach gefragt. was die bis dahin gewonnenen Erken ntnisse für eine demo kratische Bildung bedeuten. Im zweiten Teil werden versch iedene Philosophien politisc her Urteilskraft und ihre Traditionen. von Aristoteles bis Dewey und Rorty oder Habennas, näher untersucht und miteinander vergliche n. Stichworte. um die es hier geht . sind u. a. Vernunft und Leidenschaft, Topo logie vernü nftigen Argumentierens. Aufk lärung, Politik und Wahrheit. Erkenntn is und Interesse. die Notwendigkei t de r Entscheidung, common sense und common good. Wollte man eine Geschic hte der polit ischen Urteilskraft schreiben. müsste man sich zuvor wirksam gegen Melancholien und Fatalismus wappnen, denn es würde in der Hauptsache eine düstere Geschichte des Versagens. Das ist keine neue Erkenntnis. Sozusagen immer schon hat es jede Menge teils gutwilliger, teils bösartiger Rezept -Angebote gegebe n. die mit
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der ehrlichen oder vorgeschobenen Absicht erstellt wurden, politische Urteilskraft zu stärken, aber genau das Gegente il bewirkten. Der dritte Teil gibt deshalb einen Einblick in die Arsena le von Dummheitskulturen. Wunschdenken und Utopismen, die Begrenztheit von Ideologien und die blinden Flecken ideologischen Denkens, Fanat ismus, Fundamentalismus, Populismus und die fatale Attraktivität von Verschwö rungstheorien kommen hier zur Sprache. Es wäre schön, könnte man vor dieser düsteren Folie die sich im vierten Teil ansch ließenden Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen einer politische Urteilskraft stärkenden Verhaltenslehre im hellen Licht der Eindeutigkeit erstrahlen lassen. Das ist aber nicht möglich. Stattdessen wird hier die ambivale nte Gestalt von Zielvorstellungen, Werten und Mechanismen für politisches Verhalten in der demokrat ischen Gesellschaft kritisch analysiert. Das geschieht im übrigen nicht mit der Absicht, solche Ambivalenzen zu überw inden. Es sind nämlich gerade der gelassene Umgang mit solchen Ambivalenzen und die Fähigkeit, sie auszuhalten, denen politische Urteilskraft als eine ihrer grundlege nden Komponenten bedarf.
Kog nition In den ersten Kapiteln unseres Buches beschäftigen wir uns mit den individuellen und gese llschaftlichen Bedingungen politischer Urteilsbildung. Dass dabei zunächst auf die Möglichkeiten und Grenzen individueller Wirklichkeitswahm ehmung, Wirklichkeitskonstruktion, Informationsaufnahme und -verarbeitung eingegangen wird, ist dabei nicht nur der breiten neurowissenschaftlichen Diskussion über Urteilen, Entscheiden und Handeln gesch uldet, obwohl gerade auch politikwissenschaftliche Betrachtungen ohne eine Auseinandersetzung mit diesem neuen erkenntnistheoretischen Paradigma nicht auskommen. Es wird sich herausstellen, dass Reflexionen zur politischen Urteilskraft durch naturwissenschaftlich orientierte Beobachtungen nicht zu ersetzen sind. Das Politische geht keinesfalls in neurologischen Determinismen auf. Vielmehr kann nur in einer gese llschaftswissenschaft lich angelegten Untersuchung gezeigt werden, wie die Bedingungen der Möglichkeit politischer Urteilskraft zu entfalten und wie die Menschen in ihren politischen Urteilen als gesellschaftlich bestimmte Wesen beschatTen sind. Dies wird erkenn- und nachvollz iehbar in der semantischen Unterscheidung von Urteil und Vorurteil, der Nutzung von Informationen und Medien, von Gefühlskulturen und den Versuchen, Urteilskraft durch institutionelle Anstrengungen politischer Bildung zu kräftigen.
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Ur teilsfreiheit
Weist man dem Proble m des Beurteilens politischer Sachverhalte Bedeutung zu. da nn ist da mit zwa ngs läufig die Vorstellu ng verbunden, Mensc hen seien überhaupt in der Lage. Urteile zu fällen . Und zwar nicht nur im Sinne der Faktizität zu beobachtender Urteile. die dan n zu Entscheidungen und Handlungen führen. Eine kurze Überlegung zu dieser Trias zeigt. dass sich im Urte ilen mehr ausdrUckt als eine sinnliche Fäh igkeit. Wollte man naturalistisch argumentieren. dan n könnte " Urteilen" als "Un terscheiden" beschrieben werden. Unterscheidung wäre dann ein Synonym für Handeln und Verhalten
schlec hthin. Dass etwas gesc hieht, oder dass nichts geschieht, stellt an sich noch kein Problem dar. Auch T iere führen Ope rationen des Unterscheidens durch, nehmen spezifische Nahrung an, lehnen andere Nahrung ab, erkennen Artgenossen usw. Auch solches Verhalten könnte mit Begri ffen wie ..Urteilen" und ..Entscheiden" beschrieben werden. Allerdi ngs ist eine solche semantische Übertragung von Begriffen, die das Handeln von Menschen beschreiben sollen, nicht sinnvoll. Die Perspektive der Außenbeobachtung des Verhaltens von Akteu ren ste llt nämlich nur einen Aspek t der Untersuchung von Urteilen, Entscheiden und Handeln dar. Denn dass Lebewesen Verhaltensweisen ausfuhren, die als ..Urteile n" bezeic hnet werden können, ist eine triviale Feststellu ng. Von einer solchen Beobachtungsposition aus, die diese Ebene in den Blick nimmt, können Fragen gestel lt (und mitunter auc h beantwortet) werden nach den objektivletbaren Wahme hmungsbedingungen, die richtige Urteile von Individuen und Kollektiven möglich machen. Wobei " richtig" als rea litätsange messen gilt . Schaut man sich unsere in der Einleit ung präsentierten Beispiele politischer Urteilsbildung an, wird die Bedeutung solcher Beobachtungen deutlich, hatten doch die unange messe nen Beurteilungen politischer Sachverhalte oft tragische, ja lebensvernichtende Konsequenzen. Solche Untersuchungen der Bedingungen der Möglichkeit politisc her Entscheidungen sind wichtig (machen doch nur mittelmäßig Begabte ihre Fehler zwei mal), reichen aber für eine polit ikwissenschaftliche Behandlung der Frage des Zusammenhangs von Urte ilen, Entsc heiden und Handeln aus
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2 Une tlsfreineit
zwei Gründen nicht aus. Erstens sind die naturalistischen Vorstellu ngen von Urteile n als sensuell inspirierte Unterscheidungen nicht ausreichend, um Handeln von Verhalten analytisch zu trennen. Beobachtet man aber alle Aktivitäten eines Akteurs als Verhalten, dann werden die Se lbstwahrne hmungen dieser Akteure von vornhe rein als irrelevan t für eine wissenschaftliche Auseinan dersetzung zurüc kgewiesen. Denn Akteure besc hreiben sich als Handelnde, indem sie etwa ihr ..Verhalten" (Außenbeobachtung , Perspektive der Dritten-Person-Singular) als " Handeln" begründen und erklären ( lnne nbeobach tu ng, Perspe ktive der Erste n-Person-S ingula r). An diese r Stelle wird auch der prinzipielle Unterschied zwischen tierischem Verhalte n und menschlichem Handeln deutlich. Tie re können solche Begründungen nicht liefern. Das hat übrigens nichts mit der Richtigkeit ode r Stichhaltigkeit solche r Grün de für die beschriebenen Handlungen zu tun. Aber dass überhaupt Gründe ange führt werden, verweist auf die Bedeutung diese r Binnenperspektive für den Zusa mmenhang von Urteilen, Entscheid en und Handeln . Zwe itens verwe ist diese r Perspektivenwechsel auf die soziale Einbett ung allen Handei ns. Hier kommt eine nonnative Folie ins Spiel. vor deren Hintergrund die Diskussion politischer Urteils bildung erst ihre eigentliche Brisanz entfaltet, geht doch der Handlung das Urteil voraus. Wobei in der Binnenperspektive gerade auch in der Reflexion von Zwängen die Freiheit zum Urteil und zum Handeln vorausgesetzt ist. Letztlich geht es dabei um die Frage nach der Rationalität po litischen Handeins. Diese werthaltigen Aspekte setzen nun aber einen Begriff von ..Freiheit" voraus. von Unterscheidungsfähigkelten, die mehr sind als quasi physiologisch zu beschreibende Reiz-Reaktions-K etten ode r politische Determ inismen.
2.1 Neuro po litologie?
Bei dieser Fundlerung eines politisch s innvollen Freiheits - und verantwortungsbegrifTs sehen sich heute Ge istes- und Sozialwissenscha ften, dam it auch die Politikwissenschaft, durc h die - nicht nur in den Augen rhetorisch begabter Mediziner - zur Einheitswisse nschaft aufste igenden Neurologie herausgefordert. Die Ne urowissenschaften haben vor allem mithil fe der funktione llen Kernspinto mograp hie. also der bildliehe n Aufnahme von Gehimaktivitäten, nachweisen können, dass zwischen Wahrnehm ungen, GefLihlen, Urteilen, Entscheidungen und Handlungen einerseits und biochemischen
2 Urteilsf reiheit
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Reaktionen in spezi fischen H irnreg ionen a ndererseits feste Korrelationen exist ieren. H ier kön nen Akt ivität smust er beobac hte t we rden, no ch bevor die j eweilige Person (das jewe ilige G eh irn) von diesen ihren Wahrn ehm ungen, Gefühle n usw. se lbst e in Bew usstsein a usgebildet hat. Im G ehirn und durch das Gehirn sc he int imme r sc hon altes beurtei lt un d entschieden zu se in, bevo r im Bewu sstsein dafUr " Gründe" berei tgestell t werden. Ja, darüber hinau s be lege n so lche Experimente, dass bes timmte Ge himareale nicht nur frü her als das Bewu sstse in auf Rei ze reag ieren, sondern dass sie ihre Wah rnehm unge n se lbst erzeuge n. H ier ko mmt dem ,.timbi schen System " entscheidende Bedeutung zu. U nd inner halb dieses Syst ems sind dann wiederum die A mygda la und der Hippo cam p us wichtig : Die Amygdala ist das Hauptzentrum für das Entstehen und die Kontrolle von Gefühlen und für emotionale Konditionierung. Sie registriert, in welcher Weise bestimmte Handlungen und Ereignisse positive oder negative Konsequenzen fllr den Organismus nach sich ziehen, und speichert dies ab. Beim Wiedererleben der Ereignisse werden diese Bewertungen aufgerufen, und wir erleben dies über Bahnen, die die Amygdala zur Großhirnrinde schickt, als positive oder negative Gefühle, das heißt als Antrieb oder Vermeidung. Der Hippecampus ist der Organisator des episodisch-autobiografischen Gedächtnisses und registriert den jewei ligen Kontext der Ereignisse. Amygdala und Hippec ampus arbeiten arbeltsteillg, indem die Amygdala die eigentliche emotionale Bewertungsfunktion aus führt und der Hippocampus Details des Geschehens und dessen räumlichen und zeitlichen Kontext hinzu gibt. Der IIippocampus ist als Organisator des deklarativen Gedächtnisses auch verantwortlich für das Auftauchen bestimmter Motive, Wünsche, Absichten Gedanken und Vorstellungen beim bewussten Entscheidungsprozess. Diese Verkettung von Amygdala und Hlppocampus ... hat zur Folge, dass beim Entstehen von Wünschen und Absichten das unbewusst arbeitende emotiona le Erfahrungsgedächtnis das erste und letzte Wort hat, das erste Wort beim Entstehen unsere Wünsche und Absichten, das letzte bei der Entscheidung, ob das, was gewünscht wurde, jetzt und hier und so und nicht anders getan werden soll. Diese Letztentscheidung fällt ein bis zwei Sekunden, bevor wir diese Entscheidung bewusst wahrnehmen und den Willen haben, die Handlung auszuführen. Zwischen beiden Ereignissen können beliebig lange Perioden des bewussten Abwägens von Ilandlungsaltemativen liegen, im einen Fall entscheiden wir spontan, • aus dem Bauch heraus ., während wir im anderen Fall monatelang Argumente hin und her wälzen. In beiden Fällen muss es j edoch zu einer Letztentscheidung kommen, bei der es auf die Passung zwischen bewussten kortikalen Handlungsintentionen mit dem Handlungsge-
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2 Urteilsf reiheit
dächtnls ... und dem emot ionalen Erfahrungsgedächtnis des limbischen Syste ms ankomm t (Roth 2006, 13).
Nicht auf die bewusste Entscheidung kommt es also an . Vielmehr ist im Moment des Bew usstsein s alles sc hon beurtei lt und entschieden . Allenfa lls die daraus folgenden Handlungen öffnen sich reflexiver Überprüfun g. Amygdala, Hyppocampus und weite re Gehim regionen, die hier nicht er-
wähnt worden sind, konstruieren ihre eigene Wirklichkeit. die sie glelchzeitig bewerten und entscheidungsreif machen . Insbesondere Untersuchungen von Schi zoph renie-Patient en lassen erkennen, wie das Ge hirn seine eigene Realität hervorbringt. Solche Patienten berichten etwa aber "Befehle", die ihnen Stimmen von auße n eingäben . Solche Stimmen gibt es aber nicht. Das kran ke Gehirn halluziniert. Menschen , die unter solchen Kra nkheiten leide n, füh len sich gerad e nicht .Jrei", sondern beherrscht, und das werden s ie auch, von ihrem eigenen Körper, ihrem Ge hirn (Sl nger 2003, 32). Ginge man nun davo n aus, dass für die Analyse politischer Handlungen die Gestimmthe it der ei nzelnen Handelnden die entscheidende Grun dlage wäre n, so m üsste n vor allem neuronale Prozesse untersuc ht werden. Eine Analyse po litischer Urte ilskraft könnte sich also, jedenfalls soweit sie sich auf das Individuum konz entriert , ganz den Ne urow issenschaften anheim geben. Es entstUnde so eine Naturw issenschaft politischer Entscheidu ngen . Untersuchungen mit Hilfe der oben erwähnten bildge benden Verfahren haben beispielsweise geze igt, dass es für Rechne n und Verhandeln spezifische Gehim regionen gibt. Personen , die in Berufen tät ig we rden wollen, in dene n es auf diese Fähigkeiten beso nders anko mmt, könnten durch einen Scan ihres Gehirns ausgewählt we rden. Ähnliche Funkti onsregionen lasse n sich auch für viele ande re Fähigke iten lokal isiere n. Gewerkschaft sfü hrer. Arbeitgeberpräsid enten, die Bundeskanzlerin als neurolog isch diagnost izierte Führu ngskräftef Sowe it wird es wohl nicht kommen, unter ande rem auch deshalb, weil sich politische Fäh igkeiten eben nicht au f Einzelkompetenzen (Rechnen , Reden, Verhandeln ) herunterbrechen lassen. Die eigentliche Provokation, d ie für die Geistes- und Sozialwissenschaften von solchen neurob iologischen Szenarien ausgeht, besteht in de r da mit einhergehenden Ne ubewertung des Problems von Determinis mus und Wil1 FUr diesen Hinweis und viele weitere Anregungen danken wir Dr. Michael Eckhatdt, Neurologisehe Akut klinik Bad Zwesten,
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lensfreih eit. Wenn es in den Individuen Urte ils- und Entsc heidungszent ren gibt, die s ich der bewussten Kontrolle entziehen, stehen nicht nur j uristische Annahmen ilber die Adressierbarkeit von Schuld und Verantwortung auf dem Prüfstand. Von " Freiheit" im Sin ne der Annahme, der einzelne kontrolliere sei ne indiv iduellen Motive, Grü nde und Ursache n für das eigene Hande ln, könnte nicht mehr ges prochen werden . Allenfalls wäre neurologisch aufz uklären, warum es zu bestimmten Handl ungen gekommen ist und zu anderen nicht. Wolf Singe r, der auc h zur Grup pe derjenigen Neurowissenschaftler zählt, die in den Ergebnissen der Him forschung die Grundlage eines neuen Menschenbildes ange legt sehen, plädiert dann a uch als Konsequenz dieser willentl ich nicht kontrollle rbaren neuronalen Urteils- und Entscheidungsimperative ftir Toleranz gege nüber sozial unverträglichen, kriminellen, in ihrem Ver halten von den Regeln und Nonnen der Gesellschaft abweichenden Personen (S inger 2003, 33 )4. Denn diese seien genauso wen ig wie alle anderen Menschen für ihre Handlungen haftbar zu machen.
2.2
Bedin gte Freiheit
An diesem Punkt wird die Bedeutung einer die Kontexte von Urte ilsbildung, Entschei dungsfi ndung und Handlung untersuchenden Politikwissenschaft deutlich. So, wie der Neurologe die Prozesse in den neuronalen Netzwerken untersuchen muss, um verstehen zu können, war um ein Individuum so und nicht ande rs gehandelt hat, bedarf es einer Rekonstruktion der gesellschaftliehen und politischen Prozesse, um aufklären zu können, warum politische Entscheidungen so getroffen worden sind und nicht anders. Aber : dabei kommt man an den Selbstzeug nissen der Handelnden nicht vorbei. Und diese Selbstwahrnehmunge n sind eben sehr viel mehr als nur Illusionen der Akteure über ihre Handl ungen und deren Gründe.
• An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass bei geneuerem Hinsehen sich die Konsequenzen dieses neuen universalwissenschaftlichen Menschenbildes im Vergleich zur überwunden gehaltenen .alteuropäischen" Annahme von Willensfreiheit und Verantwortlichkeit bescheiden ausnehmen. Sin@:er fuhrt seihst aus, dass auch die nicht schuldfähigen und unadressierbaren Straftäter aufgrund der von ihnen ausgehenden Gefahren unter Umständen lebenslang interniert werden müssen_ Im heutigen Strafrecht kennen wir e ine solche Praxis als ~Maßrege lvollzug" , der sich vom ,.Strafvollzug" nur graduell unterscheidet.
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2 Urteilsfreihei l
Handeln besteht letztlich aus der Produktion von Gründen des Handelnden. Diese Mobilisierung von Gründen schafft eine gesellschaftliche und politische Wirklichkeit. die mit keiner naturwissenschafilichen Semantik überhaupt beschreibbar ist. Und hier helfen die Fortschritte in der Gehimforschung nur sehr begrenzt weiter. Die Ergebnisse neurobiologische r Experimente beziehe n sich zumeist auf einfachste Motivlagen und körperliche Bewegunge n. Mit Handeln haben diese Experimente überhaupt nichts zu tun. Komplexe, über längere Zeit sich hinziehende Handlungszusammenhänge lassen sich nur in ihren Grundforme n neurowissenschaftlich beschreiben. weil Handeln immer das Anführen von Grilnden meint, das heißt die Reflexion aber Ziele, Bedingungen, störende oder begünstigende Faktoren usw. Handeln setzt damit Urteilen voraus. Wie komplex schon die neuronalen Netzwerke innerhalb des Gehirns auch sind, die zu analysierende Komplexität vergrößert sich erst richtig, wenn die Interaktionen der Geh irne der ihnen anhängenden Personen mit berücksichtigt werden müssen. Der Hinweis auf die notwen dige materielle. elektrophysiolog ische und biochemische Basis j eder psychischen Aktivität führt zu nichts. Denn der Bogen zwischen der Beschreibung solcher nach naturwissenschaftlichen Gesetze n ablaufenden Prozesse und kulturellen Mani festationen kann nicht geschlagen werden. Der biologische Determinismus weist nicht ober sich hinaus und erklärt keine gesellschaftlichen und politischen Tatbestände. Auc h Disziplinen wie die Evolutionspsycholog ie ändern an dieser Tatsache der Eigenständ igkelt und naturwissenschaftlich nicht reduzierbar kulturellen Eigenwill igkeit sozialer Interaktion nichts. So wird in einer viel beachteten Studie zur neurobiologischen Begründung des Altruismus danach gefragt, " wie die G üte" in die Welt gekom men sei (Dugatkin 2008 ). Aber schon ein oberflächlicher Blick auf die kulturellen Manifestationen von Altruismus zeigt. dass von einem intersubjektiv und interkulturell feststell baren Maßstab der Güte anderen gegen über nicht ge redet werden kann. Was sich abe r sozial und politisch in vielfältigen und ganz unterschiedliche n institutionellen Arrange ments manifestiert, kann offensichtlich nicht biologisch determiniert sein. Bleibt immer noch das Problem der Begründung einer nonnativen Kritik politischer Urteilskraft . Wenn Individuen und Netzwerke nicht anders können als sie können, dann gibt es keinen Ansatzpunkt für Kritik. Was bleibt, ist ein fatalist ischer Umgang mit dem kausal defin ierten Notwendigen. Aber die Individuen haben immer wieder selbst auch die Wahrnehmung, " frei" zu sein, als Ausdruck ihrer selbstreferenziellen Gehirn -Aktivit ät. Für den Hirn-
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forscher ist dieses Selbstbild eine Illusion. die darauf beruht. dass das Gehirn seine materiellen Prozesse selbst gar nicht beobachten kann. Der Determ inismus ist mithin nicht an sich selbst zu beobachten, sondern nur beim Blick auf den anderen. Der Neurologe schaut immer aus der Dritten-PersonPerspektive auf Urteilen. Entscheiden. Handeln und sieht nur notwendige Abläufe: ... Zutreffend ist ... die konsensfähige Feststellung der Neurobiologen. dass alle Prozesse im Gehirn deterministisch sind und Ursache für die je folgende Handlung der unmittelbar vorangehende Gesamtzustand des Gehirns ist. Falls es darüber hinaus noch Einflüsse des Zufall s gibt, etwa durch thermisches Rauschen. dann wird die je nachfolgende Handlung etwas unbestimmter. aber dadurch noch nicht dem " freien Willen" unterworfen (Singer 2003. 33). Offen sichtlich geschieht in dieser neurowissenschaftlichen Sicht auf die Freiheit des Menschen eine Verschiebung de r Beobachtungspositionen. In der Perspektive der ersten Person Singular. des ..Ich" , beschre iben sich Menschen (sieht man von den oben kurz erwähnten Krankheitssymptom en ab) als .Jrei", wie sich bei Entscheidungen immer wieder zeigt. Bestimmte Bücher werden gelesen. andere nicht. Das eine Studienfach wird dem anderen vorgezogen. Ehen werden geschlossen. fortgesetzt oder beendet, und bei all diesen Handlungsketten spielt das Selbstbewusstsein, prinzipiell frei zu sein. eine große Rolle. Selbst wenn die Betroffenen in Zwangslagen das Bewusstsein haben, nicht " frei" handeln zu können, entsteht dieses Bewusstsein von Unfreiheit überhaupt nur vor der Kontrastfolie potentieller Freiheitsfähigkeit. Beobachten nun Neurow issenschaftler dieselben Urteile, Entscheidungen, Handlungen, dann stoßen sie auf physiologische. deterministisch ablaufende Prozesse. deren genaue Untersuchung im besten Fall die Handlungen der Individuen als Verhalten erklärt. Dieser Determ inismus ist allein der Beobacbrungsposition, der Dritten-Person-Singular geschuldet und nicht .objektive' Sachlage. Aber mehr noch: selbst aus dieser Beobachtungsposition kann gesehen werden, dass Individuen über Handlungsoptionen verfUgen. Es bedarf gar keines Perspektivenwech sels. um auf die Realität dieser potentiellen Urrells-, Entscheidungs- und Handlungsalternativen zu stoßen. Mit Blick auf diese nicht zu leugnenden Verhaltensalternativen und Handlungsmöglichkeiten. von denen die Akteure Rechenschaft ab legen können (ein Stück Kuchen zu
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2 Urteilsfr eiheil
essen oder es dem Gast zu überlassen ), schreibt Gerhard Roth, der zu den Wegbereitern der neurowissenschaft lichen Wende gehört, in seinem Buch .Pers önlichkelt. Entscheidung und Verhalten" : Es bestehen Optionen zum Beispiel hinsichtlich A oder B, weil physische Faktoren außerha lb von mir und psychische Faktoren in mir sowohl A als auch 8 zulassen. Die Tatsache j edoch, dass ich schließlich A und nicht B tue, ist in dem Augenblicke. in dem ich A tue, determiniert, das heißt, alle äußeren und inneren Umstände führen zu A und nicht zu B In dem Maße, wie bei der Festlegung meine eigenen Motive eine Rolle spielen und nicht purer Zufall, ist es meine Entscheidung. Dies ist übrigens unabhängig davon, ob alle meine Motive und
Ziele mir bei der Entscheidung bewusst waren, denn wenn unbewusste und bewusste Motive und Zieleübereinstimmen, das heißt kongruent sind, dann merke ich das daran, dass ich auch in größerem Abstand meine Entscheidung billige (Roth 2008, 327). Neurowissenschaftler leiten aus solchen Feststellungen die Forderung ab, im Rahmen von Sozialisationsprozessen im Elternhaus, in der Schule und anderen Bildungsorten das emo tionale Gedächtnis und das autobiografi sche Erfahrungsgedächtnis so plastisch zu halten, dass es Sensibilität für O ptionen bewahrt. Plädoyers gegen Dogmatismus, Scheuklappen und sonstige Einengungen werden hier neurowissenschaftlich begründet. Wer sollte etwas dagegen einzuwenden haben? Roths Hinweis auf Optionen korrespondiert mit einem normativ gehaltvollen Begriff von Freiheit, die immer überhaupt nur als bedingte Freiheit vorstellbar ist. Schon Hegel hat in einer berühmten Stelle seine r " Phänomenologie des Geistes" darauf hingewiesen, dass es einen Begriff der absoluten Freiheit nicht geben kann. Freiheit ist immer bedingt (B ier! 2001). Urteilskraft zeigt sich dann gerade darin, diese Bedingungen freier Entscheidung reflektieren zu können (Habermas 2004). Diese Bedingtheit - und das ist der nun relativ bescheidene Beitrag der Neurowissenschaften zum Thema Freiheit - hat physiologische, materielle Kontexte. Vor allen Dingen abe r soziale, kulturelle, geistige. An dieser Stelle kann nun eine Brücke gesch lagen werden zwische n den nicht zu leugnenden Erkenntnissen der Gehimforschung und der Politikwissenschaff . Einer Untersuchung politischer Urteile, der Mot ive und Z iele politischer Entscheidungen und Handlungen kommt deshalb Bedeutung zu, weil es um die Diskussion von Optio nen geht . Entscheidungsfreihe it als Voraus-
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setzung einer Kritik der Urteilskraft setzt nicht nur beim Individuum an, sondern auch bei der Gese llschaft. Politisches Urteilen ist auf Öffentlichkeit bezogen. Die Strukturen dieser Öffentlichkeit sollten so beschaffen sein, dass Optionen offen gehalten werden. Dogmatismus und Fundamentalismus, Denkverbote - gerade auch im Rahmen so genannter politischer Korrektheit verengen den Raum des Sagbaren. damit des Urteilens, Entscheidens und Handeins. Gerade weil Handeln in der Mobilisierung von Gründen besteht, diese Begründung immer intersubj ektiv angelegt ist und diese Begründungsarbeit sprachlich vonstatten geht, sind die jeweiligen Vokabularien und Sprachspiele das auch neurowissenschaftlich nicht hintergehbare, ungemein politische Fundament der Freiheit. Deshalb sind literarische Zeugnisse so wichtige Grundlagen und Manifestationen politischen Handelns. Politikwissenschaftlich wird die Perspektive der Außenbeobac htung (Dritte-PersonPerspektive) mit der Innenbeobachtung (Erste-Person-Perspektive) verbunden und auf die Gesellschaft hin erweitert. Kausalitätsanalysen und Freiheitsreflexionen zusammen machen den Gegenstand der Untersuchung politischer Urteilskraft aus, ihrer Möglichkeiten und Grenzen.
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Informati onsverarbeitung und Mediennutzung
Im vorherge henden Kapitel haben wir in de r Au se inandersetzu ng mit Erkenntnissen der Himforschung geze igt, dass Urteilsfrei heit immer bedingt ist und es - nonnativ gesprochen - da rauf ankom mt, die Kontexte dieser Bedingtheit zu reflektieren. Die neurologischen Ab läufe ste llen dabei nur einen (physischen/materiellen) Bedingungsrahmen unter vielen anderen (situativen, kult urellen, ö kono mischen. politischen und anderen) dar", Das Planen einer Hand lung beste ht aus mehr oder m inde r ge lungenen Überlegunge n zu den jeweiligen Mög lichkeiten und Grenzen, Widerständen, begünstigenden Faktore n usw . Die Wahrnehmung von Optionen setzt e ine gewisse Sehschärfe für die Handlungskontexte voraus. Folgerichtig nimmt die Frage nach der Bedeutung von Informationen über die Handlungsbeding ungen für die Herausbild ung politischer Urte ilskraft im Rah men solc her Kausalir äts überleg unge n besonde ren Raum e in. Dabei ist zunächst zu klären, was unter " Info rmat ione n" sinnvollerwe ise verstanden werden soll. Ein ige eher kurzschlüss ig ange legte Analyse n zur Bedeutung von " Wissen" in modem en Gesellschaften verwe isen auf die Herrschaftsaus übung durch eine sogenannte .Jn fo-Elite". Hier soll nun nicht die analy tisc he Kom pete nz so lcher Diagnosen di skutiert werden. Alle rd ings löst die in modischen Fundam enta lsozio logien neu entdeckte Vie lzah l von Gese llschaftsform aten (Wlssensgesellschatt, Erlebnisge sellschatt, Rlsikogese ilschaft u. a.) eine ge wisse Skepsis aus . Wir bezweifel n nämlich, dass es jemals Gese llschaften ohne Wissen, Erlebnisse oder Risiken gegeben hat. Wichtiger für unse re Untersuchung zur politischen Urteilskraft ist der Hinweis auf die Macht, die aus de n Info rmatio nen erwächst. Offensic htlic h ist die Vorste llung we it verbre itet, es gebe einen ess entiellen Kern an wissen/ Info rmat ion, de n man wie einen Schatz besitzen und verwalten kann, indem man etwa ande re an ihm teilhaben lässt oder von sei ner Nutzung ausschließt. Das Problem mit einer solchen essentia listisc hen Definition von Information besteht nun da rin, dass eine a llgeme ine Akze ptan z des Werts l
Determinierend sind diese hirnorganischen Bedingtheuen nur in der Beobachtung des Hirnfot-
scbers.
