Hannibal Eine politische Biographie
Walter Görlitz _________________________
HANNIBAL Eine politische Biographie ____...
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Hannibal Eine politische Biographie
Walter Görlitz _________________________
HANNIBAL Eine politische Biographie ______________________
Voltmedia
ISBN 3-937229-00-0 © Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart Lizenzausgabe: Voltmedia GmbH, Paderborn Gesamtherstellung: Oldenbourg Taschenbuch GmbH, Kirchheim Einbandgestaltung: Oliver Wirth, Bonn Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhaltsverzeichnis I.
Karthago und Rom: Der erste Zusammenprall . . . . . 7
II.
Hamilkar Barkas – Retter Karthagos . . . . . . . . . . . . 19
III. Vizekönige in Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 IV. Der große Krieg beginnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 V.
Die Berge des ewigen Schnees – Marsch über die Alpen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
VI. Von der Trebia zum Trasimenischen See – Die ersten großen Siege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 VII. Der große Sieg: Cannae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 VIII.Von Capua nach Capua – Die politische Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 IX. Hasdrubals Kopf – Die letzte Hoffnung und die letzten Jahre in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 X.
Entscheidungsschlacht in Afrika . . . . . . . . . . . . . . . 238
XI. Gegen Rom – bis zum Tod von eigener Hand Reform in Karthago – Emigrantenschicksal . . . . . 263 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
I. Karthago und Rom: Der erste Zusammenprall Als Hannibal im Jahre 218 v. Chr. von Spanien aus über die Alpen nach Italien marschierte, war Alexander der Große etwas mehr als hundert Jahre tot. Das Bild des im Alter von 33 Jahren im Juni 323 verstorbenen Welteroberers, der vom heutigen Balkan, von Makedonien aus, bis nach Zentralasien und Nordwestindien gezogen war, beflügelte aber noch immer den Ehrgeiz und die Phantasie von Männern, die sich zu großen Taten berufen wähnten. Unzweifelhaft hatte auch Hannibal Alexanders Feldzüge studiert, und ebenso sicher erblickte er in Alexander den Prototyp eines Mannes, der für unmöglich gehaltene Taten verwirklicht. Alexander der Große hatte als Sieger über das persische Großreich die damalige zivilisierte Welt umgestaltet; Hannibal war dies nicht beschieden und dennoch zeitigte die Tatsache, daß er der kommenden Weltmacht einen beinahe todbringenden Existenzkampf aufzwang, in ganz anderem Sinne umwälzende Folgen. Es heißt, Alexander habe auch geplant, Karthago und Rom, die Stadtstaaten im zentralen Mittelmeer, in seinen Machtbereich einzubeziehen: für die hellenischmakedonische Welt ‚barbarische‘ Mächte, jenseits der klassischen Zivilisation, deren wirtschaftliches und militärisches Potential aber schon damals nicht zu übersehen war. Als Hannibal 247 oder 246 v. Chr. in Kar-7-
thago geboren wurde, beherrschten noch die drei Nachfolge-Reiche, die von Heerführern Alexanders gegründet worden waren, die Szene: das Reich der Ptolemäer in Ägypten, dasjenige der Seleukiden im Vorderen Orient und das Königreich Makedonien unter der Antigoniden-Dynastie. Mit den Ptolemäer-Königen und ihrer Staatsbank unterhielt man in Karthago gute Beziehungen. Hellenistische Wissenschaft und Kriegskunst strahlten weit nach Westen aus. Dennoch war Karthago, die Tochterstadt des phönizischen Tyros, das nun zum Machtbereich des seleukidischen Herrschers gehörte, wie Rom für diese Großstaaten mit ihrer verfeinerten Zivilisation und ihren wohlgedrillten Söldnerheeren Gebilde minderer Ordnung. Die Handelsstadt am Nordwestrand Afrikas mochte zudem in äußerstem Maße fremdartig erscheinen, weil die hier herrschende Oligarchie zäh an ihren phönizischen, altorientalischen Bräuchen festhielt. Wer aber damals die mittelmeerische Welt von der Byrsa, der Tempelburg Karthagos, aus betrachtete, konnte mit Stolz auf den Reichtum und die Flottenmacht des Stadtstaates verweisen, der zudem im libyschphönizischen Hinterland, dem heutigen Tunesien und Ostalgerien, über eine ertragreiche agrarische Basis verfügte und in jahrhundertelangem Kampf mit dem Griechentum Sizilien wie auch das ganze westliche Mittelmeer seiner Interessensphäre einverleibt hatte. Von -8-
Karthago aus gesehen war Rom mindestens bis zum Krieg von 264 v. Chr. eine Macht zweiter Größe, freilich ein immer ernster zu nehmender Konkurrent, seit Rom die griechischen Stadtkolonien Unteritaliens in seine Bündnispolitik mit einbezog. In früheren Jahrhunderten hatte Karthago danach getrachtet, seine Interessensphäre im westlichen Mittelmeer, vor allem was Seefahrt und Handel betraf, durch Verträge mit der Stadt am Tiber abzuschirmen. Als König Pyrrhos von Epirus, ein Neffe Alexanders des Großen und der Schwiegersohn des Königs Ptolemaios I. Soter von Ägypten, 281 v. Chr., von den griechischen Städten gerufen, in Unteritalien erschienen war, um nach Art des Onkels im südlichen Teil der Halbinsel und auf Sizilien ein neues griechisches Großreich zu gründen, hatten beide Stadtstaaten, wenn auch getrennt, Front gegen den Eroberer gemacht. Pyrrhos wurde sowohl von den Römern wie von den Karthagern auf Sizilien geschlagen. Die Politik der Koexistenz mußte jedoch zu Ende gehen, als sich Rom auf Sizilien in die Wirren in Messana (Messina) einmischte. Karthago hatte auf der Insel gut zweieinhalb Jahrhunderte gegen die Griechen gekämpft, um sich hier eine Basis zu sichern. Weder der phönizische Stadtstaat in Nordafrika noch sein ehemaliger Gegner, das hellenistische Königreich Syrakus, waren jetzt gewillt, das Übergreifen der römischen Macht auf die damals noch äußerst reiche und frucht-9-
bare Insel zu dulden. So brach 264 v. Chr. der erste jener drei Kriege zwischen Karthago und Rom aus, die die Historiker die ‚Punischen Kriege‘ genannt haben. Er zog sich 23 Jahre lang hin, nach damaligen Begriffen fast ein Menschenalter. In der ersten Dekade dieses Kampfes neigte sich die Waage zugunsten Roms. Was niemand für möglich gehalten hätte, wurde Wirklichkeit: Mit Hilfe der Bundesgenossen in Unteritalien vermochte Rom eine mächtige Flotte auszurüsten, die 260 v. Chr. die berühmte karthagische Flotte vor Mylae (Milazzo), an der Nordküste Siziliens, besiegte. Die karthagische Vorherrschaft auf See war zu Ende. Während die karthagische Flotte auf den Rammstoß, auf die Manövrierkunst in der Seeschlacht eingestellt war, führten die Römer unter ihrem Konsul Caius Duilius das System der Enterbrücken ein, so daß sie ihre schwere Infanterie auch auf den Kriegsschiffen zur Geltung bringen konnten. Im Jahre 256 v. Chr. landete eine starke römische Expeditionsarmee unter dem Konsul Marcus Attilius Regulus in Nordafrika und verwüstete das agrarische Hinterland des phönizischen Stadtstaates. Karthago bot den Frieden an, konnte aber die allzu harten Bedingungen des Konsuls nicht akzeptieren. Daraufhin ernannten die karthagischen Oberbehörden einen neuen Strategen (nach dem griechischen Wort strategos, Feldherr), einen Mann namens Hamilkar, dem ein in der hellenistischen Kriegswissenschaft bewanderter Kon- 10 -
dottiere aus Sparta, Xantippos, zur Seite stand. Mit Hilfe eines starken Korps von Kriegselefanten schlugen Hamilkar und Xantippos im Jahre 255 v. Chr. den Konsul Regulus bei Tunes, dem heutigen Tunis. Regulus starb als Kriegsgefangener im Kerker von Karthago. Einer der führenden Männer der karthagischen Oligarchie, Hanno, genannt der ‚Große‘, stellte mit harter Hand die Ordnung im Hinterland wieder her, wo nach dem Erscheinen der Römer unter den zinspflichtigen libysch-phönizischen Bauern auf den Latifundien der Stadtaristokratie Revolten ausgebrochen waren. Im Landkrieg auf Sizilien blieben zwar die Römer im Vorteil, doch errang die karthagische Marine noch einmal einen großen Sieg: Vor Drepana (Trapani) fügte der karthagische Flottenchef Adherbal der römischen Flotte empfindliche Verluste zu. Abermals bot Karthago Frieden an. Diesmal lehnte Rom ab. Die Fortführung des Krieges bewirkte einen allgemeinen Wechsel in den hohen Kommandostellen Karthagos. Welche Gründe dabei im einzelnen eine Rolle gespielt haben, wird in der uns noch zugänglichen dürftigen Überlieferung nicht recht deutlich. In das Jahr 247 v. Chr. fällt jedenfalls die Ernennung eines neuen Strategen auf Sizilien, eines an Jahren noch recht jungen – etwa 30 Jahre alten – Aristokraten. Hamilkar Barkas, der Vater Hannibals, erscheint auf der Bühne. Ob dieser bislang offenbar nicht hervorgetretene Stratege mit dem Sieger über Regulus verwandt war, der - 11 -
gleichfalls einen Sohn namens Hannibal hatte (er wird uns als Mit-Feldherr des Barkas noch begegnen) wissen wir nicht. Für gewöhnlich pflegten die Regenten dieses aristokratisch-großbürgerlichen Gemeinwesens voll Mißtrauen gegen die Befehlshaber ihrer Söldnerarmeen jeweils zwei Strategen zu ernennen. Regelmäßig wurden dem Strategen auch einige Mitglieder der ‚Gerusia‘ (Rat der Alten), des höchsten Gremiums der Oligarchie, als Ratgeber und Kontrolleure zugeteilt. Sie finden sich auch in den Stäben der Barkiden. Das mangelnde Vertrauen zu den Armeeführern war in diesem Handelsstaat traditionell, obwohl die Strategen stets aus den Reihen der herrschenden Aristokratie stammten. Von Hamilkar Barkas, dessen Beiname wohl am ehesten mit ‚Blitz‘ wiederzugeben ist, wird uns nur berichtet, daß er der Sohn eines Mannes namens Hannibal gewesen sei. Titus Catius Silius Italicus, ein römischer Senator und Landherr aus Campanien, zeitweilig auch kaiserlicher Statthalter in Kleinasien, der im 1. Jahrhundert n. Chr. ein siebzehnbändiges Epos über die Punischen Kriege verfaßte, erzählt, Hamilkar Barkas sei ein Abkömmling des sagenhaften Königs Belos von Tyros, der syrischen Mutterstadt Karthagos gewesen. Mag sein, daß das Abklatsch einer barkidischen Familienlegende ist. Viel wahrscheinlicher scheint jedoch, daß Silius Italicus, im Bemühen den Stil Vergils in der ‚Aeneis‘ nachzuahmen, diese Geschichte erfunden hat, um Hannibal eine erlauchte Abstammung zu verleihen.1 - 12 -
Wir können nur erschließen, daß Hannibal etwa um die Jahreswende 247/46 v. Chr. in Karthago geboren worden ist, wahrscheinlich zu einem Zeitpunkt, da der Vater schon als ‚Stratege‘ auf Sizilien weilte. Über die Mutter ist gar nichts bekannt. Es widersprach der altorientalisch-phönizischen Sitte, den Frauen eine besondere Rolle zuzumessen. Wäre sie indes nicht karthagischer Abstammung gewesen, würden die antiken Schriftsteller, Livius oder Cornelius Nepos, dies vermutlich als Besonderheit erwähnt haben. Vor der Geburt Hannibals müssen aus der Ehe Hamilkar Barkas vier Töchter hervorgegangen sein, die um das Jahr 240 schon das heiratsfähige Alter erreicht hatten. Der Vater vermählte eine von ihnen mit einem der Regenten Karthagos, Bomilkar, eine zweite mit einem ihm nahestehenden Politiker, Hasdrubal dem Schönen, zwei andere mit numidischen Prinzen, Berber oder, wie wir heute sagen würden, Kabylen-Fürsten, welch letzteres insofern von Bedeutung war, als die Numider die leichte Reiterei für die karthagischen Söldnerarmeen stellten. Aus dieser Heiratspolitik kann man schließen, daß das Haus Barkas erst mit Hamilkar zu politisch-militärischer Bedeutung im Stadtadel gelangt war und darum ein Interesse daran hatte, seine Position durch solche Eheverbindungen zu festigen. Hannibal folgten noch zwei Söhne, Hasdrubal der Jüngere und Mago. Da beide bei Ausbruch des Zweiten Punischen Krieges schon politische und militäri- 13 -
sche Funktionen übernehmen konnten, muß ihre Geburt etwa in die Jahre 241/238 v. Chr. fallen. Hamilkar Barkas war ein Soldat von außergewöhnlichen Fähigkeiten. Mit eiserner Faust stellte er die Disziplin unter den verwilderten Söldnerverbänden auf Sizilien wieder her. Meuterer wurden geköpft, gehängt oder vor versammelter Mannschaft bei lebendigem Leib ins Meer versenkt. In den karthagischen Heeren der Zeit dienten Griechen aus Sizilien und Unteritalien so gut wie Campaner, Liby-Phönizier aus dem berberischen Hinterland Karthagos, Spanier (Iberer), Kelten, Ligurer und Balearen; dazu kamen die Numider auf ihren schnellen Pferden. Diesem Völkergemisch verstand der neue Oberbefehlshaber nicht nur Gehorsam und Furcht vor seinen Exerziermeistern, sondern auch Vertrauen in sein Können einzuflößen. Die Lage auf Sizilien war schlecht, als Hamilkar das Kommando übernahm. Die römischen Streitkräfte blokkierten die letzten karthagischen Stützpunkte in Westsizilien, Lilybaion (Marsala) und Drepana (Trapani). Hamilkar Barkas konnte infolge der zahlenmäßigen Schwäche der eigenen Truppen nicht daran denken, die Entscheidung in einer Feldschlacht herbeizuführen. Er mußte sich mit kühnen Einzelunternehmungen begnügen, bei denen er Flotte und Landheer in kombinierten Operationen einsetzte. Zunächst bemächtigte er sich durch einen Überraschungsangriff des Eirkte, eines Bergstockes in unmittelbarer Nachbarschaft der frühe- 14 -
ren karthagischen Base Panormos (Palermo), die von den Römern besetzt worden war. Vom Eirkte aus führte er dann Kleinkrieg gegen das römische Nachschubzentrum Panormos und die rückwärtigen Verbindungen des Gegners, um die Abschnürung von Lilybaion und Drepana zu lockern. Etwa um das Jahr 244 v. Chr. wechselte er seinen Hauptstützpunkt und abermals gingen Flotte und Landheer gemeinsam vor: In einem nächtlichen Landeunternehmen bemächtigte er sich des etwa 750 Meter hohen Eryx (Monte San Giuliano) dicht vor Drepana, das noch immer von den Römern belagert wurde. Auf diesem steil aus der westsizilischen Ebene aufsteigenden Berg hatte der Sage zufolge Aeneas einst der Liebesgöttin Aphrodite einen Tempel errichtet. Die Römer hatten den stark ummauerten Tempelbezirk 247 mit Truppen gesichert. Dennoch gewann Hamilkar die Tempelburg für Karthago zurück. Nur im innersten Bezirk vermochte sich eine kleine römische Besatzung zu halten. Vom Eryx aus führte Hamilkar die nächsten drei Jahre hindurch Kleinkrieg gegen die römischen Truppen. Für die Fremdtruppen im karthagischen Heer war diese Art einer sich endlos hinschleppenden Kampfführung ohne große Entscheidungen eine harte Probe, zumal auch der Sold nicht mehr regelmäßig gezahlt werden konnte. Tausend Mann keltischer Reisläufer desertierten und schlossen sich den Römern an. Doch - 15 -
die Masse der Söldner hielt zu dem karthagischen Strategen, ein Zeichen, daß dieser punische Aristokrat ungewöhnliche Gaben in der Kunst der Menschenführung besessen haben muß. Im Grunde genommen war er jedoch selbst auf dem Eryx blockiert, so wie schließlich vier Jahrzehnte später sein berühmter Erbe Hannibal trotz noch so kühner Einzelunternehmen in Unteritalien von den Römern blockiert werden sollte. Die Entscheidung im Ringen zwischen der alten und der neuen Flottenmacht im westlichen Mittelmeer fiel auf See. Rom, das in diesem Krieg vier Flottengeschwader mit rund 650 Einheiten eingebüßt hatte, rüstete eine neue Flotte für die sizilianischen Gewässer aus, und zwar nach dem damals modernsten Schiffstypus: Vor Lilybaion hatte man eine karthagische Pentere, ein Schiff mit fünf Ruderreihen und Segeln erbeutet, mit der ein punischer Kommandant, Hannibal, genannt der ‚Rhodier‘, in den Hafen hatte eindringen wollen. Die römischen Schiffe wurden nun nach diesem Modell gebaut. Die römische Flotte verschärfte die Seeblockade der beiden letzten karthagischen Basen in Westsizilien. Damit wurde auch die Armee des Strategen Hamilkar beim Eryx von jeder Zufuhr abgeschnitten. Die Regenten in Karthago entschlossen sich zu einer großangelegten Entsatzoperation. Gedeckt durch ein Flottengeschwader ging ein Transport-Konvoi nach Westsizilien. Zum Flottenchef ernannte man wieder einen Offizier - 16 -
namens Hanno, möglicherweise einen Angehörigen des Hauses der Hannoniden, dessen Oberhaupt jeweils den Beinamen ‚der Große‘ führte. Am 10. März 241 v. Chr. stellte der römische Befehlshaber, der Konsul Caius Lutatius Catulus, bei der Ziegeninsel Aegusa vor der Westküste Siziliens die Karthager zur Schlacht. Aegusa gehörte zur Gruppe der Aegatischen Inseln. Hier war Homer zufolge Odysseus einst auf die Jagd gegangen. Obwohl der Wind ungünstig stand und der Konsul wegen einer Verletzung den Kampf nur von einem Ruhebett auf seinem Flaggschiff aus leiten konnte, griffen die Römer an. Sie vertrauten auf die Ruderkraft der neuen Penteren und das System der Enterbrücken. Und tatsächlich erlitten die Karthager eine fürchterliche Niederlage. In dieser Stunde war es Hamilkar Barkas, der den Regenten in Karthago riet, Frieden zu schließen. Wenn die römische Flotte endgültig alle Seeverbindungen beherrschte, konnte man den Krieg auf Sizilien nicht mehr lange fortsetzen. Ob er bei diesem Entscheid von der Idee bewegt war, daß man den Krieg beenden müsse, um ihn bei besserer Gelegenheit wieder aufzunehmen, wissen wir nicht. Die römischen und römerfreundlichen Schriftsteller, die unsere Hauptquelle für Hamilkar und Hannibal bilden, haben die Politik des Hauses Barkas so gedeutet. Das aber ist eben nur die römische Version. Im Auftrag der heimischen Regierung führte der Stratege auf Sizilien selbst die Friedensverhandlungen. - 17 -
Die Römer verlangten, die beim Eryx liegende Armee solle bei der Kapitulation ihre Waffen abgeben und sämtliche Überläufer aus dem römischen Lager ausliefern. Hamilkar wies diese Forderung mit der kühlen Bemerkung zurück, es entspräche nicht seiner Denkweise, die ihm anvertrauten Waffen dem Feind zu übergeben, worauf die römischen Unterhändler ihre Forderung zurückzogen. Hamilkar räumte die Stellungen am Eryx und führte den Rest seiner Armee nach Lilybaion zurück. Dort übergab er auf Weisung der karthagischen Behörden das Kommando an einen Offizier aus seiner Schule, Geskon. Die Friedensbedingungen, auf die sich Hamilkar hatte einlassen müssen, waren bitter. Sizilien mußte aufgegeben werden. Innerhalb von zehn Jahren hatte Karthago eine Kriegsentschädigung von 3.200 Talenten aufzubringen. 1.000 Talente, etwa 5,5 Millionen Mark nach unserem Geld, waren sofort zu zahlen. Der nordafrikanische Besitz Karthagos blieb jedoch unangetastet und die Existenz des Stadtstaates als einer freilich nun zweitrangigen Macht neben Rom war nicht in Frage gestellt. Bei den Friedensverhandlungen hatte Hamilkar Barkas bewiesen, daß er nicht nur ein großer Soldat, sondern auch ein guter Diplomat und ein würdevoller Vertreter seiner Heimatstadt war.