3 Informationsverarbeitung und Mediennutzung
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von Informationen- ganz im Gegenteil zum Goldschatz ~ nicht ex istiert 6 • Um die Bedeutung von Informationen für die Freiheit politischen Urteilens ermessen zu können, ist ein Informationsbegriff nöt ig, der die Funktionen von Informationen • und nicht deren Inhalte - betont. Gregory Bateson hat in seiner bahnbrechenden Schrift " Ökologie des Ge istes" diese Funktion von Informationen als einer der ersten für die Anthropologie und Sozio logie fruchtbar gemacht. Dort heißt es lapidar: .Jnformation, im technischen Sin ne, ist das, was gew isse Alternativen ausschließt." " Information" wird als relationales Ereign is verstanden. Danach gewinnt jede Information ihre Bede utung erst durch eine Unterscheidung von etwas ande rem. Es gibt also keine Informationen "an sich". Bateson verdeutli cht diesen Zusammenhang mit Blick auf einen einfachen kybernetischen Mec hanismus: Die Maschine mit einem Regler wählt den Zustand des Fließgleichgewichts nicht; sie hindert sieh daran, in irgendeinem anderen Zustand zu verbleiben; und in alt den kybernetischen Systemen dieser Art werden regulierende Eingriffe durch Unterschiede hervorgebracht. Im Jargon der Ingenieure wird das System dureh Fehler aktiviert. Der Unterschied zwischen einem gegenwärtigen und elnem bevorzugten Zustand aktiviert die regulierende Reaktion, Der Terminus technicus "Informationen" kann vorläufig als irgendein Unterschied, der bei einem späteren Ereignis einen Unterschied ausmacht, definiert werden (Bateson 1985 ,488).
Die Funktion von Informat ionen kann Gew inn bringen d überhaupt nur im Rah men von systemisc hen Ab läufen untersucht werden , markieren Informationen doc h Untersc hiede in der Zeit. Informationen teilen Prozesse (Handlungen/Verhalten ) in ein vorher und nachher. In solchen Zusammenhängen kann man danach fragen, welche Unterschiede von wem gemacht werden, welche Logik diesen Unterscheidungen zu Grunde liegt, welche Untersc hiede diese Unterscheidungen hervorrufen' , 6 Geld ist, was gilt, das heißt, was allgemein als Zahlungsmittel akzeptiert wird. Eine solche allgemeine Akzeptanz von Infonnationen als Information (unabltängig von dem j eweiligen Inh.a lt) gibt es nun allerdings nicht. 1 Wir werden im Kapitel über das Verhältnis von Politik und W ahrben zeigen, dass viele - etwa von Journalisten - mil Mühe zusammengetragene Fakten mitunter keine Unterschiede machen, also in unserem Sinne gar keine Infonnati oncn s ind. Mögen sie auch in so genannten .Jnformationssendungen'' präsennen werden.
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3 In! ormalionsverarbeilung und Mediennutzun g
Weiter kann danach gefragt werden, wie spezifische Systeme Unterschiede operationalisieren. So kann untersucht werden. warum ganz bestimmtes "T atsac henwissen" eben keine Unterschiede macht. während anderes "Tatsachenwissen" Untersc hiede macht. Neben seinen analytischen Aufgaben erfilllt dieser Begriff der Information als Untersc hied. der einen Unterschied ausmacht. auch normative Ansprüc he. Er macht es möglich, die unübersehbare Zahl von Infonn ationsangeboten kritisch zu überprüfen, ob sie wirklich Unterschiede setzen. etwa das Handeln von Akteuren verändern. Auch an diesem Punkt stoßen wir wieder auf den schon im zweite n Kapitel angesprochenen Perspektivendualismus. In der A ußenbeobachtung kann die Funktion von Informationen relativ einfach beschrieben werden . Aus der Binnenperspektive des handelnden Akteurs stellt sich der Vorgang erheblich komplizierter dar. Infonn ationen als Au fforderung zur Unterscheidung lösten Irritationen aus und stellt eine Zumutung dar, geht es letzt lich dabei doch immer um das Annehmen oder Abweisen von Untersc hieden und damit um Entscheidung. Bewirken Informat ionen Unterschiede. führt das zu Verän derungen. Informationen irritieren damit Komm unikation (Luhma nn 1997. 1088).
3. 1 Irritation des polit isch en Systems Dieser systemtheoretisc he Informationsbegriff stammt aus naturwissenschaftlichen Zusammenhängen und beschreibt die Regulie rungsvo rgänge. die innerhalb von Organismen und Maschinen ab laufen. Seine Übertragung auf politikwissenschaft liche Fragestellungen ist nicht ganz ohne Probleme. dennoch aber sehr erhellend. In ihren politischen Handl ungen stehen die Individue n vor dem Problem. vielfällige Informat ionsangebote verarbeiten zu müssen. Für den einzelnen und für Grup pen. Gemeinschaft en und Gesellschaften stellt dabei die Möglichkeit, Information en durch schriftliche Fixierung über die Zeit zu transportieren und auch räumliche Begrenzungen zu überbrüc ken, eine große Herausforderung dar. Diese ständige Konfrontation mit lnformatio nszumutungen. die neue Untersc heidungen möglich und nötig machen. stellt nicht erst seit der Verbreitung elektron ischer Medien Urteilskraft auf die Probe. sind doch nicht alle Unterschiede funkt ional oder - um ein anderes Vokabular zu benutzen - sinnvoll.
3 lnjormarionsverarbeilung und Mediennutzung
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In der Gutenberg-Gal axis, wie Marsh all McLuhan ( 1995) das Ze italte r genannt hat, in welche m der Buc hdruck zum Leit- und Schlüsse lmedium wurde, haben sich die Angebote der Irritation pol itischer Kommun ikation drastisch e rhöht. Wen ige Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks wurden in Europa 20 Millionen Bücher pub liziert. Das waren zwar vor allem Bibeln , religiöse Traktate, die wieder entdeckten griechische n und römischen Klassiker. Aber Kom munikationszumut ungen gingen von diese n BUchern allemal aus. Im 16. Jahrhundert erschienen in Europa ungefä hr 200.000 untersch iedliche Buchtitel. Theo logische Schriften erzielten die höchsten Auflagen (Luther war der Bestsellerautor se iner Zeit). Die durchschnittliche Auflagenhöhe jedes Tite ls betrug etwa 1500 Exemplare . Ein Jahrhundert später war die Gesamtzahl al ler in Europa neu ersc hienenen Bücher auf circa 180 Millionen Exemplare angewac hsen . Die Informationszum utung wurde durch die im 17. Jahrhundert sich durchsetzenden Zeitungen noch größer. Während des 18. Jahrhunderts wurden knapp 3 Millionen verschiedene Buchtitel produziert, insgesamt etwa 1,5 Milliarden Exe mplare. Allein in den deutsche n Ländern wurden vor der Französischen Re volution zw ischen 2 und 5 Millionen Bücher pro Jahr gedruckt ( Wimmer 2002, 238). Die so entstehenden öffentlichen Einblicke in dieses und jenes wirken mit ihren Varia tionskaskade n immer neuer möglicher Untersc heidunge n auch als Belastun g. Robert Burton beschri eb zu Beginn des 17. Jahrhunderts in seiner heut e noch aktuellen und packenden Schrift zur ,,Anatomie der Me lancho lie" (Oxford 162 1) den Schrec ken der Irritationen : Ich höre und sehe, was im Ausland geschieht, wie andere hasten, eilen, sich plagen und schinden in Stadt und Land. Fern halte ich mich den Händeln und Prozessen, den Eitelkeiten des Hofes und Intrigen der Politik und verlache alle, weil ich nicht in Unruhe sein muß, daß mein Verfahren eine schlechte Wendung nimmt, daß die SchifTe untergehen, das Kom und Vieh verdirbt und der Handel leidet. Ich habe nämlich kein Weib und keine gut oder schlecht geratenen Kinder, für die ich zu sorgen hätte. Als bloßer Beobachter der Geschicke und Abenteuer anderer Menschen kommt es mir vor, als spielten sie ihre Rollen in einem unserer Theater. Tagtäglich höre ich neueste Nachrichten und landläufige Gerüchte über Kriege, Seuchen, Feuer, Überschwemmungen, Diebstähle, Morde, Massaker, Meteore, Kometen, Geister, Wunder, Erscheinungen, über belagerte und eroberte Städte in Frankreich, Deutschland, der Türkei, Persien, Polen, von Aushebungen und Kriegsvorbereuungen, Schlachten und Gefallenen, über
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Zweikämpfe, Schiffsunte rgänge. Pirater ie und Seeschlachten, von Friedens schlüssen, Bündnissen, Kriegsl isten und neuen Mobilmachungen. wie sie diese stürmisc hen Zeiten erzeugen . Ein großes Durcheinander von Schwü ren, Wünschen, Klagen, Edikten , Petitionen, Prozessen, Geset zen, Proklamationen und Beschwerden kommt uns täglich zu Gehör . Neue Bücher erscheinen Tag um Tag, Pamphlete, Flugsch riften, Geschic hten, ganze Katalo ge mit den unterschiedlichste n Titeln , neue Paradoxa, Meinungen , Schismen , Ketzereien , Kontroverse n in der Philosophie, Theologie usw. Eben erreichen uns Neuigkeiten über Hochzeiten, Maskenspiele. Mummenschanz, Lustbarkeiten, Jubi läen, Gesandtschaften, Turn iere, Trophäen, Triumphzüge, Gelage. Wettkämpfe, Theaterstücke. dann wiede r wie nach dem Umbau eines Bühnenbildes Nachrichten von Verra t, Betrügereien. Räubere ien. Sehurkenstreichen aller Art, Treuerfeiern, Beerdigungen, vom Ableben der Herrscher, von neuen Entdeck ungen und Expeditionen. von mal komischen, mal tragische n Ereignissen. Heute erfahren wir etwas über Erhebungen in den Adelsstand und militärische Beförderungen, morgen über Absetzungen und dann wieder über neue Ehrunge n. Einer wird freigelassen, der andere ins Gefängnis geworfen; einer kauft. der andere ruiniert sich. j ener hat Erfolg. sein Nachbar macht bankrott ; hier Hülle und Fülle. dort Hunger und Not; einer hastet zu Fuß, der andere reitet....Zweimal j ährlich strapazie ren wir unser Gen ie und bieten die Erge bnisse feil. wobei die enormen Anstrengungen rein gar nichts bewirken . Und wenn nicht die ... schleunige Reform stattfi ndet und die Narrenfreiheit durch königliche n Erlaß und energisches Durchgreifen eingeschränkt wird, geht alles ad infinitum so weiter. Wer aber ist ein solcher literar ischer Vielfraß. daß er alles. was auf den Markt kommt, zur Kenntni s nehmen könnte. Wie scho n jetzt werden wir uns mit einem immensen Chaos von Büchern, einem solchen erstickenden Durcheinander herumschlagen müssen, daß uns die Augen vom Lesen und die Finger vom Umblättern schmerzen [Burton 1988, 20). D iese K lage aus dem 17 . Jahrhundert hat an A ktu alität im G ru nde n ichts e ingebüßt. Ei n Blick in die uns d urch d ie Med ien angebotenen Informationen üb er di e W elt und unsere Ste llung in ihr be stät igt den Ei nd ruc k ei nes rie s igen D urch einanders. Daran verz wei feln n icht n ur Ind ividuen. D ie anfl utenden Ideen zwingen auc h das po litische Syste m zu großen Selektions- un d Restab ili sierun g sleistun ge n . Wobei gerade d ie SchriftJic hke it e in rasches Verg ehen der j ewei ls neuen Untersc hei dungs vorschläge ve rhindert. Ku lturell ist das Prob lem der Destabilisierun g herköm m licher Untersc he id ungsweisen du rch Variation no ch g rößer , weil Ideen potentiell un-
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sterblich sind8. Versuche, Selektion ilber Zensur zu betreiben. gibt es zwar immer wieder, sie sind aber weitgehend erfolg los. Auf das zunehmende Infonnationsange bot reagierten die politischen Systeme in Europa verstärkt seit dem späten 18. Jahrhundert mit einem tiefreichenden Umbau. Es kam zum Aufbau von Selektionsstrukturen für diese neuen Öffentlichkelten. Über Fraktionsbildungen in den Parlamenten strukturieren sich peu ci' pe u Parteien und über Parteipresse, Parteiverlage Teilöffentlichkeiten heraus, die die Ideenzumutungen filtern, zu Entscheidungsvor lagen verdichten, um das politische System zu entsprechenden Entscheidungen zu veranlassen. Die Informationsflut wird durch diese Kanalisierung von Relevanz in der Parteipresse • ilberparteiliche Zeitungen entstehen zum großen Teil erst recht spät, Mitte des 20. Jahrhunderts - vom Zentrum des politischen Systems, dem Staat femgeha lten. Das politische System gibt der Gesellschaft grundlegende Beschreibungsformeln vor, wobei die Polarisierung in " rechts" und .Jl nks'' bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Öffentlichkeit strukturell an das politische System koppeln konnte (Wimmer 2000). Gleichzeitig verfügen die Individuen mit der ideologischen Strukturierung der Gesellschaft durch die Parteien über tief ansetzende und gritfähige Selektionsinstrumente im Umgang mit den Ideen. Die Restabilisierungsleistung der politischen Systeme des westlich-atlantischen Proj ekts der Modeme besteht also darin, dass die massenmedial angebotenen Variationen und die bewirkten Irritationen von Kommunikation durch Ausweitung politischer Beteiligung systemfunktional kanalisiert werden. Liberale, repräsentative Demokratie wird durch das Ausbilden von Parteien und Verbänden zur Form der Zulassung von Irritationen bei Sicherung von Selektion. Das verhindert ein unmittelbares Zuschütten des politischen Systems dureh Ideen. Genau dieses Maß an Demokratisierung hat den Systemen des SowjetSozialismus gefehlt. So lässt sich etwa das Scheitern der Systeme des so genannten realen Sozialismus auch als Mangel an Variationsangehoten in der politischen Kommunikation dieser Systeme deuten. als Mangel an gesellschaftlichem und politischem Pluralismus, an Diskussionen, an Öffent lichkeit, an bürgergesellschaftlichen Strukturen. Allerdings sind Variationen ja immer Irritationen des Systems und seiner Kommunikation. Variationen • Der Wiere r Pohtikwissenschafüer Hannes Wimmer hat zurecht darauf hingewiesen, dass systemtheoretisch die politische ß edemung des Nichtvergessenkönnens und der Archivierung von Variationsangebolen weilgehend unerforscht ist.
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setzen Selektionsprozesse frei, verbrauchen also vielfältige Systemresso urcen und münden in der Notwendigkeit eine r Restabilisl erung des Systems, wenn die Variation sich nicht als so verhängn isvoll erweist, dass das System genau diese Restabilisierung nicht mehr schafft und untergeht. Damit lässt sich das Scheitern des realen Soziali smus, ironisch genug. auch als ein Zuviel an Variat ion deuten. Denn das Vermelden von irritierenden Kommunikatio nen gelingt politisc hen Systemen spätestens seit der Entwicklung der auf massenhafte Kommunikation zielenden Techn iken nicht mehr. Auch die sowjetsozialistischen Regime schafften das nicht. trotz Medienzensur und des Einsatzes von Störsen dern an der Grenze. Dass die Irritation von Kommunikation zwar immer neue Selektionsund Resta bilisierungsschritte auslöst, aber trotzde m problemati sch bleibt, zeigt sich gerade heute angesichts von ÖfTentlichkeiten, für die solche alten Selektionsmechanismen immer weniger greifen und die bei zunehmender Kommunikation durc h elektronische Medien immer stärker den Eindruck der Hysterisleru ng mache n. Fehlgeschlagene Selekt ion kann man dara n ablesen, dass mit der Ausweitung der Fernsehp rogramme, dem Ausba u des Internet, dem Anschwe llen von Netzkommunikation auch eine Zunahme des Obskurantismus einhergeht, wie er sich etwa in den im Web grassierende n politischen Verschwörun gstheo rien bemerkbar macht. Die Schwäche der Selektionsmechani smen zeigt sich auch in der kurzfristigen Dominanz von Stimmungen, die populistische Parteie n nutzen, die dann allerd ings wiederum schnell als Variationsfilter versagen. Man kann hier von Bvent-Selektionen sprechen, die mitunter dazu fuhren, dass der Ausfall von Femsehgeldem fllr Fußballvereine oder angebliche Fehlleistungen von Eishockey-Schiedsrichtern zu politischen Themen werde n. Die Ausdehn ung der Telekornmunikation fordert das polit ische System . nicht nur der westlichen Demokrati en heraus, ohne dass jetzt schon genauer absehbar wäre, was unter solchen neuen Bed ingungen politische Restablllslerung bedeutet.
3.2 Digita le Revc tunont erung politischer Urteilsk raft ? Die Entwicklung des Internet ist immer wieder aber auch mit Hinweis auf eine Stärkung politischer Urteils kraft positiv beschrieben worden . So gilt das angeblic h schwer zu kontrollierende Netz als Raum der Freisetzurig kreativer Intelligenz, von Innovatione n und Visionen sowie als Möglichkeit, politische
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Meinungen ohne staatliche Zensur zu verbreiten. Dieses Argume nt besitzt zumindest für autokratische politische Systeme und Diktaturen eine gewisse Plausibilität. Es finden sich aber auch politische Beobachter, die sich durch das Internet eine Steigerung demokratischer Teilhabe in den liberaldemckratischen Systemen westlichen Musters erhoffen. In diesem Zusammenhang wird auf die unüberschaubar große Zahl von schon bestehenden Diskussionsgruppen, BIogs, lnforrnations-Verteilern und andere Vemetzungsfonnen hingewiesen. Zuweile n scheint auch durch die Verstärkung elektronischer Kommunikation zwischen Verwaltung und Bürgem die Offenheit der Exekutive für BUrgeranliegen größer zu werden. Allerdings bedürfen diese positiven bis manchmal enthusiastischen Sichtweisen gerade vor dem Hintergrund des rapide zunehmenden Informationsangebots einer erheblichen Relativierung. Das wird schnell deutlich, wenn man sich mit dem Argument auseinander setzt, das Internet senke die Hürde einer politischen Beteiligung. Eher trifft zu, dass es gravierende Eintrittsschwellen besitzt. Der Umgang mit den neuen Medien setzt nicht nur einen gewissen Sachverstand voraus, sondern benötigt auch komplizierte technische Apparate. die nicht allgemein verbreitet sind. Auch die Vorstellung einesfreien Zugangs ins Netz ist trüge risch. Der Zugriff auf Server kann kontrolliert werden. Die Optimierung von Sicherheit und Freiheit ist, wie die Diskussionen über Gesetzesänderungen im Zuge der Prävention und Bekämpfung von Terrorismus zeigen, keineswegs einfach, und nicht selten misslingt sie auf Kosten der Freiheit. Die Einrichtung von Datenleitungen unterliegt politischen und ökonomischen Einflüssen, wie sich nicht nur in undemokratischen politischen Systemen immer wieder zeigt. Darüber hinaus ist die Form der Kommunikation schon in ihrer Grundstruktur sehr selektiv, denn alle Informationen mUssen in einen binären Code (Ol l) gefasst werden. Was in diese Form nicht passt, wird nicht mehr wahrgenommen. Unentschiedenheit kennt das World Wide Web nicht (Lyotard
1986). Im Zusammenhang mit Überlegungen zum Verhältnis von lnformationen, Wissen und Medien besteht aber bereits im Informationsangebot an sich das eigentliche Problem. Die elektronischen Medien rechtfertigen ihre Expansion mit dem Wert von Informationen schlechthin. Alles soll nach Möglichkeit gezeigt und gewusst werden; allein die Masse der möglichen Informationen wird zum Qualitätsstandard. Die technische Möglichkeit, diese Medienereignisse in Realzeit global zu transportieren und damit potentiell
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alle Individuen dieser Erde zu Zuscha uern bestimmter Ereignisse zu machen, erhöht die Infonn ationsflut gew issermaßen von Ta g zu Tag. Was haben etwa die mit den US-amerika nischen Truppen währe nd des Irak-Kriegs 2003 vorrückenden Journalisten unablässig und zeitgleich zum Kampfge schehen an Informationen produz iert. was heute noch von Belang wäre? Wichtig war vor allem, dass ständig Neues angebote n wurde. Die massen med ial verbreiteten Informatione n ope rieren damit an der Unterscheidung alt/neu (Luhmann 1996). Welche weiteren Unterscheidungen sich daran anknilpfe n lassen, bleibt offen. Über den Sinn einer solchen Differenz ierung in alt und neu könnte, müsste politische Urteilskraft befinden. Das politische Urteil bezieht sich abe r auf Öffentlichkeit und wird in dieser erst hervorgebracht. Doch insbeso ndere die neuen elektronischen Medien privatisieren auch den Infonn ationsgebrauch . Der Gebra uch politischer Urteilskraft setzt aber neben individuellen Haltungen einen öffentlichen Raum voraus, indem sie sich entfalten kann: Die schiere Masse öffentlich verfügbarer Informationen besagt gar nichts über die Qualität des Öffentlichen, nichts aber den Zustand der öffentlichen Urteilskraft. Nicht die Menge, sondern die Struktur und die Ordnung der Informationen, der sie orienti erende und plausibilisiercndc Kontext der Urteile und Bewertungen , begründen eine qualitative Öffentlichkeit. Ein Kulturmanagement, das der Rekon struktion ihrer Urteilskraft. verbunden ist, bäue sich auch dafür einzusetzen, dass sich die Untersche idung zwischen einer authentischen Öffentlichkeit ,.und der durch Öffentlichkeitsarbeit dargestell ten Öffentlichkeit" (Alexander Kluge) unter dem Vergrößerungs- und Vcrgröbe rungsglas der Medienprozesse nicht völlig verwischte (Guggenberger 1999, 11 0).
Ob die Rekonstrukt ion politischer Urteilskraft durch Kultunn anagement erreicht werden kann, scheint uns doch sehr fraglich zu sein. Zumal kulturkritische Hinweise auf die Probleme und Gefährdungen, die mit der Nutzung von elektronischen Medien verbun den sind, zwar durc haus stimmig daherkommen, aber - wie je de kulturkritische Geste - sich im Allgemeinen verlieren. Wichtiger für die Beantwortung der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit politischer Urteilskraft heute ist die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Zumutungen der Informationsflut und wie mit den virtuellen Medienwelten umgegangen werden könnte.
3 Informationsvera rbeitung und Med tennutsung
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3.3 Bild ung!?
Infonnationen erhalten überhaupt nur durch Auswäh len Sinn. Die individuelle Voraussetzung fllr solche Selektionsleistungen ist Bildung, die in ihrer strukturierenden Funktion offensichtlich stärker verloren geht, als dem, der sich um Urteilskraft sorgt, lieb sein kann. Und das ist jetzt nicht als allgemeiner kulturkritischer Seufzer gemeint. Nur um der zerstreuenden und verwirrenden Vielheit zu entfliehen, sucht man Allheit; um sieh nicht auf eine leere und unfruchtbare Weise ins Unendliche hin zu verlieren, bildet man einen, in j edem Punkt leicht übersehbaren Kreis; um an jeden Schritt, den man vorrückt, auch die Vorstellung des letzten Zwecks anzukn üpfen, sucht man das zerstreute Wissen und Handeln in ein geschlossenes, die blosse Gelehrsamkeit in eine gelehrte Bildung, das bloss unruhige Streben in eine weise Thätlgkclt zu verwandeln (Humboldt, 1794/ 1960, 238).
Humboldt beschreibt am Ende des 18. Jahrhunderts die Aufgaben, die Bildung gerade angesichts der Infonn ationstlut der elektronischen Medien zu erbringen hätte. Dabei geht es um die Transfonnat ion zerstreuter Infonn ations- und Neuigkeltspartikel in ein der Orientierung dienendes Wissen. Doch genau diese Konzentration und Orientierungsfunktion wird Bildung heute nur noch von wenigen zugetraut. Vielmehr herrscht ein Klage-Ton vor, und es wird die Apoka lypse westlicher Bildungsgeschichte beschworen (Liessmann 2006). Das liest sich durchaus mit angenehmem Schaude rn und ruft Zustimmung derjenigen hervor, die heute in Bildungsinstitutionen tätig sind. Aber solches Klagen kann und darf das letzte Wort bei der Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Information, Wissen, Mediene ntwicklung und politischer Urteilskraft nicht sein. Jerem iaden reißen mit, fü hren aber zu nichts. Demgegenüber ist eine gelassene Stellungnahme sympathischer, angemessener und hilfreicher, wenn sie sich in pragmatischer Perspektive mit den Chancen und Risiken der neuen Informatlonstechnolog len auseinander setzt und die Freiheitsräume einer eigenständigen Themen- und Problemkonstruktion betont (Sandbot he 2005). Um die Möglichkeiten der medialen Polytextualität zu nutzen, ist wiederum reflektierende Urteilskraft nötig. Um die steht es prekär, aber Verdammungen verkleinern keine Ge fahren.
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Was am Schluss bleibt. ist die Haltung der verwunderten Beobachtung, die schon Robert Burton angesichts der Medienstars seiner Zeit melancholisch beschrieben hat: ... solange sie eigene und neue Ideen vortragen; abe r wir weben immer noch am selben Stoff, flechten wieder und wieder dasselbe Seil, oder wenn wir tatsäch lich auf etwas Ncues verfallen , dann ist es nur eine Kinder ei> Tand , den Hohlköpfe zu Papier bringen , dam it andere Hoh lköp fe ihn lesen . und wer könnte solche Erfindungen nicht machen . Denn der muß in der Tat einen seich ten Geist besitzen, der in diesen Kritzelzeiten nicht wenigstens das eine oder andere zusammenpfuscht. Fürsten lassen ihre Armeen defilie ren, die Reichen protzen mit ihren Häusern, Soldaten mit ihrer Mannhaffigkeit, die Gelehrten schre ien ihre Kinkerlitzchen aus, und alle müssen hören und lesen, ob sie wollen ode r nicht: Und was auf das Papier einmal er gesudelt, ver langt ihn allen zur Kunde zu bringen, die vom Backofen und Schö pfteich kehren, so Knaben wie Vetteln (Ho raz). Inmitten solcher Galanterie und solc hen Elends, umgeben von Frohsinn, Stolz, Verwirrung und Sorgen , Einfalt und Schurkerei, Offenheit und Anstand, Gerissenheit und Gau nerturn in allen möglichen Schattierunge n friste ich meine ganz und gar zurückgezogene Existenz. Wie ich immer ge lebt habe, so lebe ich weiter und überlasse mich ganz der Einsamkeit und me inen privaten Kümmernissen . Nur manchmal habe ich mir - um der Wahrhe it die Ehre zu geben - wie Diogenes, der die Stadt, und wie Demokrit, der den Hafen aufs uchte, dad urch Unterhaltung und Kurzweil verscha fft, daß ich herumspazierte und die Auge n offen hielt. Dabei konnte ich nicht umhin, die eine ode r andere Beobachtung zu machen, und zwar nicht wie sie, um über das Ver halten der Menschen zu spotten oder sie auszulachen , sondern ehe r mit gemischten Ge fühlen (Burton 1988, 21).
Es kann also nicht um übelnehmende Überheblichke it angesichts allgegenwärti ger Dummheitskulturen gehen, sondern um eine Haltung, ohne die politische Urteilskraft nicht auskommt: die Pflege des gemischten Gefühls. Oder anders formuliert : um Ironie als Tugend.
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Vor urteile uud Ur teile
Es gibt eine bedingte Freiheit zum Urteil. Einerseits ist das. wenn man so will, eine beruhigende Feststellung, weil dam it auf - wie auch immer begrenzte - Handl ungsmöglichkeiten hingewiese n wird. Wenn alles schon beurte ilt, wenn alle s schon entschiede n wäre, gä be es weder etwas zu urteil en noch zu entscheiden. Nur das Unentschiedene muss entschieden werden. Urteile dienen der Vorbereitung der Entscheidung. Andererseits stellt sich damit das Problem. richtige Urteile von falschen zu unterscheiden. Im folgenden sollen ideengeschichtliche Verläufe im Nachde nken über das Urteilen skizzie rt werden; daran sc hließt sich eine Diskussio n imme r wiederkehrender Probleme bei der Identifizieru ng von Fehlurte ilen an. Wobei wir es hier nicht nu r m it erk enntn istheoretisch en Fragestell ungen z u tun haben. Vorurte ile als Sy non ym strukture ll falschen Urteilens ge lten nicht nu r als falsch im Sinne einer unzutreffenden Abbildung der Wirklichkeit, sondern darüber hinau s auch a ls unmoralisch , gewissermaßen als Charakterfehler des Urte ilenden, der gefälligst alles daran setzen so lle, sich und seinen Charakter zu verbessern.
4.1 Vo rurteilstheo r ien'
4,1.1 Fehlurteil und Autorität Ideengeschichtlich hatte da s Voru rte il schon immer einen schweren Stand. Der Stoiker Ci cero (106 bis 43 v, Chr.) versuc hte als einer de r wich tigsten antiken Autoren eine Ab grenzung von Urtei len und Voru rteilen. Das Vorurteil gilt ihm als heik ler Ausdruck schlecht begründeter Meinung, d ie au f zu schneller Zu stimm ung und auf oberfl ächlichen Überlegungen beru he. Der Begriff de s Vorurteils w ird hier zu m Synonym von überei lten, überstürzten, vo re iligen Entscheidungen. Die abwertende Stellungnahme zum Vorurteil Wir folgen in diesem Kapitel dem dem Begriff ..Vorurte i l~ gewidmeten Abschnute n im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Bd. l l, Sp. 1250-1268, Dannstadt 200 1.