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II. Hamilkar Barkas – Retter Karthagos Im Spätsommer oder Herbst des Jahres 241 v. Chr. erschien die Pentere, die den abgedankten Strategen von Sizilien, Hamilkar Barkas, in die Heimatstadt zurückführte, vor Karthago. Ungeduldig mögen seine Gemahlin und der etwa sechs Jahre alte Hannibal auf den Augenblick gewartet haben, da das mit seinen fünf Ruderreihen einem Tausendfüßler gleichende Schiff endlich in den Hafen glitt: Hannibal sollte seinen Vater zum ersten Mal sehen. Münzen, die unter barkidischer Herrschaft in Spanien geprägt worden sind, zeigen neben Götterbildern auch die Köpfe von drei verschiedenen Männern, fraglos Portraits der drei Barkiden, die seit dem Jahre 237 v. Chr. die Herrschaft über Südspanien gewannen. Das Münzportrait eines etwa in den Fünfzigern stehenden Mannes läßt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als Abbildung Hamilkar Barkas deuten. Es zeigt einen Kopf mit hoher steiler Stirn, stark ausgebildeter Augenbrauenpartie, sehr profilierter Nase und einem kurz gehaltenen Bart, wie ihn auch Nachbildungen von Häuptern der Götter auf karthagischen Sarkophagen aufweisen. Das Antlitz deutet auf einen Mann von großer Entschlossenheit und düsterem Ernst. Als Würdenträger der phönizischen Stadtkolonie trug er ein – wenn auch hier nur angedeutetes – langes dunkles Gewand und eine konische Filzmütze auf dem Haupt. Es läßt sich leicht den- 19 -
ken, daß Hamilkar Barkas von imponierendem, gebieterischem Wesen gewesen sein muß. Er flößte Respekt ein. Die antiken Schriftsteller versichern, daß Hannibal den Vater aufs höchste bewundert habe und daß es stets sein Bestreben gewesen sei, ihm nachzueifern. Hamilkar Barkas kehrte in einen Stadtstaat zurück, der den bisher schwersten Krieg seiner Geschichte verloren hatte. Eine Welle des Mißtrauens und der Kritik schlug ihm entgegen. Der Staatsgerichtshof der ‚Hundertvier‘ hatte gerade den Flottenchef Hanno zum Tod verurteilt und kreuzigen lassen, weil dieser die Schlacht bei der Ziegeninsel verloren hatte. Hamilkar Barkas konnten die Staatskontrolleure jedoch nicht gut vor ihr Gericht stellen: Den Frieden mit Rom hatte er auf Geheiß der Regierung ausgehandelt, nachdem er in aussichtsloser Lage als verantwortungsbewußter Oberbefehlshaber selbst geraten hatte, die Kampfhandlungen zu beenden. Doch die Furcht vor hohen Militärs war in Karthago traditionell. Immerhin kennt die uns oft nur in anekdotischer Verzerrung überlieferte Geschichte der Stadt mehrere Beispiele, bei denen Strategen versucht hatten, sich mit Hilfe von Söldner-Tausendschaften nach sizilianisch-griechischem oder hellenistischem Vorbild zum Tyrannen, zum ‚strategos autokrator‘, aufzuwerfen. Karthago war damals eine Großstadt von vielleicht 300.000 Einwohnern.1 Es kannte auch das Kainsmal moderner Großstädte, die Mietskasernen. Sechs Stock- 20 -
werke hoch, weißgekalkt, säumten sie die drei schmalen Gassen, welche vom Hafen zur Byrsa hinaufführten, der Akropolis des phönizischen Karthago. Auf einem Hügel in der Nähe des zweiteiligen Hafens und des Marktes erbaut, mit eigenen Toren versehen und befestigt, krönte sie das weitgedehnte Stadtgebiet und barg den Tempel des Baal Esmun mit einem kleinen Zypressenhain, Merkmal aller karthagischen Sanktuarien. In düster-altorientalischem Sinn wachten die Götter über der Stadt. Ihre Bewohner glaubten in tiefem Pessimismus, die Herren des Himmels verlangten immer neue Gnadenbeweise durch das Blut unschuldiger Kinder, die Erstgeburt der Vornehmen oder das Selbstopfer hochgestellter Persönlichkeiten. Schon die älteste Stadtsage kennt den rituellen Flammentod der ElissaDido, der legendären Gründerin der Stadt aus dem Königshaus von Tyros. Als der ‚König‘ (griechisch basileus) Hamilkar aus dem berühmten Adelshaus der Magoniden 480 v. Chr. auf Sizilien die Entscheidungsschlacht von Himera gegen die Tyrannen Gelon von Syrakus und Theron von Akragas (Agrigent) verlor, suchte er den Tod auf dem Scheiterhaufen. Eine der ältesten Weihestätten des punischen Karthago, die man ausgegraben hat, birgt Tausende von Tongefäßen mit den verkalkten Aschenresten von Kindern. Man hat sie Tophet genannt, nach jener biblischen Stätte im Himontal bei Jerusalem, wo die alten Israeliten Kinderopfer dargebracht hatten. - 21 -
In alter Zeit galt Melkarth, der Stadtgott der Heimat Tyros, als Höchster unter den Unsterblichen.2 Nach der Schlacht von Himera und dem Sturz des Hauses der Magoniden nahm im 4. Jahrhundert v. Chr. Tanit, Inkarnation der sagenhaften Elissa-Dido, welche die Griechen mit Hera gleichsetzten, seine Stelle ein. Sicher deutet dies auf tiefgreifende Wandlungen hin. Um die gleiche Zeit erlosch der Brauch, alljährlich dem Melkarth von Tyros Tribute zu senden, wurde der Staatsgerichtshof der ‚Hundertvier‘ geschaffen, allmächtiges Kontrollorgan für zivile und militärische Machtträger. Tanit, die Herrin, dachte man sich gern im Balg einer riesenhaften Taube, deren Kopf und Schnabel eine Art von Helm für die große Göttin bildeten. In ihrem Tempel hingen als Sehenswürdigkeit die Felle dreier ‚wilder Weiber‘. Der Seefahrer Hanno, wohl ein Magonide, hatte sie von seiner Reise an die westafrikanische Küste, die ihn bis hinunter nach Kamerun führte, mitgebracht. Vermutlich handelte es sich dabei um Gorillafelle3. Weithin berühmt in der antiken Welt des 3. und 2. Jahrhunderts vor Chr. war der ‚Kothon‘, der künstlich angelegte Binnenhafen. Er bestand aus zwei Teilen, viereckigen Becken mit unmittelbarem Ausgang zum Meer. Das erste Becken diente als Handelshafen. Dahinter lag der Kriegshafen mit von Säulen flankierten Schiffshäusern, die Raum für 220 Penteren boten. In der Mitte befand sich eine kleine Insel mit dem Turm - 22 -
für den Flottenchef. Von dort aus wurde durch Heroldsruf oder Trompetensignale der Schiffsverkehr geregelt. Unweit vom Hafen – soweit unsere Kenntnis noch reicht – befand sich nach griechischen Vorbildern eine Art ‚Agora‘, ein Markt- und Versammlungsplatz mit Säulenhallen. In seiner Nähe ist wohl auch der Justizpalast zu suchen, Sitz der beiden ‚Sufeten‘, der höchsten Rechtsherren in diesem Staatswesen, vielleicht auch der Sitz der ‚Hundertvier‘, der Staatskontrolle. Dahinter und darum zog sich, zum Teil zur Byrsa aufsteigend, ein Gewirr von engen, Kühlung gewährenden Gassen mit hoch aufgestockten Häusern. Hier hauste die Masse der Bevölkerung, Matrosen, Zimmerleute, Färber, Seilmacher, Fischhändler, Töpfer, Werft- und Hafenarbeiter, Schreiber und Rechnungsführer in den Kontoren der Handelsfürsten, oft Sklaven aus aller Herren Ländern von Etrurien und Campanien bis nach Mittelafrika. Nur die Tempel und die vielen Nekropolen mit ihren Hainen boten dem Auge Erholung. Tonmasken aus punischen Gräbern zeigen uns das typische Antlitz der libysch-phönizischen Stadtbevölkerung. Es waren Menschen mit niedriger Stirn, abstehenden Ohren, dicker gekrümmter Nase, starker Kinnpartie, fleischigen Lippen und ein wenig schräggestellten Augen.4 Der Handel über See bis nach Griechenland, Ägypten, Italien, Gallien, Spanien und den britischen Zinngebieten und der Landhandel mit Mittelafrika über die Karawanenstraßen durch die Sahara hatten diese Be- 23 -
völkerung geprägt, die vom Militärdienst außer in Zeiten äußerster Not befreit war. Die altrömische Komödie kannte als feststehenden Typ den ‚gugga‘ (was soviel wie ‚kleine Ratte‘ bedeutete), den punischen Händler, eine schmierige Gestalt in kurzem Rock mit Ringen im Ohr, der mit ein paar Sklaven, die seine Ramschware schleppten, durch die Lande zog. Aus den Vertretern dieser Großstadtmasse setzte sich die Volksversammlung zusammen, die aus den Reihen des Adels die beiden Sufeten zu wählen hatte, die höchsten Zivilbeamten mit vorwiegend juristischen Befugnissen. Ihr Titel bedeutet im Phönizischen ‚schofet‘, Richter. Die Volksversammlung mußte auch die Wahl eines Strategen billigen. Vor der Ära des Hauses Barkas scheint der Einfluß dieses plebeszitären Urparlaments freilich allmählich stark beschnitten worden zu sein. Neben der Volksversammlung hatte sich ein höchst verschachteltes System oligarchisch-aristokratischer Körperschaften etabliert, der Rat der ‚Dreihundert‘, der wahrscheinlich sich aus diesem Gremium durch Zu- oder Nachwahl ergänzende ‚Rat der Alten‘ (Gerusia), der Staatsgerichtshof der ‚Hundertvier‘, von den griechischen Schriftstellern vereinfachend als die ‚Hundert‘ bezeichnet. Wie die Kompetenzverteilung und die Beziehungen dieser Korporationen untereinander geregelt waren, wissen wir nicht. Sicher ist nur, daß zu der Zeit, als Hamilkar Barkas seine Töchter dem amtierenden ‚basileus‘ und einem ari- 24 -
stokratischen Volkspolitiker, Hasdrubal dem Schönen, zur Frau gab, die Volksversammlung eine neue Bedeutung gewann. Das war keine demokratische Revolution; vielmehr mobilisierte hier ein aristokratischer Militär mit Hilfe seines standesgemäßen Clans die Massen gegen die eigenen Standesgenossen, die am oligarchischen Regiment festhielten und überdies einen Krieg verloren hatten. In einer solchen ‚Militärdemokratie‘ sah der hellenisch-römische, sehr aristokratisch-konservativ denkende Historiker Polybios freilich schon den Niedergang Karthagos, während in Rom ihm die Herrschaft der Besten (aristoi) noch gegeben zu sein schien. In allen phönizischen Städten des Orients, in Tyros wie in Sidon oder dem im 20. Jahrhundert wieder ausgegrabenen Ugarit (Ras Shamra) herrschten Stadtkönige. Die griechischen Schriftsteller erwähnen bei der Schilderung der Kriege gegen das sizilische Griechentum wiederholt ‚basileis‘, karthagische Könige, die im Feld das Amt des Strategen innehatten. Bei dem eingefleischten Konservatismus der herrschenden, ehemals phönizischen Schicht in Karthago erscheint es nicht verwunderlich, daß man hier höchstwahrscheinlich das Amt des ‚Stadtkönigs‘ beibehalten hat. Dem HerrscherGott der Heimat Tyros zahlte man durch Jahrhunderte Tribut. Hannibal selbst hat sich in der Stunde der Flucht aus Karthago nach Tyros begeben. Freilich war die Würde des ‚basileus‘ nicht mehr unbedingt erblich, und sie war in den Machtbefugnissen - 25 -
durch die Existenz der oligarchischen Gremien erheblich eingeschränkt. Immerhin war sie zeitweilig wohl an bestimmte Familien gebunden, und der Stadtkönig führte dann auch die Söldnerarmee im Krieg. Auf einer solchen Kombination beruhte die Macht des Hauses der Magoniden im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr.5 Wie eifersüchtig dabei die Oligarchie darüber gewacht haben muß, daß der jeweilige ‚basileus‘ seine Kompetenzen nicht überschritt, lehrt die Geschichte von Malchos-Melek (ein Name, der im Phönizischen einfach ‚König‘ bedeutet). Dieser Stadtkönig strebte im 5. Jahrhundert nach der absoluten Gewalt, nachdem er den Oberbefehl im Krieg geführt hatte: Er bezahlte sein Experiment mit dem Tode. – 307 v. Chr. starb der Stadtkönig Bomilkar, der den in Nordafrika gelandeten Tyrannen von Syrakus, Agathokles, zum Rückzug gezwungen hatte, am Kreuz. Mit Hilfe seiner Söldnerarmee hatte er sich zum Herrn von Karthago aufwerfen wollen. Ein Volksaufruhr zwang ihn nach schweren Straßenkämpfen zur Kapitulation. Es läßt sich leicht denken, daß damals die Aristokratie die Massen gegen den machthungrigen ‚basileus‘ mobilisiert hatte. So bot dieser Stadtstaat mit seiner komplizierten Führungsordnung, mit Stadtkönig, Sufeten, dem Großrat der ‚Dreihundert‘, der ‚Gerusia‘, dem Alten-Rat, dem Staatsgerichtshof der ‚Hundertvier‘ und der Volksversammlung ein buntes Bild. Dazu ist die Existenz - 26 -
von Pentarchien, Fünfer-Ausschüssen, bezeugt, die für bestimmte Ressorts zuständig waren.6 Wie sich die Zusammenarbeit all dieser Gremien vollzog, ist, wie schon erwähnt, infolge der Dürftigkeit der Quellen, nicht mehr klar auszumachen. Der komplizierte Verfassungsmechanismus erinnert an Venedig. Dem Philosophen Aristoteles, dem großen Geographen Eratosthenes erschien er so bemerkenswert, daß sie meinten, man könne ein Volk, das sich eine solche Verfassung gäbe, nicht unter die ‚Barbaren‘ einreihen. Aber dieser auf phönizischer Überlieferung beruhende Mechanismus läßt andererseits auch den engherzigen Geist eines aristokratischen Handelsstaates erkennen, der imperialer, großer Politik abgeneigt war. Fraglos wirkte er sich bei großen Entscheidungen hemmend aus. Doch in der hellenistischen Welt des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr. wirkte das Puniertum in Karthago ohnehin wie ein Fremdkörper, wie ein archaisches, dunklen, blutigen Gottheiten verhaftetes Gemeinwesen, das sich zwar nicht dem technischen, wohl aber dem moralisch-zivilisatorischen Fortschritt verschloß. Das tiefe Unbehagen, das die griechische Welt von jeher gegenüber den Karthagern erfüllte, machte es der römischen Propaganda im Hannibalischen Krieg leicht, die damalige Weltmeinung gegen das habsüchtig-grausame Puniertum zu mobilisieren, mochten hier auch Gestalten erscheinen, die sich, wie Hannibal, weit über das Niveau der Vaterstadt erhoben. - 27 -
Die Barkiden gehörten zu jenen der Zahl nach begrenzten phönizischen Adelsgeschlechtern, die von Tyros aus, vielleicht den assyrischen Militärherrschern weichend, die ‚neue Stadt‘ begründet hatten. Sie waren Handelsherren und Reeder. Die meisten unter ihnen wurden auf dem reichen Boden des Hinterlandes in Tunesien und Ostalgerien auch Latifundienbesitzer. Es scheint, daß die wirtschaftliche Basis der Barkiden im Großgrundbesitz lag. Der Ursprung rationeller Großlandwirtschaft in der Antike lag jedenfalls beim karthagischen Adel. Ein Experte namens Mago verfaßte das im Altertum klassische Lehrbuch für Gutsbesitzer, das auch die Römer übernahmen, obwohl sie sonst für die Vernichtung der karthagischen Literatur Sorge trugen.7 Charakteristisch für diese Aristokratie war die enge Verbindung mit der Priesterschaft. Die ‚kohanim‘, die Diener in den Tempeln des Melkarth, der Tanit, des Baal Esmun, des Baal Hammon, des Baal Shannim gehörten schon dank ihrer Abkunft zur Oberschicht. Silius Italicus schildert uns die Priester (kohanim) des Melkarth von Gades, der ältesten karthagischen Basis in Südspanien. Sie waren kahlgeschoren und bartlos, gingen barfuß, trugen lange weiße, gürtellose Gewänder, mußten sich der Frauen enthalten und durften kein Schweinefleisch essen. Das Zölibat galt freilich nicht für alle hohen Priesterämter.8 Ob diese Aristokratie in ihrer äußeren Erscheinung dem unerfreulichen Typ der libysch-phönizischen Stadt- 28 -
bevölkerung glich, wissen wir nicht. Die altorientalische Tradition verbot die Nachbildung der individuellen Gestalt. Fraglos hat sich die Aristokratie in barkidischer Zeit dann Ausnahmen erlaubt: Wenn die Barkiden in ihrem spanischen Herrschaftsbereich zu Münzprägungen mit echten Portraits übergingen – wie immer diese auch zu deuten sein mögen –, so liegt darin der Ausdruck des Souveränitätsanspruches nach dem Vorbild der hellenistischen Höfe in Syrakus, Alexandria oder Antiochia. Nimmt man jene bereits beschriebene spanische Silbermünze mit dem Kopf eines energischen Fünfzigers als Portraitierung Hamilkar Barkas, so kann man wohl sagen, daß mindestens einige Magoniden oder Barkiden, daß die kühnen Seefahrer vom Schlag der Hanno und Himilko, die bis nach Westafrika und Britannien segelten, von stolz semitischem Aussehen gewesen sein dürften. Ihre Erscheinung blieb dem Griechen freilich immer fremd, schon der schwarzen Tracht und der Filzmützen der ‚rab‘, der hohen Würdenträger wegen; dazu kam noch die Mode, Ohrringe zu tragen oder sich das Haar blau zu färben. Schwerer wog für die Griechen freilich die ihnen unsympathische seltsame Mischung von kommerzieller Schläue und Grausamkeit im Götterkult wie in der Durchsetzung der eigenen Ziele. In jeder Adelsschicht – ganz gleich welcher Zeiten – ist die Namensgebung ein Charakteristikum für die jeweilige geistige Haltung gewesen. In Karthago haben wir eine begrenzte Zahl immer wiederkehrender Na- 29 -
men geschichtlichen Ranges vor uns, alle die Bomilkar, Bodesmun, Geskon, Hamilkar, Hanno, Hannibal, Hasdrubal, Himilko und Mago. Selten wird die Person noch deutlich, die sich hinter dem Namen verbirgt; selten ist eine genealogische Rekonstruktion von Vorfahrenreihen möglich. Die Adelsnamen sind jedoch stets von den Göttern Karthagos abgeleitet oder beabsichtigen, deren Gunstbeweise gleichsam auf magische Art zu erzwingen, was auf die enge Verbindung von adeligen ‚rab‘ und adeligen ‚kohanim‘ zurückzuführen sein dürfte. Hannibal bedeutet in diesem Sinne „derjenige, dem Baal Gunst oder Gnade erweist“. Hamilkar ist „der Diener Melkarths“, Hasdrubal ist derjenige, der die Gnade Baals bannen will. Das Bedürfnis, Name und Wille der Götter für die Familie, für die Erben des Geschlechts zu beschwören, spiegelt jenen tiefeingewurzelten Pessimismus wider, die schreckliche Sitte, Baal Menschen zu opfern, ganz gleich in welcher Gestalt man diesen Herren des Himmels verehrte. Kindesopfer waren zur Zeit Hannibals nicht mehr gebräuchlich, aber an der psychischen Verfassung des Adels hatte sich wenig geändert. Die rationale Philosophie der griechischen Kulturwelt etwa blieb diesen Familien schlechthin unverständlich. Man kann sehr wohl sagen, daß das Haus Barkas letzthin an dieser engen, finsteren Welt gescheitert ist. Verraten die stereotypen Adelsnamen eine unerschüt- 30 -
terliche Übereinstimmung im Selbstverständnis älterer Zeiten, so deuten die Beinamen, die im 2. hellenistischen Jahrhundert in Karthago beliebt werden, entweder auf eine gewisse Individualisierung oder auf die Neigung hin, das Beispiel hellenistischer Soldatenherrscher oder Kondottiere nachzuahmen, die solche Zunamen liebten. Wir begegnen – von Hamilkar mit dem Zunamen Barkas (Blitz) ganz abgesehen – einem Schiffskommandanten Hannibal ‚dem Rhodier‘; im Stabe Hannibals taucht ein Hannibal auf, der ‚Monomachos‘ (Einzelkämpfer) genannt wird, ein Mago, mit dem Beinamen ‚Saunites‘ (der Samnite). Es läßt sich heute allerdings nur noch schwer sagen, was das alles bedeuten sollte. Immerhin wissen wir aber von Heiraten zwischen karthagischen und syrakusanischen Adelsfamilien, vom Connubium zwischen dem Haus Barkas und numidischberberischen Fürstengeschlechtern. Wenn uns ein Hannibal ‚der Sabeller‘ entgegentritt, könnte man auch an Verbindungen mit den Familien unteritalischer Stämme denken, zu denen die Sabeller gehörten. Die Umwelt, in die Hannibal hineingeboren wurde, läßt sich im Gegensatz zur geistigen Sphäre der Karthager noch recht gut erschließen. Im Norden der Hafen- und Geschäftsstadt befand sich, durch eine Mauer abgeschirmt, die Gartenvorstadt Megara, das karthagische Faubourg Saint Germain. Hier besaßen auch die Barkiden ihren Stadtpalast, in dem Hannibal die ersten neun Jahre seines Lebens verbrachte. - 31 -
Aus Grabbildern kennen wir den Typ des karthagischen Gutshauses auf den Latifundien im libysch-phönizischen Hinterland. Das Haus hat einen nach altorientalischer Sitte fensterlosen Unterbau, darüber erhebt sich eine von Säulen getragene Loggia. Das Ganze krönt ein kuppelartiger Turm: Einen solchen ‚Turm‘ hat Hannibal bei Byzacene im heutigen Tunesien besessen. Zu einem solchen Gut gehörten landwirtschaftliche Großbetriebe, deren Kulturen noch die Bewunderung der Römer erregten. Die karthagischen Gutsherren arbeiteten mit Verwaltern und fronpflichtigen Bauern. Für ihre Olivenhaine hatten sie die leistungsfähigste Ölpresse der Antike entwickelt, für die Weizenschläge den besten Dreschwagen. Die Pflege des Granatapfelbaumes und der afrikanischen Feige geht auf sie zurück. Der Frondienst der Bauern und deren Pflicht, den ‚Zehnten‘ an Steuern für die Stadt Karthago zu zahlen, zeitigten allerdings mehrfach Bauern-Revolten, wenn der Stadtstaat in Krisen geriet. Die Stadthäuser der Aristokratie waren sicher weitläufiger und prunkvoller als die ‚Türme‘ auf dem Lande angelegt. Wie sich im karthagischen Tempelbau phönizische, ägyptische, etruskische und griechische Einflüsse kreuzten, so dürfte dies auch in Megara der Fall gewesen sein. Griechische Bildhauer, Künstler und Gelehrte gehörten zumindest im 2. Jahrhundert v. Chr. zur Umgebung karthagischer Oligarchen. Sie finden sich auch in den Stäben der Barkiden. Griechische Münzpräger, - 32 -
möglicherweise aus Sizilien, haben die Prägung der barkidischen Portrait-Münzen beeinflußt. Soweit man in Karthago von der hellenistischen Wissenschaft profitierte, die damals im königlich ptolemäischen Ägypten in hoher Blüte stand, bezog sich dies auf die Technik, von der Kriegskunst bis zur Medizin, nicht auf die Literatur und schon gar nicht auf die Philosophie. Die ‚Diener Melkarths‘ und ‚die in Baals Gunst‘ stehenden Herren Karthagos wußten mit Plato oder Aristoteles nichts anzufangen. Trost fanden sie nur in ihrer Magie. Als Hamilkar Barkas, ehemaliger Stratege auf Sizilien, im Jahre 241 v. Chr. nach Karthago zurückkehrte, war er zunächst Privatmann, einer der großen Landbesitzer der Stadt. Zieht man seine Heiratspolitik in Betracht, kann man allerdings auf politischen Ehrgeiz schließen. Dagegen stellte das Heer, das Hamilkar dem neuen Strategen Geskon übergeben hatte und nun von Lilybaion auf Sizilien nach Nordafrika übergeführt werden mußte, für die Oberbehörden – Stadtkönig, Sufeten, Großrat und Gerusia – ein echtes Problem dar. Was sollte man mit den rund 20.000 Mann beginnen? In dieser Armee dienten nicht nur Kontingente aus der libysch-phönizischen Zinsbauernschaft, die zum Dienst gepreßt worden waren, sondern auch ligurische, sizilianisch-griechische, campanische, keltische und balearische Söldner, die meistens die leichte Infanterie stellten, während in der Reiterei die berühmten Numider, Berber aus dem heutigen Algerien und Marokko, do- 33 -
minierten. Nach dem Friedensvertrag mußte diese Armee, die lange keinen regelmäßigen Sold mehr gesehen hatte, von Sizilien zurückgenommen werden. Die Staatskasse war zweifelsohne leer. Andererseits war dieses Heer unbequem, obwohl ein schwacher Trost darin bestand, daß der Stratege, auf den die Truppe eingeschworen war, den Dienst quittiert hatte. Um behutsam vorzugehen, entschloß man sich, die Verbände in Etappen zu evakuieren. Aber irgendwelche noch so geringen Abschlagszahlungen konnte oder wollte man der Armee nicht zubilligen. Sprecher der Oligarchie in der ‚Gerusia‘ war in jenen Tagen Hanno der Große, der zweite unter den Hannoniden, der diesen Beinamen führte.9 Das Haus Hanno betrachtete die Barkiden mißtrauisch. Das derzeitige Familienoberhaupt hatte nach dem Untergang der römischen Expeditionsarmee in Nordafrika mit rücksichtsloser Gewalt wieder Ordnung unter den libyschen Zinsbauern auf den Latifundien geschaffen. Im übrigen vertrat Hanno der Große eine Politik, die allen äußeren Verwicklungen oder neuen militärischen Abenteuern abgeneigt war. Ihm und seinen Freunden ging es ausschließlich um die Erhaltung des persönlichen Besitzstandes. So kam Ende 241 v. Chr. der Tag, an dem rund 20.000 Söldner die Gassen Karthagos füllten, Veteranen eines langen Krieges, die endlich ihr Geld forderten: Libysches schweres Fußvolk mit rotflammenden - 34 -
Helmbüschen, griechische Drillmeister, Kelten in barbarischer Hosentracht und bunten Schultermänteln mit langmähnigem Blondhaar10, ligurische Wurfschützen aus Norditalien mit Wieselfellmützen. Dazu kam der unvermeidliche Troß der Landsknechte, Dirnen und Soldatenweiber mit ihren Kindern. Die Oberbehörden beschlossen, sich die ganze unheimliche Sippschaft erst einmal vom Halse zu schaffen. Man gewährte der Armee eine Abschlagzahlung, ein Goldstück pro Kopf, und bewog die Truppen, nach Sicca zu marschieren, etwa 200 Kilometer westlich von Karthago. Dort sollte der restliche Sold ausgezahlt werden. Im Kreise um Hanno den Großen legte man keinen Wert mehr auf eine starke, kriegserfahrene Streitmacht, Krieg würde es niemals mehr geben! Die Armee von Sizilien nahm diese Regelung an und schlug vor, die Weiber und Kinder als Geiseln in der Stadt zurückzulassen. Der Stadtkönig und die ‚Gerusia‘ lehnten ab. Was sollte man mit diesem Gesindel in der Stadt? Die Zwanzigtausend marschierten mit Sack und Pack, Weib und Kind durch die ‚chora‘, wie die Griechen das Agrargebiet Karthagos nannten. Sie sahen die ‚Türme‘ karthagischer Landherren, die riesigen, wohlbestellten Güter, sie kamen mit der im Frondienst lebenden Bauernschaft in Berührung. Gefährlicher sozialer Zündstoff häufte sich. Bei Sicca bezog die Armee ein Lager. Die ‚Gerusia‘ knüpfte neue Unterhandlungen - 35 -
an. Bei Hanno dem Großen mag auch die Überlegung im Spiel gewesen sein, daß diese Armee ja im Grunde immer noch auf einen so ehrgeizigen Mann wie Hamilkar Barkas eingeschworen war. Ihm hatte sie die Treue in schwerer Zeit gehalten. Die karthagischen Unterhändler verlegten sich darauf, den Endpreis herabzudrücken. Die Sprecher der Söldner erhoben dagegen nun neue Forderungen: Ersatz für verlorengegangenes Brotgetreide und für die Pferde, die man eingebüßt hatte. Die karthagische Delegation reiste wieder ab. Die Zwanzigtausend marschierten von neuem und erschienen vor Tunes (Tunis), etwa 25 Kilometer von Karthago entfernt, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die Furcht, die auf diese Kunde hin in Karthago um sich griff, kann auch dem jungen Hannibal im Palast in Megara kaum verborgen geblieben sein. Die ‚Gerusia‘ schickte eilends den letzten Kommandeur auf Sizilien, Geskon, mit einer Anzahl hamilkarischer Offiziere nach Tunes. Ihr Auftrag lautete: Alle Forderungen, über die man mit den Truppen nicht mehr sprechen könne, seien zu erfüllen. Geskon, ein tüchtiger Soldat und den Söldnern gut bekannt, hätte beinahe Erfolg gehabt: Die Offiziere hörten auf ihn. Doch war die Gärung im Heer selbst so groß geworden, daß ihnen die Truppe den Gehorsam verweigerte. Längst hatten sich Rädelsführer gefunden, die die Parole ausgaben, man müsse sich an Karthago und seinen Geldsäcken rächen. Ein Osker aus Campanien, Spendi- 36 -
os, angeblich der Sohn eines Schenkwirtes und einer griechischen Prostituierten, der als Rudersklave zu den Karthagern desertiert war, der libysche Bauernsohn Mathos, ein weiterer Libyer namens Zarzas und ein Kelte, Autaritos, hatten sich zu Sprechern der Armee aufgeworfen. Sie ließen Geskon und seine Begleiter verhaften. Spendios und Mathos proklamierten sich in eigener Machtvollkommenheit als Strategen der Armee. Das war mehr als eine Meuterei, es war eine Soldaten- und Bauernrevolution: Die libyschen Bauern folgten spontan dem Beispiel ihrer dienenden Söhne und erhoben sich auf den Latifundien. Viele kleinere Landstädte schlossen sich den Aufständischen an. Diese sperrten zunächst am Bagradasfluß die Zufuhren für Karthago. Dann schickten sie Abgesandte nach Sardinien und gewannen die dort stehenden Söldnerkontingente für ihre Sache. Die karthagischen Offiziere auf Sardinien wurden niedergemetzelt, so daß die Insel praktisch in der Hand der Aufständischen war. In diesem Jahr 240 v. Chr. war es sehr die Frage, ob man in Rom der Versuchung widerstehen würde, sich dieser wichtigen karthagischen Bastion im westlichen Mittelmeer zu bemächtigen, um dort die Ordnung wiederherzustellen. Angesichts dieser offenkundigen Gefahr bestimmten die Oberbehörden Karthagos Hanno den Großen zum Strategen, und die Volksversammlung billigte die - 37 -
Wahl. Der reaktionäre Oligarch hatte Erfahrung in der Unterdrückung von Bauernrevolten. Er bot die ‚Heilige Schar‘ auf, eine Garde aus jungen Adeligen. Ferner standen ihm etwa 6.000 Milizen aus der wehrungewohnten Bürgerschaft zur Verfügung sowie die Söldnertruppen, die die Festungswerke sicherten. Das kostbarste Potential waren in dieser Stunde jedoch die 100 Kriegselefanten, die man in den Kasematten der riesigen Stadtmauer hielt. Die karthagischen Militärs hatten diese ‚Waffengattung‘ kennengelernt, als König Pyrrhos von Epirus auf seinen Feldzügen in Unteritalien und auf Sizilien nach hellenistischem Vorbild Kampfelefanten einsetzte und zunächst Rom gegenüber einen beträchtlichen Überraschungserfolg erzielte. Pyrrhos führte noch indische Elefanten mit sich. Die Lenker dieser Ungetüme nannte man daher ‚Indoi‘ (Inder), weil wohl Inder ursprünglich die Lehrmeister solcher Kampfführung gewesen waren. Die Karthager brauchten keinen indischen Import. In den Savannen Algeriens und Marokkos lebte damals noch der nordafrikanische Waldelefant, eine im 4. nachchristlichen Jahrhundert allmählich ausgestorbene Elefantenart, deren Schulterhöhe etwa 2,40 bis 2,60 Meter betrug, die also kleinwüchsiger war als ihre asiatischen Vettern. Der junge Hannibal mag die grauen Riesentiere mit dem ‚Inder‘ im Nacken, dem Panzersattel und dem hölzernen Gefechtsturm, in dem drei oder vier Speerschützen saßen, damals zum ersten - 38 -
Mal gesehen haben, als sie gegen die Revolutionäre geführt wurden.11 Hanno der Große unternahm einen Versuch, Utica zu entsetzen, eine phönizische Kolonialstadt in Nordafrika, die noch älter als Karthago war. Der Angriff wurde abgeschlagen. Dem altgewohnten Brauch entsprechend wählte man in Karthago indes einen zweiten Strategen, Hamilkar Barkas, fraglos ein Resultat der Beziehungen, die dieser zum Stadtkönig und zu volksfreundlichen Politikern geknüpft hatte. Außerdem war der Barkide der beste Soldat, über den die Stadt verfügte. Mit 10.000 Mann und 70 Elefanten sprengte Hamilkar Barkas den Sperriegel der Aufständischen am Bagradas. Zug um Zug gewann der zweite Stratege die Landstädte zurück. Als der Campaner Spendios und der Kelte Autaritos mit 8.000 Söldnern, libyschen Bauernhaufen und numidischen Reitern den Versuch riskierten, die Regierungsarmee einzukesseln, ging im entscheidenden Augenblick der numidische Reiterfürst Naravas mit 2.000 Mann leichter Kavallerie zu den Karthagern über. Hamilkar Barkas gab ihm eine seiner Töchter zur Gemahlin. In der von Bergen umschlossenen Ebene von Nepheris bei Tunes bereitete er den Rebellen die zweite schwere Niederlage. 10.000 Mann von ihnen blieben in der Schlacht, 4.000 Söldner gaben sich gefangen. Viele von ihnen waren Veteranen der Armee von Sizilien. Hamilkar zeigte sich milde, bot ihnen den Über- 39 -
tritt in die eigene Armee an oder gegen Lösegeld freien Abzug in die Heimat. Spendios und Autaritos sahen in dieser Maßnahme eine tödliche Gefahr für den inneren Zusammenhalt der Revolutionsarmee. Um eine solche gütliche Regelung unmöglich zu machen, ließen sie den gefangenen Geskon und seine Offiziere unter schrecklichen Martern hinrichten. Der Krieg ging weiter, die Revolution gewann wieder an Boden. Dazu kamen heimliche Rivalitäten zwischen Hanno dem Großen und Hamilkar Barkas. In dieser kritischen Lage setzte die Partei der Barkas in Karthago eine geradezu revolutionäre Neuerung durch: Die Armee sollte künftig ihren Strategen selbst bestimmen. Und sie wählte Hamilkar Barkas. Hanno der Große hatte keine Chance. Als zweiten Strategen erkor man den Sohn des Siegers über Regulus im Ersten Punischen Krieg, der wiederum den Namen Hannibal führte. Freilich war damit der Krieg noch nicht entschieden. Die Aufständischen erschienen noch einmal vor den Mauern Karthagos. Im Gegenschlag schloß Hamilkar Barkas den Gegner in Tunes ein, unterstützt durch das Korps seines Mitfeldherrn. Diesem Hannibal war freilich kein Glück im Feld beschieden. Sein Korps wurde von den Rebellen zersprengt, er selbst und die ihn begleitenden Gerusiasten gefangengenommen und auf den Mauern von Tunes gekreuzigt. Jetzt gab es keine Gnade mehr in diesem Bürgerkrieg. Hamilkar Barkas gelang es, das Gros der Auf- 40 -
ständischen unter Spendios, Autaritos und Zarzas am Prionfluß einzukesseln. Zum letzten Angriff setzte er die Kampfelefanten ein, die unter den Eingeschlossenen ein furchtbares Blutbad anrichteten. Die drei Rebellenführer wurden lebend ergriffen und hingerichtet. Nach dem Kreuzestod des Hannibal in Tunes mußte wieder ein zweiter Stratege gewählt werden. Noch einmal kam Hanno der Große zum Zuge. Man ermahnte ihn freilich, mit Hamilkar Barkas bessere Fühlung zu halten als in den Vorjahren. Vereint schlugen sie im Jahre 238 v. Chr. das letzte Aufgebot der Rebellen. Der ‚Bauernkönig‘ Mathos geriet in Gefangenschaft und wurde zu Tode gefoltert.12 Karthago konnte aufatmen, die Militär- und Bauernrevolte war buchstäblich in Blut erstickt worden. Als man sich jedoch nun anschickte, verläßliche Truppen nach Sardinien zu entsenden, um dort die Ordnung wiederherzustellen, protestierte Rom und sprach von einer Verletzung des Friedens von 241. Es entsandte vielmehr eigene Truppen nach Sardinien und besetzte die strategisch so bedeutsame Insel, ohne daß Karthago es an dieser Intervention hätte hindern können. Auf einen zweiten Krieg gegen Rom konnte man sich in diesem Jahr 238 v. Chr. nicht einlassen. Und die oligarchische Partei in der Stadt hatte ganz andere Sorgen. Vor der Stadt stand Hamilkar Barkas mit vielleicht 20.000 gut ausgebildeten und im Bürgerkrieg Sieger gebliebenen Söldnern, die ihn zum Feldherrn gewählt hat- 41 -
ten. Durch seine Ehepolitik, durch die Verheiratung zweier Töchter an numidische Fürsten hatte sich dieser unheimliche Mann drinnen wie draußen eine beängstigende Gefolgschaft gesichert.13 In Karthago sorgte sein Schwiegersohn Hasdrubal der Schöne für eine umfangreiche Klientel, die vor allem in der Volksversammlung an Gewicht gewann. Dieser junge Politiker sah so vorzüglich aus, daß die griechischen Schriftsteller ihm nachsagten, er sei Hamilkar Barkas Lustknabe gewesen, ehe ihn dieser der Tochter zum Mann gegeben hatte. Für griechisches Denken war solcher Klatsch typisch. Doch die hellenische Bisexualität gehörte kaum zu den Eigentümlichkeiten des Puniertums. Viel interessanter war, daß die Armee unter Hamilkar Barkas durch das Zugeständnis eigener Strategen-Wahl die Unabhängigkeit von den oligarchischen Verwaltungsgremien und vom Staatsgerichtshof der ‚Hundertvier‘ erlangt hatte.14 Angesichts dieser Umwälzung erstaunt es nicht, daß die Partei der Hannoniden den Versuch unternahm, Hamilkar Barkas doch noch vor die ‚Hundertvier‘ zu bringen. Man klagte ihn an, er habe selbst den eben überwundenen Bürgerkrieg ausgelöst, weil er seinen Söldnern auf Sizilien übertriebene Versprechungen gemacht habe. Das Verfahren kam jedoch nicht zustande: Die breite Masse hatte kein Verständnis dafür, daß man um aristokratischer Rankünen willen den Retter der Stadt vor Gericht ziehen wollte. Frühere Strategen hätten in einer solchen Lage vielleicht einen - 42 -
Militärputsch erwogen. Hamilkar Barkas brauchte ein derartiges Risiko bei seinen Familienbeziehungen gar nicht einzugehen. Hasdrubal der Schöne und seine Klientel setzten durch, daß der Staatsprozeß niedergeschlagen wurde. Während Hanno der Große mit der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung auf dem flachen Lande sein Militäramt niederlegte, blieb Hamilkar Barkas Stratege für Libyen und die metagonitischen Städte, ein Kommandobereich, der das karthagische Hinterland sowie die karthagischen Stützpunkte an der nordafrikanischen Küste und im südlichsten Zipfel von Spanien einschloß. Die Armee hatte ihn gewählt. Warum sollte er jetzt seine bewaffnete Hausmacht aus der Hand geben? Gewiß, die Volksversammlung hatte den militärischen Wahlakt noch zu bestätigen, aber hier führte Hasdrubal des Schönen Partei das Wort. Im Grunde war als Resultat des revolutionären Geschehens jetzt ein heimliches Heerkönigtum entstanden. Hamilkar Barkas hatte für sich, sein Haus und seine drei Söhne, die ‚Löwenbrut‘ (catuli leoni), wie sie antike Schriftsteller genannt haben15, eine Machtstellung erlangt, wie sie vor den Barkas höchstens noch die Magoniden besessen hatten. Aber war dieser Machterwerb nun Ausdruck eines entschiedenen Revanchestrebens gegenüber Rom, oder war er ausschließlich darauf abgestellt, die Kraft des eigenen Hauses und die Konsolidierung der Vaterstadt zu fördern?16
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III. Vizekönige in Spanien Vor den mächtigen Stadtmauern Karthagos mit den flankierend vorspringenden Türmen stand die Armee des Strategen von Libyen und der metagonitischen Städte zum Abmarsch bereit. Stabsoffiziere in Panzer und Bügelhelm mit dunkelroter Raupe oder weißen und roten Helmbüschen und die schwarzgewandeten Gerusiasten erwarteten Hamilkar Barkas. Manche der Herren aus der ‚Gerusia‘, des Dreißiger-Rates, trugen schwere goldene Ohrringe.1 In langer Kolonne waren die Elefanten aufmarschiert, den ‚Inder‘ im Nacken, die Gefechtstürme vorschriftsmäßig besetzt. Die libysch-phönizische schwere Infanterie trug die hellenistische Hoplitenrüstung, die meist aus den Werkstätten campanisch-italischer Gießer bezogen wurde: Bügelhelm mit Backenschutz, Schuppenpanzer, Beinschienen, große ovale Metallschilde, Schwert und lange Stoßlanze.2 Dazu kamen iberische Fußsöldner3, Schleuderer in Schafspelzen von den Balearen, Speerschützen aus Ligurien und Bogenschützen aus Mauretanien (Marokko). Ungeduldig harrten die Hundertschaften der numidischen Reiterei ihres Oberfeldherrn, mühsam ihre kleinen zähen Rosse bändigend. Jeder Reiter war mit einem Bündel von leichten Wurfspießen bewaffnet.4 Hamilkar Barkas wollte nach Westen abrücken. Im ‚Kothon‘, dem weltberühmten Hafen, machte ein Ge- 44 -
schwader von Penteren und Transportschiffen die Leinen los. Hamilkars Schwiegersohn Hasdrubal der Schöne führte das Kommando über die Begleitflotte. Vorher aber galt es, dem Baal Shannim, dem Herren aller Himmel, ein Opfer zu bringen. Nachdem das Blut der Opfertiere auf dem Altar verdampft war, wies Hamilkar Barkas die ‚kohanim‘ zur Seite, ließ seinen Sohn Hannibal, der ihn diesmal auf seinem Zug begleiten sollte, vortreten und nahm ihm im Angesicht des Herrn aller Himmel einen Eid ab, demzufolge der Erbe niemals mit den Römern ‚in Freundschaft‘ (in amicitia) leben dürfe … Das ist die älteste und einfachste Fassung der Geschichte vom Jugendeid Hannibals. Wahrscheinlich war er damals neun Jahre alt. Erst Jahrzehnte später, als er als Emigrant am Hofe des Seleukiden-Königs Antiochos III. des Großen lebte, hat Hannibal etwa um die Wende der Jahre 193/92 v. Chr. dem mißtrauischen hellenistischen Herrscher davon erzählt – oder soll dies jedenfalls getan haben. Man hat bezweifelt, daß dieser Eid von dem Neunjährigen jemals tatsächlich geleistet worden ist. Der Vater hat ihn dem Sohn in aller Vertraulichkeit abgenommen: Das Gespräch mit dem König fand unter vier Augen statt.5 Ausgeschmückt als Racheschwur gegen Rom, als Verpflichtung zum Revanchekrieg paßte die Legende vom Eid vortrefflich in das römische Konzept, den Karthagern alle Schuld am Zweiten Punischen Krieg und jedes Maß an Rachsucht - 45 -
zuzuschreiben. Sie könnte sehr wohl in römischen Küchen erfunden worden sein. Andererseits sind an Königshöfen Indiskretionen jeder Art möglich. Auch sehr skeptische Gemüter haben nicht in Abrede gestellt, daß der Tempelschwur durchaus stattgefunden haben könnte.6 In der besten, ältesten Fassung besagt der Eid nur dies: Der Erbe des Hauses Barkas gelobte dem Vater, den Römern niemals freundlich gesonnen zu sein. Das entsprach eher einem steten Mißtrauen gegen Rom als der Verpflichtung, um jeden Preis wieder zu den Waffen zu greifen. Unzweifelhaft hatte Hamilkar Barkas die eigene militärische Ohnmacht auf Sizilien sehr bitter empfunden, unzweifelhaft hatte er den Frieden nur ungern abgeschlossen. Aber was sein Mißtrauen gegen Rom noch viel stärker beflügelt haben dürfte, war die römische Intervention bei der angestrebten Wiedergewinnung Sardiniens. In Karthago hatte man in dieser Stunde, unter den Schatten des Bürgerkrieges, sich der Intervention Roms beugen müssen. Damit aber war der Sperriegel im westlichen Mittelmeer unter römische Kontrolle geraten. Nach dem Verlust der sizilianischen Bastion war dies der zweite schwere Schlag. So erscheint es durchaus wahrscheinlich, daß Hamilkar Barkas den Erben so früh zu äußerster Vorsicht verpflichtet hat. Als Hamilkar Barkas mit Armee und Flotte gen Westen aufbrach, lautete sein offizieller Auftrag nur, in der - 46 -