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gründet sich vor allem au f erkenntnisth eo retische Übe rlegungen. Der Wah rheit kom mt man nicht nur nac h Cicero nicht na he, wenn man sich ihr überhastet nähert. In solcher Kritik drUckte sich eine theoreti sch gefasste lebenspraktische Erfahrung aus, nach der Hand lungen erst reiflich übe rlegt begonneo werden sollten. Die Untersc heidung zwischen Urteil und Vorurtei l fußt bis heute zu einem gro ßen Teil auf der Phänomenologie des Entscheidens. Auf der Grundlage des Zusa mmenhangs von Wahrheitsfindung, Methoden der Wahrheitserkundung und Aussagenlog ik schw ingt in de r Verdamm ung de s schlechten. weil zu schnell gefassten Urteils oft auch j uristisches Denken mit, welches sich - ganz im phäno menolog ischen Mu ster als ge lungene Prax is des Zusammenha ngs von Urte ilen, Entscheiden und Handeln darstellt. Das Vorurteil ist als Präjudiz, als schlechte Rechtsfindung anzusehen . In d iese m Zusammenhang ge ht es auc h imme r um die Figur des Richte rs, de r vorv erurteilt und de ssen Fehlurteil gefolgt wird, weil er Autorität besitzt. Die Ätiologie falscher Urtei le setzt also doppelt an: Die falsche Entsc heidung des Richter s beruht a uf Übe reilung . D iese falsche Hast und die sich in ihr offenbarende Oberflächlichkeit bi lden die Grundlage für darauf aufbauende weitere Feh lurteile , d ie sich auf die Autorität des Richters beru fen. Im Disk urs übe r Urte ile und Vorurteile ve rbanden sich damit schon in der römisch-rec htlic hen Tradition Fehlurtei le und Autorität. Der gute Richter muss alles hinterfra gen - ge rade auc h seine e igene Urteil sfindeng - und da rf sich nicht auf die Weisheit angeblicher Autoritäte n verlassen . Er mus s die ihm vo rge legte n Fälle prüfen und dabe i das Ansehen, a lso de n gese llschaftlichen Stand von Anklägern, Angeklagten und Zeuge n unberücksichtigt lassen, will er e in w irklich richtiges Urte il fallen. Gerade die letztgenannt e Forderu ng weist we it über ihre Ze it hinaus. Verbanden sich doch im antiken Menschenbild gesellschaftliche Ste llung und Annahmen über die Tugen dhaftigkeit von Individ uen z u einer Art strukturellem Vorurt e il, das zu überwin den j enseits ze itge nössischen Wirklichkeitshorizontes lag . >
4./.2 Kognitive Purifizierung Zu diesen ep istemologi sch en und j uristischen Bedeutungsinha lten kam in der frühen bürgerlichen Gesellscha ft dann noc h verstärkt eine Reflexion psychologischer Erkenntnishindernisse hinzu, wobei unter psychol ogi sc hen Aspek -
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ten vor allen Dingen kognitive Störfaktoren gerechnet werden. In den Trugbildlehren10 diese r Zeit. also des 17. und 18. Jahrhundert s, steht die Untersuchung der Irrtu msan fälligkeit im Ze ntrum . Dabei wird für die Begrenzungen des Verstandes eine ähnliche Diagnose gestel lt wie für andere una usgesch öpfte Mög lichkeiten des menschliche n Körpers. So wie die größten Optimisten aufklärerischen Denkens eine Ver längerung des mensc hlichen Lebens bis nahe an die Grenze zur Unsterblichkeit für mög lich hielten, unte r de r Vora ussetzung vernü nftiger sozialer und individueller Lebensführung , so gilt auc h der Verstand als diäteti sch formbar. Erst der gcsc l1schaftliche Fortschritt macht die Überw indung falsche r Beurteilungen möglich. Der natü rliche , sich selbst überlassene Verstand bedarf der An leitung, der Aufklärung und der Erleuc htung, um sich der vielfältigen erkenntn isfördernden Mirtel überhaupt bed ienen zu können. Die Unters uchung von Urteilen und Vorurteilen wird damit zu einer psycho-hygienlschen Aufgabe der Medizin, die in dieser Zeit langsa m zur Universalwissenschaft aufsteigt.!' Erkenntnist heorie , Rechtsfindungsüberlegungen und Psychologie sind sich also bis dahin in einem ein ig: Vorurteile sind Erkenntnishindemi sse. Descartes (1596 bis 1650) versc härft die Anforderungen an die Urte ilskraft und betont. das s Bewe isführung einen völlig vorurteilslose n Verstan d erfordert. Nur ein un iversale r Zwe ifel kann so lche Vorurteils losig keit des Ge istes herbeifü hren. Dahin kommen nur diejenigen, d ie sich der von ihm a ngeleiteten Puri fizieru ng ihres Verstande s unterziehen . Imme r wieder muss das Vernunftvennögen kontrolliert und auf seine Werthalt igkeit hin geo rdnet werden. Descartes entwi rft hier eine Metat heorie der Erke nntn is, die die stä ndige Überprüfung der erkenntnisfördernden Instrumente in das Zent rum ihrer Überlegungen stellt. Man könn te es so form ulieren: Diese Fonn der Erkenntnistheo rie prüft ständig die Sauberkei t ihrer Brillengläser, die immer und immer wieder poliert werden, oh ne dass jemals wirklich hindurc h geb lickt wird.
10 Beispielhaft soll auf die Idolenlehre Franeu Bacon, hingewiesen werd en: idola tribus, idola spccus, idcla for i, Idcla theam. 11 Und wie fast immer, wenn in dieser Zeil von Therap ie die Rede ist, drängt sich die Diätetik ins Bild. Eine Verbindung von Sllirkung der Urteilskraft und gesunder Körperlichkeit wird bis heUle von dem e inen oder andere n Kritiker gesellsc haftlic her und persönlicher Urteilskraft ins Feld geführt: Gec rges O hsawa, Die fernöstliche Philosophie im nuklearen Zeitalter. Das ei nzige Prinzip zur Überlebe nschance: besondere Urteilskraft durch natürl iche Ernährun g, Harnburg. 7. A ufl. 1976.
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Bei solcher PurifizierungiPolierung müssen insbesondere alte nicht argumentativ überprüfbaren Einflüsse, also unmittelbare Sinneseindrüc ke und -äußerungen sowie Gefühle ausgesch lossen werden . John Locke weist in seinem wirkungsreichen " Essay concem ing human understandi ng'' (1689) auf die seiner Meinung nach wichtigsten Bloc kaden der Vemunftentfaltung hin. Ausgehend von der Vorstellung, dass der menschliche Verstand prinzipiell frei sei und zu richtigen Urteile n fähig, entwickelt Locke eine Kategorienlehre , aus der heraus er eine Art Verhaltenslehre des Urteilens, Entscheidens und Handeins ableitet. Über die bis dahin vorliegenden Theorien der Vorurteilentstehung hinausgehend. begreift er Urteilen als besondere habituelle Leistung. Zwar geht es auch ihm vor allem um logische, widerspruc hsfreie Aussage n, aber zu diesen kommt man nicht nur auf dem Papier. Zu richtiger Urteilsbil dung gehö rt etwa auch die Fähigkeit, alle Argumente geduldig anhören zu können. Dies sei mit dem Ertragen von Widerspruc h verbunden, auc h das eine habituelle Kompetenz. Es müsse akzeptiert werde n können, dass alle. die argumentieren. Wahrheitsansprüc he erheben. Gleich mut gegenüber den von allen Seiten erhobenen Wahrheitsansprüc hen steigt zu einer Haupttugend entfalteter Urteilskraft auf. Und immer wieder gilt es, sich selbst kritisch au f seine eigenen Prinzipien hin zu überprüfen. Allerd ings wird die Zwiespältigkeit aller Auffo rde rungen nach Purifizierung des Denkens, die sich bis heute immer wieder im Disku rs über Urteile und Vorurteile artikulieren, deutlich. Denn Glei chgült igkeit gegen alle Wahrheitsansprüche ist nicht nur ein Gebot der Vorurteilslosigkeit , sondern ein Problem in der Triade Urteilen, Entscheiden, Handeln. (Das wird sich noch genauer am Ende unserer Untersuchung zur politischen Urteilskraft im Zusammenhang mit einer Diskussion des Kulturrelativismus zeige n). Am Ende seiner Argumentatio nslehre in Form einer Verhaltensempfehlung kommt Locke zu dem Ergebnis, dass Vorurteile der Unfähigkelt entspringen, Wirklichkeit differenziert wahrzunehmen, und dem Wunsch geschuldet sind, schnell zu " allgemeinen Gesetzen" zu gelangen. Was bei Locke noch schwach ausgebildet ist, prägt den sich an seine Erkenntnispsychologie anknüpfend en Diskurs. Vorurte ile sind Ausd ruck unmündigen, kind lichen Denkens, dem die Vollkommenhei t des entwickel ten Vernunftverm ögens fehlt. Entwicklung und Stärkun g der Urteilskraft wird zu einem Erziehungsprogramm, wobe i schon im Begriff der Erziehun g die gege n die Widerspenstigke it der zu Erziehende n notfalls aufzuwendende
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Kraft anklingt. Erziehung setzt einen Erzieher voraus, also jemanden, der über vorurtei lslose Urteilskraft schon verfugt. Rousseau schließt sich hier an, wenn er in seinem " Contrat Social'' ( 1762) darauf verweist, dass die allgemeine Vernunft nicht irren kann , aber gesellschaftlich und individuell nicht zum Zuge kom mt, weil schlechter Wille Vernünftigkeit verhindert. Vorurte ile entstehen also aus einem Spannungsverhältnis zwische n Verstand und Willen . Schlechter Wille wird zum Synonym für Denkfaulheit und allgemeine Verlotterung. Der Wille, überhaupt nicht zu urteilen, Vernunft nicht wirken zu lassen, sich bequem seinen sinnlichen Neigu ngen hinzugeben oder unkritisch der Autorität der Lehrer zu folgen, lässt Vorurteile entstehen. Andere Autoren erweitern die Pathologie der Sinne durch die Beschre ibung der Neigung zu Tra ditio n und Aberg lauben. Dumme und Schwache kleben an Fanati smus und Dogmatismus. Andere sind unfähig, den (nur sc heinbar klugen) Moden zu entkommen und halten beispielsweise unbesehen die Antike für vorbi ldhaft, sind verliebt in die eigenen Argumente, auch wenn die zu gar nichts taugen.
4.1.3 Systematisierungen Viele weitere Mani festat ionen der Krank heit zum Fehlurteil lassen sich anfUhren. Die Vorurtei lslehre n bemühen sich um Begriffsdefinitionen, Beschreibung der Arten von Vorurteilen, Klassifikationen nach Ursachen von Vorurteilen, Anlässen und Heilmittel gegen sie. J. A. Fabr icius (1668 bis 1736) etwa nennt Vorurteile die " verderbten Hauptneigungen des Ehrgeizes , der Begierde einen großen Beyfall zu bekommen, der Unleidlichkeit des Widers pruchs, der Zank sucht, der Belehrun gssucht alle Leute auf seine Meinung zu bringen, des Geldgeizes in dem Brotneide" und schließt weitere Klassifizierungen und Systematisierungen an (Fabricius 1752, Bd. 3, 656). Zu den verbreiteten Einteilungen gehören: Vorurteile der Autorität , Vorurtei le der Übereilung, Vorurteile des übermäßigen Vertrauens, Vorurteile des übermäßigen Misstrauens. Nach ihrem Sitz klassifiziert man Vorurte ile des Willens, bez iehungsweise des Wilnsche ns, der Neigung und des Verstande s beziehungsweise des Erkenntnisvermögens. Charakterfehler wie Selbstliebe, Ehrsucht, Genusssucht und Habsucht verzerren das Urteil. Des weiteren werden die Ursachen und Anläs se der Vorurte ilsentste hung unter-
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sucht. Hierbei fällt insbeso ndere das oberflächliche " Meinen" als Verursaehe r auf. Alle Diagnosen sind in einem einig: Zu urte ilen oder nicht zu urteilen. richtig zu urteilen oder falsch zu urteilen. das ist immer eine Willensäußerung. Der starke Wille zeigt sich darin, Autoritäte n nicht blindlings zu folgen, seinen Sinnen zu misstrauen und unverdrossen so lange zu prüfen, bis die inneren Gründe der Wahrheit tief und deutlich du rchschaut sind. Das ist anstrengend, und die Unerzogenen und Schwac hen vermeiden diese Qual. Vorurteile sind damit Ausdruc k eines faulen Verstandes. Wenn es aber einen Willen zum Nicht-Benutzen des Verstandes gibt, dann ist auch der Einsatz der Vernunft vor allen Dingen eine Willensangelege nheit und folglich eine endgült ige Befreiung von schlechten Urteilen durch die richtige Willenserziehung möglich. Dies wiederu m setzt nicht nur beim Erzieher eine Missbilligung - wenigste ns Mäßigung - der Affekte als Leitinstanzen des Urteilens , Entscheidens und HandeIns voraus. Auch der urteilsschwache Zögling muss dahin komm en, in ständiger Selbsterforschung seine faulen Willens- und Verstandesteile zu erkenne n und zu bekäm pfen. Nur am Rande sei erwäh nt, dass solche Vorurte ilsheorien mit einer Kaskade von selbst erzeugten Unterscheidungen fertig werden müssen. Wenn also ein Mittel gegen übereilt es Urteilen die Zurückhalt ung beim Urteilen ist, aber durchaus mit der Faulheit verwechselt werde n kann, überhaupt zu urteilen, wird die Untersc heidung von richtiger und falscher Zurück haltung wichtig . Ähnlich ist es mit vielen anderen Teilen der dargestellten Vorurteilstheorien. Etwa dem Zweifel, der einerseits als Heilminel gegen Vorurteile empfohlen wird, der aber andererseits in seiner Fonn als method ischer, universaler Zweifel wiederum Ursache der Vorurteilsentstehung ist. Wie ist richtiger Zweifel, eklekt ischer Zweifel von falschem Zwe ifel zu unterscheiden ? Die Antwort ist immer dieselbe : gehörig e Aufmerk samkeit, sorgfaltige Prüfung, Urteilsenthaltung. Womit der Streit von neuem beginnt. Auch die Unterscheid ung von Vorurteilen als Ausdruck von Einze lirrtümem einerse its und systematisierten Vorurteilen in Form von Prinzipien. Grundsätzen, generellen Maximen andererse its, aus denen dann Einzelurteile fließen, führt nicht weiter (Schnei ders 1983).
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4.1.4 Moraiisterung und Funktionaiit ät Im 17. Jahrhundert erfolgt im Vokabular der Verfemung und Ausmerzu ng von Vorurteile n eine Begriffsverschiebung: Vorurteile sind danach nicht nur schlechte Urteile und Ausdruck von Unvernunft, sondern unmorali sch. Schließlich wird der Verdacht, es mit Vorurteilen zu tun zu haben, allgegenwärtig. D'Holbach ste llt 1770 in seinem "E ssai sur les prejuges'' kategorisch fest: .joutes les opinions religieuses et politiq ues des hommes ne sont que des preju ges." Womit der radikale Vorurteilskritiker ein schönes Beispiel liefert für die vorschnelle Generalisier ung, die Locke und andere doch gera de als Ausdruck von Vorurteilen kritisiert hatten. Der Versuch, gegen Vorurteile vorzugehen, zeigt nicht immer Urteilskraft. Aus diesen Apo rien der Log ik kann eine sich mit der Frage der richtigen und falschen Urteile beschäftigende Erkenntnistheorie nicht befreien. Kant systematisiert schließlich die bis dahin aufge laufenen Vorurteilsanalysen und weist nach, das s Vorurteile in ihrer Vorläufigkeit eigentlich gar keine Urteile sind. Vielmehr haben wir es mit eine m Ausdruc k von Feigheit und Faulheit im Selbstden ken zu tun. Kant stellt also die Abrechnu ng mit dem Vorurteil von Logik vorläufig-endgültig auf Psychologie und Anthropologie um, deren Probleme er in ei ner transzendentalen Reflektion der Bedingungen der Mög lichkeit, Urteile zu treffen, lösen will. Den vorurteilsbehafteten Menschen fehlt die Disziplin, ihr Denken auf die Flüchtigkeit ihrer Sinnlichkeit zu überprüfen. Der Verstand kann diese individuelle Sinnlichkeit erst zu dauerhaften Urteilen kommen lassen, wenn die individuellen Urteile mit den Urteilen der anderen Menschen verglichen werden und aus einem allgemeinen Standpun kt ableitbar sind. Die Entwick lung der Urteilskraft wird damit schon bei Kant zu einem gesellschaftlichen Proj ekt. Urteile sind dann gerechtfertigt, wenn sie verallgemei nerbar sind. Schon in den erkenntnistheoretischen Diskussionen hatten sich immer wieder Stimmen zu Wort gemeldet, die dara uf verwiese n, dass Vorurteile als An fang eines Urteilsprozesses, als " Hypothesen" und .Präsumptionen'' durc haus sinnvoll und gut seien. Hier knüpft dann im 20. Jahrhundert Gadamer an, der in seiner Epoche machenden Schrift "W ahrheit und Methode" eine Art Rehabilitation des Vorurteils als Ausgangspunkt aller Urteile betreibt. Allerdings trieb diejenigen, die sich von den Vorteile n so einfach nicht verabschieden wollten, etwas ganz anderes an als hermeneutische Überle-
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gungen. Als Antwort auf den allumfassenden Vorurteils-Vorwu rf O'Holbachs ste llt Friedrich 11. lakonisch fest: .Les preju ges son t Ja ra ison du peuple''. Dem für dumm gehaltenen Volk wurde Urteilskraft allenfa lls nur in ihrer verzerrten Fonn als Vorurteil (Aberglaube) zugetraut. Die von den Vorurt eilskritikern vorgetragenen Angriffe auf Tradition und Auto rität riefen aber auc h Gegensti mmen auf den Plan, die insbesondere vor dem Hintergrund religiöser Orientierungen so einfach auf die Prägekraft des Überkommene n nicht verzichten wollten. Im Rahmen konfessioneller Kritik an Kritikern vermeintlich unentwickelter Urteilskraft verwie sen diese Anhänger der Tradition auf die Legitimität von Vorurteilen. Sie operierten nicht mit Unterscheidung Urteil/vorurteil. sondern legitime Vorurteile/illeg itime Vorurteile. Hieran wiederum knüpften diejenigen an. die die Veränderung einer erkenntnistheoreti schen Kritik an Vorurteilen hin zu einer volkspädagogi schen, potentiell alles erfassenden Gesellschaftskrit ik aus Gründen politischer Funktio nalität misstrau isch beobachteten. Desinformat ion kann funktiona l sein. Friedrich 11 jedenfalls, in j ungen Jahren Verfasser eine s Pamp hlets gegen Machiavelli, veranlasste 1777 die preußische Akademie der Wissenschaften und Künste, ein Preisausschreiben aufzulege n, in dem die Frage beantwortet werden sollte, "ob es nützlich sein kann, das Volk zu hintergehe n" (Adler 2007). So lche Überlegungen verlieren mit der Durchsetzung auf Massenpartizipation ausge richteter politischer Systeme nur scheinbar ihre Rechtfertigungsbasis. Die Demokratie - das zeigt schon die Geschichte Athens - bedarf einer spezifischen Urteilsfähigkeit der in ihr Lebenden .
4.2 Pre kä re Reha blltuerung des Vorurteils Beispielhaft kann für diese Spannung von Urteile und Vorurteil , die durc h die aufk lärerische Philosophie zu Gunsren der moralischen Auszeichnung des Urteils ge löst werden soll, das Werk eines je ner gar nicht so seltenen. praktische politische Tät igkeit und distanzierte schriftstellerische Reflexion verbindenden Autoren zitiert werde n. der Mitte des 18. Jah rhunderts sich mit den Vor- und Nachteilen der Vorurteil e beschäftigte. Freiherr von Moser widmet in seinen .Beherzigungen'', einem politischen Ratgeber buch für den alltäglich en Gebrauc h. mehrere Abschnitte dem Nachdenken über Vorurteile. Zwar teilte er die aufklärerische Position eines verächtlichen Herabsehens
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auf Vorurteile und ihre Träger, wobei ihm die Vorurteile sektie rerischer Religionen, der Völkersc haft en und des Na tiona lsto lzes besonde rs gefährli ch erschienen (Moser 176 1, 29), abe r gleichzeitig betonte er auch die prinzipie ll mög liche sozia le und politi sche Angemessenheit von Vorurteilen (Moser
1761, 46): Es ist billig und wird jedem vernünftigen Menschen zur Pflicht, sich von so vielen Vorurtheilcn loszumachen, als nach dem innem Gehalt seiner Seelenkräfte möglich und nach seinen äußeren Verhältnissen rätblich und nöthig ist. ... Die Vernunft läßt, nach dem Ausspruch des weisen Fontenelle, das Vorunheil alles das thun, was der Mühe nicht werth ißt, daß sie es selbst verrichte. Bey so weniger Vernunft, als die mehresten Menschen besitzen, müssen sie also so viele Vorunhelle behalten, als sie zu haben gewohnt seynd. Sie vertreten bey ihnen die Stelle der Vernunft und was ihnen auf dieser Seite abgeht, dessen werden sie auf der Seite der Vorurtheileschadlos gehalten. Heute kann man eine solche Rechtferti g ung des Vorurteils so j ede nfa lls nicht meh r vornehmen. Das Bild einer funda menta len Gleichhe it a ller Menschen verträgt sich nicht mit der Vorste llung, nicht alle se ien zu gleic her Vernunftentwick lung fähig . Auch der Glauben an eine über a llen schwebende Vernunft , die s ich listig auch gegen Wide rstände d urchsetzt, ist uns ab handen ge kommen. Gleichw ohl bleibt ein Gran Weishe it übrig. Etwa, dass v orurteile zwar zu überwind en sind, diese Überw indung aber weder restlos ge linge n kann noch gelingen so llte. Weder Ind ividuen noch Gruppen können ihr Verhältn is zur Umwe lt ohne jeweilige Vor verständni sse, das heißt Vor urteile, er folgre ich gestalten. Es ist ge rade die Aufga be von Sozialisationsp rozessen aller A rt, die ihnen Unterwo rfenen mit eine m Wahrnehmungsraste r auszustatten, das die Ordnun g der Wirklichk eit ennöglicht, weil diese nicht immer wieder ne u erfunden werden kann. Keiner ist ohne Vorurteile. Sie stehen am Beginn jedes Verstehens, w ie Hans-G eerg Gadame r in seine r Verte idigung des Vorurte ils als Vorau ssetzung j eder Hermene utik, als Stru ktur des Verstehens, herau sgearbeitet hat (Gadamer 1986, Bd. 1,270). Individuen und Ko llektive trete n immer schon mit Urteilen ihrer Umwe lt gege nüber. Wichtig ist nur, das s man diese Vorverständn isse erweiterbar oder sogar revidierbar hä lt. Urte ilskraft stemmt sich a lso gegen zu frühe Urteils-Kristallis ierunge n.
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4.3 Voru rte ile a ls Haltung und Handlung -1.3.1 Vorurteile und Gewalt Der erkenntnistheoretische Diskurs ober die Untersche idung von Vorurte ilen und Urte ilen kommt bis heute nicht recht vom Fleck. Aus diesem Grund und angesichts der verstörenden Verbindung von Modernität und Barbarei. die sich im 20. Jahrhundert vor allem in den Gewalte xzessen totalitärer Systeme zeigt, wendet sich das wissenschaft liche und politische Interesse sozialpsychologischen Erklärungen der Entstehung und Wirkung von Vorurteilen zu. Vorurteile gelten nun als spezifische. unerwünschte - weil per se gefährliche - Einstellungen der Individuen, die affektive, kogniti ve und konnotative Aspekte umfassen. Viele Autoren haben versuch t, Skalen zur Erfassung und Messung von Vorurteilen zu entw ickeln. Gordon W. AlIports Skala (AlIpo rt 1954) etwa sieht filnf Stufen vor: 1. Verleumd ung (fei ndseliges Reden, Beleidig ungen). 2. Vermeidun g (Kontakte zu abge lehnten Gruppe n oder Individuen werden vermieden), 3. Diskriminierung (institutionalisierte Femh altung der Abgelehnte n von politischer und gesellschaftlic her Teilhabe), 4. Körperliche Gewahanwendung (mit einer Steigerung der Gewaltanwendung zunächst gegen Sachen, dann gegen Personen), 5. Vernichtun g (Wüten des Mob, Genozi d). Bei diesen und ähnlichen Skalen ergeben sich wiederu m vielfaltige Unterscheidungsprobleme, etwa zwischen affektiven und kogn itiven Einstellu ngen, aber die Einstellu ngsforschung bestimmt bis heute einen großen Teil der sozialpsychologischen Vorurteilstheorien (Brown 1995; Whitley 2006). Wobei Vorurteile immer im Zusammenhang negativer Handl ungen stehen. Sie spielen " im privaten Alltag wie im öffent lichen Leben die Rolle von Katalysatoren für individuelle und kollektive Frustrationen und Aggressione n" (Benz 1996, 7). Von hermeneutischen Grundstrukturen, Erfahrungen und Zirkel n, von Horizontverschmelzungen und Verstehe n ist hier nicht mehr die Rede. Die moralische De-Legitimierung des Vorurtei ls als Synonym soz ialschädlicher Haltungen ist damit abgesch lossen. Die Wirkung positiver Vorurteile, die ebenfalls erhebliche politische Bedeutung haben können, ist weniger untersucht worden . Das liegt auch daran , dass die Ursache in der Gewalta usübung gegen bestimmte Gruppen vor allem als Ausdruck solcher vorurteilsbehafteter Haltungen gilt. Offensichtlich schreckt die Beschäft igung mit dem Ent-
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setzlie hen so ab, dass dafür nur pathologische Erscheinungen als Ursachen akzeptie rt werden können. Ob allerd ings die Gew alt wirklich nur aus dem Vorurteil erwäc hst und nicht aus Interessen, Werten, spezifischen politische n Lagen, ist gena u zu untersuchen und trägt zur eigent lichen Verunsicherung in der politischen Urteilsbildung bei. Vorurteile und ihre Träger können als politisch und rechtlich bekämpfb arc, thera pie- und bildungsfähige Objekte benannt und beha ndelt werden (Ihlenfeld 1987). Das Pathologische wird so in se iner Normalit ät (das ist kein Synonym für Beruhigung) unsichtbar (Schmölders 1997).
4.3.2 Stereotype Eine Brücke von den (vorurteilsbestimmten) Wirklichkeitswahrnehmungen der Individuen zu ihren Haltungen und Handl ungen vers uchen Topelegien zu schlagen, die sich mit dem Zusammenhang von Vorurte ilsbildung und Stereotypen beschäftigen. Ganz bestimmte Wahmehmungsfonn en gelten als Ausdruck von Vorurteilen. An dieser Ste lle w ird mit der Untersc heidung von "offensichtlichen" und ..su btilen'; Vorurteilen operiert. Solche Wahmehmungsuntersuchungen verb inden sich mit psych odynam ischen Theori en der Abwehr, Agg ress ionen, Frustrationen, Proj ektionen, Deprivationen und weiteren spezifischen soz ialstrukturellen Lagen gesc huldeten Wahmehm ungsverzerru ngen. Genau genommen müsste nicht nur in diesem Zusam menhang von .wahmehmon gsgebunge n-" ges prochen werde n, denn die Wahmehmung der Individuen bilde t eben nicht di e innere und äußere Wirklichke it ab. Theorien, die quas i imm er noch er kenntnistheoretisch orientiert an der Unterscheidun g richtiger Be urteilungen von falschen (etwa vorurte ilsbehafte ten) Urteilen arbeiten, laufen deshalb ins Lee re." Vielmehr komm t es dara uf an, die individuellen und kollekt iven Rea litätskonst ruktionen mit ihren jew eiligen Bedeutungszuschreibungen zu untersuche n. Im Rahmen solche Analysen können dann auch sozi alpsychologische Ansätze wichtig seien.
Il Für diesen Hinwe is dank en wir Mathias Heinerna nn, Oberarzt. Hartwaldklinik I, Bad Zweste n Il Hier fällt eine für das Nachdenken über politische Urteilsk raft wichtige Beobach tung an. Die Schwäche vieler Vorurteilstheorien korrespondiert mit der Vehemenz ihrer unmitt elbaren gesellschaftlic hen Interventionsabsicht. Diese Aknvitätsonentferung lässt Theorien zu Kampfbegriffen werden und als Theorien schei tern (Wolf 1979).
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Neben de r Analyse von Persönlichkeitstypen spielen die gese llschaftlichen Bedingungen und Auswi rkungen von Vorurteilsbi ldungen eine große Rolle. Sozialwissenschaftliehe Fragestellungen nach der sozialen Identität, dem Verhältnis von gesellschaftlicher Exklusion und Inklusion und der Entstehung vorurteilsbe hafteter Identität in der individuellen Sozialisat ion stehen im Minelpunkt der Diskussionen. Trotz dieser sinnvollen Hinwendung zum Span nungsverhältnis von Urte il und Vorurteil bleibt aber das Problem bestehe n, dass hier ein philosophisches Projekt auf soz ialpsycho logischer Schiene zur Rehabilitierung des Urteils gegenüber dem Vorurteil neu begründet werden soll . Demgegenüber kommt es dara uf an, spezifische Verhaltenswe isen in ihrer sozia l schäd lichen Formen zu untersuchen, ega l ob s ie Ausdruck von Vorurteile n oder Urteilen sind. Hält man abe r Stigmati sierung, Diskriminierung, Gewalttätigkeit für die Wirkungen von Vorurteilen, wird die Argumentation zirkulär. Vorurteile bringen Gewalt hervor. Wer gew alttätig ist, hat Vorurteile . Solche Diagnosen führen letztlich nur zu bildu ngspolitischen Therapievorschlägen. deren Halbwertszeit in alle r Regel gering ist, und vernachlässigen eine Untersuchung des Zusammenhangs der pathologischen Normallrät gese llschaftlicher und po litischer Herrschaft. So steht am Ende unseres Blicks auf die Unterscheidung von Urteil und Vorurteil die Feststellung, dass eine Vielzahl von modemen sozialwissenschaftliehen Vorurteilstheorien mit der Diskussion erkenntnistheoretisc her Fragen brechen, aber gleichzeitig versuchen, die Ende des 18. Jahrhunderts sich durchsetze nde moralische Oe-Legitimierung des Vorurteils mit den Mitteln mode rner empirischer Wissenschaft zu wiederholen. Vorurteile, das weiß ja jeder, darf man eigentlic h nicht haben. Aber ob man deshalb schon weiß, was das Urte il vom Vorurteil unterscheidet, wi rd weiter zu diskutieren sein.
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Nicht erst seit die Neurowissenschaften ihre Erkenntnisse über die Bedeutung von Gefühlen für die Entscheidungen und das Verhalten vo n Individ uen einer breiteren Ö ffentl ichkeit bekannt ge mac ht haben, hat sich die politische und politikwissensc haft liche Diskussion übe r das Verhältnis von "Le idenschaften und Interessen" (Hirschmann 1984) intensiviert. Wobei in der Gege nüberstell ung von Ge fühle n, die als pro blem atisch gelten (Leidensc haf-
ten), und den Resultaten kluger Abwägung der eigentlichen egoistischen Intentionen (Interessen) sich ein etwas schiefer Dualismus zeigt, der den politikwissenscha ftliche n Diskurs zur Bede utung von Gefühlen bestimmt. Denn in de r Hauptströrnung des politischen Denkens der Gegenwart wird in der Regel unterstellt, politische Akteure seien rational, und zwa r in de m Sinne, dass sie mit dem ge ringst mög lichen Mitte leinsatz de n größt mög lichen Nutzen erreichen wollen. Zu diesem dominiere nden Strang wissenschaftliche r Beurteilung ind ividueller und kollektiver Handlungen ge hören folgerichtig Theorie n, die diese jeweilige " rationa le Wah l" der Ha ndelnden in de n Mittelpunkt ste llen. Weil und insofern alle Beteiligten von ihrer egoistisc hen Vernunft ge leitet werden, kann man s ie auc h vers tehen, in ihrem private n Verhalten, bei ihren ökonomischen Entscheidungen und ebe n auc h, wenn sie politisc h handeln. " Gefühle" kommen in solc hen An a lysen nur als Störungsmomente vor, weil aus solcher Perspektive die Ne uzeit. die Modem e gekennzeic hnet ist von der umfassenden Ratio nalisierung alle r Lebensbereic he. Folgen einzel ne Personen und Gru ppen ei ner so lchen Rationalitätsunterste llung nich t, wird dieses Beurte ilungsraster irritiert und se ine Anhänger reagi eren unwirsc h. Zwar gibt es in de r Soz iologie und Ökonomie Versuc he, Emotlo nen . wie Lie be und Hass - im Rahmen so lcher Rationalitätsüberleg ungen zu klären, aber überze ugen d geli ngt das selten (Sc hnabe l 2006). Demgegenüber gibt es in der Politikwissensc ha ft schon seit längerem Ansätze, zu einer politische n Sozi ologie der Emotionen zu komme n (Klei n, Nu llme ier 1999). Dabei geht es darum, zentra le politische Katego rien wie Mac ht und Herrschaft auc h als Ausdru ck individueller und kollektiver Gefühlskons truktionen zu deuten.
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Es existiert also ein Konflikt in den grund sätzlichen Ana lyseschemata des Politischen zwischen Sichtweisen. die politisches Handeln als Manifestetion strategischer Rationa lität verstehen und solchen, ruf die sich in den " Gefühlen" politisc he und gesellschaftliche Asymm etrien ausdr ücken. Bei der Beobachtung dieses Streites über die Bedeutung der Geftih le fallt auf, dass die eigentliche Brisanz der Ause inandersetzungen aus einer Dichotomie resultiert, die übe r eine A bschätzun g der Dynamik von Geflihlen für die Trias
Urteilen-Entscheiden-Handeln weit hinausgeht. Dass Menschen sich von Gefühlen leiten lassen, ist eine triviale Feststellung und beschre ibt nicht mehr als eine jener neurobiologischen Bedingungen des Handel ns, von denen schon im Kapitel über Urteilsfreiheit die Rede war. Was dort gesagt wurde, gilt auch fllr den Z usammenhang von Fühlen und Handeln. Die neuro logischen Strukturen stellen den materiellen, physiologische n Rahmen dar, in dem sich Personalität überhaupt nur ausdrücken kann. Diese Feststellung gilt nun aber für alle phys iologischen Prozesse. So benötigt jeder Mensch Sauerstoff zum Überleben, und das Vorha ndensein von Saue rstoff setzt Grenzen der Handlungsfähigkeit. ohne allerding s Handlungen als solche zu determinieren. Gerade weil die Bedeutung von Gefühlen Ober jeden naturw issenschaftlichen Notwendigkeitszusammenhang hinausgeht , ist die Untersuc hung po litischer Urteils kraft mit Blick auf Gefühle als Bewegg ründe des Handelns. also als Emotionen, auf der emp irischen Ebene ein wichtiger Untersuchungsgegen stand. Scha uen wir noch einmal auf die im ersten Ka pitel zitierten Beispiele für Urteilsstärke und Urteilschwäche. so tritt der j eweilige Gefü hlsaspekt deutlich hervor. Ja, dass oft - und für den späteren Analytiker irritierend wider besseren Wissens Gefüh len gefolgt worden ist, stellt für die Erklärung von Urteilsbildung und Handlung eine beträch tliche Herau sforderung dar. Manchmal, abe r keine swegs immer, stellen sich die von Gefüh len geleitete n Handlungsweisen als angemessen heraus. Doch diese Zusammenhänge kann man durc h genaue, von dem richtigen Maß an Empathie getragene Beobachtungen aufhell en. Der politikwi ssenschaftliche Streit um die Bedeutung von Gefilhlen bezieht aber seine Spre ngkraft weniger aus solchen empirischen Unte rsuch ungen, vielmehr aus der falschen Gegenüberstellung von " Gefühlen" und " Verstand".
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5.1 Gefühtsschwärmeret Und d ieser feh lkonstru ierte Dua lismus wird häufig z u Gu nsten der " Ge fLihle" aufge löst. Es ist wohl auch ke in Zufa ll. da ss das relativ j unge Interesse an der soz ia lwissensc haftliche n Bedeutung von Gefühlen vor allem im Rahmen von Forschungen entstan den und verstär kt worde n ist, d ie sic h mit de n so genannt en .jieuen soz ialen Bewegungen" beschäftigen . Ma n denke in diesem Zusamme nhang etwa an Arbeiten zur Frau enbewegung (Maihofer 1995 ). zur Umweltbewe gu ng (Pette nkofer 2006) und zur Friedensbe weg ung (Roth 200 2). Die " Bewegungs-Forschu ng" zeichnet sich dabei nicht durchgängig. aber übe rwiegend durch e ine tiefe Sym pathie mit ihre m Gegenstand aus. Be ispielhaft kann hier auf ein Buch hingewiesen we rde n. we lches den Zusammenha ng vo n Ge fühlen und Urteil skra ft nicht nur in das Zentru m sei nes Tite ls stellt, sondern darübe r hina us Partei erg reift für eine Stärkung des Gefühls gegen über " rationalist ischen Vereng ungen" (Mei er-S eethaler 2001. 7 1). Die schwerwiegendste Konsequenz, die sich aus der Weigerung ergibt, Emotionen am menschl ichen Erkenntnisprozess teilnehmen zu lassen. betrifft allerdings die ethische Theorie und das praktisch moralische Handeln. Emotionsloses Denken führt immer zu partieller Wertblindheit, weil Wertqualitäten. von der einfachsten sinnlichen Qualitätswahrnehmung bis hin zu den höchsten menschlichen Werten, nur emotional und nicht ausschließlich rational wahrgenommen werden können.... Wir milssen diese Diagnose aber nicht nur für einzelne Vertreter rationalistischer Philosophie stellen, sondern auch für die gängige geistesgeschichtliche These. wonach am Beginn des abendländischen Denkens der Sieg des Logos über den Mythos stand. Eine solche Vorstellung ist aus einem doppelten Grund Irreführend, Zum einen erweckt sie den Eindruck. als sei das mythische Denken der Völker ein bloßes Spiel der Einbildung und als solches für die Erkenntnis irrelevant. Diesen Irrtum hatte schon die wissenschaftliche Mythenforschung um die Jahrhundertwende korrigiert und Mythen als emstzunehmende Quelle emotionaler Lebens- und Welterfahrung wieder entdeckt. Zum anderen erweist sich die angebliche Voraussetzungslosigkeit der rationalistischen Wissenschaft selbst als eine Illusion und damit als eine Art Mythos. was nicht nur für die Naturwissenschaften gilt. sondern ebenso tur die harte Linie der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaften, die ihre eigenen philosophischen Vorentscheidungen selten reflektieren (Meicr-Seethaler 200I, 220 .
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Meier-Seethalers "Plä doye r für die emotionale Vernunft" • so der Untert itel ihres viel beachteten und vielfach positiv rezensierten Buches - ist deshalb hier so ausfilhrlich zitiert worden . weil sich an ihrer Argumentation beispielhaft die Abgründe eines unprod uktiven Streites über die Bedeutung der Gefühle für politisches Hande ln ablesen lässt. Offensichtlich transportiert der Begriff des Gefühls sehr viel mehr als den Hinweis auf Handlungsursachen und deren kulturelle Formung. Untrennbar gehört dazu auch eine spezifische Kritik an der Modeme und ihren ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Manifestationen. Nur so ist wohl zu erklären. wie schnell sich in solchen Positionsnahmen eine Brücke schlagen lässt von individual psychologischen Überlegungen zur Erke nntnistheorie und Wissensc haftssoziologie, zur Kulturkritik und Mythe nforsch ung. "Geruhle" sind hier nur noch eine Chiffre für ei n bessere s Leben j enseits der Zumutungen und Enttäuschungen, die die Gesellsc haften des atla ntische n Projekts der Mode me mit sich schle ppen. Zu diesem Arsenal der Modernitätskritik gehört , dass der Dualismus Vernunft/E motion durchaus zu Recht mit dem Argument der Ga nzheitlich keit mensc hlichen HandeIns zurückgew iesen, aber gleichzeitig aus dieser Einheit das Gefüh l pos itiv hervorgehob en wird . Das ist schon deshalb problemat isch, wei l es sich bei den Begriffen " Vernunft" und " Emotion" um Perspektiven zur Beschreibung von Handlungen handelt. Die Tren nung in Rationalität/Irrat ionalität sagt nämlich gar nichts übe r die Hand lungsursachen als solche aus, sondern nur etwas über fremd- oder selbst zugeschriebene Grün de. Es gibt keinen "objek tiven " Gege nsat z von Vern unft und Emotion. Die positive Hervor hebu ng der Emot ionalität gleicht also nicht eine bisher vorliegende wissenschaftliche und lebensweltl iche Missachtung des " Gefühls" aus. Vielmehr korrespondiert eine solche positive Bezugnahme mit einer Idealisierung von Natur und Natürlichkeit. So gilt Emotion alität als ursprüngliche, angeborene Eigenschaft, welc he sich als eth isch wertvoll von der kulturell konstruierten Vernunft als instrumenteller technischer Bemeisterungsfähigkeit unterscheidet. Dass die Unterscheidung von Natur und Kultur einer kultu relle, das heißt gesellschaftliche Leistung ist, wird in der Aufladung des Gefühls zur zivilisationskritischen Kategorie nur als Beschreibung sozialer und politische r Pathologien, als Ausdruck der zweckorientierten, öko nom isch und strategisch angelegten .Kolonialisierung" menschlic her Verhältn isse reflektiert.
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Demgegenüber adelt sich das Gefü hl als Beleg für die Authentizität der .fü hle nden'' Person, für die Echtheit, Unverstelltheit und Unmittelbarkeit ihres Handelns l 4• Auch an dieser Ste lle fällt wiederum auf, dass die gesellsc haftliche Kon struktion von Aut hentlzitätskonzepren und Gefühlskulturen bei der Apoth eose des Gefühls ausgeblendet wird . So kommt es nicht nur zu einer sehr problematischen pos itiven Bewertung des Gefühls an sic h, so ndern auch zu einer stillschweigenden Bevorzugung bestimmter Gefühle vor anderen. In diesem Zusamme nhang wird oft das besondere Verhältnis von Frauen und Kind ern zu ihren Gefühlen betont und damit unterst ellt. sie besäßen zu ihnen einen aut hentischeren Zugang als Männer l 5• Im Zusa mme nhang mit einer Unters uch ung politischer Urte ilskraft erstaunt es schon, dass solc he Widerspruche in der Privilegierung des "Ge ftihis" geg enüber dem " Ver· stand" nicht weiter durchdacht werden und die Brisanz einer unambivalenten Ausze ichnung des Ge fühls in den blinden Fleck der Beobachtung von Emotionen fällt. Denn dass in den diversen Verabschi edungen des westlichokz identale n Rationalismus nur bestimmte Gefühle hervorgehoben we rden, aber sich relativ wenig über Neid, Fanatismus, Wut. Sadis mus usw. findet, gehört zu dieser Konstrukti on eines romantischen A ntimodemismus, für die die Rehabilitation des Gefühls nur Mittel ist zum Zwec ke umfassender Gesellsc hafts kritik l 6. Allerd ings ist die Frage nach der Bede utung von Gefühlen für po litische Urte ilskraft ana lytisch und nonnativ zu wichtig, als dass man es sich so leicht machen darf. 1< Bezeichnender.....eise werden in diesem Dualismu s d ie Geruhle dann allen neurcwissenschafllichen Erkenntnissen zum Trotz - auch nicht dem Gehirn zugeordnet . sondern anderen Organen wie dem Herzen oder dem Bauch. Das ist j a nicht nur metaphorisch gemeint. Die Vernunftkritik cntwiekelt ihre eigene Physiognomie. Auch der romant ische Antimodern ismu s konstru iert sich eine spezifische Körper lichkeit II Unter Hinweis auf den Sel bstmord der Carotine von Gunde rode. die sich aus Liebes kumme r tötete. heißt es bei Meier-Seethaler (200 1. 69) : •.Nachdem sie sich anatom isch ins Bild gesetzt harte, erdölchte sie sich auf ei nem ihrer täglichen Spazie rgange. Wie viel unseruimentaler wirkt dieser Tod als derjenige des jungen wenhers, den Goerhe ersan n!" Offensichtlich gibt es Fälle, in denen es besser, wertvo ller, wei l unsentimentalcr ist, wenn man sich kalt seinen Ge ruhlen · bis hin rom Suizid • hingibt. Demgegenüber scheint das Verhallen des männlichen Protagonisten geradezu schwac h. weinerlich. hysterisch zu se in. Werther fehlt Carohn es ruh iger Heroismus. Allerding s bleibt undeutlich, wie denn bei aller A uthentizität. Natürlichk eit und Unminelbarkeit der Gefühle diese GefühlsQualifi zierung in bessere und schlechtere überhaup t begründet werden kann. Es geht also gar nicht um Gefühle als solche, sondern immer um die wünschen swen en. ,. Meier-Seethale r plädiert daher auch für .emotionale Vernunft". ohne recht deutl ich zu mache n, was das ist und wie sich das von vernünftiger Emotion. emotionsloser Vernunft und vernunftloser Emotion unterscheiden ließe. s
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5.2 Emo tionen a ls polit isches Prob lem Die Sc hwie rigkeiten, die Bede utung von Gefühlen für politisches Urte il abzuschätzen, beginnen schon mit der Feststell ung, dass es wissenschaftlich höchst umstritten ist, was überhaupt als Emot ion gelten kann und wie diese zu besch reiben ist: Anders als bei der klassisch naturwissenschaftlichen Reduktion psychischer Phänomene au f materielle Substrate und anders auch als bei der eher individualpsychologischen Deutung des Psychischen in der Psychosomatik, rücken im biosozialpsychischen Paradigma die Emotionen in den Theoriekonstruktionen und Forschungsdesigns in eine zentrale Position. Die Emotionen werden in funktiona ler Beziehung gesehen zu biologischen Systemen {Nerven-, Hormonund immunsystem), zu psychischen Prozessen (Kognition, Motivation), zu sozialen Strukturen (Kommunikationssystcme, historische und sozialepidemiologische Verbreitung) und zu kulturellen Symbolsystemen (Vester 1991,22).
Auch wen n es um ein e Theo rie der Gefü hle geht, untersch reitet eine naturwissenschaftl ich- mate rialistische Redukt ion menschlichen Handeins und Verhaltens das e igentl iche Problemnivea u. Wie schon im Abschnitt über die neurowissenschaftlichen Aussagen zur Determ inierthe it des me nsc hlichen Willens wird ebenso im Bereich de r Emotionsforsch ung deutl ich, dass die physiologische Fundamentierung sozialer Tatbestände über die Besch re ibung von banalen Wirkungsmechanismen nicht hinauskomm t. Dass sich Gefü hle als biologische Prozesse beschreiben lassen, die in jedem Menschen ablaufen, ist unbestre itbar, fuhrt abe r eben nic ht sehr weit. A uch de r Zusammenhang - und da ist die Verb indung z u Urteilskraft sc ho n enger und wichtige r mit kognitiven Abläufen ist unbes treitbar und etwa in Lemt heo rien und Didaktiken sc hon häufig formuliert wo rde n. Für eine politikw issenschaftliche Beobacht ung von Gefü hlen reicht das alles nicht aus. Vielmehr kommt es hier auf die jeweilige gese llsc haftliche Kodierung von Handlungen als Ausdru ck von Gefühlen a n und deren jeweilige soz ialen Ausformungen und Konseq uenzen. Daz u gehören Fragen nach der Rolle von Gefühlen für die Entstehung von Gru ppen, kollekt iven Zugehörigkeits vorstell ungen, Abgrenzungen zu ande ren G ruppen und ents prechende Konfl ikte. Dam it verbunden sind ferner Frage n nach der Organisation von Führung, der Funkt ion von Gefühle n beim Entstehen politische r Folge-
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bereits chaft (Legitimat ion), der Markierung von Abwei chung (Exklusio n) und schließlich auch nach de r sozialen, institutionellen, über die Generationen hinweg w irkenden sozialen Ansch lussmöglichkeite n individuellen Handel ns. Schon diese Au fzählung zeigt, dass es sich bei Gefühlen also um komplexe soz iale Tatbestände hand elt, mit großer politische r Bedeutung, die abe r für eine Theorie der Urte ilskraft nur fruchtbar zu machen sind, wenn man gefeit bleibt gegenüber der Versuchung, Gefühle kulturkritisch zum an sich besseren Teil des Menschen zu idealisieren .
5.3 Ein Fa llbeis piel: J ennin ge rs Sche ite r n Gefü hle als Gegen stan d politi sche r Handlungen sind immer wieder im Zusamme nhang mit der Barbarisierung des Politischen im 20. Jahr hundert untersuc ht worden. Insbesondere die totalitären System e gelten als Muster für die Konstrukt ion, die Instrumentalisierung und Wirkung von Gefü hlen, etwa für die Aufstachelung der Bevölkerung bis hin zur Verfolgun g und Ermordung unlieb sam er Minderh eiten. Hier soll aber ein viel weniger dramat isches Beispiel für die soziale Prod uktion von Gefühlen und ihrer politischen Wirkung skizziert werden . Als der damal ige Bundestagspräside nt Phllip p Jenni nger während einer Gedenkstunde des Bundestages zum 50. Jahrestag der so genannten "R eichskrista llnacht" Überlegunge n anstellte zur Mot ivation derer, die Adolf Hitler 1938 die Gefolgschaft nicht verweigerten, die den Verbrechen zusahen oder sich an ihnen beteiligten, ve rließen etwa 50 Abgeo rdnete aus Protest den Plenarsaa l. Jenninger wurde der Vorwurf gemacht, er bringe Verständnis für die Täter auf und betei lige sich so an einer Exkulpatio n der Deutsc hen und ihrer Geschic hte. Der größte Teil der veröffentlichten Mein ung missbilligte Jenningers Rede, der daraufhin vom Amt des Bundestagspräsidenten zurücktrat. Beschäftigt man sich mit den Gründen der Skandalisie rung des Verhaltens von Jenninger und seinem RUcktritt , fällt a uf, dass der Inhalt der Rede trotz der Interpretation sbedürftigkeit eini ger ihrer Passagen - eine solche Reaktio n ganz und gar nicht nahelegt. Ignatz Bubis hat einige Jahre später große Teile von Jenningers Rede im Rahmen einer eigenen Anspra che vorgetragen, qua si als Test der po litische n Urteilsfä higkeit der deutschen Öffe ntlichkeit, ohne ä hnliche Erschütterungen auszulösen.
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Auch Hinweise auf strategische politische Interessen der inner- und außerparteilichen Gegner Jenningers reichen zur Erklärung der Geschehnisse während der Feierstunde und ihrer publizistischen Aufar beitung nicht aus. Aufschlüsse über die Motivation der Kritiker erhält man be i einem Blick auf die öffentliche Meinung. Die Herausgeberin der .Z etr', Mariort Gräfin Dönhoff brachte ihre Ablehnung Jenningers mit den folgenden Worten dezidiert zum A usdruck: Der Redner hielt vielmehr ein deplaciertes pseudohistorisches Kolleg. in dem vor allem von den Deutschen vor und nach 1945 die Rede ist. Gut, dass er wenigstens den erschütternde n Bericht eines Augenzeugen von 1942 zitierte und eine Ansprache Himmlers im Oktober 1943, die einem heute noch Schauer über den Rücken jagt. Wenigstens dies war zur Sache gesprochen und gab eine Ahnung von dem, was nach dem 9. November kam. Gar nicht zu fassen, wie ein Politiker so total danebengreifen kann. Es ist, als ob ein Pastor am Karfreitag versehentlich die Predigt zum Erntedankfest hält; oder so, als würde in einem Haus, in dem um ermordete Familienmitglieder getrauert wird, ein Exkurs über den geschichtlichen Prozess gehalten. anstau Verzweiflung und Trauer der Anwesenden zu teilen. Jenningcr wirkte als Redner gänzlich unbeteiligt und ohne j ede Wärme. Er vermittelte keinerlei Empfindung. Da nützt es denn auch nichts, dass die Rede beim Nachlesen weniger Emotionen auslöst. Es bleibt die Frage: wie kann ein Politiker, der doch weiß, wie heikel dieses Thema ist. so bar j eden menschlichen Gefühls reden ( Dönhoff 1988).
Dass Jenningers Rede als Provokation wahrgenommen wurde - schon bei seinen ersten Worten verließen die ersten Abgeo rdneten unter lautem Protest das Plenum - lag vor allem an seiner Vorrednerin, der damals schon hochbetagten und kurze Zeit nach diesen v e rfällen verstorbenen Schauspielerin und Theaterdirektorin Ida Ehre, die persönlich schwer unter nationalsozialistischer Verfo lgung gelitten hatte. Viele Mitglieder ihrer Familie wurde n in den Vernichtungslagern ermordet; sie selbst überlebte ihre Haft im Konzentrationslager gesundheitlich schwer gezeichnet. Ida Ehre hatte die Feierstunde einge leitet mit einer Rezitation von Paul Celans Ged icht "Todesfuge" . Dieses Gedicht konzentriert den Schrecken nationalsoz ialistischer Herrschaft in solch tief wirkende Bilder und Metaphern, dass alle theoretischen Fassungsversuche dahinter als blass und emotional unangemessen wirken müssen. Über die Wirklichkeit des Massenmordes erfahren wir bei Celan mehr als in so mancher .Faschlsmustheorie''.
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Vor diesem Hintergrund waren Jen ningers Worte in der Tat dep laciert. was (irrtümlicherweise) auch daran abzu lese n zu sein schien, dass Ida Ehre wie sie später erklärte - überwältigt durch die Erinnerung an ihre ermordeten Ange hörigen Je nningers Ansprache weinend ve rfolgte. was wiederum viele Abgeordnete registrierten und a ls Reaktio n auf die Rede des Bundestagspräside nten de uteten, der s ich ja gerade um ein ehe r theoreti sches Verständnis bemühen wollt e. Je nninger hatte den Rah men der angemessenen Emot ionalität angesichts der Barbarei des Natio nalsozialismus verletzt. M it den Inhalte n oder Argumenten seiner Rede ha tte das so g ut wie überhaupt nic hts zu tun. Hier war es nic ht so sehr wichtig , was jemand sagt. so ndern, wie er es sagt (Siever 2001 ). Emot ione n werden in ihre r Angemessenheit oder Unangemessenheit zur Schnittstelle von Individ uum und Gesell schaft. Darin liegt auc h ihre politische Bedeutung, und d iese geht Ober bio log ische und psycholog ische Re levan zzu schre ibungen hin aus'". Pol itisch e Urtei lskraft. politische Entsc heidungen und politisc hes Handeln s ind mehr als nur de r Ausdruck personaler Idiosynkrasien.
5.4 Gefühtc a ls Erken nt nis- u nd Ur te ilsq ue lle Politisch bedeutsam sind Gefühle a ls Ursprung vo n Erkenntn is und Urte il politisc h Han delnder. Eine Untersuchung politi scher Urteilskraft bewe ist ihre Kompetenz in ihrer Anwendung auf sich selbst, in ihrer Se lbstrefl exio n. Unters uchunge n politisc her Urteilskraft br inge n also immer d iese n Doppelcharak ter zum Aus druc k. Dabei spie len Gefühle als Erken ntnisbegrün dungen eine große Ro lle. Kant propag iert in seiner ..Tuge ndlehre" e ine Pflicht zu r "te ilnehmenden Empfindung". Es ge ht hier um Hilfsa fTekte, das sind natürli che Neigunge n, d ie e ine sittliche Entsc heidung befördern, w ie zärtliche ROhrungen, schmelzende Gefühle, M itleid. Nach Kant, der jeder ..Emp findelei" a blehnend gegenüberstand, tragen so lche zärtlichen ROhrungenjed och nicht zum Aufba u des morali schen Charakters bei. Dieser wird eher d urch d ie " wackeren" oder " mutigen Rührungen'' gestärkt und in Schwung gebracht. Kant denkt hier du rchau s daran, das s
17 An dieser Stelle wird deutlich , warum politisches Handeln sich oft den Vorwu rf der Gefühlsleere zuz ieht. Es istletztlich mit diagnostischen und therapeut ischen Kategorien der Individualpsychologie nicht z u erklären und zu bewerten.
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Gefühle in Bewegung setzen, Kraft verleihen, Mut begründen. Zu diesen Energiequelle n zählt er den Zorn und die Entrüstung. Er spricht von einem heiligen Schauer, auch von Gewalttät igkeit. Solche Kraft muss vorhanden sein, um zu einer sittl ichen Entscheidung zu kom men und diese auch auszuführen. Zärtlic he Affekte verfügen übe r solche dynamisc hen Anteile nicht. Das Mitle id bleibt passiv (Meler-Seethaler 2001. 74).
Im folgenden soll nun nicht über die Verbindung von sittlichem Urteil. sittlicher Entscheidung und ihrer notwendig als Zwang vorgestellten Realisierung nac hgedacht werden. Prod uktiver ruf unsere Fragestell ung bleibt der Hinweis auf das Gefüh l als persönliche r Erkenntnisquelle. Für alle Handlungen gibt es den Maßstab der Angemessenheit und damit auch ein Ge fühl für dieses Maß. Erkenntnistheoretisch gewe ndet heißt das, dass Gefühle eine wicht ige Erkenntnisquelle sind. Die Qualität politischer Systeme, die Humanität politischer Herrschaft, Verhältnisse der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit (Shklar 1992) offenbaren sich dem Gefühl. Beispielhaft kommt hier der Ausdruck " Fairness" ins Spiel. Was als gerecht wahrge nommen wird, hängt vom Gefühl ab, fair behandelt worden zu sein. wie John Raw ls (2006) in seiner epochemachenden ..Theorie der Gerechtigkeit" zeigt. Fairness kann man nicht messen; sie bildet sich auch nicht in Verfassungstexten und ähnlichen Dokumenten ab. Sie gehört zum Bestand regulativer Ideen, von Konventionen und Praktiken, für deren Kennzeichnung als angemessen Gefühle den Aussc hlag geben. Die Kategorien für die Beurteilung greife n auf eine n Bereich des Selbstverständlichen zurück. Der common sense ist eine wichtige Ressource politischer Urteilskraft, gerade weil sich in ihm Gefühle ausdrücken. Dabei wird unter common sense hier nicht die verkleidete und sozusagen handschmeich lerisch abgeschliffene kollektive Identität gemeint, sondern das individuelle, empathische und woh labgewogene Urteil abe r das, was einem selbst, was anderen Menschen. was der Gemei nschaft zukommt und was nicht. Bei der Trias Urteilen-Entscheiden-Handeln geht es immer um die Zuweisung von Bedeutung, damit um Begriindungen. Diese kommen ohne emo tionale Fundierung nicht aus. Es ist Teil der Sicherung der Urteilsfreiheit von einzelnen und Gesellschaften, solche Gefühle auszub ilden. Zu den skeptischen Befunden der Möglichkeiten und Grenzen politischer Urteilskraft heute gehört die Feststellung, dass insbesondere die medial verstärkten Dummheitskulturen solche Empfindungsbereiche abstumpfen. auf deren Sensibilitätsemwicklung es gerade ankäme (Nullmeier 2006).
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Politische Bildung
6. 1 Ein Missverständnis Zu Beginn seines Vortrags zum Thema " Demokratie, Partizipation und politische Bildung" auf der Tagung " Parteien und politische Kultur" , die 2003 in Münster stattfand und sicherlich auch von seinem Amt mitgefördert wurde. berichtete Hans w eh er Sch ulten. Leiter der Landeszentrale ruf politische Bildung in Nordrhein-Westfalen, von seinen Schwierigkeiten, Ausländern klarzurnachen, was politische Bildung in der deutsche n politischen Kultur bedeute. "M eine Erfahrung ist. dass der Begriff Politische Bildung bei unseren westlichen Nachbarn eher negativ als parteipolitis ch besetzt ist. Und unsere östlichen Nachba rn assoz iieren bei dem Begriff oft sofort Indoktrination im Rahmen eines totalitären Systems, das sie nicht wieder habe n möchten" (Schulten 2003). In Deutschland steht staatlich geförderte politische Bildung abe r weder für Parteipo litik noch gar für Indoktrination, jedenfalls. wenn sie richtig angefass t wird. Dass es auch partelpolitische und Indoktr inat ions-Ausrutscher gibt. wer wollte das leugnen. Abe r nimmt man die ge ltenden Konzepte der po litische n Bildung hierzulande beim Wort. dann hat sie die Aufgabe. das Staatsbürge rwissen zu verbreitern und zu vertiefe n und das Staatsbürgerbewusstsei n zu aktivieren. Über Indoktrination kann das nur schieflaufen. Wir dürfe n nicht so naiv sein und uns allzu sehr über dieses Missverständnis von politischer Bildung wundem. Eigentlich müssen (oder dür fen) wir uns darüber wundern. das s es bei uns eine dem unmittelbaren Zugriffvon politischen Interessengruppen - seien es nun Parteien oder v erbände . entzogene polit ische Bildungsarbeit gibt. Der Grun d dafür ist vor allem in der Gründungsphase der westdeutschen Demokratie nach 1945 zu finden. Der Schock der Niede rlage und der daru nter liegende Schock über die in den zwölf Jahren davor nur allzu bereitwillig mitgemachten totalitären Exzesse betäubte fürs erste (unter kräft iger Mith ilfe der westlichen Alli ierten) die Affin ität für Indoktrinationen. An ihre Stelle trat ein wenig Unterschiede machender politischer Rundum-Skeptizismus. Ist eine solche Einstellung in
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einer Gese llschaft vorherrsche nd. lässt sich kein Staat mit ihr mache n. Deswegen sollte politi sche Bildung (wie übrigens auch die Politikwissenschaft. die nach 1945 an vielen Universitäten als Fach neu etab liert wurde) neben der nachträglichen Aufk läru ng über den Nationalsozialismu s und der Abwehr komm unistischer Ideologien als weitere Aufgabe die Erziehung zur Demokratie voranb ringen . Häufig wird politische Bildung auf ein (unte rschied lich benannte s) Unterric htsfach in der Schule reduziert. Schüleri nnen und Schüle r sind zwar sehr wic htige, abe r keineswegs die einzige n Adre ssaten politische r Bildungsarbeit. Schließlich sollen s ie in die Gesellschaft und die Politik hineinwachsen und sich später gemei nwesen-gerecht verha lten können. Aber wenn je der Slogan vom lebens langen Lernen uneingeschrä nkt gestimmt hat, dann hier, im Blick auf Gesellschaft und Politik. Deshalb braucht po litische Bildung, will sie ihre Funktionen erfüllen, mindestens zwei Ansatz- und Handlungsebenen, die Schulen und die polit ische Öffen tlichkeit.