Metagonitis, dem Hinterland der Häfen in Ostalgerien und Marokko, wieder geordnete Verhältnisse herzustellen. Ob sein Übergang nach Spanien, dessen Süd- und Südostküste mit einer ganzen Reihe zum Teil uralter phönizisch-karthagischer Handelsstützpunkte und Faktoreien zu seinem Kommandobereich zählte, im Einvernehmen mit den Regenten in Karthago erfolgte, ist unklar. Überliefert ist uns nur der Protest der Anti-Barkiner in den oligarchischen Ratsgremien: Der Stratege habe seinen Auftrag überschritten und in Spanien Krieg mit Leuten begonnen, die ihnen, das heißt den reaktionären Oligarchen, nichts zu Leide getan hätten. Das aber war nur der Protest der Opposition. Die Antwort des ‚basileus‘ und der Barkiner in den Ratsgremien ist nicht überliefert. Möglicherweise haben sie dazu geschwiegen. Es erscheint jedoch nicht gut denkbar, daß der Stratege bei einem so gewichtigen Schritt gänzlich ohne ein geheimes Einvernehmen mit dem ‚basileus‘ und der Gerusia gehandelt hat. Für die großen Geschäftsleute Karthagos lag die Idee nahe, die noch aus tyrischen Zeiten herrührenden Wirtschaftsbeziehungen mitsamt dem Zwischenhandel mit Silber und anderen Erzen kraftvoll zu aktivieren und sich auf der iberischen Halbinsel neue Rohstoffgebiete zu sichern. Eins ist jedenfalls sicher: Welche Pläne oder Wünsche Hamilkar Barkas, seinen Schwiegersohn und ersten Nachfolger Hasdrubal den Schönen und dann seinen Erben Hannibal in Spanien auch immer bewegt - 47 -
haben mögen – die Eroberung eines großen Kolonialreiches für die Heimat, die Errichtung eines barkidischen Militär-Königtums nach hellenistischem Vorbild, die Gewinnung einer Basis für den nächsten Krieg gegen Rom –, sie konnten die Verbindung mit Karthago niemals völlig abreißen lassen. Hier befand sich das Reservoir für das höhere Offizierkorps, für die besten Truppen ihrer Armee, die schwere libysch-phönizische Infanterie der Fronbauern aus der ‚chora‘, die numidische Kavallerie und die Kampfelefanten, zu deren Ergänzung besondere Fangkommandos in Ostalgerien und Marokko tätig waren. Gewiß gab es das verlockende Vorbild der Marschälle Alexanders des Großen, die sich nach dessen Tod unter wilden Kämpfen eigene Militärstaaten in Makedonien, Ägypten und Vorderasien geschaffen hatten. Doch hatte Hamilkar sicherlich auch das warnende Schicksal des ehrgeizigen Königs Pyrrhos, des Neffen Alexanders, vor Augen, der – auch zum Schaden Karthagos – ein eigenes Soldatenreich in Unteritalien und auf Sizilien hatte gründen wollen. Pyrrhos’ militärische Denkwürdigkeiten waren in der Mittelmeerwelt hinlänglich bekannt und dürften auch im Stab Hamilkars gelesen worden sein. Zwischen diesen Gewaltmenschen der hellenistischen Welt und den Barkiden bestand allerdings ein fundamentaler Unterschied: Erstere wurzelten nicht in den magisch-religiösen Beziehungen, wie sie für die karthagisch-phönizische Aristokratie typisch waren. - 48 -
Die völlige Loslösung von der Heimatstadt hätte für den mit der Priesterschaft so eng verbundenen Adel eine Absage an jene Götter bedeutet, denen die einzelne Familie besonders verpflichtet war, im Falle der Barkas an Baal Shannim, den Herren aller Himmel und die Herrin Tanit. Diese Bande wogen viel schwerer als jede militärisch-politisch-technische Überlegung. Eben diese Verbindung von Magie und hartem Geschäftssinn ließ das punische Wesen den Griechen und Römern so schwer verständlich und unheimlich erscheinen. In jedem Fall ergab sich für Hamilkar Barkas bei seinem Abmarsch nach Westen 237 v. Chr. das bedrückende Bild, daß alle karthagischen Außenposten im zentralen und westlichen Mittelmeer von Sizilien bis Sardinien und Korsika verloren waren. Die früheren Verträge mit Rom über die Abgrenzung der Seehandelsbereiche im Mittelmeer hatten sich längst als chimärisch erwiesen.7 Die einstige Vorherrschaft zur See ließ sich kaum wiederherstellen. Zudem hatte das Vertrauen in die eigene Flottenkraft wohl durch die schweren Niederlagen einen entscheidenden Schlag erhalten. Geblieben war die Stadt, die zu großen Teilen durch den Soldaten- und Bauernaufstand verwüstete ‚chora‘ und das dünne Netz der Stützpunkte an der nordafrikanischen Mittelmeerküste mit Außenposten in Südspanien: Gades (Cadiz) im Südwesten, Malaka (Malaga) und einzelnen Posten bis zum Kap de la Nao an der spanischen Ostküste. Aber gerade Spanien mit seinem - 49 -
Silberbergbau und seinen holzreichen Wäldern bot sich als interessantes Objekt für die Errichtung eines großen Kolonialreiches an. Außerdem lag die iberische Halbinsel zum Großteil außerhalb der römischen Interessensphäre – soweit sich in Karthago der unersättliche Machthunger der Konsuln und Senatoren am Tiber vorausberechnen ließ. In der Sicht der hellenisch-römischen Autoren, Polybios und Livius, die unsere Hauptquelle für das Leben Hannibals bilden, stellte die Errichtung des spanischen Teilimperiums der Barkiden allerdings nur den ersten Schritt für den großen Rachekrieg gegen Rom dar.8 Der Marsch dieses etwa 30.000 Mann starken, bunt zusammengewürfelten Söldnerheeres mit seinem Riesentroß an Packtieren, mit Gepäck und Rüstwagen, mit Schanzzeug und Belagerungsgerät, mit dem unübersehbaren Gewirr von Soldatenweibern und Kindern war Hannibals erste Schule im Kriegshandwerk. Vermutlich im Spätherbst 237 v. Chr. setzte die Armee mit Hilfe der Flotte, die das Heer längs der Küste Algeriens und Marokkos bis zu den Säulen des Herakles, der Meerenge von Gibraltar begleitet hatte, nach Spanien über. Hamilkar Barkas schickte sich an, für Karthago ein neues Reich zu gewinnen. In den acht Jahren, die ihm in Spanien beschieden waren, erweiterte Hannibals Vater – ungeachtet der Opposition der Hannoniden9 – Schritt um Schritt das karthagische Herrschaftsgebiet. Die ersten Operationen erstreckten sich auf das Fluß- 50 -
gebiet des Baetis (Guadalquivir) im heutigen Andalusien. Akra Leuké (Alicante), die ‚Weiße Burg‘, wurde die erste Hauptstadt des neuen Kolonialreiches.10 Wir wissen nicht gerade viel von diesen Feldzügen, aber es müssen Unternehmungen gewesen sein, die ebensoviel Kühnheit wie diplomatische List erfordert haben – Feldzüge, die jenen nicht nachstehen, die Julius Cäsar zweiundeinviertel Jahrhundert später in Gallien führen sollte. Auch der Gegner ist nur noch schattenhaft erkennbar. Selten tauchen Namen von Befehlshabern auf der iberisch-keltischen Seite auf, wie der des keltischen Kondottiere Istolatios, den sich die Stämme am Unterlauf des Baetis als gemeinsamen Feldherrn erkoren hatten. Die iberische Halbinsel war, was den Landschaftscharakter anbetraf, damals noch völlig anders beschaffen als heute. Die Gebirge bedeckte dunkler Wald, in dem Hirsche, Wildpferde, Bären, Wölfe und Luchse beheimatet waren. In den Tälern und Flußebenen lebten, in zahlreiche Stammesgruppen gespalten, die Keltiberer. Der Einfluß phönizischer und griechischer Siedlungen im Süden und an der Ostküste war nur schwach geblieben. Anfangs hatte es auf der Halbinsel vorindogermanische Völker gegeben, deren Reste sich in den Basken erhalten haben. Von Süden her, über die ‚Säulen des Herakles‘ hatten dann die Iberer im heutigen Spanien und Portugal Fuß gefaßt, eine Völkergemeinschaft, die wohl - 51 -
den Berbern verwandt war. Im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. waren dann die indogermanischen Kelten auf ihrer großen Wanderung nach Süden bis auf die Halbinsel vorgestoßen, hier und da durchsetzt auch mit germanischen Stammessplittern. Solche Einsprengsel fanden sich beispielsweise bei den Orissen (Oretanern), im Bereich des mittleren und oberen Guadiana am Nordabhang der Sierra Morena, aus deren Fürstenhaus übrigens Hannibals in den Quellen nur flüchtig erwähnte Gemahlin stammte. Aus diesem Völkergemisch hatten sich die Keltiberer gebildet, ein Schlag, bei dem die Merkmale iberischer Art überwogen. Es waren harte, zähe, unbändig heimatstolze Menschen von dunkler Hautfarbe und krausem Haar11, hervorragende Soldaten, aber befangen in kaum je unterbrochenen Stammeszwistigkeiten, zumal es auch noch rein keltische Stämme neben iberischen Gruppen gab. Zu größerer Staatenbildung war man hier aus eigener Kraft nie gelangt. Hierin lag die große Chance für den karthagischen Strategen. Es war nicht schwer, die heimischen Fürsten und Volksstämme gegeneinander auszuspielen. Verläßliche Bundesgenossen waren diese immens hochmütigen und zänkischen Fürsten allerdings kaum. Für die imperiale Politik der Barkiden war über alle militärisch-politischen Operationen hinaus jedoch ein ganz anderer, wirtschaftlicher Faktor ausschlaggebend. Beim altphönizischen Handelsposten Mastia, unweit des heutigen Cartagena, und bei Castulo (Cazlona) am - 52 -
Oberlauf des Baetis fanden sich reiche Erzvorkommen, vor allem Silber. Die Ausbeutung der Silberschätze wurde planmäßig in Angriff genommen, zur Finanzierung der eigenen barkidischen Macht wie zur Unterstützung der Heimatstadt im fernen Nordafrika. Das spanische Silber, das nach Karthago floß, besänftigte auch die Opposition gegen das Haus Barkas in den adeligen Ratsgremien und erleichterte die Begleichung der Kriegsentschädigung an Rom. In Süd- und Südostspanien festigte sich der neue karthagisch-spanische Herrschaftsverband von Jahr zu Jahr. Wo diplomatische Künste oder Subventionen nichts fruchteten, sprachen die Waffen gegen widerspenstige Fürsten. Vor allem die Kampfelefanten, die den Kelten und Iberern ganz unbekannt gewesen waren, erwiesen sich als Kriegsinstrument von großer psychologischer Bedeutung. Iberische Kontingente verstärkten die barkidische Armee. Die kriegerische einheimische Bevölkerung stellte eine vorzügliche schwere Infanterie und eine nicht minder brauchbare Reiterei. Diese Reiterverbände bevorzugten nach keltischer und germanischer Sitte den Doppelkampf zu Pferde wie zu Fuß, d. h. die Reiter saßen im Kampf ab und fochten zu Fuß weiter.12 Die Verbindung von schier unbesiegbarer militärischer Kraft und politischer Klugheit, die Hamilkar Barkas in Spanien bewies, muß auf den ältesten Sohn großen Eindruck gemacht haben. Die gleiche Taktik sollte - 53 -
Hannibal später beim Krieg gegen Rom anwenden, als er daranging, den Bund zwischen Rom, den italischen Einzelvölkern und den Griechenstädten Unteritaliens zu sprengen. Im Feldlager des Vaters während der Sommerfeldzüge, im Winterquartier auf der ‚Weißen Burg‘ vollzog sich seine Ausbildung zum soldatischen Führer wie zum politischen General. Der Vater nahm den Erben in eine harte Schule. Hannibal mußte, wie man so sagt, von der Pike auf dienen. In Kampagnen gegen iberische und keltische Aufgebote lernte er in den sonnendurchglühten Flußtälern und waldumrauschten Bergen die Wechselfälle des Kleinkrieges kennen, Überfälle aus dem Hinterhalt, den jähen Wechsel in der Parteigängerschaft der heimischen Fürsten und ähnliches mehr. Seltener waren große Treffen, bei denen dann die Elefanten und die schwerbewaffnete, lanzenstarrende Phalanx des Fußvolkes nach hellenistischer Sitte zum Einsatz gelangten. Schon damals muß sich Hannibal die makabre Weisheit eingeprägt haben, daß im Krieg nur eines sicher ist: daß nämlich alles unsicher ist. Sonst hätte er später die Wechselfälle im Krieg gegen Rom nicht mit so stoischem Gleichmut ertragen. Dem ‚Kronprinzen‘ des Hauses Barkas blieb nichts erspart. Der Drill in der Phalanx der schweren libyschphönizischen und nun zum Teil spanischen Infanterie so wenig wie der Reiterdienst bei den Numidern und der neuen spanischen Kavallerie. Er mußte die vielen - 54 -
Sprachen und Dialekte in diesem buntscheckigen Heer lernen, nicht nur das Griechische, das in den führenden Familien Karthagos ohnehin Zweitsprache war. Von noch größerem Wert war für die Zukunft, daß die Offiziere, die Drillmeister, die Söldner vom libysch-phönizischen Bauernsohn bis zum numidischen Reiter oder ligurischen Speerschützen den Sohn des Strategen kennenlernten. Von großen Soldaten geht auf die Mannschaft stets eine eigentümliche, rational kaum erklärbare Ausstrahlungskraft aus. Und Hannibal muß diese Kraft besessen haben, vielleicht weit mehr als der düstere, strenge Vater, sonst wäre ihm sein zusammengewürfeltes Heer unter den Händen zerbrochen, als sich der Krieg gegen Rom in Unteritalien dreizehn Jahre unentschieden hinschleppte. Zur engeren Umgebung Hamilkar Barkas gehörten, was zu jener Zeit, als Hannibal zum Mann heranwuchs, in den großen Familien Karthagos durchaus keine Seltenheit war, Griechen: Sprachlehrer, Hofmeister, Literaten, Militärberater. So fern dem magischen Empfinden der Aristokratie auch das hellenische Gedankengut blieb, so sehr war man bestrebt, die Ergebnisse der hellenistischen Wissenschaft zu nutzen, vor allem was die Kriegskunst betraf: Im Grunde war es ein spartanischer Kondottiere, Xantippos, der 255 v. Chr. die Schlacht gegen das römische Invasionsheer gewann. Aufzeichnungen der beiden Griechen, die später in der Umgebung Hannibals auftauchten – Sosylos aus Sparta und Silenos - 55 -
von Kale Akte auf Sizilien, die beide über Hannibals Feldzüge geschrieben haben – lassen vermuten, daß Sosylos von Sparta vielleicht noch durch die Vermittlung des Xantippos nach Karthago gekommen ist. In jedem Fall hat es an griechischen Literaten in der Umgebung Hamilkar Barkas’ nicht gefehlt. Besonders hervorzuheben ist der Schriftsteller Philinos von Akragas (Agrigent) auf Sizilien, der die Geschichte des Ersten Hamilkarischen Krieges gegen Rom verfaßt hat.13 Eines erscheint an der Schulung Hannibals höchst merkwürdig: Einst hatte es den Söhnen der karthagischen Oligarchie zur höchsten Ehre gereicht, wenn sie in der Schiffsführung und im Seekrieg brillierten. Eine andere Art der Kriegsführung hatten sie nur mühsam im Ringen um Sizilien adaptiert, und oft genug hatten sie dabei verloren. Bei Hannibal können wir nur eine strikt kontinentale Erziehung zur Landkriegsführung feststellen. Die zahlenmäßig schwache Flotte spielte künftig keine Rolle mehr. Karthago hatte zur See abgedankt. Die Vorherrschaft im Mittelmeer war dank der Bundesgenossenschaft mit den italischen Völkern und den Städten Unteritaliens, die noch immer Großgriechenland verkörperten, an Rom gefallen. Das Schwergewicht militärischer Macht hatte sich auf das Landheer verlagert, ein sehr merkwürdiger Umstand, der wahrscheinlich in den Gremien der Heimatstadt niemals völlig durchdacht worden ist. Die Erziehung des jungen Hannibal zu einer bewußt landgebundenen - 56 -
Strategie spiegelt indes den tiefen Bruch mit jeder punisch-karthagischen Tradition bereits deutlich wider. Hatte sich Hamilkar Barkas nach Westen, sozusagen von Rom abgewandt, so hieß das nicht, daß man am Tiber nicht jedes Vorgehen karthagischer Führer aufmerksam verfolgte. Um das Jahr 230 v. Chr. erschien daher eine römische Delegation in Akra Leuké, der ‚Weißen Burg‘. Hannibal war damals 16 oder 17 Jahre alt. Er sah zum ersten Mal die Vertreter Roms, jener Stadtrepublik, der er geschworen hatte, ihr niemals freundlich gesonnen zu sein. Die zwei Konsuln, die alljährlich neu gewählt wurden und die auch im Kriegsfall im Felde kommandierten, hatten damals viele Sorgen: Auf Sardinien und Korsika waren Wirren ausgebrochen; in Oberitalien drohten Verwicklungen mit den Keltenstämmen; in der Adria kämpfte Rom gegen illyrische Piraten und einen hellenistischen Kondottiere, Demetrios von Pharos, der sich hier in Dalmatien ein neues Reich gründen wollte. Um so argwöhnischer horchte man in der Stadt am Tiber auf, als man von den ungewöhnlichen Aktivitäten des karthagischen „Strategen von Libyen und der metagonitischen Städte“ in Spanien erfuhr. An der Rhônemündung in Gallien (Frankreich) gehörte die Griechenstadt Massilia (Marseille) zur römischen Eid-Schutzgenossenschaft. An der nördlichen Küste Ostspaniens gab es Städte wie Sagunt, von den Griechen Zakynthos genannt, die behaupteten, griechische Gründungen zu sein, in Wahrheit jedoch - 57 -
vollkommen iberisiert waren. Alle diese angeblichen oder tatsächlichen Griechensiedlungen sahen voll Mißtrauen auf die Ausbreitung des karthagischen Machtbereiches in Süd- und Südostspanien. Es ist uns nicht überliefert, was damals zwischen den ‚Vätern‘ des römischen Senats, grobschlächtigen Herren mit kantigen Gesichtern in strenger weißer Togatracht, und Hamilkar Barkas besprochen wurde. Vermutlich handelte es sich, von Rom aus gesehen, teils um eine Erkundungsreise, denn es war wichtig, genau zu erfahren, was Karthago hier in Spanien betrieb, teils um eine Goodwill-Tour, um den Mahnungen der Schutzstadt Massilia zu genügen.14 Zu dieser Zeit, etwa 230 v. Chr., war Hamilkar Barkas Herr über das heutige Andalusien, Granada und das Gebiet um Alicante. Ein Jahr, nachdem die verhaßten Gäste aus Rom aufgetaucht waren, operierte er im Bereich der für ihre Schafzucht berühmten Vettonen, in der Estremadura zwischen dem Duero- und dem Tajofluß. Zum Winter schickte er bereits das Gros seiner Armee, die schwere Infanterie und das Elefanten-Korps, in die Quartiere. Auf dem Rückmarsch nach Akra Leuké machte er vor Helike (Elche), landeinwärts von Alicante gelegen, halt, weil sich dort Widerstand geregt hatte. Im Heer Hamilkars befanden sich starke iberische Kontingente in ihren schwarzen Kriegsmänteln aus Ziegenwolle mit rotumbuschter Erzhaube.15 Überdies scheinen ihm Aufgebote der Vettonen und ihrer - 58 -
Verbündeten gefolgt zu sein, im späten Herbst oder zu Anbruch des Winters 229 v. Chr. kam es vor Helike zur Schlacht. Der Gegner war offenbar an Zahl überlegen. Zudem hatten sich die Aufständischen eine besondere Kriegslist ausgedacht. Vor ihrer Phalanx, der Angriffslinie der Infanterie, trieben sie mit dürrer Holzfracht beladene Ochsengespanne einher, die sie dann in Brand steckten, was zur Folge hatte, daß die Ochsen nach vorn durchgingen. Eine Flammenwand wälzte sich auf die Karthager zu. Wahrscheinlich hatte man dieses Manöver ersonnen, um die Kampfelefanten des Feindes scheu zu machen, ohne zu ahnen, daß diese sich nicht mehr beim Heer des Barkas befanden. In der Schlacht wechselte obendrein einer der iberischen Fürsten, ein Orisse, die Partei und schloß sich den Unabhängigkeitskämpfern an. Beim Rückzug blieb Hamilkar Barkas im Kampf. Nach einer anderen Version verschwand er bei dem Versuch, über den Tajo zu setzen. Es hieß auch, er habe sein Leben gegeben, um die Flucht seiner Söhne Hannibal, Hasdrubal und Mago zu decken, die sich in seiner Umgebung befunden hatten.16 Wie dem auch sei: Hamilkar Barkas schied 229 v. Chr. etwas über fünfzig Jahre alt, durch den Tod im Felde aus dem Spiel. Sein Erbe Hannibal war zur Zeit des Todes seines Vaters siebzehn oder achtzehn Jahre alt, also entschieden zu jung, um die Nachfolge antreten zu können. Die Wahl des neuen Oberkommandierenden lag nach dem Gesetz, das Hamilkar den Behör- 59 -
den von Karthago beim Söldnerkrieg abgetrotzt hatte, beim Heer. Und die Armee wählte nun als Nachfolger des ersten Barkiden seinen Schwiegersohn, Hasdrubal den Schönen, Hannibals Schwager. Die Volksversammlung in Karthago hieß die Wahl gut. Allem Anschein nach hat man den neuen Strategen von Libyen und Spanien auch in den ersten Jahren seiner Amtstätigkeit einmal nach Karthago gerufen, um einen Konflikt mit numidischen Fürsten beizulegen.17 Das Schwergewicht der Wirksamkeit Hasdrubals des Schönen lag jedoch im Ausbau der barkidischen Herrschaft in Spanien. Die spanischen Fürsten wählten ihn bald nach seiner Amtsübernahme auf einer besonderen Zusammenkunft zu ihrem ‚König‘, zum ‚strategos autokrator‘. Wie man diesen Akt in Karthago aufgenommen hat, ist nicht überliefert. In früheren Zeiten hätte der Staatsgerichtshof der ‚Hundertvier‘ einen Feldherrn, der sich zum ‚autokrator‘, zum Selbstherrscher, proklamieren ließ, sicher zur Verantwortung gezogen. Doch diese Zeiten gehörten der Vergangenheit an. Die ‚Hundertvier‘ hatten viel von ihrer Machtstellung eingebüßt, in der Volksversammlung gab es eine große probarkidische Fraktion und zudem kontrollierte Hasdrubal die einzige schlagkräftige Armee, über die Karthago verfügte. Der neue Regent des karthagischen Spanien hatte bislang die schwachen Seestreitkräfte befehligt. Seine Gaben lagen weniger auf militärischem, denn auf poli- 60 -
tischem und diplomatischem Gebiet. Ähnlich wie sein Schwiegervater vordem die Position seines Hauses durch Ehebündnisse mit numidischen Fürstenhäusern zu festigen versucht hatte, so suchte Hasdrubal die königliche Stellung der Barkas durch eine neue Heiratspolitik zu sichern. Er selbst, dessen erste Gemahlin inzwischen verstorben war, nahm eine spanische Fürstentochter zur Frau. Und er sorgte auch dafür, daß sein Schwager und präsumptiver Erbe Hannibal diesem Beispiel folgte. Hannibal wurde die Tochter eines Orissen-Fürsten aus Castilo anvermählt. Dem Dichter Silius Italicus zufolge soll ihr Name Imilke gelautet haben. Diese punische Namensbezeichnung bedeutet jedoch im Grunde nichts anderes als ‚Schwester des Königs‘ und dürfte wohl eine freie Erfindung des Poeten sein. Silius Italicus behauptet auch, aus der Ehe sei ein Sohn hervorgegangen. Dies ist jedoch äußerst unwahrscheinlich, da von irgendwelcher Nachkommenschaft Hannibals sonst nirgends die Rede ist. Offenbar ist die Gemahlin des späteren Feldherrn auch früh gestorben, noch bevor dessen große Laufbahn begann.18 Deutet die Heiratspolitik schon auf Hasdrubals Streben hin, die barkidische Familie fest mit Spanien zu verbinden, so tat er noch einen anderen Schritt, der an die Gepflogenheiten hellenistischer Soldatenherrscher im Osten erinnert: Er gab dem karthagischen Spanien eine neue eigene Hauptstadt, ‚Neu-Karthago‘ (Cartagena). Die ‚Neue Stadt‘ entstand in der Nähe der alten - 61 -