6.2 Zwei Perspektiven Die Erfah rungen, die Hans Walter Schulten mit dem Missverstehen seiner dienstlichen Bildungs-Aufgabe im Ausland gesammelt hat, machen indirekt deutlich, dass es mindestens zwei verschi ede ne (sich im Idealfall ergä nzende) Funktions-Bestimmun gen von po litischer Bildung in mode me n Geme inwesen gibt, deren Legitimati on mehr oder weniger direkt auf der Zustimmung und Partizipation ihrer Mitglieder beruht. • Aus der Perspe ktive des Gemeinwesens, z. B. eines Staates, braucht es eine kollektive Identität, wenn es als politische r Akteu r auftritt. Sie zu pflegen und den Menschen sichtbar zu machen, ist Aufgabe von politi scher Bildung. Denn über die kognit ive und affektive Verbreitung der grundlegenden Werte , Nonnen, Selbst- und Fremdwahrnehmungsmuster in dem und für das Gemei nwese n regeneriert und reprodu ziert es sich über die Zeit und erreicht so die nötige Stabilität, um als Akteur kollektive Interessen auc h gege n Widerstände durc hzusetzen . • Aus der Perspekt ive der Individuen ist politische Bildung auch eine Übung, um sich die Möglichkeit eine r krit ischen Distanz gegenüber dem Gemeinwesen zu eröffnen, ohne sich seiner Mitglie dschaft in ihm zu entledige n. Nicht in allen Gemei nwesen ist dies in gleicher Weise mög-
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lieh, wie sich sofort einsehen lässt, wenn man versch iedene Herrschaftsund Gese llscha ftsordnungen Revue passieren lässt. Es gehö rt abe r zu den Grun drege ln einer modemen Demokratie, dass diese kritische Distanz möglich sein muss. Beide Perspe ktiven können einander in die Quere kommen. Im Idealfall ergänzen sie ei nander. Aber selbst dann tun sie es nicht auto matisch, sondern müssen in eine Balance gebrac ht werden. Der Staat und seine Institutionen bauen Staatsbewusstsei n auf, damit die Individuen ihre Pflichten gege nüber dem Gemeinwesen möglichs t ohne Murren und vielleic ht sogar gerne erfüllen, vom pünktlichen Bezahlen der Steuern bis hin zum Einsatz des eigenen Lebens in Ausnahmefällen (Katastrophen und Kriege). .,Frage dich nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage dich, was du für dein Land tun kannst!" Dieser so häufig zitierte Spruch von John F. Kennedy kann als Mon o für diese Perspektive auf politische Bildung stehen. Es ist auch ein treffendes Motto für die philosophische Denkrichtung der Kommunitariste n in Nordamerika. Erhielte diese Sichtweise den Status der alleinigen Gültigkeit, dann schliffen sich die demokratischen Werte des Gemeinwesens ziemlic h rasch an ihr ab und bekämen Risse und Sprünge. Dann ist es nicht meh r weit bis zum " Die Gemeinschaft ist alles, der einzelne ist nichts." Schon allein deshalb braucht es in demokrat ische n Geme inwesen ein starkes Gegengewicht. Der einzelne darf und muss den Forderungen des Gemeinwe sens wohl begründet auch mit "N ein" antworte n können. Er muss sich auch gegen sie schützen können, und zwar nicht anarch isch oder mittels Umgehung von Recht und Ordnung, sondern in ihrem Rahmen. Die Geschichte des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung bietet eine gute Illustration für die langsame Ausweitung dieser Perspektive. Wiederum : wenn im Falle der Wehrp flicht alle j ungen Männer durchgängig den Kriegsdienst verweigern würden, wäre dies ein deut liches Zeichen mangelnd en Staats- und Gemeinschaft sbewusstseins . Es kommt also immer auf die Balance an.
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6.3 Politi sche Bildung in der Bundesrepublik Deutschland Überblicksdarstellungen zur Geschichte der politischen Bildung an den Schulen in Deutschland können schon allein deshalb als anregende Lektü re gelten , weil es hier seit dem Ende des 19. Jahrhundert s nach- und zuweilen auch nebeneinander fünf sehr verschiedene politische Reg ime mit j eweils sehr untersch iedlichen Versionen politischer Bildung gegeben hat. Im wilhelminisehen Kaiserreich hatte die staatsbürgerliche Erziehung im Unterricht die A ufgabe. die Loyalität der Bevölkerung gegenüber Kaiser und Reich zu erhöhen und möglich st auch zugleich immun zu mache n gegen die oppo sitionellen Forde rungen z. B. der Sozialdemokratie (vgl. Juc hler 2005. 86). In der Weimarer Republi k wurde der Versuch, staatsbürgerl ichdemokratische Gesinnung zu erwecken und kogn itiv zu flittern. nur ausnahmsweise als Aufgabe eines eigene n Fachs anzusehen, vielmeh r zum allgemeinen Unterrichtsprinzip zu machen . zu einem Fehlschlag. Im Nationa lsoz ialismus und, mit andere n Inhalten. in der DDR wurde die politische Erziehung an den Schulen zu einer Sache der Indoktrination und Man ipulatio n unter dem Motto: Reih' dich ein. In der Bundesrepublik wurde unter nicht ganz einfache n Bedingungen ein Neuanfang mit dezidiert anti-totalitärer Ausrichtung unternommen, also in scharfer Abgrenzung vom Nationalsozialismus und vom SowjetSozialismus in der Ostzone und nach 1949 der DDR. Hauptakteure dieses Neuanfangs waren die westlichen Slegermächte, mit besonderem Nachdruck die Vereinigten Staaten. Re-education. also : Umerziehung sollte das politische Bewusstsein der Deutschen von nationalsozialistischen Vorstellungen frei machen und zugleich die Akzeptanz westl icher Werte sowie die Bereitschaft zur aktiven Mitar beit beim Aufbau der Demokratie erhöhen. Die Konstituierung der politischen Bildung verlief so inhaltlich ganz parallel zur Einfilhrung der Politikwissenschaft an den westdeutschen Universitäten (vgl. Lietzmann 1996). Es brauchte allerdings einige Zeit, ehe sich die deutschen Experten der politischen Erzie hung von spezifischen Traditionselementen der deutschen politischen Kultur zu verabschieden began nen. etwa von der Konzentration auf den Staat als quasi ontologisches Wesen. Manche von ihnen versuchten zunäch st, diese Traditionselemente von ihrer nationalsozialistischen Befleckung zu säubern, was aber nicht immer und eigentlich nie auf elegante Weise gelang. Ohne ihn in irgende iner Weise besonders stigma-
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tisleren zu wollen, kann man hier etwa auf Eduard Spranger l8 verweisen. dessen Schriften heute zu lesen eine echte Strafarbeit ist. Jene oben schon erwähnten Überblicksdarstellungen zur politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland widmen sich zu einem Großteil der Didaktik der politischen Bildung. Das ist insofern berechtigt, als das Spannungsfeld zwischen einer Gemeinwesen-orientierten und einer Individuumorientierten politischen Bildung nicht auszuschalten ist. Wer es betritt. um als Lehrender politische Bildung (als Gemeinschaftskunde, Sozialkunde o. ä.) zu unterrichten, muss also mit diesen Spannungen geschickt umzugehen wissen. Der Nachteil der bemerkenswerten Produktivität der Politik-Didaktik (und nur auf diesem Feld kennen wir uns ein wenig aus, ob sich unsere Beobachtung auf die allgemeine Didaktik ausweiten lässt, wollen wir nicht entscheiden) besteht aber darin, dass es hier eine inzwischen schwer überschaubare Anzahl von Grundkonzepten gibt, die aufunterschiedliche Aspekte Wert legen. Beschäftigt man sich mit diesen Texten, kommt man sich ein wenig wie M. Hulot vor'", der in die Ferien verreisen möchte. aber samt seinen Mitreisenden von der Bahnhofsansage immer auf einen Bahnsteig gelotst wird, wo gerade kein Zug abfahrt.
6.4 Ein Manifest
Politische Bildung hat in Deutschland nach 1945 auf der Ebene der Schulen und der Erwachsenenbildung in der und tur die politische Öffentlichkeit angesetzt. Für letztere sind u. a. auch eine ganze Phalanx von Institutionen und Organisationen zuständig, von den politischen Akademien der Kirchen und der parteinahen politischen Stiftungen bis zu den öffentlichenrechtlichen Medien, die diesem Auftrag in ihrer Aufgabenbestimmung früher ein stärkeres Gewicht beigemessen haben, als sie es heute in der Konkurrenz zu den privaten Medien tun können oder wollen. In der politischen Bildungsarbeit nehmen die verschiedenen Landeszentralen gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung eine herausgehobene Stellung ein (vgl. Breit, Schiele 2004). Im Mai 1997 einigten sich die Leiter von Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung " Vgl. etwa: Eduard Spranger: Der Bildungswen der Heimatkunde, Sturtgart 1952, 3. Auß . Tati: M, Hulc t macht Urlaub
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auf ein ..Münch ner Man ifest" , in welchem die durch die neuen Herausforderungen zu Beginn des 2 1. Jahrhunderts veränderten Wirkungsbedingungen polit ischer Bildung in der Demokratie aufgezählt und neue Akzentsetzungen für die politische Bildungsarbeit gefordert werden. Ausschnitt e a us dem ..:\lüncbner :'\1anifest.. vom 26. ~I ai 1997 Ocr demokratische Rechtsstaat lebt vom mündigen Mitdenken und Mittun sei· ner Bürgerinnen und Bürger und ihrer Bereitschaft, sich selbst- und sozialverantwortlich ein Urteil zu bilden, in der Verfassung normierte Regeln und Werte zu respektieren und sich für sie zu engagieren. Demokratie muss in jeder Generation neu erworben werden: gerade in Deutschland aufgrund der Erfahrungen der jüngsten Geschichte. Politische Bildung im ö ffentlichen Auftrag leistet insbesondere hier einen fortdauernden und unverzichtbaren Beitrag zu persönlicher und gesellschaftlicher Orientierung sowie zur Entwicklung und Festigung demokratischer Einstellungen und Verha ltensweisen. Angesichts der umfassenden gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Veränderungen steht die politisehe Bildung vor neuen Aufgaben und Herausforderungen. Der Zukunftsorientierung der politischen Bildung kommt insbesondere vor dem Hintergrund sich verändernder Rahmenbedingungen eine große Bedeutung zu. I. Politi sche Bildung im öffentlichen Auftrag a rbeitet pluralistisch, überparteilich und unabh än gig 2. Die Ze ntralen für politi sche Bildung tördem die politische Partizipati on der Bürgerinnen und Bürger Unsere moderne Gesellschaft im Umbruch , zumal in einem zusammenwachsenden Europa - fordert die Demokratiekompetenz der Bürgerinnen und BOrger auf eine besondere Weise heraus. Sie müssen sich auf Neues und Fremdes einlassen. Das gilt besonders fü r die Jugendlichen. die sich nicht in großer Zah l am politischen Leben beleiligen...ß esonders Frauen sind nach wie vor zu wenig in der Politik vertreten. In vielen Projekten fördern die Zentralen daher das politische Engagement von Frauen.. .Nur eine Bürgerschaft, die auf qualifizierte Weise am Zustandekommen dessen teilhat. worilber entschieden wird, steht auch in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche zur Demokratie.
J. Die Zentralen für potfusch e Bildung bereiten auf die globalen Zukunftsaufgaben vor
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4. Die Ze nt rale n fü r po litische Bild ung a rbeiten fü r d ie Sta bilitä t de r Demokratie a uch in wirtschaftlich sch wierig en Ze iten 5. In den neu en Bundes ländern hat die po litische Bildung besonde re Auf· gaben 6. Die kritisch e Aufa rbe itung de r deu tsch en Ge sch ichte ist eine zen trale Aufgabe der po litischen Bildun g
(Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte, 8 32/97 vom I. August 1997, 5.36-39)
In der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, die auch reich an "Manifesten" ist, druckt sich in diesen meist eine der Absicht nach avantgardistische Außenseiterpos ition aus. Davon kann hier beim " Münchner Manifest" keine Rede sein. was ja auch verständlich ist, denn hier geht es um eine gemeinsame Plattform parteipolitisch unterschiedlich eingefärbter Organisationen. Die aber alle ihren Auftrag, parteipolitisch unabhängig zu handeln, offensichtlich sehr ernst nehmen!
6.5 Bürger bewusstsein zwische n Enthusiasm us und Resignation Im Punkt sechs des .Jvt ünchner Manifests" erschei nt einmal mehr der tief in das deutsche politische Bewusstsein einge prägte schmerzliche Ausgangspunkt politischer Bildungsarbeit. Doch gehen wir noch einmal einen gr ößeren Schritt in die Geschichte dieser spezifisch sich in Deutschland ausbildenden politischen Bildungsarbeit zurüc k. Thomas Ellwein war, bevor er 1961 Professor für Politikwissenschaft in Frankfurt/M. wurde, mehrere Jahre der Leiter der Bayrischen Landeszentrale für politische Bildung gewesen. 1964 publizierte er ein bemerkenswertes und in gewissem Sinne bis heute ohne Nachfolge geblieben es Buch " Politische Verhaltensle hre" . Eines der erste n Unterkapitel dar in heißt •.Bürgerbewusstsein zwischen Enthusiasmus und Resignation" . Hier findet man ein paar erstaunlich kritische und skeptische Anmerkungen über die institutionalisierte politische Demokratie-Bildungsarbeit. die mittels kritischer Aufarbcitung der deutschen Gesch ichte, speziell der des Nationalsozialismus, daflir sorgen soll, dass ,so etwas' wie 1933 sich nicht wiede rholen könnte .
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In der jetzigen Bu ndesrepublik hatte man bisher fast 20 Jahre Ze it dazu , sich um
hierorts mögliche Formen der Demokratie zu bemühen. Und wenn auch niemand das Ergebnis dieser Bemühungen ,wissen' kann, so ist doch eines sicher, das s die große Meh rheit der Bürger der Bu ndcsrcpub lik d iese Staatsform bejaht.
Ob dieses Bejahen .kriscnfesr' ist, ob es mit der Bereitschaft verbunden ist, ftlr die Demokratie auch .einzutreten' und ähnliches mehr, gehört zu den gern gestell te n Fragen. Das ist alle rd ings ke ine de utsc he Besonderheit. Eine Besonder-
heit der Bundesrepublik ist es dagegen. dass in ihr seitens der Pädagogik der Anspruch erhoben wird, solche Fragen allmählich überflüssig zu machen (Ellw ein 1964, 17).
Ellwein kritisiert vor allem den allzu hohen Anspruc h, der mit dem Ideal des ,polit ischen Menschen' verknüpft ist. Der normale Mensch sei aber, so meint er im Anschluss an Wilhelm Hennls. in normalen Zeiten doch eher ein unpolitischer Mensch. Und wenn d ie politischen Bildungs-Ideale das verantwortliehe Handeln übermäßig betonen, läuft das oft auf eine Art Aktivitätskult hinaus. Wenigcs erscheint fruchtloser als das Bemühen, andere zu politischer Aktivität zu führen. Aktionen lassen sich zwar veranstalten, Demonstrationen sind nicht einmal unbeliebt; kontinuierliche Mitarbeit wirkt hingegen offenkundig als Überforderung. Und im Ergebnis stehen sich sehr oft das enthusiastische Bildungsprogramm und die peinvolle Begegnung mit einer, der Aktivität des einzelnen sich keineswegs leicht öffnenden politischen Realität gegenüber. Die Wirkung der Realität ist dann nachhaltige r, und wir befinden uns wieder am Anfang, der seit eh undje durch den Ausruf gekennzeichnet ist: Ja, was soll ich denn da machen? (EJlwein 1964, 19).
Die Skepsis von Ellwein war dama ls gut begründet; die Lücke zwischen der politischen Bildungs-Rhetorik und den politischen Alltagserfahrungen wirkte sicherlich als ein dynamisierender Faktor für den sich anbahnenden Wertewandel in der Bundesrepublik. Politische Bildung hat lange das oben skizzierte Spannungsfeld zwischen der individuellen und der kommunitären Perspektive vernachlässigt. Sie hat damit auch trotz vieler brauchbarer Ansätze eine gewicht ige Schwierig keit politischer Urteilskraft unterschätzt, nämlich die Balance zu halten zwischen Eigensinn und Gemeinsinn. Für Juchler (2005. 136) drückt sich politische Urteilskraft vor allem auch darin aus, ab-
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wägen zu können zwischen dem eigenen interessegeleiteten Standpunkt und den Standpunkten anderer.
6.6 Politische Urteilskra ft und politische Bildu ng Kontingent, komplex, situationsbedingt. instabil und schwach sind die Adj ektive, die auf das Handeln in der Sphäre der Politik (besonders) zutreffen. Politische Urteilskraft ist das Vermögen, den Auswirkungen dieser Eigenschaften etwas entgegenzusetzen, wobei politische Bildung hilfreich sein kann. Allerdings sind viele derjenigen, die sich in diesem keineswegs ganz kleinen intellektuellen Geschäftszweig tummeln, mit den Ergebnissen ziemlich unzufrieden. Weil es keine richtig befriedigende Antworten auf Ellweins "Anfangs-Frage'; gibt, haben die Profis der Politischen Bildung immer mal wieder von ihrer "Kr ise" gesprochen. Hermann Giesecke (1997, 3) konstatierte zuletzt vor gut zehn Jahren eine "o ffensichtlich von keinem Kundigen geleugnete, wenn auch unterschiedlich gedeutete" Krise der politischen Bildung, die er an vier Trends festmachte: ihrer Politisierung, ihrer Moralisierung, ihrer Professionalisierung und ihrer Pädagogisierung. Damit hat er nun allerdings vier Säulen der politischen Bildung angesprochen, die man auch nicht wieder so einfach weghauen kann. Denn dann kracht womöglich das ganze Gebäude zusammen. Es lockt uns allerdings nicht, an dieser Krisen-Debatte teilzunehmen. In unserem Zusammenhang ist nur wichtig festzuhalten, dass sich die oben aufgezählten trübsinnigen Adjektive für das Handeln in der Sphäre der Politik mildern und sozusagen aufhellen lassen. Aber völlig neutralisieren kann man sie auch durch die beste politisehe Bildungsarbeit nicht.
Ideengeschichtlicher Rundblick Eine Unter suchung politischer Urteilskraft kommt ohne Auseinandersetz ung mit den ideengeschichtlichen Aspekten des Themas nicht aus. Menschheitsgesch ichtlich begin nt die Entwick lung polit ischer Systeme mit der Konzentration bestimmte r Machtressourcen j enseits familiärer Ord nung und Einord nung. Die Organisation von Clans zu größeren sozialräumlichen Verbänden bringt die Funktion des ••Häuptlings" hervor, der die einzelnen Großfamilien zu eine m nach außen einheitl ich operie rende n Verband zusamm enfasst und der nach innen Konfli kte zwi schen den Clans reguliert. Dazu wird ihm Entscheidungsmacht ilbertragen . Damit beginnt die Herausbildung eines politischen Systems als Ort anerkannter (legiti mer) Mac htaus übung. wobei sich diese Funktion historisch immer stärker ablöst von inhaltlichen Bezilgen und Rechtfertigungen. Bis zur Durchsctzung der bürgerlichen Gesellschaft nimmt der "Häu ptling" (Fürst, König o.ä.) neben seinen politischen auc h noch häufig religiöse Aufgaben wahr. Der Zusammenhang von Religion und Politik ist in fast allen Gesellschaften, gleichviel welche Gestalt sie auch immer haben mögen. sehr eng. Politische Herrschaft gründet sich oft auf außerpolitische Legitimationsquellen wie zum Beispiel gött liches Wollen oder bestimmte Abstammungslinien der Monarchen. Erst die modeme Politik sieht von solchen externen Rechtfertigungszusammenhängen ab. Demokratien schließlich basieren nur noch auf einem Willensakt (Volkssouverän ität), der seine Begrilndung in sich selbst trägt. Schon in mythologischen Zeiten finden sich in Zeugnissen von der Geburt des Politischen Reflexione n zur gelungenen oder misslungenen Ausfüllung der Herrschaftsrolle. Das sind meist Erzählungen über herausgehobene Haupt- und Staatsaktionen. die im Kern um kluge, verhängn isvoll falsche, listige usw. Handlungen der Helden kreisen. Erst relativ weit entwic kelte gesellschaftliche und politische Verhältnisse in Asien und Europa bringen mehr oder weniger systematische Schriften zur Qualitätsmessung politischer Herrscha ft hervor. Für Asien soll in diesem Zusamme nhang nur an die
Schriften von Konfuzius erinnert werden, die sich auch als Fürsrenerztehungsliteratur verstehen' ", für eine ideengeschichtliche Betrachtung über politische Urteilskraft hier und heute ist die griechische Antike wichtiger, weil dort , über die fragen der Herrschererziehung hinaus - Probleme angesprochen wurden, die uns immer noch unmittelbar beschäftigen: das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die Voraussetzungen und der Inhalt guter politischer Ordnungen, die Ressourcen demokrat ischer Herrschaft. Dabei kommt dem Begriff der Phronesis eine zentrale Bedeutung zu. Denn was politische Klugheit ist, ob eine Kunst oder wissenschaftlich erklär- und lehrbar, das bleibt bis heute umstritten. In den folgenden Kapiteln wird dieser Diskussionszusammenhang skizziert. Von der aristotelischen Definition politischer Klugheit führt der Weg über die Systematisierungsversuche von Kant bis hin zu j üngeren Vorstellungen darüber, wie politische Vernunft diskurs iv hervorgebracht werden kann, sowie zu deren pragmatischen und dezisionistischen Gegenpositionen.
Pipcrs Handbuch politische Ideengeschichte, Bd. I, Frühe Hochkulturcn und europäische Antike, München 1988 und Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Bd. I, Die kosmologischen Reiche des ahen Orients - Mesopotamien und Ägyptcn, München 1956/ 2002.
:10 Dazu:
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K lugheit: Aristoteles uud di e praktische Philosophie
Wenn man sich ein bisschen in den heutigen politischen und politikw issenschaftlichen Debatten umsieht, ste llt man rasch fest, dass der Begriff der " Klugheit" kei ne große Rolle darin spielt . Zwa r wird zunehmend, gerade in Wahlkampfzeiten (und die sind ja fast immer) über die von Sachbezügen
ablenkende Personallsierung politischer Auseinandersetzungen geklagt. Aber gerade be i solcher vor allem über die Medien betriebenen Personalisierung fällt auf, dass bei der Zuschreibung von Charaktereigenschaften, bei der eher liebevollen oder eher bösartigen Beschrei bung von Stärken und Schwächen des politischen Personals dessen Klugheit kaum diskutiert wird. Das könnte damit zu tun haben, dass von Mitgliedern der politischen Elite diese ohnehin selbstverständlich erwartet wird. Bei aller Se lbstverständlichkeit wäre dann gleichwohl zu erwarten. dass in dem einen oder anderen Personenportrait auf die besondere Ausprägung dieser Eigenschaft hingewiesen würde. Doch solches Lob, oder das Beklagen eines vollständigen Fehleus. findet sich selten. Diese Geringschätzung der Klugheit liegt auf der Ebene individueller Zuschreibung hauptsächlich wohl daran, dass sie ohne längeres Nachdenken mit Clevernes s gleichgesetzt wird. Und das heißt soviel wie mit allen Was· sem gewaschen zu sein. bauernschlau, abgebrüht. au f den eigenen Vorteil bedacht (oder wenigstens den der eigene n Partei) und gerissen. Solchen Fähigkeiten zollt man zwar Bewunderung. aber doch nur widerwillig . Vor allern dann, wenn solche Klugheit gege n einen selbst gerichtet ist. Die Überlegenheit des Kont rahenten wird zur Kenntnis geno mmen, Verehrungen erspart man sich. Das Kompliment. ein Cleverle zu sein. ist allenfalls in den Auge n der eigenen Parteifreunde nicht vergiftet. Politikwissenschaftlich wird ohnehi n Strukturen. Funktionen und Systemen mehr Bedeutung zugesprochen als Menschen, von denen einige Theorien behaupten. gar nicht mehr zu wissen. was das überhaupt sei, ein Mensch 21• Strukturen, Funktionen und Systemen ..Klugheit" zuzuord nen ist Es ist kein Zufall. dass mit der Erfahrung des vertusres der Bedeutung individueller Haltungen und Ha ndlungen, mit der Erfahru ng der Irrelevanz menschlicher Existe nz, wie sie im Zusammenhang mit
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abe r unmöglich. Doch ungeachtet alle r struktur-funkt ionalen Einhegungen individueller Kalküle - es sind Menschen, die handeln. Aber die Erforschu ng der Bedingungen der Möglichkeit, po litisc he Urtei lskraft zu entfalten, kann ohne e in Nachdenken übe r Klugheit nich t geli ngen.
7.1 Phro nests Es ist kein Zufall, dass der philosophische Streit über Klugheit so alt ist wie die Philosophie se lbst. In der griechischen Philosophie findet sich dafLir das Wort Phrones is, was übersetzt werden kann mit Wissen, prakt isches Wissen und Klugheit. Dabei verbi ndet sich das praktische Wisse n mit den guten Wesens eigenscha ften eines Menschen, den Tugenden. Von diesen gibt es vier: 1. Phronesis, 2. Ge rechtigkeit, 3. Ta pferkeit, 4. Selbstkontrolle . Jede Tugend ist auch eine intellektue lle Disposition, damit wird das Wissen von diesen Tugenden und ihrer Praktizierung wicht ig. Für Sokrates ist Phronesis die Form eines Wissens, das für handwer kliches Können und für Wissen sc hlechthin charakteristisch ist. Zu beachten ist dabei, dass Phronesis in die Lage versetzt zu über legen, was getan werden soll. Klugheit ist also eine moralische Vorgabe. Nur die Frage nac h dem " Sollen" ist es überhaupt wert, gestellt zu we rden, denn was ohneh in geschieht, braucht nicht auch noch gefordert zu werden - dam it bedarf es keine s weite ren Nachdenkens. Die T ugenden sind nützlich im Sinne der Verwirklichung ein es Gutes, aber die Haltung, die jeder einzelnen Tugend entspr icht, entfaltet ihre Nützlichkeit nur vo llständig, we nn sie von vernünftiger Überlegung begleitet ist, eben von Phronesis. Diese ist deshalb eine Tugen d an s ich, die Tuge nd insgesamt oder wenigste ns ein entsc heide nder Teil von jeder anderen. Ge rechden indus tr ia lisierten Formen des Töte ns im Ersten Weltkrie g und der totalitären Vernic htungspolitik bis Mine de s 20. Jahrhunderts gemacht wurden . Positionen des Ant ihuman ismus sieh entw ickelten. Die Enttäuschungen angeslchts der ausbleibenden Revolu tionen haben daneben nicht nur im Marxismus zu einer Betonung der struktur-funktionale n The orieelement e (Gesc hichte entwickelt sich in der Spannung von Produktionsverhältni ssen und Produkt ivkrä ften) ge führt und die handlungstheoretischen Aspekte (Ges chichte iSI das Ergebnis von Klassenkämpfen) in den Hintergrund gedräng t Ähnliche Frustrat ionen der Post- 6 8er Ge neration haben s ich dann in den unters chiedlich sten Spielarten von Sys temtheor ien ausgedrückt. Immer lautet das Fazit: es ist, wie es ist, es kommt, wie es kommt. lIandlungsspielräume gibt es kaum , Dam it si nd Überlegungen zum klugen Handeln überflüssig.
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rtgkeit, Tapferkeit und Selbstkontrolle verlangen jeweils spezifische Handlungen, müssen also gekonnt werden. Alle Tugenden werden von der Phronesis begleitet. Durch sie verwandeln sich Dinge und Handlungen in Güter. In allen Tugenden steckt also ein gemeinsames intellektuelles Moment. Klugheit hat also durchaus etwas mit Wissen zu tun. Aber dieses wiederum beruht nicht ausschließlich und .wertfrei" auf instrumenteller Bemeisterung. Klugheit und Technik sind nicht synonym. Die Phronesis ist nun aber - wie oben schon erwähnt - nicht nur notwendiger Teil jeder einzelnen Tugend, sondern selbst eine der vier Tugenden. Das Besondere an Phronesis ist, dass sie als praktisches Wissen in die Lage versetzt, Gutes und Schlechtes zu unterscheiden. Indem man sie praktiziert, indem man klug handelt, erwirbt man die Fähigkeit, darüber urteilen zu können, was zu tun ist und was nicht. Solche Urteilsfähigkeit kann aus sich selbst heraus menschliches Glück hervorbringen. Im heutigen Sprachgebrauch, geschult an volkspädagogischen Didaktikkonzepten. wird das .Orlentlerungswlssen" genannt. Wer Orientierung besitzt, kann die Unterwelt der Kontingenzüberforderung verlassen (nur umdrehen darf man sich nicht, sonst erstarrt man zur Salzsäule, doch davon in einem anderen Kapitel mehr). Allerdings schwingt in der Rede von der Tugend der Klugheit immer auch die Idee einer nonn ativ nicht weiter bestimmten Technik mit. Phronesis im Sinne von " einen Gedanken fassen", Vernünftigkeit, der ausgezeichneten Fähigkeit zu denken, kann unterschiedlich nützlich sein. Große Klugheit kann auch zu schlechten Zwecken eingesetzt werden. Dann wird aus der Phronesis die panurgia, die große Lumperei. Aus der Zwickmühle der Unterscheidungen kommt also auch die "K lugheit" nicht heraus. Da geht es ihr wie dem "Urte il", das sich auch bei allen Begriffsanstrengungen vom "Vorurteil" nicht recht unterscheiden lässt. Dieses Dilemma geht auf die sokratische Analogie zwischen moralischem Wissen und technischem Wissen zurück. Der Versuch, gute von schlechter Klugheit zu unterscheiden, in dem beide in ein Verhältnis zur Wahrheit gesetzt werden, scheitert. Die Vorstellung, dass Phronesls ein Wissen sei, dass die Gegenstände direkt erkenne, also wahr sei, verlagert das Unterscheidungsproblem letztlich bloß auf eine andere Ebene, nämlich der der wahren oder unwahren Abbildung.
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7.2 Unstetigkeit und Klu gheit Aristoteles geht schließlich einen anderen Weg, der für die Diskussion der Bedingungen der Möglichkeit, Urteilskraft zu entfalten, wichtig wird. Für ihn ist Klugheit immer mit Handeln verbunden. Am Ende der ..Niko machisehen Ethik" heißt es: 151 es nicht bekanntlich so, dass beim menschlichen Handeln das Ziel nicht darin besteht, die einzelnen Dinge zu betrachten und zu erkenne n, sonde rn vielmehr sie handel nd zu verwirklichen? (N E, 11 , I I03b26- 11 Oa 12)
Handeln geht über das richt ige Erkennen hinaus. Und dam it muss KlugheitIPhronesis mehr sein als eine überlegene Spiegelungstechnik. Das hat durchaus auch ein erkenntnistheore tisches Moment, denn Über legunge n zum Handeln haben überha upt nur dann einen Sinn, wenn etw as unbestim mt ist. Denn stünde alles schon fest, gäb e es keine Alternative n, dann wäre Handeln al1ein der Vollzug des Notwe ndigen. Dazu bedarf es abe r keiner besonderen Überlegung, das schafft jeder Oc hse. Zwar gibt es a uch für den Menschen Situationen, in denen es allein auf den Vollzug des Notwend igen ankommt, das ihm von außen unausweichlich vorgegeben ist. Aber in solchen Situationen ist ihm sc hon ein Stück des Menschseins abhanden gekommen (als Sklave, als Gefangener, als reiner Befehlsempfänger). Niemand stellt Überlegunge n über das an, was nicht anders sein kann oder was von ihm nicht anderes getan werden kann. Weil Wissen mit Beweis verbunden ist und bei Dingen, deren ursprüngliche Ursachen anders sein können, kein Be-weis möglich ist (denn alle Dinge dieser Art können auch anders sein) und weil es unmöglich ist, Überlegungen anzustellen über Dinge, die notwendig so sind, wie sie sind, deshalb ist Phronesis nicht Wissen ... da, was getan werden kann, anders sein kann .. . es bleibt also, dass sie eine wahre, mit Überlegungen verbundene Haltung ist, die zu Handlungen befähigt, die das tUrden Menschen Gute und Schlechte betreffen (NE, 11, 1103a 14-33).
Zudem hat es die Phronesis im Untersc hied zum theoretischen Wissen nicht ausschließlich mit dem Allgemeinen zu tun, das als Allgemeines erkannt werden muss, sondern mit dem Einzelnen, weil, was getan werden kann, immer etwas Einzelnes ist. Solche Klugheit hat es also gerade nicht mit der Formulierung von universa len Regeln zu tun, sondern muss immer im und
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für den Einzelfall entwickelt werden. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich auch von der Intuition, die die Prinzipien erfasst, von denen der Beweis seinen Ausgang nimmt. Und ebenso unterscheidet sie sich vom theoretischen Wissen, das eine Kombination von Wissen und Intuition ist. Aristoteles geht damit auf Distanz zur platonischen Position zum moralischen Wissen, in der eine enge Verbindung von Wirklichkeitserkenntnis und moralischer Handlungsorientierung hergestellt wurde. Wissen bedeutete danach, den Urgrund des Seienden zu finden, das Urbild, die Uridee aller GUter zu erkennen. Adst oreles äußert sich skeptisch gegenüber der Möglichkeit, Antworten auf einzelne moralische oder philosophische Fragen durch philosophische Reflexion über erste Prinzipien zu gewinnen: "W ir philosophieren nicht, um zu erfahren, was ethische Wertheftigkelt sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden." (NE. 11, 2.) Und zwar immer - muss man hinzufügen - in konkreten Bezügen und Handlungssituationen. Nach AristoteIes enthält praktisches Wissen im Kern die Erkenntnis dessen. was hier und jetzt zu tun ist. Das setzt zwar ein bestimmtes Verständnis von und ein Streben nach dem richtigen Ziel voraus, doch konzentriert es sich eben nicht auf Gesinnungserforschung und -expression, erschöpft sich nicht im Wissen der letzten moralischen Gründe. Weit gefehlt wäre es, Aristoteles damit für einen Denker zu halten, der über gar keinen Gesinnungs- oder Tugendbegriff verfügt hätte. Ganz im Gegenteil geht auch er davon aus. dass wir nur über Tugend zur richtigen Zielorientierung im Leben und Handeln gelangen. Er kennt fünf Tugenden: Es gelte die Annahme, dass die Grund formen, durch welche die Seele, bejahend oder verneinend, die Erkenntnis des Richtigen vollzieht fünf an der Zahl sind, nämlich: praktisches Können, wissenschaftliche Erkenntnis, sittliche Einsicht, philosophische Weisheit und intuitiver Verstand. Bloße Vermutung, das heißt bloße Meinung, gehört nieht hierher, weil sie uns täuschen kann (NE, VI, 113% 15-16 .).
Vieles von dem, was schon angesprochen worden ist, findet sich in dieser kurzen Passage wieder. Das praktische Können und die philosophische Weisheit sind Tugenden. Sie verhelfen allein aus sich heraus, ohne jede weitere Zweckbindung, zum glücklichen Leben (jedenfalls sahen das die alten Griechen so, sie kannten die Romane von Philip Roth noch nicht). Die Tugend verhilft zur Kenntnis des richtigen Ziels, während die Phronesis die
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richtige Schrittfolge zur Erreichung dieses Ziels bestimmt. Auch das stellte seinerzeit keine Revolution im philosophischen Diskurs dar. Bedeutsam und folgenreich wird das aristotelische Denken für eine Untersuchung polit ischer Urteilskra ft. weil es dieses Handeln hin auf ein tugendhaftes Ziel (Schurkereien müssen ohnehin nicht weiter untersucht werden) keiner Regelheftigkeit unterworfen sieht. Das Wissen, das man benötigt, ist immer von besonde rer Art. In der Nikomachischen Ethik heißt es dazu: Nun ist der Satz: ,.nach der richtigen Plan ung handeln" allgemein anerkannt und sei (som it vorläufig) vora usgesetzt. Später soll dann darü ber ges prochen we rden, was das Ist: ,.,richtige Planung" und in welcher Beziehung sie zu den (ethischen) Wesensvorzügen steht. Über das eine möge hierbei im vorhinein Übereinstimmung festgestellt sein, dass von einer Untersuchung über ethische Fragen nur umrisshafte GedankenfUhrung, nicht aber wissenschaftliche Strenge gefordert werden darf. Wir haben es schon eingangs ausgesprochen, dass die Form der Untersuchung, die wir verlangen dürfen, dem Erkenntnisgegenstand entsprechen muss. Im Bereiche des lI andclns aber und dcr Nützlichkeitcn gibt es keine eigentliche Stabilität - übrigens auch nicht in Fragen der Gesundheit. Wenn dies aber schon bei übergreifenden Aussagen (in der Ethik) zutrifft, so kann Exaktheit noch viel weniger bei der Darstellung von Einzelfällen des Handclns vorhanden sein: diese fallen weder unter eine bestimmte " Technik" noch Fachtradition. Der Handelnde ist im Gegenteil jeweils auf sich selbst gestellt und muss sich nach den Erfordernissen des Augenblicks richten, man denke nur an die Kunst des Arztes und des Steuermanns (NE, 11 , I I04a7-9).
Richtiges praktisches Handeln kann nicht auf der Basis von festgesetzten Regeln erfolgen. Auch wenn wir berücksichtigen müssen, dass das Handeln des Arztes und des Steucnna nns im vierten Jahrhundert v, e hr. ohne das technische Wissen auskommen musste, das heute zur Verfügung steht, bleiben beide Berufe bis heute mit einem " Können" verbunden, das sich theoretisch nicht de finieren lässt und " Kunst" bleibt. Handeln behält nicht nur in diesem Kontext eine Unschä rfe, die eine genauere Bestimmung nicht zulässt. Das ist auch mit den Methode n exakter Wissenschaft des 21. Jahrhunderts nicht weiter aufzuklären. Es kommt noch etwas anderes hinzu: Der aristotelische Begriff der Klugheit verweist auf Situationen, in denen Erfahrungen von Grenzen ge macht werden. Wede r Arzt noch Steuennann sind letztlich die Herren ihres Geschicks. Klugheit besteht nun darin, die prinzipiell begrenzten Interventionsmöglichkeiten zu reflektieren. Hier schließt Aristoteles
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eine Philosophie der Mäß igung an, die dem Expans ionismus eines wissenschaftlich angeleiteten Politikverständnisses fremd ist (Luckner 2005, 166). Handeln ist für Aristoteles nicht Erkenntnisobjekt der höchsten Klasse. Das sind Objekte, denen mit theoretischem Wissen begegnet werden kann, das sich mit dem Ewigen, dem Sein beschäftigt. Menschliches Handeln ist demgegenaber unstet. Da sich aber die Form des Wissens ihrem Untersuchun gsgegenstand anpassen muss, führt ihn das Nachdenken abe r die Flüchtigkeit menschlicher Handlungen zum Verzicht auf exa kte Erkenntnis. Das bedeutet jedoc h keinesfalls, dass die Untersuchung menschlicher Handlungen ins beliebige Meinen abrutscht. Hier geht es nicht um prosemlnarlstisc he Nettigkeiten des " finde ich nlchr' oder ,.ich sehe es halt anders", des argumentativen Waffenstillstands. Es geht bei der Freisetzung von Klugheit eben nicht ums Räsonnieren. sondern ums Handeln. Im Handeln zeigt sich Klugheit oder auc h nicht . Wissenschaftlich ist sie nicht einz uholen, die Praxis der Wissenschaft ist Theorie und eben nicht Handeln im Sinne des sich Zurec htfindens in einem offenen M öglichkeltsraum. Wissenschaft zielt gerade in ihren theoretischen Bemühungen auf Regelhafti gkeit - noch einmal betont -, das ist ihre Praxis (und das ist auch gut so). Bei der Suche nach den nonnativen Orientieru ngen menschlic hen Handelns sieht Aristoteles eine solche Regelhaftigkeit nicht.
7.3 Politisch e Klugheit Die Frage, die sich einer politikwissenschaft lichen Analyse aufdrängt, bezieht sich auf den Raum des Politischen. Flir Aristotele s ist es der Platz menschlicher Unstetigkeit. Die zeitgenössische Politikwissenschaft (allei n schon die Bezeichnung des Faches wäre für ihn ein Widerspruch in sich selbst) mit ihren Versuchen, sich als Kopie angeblich exakter Naturw issenschaften zu inszenieren, wäre ihm ganz unverständlich vorgekommen, weil sie die Unbest immtheit menschlichen Handeins in Notwendigkeit umdeuten will. Doch bei aller Bedeutung für die praktische Philosophie hat sich in der modernen, bürgerfle hen Gesellschaft ein aristotelisches Verständnis des Politischen nicht durchgesetzt. In der Ausei nandersetzung mit Konzepten der PhronesisiKlugheit als Teil der Unschä rfe menschlichen Handeins zeigte sich die damit einhergehende Verunsicherung, der Schrecken der Kontingenz als
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zu groß. Er soll durch Versuche eingehegt werde n, im politischen Handeln Regelhaftigkeiten zu entdecken und Gesetze (im nonnativen Sinne) aufzustellen, um dieses Handeln bewerten zu können. Rege ln setzen aber die Formulier ung e ines Allgemeinen . eines Unhintergehbaren voraus. Das Problem der Klugheit besteht darin, dass sie ohne instrumente lle Bezüge nicht zu denken ist. Das Streben des Tugendhaften drückt - neuzeitlich formuliert - ein besonderes Eigeninteresse aus. In den Bestimmungen und Grenzziehungen dieses Eigeninteresses liegt die Herausforderung für die Bewertung der Klugheit. Purer Egoismus, der die Übervorteilung ande rer nicht scheut, kann einer morali schen Prüfung nicht standhalte n. Klugheit wird dann zur Fähig keit, andere zu " verladen". Politische Klugheit, die eben mehr ist als die Fähigkeit zur instrume ntellen Kalkulatio n, gebietet es vielmehr, auc h das Recht anderer, ihr jeweiliges Eigeninteresse zu verfolg en, mit de n eigenen Absichte n in Ausg leich zu bringen. Das ist das große Proj ekt, das sich in der Sozialvertragstheorie ausdrückt. Nur wenn die anderen zu ihrem Recht kommen, habe ich die Chance, das auch für mich zu tun. Thomas Hobbe s hat in seinem " Leviathan" gezeig t, wie Frieden nur als Ergeb nis einer klugen Kalkulation individueller Interessen organisiert werden kann. Klugheit heißt hier, Überlegungen anstellen zu kön nen, um die Schnittme nge der eigenen Interessen mit denen der anderen zu erkennen. Dabei geht es um Verallgemei nerungsfähigkeit der Prinzipien des eigenen Handelns: ...das oberste Prinzip der Tugendehre ist: handele nach einer Maxime der Zwecke. die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als auch anderen Zweck und es ist nicht genug, dass er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist... (Kant, 17981 1989, A. 30, S. 526). Mit dem kategorischen Imperativ stellt Kant eine allgemei ne Regel für die Entfaltu ng der Klugheit vor. Wie im Prozess der Verbreitung der Philosophie de r Aufklärung aus der aristote lischen Annahme einer prinzip iellen Flüchtigkeit jeder Handlungssituation die Vorstellung wird, mithilfe eines Imperatives Regeln für solche Situationen entwickeln zu können , soll ein Beispiel verde utlichen : In der gerade zitierten Tugendlehre behandelt Kant unter anderem die Frage, ob es erlaubt sei. in einem Brief höfliche Anreden zu verwende n, wenn wir gegenüber dem Adressaten gar keine Sympath ie empfän-
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den. Er prüft die Frage, ob wir es hier mit einer Lüge zu tun haben, die der moralischen Verdammung anhei m fällt (weil Lügen ja nun gerade nicht als zu verallgemeinernde Maxime taugt). Nach längeren Über legungen kommt er allerdings zu dem Schluss, dass die Höflichkeit im Brief keine LUge darstellt. Denn es sei allgemein bekannt, dass es sich bei solche n briefliche n Anreden um eine Höflichkeit hande lt, der tiefere Bedeutung (Authentizität) nicht zukommt. Wie alle wissen, bedeuten solche Briefformen nichts, alle wissen auch, dass in ihnen kein Wahrheitsa nspruch erhoben wird, und deshalb dürfen sie benutzt werden . In Kants Tugendlehre stoße n wir auf zahlreiche solcher und ähnlicher Gedankenexperimente. Immer geht es um Regeln und ihre Anwend ung (Höffe 2005). Ob man damit im Bereich des Politischen weit kommt, wird an anderer Stelle - unter anderem im folgenden Kapitel über Wahrheit und Politik • behande lt werden. Ungeachtet solcher weiter zu führender Diskussionen kann aber festgehalten werden , dass die Modeme Fragen nach der Klugheit des politischen Handeins in Rechtsfragen zu verwandeln trachtet und damit für alle mögli chen Einzelfragen, Konflikte, Problemlagen Regeln der Entscheidung formuliert. Der jeweilige Einzelfall wird auf seine Allgemeinheit hin untersucht, beurteilt, entschieden und behandelt. Für Klugheit im aristotelischen Sinne - und das ist nicht nur eine Beobachtung, die die Prozessverlierer machen - bleibt da wenig Raum. Und jetzt erk lärt sich auc h, warum die Klugheit aus dem politischen Diskurs verschw unden ist: Sie wird hier nicht gebraucht, weil sie in Wissenschaft und Recht aufgegangen ist. Jenseits davon bleibt nur der Ausnahmezustand, vor dem alle Angst haben. Denn unter seinen Bedingungen richtig zu handeln, setzt genau jene Klugheit voraus, die sich nicht in Regeln fassen lässt. Politisches Handeln entkommt dem Problem der Klugheit nicht.
8 Aufklärung: Von Machiavelli zu Arendt
Für jede Beschäftigung mit den Bedingungen der Entfaltung von Urteilskraft ist Kants Kritik der Urteilskraft ein wichtiger Or ientierungspunkt. Nun sollen im folgenden nicht allgemei ne Überlegungen zur kantischen Erkenntni stheorie angestellt werden. Vielmehr geht es um die Darstellung des Ste llenwertes von Wahrheit in der Politik, einer zentralen Unterscheidung in der Trias Urteilen-Entscheiden-Handeln.
8.1 Wird in der Politik gelogen? Das ist ei ne merkwürdige Fragestellung, weil die Antwort doch offensichtlich ist. Selbstverständli ch wird in der Politik. die w ir hier annäherungsweise als das Feld beze ichnen, wo Ge sellschaften ihre Haupt- und Staat saktio nen ablaufen lassen, ge logen. Wie überall sonst auch. In der Familie wird gelogen, zwische n Ehepartnern, im Sport und in den Kirchen. Über die so genannten .Kinderlügen" haben Psychologen und Pädagogen unzählige Arbe iten veröffent licht. Und dass in der Wirtschaft ein ige nur den Bilanzen trauen, die sie selbst gefä lscht hat, ist ei n bekanntes und gerade in letzter Zeit schmerz lich aktuell gewordenes Bonmot. Marketingstrategen und PublicRelations-Manager haben aus den Lügen, welche die Werbung uns vorsetzt, ein einträgliches Geschäft gemacht. Auch in der Wissenschaft, die mit Wahr heitsfragen nun tagtäglich umgeht, soll schon gelogen worden seien. Die allgegenwärtige Lügerel verweist aber nicht nur auf den moralisch bedenklichen Zustand von Institutionen und Teilsystemen unserer Gesellschaft. Unter den strategischen Handlu ngsmöglichkeiten, die dem Mensc hen zur VerfUgung stehe n, nimmt die Täuschung einen wichtigen Platz ein. Lügen, betrüge n, verschleiern und verfälschen das Leben im " als ob" gehört zu seiner Grundausstattung. Lügen ist also eine sehr mensch liche Tät igkeit. Trotzdem bleibt die Lüge ein Skandal. Vor allem, wenn sie herauskommt.
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Gerade an der politischen Lüge wird gemeinhin großer Anstoß genommen. Ganze Armeen publizierender Wahrheitssucher machen es sich zur Aufgabe, die Lügen in der Politik aufzudecken. Dass in der Politik besonders häufig gelogen werde, ist eines der vielen Vorurteile gegenüber diesem Metier, das im Ressentiment der Nörgler ohnehin als schmutziges Geschäft gilt. Nicht als einer der ersten und sicher nicht als einer der letzten stellte Friedrich Logau schon im 17. Jahrhundert fest: Anders sein und anders scheinen! anders reden, anders meinen) alles loben, alles tragen) allen heucheln, stets behagen) allem Winde Segel geben) Bös- und Guten dienstbar leben) alles tun und alles dichten! bloß auf eigenen Vorteil richten} Wer sich dessen will befleißen/ kann politisch heuer heißen (Meier 1994,50).
8.1.1 Wenn schon, dan n konseq uent und geschickt {Machiavelli}
Allerdings hat d ie Politik ihren schlechten Ruf nicht ganz zufällig erworben . Der Vater einer Politikwissenschaft als Wlrklichkeitswlssenschaft, Niccolo Machiavelli ( 1469 - 1527), stellt das Verhältnis von Wahrheit und Unwahrheit konsequent in den Dienst einer politischen, Interessen kalkulierenden Zweckrationalität. In seinem politischen Consulting-Longseller " Der Fürst" (1513) heißt es beispielsweise: Ein kluger Fürst kann und darf sein Wort nicht halten, wenn er dadurch sich selber schaden würde oder die Gründe weggefallen sind, die ihn bestimmten, es zu halten. Wenn alle Menschen gut wären, wäre diese Vorschrift nicht gut; da sie aber schlecht sind und die Treue nicht halten würden, brauchst du sie ihnen auch nicht zu halten {Machiavelli 15 1311 976, 104).
An dieser Passage wird deutlich, dass dem gerissenen Florentiner Realpolitiker Machiavelli die moralische Verwerflichkeit von Lug und Betrug selbstverständlich klar vor Augen steht. Schließlich gibt er zu, dass es besser wäre, wenn auf solche miesen Tricks im politischen Spiel verzichtet werden könnte. Und es muss schon ein sehr pessimistisches Menschenbild herhalten, um die Lüge vor dem eigenen Gewissen legitimieren zu können. Es sind dann immer die anderen, die zu den üblen Fouls greifen. Man selber würde gerne
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8 Aufklärung: Von Machiavetti z u Arendr
fair sein. abe r der böse Kontrahent ließ einem kei ne Wahl als die. selber unmoralisch zu handeln. Weil alle schlecht sind, kann es sich der Gute nur in der Brüderlichkeitsreligion erlauben, gut zu blei ben . Doch Religionen bereitcn den Mensc hen letztlich eben nicht auf diese. sondern auf eine andere Welt vor. Aber genau mit dieser Welt - und keiner andere n - hat es der Politiker zu tun. Schaut man noch kon zentrierter hin, bedarf es gar nicht diese r schwarzen Anthrop ologie. um die Lüge zu rec htfertigen. Sie ist einfac h Bestandteil eines Arsenals strategischer Verha ltensweisen. Im Krieg etwa ist die Wahrheit das erste Opfer auf allen Seiten; gute Lügen s ind dann soga r rühmlich. Rein tec hnische Überlegungen schließen sich hier an. Die Lüge muss so beschaffen sein, dass s ie geg laubt wird. Schlechte, nämlich unglaubwürdige Lügen, schlage n irgendwann furchtbar auf den zurück, der sie in die Welt gesetzt und verbreitet hat. Das Geschick des erfo lgreichen Lügners bleibt immer gefäh rdet, immer prekär, denn er muss sic h die eigenen Erfindungen ständig vergegenwärtigen und dar f seine LUgengespinste nicht durehein anderbringen, sonst verheddert er sich darin. Die Weltliteratur ist voll von Gestalten, denen die eigenen Lügen über den Kopf wachsen. Wieviel leichter ist es, bei de r Wahrheit zu bleiben! Richt ig gute pol itische Lügner sind desha lb se lten. Ausd rück lich lobte Machia velli die alten Römer, d ie es bei ihrem A ufstieg vom Dorf zur Weltmacht und ihren ersten Geb ietserw eiteru ngen nicht am Betrug ha ben fehlen lassen. Es gi lt der Grundsatz : Nur der unfähige politische Akteur lässt s ich erwi schen.
8. 1.2 Um keinen Preis. nie! (Kant) Immanuel Kant hätte für eine solche Differenzierung kein Verständnis geha bt. In se iner 1797 ver fassten kurzen Notiz in " über ein vermein tes Recht aus Menschen liebe zu lügen" stellte er katego risch fest: Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem anderem daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen; und, ob ich zwar dem, welcher mich ungerechter Weise zur Aussage nötig, nicht unrecht tue, wenn ich sie verfälsche, so tue ich doch durch eine solche Verfälschung, die darum auch LUge genannt werden kann, im wesentlichsten des Stücks der Pflicht überhaupt unrecht: das ist, ich
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mache, soviel an mir ist, dass Aussagen (Deklarationen) überhaupt keinen Glaube n finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen begründet werden, wegfallen und ihre Kraft. einbüßen; welches ein Unrecht ist, dass der Mensch heit überhaupt zugefügt wird (Kant 1797/ 1989 , 638 ).
Weil die Lüge das allgemeine Sittengesetz des Sozialvertrags verletzt und asozial ist, muss sie immer verboten sein. Denn wenn sich das LUgen verallgemeinert, ist j eder menschlic hen Gemeinschaft der Boden entzogen. Wenn gesellschaftliches Vertrauen in Misstrauen als Leitinstanz verwandelt wird, wird das Leben armselig, ekelhaft, tierisch und kurz, wie schon Thomas Hobbes wusste. Die Lüge verletzt Soz ialität, sie legt die Axt an alle Formen menschlichen Zusammenlebens. Ausnah men darf es deshalb nicht geben. So betont Kant an gleicher Stelle sogar, dass ich einem Mördcr, der meinem Nachbarn nachstellt, auf dessen Frage, ob mein Nachbar zuhause sei, wahrheitsgemäß antworten muss. Selbst dem Mörder gegenüber darf die Mensehen-Ptl icht zur Wahrhaftigkeit nicht verletzt werden. Das gilt nach den Wonen des Königsbergers gerade auch für die Politik, die sich dem Recht anpassen muss. Aber bleibt bei uns angesichts dieses rigiden Verbots nicht ein Unbe hagen zurück? Und dieses Unbehage n wird noch größer, wenn wir uns anschauen, wie Kant den Zwang zur Wahrhaftigkeit gegenüber dem Mörder weiter begründe t. Wer nicht bei der Wahrheit bleibt, greift so in die Wirklichke it ein, dass er schließlich die Folgen seiner Intervention verantwortcn muss: Es ist möglich. dass, nachdem du dem Mörder, auf die Frage , ob der von ihm angefe indete zuhause sei, ehrlicherweise mit Ja geantwortet hast, dieser doc h unbemerkt ausgegangen ist, und so dem Mörder nicht in den Wurf gekommen ist, die Tat also nicht geschehen wäre; hast du aber gelo gen, und gesagt , er sei nicht zuhaus e, und er ist auch wirklich (obzwar dir unbewusst) ausgegan gen , wo dann der Mör der ihm im weggeh en begeg nete und seine Tal an ihm verknüpfte: so kannst du mit Recht als Urheber des Todes des selben angeklagt werden {Kam 1797/ 1989, 639 ).
Kant stützt sich hier - und in weiterer Simulation dieses Falles, auf dic wir nicht weiter eingehen wollen - auf das Argument, dass unsere Urteilskraft prinzipiell nicht ausreicht, um entscheiden zu können, ob die Notlüge wirklich effektiv ist. Es könne doch sein, so Kant in dem obigen Zitat, das wir mit den besten Absichten gelogen haben, aber gerade diese Unwahrhaftigkeit das
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Verbrechen erst möglich macht. Gut gemeint, so könnte man weiter ausfüh-
ren und so ganz nebenbei zu einem Leitsatz im Nachdenken über politische Urteilskraft kommen, reicht nicht aus, damit etwas auch gut wird .22 • Da w ir nie mit völliger Siche rheit entscheiden kön nen, erscheint es danach am besten, bei der Wahrheit zu bleiben. So laden wir keine Schuld auf uns. Die Begrenztheit der karnischen Ethik tritt an dieser Ste lle deutlich hervor. Seine Ethik übersteigt nicht die Ebene der individuellen Pflicht. Bleibt der vom Mörder Gefragte bei der Wahrheit. so hat er seine Pflicht erfUllt. Aber hat er auc h genu g ruf seinen Nachbarn getan? Politisches Handeln geht über diese enge individuelle Pflichte neth ik weit hinaus, weil Politiker eine andere Rolle ausfüllen müssen als die eines relat iv unbeteiligten Nachbarn. Ja, ihr politi sches Handeln ist vornehmlich auf einer anderen Ebene angesiede lt als der von individue ller Ethik und folgt dami t zwang slä ufig auc h anderen Unterscheidungen als dene n der Moral. Dass die individuelle Ethik da mit fü r sie nicht außer Kraft gesetzt ist, macht ihre Lage nicht leichter. Wer Politik macht, wird immer wieder in Situatione n geraten, in denen er politisch das tun muss, was ihm als Mensch eigentlich verbote n ist. Nur wenn er Glü ck hat, bleibt ihm diese Zum utung erspart . Für die LUge in der Politik bedeutet das nun, dass man zwar nicht lügen darf, im politischen Handeln aber manchmal ohne sie nicht auskommt. Dieser Doppelstandard ist nicht a uflösbar. Hier hilft keine Logik weiter. Die Beobachtun gen politi schen Handei ns werden ihrem Unters uchungsgegensta nd auch nur dann gerecht, wenn s ie sich von einer Moralisierung des Politische n befreien. Politik ist kei ne Wissenschaft und geht a uch nicht im Recht auf, sondern ist letzt lich eine Kunst. Dürfen Politi ker lügen? Selbstvers tändlich • abe r Lügen sind nicht einfach die Lösung, sondern müssen analytisch und nonnat iv immer ein Problem bleibe n.
8.2 Der Kam pf um d ie Wahrheit (Arendt) Geheimhaltung nämlich und Täuschung - was die Diplomaten Diskretion oder auch die arcana imperll, Staatsgeheimnisse. nennen ". gezielte Irreflihrungen und blanke Lügen als legitime Mittel zur Erreichung politischer Zwecke kennen " Offenbar gibl es hier eine verschwiegene Parallele zwischen polaiseher und ästhetischer Urte ilskraft, denn der von uns fonn uliene Leitsatz beruht auf einer sarkastischen Bemerkung Gottfricd Benns über die Lyrikproduktion des einen oder anderen seiner Zeitgenossen.
8Aujklärung: Von Machiovelli zu Arendt
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wir seit den Anfangen der überlieferten Geschichte. Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik. schreibt Hannah Are ndt ( 1972,8) in e ine m lesenswerten Essay übe r " Wahrheit und LUge in der Poli tik" , der hier auch z itiert wird, we il die Autor in einen anderen Begriff des Politischen prä gt a ls Ka nt. Der Gegenstand dieser Überlegungen ist ein Gemeinplatz. Niemand hat je bezweifelt, dass es um die Wahrheit in dcr Politik schlecht bestellt ist... Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören. Ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand. Was bedeutet es für das Wesen und die Würde des politischen Bereiches einerseits, was fllr das Wesen und die Würde von Wahrheit und Wahrhaftigkeit andererseits? Sollte etwa Ohnmacht zum Wesen der Wahrheit gehören und Betrug im Wesen der Sache liegen, die wir Macht nennen? Welche Art der Wirklichkeit können wir der Wahrheit noch zusprechen, wenn sie sich gerade in der uns gemeinsamen öffentlichen Welt als unrichtig erweist, also in einem Bereich, der mehr als jeder andere dem gebürtllchen und sterblichen Menschen Wirklichkeit garantiert, weil er ihnen verbürgt, dass es eine Welt gab, bevor sie kamen, und geben wird, wenn sie wieder aus ihr verschwunden sind? Ist schließlich nicht Wahrheit ohne Macht nicht ebenso verächtlich wie Macht, die nur durch Lügen sich behaupten kann (Arendt 1972, 44)? Hannah Arendts Überlegunge n sind für uns vor a llem aus einem Grund wichtig. In ihrem Denken steht das Po litische im Zentrum von Mac ht und Herrscha ft. Machterringung. Machtbehauptung und Machtverl ust sind für sie die Stationen im politisc he n Raum. Im Ringen um die Fähigkeit, and eren se inen Willen auch gegen Widerstand au fzuzw inge n oder sic h gege n d ie Machtansprüche andere r z u wehren, kommt instrumentellem, techn ischem, strategischem Denk en und Ha ndeln e ntsche idende Bed e utung zu. Politik ist ein (ernsthaftes) Spie l um Macht. We lche Spielz11ge ge lungen sind, darü be r entscheidet ihr Erfo lg. Das gilt für a lle Bete iligten aus nahms los. We r die We lt nach seine n Abs ichten (und seien es auch d ie besten und menschenfreu ndlich sten ) verä nde rn will, bedarf der Erzw ingungsmach t und steht somit immer unter dem Primat der zwe ckrationalen Kal kulat ion, und d ie erlau bt nun einmal unte r best immten Ums tände n e ine Lüge.