Faktorei Mastia an der Südostküste auf einem halbinselförmigen Bergzug, der im Norden und Osten vom Meer umspült war. Bei hohem Wasserstand verwandelte sich der Bergzug in eine Insel. Er wurde auch durch einen breiten Damm mit dem Festland verbunden, der aus Verteidigungsgründen mit einem Durchstich und einer jederzeit abschlagbaren Brücke versehen war. Auf einem Hügel im Osten der Stadtanlage errichtete man dem Baal Esmun einen Tempel. Auf einem zweiten Hügel im Westen ließ Hasdrubal der Schöne für sich und seine Nachfolger einen Palast bauen, den der griechische Schriftsteller Polybios nicht zu Unrecht die ‚Königs-Burg‘ genannt hat. Hier hielt der Barkide nach der Manier hellenistischer Herrscher Hof, umgeben von jedem Luxus, den die punisch-hellenistische Mischkultur kannte. Hierher wallfahrteten die spanischen Vasallenfürsten. Hier wurden die Töchter von Stammesherren, deren Haltung unsicher schien, als Geiseln gehalten. Hasdrubals junger Schwager, der zu wahrhaft spartanischer Bedürfnislosigkeit erzogen war, mag soviel Prachtentfaltung mit Kopfschütteln betrachtet haben. Die königliche Stellung der Barkiden fand auch ihren Niederschlag in der Münzprägung. Auf den Münzen aus dieser Zeit erscheinen neben dem Wahrzeichen Karthagos, einem Roß unter einer Palme, Abbildungen des nordafrikanischen Waldelefanten oder Nachbildungen des gaditanischen Herakles, des Melkarth der Karthager, auch Portraits, vermutlich nach dem Vor- 62 -
bild der hellenistischen Könige von Syrakus. Die Münzportraits zeigen, wie bereits erwähnt (vgl. S. 19) die Köpfe eines bärtigen, etwa 50 Jahre alten Mannes, eines mit dem Diadem, dem Zeichen fürstlichen Ranges, geschmückten jüngeren Mannes und eines bartlosen athletischen Jünglings. Während man in dem bärtigen Kopf das Portrait Hamilkars sehen wollte, könnte das diademgeschmückte Haupt auf Hasdrubal den Schönen gedeutet werden, der Jünglingskopf hingegen auf Hannibal selbst. Bei diesem dritten Portrait handelt es sich um ein sehr ausdrucksvolles Antlitz mit stark entwickelter Augenbrauenpartie, einer Sattelnase und einem energischen Kinn. Die Lippen sind voll und fleischig, das Auge läßt jenes Feuer ahnen, das die antiken Autoren dem großen Karthager zugeschrieben haben. Ließe sich diese Deutung einhellig beweisen, müßte man allerdings konstatieren, daß dieser Jünglingskopf keinerlei typisch punisch-altphönizische Züge aufweist, eher könnte man an eine Beimischung berberisch-numidischen Blutes denken. Daß Ehen zwischen vornehmen karthagischen und numidischen Familien möglich waren, zeigt die Geschichte der Barkiden. Eine 1944 in Volubilis (Cherchel) im heutigen Marokko entdeckte Bronzebüste, die einen diademgeschmückten Jüngling darstellt, weist Ähnlichkeit mit dem dritten der Münzbilder auf, allerdings mit Abweichungen in der Augenpartie. Mit absoluter Sicherheit lassen sich jedoch weder die Münzportraits noch die Büste von Volubilis - 63 -
identifizieren, obwohl der Graveur offenbar die Absicht gehabt hat, seinen Kunstwerken Portraitähnlichkeit zu geben.19 Möglicherweise aber hatten die barkidischen Regenten selbst ein Interesse daran, bei der Münzprägung das Problem der Deutung offenzulassen, so daß man auch glauben konnte, es handelte sich bei diesen Köpfen um Prägungen des gaditanischen Herakles in verschiedener Gestalt. Schließlich bedeutete die Münzprägung mit Herrscherhäuptern nicht nur einen Verstoß gegen die altorientalischen Sitten der Oligarchie, sondern auch eine Hervorhebung des eigenen königlichen Souveränitätsanspruches, was einem revolutionären Akt gleichkam. Ein völliger Bruch mit der Stadt der Väter und den alten Göttern aber lag nicht im Bestreben der Barkiden. Freilich verschoben sich alle Machtverhältnisse. Der Aufschwung, den das ‚Neue Karthago‘ mit seinen in unmittelbarer Nähe liegenden reichen Silberbergwerken nahm20, der sich entfaltende Seehandel und die großen Fischpökeleien der ‚Neuen Stadt‘ machten Karthago in zunehmendem Maß wirtschaftlich von der spanischen Kolonie abhängig. Der Silberstrom aus Spanien scheint sich auf die heimische Produktion an Exportgütern keineswegs günstig ausgewirkt zu haben: Der Export punischer Waren ging zurück, der Import vor allem campanisch-italischer Verbrauchsgüter stieg mit der wachsenden Kaufkraft, wie Grabfunde aus hannibalischer Zeit lehren. Der Silberreichtum machte eher - 64 -
träge, als daß er belebend wirkte. Umgekehrt stärkte der Besitz dieser Gruben wieder die politische Stellung der Barkiden in der Heimat. Rund 40.000 Menschen, meist Sklaven, arbeiteten unter dem Druck punischer Werkmeister in den Gruben bei Neu-Karthago. Der Reinertrag belief sich nach unserem Geld auf etwa 10 Milliarden Mark im Jahr. Glanz und Macht, die von Neu-Karthago ausstrahlten, zogen weite Kreise. Die griechischen Städte im Norden, Ampurias (Emporiae, heute La Escala in der Provinz Tarragona) und das damals noch mächtige Massilia (Marseille) an der Rhônemündung in Südgallien wurden unruhig. Die Furcht vor der karthagischen Konkurrenz im westlichen Mittelmeer war hier seit Jahrhunderten Tradition. Massilia genoß römischen Schutz. Warnende Berichte nach Rom über die bedrohliche Ausbreitung der Macht Karthagos in Spanien können hier nicht ausgeblieben sein. So reiste im Jahre 226 v. Chr. eine zweite römische Gesandtschaft nach Spanien, um die Rolle der Schutzmacht für die iberischen Griechensiedlungen Ampurias, Rhodas und Sagunt (Sagunto) wahrzunehmen. Seit dem Sieg über Karthago und der Gewinnung von Basen auf Sizilien entfaltete man in Rom gern das Banner des Philhellenismus für die ganze angeblich oder tatsächlich hellenische Städtewelt. Was Sagunt betraf, das der Sage nach von Griechen aus Zakynthos gegründet worden sein sollte, war es höchst unsicher, ob es sich - 65 -
wirklich um eine alte griechische Kolonie oder um eine iberische, oberflächlich gräzisierte Stadt handelte. Dem Charakter nach war Sagunt, an dem sich später der zweite große Krieg zwischen Rom und Karthago entzünden sollte, jedenfalls völlig iberisch. Hasdrubal der Schöne empfing die Senatoren vom Tiber auf seiner Königsburg in Neu-Karthago. Hannibal, der inzwischen oberster Kavalleriekommandeur geworden war, sah zum zweiten Mal Repräsentanten jenes Volkes, von dem er dem Vater geschworen hatte, er wolle niemals in Freundschaft mit ihm leben. Die römischen Gesandten verlangten kühl den Abschluß eines Vertrages, in dem sich Hasdrubal der Schöne verpflichtete, niemals den Iberusfluß nach Norden zu überschreiten. Gemeinhin hat man den Iberus für identisch mit dem Ebro, dem größten Strom Spaniens im Norden gehalten. Auf der anderen Seite besagen die antiken Quellen, daß Sagunt nördlich des Iberus gelegen hat. Nach der Karte liegt das alte Saguntum und heutige Sagunto indes südlich des Ebro. Angesichts dieses geographischen Dilemmas bietet sich heute nur eine plausible Erklärung an, die von französischen Gelehrten gegeben worden und ebenso ungewöhnlich wie eingängig ist: Die Römer haben unter dem „Iberus“ 226 v. Chr. einen ganz anderen Strom als den Ebro verstanden, nämlich den Jucar, der in Mittelspanien in den Golf von Valencia einmündet. Ein Vertrag, der den heutigen Ebro als Sicherheitslinie bezeichnete, hätte beispiels- 66 -
weise Sagunt, wo eine romfreundliche Partei am Werk war, gar nichts genutzt. Beim Konflikt um Sagunt haben später die Karthager auch niemals die These vorgebracht, Sagunt hätte in ihrer Einflußzone südlich des Iberus (= Ebro) gelegen! Für Hasdrubal den Schönen wäre es ein Leichtes gewesen, den hoch im Norden fließenden Ebro-Iberus als Demarkationslinie anzuerkennen. Fügte er sich dagegen in die Iberus-(Jucar-)Lösung, so nahm er damit eine klare Begrenzung seines Herrschaftsbereiches auf Süd- und Mittelspanien in Kauf. Trotzdem unterschrieb Hasdrubal der Schöne den Vertrag. Von irgendwelchen Gegenleistungen Roms, etwa einer Nichteinmischungsklausel für den karthagischen Bereich, war nicht die Rede. Der bald zu unseliger Berühmtheit gelangende Iberus-Vertrag war ein Diktat. Hasdrubal hielt auch keinerlei Rückfrage in Karthago, ehe er unterzeichnete. Ein derartiger Schritt hätte die Verhandlungen nur in die Länge gezogen. Im Grunde sprach der Vertrag dem Barkiden gerade jene Rolle ab, König und Schirmherr der spanischen Fürsten zu sein, die ihm diese auf ihrem Fürstentag 229 oder 228 v. Chr. zugedacht hatten. Hannibal hat sich später, allerdings unter ganz besonderen Verhältnissen, nicht an diesen Vertrag gehalten, was darauf schließen läßt, daß er schon 226 v. Chr. der Überzeugung gewesen ist, man dürfe sich nicht einfach von Rom vorschreiben lassen, wie weit man in Spanien gehen dürfe. Aber Hasdrubal dem Schönen war es augenscheinlich aus- 67 -
schließlich darum zu tun, den bisherigen barkidischen Machtbereich zu festigen und sich die römische Intervention vom Halse zu schaffen. Auf einen Waffengang mit Rom wollte er sich auf keinen Fall einlassen. Es kann auch sehr wohl sein, daß es der Eitelkeit des einstigen demagogischen Politikers schmeichelte, jetzt Gesandte der Weltmacht Rom in seiner ‚Königsburg‘ von Neu-Karthago empfangen und mit ihnen über die Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären verhandeln zu können. Keinesfalls aber ging es Hasdrubal um einen plumpen Roßtäuschertrick, um Rom erst einmal zu beschwichtigen und Zeit für die Rüstung zum Revanchekrieg zu gewinnen.21 Auf der ‚Königsburg‘ zu Neu-Karthago nutzte man auch die großen Schwierigkeiten nicht, in die Rom schon im folgenden Jahr geriet und über die man sehr wohl unterrichtet gewesen sein wird. Punische Händler waren damals in der ganzen Mittelmeerwelt vertreten, und mancher von ihnen fungierte auch als Zuträger für die regierenden Herren in Nordafrika wie in Spanien. Im Jahre 225 v. Chr. überschritten die Gaesaten-Könige, keltische Reisläuferfürsten, von Gallien her die Alpen und rissen die mächtigen keltischen Stämme in der Po-Ebene, die Boier und Insubrer, zu einem gewaltigen Vorstoß auf Rom mit sich. Die keltischen Aufgebote erschienen in der Toskana. Erst in der Schlacht von Telamon konnten die römischen Konsuln den Angriff abfangen. - 68 -
Unter den Konsuln, den beiden alljährlich aus den Reihen des Senates neu gewählten höchsten Beamten dieser aristokratischen Republik, denen auch der Oberbefehl im Felde zufiel, fanden sich in den Jahren 226/225 geschworene Feinde Karthagos. Einer der Konsuln von 226, Marcus Valerius Messala, war der Sohn des Siegers von Messina im Ersten Punischen Krieg. 225 bekleidete Caius Attilius Regulus das Konsulat, ein Sohn jenes Regulus, der im karthagischen Kerker gestorben war. Daß diese Männer durchaus mit der Möglichkeit einer Kooperation zwischen Kelten und Karthagern rechneten, beweist die Tatsache, daß man die Garnisonen auf Sardinien und Korsika verstärkte und Deckungstruppen für Sizilien und Unteritalien bereitstellte. Der Kelten-Krieg dauerte noch drei Jahre. Erst 222 v. Chr. errangen die Römer bei Clastidium einen entscheidenden Sieg. Seitdem schoben sie systematisch ihre Militärposten, Militärstraßen und Kolonistenansiedlungen immer weiter nach Norden in die Po-Ebene vor, zum ohnmächtigen Haß der besiegten Boier und Insubrer. Die Spannung an dieser Militärgrenze blieb latent bestehen. Doch nichts deutet darauf hin, daß Hasdrubal der Schöne je ernsthaft erwogen hat, von Spanien aus die Verlegenheiten Roms zu einem Gegenschlag zu benutzen. Dabei fiel natürlich als hemmender Faktor ins Gewicht, daß man den Aufbau einer starken Kriegsflotte gänzlich vernachlässigt hatte. Zur See herrschte Rom. - 69 -
Dafür folgten auf der iberischen Halbinsel Sommer um Sommer militärische Expeditionen gegen noch unbotmäßige oder wieder in Aufruhr verfallene Stämme. Hannibal, nunmehr Anfang der Zwanziger, kommandierte bei diesen Operationen die Reiterei, Numider mit Ledertartsche und dem Bündel Wurfspieße auf kleinen windschnellen Rossen, Iberer auf mittelgroßen, zähen Pferden, deren Ahnen damals noch wild im kastilischen Hochland lebten. Jeder Mann führte zwei Wurfspieße, ein Langschwert und einen Lederschild mit sich, und die Pferde waren darauf abgerichtet, stillzustehen, wenn die Reiter zum Fußgefecht absaßen. Die Regel war im Kampf der schnelle Anritt, der Spießwurf, eine verstellte Flucht und abermaliger Anritt. War der Gegner dann noch nicht erschüttert, fochten die Reiter plötzlich zu Fuß. Hannibal formierte aus dieser nationaliberisch-keltischen Reiterei eine neue schwere Kavallerie in Helm und Panzer, die zu geschlossener Attacke gegen Fußvolk erzogen wurde. Dabei muß man freilich bedenken, daß die Antike keine Kavallerieattacke kannte, wie sie uns aus den Schlachten des 18. und 19. Jahrhunderts geläufig ist. Der Gebrauch des Ledersattels und des Steigbügels war noch unbekannt. Erst diese aber liehen dem einzelnen Reiter jenen festen Sitz, der es ihm erlaubte, die geballte Kraft von Mann und Roß bei der Attacke einzusetzen. Der antike Kavallerist auf seiner Satteldecke, von den Numidern auf ungesattelten - 70 -
Pferden ganz zu schweigen, war im Kampf nur auf die Kraft seines Armes angeweisen. In diesen Sommerkampagnen konnte Hannibal zum ersten Mal seine Führungsgabe unter Beweis stellen. Und der Armee wie den iberischen Fürsten, die seinen Schwager zum ‚König‘ proklamiert hatten, mochte es leicht scheinen, daß dieser junge Reiterführer ein weit besserer ‚strategos autokrator‘ sei als der Regent auf der ‚Königsburg‘. Der römische Historiker Livius22 schildert Hannibal folgendermaßen: „Größte Kühnheit zeigte er zur Übernahme von Gefahren, größte Besonnenheit in ihnen. Durch keine Anstrengung konnte sein Körper ermüdet oder seine Unternehmungskraft geschwächt werden. Bei Hitze und Kälte war seine Ausdauer gleich. Das Maß im Essen und Trinken begrenzte er durch das natürliche Bedürfnis, nicht durch den Genuß. Seine Zeit zum Wachen und Schlafen schied er nicht durch Tag und Nacht, sondern gönnte sich nur soviel Ruhe, wieviel von seiner rastlosen Tätigkeit an Zeit übrigblieb. Den Schlaf brauchte er nicht durch weiche Decken und Stille herbeizulocken; viele sahen ihn vielmehr oft, nur mit einem Militärmantel bedeckt, zwischen den Wachen und Posten auf der nackten Erde liegen. In seiner Kleidung unterschied er sich durch nichts von seinen Kameraden, nur seine Waffen und Pferde lenkten die Aufmerksamkeit auf sich. Unter den Soldaten war er bei weitem der Erste zu Fuß und zu Pferde. Allen - 71 -
voran stürmte er in den Kampf und wich als letzter aus dem Handgemenge …“ Livius vergaß allerdings nicht, diesem leuchtenden Bild eine Schilderung der angeblich typisch punischen Charakterzüge dieses großen Soldaten anzufügen. Er meint, Grausamkeit, Treulosigkeit und mangelnde Furcht vor den Göttern hätten diese großartigen Züge verdunkelt. Ja er, der auch die Geschichte vom Jugendeid kennt, wirft Hannibal sogar mangelnde Eidtreue vor. Römische Historiker schrieben jedoch nun einmal Geschichte zu Ehren Roms, nicht um der Wahrheitsfindung willen. Sein Schwarzweiß-Gemälde vom ebenso kühnen wie schrecklichen Gegner, der sich selbst in den Kampf stürzt, erinnert in manchen Zügen an das herkömmliche Bild von Alexander dem Großen. Daß Hannibal sich selbst am Kampf beteiligt hat, mag noch für die Zeit des Kavallerie-Kommandeurs in Spanien gelten. Bei der Leitung der großen, wohlangelegten Schlachten in Italien erscheint es dagegen schon ganz ausgeschlossen, daß sich der Oberbefehlshaber selbst ins Getümmel warf und damit die Lenkung des Kampfes aus der Hand gab.23 Die Winter auf der ‚Königsburg‘ zu Neu-Karthago galten dem Studium der hellenistischen Literatur24 und dem Gespräch mit Freunden. Zwei von diesen werden flüchtig erwähnt, sie tauchen dann als Kommandeure in der hannibalischen Armee auf, ein Mago mit dem Beinamen ‚Saunites‘, was wohl ‚der Samnite‘ bedeuten - 72 -
sollte, und der Reiteroffizier Maharbal. Dazu kam der bereits für Hamilkar Barkas tätige griechische Literat und Sprachlehrer Sosylos aus Sparta (vgl. S. 56). Über ihn und seine Freunde durfte man in der Königsburg verläßliche Informationen über die Ereignisse in Sparta bezogen haben, die man am barkidischen Hof besonders genau studierte: In dem schon halb ruinierten archaischen Militärstaat auf dem Peloponnes mit seinem Doppelkönigtum und seiner Staatskontrolle, den Ephoren, die sich mit den ‚Hundertvier‘ vergleichen ließen, vollzog sich seit dem Jahre 226 v. Chr. eine umwälzende Reform. Der König Kleomenes III. beseitigte das Fünfer-Kollegium des Ephorats, das allmählich das ganze öffentliche Leben beherrscht hatte. Zweifellos drängten sich gewisse Parallelen auf, zumal Hamilkar und sein Schwiegersohn selbst die Macht der ‚Hundertvier‘ zwar nicht beseitigt, aber eingedämmt hatten und man stets mit der Gegnerschaft der konservativen Oligarchie in der Heimat rechnen mußte. Eine große Rolle spielte das Studium der griechischen und hellenistischen Militärschriftsteller. Der älteste unter ihnen, Ainaias, hatte in seiner ‚Taktik‘ einen Fackeltelegraphen unter Verwendung von Wasseruhren empfohlen. Und wir wissen, daß zur Zeit Hannibals ein solches Signalsystem mit Türmen Spanien und Nordafrika verband.25 Diades, der berühmte Kriegsingenieur Alexanders des Großen, der die Belagerung von Tyros, der Mutterstadt Karthagos, geleitet hatte, - 73 -
war der Verfasser eines Werkes über Belagerungskunst. König Pyrrhos von Epirus hatte seine militärischen Denkwürdigkeiten und Abhandlungen über Taktik geschrieben. Das beliebteste Werk der Zeit auf diesem Gebiet waren jedoch die Aufzeichnungen des Ptolemaios Soter, des ersten Königs des hellenistischen Ägypten, über die Feldzüge Alexanders. Aus diesen Diarien konnte Hannibal die Lehre schöpfen, daß man in der Schlacht die Entscheidung stets auf den Flügeln suchen müsse. Alexander hatte durch einen solchen Angriff vom rechten Flügel aus die letzte große Schlacht gegen den persischen Herrscher bei Arbela (Gaugamela) 331 v. Chr. entschieden. An der Spitze seiner schweren Reiterei war er in die Flanke der persischen Schlachtlinie gestoßen, die unter dem Einsatz von Sichelwagen die makedonische Phalanx hatte aufbrechen wollen. Von da aus war es für einen genialen Kopf dann nur noch ein Schritt bis zu der Überlegung, daß man danach trachten müsse, den Feind auf beiden Flügeln zu fassen und ihn auf dem Schlachtfeld einzuschließen. Die kühnen Züge Alexanders über Tausende und Abertausende von Kilometern hinweg, über Hochgebirge und durch Wüsten, um in das Zentrum der feindlichen Macht vorzustoßen, bargen jedoch auch noch andere Anregungen. Alexander hatte das Unmögliche möglich gemacht. Warum sollte dies nicht auch einem anderen Manne gelingen, der Geist, Einbildungskraft und Mut in sich vereinte? Das Bild vom Alexanderzug - 74 -
hat die damalige Literatur, auch im Roman, noch lange, weit über Hannibal hinaus, beflügelt.26 Noch regierte indes Hasdrubal der Schöne auf der ‚Königsburg‘, und der Vertrag von 226 v. Chr. ließ Verwicklungen mit Rom nicht als wahrscheinlich erscheinen. Doch änderte sich die Lage völlig unerwartet und plötzlich. Auf Befehl Hasdrubals des Schönen war ein spanischer Fürst wegen Verrats hingerichtet worden. Leute aus dessen Umgebung schworen dem Punier Rache, und einem von ihnen, angeblich einem Keltensklaven, gelang es, den ‚König‘ zu ermorden. Der einen Version zufolge geschah dies auf der Jagd, bei der man mit schweren, doggenähnlichen Molosserhunden Hirsche hetzte27, nach einer zweiten Version fand das Attentat auf der ‚Königsburg‘ statt. Der Mörder wurde ergriffen und auf das grausamste zu Tode gefoltert. Die antiken Schriftsteller berichten, bis zur letzten Minute habe er ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen gehabt.28 Die Stunde Hannibals brach an. Man schrieb das Jahr 221 vor Christi Geburt.