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8 Aufklänmg: Von Machiavetli zu Arendt
Ganz nebenbei fallen in diese m Kontext wichtige Bemerkungen zur "Sozia lstruktur de r Lüge" (Böhme 1994) ab. Zum Betrug muss greife n, wer nicht souverän mit der Wahrheit umgehen kann. Die Lüge ist deshalb vor allem ein Instrument der ganz großen und der ganz kleinen Haie. Erstere können aus ihrer Machtfülle heraus lügen, dass sich die Balken biegen, aber niemand darf die Lüge als Lüge bezeic hnen, sonst wird er bestraft . Solche Lügen sind Ausdruck der Repression. Letztere fühlen sich immer der Versuchung zu lügen ausgesetzt. weil sie aus der Defensive fechten und sich auf diese Weise einen Vorteil verschaffe n möchte n. Häu fig haftet solchen Lügen etwas Ärm liches an, gerade ihre Offensichtlichkeit offenbart Not und Ohnmacht. Die schnell zusamme n gezimmerte Unwahrheit drückt nicht selten Verzweiflung aus. Aber verzweifelte Politiker wählt niemand; selbst in Zeiten öffentlicher Beichte wirken sie zu erbärmlich für die Inszenierung der Macht. Gerade in politischen Systemen, die ihre Legitimität aus der Zustimmung des Volkes beziehen, kann d ie professionelle politische LUge nur funktionieren, wenn die Öffentlichkeit sie glauben will. Und es gehört zu den großen Verd iensten Hannah Arendts, auf die Bedeutung der Öffentlichkeit als Raum der Wahrheitsentstehu ng hingewiesen zu haben. Wer so mit dem RUcken zur Wand steht, dass er glaubt, nur noch mit dem Hinweis auf sein persönliches und wiederholt abgelegtes Ehrenwort seinen Glaubwürdigkeitsverlust kompensiere n zu können, ist politisch am Ende; ihm wird auc h das Ehrenwort nicht mehr abge nommen. Wer es abgibt, harre es wohl nötig. Ganz im Gegenteil vermutet das Publikum hinter diesem Schwur nur die schwitzende Angst des übe rfü hrte n, das Erschrec ken des ..bleichen Verbrechers" (Nietzsche) über die Ausweg losigkeit sei ner Lage. Die Wirkung der LUge setzt also Aufna hmebe reitschaft der Belogenen voraus. Auch das hat schon Machiavelli gew usst. Parallelen zur entwic kelten liberaldemokratischen Ordnung unserer Tage drängen sich auf. Da wird zwar mit dem Etikett der " Politik- und Parteienverdrossenhelt" der ziemlich missverständlich so genannten " politischen Klasse" ein übles Leumundzeugnis ausgestellt, abe r trotzdem werden die so Gescholtenen gewählt. Und bricht mal einer der Akteure mit den Ritualen de r Sche inhaftigkeit, zeigt etwa ei ne Partei ehrlich, dass sie in bestimmten Fragen uneinig, ja zerstritten ist, so gilt sie als regierungsun fähig und unwäh lbar. Viele können offensichtlich au f den Eindruck innerparteilicher Gesc hlossenheit nur schwe r verzichten, folgerieb-
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tig wird sie von den Parteien mal mehr, mal weniger erfolgreich inszeniert. Mit den Lügen ist es wie mit dem Tango ~ es gehören immer zwei daz u.
8.3 Lüge a ls Last Erinnern wir uns noch einmal an einen Abschnitt aus dem Essay von Hannah Arendt über " Wahrheit und Politik". Sie fragte danach, was es für die Individuen und ihre politische Vergesellschaftung bedeutet, wenn der Raum der Öffentlichkeit keine Wahrheitserwartung mehr hervorbringt. Wie wachsen etwa Kinder in soziale Systeme der strukturellen Verlogenheit hinein? Die Autorin bezeichnet mit diesen Bemerkungen den Spannungsbogen, der sich über das Verhältnis von Lüge und Wahrheit (nicht nur) in der Politik erhebt. Die Lüge bleibt deshalb etwas Verbotenes, weil ohne die Fiktion des Vertrauens keine Sozialität der Menschen, ja noch nicht einmal individuelle Identität entstehen und sich auf Dauer erhalten könnte. In der Unwahrheit, im Betrug verweigert der Täter seinem Gegenüber die Anerkennung als Mitmensch; der wird zu einer beliebig manipulierbaren Sache. Diese Verleugnung des Alter Ego korrespondiert mit einer weiteren in der Lüge angesiedelten Asymmetrie. Denn der Lügner muss geradezu die Wahrheitsgläubigkeit seiner Opfer voraussetzen. Gingen diese davon aus, dass gelogen und betrogen wird, so würde die Lüge ja ihre Absicht verfehlen. Die Lüge kann nie zur sozialen Norm werden, weil sie die Erwartung voraussetzt, dass es einen Verhaltenskodex der Ehrlichkeit gibt. Und gesellschaftliche Verknüpfungen können nur entstehen, wenn diese Erwartung nicht ständig enttäuscht wird. Wir können in der Welt nur überleben, weil wir davon ausgehen, uns auf uns selbst und auf andere verlassen zu können. Jedenfalls ist der Glaube daran unabweisbar notwendig für das Funktionieren von Gesellschaft. Im Positiven wie Negativen. Die Lüge verletzt diesen Sicherheitsanspruch und entfaltet so eine asoziale oder gar anomische (gesellschaftsauflösende) Dynamik. Eine Gesellschaft, in der alle lügen, geht an ihren eigenen Paradoxien zu Grunde. Es wäre wie in dem klassischen Lügenparadox des Kreters, wonach ein Schiffbrüchiger an das Ufer einer ihm unbekannten Küste gespült wird. Der erste Mensch, den er trifft, gibt auf die Frage des Gestrandeten, wo er sei und wen er vor sich habe, die Antwort: ,,Auf Kreta. Ich bin Kreter. Aber seien Sie vorsichtig, alle Kreter lügen". Unser Schiffbrüchiger bleibt rat- und crient ie-
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rungs los zurück, denn wenn diese Aussage gelogen ist, dann kann er s ich nicht auf sie verlassen , obwohl sie wahr ist. Und wenn sie wahr ist. dann ist sie gelogen . Bezieht das Individuu m die LOge auf sich selbst und stellt etwa über sich fest : ,.,Alles, was ich sage, ist gelogen", bricht es zusammen, weil es sich in einem unlösbaren Problem verfangen hat. Epimenides (ca. 600 v. Chr.), von dem dieser Schrecken der Selbstverständlichkeit des Lügen sta mmt, soll aus Verzwei flung über die Unhaltbarkeit d ieser Selbstaussage n in tiefe n 57 jährigen Schlaf verfallen sein. Lügen, so lautet die Botschaft, führen zum Systemtod. individuell und gese llschaftlich. Wem abe r die Sorg e um das allgemeine Wohl zur Aufgabe gemacht wurde, wie dem Politiker, der darf sich nun nicht so betriebsgefährdend verhalten. Vielleicht nimmt man ihm des halb Lügen besonders übel, vielleich t ist auch deshalb die Gla ubwürdigkeit von Politikern so geri ng. Auf die f rage, wem man denn am wen igsten vertraue, antworteten kürzlich die reprä sentativ Befragten: " den Politikern" . An zwe iter Stelle der Misstrauen sHitparade folgte n Versic herungsvertrete r. Diejenigen, die uns sichern sollen, stehen bei uns also nicht hoch im Kurs. (Aber das könnte auc h mit dem Gefühl allgemeine r Verunsicherung zu tun ha ben und weniger mit der moralischen Beschaffenheit diese r Berufsgruppen.) Wir könne n also festhalten, dass die Lüge verboten sein muss, damit s ie funktionieren kann. Im Bereich des politischen Handeins entsteht hier abe r trotzdem keine paradoxe Situation einer moralischen Verurteilung der Lüge, bei gleichzeitiger Praktlzlerung des Verbotenen. Denn es gibt (nicht nur) in der Politik nicht das Gebo t, immer die Wahrheit zu sage n. Wobei wir hier zunächst noch einmal offen lassen, was das denn überhaupt sein kann: die Wahrheit. Niemand sagt immer seine Wahrheit, von der Wahrheit einmal ganz zu schweigen. Wir klären in der Regel unsere Mitme nschen nicht ständig über unsere .,a uthentischen" Gefü hle ihnen gege nüber auf, wir sagen nicht immer unsere Meinu ng. Denn das wäre oft unkl ug und häufig - denke n wir an unsere Meinung über bestimmte Eigenschaften Dritter - unhöflich, verletzend, aggressiv. Nein, die Forderung nach permanenter Wahrhaftigkeit ist auch naiv, und Naivität gehört in der Po litik zu den gefäh rlichste n Eigenschaften . Was als allge mei ne Mora l unbestreitbar zu sein sc heint - nicht zu lügen ist im Raum des Politischen nur von beg renzter Relevanz. Nach dem bisher
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Gesagten stellt sich nun endgültig die Frage, was denn Wahrheit in der Politik überhaupt ist oder sein kann.
8.4 Wa hrheit in der Politi k Der Begriff " Wahrheit" verwies lange Zeit auf religiöse Offenbarung und/oder eine philosophische, erkenntnistheoretische Diskussion. Die Philosophen, die Weisheits- und Wahrheitsliebenden. versuchten durch die Anstrengung des Begriffs ein authentisches Abbild der Wirklichkeit zu gewinnen. Platon (ca. 428 - ca. 347 v. Chr.) hat das im siebten Buch seiner Abhandlung über den "Staat" in das berühmte Höhlengleichnis gekleidet. Danach ist die größte Zahl der Menschen den gefesselten Bewohnern einer Höhle gleich. die dem Höhleneingang, damit der Sonne, den Rücken zukehren und in ihrer dunklen Welt allein durch ein hinter ihnen glimmendes Feuer Licht erhalten. So können sie die Vorgänge in der hinter ihrem Rücken liegenden Welt außerhalb der Höhle allenfalls als Schattenriss wahrnehmen. Die Welt ist diesen Höhlenmenschen einen Scherenschnitt, ein Schattenspiel. Sie nehmen die schwachen Abbilder der Wirklichkeit fUr diese selbst und machen sich so ihre Gedanken und Meinungen über das Flackern an der Wand. Erst dem mutigen Philosophen, der bereit ist, seine Höhle zu verlassen und sich dem hellen Licht der Wirklichkeit auszusetzen, gelingen wahre Aussagen, die im Gegensatz stehen zu den däm mrigen Meinungen der zurückgebliebenen Höhlenbewohner. Nach Platon hat nun dieser Philosoph d ie Pflicht, seine Mitmenschen über die Wahrheit aufzuklären und von ihren falschen Bildern zu erlösen (Platon 1973, 226). Für ihn gibt es folgerichtig die Wahrheit nur im Singular. Sie erhebt sich über die Beliebigkelt und Vielzahl der Meinungen. Diese Sichtweise hat bis heute ihre überzeugten Anhänger. Die Unterscheidung von " wahr" und .unwahr' wird durch kluge Köpfe vorgenommen, kann quasi objektiv fcstgestelJt werden. Politik steigt hier zur exakten Wissenschaft auf, und es kann sicheres Wissen über ihre ..richtigen" oder "falschen" politischen Entscheidungen und Inhalte geben. Solche Verwissenschaftlichung des Politischen gewinnt über die Fortschritts-Selbstsicherheit der Aufklärung, die Erfindung des Materialismus, den Siegeszug der Naturwissenschaften insbesondere im 19. Jahrhundert, die Marx' sche Interpretation Hegels und die Vulgarisierung von Marx im so genannten .wtssenschan -
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liehen Sozialismus und Kom munismus" eine Dynamik, zu dere n Höhepunkt schließlich die Wahrhe itsdiktatur einer herrsc henden Partei wird . Dass das nicht funktioniert, hat nicht erst der Zusammenbruch des sogenannten " realen Sozialismus,,23 gezeigt. In den pluralistischen. atlantischen Demokratien ist demgege nüber auch scho n immer an etwas anderes erin nert worden: " non veritas fac it legem." Politik kennt keinen Unterschied zwischen der .Vernunttwahrhelt" - wie Hannah Are ndt sagt - und de n Meinungen : Erst in der heutigen Welt sind die letzten Spuren dieses uralten Gegensatzes von philosophischer Wahrheit und bloßer Meinung verschwunden. Weder die Wahrheit der Offenbarungsre1igioncn, die der gelehrten Polemik des 17. und 18. Jahrhunderts noch so viel zu schaffen machten, noch die Wahrheit der Philosophen, die den Menschen als einzelnen, außerhalb der Gemeinschaft. mit seinesgleichen, anspricht, geraten mit dem politischen Bereich in ernsthafte Konflikte. Was die Religionswahrheiten angeht, so hat die Trennung von Kirche und Staat sie zur Privatangelegenheit gemacht, und was die philosophische Wahrheit anlangt, so hat sie seit langem aufgehört, ihre Absolutheitsanspruche im Politischen geltend zu machen - es sei denn man nimmt die modernen Ideologien ernst und erklärt sie zu einem Religions- oder Philosophieersatz, was immerhin die Schwierigkeit hat, dass ihre Anhänger sie als rein politische Waffe verstehen und die Frage des Wahrheitsgehaltes ausdrücklich für irrelevant erklären. Es sieht also fast so aus, als sei der alte Konflikt endgültig beigelegt, und als sei damit der Streit zwischen Wahrheit und Politik verschwunden (Arendt 1972. 54).
Doch de r Stre it schwelt weiter. Heute wiss en wi r, dass Arendts Festste llung übe r d as Ende einer gefä hrliche n Verbi ndu ng von Wah rhe itsfragen und politischem Streit verfrüh t war. Fundamental isten jeder Couleur bezi ehen einen großen Tei l ihrer Aggressivität und Brutal ität aus de r Sic he rheit, im Besitz der Wa hrheit zu se in. Wer poli tisc he Auseinan dersetzungen zu Wa hrhe itsfragen stilisiert und damit d ie Legitimität aller an deren, abweichenden Meinungen bes tre itet. ist in der Rege l ve rhan d lungs - un d kompromi ssunfähig. Wah rheit ist eben nicht aushandelbar. A ushande ln ge hö rt abe r in de n innersten Kern des Po litischen .
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Ein wirklich kurioser Begriff
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Doch wollen wir uns hier nicht länger mit solchen Fundamentalismen beschäftigen; sie markieren Abgrunde. Noch aus einem anderen Grund ist die Wahrheit nicht gänzlich aus dem Politischen verschwunden. Neben der oben beschriebenen großen Wahrheit von Sinn und Ziel spielen Auseinandersetzungen über richtige und falsche Tatsachendarstellungen in der Politik eine große Rolle (Arendt 1972, 54t). Über die Konstrukt ion von Wirklichkeit dringt die Unterscheidung "wahr/unwahr" wieder in das politische Handeln ein. Beispiele für diese Art der Produktion von "Tatsachenwahrheiten" sind Legion. Man denke nur an die Klitterung der Geschichte der KPdSU je nach politischer Wetterlage. Da gerät Leo Trotzki, der Gründer der Roten Annee und der Retter der bolschewistischen Revolution, unter Stalin zur Unperson und verschwindet einfach aus den Geschichtsb üchern dieser Revolution. Fotografien, die ihn zeigen, werden retuschiert. Ein anderes Beispiel, aus einem anderen politischen System: Bis heute findet in der Bundesgebiet Deutschland eine Debatte über die von regulären Wehrmachtsverbänden (und nicht von so genannten SS-Einsatzgruppen) begangenen Greueltaten an der Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete eher verschämt statt. Ein weiteres Exempel: Die Flucht und Vertreibung der damallgen deutschen Minderheiten ist wiederum in Polen oder Tschechien bis heute mit einem Tabu belegt. Politisch streiten heißt auch über Tatsac hen streiten, bedeutet Wirklichkeit und Wahrheit zu konstruieren. Für unsere Fährtensucherin im unwegsamen Gelände von Lüge und Wahrheit, Hannah Arendt, ist mit diesem Streit um ..Tatsachen" eine besondere Qualität verbunden (Arendt 1972, 72). Bei den ..Vemunftwahrheiten" kann es eine Lüge, also eine bewusste Unwahrheit, nicht geben, weil es hier keine Folie des Wahren und Wirklichen gibt. Das reduziert zwar die Spannung zwischen solcher Wahrheit und dem Politischen nicht, aber verweist den Begriff der Lüge auf das Feld der Tatsachenbehauptungen beziehungsweise , ihrer Leugnung. Arendt verliert hier für einen Moment ihren Orientierungssinn, geht sie doch davon aus, dass es im Bereich der Tatsachen ..elementare Daten" und .Unumst ößlichkeir' gibt. Wir wissen über die wirkliche Rolle Trotskis Bescheid, wir kennen die Greueltaten der Wehnnacht, es kann kein Zweifel gehen an der Brutalität der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Südoste uropa. Doch diese scheinbare Sicherheit für das Urteil über ..wahre ..und ..unwahre" Aussagen verflüchtigt sich bei genauerem Nachdenken, denn Tatsachen wirken nicht als Tatsachen, sondern nur innerhalb eines Bedeutungsrahmens, der sie umgibt.
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Tatsachen als solche bedeuten nichts, sind sozusagen erst einmal Rohlinge; erst im Kontext vo n Zusch reibungen we rden sie zu Tatsachen geprägt. Auch dieser Sachverhalt soll an e inem Beispiel verdeutlicht werden. Am Ende des vorletzten Jahrhu nderts fahndete man innerhalb des Gene ralstabs de r französischen Armee nach einem für Deutschland spionierenden Verräter in den eigenen Reihen. Sch ließlich galt de r aus dem Elsass stammende Jude Alfred Dreyfus als der Täter. Dreyfus wurde zu langer Haft verurte ilt. Obwohl sehr schnell deutlich wu rde, dass er das Opfer einer M ilitär- und Justizintrige geworden war, dauerte es obe r ein Jahrzehnt, bis er freigelassen und
halbwegs rehabilitiert wurde. Die zuständigen Militärrichter weigerten sich bis zum Schluss, ein Fehlurteil einzugestehen. Mehr noch: bis vor kurzem hielt der Geheimdienst der französischen Annee an der Meinung fest, Dreyfus sei doch der Verräter gewesen. Wir als historisch geschulte Beobachter wissen es zwar besser. Aber versetzen wir uns für einen Augenblick in die Rolle von Geheimdienst und Militärric hter. Wir wären sozialisiert worden in die Vorurteilstruktur der Institution dieser Zeit, in ihren Antisemitismus. ihr Vertrauen in militärische Hierarchien und ihren Glauben an die Größe Frankreichs. Gäbe es dann für uns so etwas wie ..elementare Daten" , die die Unschuld des Hauptmanns bewiesen? Wäre es so, hätten wir ihn nicht verurteilt (vom Fall der verbrecherischen Rechtsbeugung einmal abgesehen). Nein, Tatsachen an sich sind nur scheinbar objektiv und unbestreitbar; sie werden immer in einen Wahrnehmungsrahmen hinein gebaut. Und auf den kommt es an. Deshalb verpuffen die Bemühungen investigativer Journalisten sehr oft. die immer zur Tatsachenwahrheit vorstoßen wollen und dann feststellen müssen. dass diese ihre Wahrheit überhaupt nichts ändert. So gelangte während des zweiten Golfkrieges (der UNO-Aktion zur Befreiung Kuwaits) ein deutscher Reporter nach Bagdad. Dort wollte er den Mythos entschleiern, die von den USA geführten Streitkräfte nähmen so genannte klinische Bombardierungen vor, unter der die irakisehe Zivilbevölkerung nicht sehr zu leiden hätte. Selbstverständ lich stimmt diese Behauptung von den klinisch reinen, chirurgisch geführten Luftschtägen" nicht; wie in allen modemen Kriegen gehörte auch die Zivilbevölkerung des Irak zu den Hauptleidtragenden. Dem Reporter war es gelungen, Tatsachen festzustellen, die bisher geleugnet worden waren. Aber hat diese Recherche die Einstellung der damaligen Öffent11
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23.5.1 Soft Skills In der gegenwärtige n Fachliteratur zur Empathie, mit der wir übrigens nicht ohne Schwierigkeiten zurechtkommen, wird Empat hie unter die soft skills eingeordnet, die " weichen Fähigkeiten" im Habitus eines Menschen . Empathie überschneidet sich mit anderen soft skills: Menschenkenntnis. intra- und interkulturelle Kompetenz; nonverbale Sensib ilität, Kritikkompete nz, Konfliktkompetenz. Motivierun gsverrnögen (hn ps/www.soft-skills.com/, Zugriff am 30.6.08). Empathle - der Königsweg des Verkaufens! Mit Empathie näher am Kunden Teil I 2-Tages-Seminar ..Was nützt ein hoher 10, wenn man ein emotionaler Trottel ist!" Diese Meinung vertrat der amerikanische Psychologe Danie1 Goleman bereits Ende der 90er Jahre. Heute ist es offensichtlich: Werte sind wieder gefragt! Die bestehende Fachkompetenz gilt es zu erweitern um psychosoziale Handlungsweisen wie die Koopcrations- und Kommunikationsfähigkeit. Diese Schlüssclquaüflkalionen ergeben in der Gesamtheit: begeisterte Kunden! In diesem z -Tagcs-Trainlng erhalten Verkäufer und vertriebsorientierte Führungskräfte wertvolle Hilfen zum sicheren Verkaufsabschluss sowie zum Aufbau von Beziehungskompetenzen. auch bei so genannten .schwicrigcn Kunden' . Nach den Trainingseinheiten fallen den Teilnehmern die Verkaufsgespräche deutlich leichter. Im Ergebnis drückt sich das in gestiegenen Umsätzen und dauerhaft erfolgreichen Kundenbeziehungen aus. (htlp://v:ww.vi m-seminare.de/ s-empathie I.htm Zugriff am 16. 6. 2008)
Diese pädagogi sch-verkaufspsycholog ische Perspektive bringt sicher Gewinn. Aber sie hat das Nachdenken über Empath ie sehr weit in die Richtung der Kommerzialis ierung getrieben. Sicher, seine Empathie-Befähigung kann man auf- und ausbau en (bis zu einem gewissen G rad jedenfalls). Abe r viele Kurse, die hierzu angebote n werde n, wollen zu nichts anderem als zum besseren Verkaufen anleiten. Da bekommt Empathie leicht den Ruch des Manipulativen ; das ist bedauerlich.
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23 Toterans und Empcuhie
23.5.2 Empathie und Solidarität Empathie in der Politik . erwä hnt man sie einem Polit iker gegenüber, ist zumeist Ach selzucken die Reaktion. Empath ie gilt ma nche n hart leib igen Profis der politischen Praxis und der politischen Theorie als welcheiEigenschaft . Dabei wissen wir alle aus eigene r Erfahrung, wie viele Fehlurteile. Falschwahmehmungen und Missverständnisse dadurch zustande kommen, das s die Menschen in Situatio nen. in denen sie individuell ode r kollek tiv ihre Interessen und Ziele gegen- und miteinander abgleiche n müssen, zu wenig Verständnis für die Beweggrunde ihrer Gegenübe r haben. Vor dem Hintergrund der gerad ezu wütend voransch reite nden Glo balis ierung hat sich imme rhin ein Diskurs über die Notwendig keit, Möglichkeiten und Wege inter-kult ureller Empat hie entwickelt, ohn e dass dies er Begriff dabei immer Verwend ung fände . Joana Breitenbach und Ina Zuk rig l (1998) haben in einem bemerkenswert frischen und opt imistischen Buch anha nd unzäh liger Beispiele für die These geworben, das s kulturelle Identität in eine r globali sierten Welt nicht als etwas Festes und ein gegen äuß ere Einflüsse abz usicherndes Gut gesehen, dass der Zusammenprall der Kulturen nicht mit den Meta phern von Krieg und Vernichtung gede utet werden darf. Kulturen und Zivilisat ionen stehen heute mehr denn je in eine m gegenseitigen Austausch- , Beeinflussungs- und Umbildungs proze ss. Dazu, schließen wir, braucht es inter-kult urelle Empathie , ohne we lche jene als Schlagwort inzwischen schon prominent gewordene inter-k ultu relle Kompetenz nicht richt ig auf die Beine kommt. Der iranisc he Philosoph Ram in Jahanbegloo, der von seinem Staat nicht gerad e sa nft behandelt wurde, hat in einem ausfü hrlichen Gesp räch übe r den Mode mls lerungsprozess in seinem Land a uf den Zusammenhang zwischen Empat hie und Solidarität hingewiesen : Die Studenten im Iran möchten mehr über westliche Kulturen wissen und über ihre Auffassungen von Religion, Demokratie, Philosophie und Kultur mit westlichen Intellektuellen diskutieren. Worum sie bitten, ist nicht Sympathie, sondern Empathie. Sie sind bestrebt, von anderen zu lernen und mündig zu werden. indem sie von anderen lernen. Entscheidend bleibt dabei, dass ,Empathie', im Gegensatz zur ,Apathie', die erwünschteste, ja sogar die einzig angemessene philosophische Einstellung zu unserem Kampf um politische Mündigkeit ist. Eine Zivilgesellschaft wie die unsere, die Tag für Tag alternative Formen der
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Gemeinschaft erlebt und entwickelt, bedarf der Empathie und der Solidarität. Empathie ist für uns die Vora ussetzung der Zugehörigkeit zu einer globalen örfentlichkeit (Jajanb egloo 2006, 1077).
Vernunft ohne Empathie nützt der politischen Urteilskraft wenig. Wenn es um das Zusammenleben von Menschen geht und ganz besonders um ihr politisches Treiben, kommt man weder mit dem Rückbezug auf die Natur, noch mit dem Rückbezug auf die Logik vernünftigen Denkens sehr weit (ein Stück weit schon, aber lange nicht weit genug). Erst über Empathie gelangt man zu den .Jhundvorgängen des sozialen Lebens" (Hondrichj'", was in unserer eigenen Sprache heißt: Erst über Empathie erfahren wir, dass wir mit Ambiva lenzen nicht nur leben müssen, sondern wir erfahren zugleich auch, wie wir das können. Empathie bildet den innersten Kern politischer Urteilskraft.
"" Für Hondtic h sind das : a) der Prozess des (möglichst angemessenen) Erwidern, oder Austa usche ns und b) der Prozess des w enens (- Einordnung von Sachverhalten in eine Präferenzskala ).
24 Kein Knlturrelativismus
Die Aufgaben einer Kritik der Urteilskraft richten sich stets auch nach dem Typ der Belastungen. denen man die Urteilskraft in eine r Generation, in einem Jahrhundert, in einem Zeitalter ode r in einer noc h größere n Zeitspanne ausges etzt sieht... Die kognitive Trefflichkelt der politischen Urteilskraft, einen aktuellen legislatorischen Innovations- oder Reformbedarf rechtzeitig zu erkennen, ent wickelt indessen niemand au f den Wegen, auf denen man die Kompetenzen eines wisse nschaft lichen Experten erwirbt, und umgekehrt (Enskat 2008, 641).
Empathie, Toleranz und Solidarität sind Eigenschaften und Verhaltensweisen, ohne die politische Urteilskraft verdorrt. weil es ihr an Fremdbezug mangelt. damit an Welthalrtgkelt. Man hätte doch, wird sich manch eine Leserin, manch ein Leser denken, das Buch mit diesem Kapitel enden lassen können. Auch wenn es nicht unbedingt unsere Art ist - ein wenig tönt aus diesem ersten unserer beiden Schlusskapitel das hohe Lied zwischenmenschlicher Freundlichkeit und der Beschwingtheit des Gutseinwollens hindurch. Freilich haben wir nichts gegen das eine, der wir uns selbst befleißigen, und das andere, von der wir allerdings annehmen, dass es für politische Urteilskraft, wenn sie wirklich gefordert wird, nicht ausreicht. Deshalb folgt ein zweites Schlusskapitel mit einer schon in seiner Überschrift klar lesbaren Aussage. Dieses Kapitel widerspricht dem vorigen nicht. Aber es zeigt eine Grenze auf, welche von Empathie, Toleranz und Solidarität nicht überschritte n werden kann, ohne dass diese sich damit selbst den Teppich unter den Füßen wegzögen. Dass am Ende dieses Buches ein Kapitel über Kulturrelativismus steht, ist aus zwei Gründen folgerichtig. Zum einen ist insbesondere aufgrund der globalen Transportmöglichkeiten für Personen und Güter ein Kontakt vielfaltiger unterschiedlicher kulturelle r Ordnungen und Identitäten unvermeidliche soziale Tatsache gewo rden. Wobei die Unvermeidlichkelt gesellschaftlichen Sprengstoff in sich birgt. wie die Abmessungen der in den unterschiedlichen kulturellen (und die sind nicht identisch mit geographischen) Räumen jeweils für unerträglich gehaltene Zumutungen zeigt, die mit den Stichworten "To-
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desurteil gegen Salman Rushdie" ode r .Karlkaturenstrelr' verbunden sind • Allerdings muss an dieser Stelle gleich klargestellt werden, dass sich solche Probleme nicht erst mit dem Erstarken des Islamismus stellen. Immer dann, wenn sich gegenUber den als natürlich empfundenen und wie selbstverständlich praktizierten gesellschaftlichen und politischen Regeln grundsätzliche Alternativen bemerkbar machen. entsteht eine häufig genug aggress iv unterflitterte Unsicherheit Uber den Umgang mit dem von vielen automat isch als bedrohlich eingeschätzten Fremden. Würde man hier das Kapitel schon abschließen. müsste die Frage nach der Relativität von Kulturen mit einem .J a'' beantwortet werden. Kulturelle Orientierungen und Praktiken sind immer von relativer Gültigkeit. Es gibt jedoc h einen anderen, viel wichtigeren Grund. sich mit dem Kulturrelativismus zu beschäftigen als den Wunsch. Trivialitäten zu konstatieren. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Ordnung und Identimten an sich fordert nämlich die politische Urteilskraft kräftig heraus. Das Problem der Stiftung politischer Einheit (kollektiver politischer Identität) anges ichts großer kultureller Unterschiede gehört heute zu den Belastungen der Trias Urteilen-Entscheiden-Handeln. von denen im Eingangszitat dieses Kapitels gesprochen wurde. Das zeigt sich nicht nur beim Blick auf die streitlustigen Debatten über " Multikulturalismus" oder die häufig zitierte .Polltical Correctness'', für die es eine passende deutsche Übersetzung nicht zu geben scheint (Hildebrandt 2005). Der Zusammenhang von Kulturrelativismus und politischer Urteilskraft ist auch deshalb genauer in den Blick zu nehmen, weil im kulturrelativistischen Diskurs Urteilen, Entscheiden und Handeln oft (allzu) kurzgeschlossen werden. Im folgenden soll uns aber gerade das Urteilen angesichts miteinander kaum oder gar nicht zu vereinbarender kultureller Identitätsmuster beschäftigen. Ethnisch-kulturelle, nicht zuletzt auch religiöse Vielfalt. die sich nur schwer auf einvernehmliche regulativen Ideen über die rechtliche und politische Ordnung zurückfuhren lässt. kennzeichnet inzwischen die Öffentlichkeit '" Viellälnges Malerial dazu präsennen lIenl) k M. Broder in seinen rasant geschriebenen Büchern .Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken" (Berlin 2006) und ,.Krilik der reinen Toleranz" (Berlin 2008). Bei allem sprachlichen Vergnügen und mitunter nickendem Einverständnis missfällt uns dann aber doch, dass so gar nichts über die e igentliche polinsehe Aufgabe, nämlich die Regulierung solcher Kulturkonflikte. d ie durch sarkastische Bemerkungen allein nicht e ingehegt werden, gesagt wird. Dem Autor scheint dazu nichts einzufalle n. Das iSIaber zu wenig.
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24 Kein Kulturrelativismus
in den liberalen Demokratien des Westens. Was soviel besagt wie: Diese Vielfalt lässt sich, selbst wenn man es wollte , nicht rückgängig machen. Sie lässt sich auch nicht mit Ass imilations- oder Integrationskonzepten glan bügeln. Auch ein an die Fremden, die Zu- oder Einwanderer übertragener Nationalismus oder Patriotism us scha fft nicht, was mit einem dunklen Euphemismus früher nationale Homogenität genannt wurde. Aber auch und gera de, wenn man von solchen VereinheitlichungsTräumen Absta nd geno mme n hat, entlässt uns dieser Sachve rhalt der ethnisch-kulturellen oder religiösen Vielfalt nicht in eine freundlich-hilflose Urteils-Unve rbindlichkeit. Den angesichts des Brisanz-Potentials politischer Urteile über die unterschiedlichen Wertesy steme hinweg (man denke etwa wiede r an den Karikaturenstreit in Dänemark) von einigen ängstlich gesuchte Ausweg, s ich dem Imperativ der Urteilsfindung nicht stellen zu müssen, gibt es nicht. Denn auc h hier gilt, dass ein Nichturteil auch ein Urteil ist. Nicht nur im Rechtssystem muss geurteilt und entschieden werden, sondern gerade auch in der Politik. Muss! Das ist nicht das Resultat eines sich seit der Aufklärung durchsetzenden und alle gesellschaftli che n Bereiche beherrschenden lcgalozentristis chen Vokabu lars (Vlsmann, Weitin 2008, 16). Vielmehr drückt sich hier eine grundlegende Voraussetzung de r Existenz politischer Gesellschaften aus, die eine Gre nze definieren, ohne dere n Aufrechterhaltung sie untergehen . " Who ls in?/Who is out?", das ist die zentrale Frage (nicht nur) jeder politi schen Organisation bis hin zur Staatsbildung.
24. 1 Untersc he id unge n un d W ertungen Wie wir schon in vorangegangenen Kapiteln gezeigt haben , s ind Unterscheidungen konst itutiv für das Verhältnis von Urteile n-Entscheide n-Handeln. Unterscheid ungen s ind nun aber zwangsläufig mit starken Wertungen verbunden. Erst die Untersche idung macht Anschlusshandlungen möglich, als Wertung, das heißt, als Entsc heidung für eine Seite der Untersc heidung. Wissenschaftshistorisch und politisch stand und steht dabei die Frage nach der Legitimität von Unterscheidungen angesl chrs der Vielfältigkeit menschlicher Lebenszusammenhänge im Zentrum einer Debatte, die verstärkt seit Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Stichwort .Kulturrelativis mus'' geführt wird. Diese Debatte hat entscheiden de Impulse aus der ethnologischen Forschung bezogen. Franz Boas, der als Begründer des ethnologischen Kul-
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turrelativismus gilt, hat in diesem Zusamme nhang immer wieder dara uf hingewie sen, dass j ede kulturelle Gruppe ihre eigene, einzigart ige Geschichte habe, abhäng ig zum Tei l von der je inneren Entwicklung der soz ialen Gruppe und zum Te il von äußeren Einflüssen, denen sie unterliegt ( Boas 1920, 317). Viele Ethno loge n wehre n sich gegen die weit verbreitete Vorste llung, wonach die Untersche idung von Kulturen quas i als Evolutionsgesch ichte aufgemac ht daherkommt und die beobachtbaren kulturellen Formen in einer Stufenfolge kultureller Entwick lung angeordnet werden, die von ungezügelter Wildheit der P rimitiven' zur triebdomes tiz ierten " west lichen" Kultur führe. Ruth Benedict, die sich ebenfa lls mit wichtigen Beiträgen an dieser ethnologischen kulturrelativistische Debatte beteiligt hat, fordert die Zurückweisung der Idee einer unablässigen Höherentwicklung und betont, dass die Anerkennung kultureller Relativität ihre eigenen werte in sich trägt. Sie fordert althergebrachte Anschauungen heraus und verursacht bei denen, die darin aufgewachsen sind, beträchtliches Unbehagen. Dann werden wir es zu einem wirklichkeitsnäheren Gesellschallsprinzip bringen und als Grund zur HolTnung und als neue Grundlage der Duldsamkeit ihn neben dem unsrigen bestehenden und ebenso gültige Kulturschemata anerkennen, welche sich die Menschheit aus dem Rohmaterial des nacktenSeins geschalTen hat (Benedict 1989, 45). Schaut man auf diese beide n Zitate, so ist kaum begreifbar. warum die Diskussion über die Relativität von Kulturen eine solche Sprengkraft entw ickelt hat. Dass es untersc hiedliche Kulturen gibt, und dass j ede Verstehensbemühun g bei der Rekonstruktion der jeweiligen Sinnbildungen anzusetzen hat, ist eine banale Feststellung. Das Untersche idungsprob lem steckt abe r gar nicht in dieser Beobachtung, sonde rn in der mit jeder Beobachtung verbundenen, unumgänglichen Zuschreibung von Bedeutung des Erfahrenen. Erst die Bewertung macht Wirklichkeitsorientierung überhaupt möglich. Die Vorstellung, alles sei gleichwertig, relativiert nun allerdings auch die Bedeutung der eigenen Kultur. Bei der Beobachtu ng des Fremden geht es also immer auch um eine Bewertung des Eigenen, des Nicht-Fremde n. Auf den ethnologischen Kulturrelativis mus. dessen oben zitierte Protagonisten ihre grundsätzlichen Überlegungen zur Frage der Beobachtung und Bewertu ng von Kulturen schon in de r erste n Hälfte des 20. Jahrhunderts angestellt haben, wird heute wieder verstärkt zurückgegriffen. Er ist zum Ausgangs- und
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Bezugspunkt einer binnengesellschaftlich ausger ichteten Kritik mit unterschied lichen weiten Horizonten geworden. Auf der einen Seite sollen mit seiner Hilfe festgefahrene Sichtweisen aufgelockert werden, die alles, was in der eigenen Kultur angelegt ist. als quasi natürlich und objekt iv anderen Kulturen in alle n wichtigen Punkten überlegen betrachten. Solche Auflockerunge n sind immer nützlich . Auf der anderen Seite ist der Kulturrelativismus. so kann man zu Beginn des 21 Jahrhunderts feststellen. mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem dam it einhergehe nden Zusammenbruch eines alternativen Programms zur bürgerli-
chen Gesellschaft zum neuen Fundament einer umfassenden Gesellschaftskritik aufgestiegen. Die Kritik am atlantischen Projekt der Modeme thematisiert mit einer gewissen rückwärtsgewandten Aggressivität ethnologische und kulturelle Vielfliltigkeit und zugleich die Vergangenheit der Kolonialgeschichte. Deren kulturimperialistische Bestandteile werden post-kolonial beklagt und verurteilt. Zugleich gelten andere als die eigenen Lebens- und Ge sellschaftsformen mitunter als die besseren, weil sie nämlich als von den Pathologien des Eigenen scheinbar freie Ordnungen erscheinen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist voll von Beispielen für eklatante Fehlurteile solcher Alternativmodelle zur bürgerlichen Gesellschaft. So galt einer großen Zahl westlicher Intellektueller der sowjetische Sozialismus als Realisierung der Menschenrechte, von Selbstbestimmung und Gerechtigkeit. von Humanität und Demokratie. Und heute lassen sich Stimmen hören, die angesichts einer für säkular gehaltenen Krise marktwirtschaftlicher Systeme davon schwärmen. dass der Islam mit seiner theologischen Lenkung von Gesellschaft und Ökonomie, mit der starken Betonung gemeinschaftlic her Werte, des Schutzes der Frau vor allgegenwärtiger Sexualisierung und Pomographisierung, mit seiner hohen Spiritualität viele Fehler des westlichen Liberalismus überwunden habe (von Braun. Mathes 2007). Nicht zufällig nimmt in diesem Diskurs der Begriff des ,.Eurozentrismus" die Funktion der entscheidenden Kampfvokabel ein. Es ist überhaupt nur verstehbar. bestimmte geopolltlsche Verortungen für an sich fehlerhaft und unmoralisch zu halten, wenn dahinter ganz bestimmte Vorstellungen über die Negativität einer solchen Benennung steht. Der Vorwurf des " Eurozentrismus" steht als Begriff für die systematische, bis heute anhaltende Unterdrückung und Ausbeutung anderer Kulturen durch die europäi sche Welteroberung seit der frühen Neuzeit und einer damit einhergehenden Schuld gegenüber nicht-atlantischen Gesellschaften . An dieser Stelle schalten kultur-
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relativistische Positionen einen Entschuldigungsdiskurs an, der seine geringe Substanz durch besonders hohles Pathos aufwe rten will. Beispielhaft für solche Art Urteilsschwäche können die Bemerkungen des ehemaligen USamerikanischen Präsidenten Clinton zitiert werden, der 1998 während einer Afrikareise sich für die vierhundertjä hrige Geschichte der Sklaverei entschuldigte (LObbe 200 I). Hier wird deutlich, dass es im Streit um den Kulturrelativismus gar nicht um die Frage einer richtigen oder falschen Beobachtung geht, sondern um die Bedingungen der Möglichkeit, politische Verhältnisse zu beurteilen und entsprechend zu handeln. Dabei spielt das Problem der Begründung von Handlungsoptionen die Hauptrolle. Das lässt sich beispielhaft an der Frage der Universa lität oder Kontextualität der Menschenrechte ablesen. Besondere Bedeutung hat dabei das Werk des amerikanischen Philosophen Richard Rorty, der sich intensiv solchen Begründungsfragen gewidmet hat.
24.2 Politis ch. nicht metaphysisch In Auseinandersetzungen über politische Fragen geht es nicht um wissenschaftliche korrekte Begründungen und höhere Rationalität, sondern um praktische Unterscheidungen. Da aber politisch sinnvollerweise nicht zwischen wahr/unwahr im Sinne zeitloser und allgemeingültiger Aussagen unterschieden werden kann und damit die Differenz von " Wissen" und " Meinung" auch in der Organisation des politischen Gesprächs keine Rolle spielen sollte, weil sie auf irrigen epistemologischen Annahmen beruht, werden alle politischen Fragen auf die regulativen Ideen des politischen Systems zurückverwiese n. In Demokratien etwa wird die Beantwortung der Frage, was gesche hen soll, nicht an Wahrheit gebunden, sondern an Abstimmungen. Für dieses Regelsystem gibt es nun aber keine Meta-Begründungen. Es ist einfach ein Bestandteil politischer Erfahrungen am Ende des 20. Jabrhunderts, dass es bessere Ergebnisse bringt, wenn diese Regeln eingehalten, als wenn auf Diktatur oder Anarchie gesetzt würde. Besser umfasst dabei sowohl inhaltliche Aspekte von Lösungen praktischer Probleme (Soll eine Umgehungsstraße gebaut werden. soll sich Deutschland am Irak-Krieg beteiligen. soll der Staat bestimmten Banken und Industrien in der Finanzkrise helfen?) als auch deren Legitimität und Akzeptanz. Die westliche Demokratie mit ihren das Individuum schützenden Grundrechten, politischer Partial-
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patlon, parlamentarisc her Repräsentation. Pluralismus der Werthaltu ngen usw. ist nicht schlüssiger zu begründen als andere Herrschaftsformen. Sie ents pricht nic ht einem erkennbaren " Wesen" des Menschen und ist nicht historisch notwend ig. Sie ist kont ingent und eine Idee des Politischen unter vielen. John Raw ls hat in dem Aufsatz .J ustlce as Fairness - Polit ical not Metaphysic al" auf die Unmög lichkeit einer universalistisc hen philosophi schen Begründung des gerechten Politischen hingewiesen: Der wesentliche Punkt ist dieser: Als praktisch-politische Angelegenheit kann keine allgemeine Moral-Konzeption die Basis für eine öffentliche Konzeption der Gerechtigkeit in einer modemen demokratischen Gesellschaft liefern. Die sozialen und historischen Bedingungen einer solchen Gesellschaft haben ihren Ursprung in den auf die Reformation folgenden Religionskriegen und in der Entwicklung des Prinzips der Toleranz und im Anwachsen der konstitutionellen Regierung und der Marktwirtschaft. Diese Bedingungen bestimmen zutiefst die Anforderungen an eine funktionsfähige Konzeption der politischen Gerechtigkeit: Eine derartige Konzeption muss Spielraum lassen für eine Mannigfaltigkeit von Lehren und für die Pluralität kontligierender, ja miteinander inkommensurabler Konzeptionen des Guten. die von den Mitgliedern der existierenden demokratischen Gesellschaften vertreten werden (Rawls 1985. 225).
Po litisch e Diskurse stehen immer in bestim mten sozio-historischen Ko ntexten. Rechtfertigung und Begrilnd ung si nd soz iale Projek te. für die es kei ne ..K önlgsweg e'' g ibt: Die einzige Gestalt. die eine pragmatische Rechtfertigung der Toleranz, der Forschungsfreiheit und dcs Strcbens nach unverzcrrtcr Kommunikation annehmen kann. ist ein Vergleich zwischen Gesellschaften. die diese Gewohnheiten aufweisen, und Gesellschaften, in denen sie nicht existieren - ein Vergleich. der dann zu der These hinführt, dass keiner, dcr beide Gesellschaftsformen erlebt hat. die letztere bevorzugen wird (Rorty 1988. 25).
24.3 Fin ge rnäge lbe ispiel Das Plädoye r für libe rale, sozia l-demokratische Gese llsch a ften (w enn man so w ill, für das atlantische Projekt der indus triellen und po litisc hen Mod erne) ist das Ergeb nis vo n konkreten Beobachtungen. Erfahrung en, Urteilen . Ein Bei-
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spiel soll diesen selbstverständlichen Zusammenhang von Vergleich, Wertung und Entscheidung verdeutliche n: Eine Mitarbeiterin der britischen Botschaft im Iran wurde von Ordnungskräften auf der Straße angehalten, weil sie ihre Fingernägel lackiert hatte und damit gegen iranische Vorschriften zur Bekleidung und Kosmetik von Frauen verstieß. In aller Öffentlichkeit und mit physischer Gewalt haben dann die Ordn ungskräfte der Betroffenen den Lack von den Nägeln gerieben. Will im Ernst je mand behaupten, er brauche für die Bewertu ng dieses Vorgehens der iranischen Polizei und für die Entscheidung, ob er lieber in London oder Teheran lebe, universelle, überhistorische Kriterien? Nun kann man darauf hinweisen, dass im Iran dieses Vorgehen anders beurteilt würde. Doch diese unterschiedliche Bewertung verdeutlicht ja gerade, dass es bei der Rechtfertigung von politischen Ordnungen nicht um " objektive" Wahrheiten geht, sondern um Praxis und Geschichte. Auch Argumente versagen hier, denn dem iranischen Wahrheitskontext, um im Beispiel zu bleiben, ist mit ,.guten" Argumenten nicht beizukommen (uns auch nicht). Die Begründungen, die wir geben könnten, sind "g ute" Argumente in unserem Rechtfertigungsprojekt des liberalen, säkularisierten, sozialen Rechtsstaates, der seine Legitimation in seiner dreihundertjährigen Geschichte findet. Wir können also nur auf die bessere Praxis verweisen; die ist im übrigen nicht relativ. In der Auseinandersetzung zwischen antagonistischen Ordnungen geht es dann auch nicht um " bessere"; "überzeugendere" Argumente, sondern um "erfolgreiche" Argumente, etwa - um nochmals im Beispiel zu bleiben - erfolgreich in der Abwehr fundamentalistischer Angriffe auf (post)moderne normat ive Unübersichtlichkeit. Toleranz und Pluralismus oder erfolgreich im Werben für den Ausbau eines politischen Gemeinwesens, das individuelle Freiheit und Solidarität verbindet und den Zusammenhang von Selbstbestimmung und politischer Partizipation praktisch werden lässt. Überlegungen zur politischen Ordn ung und ihrer Verbesserung sollten deshalb ihre philosophischen Begründungsansprüche (im engen, rep-räsentationstheoretischen Sinne) aufgeben. Notwendig ist Empirie, notwendig sind Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaft. die fremde Praxis erkunden und verstehen lernen, die sich als Wirklichkeitswissenschaften verstehen und nicht als moralphilosophische Hilfswissenschaften.
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24,4 Mensche nrechte und Kon tingen z
An dieser Stelle ergibt sich die Schwierigkeit (etwa in der politischen Bildung), die Parteinahme für pluralistisch verfasste Systeme argumentativ stützen zu müssen. wenn man denn andere für seine politische n Vorstellungen gewinnen möchte . Gerade weil es nicht um universelle Geltunge n gehe n kann. bleibt auch diese Position an einen spezifischen Rechtfertigungs kontext ge bunden. Das Plädoyer für westliche Demokratie kann nur solche Gesprächs partner erreichen, die erstens jene Offenheit des Verstehcns praktiz ieren und die darüber hinaus zweitens an der Sicherung und Verbesserung demokratischer Systeme interessiert sind. Faschisten und Fundamentalisten j eder Cou leur sind schwer zu erreichen (obwohl man die Hoffnung nie aufgeben soll, dass sich diese verändern). Das Bewusstsein der Kontingenz bestimmt die liberalen Ironiker auch in ihrer Selbstwahrnehmung. Den " Kern" ihrer personalen Identität, ihre Authentizit ätsräume des Gewissens, der Sprache, der Moral können sie als Resultat zufälliger gesellschaft licher Interaktionen und ihrer eigenen Sprachverwendungen, Metaphern, Zuschreibungen begreifen (Rorty 1989, 110). Diese Fähigkeit zur Selbstrelat ivierung und Selbstneuschöpfung macht sie zu Idealbürgern der Demokratie, die insbesondere die Kunst ausbilden können, Neubeschreibungen zu erproben und Kontingenz durchzuspielen. Aber diesen Entwurf kann nur derjenige teilen, der an der Verbesserung von Demokratie interessiert ist und Ambivalenz aushalten kann. Hier zeigt sich noch einmal, dass sich viele Aspekte politischer Urteilskraft im kulturrelati vistischen Diskurs wiederfinden. Das Ironische druckt das Bewusstsein der Relativität des eigenen Standpunkts aus, ohne auf Wertungen zu verzichte n. Politische Argumentationen finden in einem bestimmten Raum und einer bestimmten Zeit statt. Die menschenrechtlichdemokratisch orientierte politische Philosophie hat ihren Rechtfertigungskontext, ihren Platz in den westlichen Demokratien, und ihre Zeit ist gekennzeichnet durch die Herausforde rung des Liberalismus nach dem Ost-WestKonflikt und dem allgemeinen Zerfall überkommener ideologischer, gese llschaftlicher, politischer Ordnungsmuster nach seinem Ende. Diese Einbettung führt etwa Richard Rorty zu einer Ablehnung aller Geltungsansprüche. die ihre Stärke in der Transzendierung solcher Zentrierung sehen. Das wird ganz besonders deutlich an seiner Zurückweisung universeller Menschenrechtsbegründungen. Menschenrechte sind Teil der Geschichte des Projekts
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der euro-amerikanischen Aufk lärung und ihrer polit ischen Konsequenzen , aber sie haben nichts mit exaktem Wissen über die eigentlichen Ansprüch e aller Menschen zu tun: Wir Anhänger des Pragmatismus argumentieren vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Entstehen einer Chana der Menschenrechte als Ausdruck bestimmter politischer Überzeugungen nichts mit vermeintlich höheren moralischen Wissen zu tun hat, sondern mit der Wirkung trauriger und gefühlvoller Geschichten (Rorty 1998, 172). Im Rahmen westlicher Demokratien hat sich eine .eurozentrtscne menschen rechtliche Kultu r" (Rorty 1998, 178) herausgeb ildet, die keiner Begründung bedarf, sondern kultureller Pflege der ihr entsprech enden Gefühle des Engagements für bedrohte Individuen und Völker, gegen Krieg, Unterdrückung, Gew altregime usw. Gegenüber Menschenrechtsverletzern helfen keine Hinweise auf die universelle Geltung von Definitione n des Menschseins, sondern allenfalls Sankt ionen, dere n Einführung abe r allei n von dem politischen Willen der Menschenrechtsbeflirworter, also von " uns" Eurozentri sten, abhängt. Dieses Wollen speist sich nun eben nicht aus höherer Rationalität, größerem moralischem Wissen ; es ist vielmeh r A usdruck einer spezifischen, zufällige n. erfolgreichen, lebenswerten Praxis westlicher Demokratien . Dieses Bewusstsein sollte Menschenrechts politik fund ieren. Den " anderen" gegenüber ist nicht die Haltung über legene n Wissens und unumstößl icher Wahrheit angebrac ht. Auch gegenüber den "Bösen" , den " Barbaren" (Schneider 1997) besteht Hoffnung, diese in die e uropäische Mensche nrechtskultur integrie ren zu können: Diese .Bösen" sind weder weniger rational, weniger gescheit oder vorurteilsbelasteter als wir .G uten'', die Anderssein respektieren. Das Problem der "Bösen" ist eher, dass sie nicht das Glück hallen, in solchen gesellschaftlichen Verhältnissen aufgewachsen zu sein wie wir (Rorty 1998, 180). Der Verzicht auf Begrilndung in Form universeller Geltungsansprilche bedeutet, dass die vermeintliche Sicherheit unbezweifel baren Wissens aufgegeben werden muss und der einzelne auf seine Entscheidung, sein Wolle n verwiesen bleibt. Seine Handl ungen können nicht mehr durch Hinweise auf unabwei sbare und über den einzelne n stehende Insta nzen, historische Ge-
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setzmäßigkeiten, Ga tte r, Experten. Ontologien legitim iert werden. Rorty indivi dualis iert se ine po litische Philosophie radikal, indem er die Subje kte mit ihrer Verantwo rtlichke it konfrontiert. Begründungen sind dann Beschreibungen der je eigenen Identität, der Wünsche, Absichten, Gefü hle. Diese Erzä hlungen sind durch die Hoffnung motiviert, sich anderen verständlich zu
machen und im Sinne der eigenen Geschichten zu verändern. die eigenen Metaphern zu den ihrigen zu machen, damit aus de r ersten Person Singular ein ..wir" werden kann. Die Praxis ze igt, dass solche Erweiterungen Gesellschaften begründen . Da bei ist Em pfindsam keit (sent imentality) ein Schl üssel begriff; die Individuen sollen für das Leid anderer sensibel bleiben. Abe r auch dafür gibt es keine Begrün dungen , die im wissenschaftlichen Sinne exakt zu nennen wären. Es macht für Rorty die Erfahrung mit politi schen Ordnungen aus, dass man dort besse r leben kann, in denen solche Gefühlskulturen zugelasse n werde n. Hier schließt er sich David Humes Überlegungen zur Sent imentalität an, in denen das Gefühl der Individuen im Mittelpunkt moralphiloso phischer Begründungen steht. Für Abstumpfung und Verhärt ung trägt j edes Individuum die Verantwort ung selbst. Wer für Menschenrechte eintritt, der tut dies, weil er es will, abe r nicht, weil eine höhere Pflichtethik ihn dazu zwingt. Gegen die Erfindung einer über den Mensc hen stehenden natürlichen. wissenschaftlichen, politische n Instanz, die die Individuen ihrer Selbstbestimmung entkleidet, unte rwirft und ihrer Verantwortlic hkeit ente ignet, wendet sich Rorry - wie vor ihm auch Dewey - vehe ment. Der Streit um Kontextualität oder Universalität der Menschenrechte zielt beispielhaft auf den Kern von Rortys Begriff der Geltung. Andere betone n hingegen die Universalität der Menschenrechte, etwa mit dem Argument, die Aussage, Menschenrechte seien universell gültig, heiße zunächst nichts anderes, als dass sie den Menschen als Menschen zukommen. nicht aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sozialen Position, ihrer Zugehörigkeit zu einer staatlichen, ethnischen, religiösen oder kulturellen Gemeinschaft. Wer den Anspruch aller Menschen auf gleiche grundlegende Rechte abstreitet, behauptet entweder, die Menschen seien nicht gleich, oder, als bloße Menschen hätten sie keinen Anspruch auf Rechte, sondern allenfalls als Glieder einer Gemeinschaft (Marti 19% , 264).
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Es fallt auf, dass es in dieser Argumentation kein Subjekt gibt, das für GüI· tigkeit sorgt. Marti denkt in essentialistischen Kategorien eines Rechts, das vorhanden ist, auch wenn es keine Akteure findet, die es auf sich und andere beziehen. Gegen diese Ontologie wendet pragmatisches Argumentieren ein, dass über Geltung/Nichtgeltung die Praxis der Individuen entscheidet. Die Kontext ualisierung der Menschenrechte führt den Zweifel in die Debatte ein, ob mit solcher Obj ektivierung eines Rechtsbegriffs die Menschenrechte begründet werden können. Wieder erkennt man hier die Grundlinien des Denkens von Rorty: Es gibt für ihn keine Entlastung der Akteure durch überhistorische Wahrheiten. Jede gelungene politische Philosophie betont Unsicherheit und Entscheidungszwang. Bei diesen Entscheidungen hilft die Erinnerung an gute Praxis. Es macht politische Urteilskraft aus, solche Erfahrungen zu artikulieren (Brodoc 2007). Der politische Diskurs ist von der metatheoretischen Ebene auf die Diskussion von konkreten, praktischen Vorschlägen zu orientieren, die Unterschiede machen müssen, um sich vom leeren Räsonieren abzuheben.
24.5 Urteilen heißt werten Nun könnten Kritiker auf das bisher Gesagte mit der Idee reagieren, die geschriebene Kontextualisierung der eigenen Positionen drücke einen Selbstwiderspruch aus. Doch die Beobachtung der Relativität liberal-demokratischer Ordnung bedeutet eben keine Relativierung der mit solchen Beobachtungen einhergehenden Bedeutungszuschreibungen. Die Debatte aber Kulturrelativismus und Multikulturalismus leidet offensichtlich daran, dass ihr Perspektivendualismus nur selten artikuliert wird. Im Moment der Beobachtung kann die dieser Beobachtung zu Grunde liegende Unterscheidung (und es gibt keine Beobachtungen ohne Unterscheidungen) nicht mitbeobachtet werden. Beobachten heißt den Blick konzentrieren und eine Auswahl vornehmen, nämlich das zu bestimmen, was unbeobachtet bleibt. Diese Auswahl vollzieht sich in der Beobachtung. wird aber im Beobachtungsprozess selbst nicht reflektiert. Genauso verhält es sich mit dem politischen Urteil, das aus der Perspektive des Urteilenden (erstePerson-Singular) nicht relativ sein kann. Die Frage nach dem Kulturrelativismus muss also verneint werden. Die Feststellung der Relativität setzt einen anderen Beobachtungsstandpunkt voraus (dritte-Person-Singular). Wir
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sind auf einen solchen Perspektivend ualismus schon im Bere ich de r Disk ussion über die Bedingungen der Möglichkeit gestoßen, überhaupt von Urteilsfreiheit reden zu können . Der Fre iheit leugnende ne urowissenschaftlic he Determini smu s steht das Freihe it notwendig vorau ssetzende Selbstb ild Hande lnder unvereinbar gegenüber. Auch das Relativ itätsproblem im kulturrelativi stisc hen Disku rs löst sich mit Blick auf diesen Perspektivendualismus. Selbst die Feststellung der Relativität gesellschaftlicher und politischer Ordnungen ist die nicht relative Aussage einer Pe rson, die dafür Gründ e angibt. Diese Begrü ndungsmögllchkelren können nun we iter unter sucht und beurteilt werd en. Welc he Gese llschaften lassen etwa Beobachtungen der Relativität zu und we lche nicht? Bei der Beant wortung diese r Frage wird schne ll kla r, dass die imm er wieder im kulturre lativi stische n Subtext beklagte n Pathologien des Eurozentrismus überhaupt nur einer Kritik unterzogen werde n können, we il se ine No nn en und Werthaltungen solche Kritik erm öglichen , ja ge wissermaßen dazu aufrufen. Ge nau das aber ge hört zur Qualität liberale r politi scher Ordnungen : dass sie Urteile über sich se lbst zulassen und hervorbr ingen. Erst in solchen Räum en des Sagbaren kann sich politische Urte ilskraft indiv iduell und ges ellschaftlich entfalten. Sie setzt die klas sischen individuellen Grundrechte voraus, sie setzt auf Individuen, die die Freiheit z um Urtei l besitzen, und sie trägt da mit zur Stärk ung der mora lischen Resso urcen liberaler Demokratie bei.
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