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IV. Der große Krieg beginnt … Nachdem die prunkvolle Totenfeier für den ermordeten ‚strategos autokrator‘ Hasdrubal begangen war, stand die Armee von Libyen und Spanien, beziehungsweise deren Offizierkorps zum zweiten Mal innerhalb knapp eines Jahrzehnts vor der Aufgabe, den Nachfolger zu wählen. Zwar wissen unsere Quellen diesmal nichts von einem besonderen spanischen Fürstentag, wie er nach dem Tode Hamilkars zusammengetreten war, aber bei dieser Wahl werden auch die iberischen Fürsten, soweit sie Hilfskontingente kommandierten, ein Wort mitzureden gehabt haben. Hannibal war der Schwiegersohn eines der ihren. Es gab keinen anderen Kandidaten als den Sohn des Hamilkar Barkas: den Befehlshaber der Reiterei im Heer. Alle kannten den jungen Mann mit dem profilierten Antlitz.1 Hannibal war zur Zeit seiner Wahl zum Strategen 26 oder 27 Jahre alt. Wir kennen das genaue Datum dieser Wahl nicht, wie wir auch nicht wissen, welche Frist zwischen dem Ableben eines Strategen und dessen Neuwahl durch die Armee vorgesehen war. Immerhin muß die Wahl im Jahre 221 v. Chr. stattgefunden haben. Die Volksversammlung in Karthago hat sie ohne Zweifel gebilligt, wenn auch nicht alle damit einverstanden waren. Für die konservativen Oligarchen in Karthago mochte es ein schwacher Trost sein, daß ständig Vertreter der ‚Gerusia‘ in Neu-Karthago amtierten. Der - 76 -
ermordete Hasdrubal der Schöne hatte sicher Sorge dafür getragen, daß keine Gegner des Hauses mit dieser Aufgabe betraut wurden. Außerdem bestand nun einmal die für die karthagischen Konservativen ebenso materiell erfreuliche wie politisch unerfreuliche Tatsache, daß man durch den Silberstrom in Karthago quasi zum Staatspensionär des Strategen in Spanien geworden war. Der neugewählte Stratege von Libyen und Spanien war als Soldat erzogen worden, im punisch-hellenistischen Sinn, aber eben nur als Soldat. Er war in einem kolonialen Milieu zum Mann gereift, er hatte sich die Gattin aus diesem Milieu gewählt – oder sein Schwager hatte ihm diese im Sinne seines diplomatischen Kurses aufgedrängt. Die Vaterstadt Karthago hatte er 237 v. Chr. als Kind verlassen und sollte sie erst nach 34 Jahren wiedersehen. Das politische Getriebe, der Handelsgeist der Metropole blieben ihm fremd. Nur in der Phantasie, nach Schilderungen des Vaters und des Schwagers oder im Gespräch mit den ‚Gerusiasten‘ in seiner Umgebung konnte er sich ein Bild von der Heimat machen. Umgekehrt kannten die Handelsfürsten und Latifundienbesitzer den Mann im fernen Spanien, der die Armee Karthagos kommandierte, auch nicht aus eigener Anschauung. Die überzeugten Feinde der Barkas um Hanno den Großen waren in dieser Hinsicht also auch nicht schlauer als die gewitzten ‚Barkiner‘ aus der Schule des ermordeten Hasdrubal des - 77 -
Schönen. Beide Fraktionen mußten mit einer nicht bekannten Größe rechnen. Die Wahl zum Strategen stieß in Spanien auf keinen Widerspruch. Lokale Unruhen beim Stamm der Olkaden im Quellgebiet des heutigen Guadiana mit dem Hauptort Althaia (Cartala) vermochte der neue Oberkommandierende rasch beizulegen. Das muß gegen Ende des Jahres 221 v. Chr. gewesen sein. Nichts deutet darauf hin, daß man sich nun im Stabe Hannibals auf der ‚Königsburg‘ in Neu-Karthago sofort Gedanken gemacht hätte, wie man den Revanchekrieg gegen Rom beginnen könnte. Natürlich hatte man Kunde von den Kelten-Kriegen, von dem römischen Plan, die gesamte Poebene unter Kontrolle zu bringen, von dem Vorhandensein zweier Parteien im römischen Senat, dem Clan um die Adelsfamilie der Fabier, wo man für Maßhalten gegenüber Karthago plädierte, und den schroff antikarthagischen Gruppen, etwa dem Clan der Cornelier. Handelsstaaten mit weitgedehnten Geschäftsbeziehungen waren stets gut über ihre Partner und Gegner unterrichtet.2 Karthago, beziehungsweise der karthagische Regent in Spanien hatten nicht interveniert, als Rom die Invasion der Kelten abzuwehren hatte. Dagegen intervenierte Rom jetzt in Spanien. In Sagunt, einer Stadt nördlich des ominösen ‚Iberus‘ (Jucar) warf sich die prorömische Partei zum Herren auf und vertrieb karthagerfreundliche Elemente im Patriziat. Soweit diese nicht erschla- 78 -
gen wurden, flüchteten sie zum Stamm der Torboleten, die sich den Strategen auf der ‚Königsburg‘ in Karthago als Protektor gewählt hatten. Diesen peinlichen Konflikt konnte man im Stabe Hannibals nur mit äußerster Besorgnis notieren. Für das Jahr 220 v. Chr. war jedoch ein großer Feldzug nach Mittel- und Nordwestspanien geplant, welcher der Erweiterung des eigenen Machtbereiches galt. Als Auftakt zum Krieg gegen Rom in Italien lassen sich diese Operationen schwerlich deuten. An der Spitze einer starken Armee marschierte Hannibal über Merida am Mittellauf des Guadiana nach Norden und griff die Vaccaeer an, einen der volkreichsten iberischen Stämme. Ihr Hauptort Salmatis, das heutige Salamanca, wurde im Sturm genommen. Als die Frauen von Salmatis sich tapfer gegen Vergewaltigung und Plünderung zur Wehr setzten, befahl der Mann, dem die griechisch-römischen Schriftsteller später nur zu gern eine typisch punische Grausamkeit zuschrieben, die Plünderung der Stadt einzustellen. Alles geraubte Hab und Gut mußte den Bewohnern zurückgegeben werden.3 Anscheinend ist Hannibal dann noch weiter nach Norden, bis zum Duero etwa oberhalb Zamora, vorgestoßen. Vor Anbruch des Winters trat er, wie üblich, den Rückmarsch in die Winterquartiere an. Als die karthagische Armee das Gebiet der Karpetaner passierte, eines noch mächtigeren Stammes als die Vaccaeer, verlegten ihr starke iberische Stammesaufgebote, verstärkt - 79 -
durch die von neuem rebellierenden Olkaden, in der Gegend des heutigen Toledo den Weg. Angeblich soll dieses Heer, zu dem auch Vaccaeer gehörten, 100.000 Mann stark gewesen sein, eine Zahl, die sicher übertrieben ist; aber wir können annehmen, daß die Gegner Hannibal an Zahl überlegen waren. Hannibal wich aus, setzte bei Nacht über den Tajo – ein schwieriges Unternehmen für eine Armee mit Elefanten und zahlreichem Troß – und bezog eine neue Stellung. Als der Gegner nachfassen wollte und seinerseits im Morgengrauen über den Tajo ging, griff Hannibal an und brachte dem Volksheer eine fürchterliche Niederlage bei. Die Fliehenden wurden bis zum letzten Mann und Roß verfolgt. Die Schlacht im Raum von Toledo, die uns in großen Zügen noch überliefert ist, läßt zum ersten Mal den Feldherrn erkennen: seine rasche und richtige Reaktion bei plötzlich wechselnder Kampflage, seinen Blick für die Ausnutzung des Geländes, seine Fähigkeit zu großen und kühnen Entschlüssen.4 Es war der größte Sieg, den karthagische Truppen bisher in Spanien erfochten hatten. Die Kunde davon eilte wie ein Lauffeuer durchs Land. Die großen Stammes-Fürsten gaben fortan Ruhe. Der neue Stratege, der eine Tochter aus ihren Geschlechtern zur Gemahlin hatte, schien unbesiegbar zu sein. Als Hannibal die Winterquartiere um Neu-Karthago erreicht hatte, lagen schlechte Nachrichten aus Sagunt vor. Die an die Macht gelangte prorömische Partei - 80 -
hatte Rom um Hilfe ersucht. Sagunt, noch immer eine reiche und mächtige Handelsstadt, lag auf einem steilen Hügel über der Küstenstraße nach Norden zum Ebro und besaß erhebliche strategische Bedeutung. Setzte Rom sich hier fest, gewann es im Norden von NeuKarthago einen militärisch höchst bedeutsamen Hafenstützpunkt. Der ‚Iberus‘-Vertrag von 226 v. Chr. schloß eine solche Intervention nördlich oder südlich vom ‚Iberus‘ ja keineswegs aus. Den Buchstaben des Vertragswerkes zufolge konnte man am Tiber nach Belieben handeln. Noch dachte die Mehrheit der Senatoren von Rom allerdings nicht an Krieg. Sie schickten eine neue Gesandtschaft nach Neu-Karthago, wohl auch um das Wesen des neuen Oberbefehlshabers in Spanien zu erkunden. Leiter dieser Delegation war der ehemalige Konsul des Jahres 227, Publius Valerius Flaccus, der als Kenner spanischer Verhältnisse galt. Als Konsul muß er 227 v. Chr. mit der Vorbereitung der diplomatischen Intervention bei Hasdrubal dem Schönen befaßt gewesen sein. Die Gesandten aus Rom gaben sich sehr barsch und anmaßend. P. Valerius Flaccus appellierte an die Götter, was in diesem Fall heißen sollte an die Heiligkeit des geschlossenen Vertrages und verlangte, daß sich Hannibal nicht in die Händel in Sagunt einmischen dürfe. Sie wiesen auch darauf hin, daß der ‚Iberus‘ als Demarkationslinie nicht verletzt werden dürfe. Hannibal erwi- 81 -
derte, nicht er, sondern die Römer hätten sich in Sagunt eingemischt, die Anführer der (prokarthagischen) Volkspartei seien umgebracht worden, und solche Ungerechtigkeit könne er nicht dulden. Die Verteidigung seiner Position war zwar effektvoll, aber die rechtlichen Argumente waren leider schwach. Jetzt zeigte es sich, welches Unheil Hannibals Schwager angerichtet hatte, als er sich 226 bedingungslos dem römischen Ersuchen gefügt hatte. Immerhin müssen die römischen Herren eines erkannt haben: Hier stand ihnen kein schmieriger punischer Händler, kein ‚gugga‘ gegenüber, sondern ein sehr selbstbewußter junger Mann, der sich von dem geschmeidigen, sich für erzschlau haltenden Regenten von 226 in allem unterschied.5 Hannibals Formulierung, es sei nicht Sitte der Karthager, denen Schutz zu versagen, die Unrecht erlitten hätten6, begründete gewissermaßen moralisch den Anspruch, Protektor aller iberisch-keltisch-griechischen Städte und Stämme zu sein. Die Senatoren, deren kehliges Latein den Puniern so unangenehm klang, ließen andererseits durchblicken, daß ein militärisches Eingreifen nördlich des ‚Iberus‘ den Krieg bedeuten könne. Hannibal hatte als Knabe geschworen, den Römern niemals freundlich gesonnen zu sein. Er hatte nie geschworen, um jeden Preis gegen Rom zu ziehen. Aber spätestens zu diesem Zeitpunkt muß er erkannt haben, wie recht sein Vater mit der Forderung gehabt hatte, gegenüber diesem Volk wachsam und mißtrauisch zu - 82 -
sein. Jetzt rückte der Krieg gegen Rom in den Bereich des Möglichen, und auf der ‚Königsburg‘ in Neukarthago muß man sich in diesem Winter 220/219 v. Chr. zum ersten Mal Gedanken darüber gemacht haben, wie man diesen Krieg von Spanien aus ohne eine starke Flotte, überhaupt führen sollte. Solche Überlegungen konnten nur in einer Richtung laufen: Rom, mit seiner mächtigen Flotte die größte Seemacht im Mittelmeer, mit einer Landarmee, deren Gesamtstärke, alle Reserven und bundesgenössischen Kontingente eingerechnet, auf 750.000 Mann veranschlagt werden konnte, war jederzeit imstande, von den Basen auf Sizilien aus den karthagischen Kernbesitz in Nordafrika anzugreifen. Infolgedessen mußte man versuchen, die römische Heereskraft in Italien selbst zu binden, die durchaus nicht festgefügte Bundesgenossenschaft zwischen Rom, den zahlreichen anderen Stämmen und Völkern Italiens und den griechischen Städten im Süden zu zerbrechen und die keltischen Völker, die ein großes Reservoir an wehrtüchtigen Männern boten, zu mobilisieren. Das wiederum hieß, daß man im Landmarsch durch Südgallien über die Alpen in Oberitalien auf dem Plan erscheinen mußte. Daß nunmehr Offiziere aus dem Stab Hannibals, in der Maske punischer Händler, entsandt wurden, um mit den keltischen Völkern in Gallien und Norditalien Fühlung aufzunehmen und das Terrain zu sondieren, ist uns bezeugt und ist bei einem so weitblickenden, kühn, aber nicht unüberlegt dispo- 83 -
nierenden Feldherrn wie Hannibal gar nicht zu bezweifeln.7 Hannibals Schwager hatte den ‚Iberus‘-Vertrag unterzeichnet, ohne Rückfrage in Karthago zu halten. Bis zur Kriegsdrohung von seiten der Römer hatte er es gar nicht kommen lassen. Jetzt war jedoch die Situation ungeheuer ernst geworden. Hannibal und die ihm beigegebenen Gerusiasten schickten Eilkuriere nach Karthago, um den Stadtkönig, die Sufeten und die ‚Gerusia‘ von der neuen Entwicklung zu unterrichten. Obendrein hatten die Antibarkiner nach der Wahl Hannibals zum Strategen wieder gewaltig die Trommel gerührt, weil Spanien gewissermaßen damit zur Erbdomäne des Hauses Barkas geworden war. Ohne die Heimatstadt konnte man jedoch auf der ‚Königsburg‘ in Neu-Karthago jetzt nicht handeln. Andererseits war die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß die Antibarkiner die Gelegenheit benutzten, um Hannibal als Kriegstreiber zu desavouieren. Und was Sagunt betraf, so gab es ein düsteres Vorbild. 264 v. Chr. hatte der Krieg zwischen Rom und Karthago damit begonnen, daß sich die Tiberstadt ohne Rücksicht auf karthagische Interessen in den Streit zwischen den Söldnerführern in Messana (Messina) mit dem König von Syrakus eingemengt hatte. Dieser Konflikt war das Signal zum Krieg gewesen. Suchte Hannibal Fühlung mit den Oberbehörden in Karthago, so tat die römische Gesandtschaft unter P. Valerius Flaccus ein gleiches. In Rom wußte man ausge- 84 -
zeichnet Bescheid über den Familienzwist zwischen den Häusern Hanno und Barkas. Machte man jetzt den regierenden Herren in Karthago klar, daß diese keineswegs an den von Hasdrubal unterzeichneten und von Hannibal angeblich verletzten ‚Iberus‘-Vertrag gebunden waren, da diesen nur der Stratege in eigener Machtvollkommenheit geschlossen hatte, konnte man ihnen vielleicht einen Bruch mit Hannibal leichter machen. Die Rechnung der römischen Diplomaten ging nicht auf. In Karthago war man durch Hannibal informiert worden, man sah in dieser Lage keinen Grund, ihm zu mißtrauen. Überdies war man finanziell inzwischen auch völlig vom iberisch-barkidischen Kolonialreich abhängig geworden. Hannibal hütete jenes Silber, das den Herren von Karthago ein luxuriöses Pensionärsdasein ermöglichte. P. Valerius Flaccus und seine Delegation reisten unverrichteter Dinge nach Rom zurück. Und dort tat man erstaunlicherweise vorerst nichts. Die Meinungen, ob Sagunt einen neuen großen Krieg wert sei, waren im Senat durchaus geteilt. Außerdem hatte man noch andere Sorgen. Der Ausbau der Militärposten und des Militärstraßensystems im keltischen Bereich verschlang Geld und Menschenkraft. An der Adria gab es Verwicklungen mit illyrischen Seeräubern und mit dem hellenistischen Abenteurer Demetrios von Pharos. Sagunt wurde in Rom in praxi abgeschrieben. Vielleicht wollte man auch die Reaktionen Hannibals abwarten. Doch dieser war nun in Zugzwang geraten. - 85 -
Ließ er seinerseits die Karthagerfreunde aus Sagunt und die Torboleten im Stich, die diesen Schutz gewährt hatten, war sein Prestige als Protektor der iberisch-keltischen Fürsten Spaniens in Frage gestellt. Daher lud er die Stadtherren von Sagunt und die Torboleten vor sein Schiedsgericht auf der ‚Königsburg‘, um den Streit zu schlichten. Doch die Patrizier von Sagunt weigerten sich, einem karthagischen Richterspruch zu gehorchen. Im Vertrauen auf Rom beharrten sie auf ihrem Standpunkt, nur dieses könne über den Konflikt entscheiden. Darauf ordnete Hannibal die militärische Exekution gegen Sagunt an. In seiner Sicht handelte es sich jetzt ausschließlich darum, dem Rechtsbruch in Sagunt zu begegnen.8 Aber der ‚Iberus‘ – vulgo der Rubikon – war damit überschritten. Sagunt genoß zwar, wie sich die dort herrschende Partei jedenfalls einbildete, die Freundschaft Roms, es gehörte jedoch nicht zur römischen Bundesgenossenschaft in Italien und fiel darum auch nicht unter die Bedingung des karthagisch-römischen Friedens von 241 v. Chr., derzufolge es den Karthagern untersagt worden war, gegen römische Bundesgenossen Krieg zu führen. Zu Beginn des Frühjahres 219 v. Chr. erschien Hannibal mit der Armee vor Sagunt. Da die Stadt auf der äußersten Spitze eines steilen Hügelrückens lag, der über der Küstenebene ins Meer hinausragte, konnte der Angriff nur von Westen her angesetzt werden, wo - 86 -
der Hügelrücken weniger schroff abfiel. So geschah es auch. Mit allen Mitteln der hochentwickelten hellenistischen Belagerungskunst, mit Wurf- und Pfeilgeschützen, Rammwiddern zum Breschelegen, fahrbaren Türmen mit Enterbrücken, versuchte man die Zinnenkrone der Stadtmauer zu erreichen und den Sturmtruppen Gelegenheit zum Infanteriekampf zu geben. Die Saguntiner schickten Kuriere nach Rom, um Hilfe zu erbitten. Doch Rom tat nichts. Angesichts der Riesenentfernungen wäre ohnehin jedes Entsatzkorps zu spät gekommen. Die Saguntiner verteidigten unterdes ihre Stadt mit wilder Verzweiflung. Wenn der karthagische Oberbefehlshaber geglaubt haben mochte, die Exekution würde in ein paar Wochen erledigt sein, so täuschte er sich sehr. Der Sommer verstrich, und die Armee lag immer noch vor Sagunt fest. Von der Zinnenkrone der Stadtmauer schleuderten die Saguntiner ‚falaricae‘ gegen die Belagerer, Spieße mit langer Klinge, die mit pechbestrichenem Werg umwickelt und vor dem Wurf in Brand gesetzt wurden. Hannibal, der in vorderster Linie bei den Sturmtruppen weilte, wurde durch eine solche ‚falarica‘ schwer an der Hüfte verletzt und mußte für etliche Wochen das Kommando seinem Kavallerieführer Maharbal überlassen. Als er genesen war, lagen Meldungen vor, im Gebiet der Orissen (deren Fürstenhaus seine Gemahlin entstammte) und bei den Karpetanern seien karthagische - 87 -
Rekrutierungs-Kommissare auf Schwierigkeiten gestoßen. Er eilte selbst nach Mittel- und Südspanien, um die Streitigkeiten beizulegen. Der Umgang mit den stolzen und reizbaren Stammesfürsten kostete Nerven. Erst im Herbst 219 v. Chr. hatte ein Generalsturm vor Sagunt Erfolg. Rammwidder brachen die Mauer auf, die libysch-phönizische schwere Infanterie drang in die Stadt ein. Gnade hatten die Saguntiner nicht zu erwarten. Die romfreundlichen Herren von Sagunt steckten die Stadt selbst in Brand und stürzten sich nach altiberischer Sitte auf dem Markt in Scheiterhaufen. Die Beute an Gold und Silber, die den Karthagern in die Hand fiel, war ungeheuer. Sagunt war unter den westgriechischen oder gräzisierten Niederlassungen Spaniens und Südgalliens nach Massilia eine der wohlhabendsten Städte gewesen. Hannibal befahl, die gesamte Beute nach Karthago zu schicken. Er ahnte, wie sehr er jetzt auf das Wohlwollen der regierenden Herren daheim angewiesen sein würde. Die Kunde vom Brand und Untergang Sagunts erregte vor allem in Massilia (Marseille) Bestürzung. Die ‚punische Habsucht und Grausamkeit‘ schien vor aller Welt wieder einmal bestätigt worden zu sein. Bevor die Nachricht nach Rom gelangte, vergingen Wochen. Aber auch nachdem man dort wußte, daß Sagunt gefallen war, gab es noch keine klare Entschlußbildung. Am Tiber fragte man sich, was Hannibal beziehungsweise was Karthago jetzt tun würde – oder überhaupt tun konnte. - 88 -
Mit einem Marsch durch Gallien über die Alpen nach Oberitalien rechnete man nicht. Ein solches Unternehmen lag außerhalb des Bereichs aller Kalkulationen. Und von den karthagischen Erkundungsunternehmen scheint man keine Kenntnis erlangt zu haben. Hannibal hatte im Fall der saguntinischen Exulanten und der Torboleten die Rolle des Volksfreundes und Beschützers der kleinen Völker angenommen. Es läßt sich denken, daß er diese Politik gegenüber den keltischen Stämmen, vor allem im Hinblick auf die Unzufriedenheit vieler italischer Stämme und der großen Griechenstädte mit der auch wirtschaftlich immer anmaßender werdenden Vormachtstellung Roms fortgeführt hat. Auch in Karthago hatte der Aufstieg des Hauses Barkas damit begonnen, daß man sich der breiten Masse, der ‚Unterdrückten‘, gegen die eigenen Standesgenossen bedient hatte. Von seinem ermordeten Schwager mag Hannibal genug darüber gehört haben, wie nützlich es sei, die Mehrheit des Volkes, gewissermaßen die öffentliche Meinung, für die eigenen Ziele zu gewinnen. Nach dem Fall Sagunts, nachdem man nun einmal den ‚Iberus‘ überschritten hatte, war man sich im Stabe Hannibals fraglos klar darüber, daß ein Krieg gegen Rom durchaus in den Bereich des Möglichen gerückt war. Noch wußte niemand, wie Rom reagieren würde. Dennoch schien es eine unumgängliche Notwendigkeit, daß man sich ganz Nordostspaniens als Ausgangs- 89 -
basis für einen etwaigen Marsch nach Oberitalien bemächtigte. Der Plan für den Feldzug in Nordostspanien wie der zweite größere Aufmarschplan müssen im Winter 219/18 v. Chr. auf der ‚Königsburg‘ fertiggestellt worden sein, soweit sich im zweiten Fall für einen Zug durch weithin unbekannte Länder im voraus überhaupt Dispositionen treffen ließen. Es heißt, daß in diesem Winter keltische Abgesandte aus der Poebene in Neu-Karthago geweilt hätten, wahrscheinlich aus den Reihen der Boier, die Rom noch immer Widerstand leisteten, während die beiden anderen großen Stämme der Insubrer und Cenomaner sich ruhig verhielten.8 Das Erscheinen keltischer Abgeordneter eröffnete gute Aussichten, ließ aber andererseits auch sicherlich erkennen, daß unter den Kelten in Gallien und Oberitalien genausowenig Einmütigkeit bestand wie unter den Kelten und Iberern in Spanien.9 In diesem Winter leitete Hannibal eine große Umgruppierung seiner Truppenverbände ein. Aus Spanien wurden 16.000 Mann Fußvolk und Reiterei, einheimische Kontingente aus Turdetanern, Orissen und Olkaden, nach Nordafrika verlegt, dazu 4.000 Mann aus den metagonitischen Städten an der mauretanischen Küste. Diese Einheiten sollten die Deckung Karthagos gegen mögliche römische Angriffe übernehmen. Vielleicht aber sollten sie gleichzeitig auch die barkidische Hausmacht in der Stadt repräsentieren. Die spanischen Tausendschaften waren auf Hannibal eingeschworen, nicht - 90 -
auf die Behörden in Karthago. Dafür gingen 12.000 Mann schwere libysche Infanterie, numidische Reiterei, leichte Truppen von den Balearen und aus Ligurien, Schleuderer und Speerschützen nach Spanien. Das waren klare Kriegsvorbereitungen. Bedenkt man jedoch, mit welch langen Transportzeiten, sei es beim Landmarsch oder mit Hilfe der Flotte längs der Küsten, bei solchen Umdispositionen gerechnet werden mußte, so wird es verständlich, daß man Vorsichtsmaßnahmen nur auf sehr lange Sicht treffen konnte. Was Rom tun würde, wußte man auf der ‚Königsburg‘ zu Neu-Karthago noch immer nicht. Die Meinungen im Senat waren nach wie vor geteilt. Ein Teil der maßgebenden Adelsgeschlechter hatte sich seit dem Sieg über Karthago 241 v. Chr. auch kommerziellem Erwerb zugewandt; und gerade diese Kreise hielten Karthago noch immer für einen gefährlichen Konkurrenten, während sie den spanischen Silbermarkt in eigene Regie übernehmen wollten. Die steigende römische Handels- und Produktionskraft rief andererseits unter den Bundesgenossen in Campanien und den Griechenstädten wie Tarent lebhafte Besorgnis hervor. Bisher hatte Rom in diesem Bund die Bauern und Soldaten gestellt, die unteritalischen Bundesgenossen die Flotte sowie Verbrauchs- und Exportgüter. Hielt ein Teil der Optimaten, der Aristokratie, einen neuen Krieg gegen Karthago für unbedingt notwendig und gewinnbringend, mit Ausnahme des Kreises um - 91 -
das Haus der Fabier, so waren in der Masse der Plebejer, der Ackerbürger, Handwerker und Bauern, die die Hauptlast eines Krieges zu tragen hatten, die Mühseligkeiten des Ersten Punischen wie die Beschwernisse des Keltenkrieges noch in zu frischer Erinnerung. Einer der Sprecher der plebejischen Sache war Caius Flaminius, ehemals Verwalter der römischen Basen auf Sizilien, Konsul anno 223 v. Chr., der, obwohl seine Wahl angefochten worden war, den Kelten an der Adda eine schwere Niederlage zugefügt und den Einzug in Rom als Triumphator im Felde durchgesetzt hatte. Im Jahr 220 bekleidete er das Amt des Censors, dem die Steuereinschätzung sowie die Musterung der Bürger für den Wehrdienst oblag. Als Censor begann er mit dem Bau der berühmten Via Flaminia, der großen Militärstraße nach Norden in keltisches Gebiet. Zu Konsuln für das Jahr 218 v. Chr. hatten Senat und Volk von Rom Publius Cornelius Scipio den Älteren und Tiberius Sempronius Longus gewählt. Wie die Sitte es vorschrieb, stammte der erste aus altadeliger Familie, der zweite aus plebejischem Geschlecht. P. Cornelius Scipio d. Ä. verfügte über beträchtliche militärische Fähigkeiten. Etwa im Mai 218 v. Chr. müssen die Konsuln in Rom über Massilia die ersten Nachrichten davon erhalten haben, daß Hannibal inzwischen in Nordspanien den Ebro überschritten hatte. In römischer Sicht hieß dies, daß die Strafaktion gegen Sagunt keine isolierte Maßnahme gewesen war, sondern daß - 92 -
der karthagische Oberkommandierende offenbar überhaupt nicht mehr gewillt war, den ‚Iberus‘-Vertrag noch zu respektieren. Für Rom wurde das Ganze zur Prestigefrage. Den einseitigen Bruch eines bei den Göttern beider Städte beschworenen Vertrages wollte man keineswegs ungestraft hinnehmen. Die Fabier-Partei verlor an Boden. Mit dem Beginn des Frühjahres 218 v. Chr. glich Neu-Karthago einem Heerlager. Hannibal versammelte die Armee zum Vormarsch nach Norden, um zunächst die Ausfallbasis im heutigen Katalonien zu gewinnen: libysche und spanische schwere Infanterie, spanische schwere und numidische leichte Reiterei, leichte Infanterie aus dem heutigen Marokko, aus Ligurien und von den Balearen, dazu ein Korps von 37 Elefanten. Mit 90.000 Mann Fußvolk und 12.000 Reitern marschierte er Ende April nach Norden ab. Den Oberbefehl auf der ‚Königsburg‘ vertraute er seinem Bruder Hasdrubal an, der damals etwa 22 Jahre alt gewesen sein dürfte und trotz seiner Jugend offenbar als sehr ernsthafter, ja sogar ein wenig pessimistischer Mann galt. Die Kontrolle über das barkidische Herrschaftsgebiet wurde durch ein Fackeltelegraphen-System verstärkt, mit Hilfe dessen man jede Veränderung, jede aufrührerische Bewegung über die Kette der Signaltürme mit Feuerzeichen sofort weitermelden konnte. Hannibal selbst nahm den jüngsten Bruder Mago, der etwa 20 Jahre alt war, mit ins Feld, dazu seinen Nef- 93 -
fen Hanno, Sohn des Stadtkönigs Bomilkar. Zum Stab gehörten Hannibal mit dem Zunamen Monomachos (Einzelkämpfer), der Reiterführer Maharbal, abermals ein Offizier namens Hasdrubal, dem vorwiegend das Genie- und Nachschubwesen unterstand, also eine Art Generalquartiermeister, dazu zwei Halbgriechen aus syrakusanischem Adel, der mit karthagischen Familien verschwägert war, Epikydes und Hippokrates, ferner ein Offizier namens Mago mit dem Zunamen Saunites (‚der Samnite‘?) und ein Generaladjutant, Karthalo. Dazu kamen drei Gerusiasten, Barmokar, Bostar und abermals ein Mago, sowie die beiden griechischen Literaten oder Sekretäre, Sosylos aus Sparta und Silenos von Kale Akte. All diese Persönlichkeiten sind für uns infolge der Ungunst der Quellen meist nur schattenhaft erfaßbar. Wir sehen nur, wie dann einzelne dieser Anführer, die Hannibal offensichtlich als besonders tüchtig befunden hatte, immer wieder mit besonderen Aufträgen befaßt oder als Befehlshaber selbständig operierender Korps verwendet werden, der jüngste Bruder Mago Barkas, der Neffe Hanno Bomilkar, die beiden Halbgriechen Epikydes und Hippokrates und Mago Saunites. Von dem letzten ist uns überliefert, er habe sich durch noch größere Habsucht ausgezeichnet als Hannibal selbst. Hannibal Monomachos wiederum wird in der griechisch-römischen Literatur besondere Blutrünstigkeit nachgesagt. Mit solchen anekdotischen Verzerrungen läßt sich wenig beginnen.10 - 94 -
Ende Mai 218 v. Chr. ging die Riesenarmee über den Ebro. Damit hatte Hannibal sich sowohl die Ausgangsposition für einen neuen Alexanderzug durch Gallien und über die Alpen nach Oberitalien gesichert wie eine Verteidigungsbasis, sofern die Römer versuchen würden, mit Hilfe ihrer mächtigen Flotte und der Unterstützung durch Massilia eine Expedition gegen Spanien selbst anzusetzen. Das Ebrogebiet war in solchem Fall für Angreifer die günstigste Invasionsküste. In Rom entschloß man sich zu einer letzten massiven diplomatischen Intervention. Mit Hannibal noch einmal zu verhandeln, erschien sinnlos; jetzt wollte man Karthago selbst zur Verantwortung ziehen. Im Juni 218 v. Chr. reiste eine fünfköpfige Delegation nach Karthago ab, darunter die Konsuln des Vorjahres Lucius Aemilius Paullus und Marcus Livius. Missionschef war Quintus Fabius Buteo, ein Angehöriger der nicht unbedingt kriegslüsternen Fabier. Mit dem Oberhaupt dieses Clans, dem alten, vielerfahrenen Qu. Fabius Maximus, sollte Hannibal das Jahr darauf unliebsame Bekanntschaft im Felde machen. Im Sommer 218 v. Chr. erschien die Gesandtschaft, höchst selbstbewußt auftretend, vor der Regierung von Karthago. Qu. Fabius Buteo verlangt nicht mehr und nicht weniger als die Liquidierung des Feldzuges in Spanien und die Auslieferung Hannibals als eines ‚Friedensbrechers‘. Dieser habe die Zerstörung einer unter römischem Schutz stehenden Stadt auf sich geladen. - 95 -
Wieder erinnert er an die Verletzung des ‚Iberus‘-Vertrages. Vielleicht hatten die römischen Gesandten bei ihrer schroffen Forderung auf die anti-barkinische Partei spekuliert, auf den Zwist zwischen dem Hause Hanno des Großen und den Barkiden. Hanno der Große saß in den Reihen der ‚Gerusia‘. Aber die Sprache dieser ‚Barbaren‘ ist für die karthagischen Herren denn doch allzu laut. Sie verweisen darauf, daß der ‚Iberus‘-Vertrag allein von dem verstorbenen Hasdrubal geschlossen worden sei und man ihn in Karthago niemals ratifiziert habe. Sie beziehen sich darauf, daß im Friedensvertrag von 241 von Spanien überhaupt nie die Rede gewesen sei. Im übrigen pflege man hier in Karthago über die Strategen selbst Gericht zu halten. Quintus Fabius Buteo verliert die Geduld. Er erhebt sich, rafft seine weiße Toga in einem Bausch zusammen, als ob er darin Würfel verberge, und sagt grob: „Hier liegen Krieg und Frieden! Ihr habt die Wahl!“ Die Mehrzahl der Oligarchen ist entrüstet. Wessen erdreistet sich dieser Mensch aus der verhaßten Stadt am Tiber? „Wähle, was Du willst“, entgegnet der Stadtkönig. Der Römer läßt die Toga wieder fallen. Hastig übersetzt der Dolmetscher sein kehliges Latein. „So nehmt, was Ihr gewollt habt – den Krieg!“ Mit dieser Formel hat er den Karthagern noch nolens volens die Schuld am Kriege aufgehalst. Doch die versammelten Herren der Stadt sind in dieser Stunde ei- 96 -
nig. Sie begrüßen den Krieg gegen Rom mit donnerndem Beifall. Unterdes stand Hannibal mit der Armee noch in Nordspanien, im heutigen Katalonien, nicht ahnend, daß inzwischen Rom in der Heimat seinen Kopf gefordert hatte. Zunächst galt es, im jüngsten Kolonialgebiet einigermaßen stabile Verhältnisse zu schaffen. Weiterreichende Entschlüsse konnte man erst fassen, wenn man Klarheit über die Entwicklung in Karthago oder in Rom hatte. Inzwischen war der Krieg erklärt worden. Eilkuriere brachten die Nachricht mit einem Schnellsegler ins Hauptquartier.11 In der Antike erzählte man sich, Hannibal habe vor dem großen Zug nach Norden in Gades (Cadiz) dem düsteren Melkarth, einst dem königlichen Gott von Tyros wie von Karthago, ein Opfer dargebracht. Melkarth, den die Griechen dem Herakles gleichsetzen, besaß in Gades einen uralten Tempel aus Holz. Diese Handlungsweise Hannibals deutet auf den fromm altphönizischen Sinn hin, der trotz aller formalen hellenistisch-wissenschaftlichen Bildung und Kriegskunst die Barkiden erfüllte. Beruhten auch Organisation, Ausbildung und Strategie der hannibalischen Armee auf hellenistischen Vorbildern, so war doch die Bindung an die dunkle, pessimistische Götterwelt der Vorväter in ihm das seelisch bestimmende Element.12 Und ferner kursierte aus jenen Tagen noch eine andere Geschichte, die uns Cicero nach dem verscholle- 97 -
nen Werk des Silenos von Kale Akte über Hannibal überliefert hat. Vor dem Marsch über die Alpen erschien Hannibal im Traum ein junger Gott, der vielleicht mit dem Herrn (Baal) Haddad, dem punischen Mars, gleichzusetzen ist. Der junge Gott bedeutete ihm, auf Geheiß des Herrn aller Himmel (Baal Shannim) möge er nach Italien ziehen. Er wies ihm den Weg und sagte, Hannibal müsse nur folgen und niemals zurückblicken. Hannibal befolgte dies Gebot im Traum nicht und schaute sich um. Da sah er eine riesenhafte Schlange, unter ihrem schuppigen Leib beugte sich alles Gestrüpp. Darauf setzte ein fürchterliches Unwetter ein, mit Blitz und Donner. Der junge Gott erklärte Hannibal, dies bedeute die Zerstörung Roms. Aber ließ sich dieser Traum nicht auch ganz anders auslegen, wie überhaupt alle Traum- oder Spruchorakel der Antike von einer unheimlichen Doppeldeutigkeit sind? Konnte man nicht ebenso schließen, daß das Traumbild mit dem verheerenden Unwetter die Zerstörung des Lebenswerkes dreier Generationen des Hauses Barkas ankündigen wollte? Der junge Gott wies Hannibal an, er möge nur vorwärts gehen, nicht fragen und die Geschicke der Zukunft im Dunkel lassen.13 Unzweifelhaft hat Silenos von Kale Akte diese Geschichte in seinem Buch erzählt, und vermutlich wird ihm Hannibal von diesem merkwürdigen Traum selbst berichtet haben. In jenen Zeiten waren Träume magische Realitäten, die man sehr ernst nahm, und zwar um - 98 -
so ernster, wenn die Deutung Rätsel aufgab. Glaube, Aberglaube und Furcht vor dem Willen der Götter waren gerade im punischen Denken auf das engste verknüpft. Die Furcht vor den eigenen Göttern hatte einst in alten Zeiten dazu geführt, daß der Adel die eigenen Kinder den Göttern opferte, um ihren Willen zu bannen. Die gleiche Furcht bewog den Magoniden Hamilkar den Großen, am Abend der verlorenen Schlacht von Himera sein Leben zur Sühne den Göttern darzubringen. Ein Mann vom hochfliegenden Geist Hannibals mag zunächst aus diesem Traum Kraft geschöpft haben. Aber vielleicht ist ihm am Abend seines Lebens, als alle Pläne gescheitert waren und er selbst den Tod suchen mußte, die Zweigesichtigkeit dieses Traumes zum Bewußtsein gekommen. Im Grunde war das Traumorakel so doppelbödig wie jener Spruch, der dem König Kroisos von Lydien zuteil wurde, als er gegen das Perserreich ins Feld rückte: „Wenn Du über den Halys gehst, wirst Du ein großes Reich zerstören …“
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V. Die Berge des ewigen Schnees Marsch über die Alpen Als Hannibal im Frühjahr 218 v. Chr. die ‚Königsburg‘ zu Neu-Karthago verließ, sagte er zum zweiten Mal der Heimat Valet. Mit neun Jahren hatte er der Stadt der Väter den Rücken gekehrt. Neunzehn Jahre darauf verließ er die Stadt und die Iberische Halbinsel, in der er zum Mann herangereift war. Er sollte sie niemals wiedersehen. In die Stadt der Väter kehrte er nach 34 Jahren zurück – als Feldherr, dessen schönste Hoffnungen getrogen hatten. Die Iberische Halbinsel, das heutige Spanien und Portugal, war zu ihrem größeren Teil Basis barkidischer Hausmacht und Quelle karthagischen Reichtums geworden. Dessen ist sich Hannibal wohl bewußt gewesen. Er ließ die Gemahlin aus spanisch-keltiberischem Fürstengeschlecht offensichtlich als Unterpfand für seine und Karthagos Verbundenheit mit den iberischen Fürsten in Neu-Karthago zurück. Er tat dies, weil er sich unzweifelhaft im klaren darüber war, wie kompliziert die Verhältnisse im Völkertiegel auf der Iberischen Halbinsel waren, wie launisch-hochmütig die Fürstengeschlechter reagierten. Ob ihm die Trennung von der Gemahlin aus dem Fürstenhaus von Castulo viel bedeutet hat, können wir nicht abschätzen. Im allgemeinen spielten Frauen nur eine untergeordnete Rolle im Denken dieser karthagischen Aristokratie. Und Hanni- 100 -
bal selbst war kaum – ungleich Napoleon – ein Mann, der ständig der Frauen bedurfte. Sonst hätten ihm die anti-hannibalischen Schriftsteller der Antike sicherlich eine übergroße Lüsternheit angedichtet.1 Vermutlich im Laufe des Mai 218 v. Chr. überschritt Hannibal den Ebro gen Norden. Der ‚Iberus‘ -Vertrag war vergessen. Die Gerusiasten in seinem Stabe dürften kaum Protest eingelegt haben. Stillschweigend gab man, sicher auch in Karthago, sein Einverständnis zu großzügigem Handeln, mit dem Ziel, die gesamte Iberische Halbinsel unter Kontrolle zu bringen. Unmittelbar vor oder während des Abmarsches der Hauptarmee nach Norden muß es Schwierigkeiten mit Stämmen in Nordwestspanien gegeben haben, von denen uns nur die Namen überliefert sind: Aironesier, Andosiner und Bargusier. Offensichtlich hat sich der Konflikt rasch beilegen lassen. Doch die südeuropäische Basis eines neuen Alexanderzuges blieb schwankend. Die ersten Maßnahmen Hannibals im neugewonnenen nordspanischen Ebro-Bereich, dem heutigen Katalonien, galten der Sicherung dieser Gebiete. Von dem unzähmbaren Revanchedurst der ‚Löwenbrut‘ Hamilkar Barkas, die die Schriftsteller von Polybios bis Livius Hannibal anlasten, ist dabei allerdings wenig zu spüren. Im Feldhauptquartier Hannibals, nördlich des Ebro, hatte man vorerst keine Nachrichten über die neuestmögliche Entwicklung in Karthago wie in Rom. Eilkuriere mit der Meldung von der Kriegserklärungs-Szene - 101 -
in Karthago, bei der sich beide Parteien noch wechselseitig die Kriegsschuld hatten aufladen wollen, können Hannibal kaum vor dem Hochsommer erreicht haben. Damit trat der zweite Teil des Aufmarschplanes in Kraft: Der Marsch durch das südliche Gallien (Südfrankreich) über die Alpen nach Oberitalien, mit dem Ziel, die Volkskraft der Keltenstämme und die Unzufriedenheit mit der Herrin vom Tiber in Unteritalien und bei den italischen Einzelvölkern gegen diese auszuspielen. Hatte Alexander ein Weltreich überrannt, so mußte es doch möglich sein, den Staat der Römer, dieser ‚Barbaren‘ in hellenistischer Sicht, ins Herz zu treffen! In Rom hatte man sich für den ‚casus belli‘ inzwischen vorbereitet. Man gedachte den Krieg sofort offensiv zu führen. Die Konsuln des Jahres kommandierten nach römischem Brauch jeweils eine der beiden Hauptarmeen. Die 1. Konsularische Armee unter P. Cornelius Scipio d. Ä. wurde im Seetransport auf Spanien angesetzt, die Basis des karthagischen Wohlstandes und der Heerkraft. Die 2. Konsularische Armee unter dem Konsul T. Sempronius Longus zog man auf Sizilien zusammen, um von dort aus mit Hilfe starker Flottenkräfte das Kerngebiet Karthagos in Nordafrika zu attackieren. Der Aufmarschplan war gut. Wäre er in die Praxis umgesetzt worden, hätte der ganze Krieg kaum mehr als ein Jahr beansprucht. Was man bei den Konsuln nicht einkalkuliert hatte, war der Umstand, daß dem verhaß- 102 -
ten und für dummschlau erachteten Feind ganz neuartige Schachzüge einfallen könnten. Mit dem Marsch über die Alpen und dem Erscheinen der karthagischen Armee in Oberitalien rechnete keiner. Solche Manöver waren schlechtweg undenkbar. Hannibal traf die ersten Dispositionen. Ein Korps von 10.000 Mann unter Führung eines nicht näher identifizierbaren höheren Offiziers namens Hanno blieb in Katalonien zurück, zum Küstenschutz gegen zu vermutende römische Diversionen wie auch zur Kontrolle der iberischen Stämme. Dies Korps wurde durch landeseigene Verbände verstärkt. Hannibal schloß mit dem Fürsten des mächtigsten Stammes, dem Herrn der Ilergeten, Indibilis (nach griechischen Quellen Andobales) ein Bündnis. Diese Nordbasis in Katalonien war ungeheuer wichtig. Wir können durchaus vermuten, daß Hannibal plante, unter Umständen eine zweite Armee aus Spanien nachzuziehen. Außerdem entschloß er sich, für den interkontinentalen Landmarsch sich des Großteils des umfänglichen Trosses zu entledigen. Fuhrparks, Belagerungsgerät, Pionierzeug, vermutlich auch das schier unvermeidliche Gefolge solcher Söldnerheere: Weiber, Kinder, Dirnen, Marketender wurden in einem Truppenlager bei Kissa nördlich des Ebro zurückgelassen. Etwa im August des Jahres 218 v. Chr. setzte Hannibal mit 50.000 Mann Fußvolk, 9.000 Reitern und 37 Elefanten zum großen Sprung nach Oberitalien an. Ge- 103 -
nerell war jetzt geplant, daß diese für die damalige Zeit sehr starke Armee sich aus dem Lande verpflegen mußte. Trotzdem war es unumgänglich, für die Elefanten Futter mitzuschleppen, für Öl zur Verpflegung wie zur Körperpflege der Mannschaft vor dem Kampf zu sorgen. An ein Relais von Verpflegungsmagazinen von Spanien aus war dabei aus technischen Gründen nicht zu denken.2 Noch weniger konnte man eine Versorgung über See ins Auge fassen. Die überlegene römische Flotte, verstärkt durch Geschwader der verbündeten Griechenstadt Massilia wäre jederzeit in der Lage gewesen, solche Unternehmungen zu unterbinden. Um die Seerüstung hatte sich, wie bereits erwähnt (vgl. S. 56 und S. 69), weder Hamilkar Barkas noch sein Schwiegersohn noch der Erbe Hannibal sonderlich gekümmert – was sich wiederum auch als Beweis dafür deuten läßt, wie wenig man bei den Barkiden auf einen neuen Waffengang mit Rom erpicht war. Bei Kriegsausbruch übergab Hannibal seinem Bruder Hasdrubal 50 Penteren (Fünfruderer), zwei Vier- und fünf Dreiruderer. Ausgebildete Besatzungen waren nur für 32 Penteren und die Dreiruderer (Trieren) vorhanden. Das entsprach dem Bestand eines Küstenschutz-Geschwaders, das nicht einmal imstande war, auf See den Angriff einer römischen Invasionsflotte abzufangen.3 Die erste Gebirgsbarriere, die beim Italienzug überwunden werden mußte, waren die Ostpyrenäen. Eine Küstenstraße gab es nicht. Hannibal zog vermutlich - 104 -
über den etwa 290 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Col de Pertus, zwischen dem heutigen Ort Figueras in Nordspanien und Perpignan in Südfrankreich. Hier existierte damals eine Fahrstraße.4 Der Sommer neigte sich dem Ende zu. Von den enormen Schwierigkeiten des Überganges über die Alpen, die sich zehn Wochen später ergeben sollten, hatte man keine klare Vorstellung, außer dem Bewußtsein, daß ja längst vor der hannibalischen Armee immer wieder ganze Völkerschaften die Gebirgspässe überquert hatten, zuletzt die Kelten, die in allen Plänen Hannibals eine so große Rolle spielten. Zwar konnte man in den ‚Ephemeriden‘, den Tagebüchern aus dem Stabe Alexanders des Großen, die Probleme der Überwindung von Hochgebirgen studieren, doch hat jede alpine Welt ihre eigenen Bedingungen. Und der Bericht bei Polybios, der sich noch auf Schilderungen von Sosylos oder Silenos, den griechischen Sekretären Hannibals, stützen konnte, läßt deutlich erkennen, wie sehr manche Erscheinungen, etwa Neuschneefall über verharschter alter Schneedecke, die Karthager verwirrt und erschreckt haben; oft bemächtigte sich der Truppe, die an Hochgebirgsmärsche nicht gewöhnt war, tiefe Niedergeschlagenheit. Vier Wochen nach dem Pyrenäen-Übergang, etwa zu Beginn des September 218 v. Chr., erschien Hannibals Armee am Unterlauf der Rhône, 100 bis 150 Kilometer nördlich von Massilia. Besondere Schwierigkei-
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ten mit den keltischen Stämmen in Südostfrankreich hatte es nicht gegeben, obwohl die Armee sich mehr oder weniger, sei es auf Grund gütlicher Übereinkunft, sei es durch Requisitionen, aus dem Lande verpflegen mußte. Aber jetzt stand man am Ufer eines breiten Stromes, wenn dieser auch an der Übergangsstelle, die Hannibal ins Auge gefaßt hatte, der sogenannten ‚Insel‘ (vermutlich jenem Punkt, an dem die Isère in die Rhône mündet), verhältnismäßig flach war. Und auf dem östlichen Ufer sammelten sich keltische Aufgebote, denen der Durchzug eines so großen Heeres mit ganz unbekannten, seltsamen Riesentieren unbequem war. Die Gelegenheit schien günstig, den Fremden den Weg zu verlegen. Es war nur ein schwacher Trost, daß hier an der Rhône ein keltischer Fürst aus Oberitalien mit einigen Begleitern beim Stabe Hannibals erschien, Magalos aus dem Dynastengeschlecht der Boier – ein Zeichen dafür, welche Kontakte zwischen Neu-Karthago und den Kelten der Poebene längst vor dem großen Marsch angeknüpft worden waren. Magalos stellte sich gleichsam als Verbindungsoffizier zur Verfügung.5 Der keltische Stammesherr kannte natürlich die Alpenpässe, er konnte auch über die – freilich nicht sehr günstige – Stimmung unter den großen Stämmen Oberitaliens berichten. Der wilde Kampfesmut, der Eroberertrieb, der erst vor ein paar Jahren die Gaesaten6 mit ihren Heer- 106 -
haufen, mit Weib und Kind und plumpen Ochsenfuhren über die Alpen geführt hatte, war verraucht. Da der Brückenpark und der Großteil der Handwerker und Techniker, wie sie zum Troß hellenistischer Armeen gehörten, im Lager von Kissa zurückgeblieben waren7, stellte der Übergang über einen breiten Strom im Angesicht feindlicher Heeraufgebote doch ein erhebliches Problem dar. Hannibal befahl daher, bei den Stämmen auf der Westseite der Rhône Kähne aufzukaufen. Die Infanterie mußte Flöße zimmern. Die Kampfelefanten bereiteten besonderes Kopfzerbrechen. Sie weigerten sich, auf die Großflöße zu gehen. Also ließ Hannibal mit Erdwerk bedeckte Molen in den Strom legen, an die die Großflöße gelegt wurden, so daß die Elefanten vermuten konnten, man führe sie auf eine Art von Landbrücke. Um die Kelten auf dem Ostufer zu täuschen, sandte Hannibal seinen Neffen Hanno Bomilkar mit einer Armee-Abteilung etwa 35 Kilometer flußaufwärts mit dem Auftrag, dort über die Rhône zu setzen und dann wieder flußabwärts in den Rücken des Gegners zu marschieren. Dieses Manöver erfüllte seinen Zweck. Durch Rauchsignale, ähnlich dem in Spanien und Nordafrika verwendeten System der Fackeltelegraphie, verständigte Hanno Bomilkar seinen Oheim, daß der Übergang geglückt sei. Darauf setzte Hannibal mit Hilfe seiner behelfsmäßigen Boots- und Floßflottille über die Rhône, wobei mancher der Elefanten noch ein unfreiwilliges Bad nahm.8 - 107 -
Dies spannende Spiel an der Rhône kostete fünf Tage. Als die Armee auf dem Ostufer wieder vereinigt war, zählte sie noch 38.000 Mann Fußvolk und 8.000 Reiter. Das läßt auf außerordentlich hohe Marschverluste schließen, weniger durch Kämpfe oder durch die Schwierigkeiten beim Rhône-Übergang, als durch Krankheiten und Desertion, vor allem bei den keltiberisch-spanischen Einheiten und keltischen, balearischen und ligurischen Tausendschaften. Sie hatten es leicht, hier in Südgallien irgendwo unterzutauchen. Die gallisch-italische Odyssee kostete Opfer, noch bevor man am Ziel dieser Heerfahrt angelangt war. Außerdem verminderte sich die Armee um etliche ausgesuchte Mannschaft, die man in Relaisposten westlich der Rhône zurückließ. Mindestens einen solchen Posten hat man wiederentdeckt.9 Das deutet darauf hin, daß Hannibal mit dem Marsch nach Oberitalien keineswegs alle Brücken hinter sich abbrechen, sondern durchaus die Landverbindung mit dem iberischen Imperium bewahren wollte. Inzwischen war auch der Gegner nicht müßig gewesen. Um die gleiche Zeit, als Hannibal über die Rhône ging, war der Oberbefehlshaber der 1. konsularischen Armee, P. Cornelius Scipio d. Ä., mit zwei Legionen schwerer Infanterie und dazugehörenden leichten Verbänden auf 60 Truppentransportern in Massilia eingetroffen, um auf dem Weg nach Spanien hier Station zu machen. Sein Amtskollege T. Sempronius Longus stand - 108 -
mit der 2. Armee, 40.000 Mann und einer Flotte von 160 Schiffen, auf Sizilien, um die Invasion in Nordafrika vorzubereiten. Die Offensive gegen die beiden Hauptzentren der karthagischen Macht mußte, nach der Rechnung der Konsuln, zu einer baldigen, endgültigen Entscheidung in diesem Krieg führen. In Massilia erwartete Scipio jedoch die Nachricht, der Stratege sei mit einem großen Heer und bei den Kelten noch niemals gesehenen grauen Riesentieren, den ‚elefantoi‘, über die Rhône gesetzt. Es hieß also eilends umdisponieren. Die Meldungen waren verwirrend, ja bestürzend. Scipio schiffte seine Verbände aus und marschierte Rhôneaufwärts, um dem verhaßten Karthager den Weg zu verlegen. Zu Aufklärungszwekken sandte er ein Kavalleriekorps voraus. So vortrefflich die römische schwere Infanterie war, so schlecht war es um die Reiterei bestellt. Und die keltischen Soldreiter der Handelsrepublik Massilia waren nicht viel besser. Am Unterlauf der Rhône prallten zum ersten Mal in diesem Krieg römische Kavallerie-Verbände mit den Pulks der leichten numidischen Reiterei Hannibals zusammen, die die Südflanke des karthagischen Heerzuges deckten. Unter dem Wurfspießhagel der Numider wurden die Römer in die Flucht gejagt … Mit dem Auftauchen römischer Kavallerie an der Rhône muß Hannibal erkannt haben, daß der Gegner entweder versuchen wollte, ihm noch in Gallien den Weg zu verlegen oder aber, was wahrscheinlicher er- 109 -
schien, eine Expeditionsarmee nach Spanien entsandt hatte. An seinem großen Plan war jetzt nichts mehr zu ändern. Traf man zudem den Feind im eigenen Raum, würde dies der beste Schutz für Spanien sein. P. Cornelius Scipio d. Ä. andererseits wollte gleichfalls den Gedanken einer Invasion in Nordspanien nicht aufgeben. Er übergab den Oberbefehl über das Gros des Invasionsheeres seinem Bruder Gnaeus Cornelius Scipio, während er selbst mit Reiter-Einheiten nach Oberitalien eilte, um dort die Deckungsstreitkräfte an der Militärgrenze, drei Legionen (die Legion zu 4.200 Mann) zu einer neuen 3. Armee zusammenzufassen. Hannibal mußte jetzt rasch handeln. Der Gegner hatte erkannt, was als Überraschung geplant worden war. Auch die Jahreszeit drängte. Der Herbst kam. Und der Fürst Magalos wußte genug davon zu berichten, wie früh in dem noch fernen Hochgebirge mit seinen Schründen und Schroffen der Schneefall einsetzen konnte, noch bevor die Pleiaden, das Siebengestirn, nach der griechischen Sage die sieben schönen Töchter des Atlas und der Okeanide Pleione, in den kühlen Nächten am Himmel erschienen. Die Griechen glaubten freilich, ihr Aufgang bedeute Glück für die Schiffsfahrer, während ihr Verschwinden das Einsetzen der schrecklichen Winterstürme auf See anzeige. Diese Weisheit kannten auch Hannibals griechische Sekretäre. Es kam jetzt darauf an, den kürzesten und besten Paßweg über die Alpen auszuwählen. Wir kennen mit - 110 -
Sicherheit den Ausgangspunkt dieses ungeheuer schwierigen Marsches über ein fremdartiges Hochgebirge: das Tal der Isère, eines linken Nebenflusses der Rhône. Und wir kennen den Endpunkt den Abstieg in das Tal der Dora Riparia, im Gebiet der keltischen Tauriner, deren Hauptort das heutige Turin war. Wie weit es zu hannibalischen Zeiten wirklich allgemein verbindliche Namen für Flüsse, Berge und Täler gegeben hat, ist dunkel und zumindest sehr zweifelhaft. Polybios, der sich dabei auf das Buch des Silenos von Kale Akte stützen konnte, erzählt, Hannibal sei über den ‚Tauriner Paß‘ gegangen. Auch andere Ortsbezeichnungen werden in den antiken Quellen erwähnt – der ‚Katzenberg‘ im Gebiet der Allobrogen am Westrand der Alpen, ferner der ‚Weiße Stein‘ in den Hochalpen – und die Tatsache, daß man von der mühsam erklommenen Paßhöhe aus die oberitalische Tiefebene erblicken konnte. Hannibal nutzte diesen Umstand, um dem arg mitgenommenen Heer wieder neuen Mut einzuflößen.10 Bei den Debatten im Stabe Hannibals über Marschweg und Versorgungsprobleme in dem menschenleeren Hochgebirge soll einer der Unterführer, Hannibal Monomachos, allen Ernstes vorgeschlagen haben, man müsse die Leute lehren, Menschenfleisch zu essen, sie könnten sich dann von den umwohnenden Kelten ernähren. Diese trübe Anekdote hat sich aus der Antike erhalten; sie wurde gern benutzt, um die zynische Grau- 111 -
samkeit der Punier zu dokumentieren. Nur entbehrte sie der Logik, denn droben im Hochgebirge gab es eben keine Menschen mehr, die man hätte auffressen können. Es kann aber wohl sein, daß sich hier der unter dem Namen ‚Monomachos‘ bekannte Namensvetter Hannibals tatsächlich einen rohen Scherz erlaubt hat.11 Rüstete man zum Marsch über ein unbekanntes Hochgebirge, auf dessen Höhen es schließlich weder Wald noch Wiesen mehr gab, mußte man erhebliche Mengen an Grün- und Rauhfutter für die Tausende von Kavallerie- und Packpferden und vor allem für die Elefanten mitschleppen, deren Tagesration an Futter und Wasser sehr hoch war. Für die Mannschaften bedurfte es neben Brotgetreide, Wein und Brennholz eines großen Vorrates an Öl, um die Körper geschmeidig zu erhalten. All dies muß einkalkuliert worden sein, sonst wäre der Marsch nie gelungen. Soweit Hannibals Marschroute heute erkennbar ist, marschierte dieser die Rhône aufwärts bis zur Einmündung der Isère und schwenkte dann in west-nordwestlicher Richtung ins Tal der Arc ab. Von hier aus ließ sich der Col du Clapier erreichen, ein heute fast vergessener Nebenpaß im Berggebiet des Mont Cenis.12 Aber der Anmarsch zum Col du Clapier war von vielen Widrigkeiten begleitet. Der Heerwurm mußte das Gebiet der keltischen Allobrogen passieren, die zwischen Rhône, Isère und dem Genfer See saßen, et- 112 -
wa in der heutigen Dauphiné. Zum Glück stritten sich im allobrogischen Fürstenhaus gerade zwei Brüder um die Herrschaft und erbaten Hannibals Schiedsspruch. Der Zank konnte beigelegt werden, was jedoch allobrogische Aufgebote nicht hinderte, dem fremden Heerführer am ‚Katzenberg‘ in den Voralpen den Weg zu verlegen. Die Fremden machten sich durch ihre unablässigen Forderungen nach Getreide, Schlachtvieh und Wein (für dessen Anbau die Allobrogen berühmt waren) weidlich unbeliebt. Der ‚Katzenberg‘ stellte eine günstige Verteidigungsstellung dar. Hannibal, beraten durch Fürst Magalos, ließ die Gepflogenheiten der Allobrogen erkunden. Sie hielten ihre Position – deren genaue Lage nicht mehr zu identifizieren ist – nur bei Tag besetzt. Zur Nacht zogen sie sich in eine benachbarte größere Ortschaft zurück. Nachdem einige planlose Überfälle auf die Marschkolonnen Hannibals abgewehrt worden waren, ließ Hannibal eines Abends in aller Form das Feldlager aufschlagen und Schanzen aufwerfen; er ordnete an, so viele Lagerfeuer wie irgend möglich anzuzünden, um den Gegner in Sicherheit zu wiegen. Mitten in der Nacht, bei brennenden Lagerfeuern, stieß er dann mit der gesamten leichten Infanterie die Anhöhen hinauf und besetzte die Sperrstellung. Als der Tag graute, zog er das Gros mit der Kavallerie und den Elefanten nach, machte dann plötzlich kehrt und faßte den allobrogischen Landsturm mit voller Gewalt. Der Hauptort des - 113 -
Stammes wurde geplündert, wobei man reichlich Getreide, Vieh und Wein erbeutete. Über all diesen Operationen und dem Marsch auf schlechten, zerfurchten Talstraßen standen nun schon, noch über dem Wald, der die Talwände bedeckte, die Firnhäupter der Alpen, eine fremde, unheimliche Welt. Zumeist trotteten jetzt die Elefanten in der Vorhut, weil die Kelten vor diesen Riesentieren die größte Furcht empfanden und weil deren Witterung die keltischen Pferde scheuen ließ. Im Tal der oberen Isère erreichte man das Gebiet der Ceutronen, die für ihre Rinderherden, Käsereien und für ihren Erzbergbau bekannt waren. Die ceutronischen Fürsten nahten mit grünen Zweigen in den ungeschlachten Fäusten, um ihren Friedenswillen zu bekunden und stellten ganz nach Wunsch der Karthager Geiseln, Schlachtvieh und Bergführer für den Weitermarsch ins Hochgebirge. Doch Hannibal und Magalos ließen sich nicht täuschen. Offenbar ging die Absicht der Ceutronen dahin, durch scheinbare Freundwilligkeit ihr Gebiet vor gewaltsamer Requisition zu bewahren, um sich dann, beim nächsten schwierigen Defilée auf dem Marsch in die Berge am Troß der Karthager schadlos zu halten. Für den weiteren Vormarsch zog Hannibal darum den Troß mit den Packpferden und Rüstwagen, die Elefanten und die Reiterei an die Spitze der Kolonnen. Mit der schweren und leichten Infanterie übernahm er persönlich die Deckung des Marsches. In einem engen Tal- 114 -
durchgang, vielleicht schon im Bereich der Arc, geschah, was er erwartet hatte. Der Landsturm der Ceutronen griff an, unter gellendem Kriegsgeschrei, das sich an den steilen Talwänden brach, unter einem Hagel von Wurfgeschossen aller Art. Von den Berghöhen wälzten sie schwere Felsblöcke auf die karthagische Infanterie hinab. Vor allem die letzten rissen tiefe Furchen in die Kolonnen. Aber nun bewährte sich die eiserne Manneszucht, die Hannibal diesem Berufsheer eingeflößt hatte. Auch dieser Überfall wurde abgewehrt, wenn auch unter schweren Verlusten. Vom Tal der Arc aus wand sich dann der Heerwurm empor zum Col du Clapier, der 2.482 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Die Marschverluste stiegen, Saumtiere und Packpferde stürzten mitsamt den Treibern in felsige Gründe, in den kalten Nächten erlag mancher Sohn freundlicherer nordafrikanischer Gefilde der Kälte. Die ersten Elefanten verendeten. Noch immer stand das glückverheißende Siebengestirn der Pleiaden am Himmel. Beim sogenannten ‚Weißen Stein‘ auf der Paßhöhe schlug man dann am Abend ein Lager auf, bemüht, aus dem Brennholzvorrat, den die Packpferde heraufgeschleppt hatten, wenigstens den Elefanten durch wärmende Feuer die Kälte erträglicher zu machen. Der Col du Clapier besitzt ein etwa einen Kilometer breites und gute zwei Kilometer langes Hochtaljoch. Hier konnte man rasten. Und von der Paßhöhe aus bot sich auch - 115 -
der bei Polybios erwähnte Blick auf die oberitalische Tiefebene, wenn die Götter einen klaren Spätherbsttag bescherten. Hannibal war ein solcher Tag mit großer Fernsicht beschieden. Er konnte der Mannschaft das verlockende Ziel zeigen – das freilich noch unendlich weit erschien. Schon der nächste Tag brachte dann freilich wieder düstere Wolken, Sturm und Schneefall. Hier oben schmolz der Schnee niemals völlig. Über verharschten Altschnee legte sich eine trügerisch flockenweise neue Decke. Dies Phänomen scheint die Karthager, als nun auf steilen, abschüssigen Pfaden langsam der Abstieg begann, besonders verwirrt zu haben. Abermals waren die Marschverluste schwer. Abermals gingen etliche der Elefanten zugrunde. Nur 20 dieser unersetzlichen Tiere brachte Hannibal ins Tal der Dora Riparia hinab.13 Fünfzehn Tage kostete der Marsch über die Alpen. Mit noch 12.000 Mann schwerer libysch-phönizischer und 8.000 Mann spanischer Infanterie, 6.000 Mann Reiterei und den 20 Kampfelefanten erreichte Hannibal etwa Anfang November 218 v. Chr. das Tal der Dora Riparia. Die dort lebenden Salasser nahmen die fremde Armee nicht unfreundlich auf. Mensch und Tier brauchten jetzt Ruhe, doch war sie ihnen nur für kurze Zeit beschieden. Zwar erschien hier keine römische Armee. Aber beim Weitermarsch zeigte sich, daß der nächste große Keltenstamm, die Tauriner im heutigen Piemont, durchaus nicht gewillt waren, - 116 -
gemeinsame Sache mit den Karthagern zu machen. Ihr Hauptort Taurinum (Turin) mußte im Sturm genommen werden. Immerhin aber stand nun, wenn auch durch den Gebirgsübergang arg mitgenommen und geschwächt, das Heer des karthagischen Oberkommandierenden in der Nordflanke Roms, inmitten einer unfreundlich düsteren Landschaft, durch deren riesige Eichenwälder mit Regen und Nebel der Herbststurm zog.
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VI. Von der Trebia zum Trasimenischen See Die ersten großen Siege Der Kriegsplan Hannibals, Rom auf der italischen Halbinsel zu binden, um die Tiberstadt an Offensiven gegen Spanien oder Nordafrika zu hindern und die römischitalische Eidgenossenschaft aufzubrechen, war mit der Ankunft in der Poebene im Ansatz gelungen. Allerdings hatten die Römer die Expedition nach Nordspanien nicht aufgegeben. Dafür bliesen sie die geplante Invasion in Nordafrika jetzt ab, überantworteten Sizilien dem Schutz des ihnen verbündeten alten Königs Hieron von Syrakus und beorderten die auf Sizilien versammelte 2. konsularische Armee eilends nach Norden zurück. Was Hannibal jetzt brauchte, war eine Schlacht, ein überzeugender Sieg, um die Kelten in der Poebene von seiner Kraft überzeugen zu können. Genau das gleiche galt im Hinblick auf die Haltung der italischen Bundesgenossen für Rom. Die Kelten erwiesen sich als lau. Nach den ersten Zusammenstößen im Anschluß an den Alpenübergang, so wird uns berichtet, griff Hannibal darum zu einem propagandistischen Schaustück. Die ganze Armee mußte antreten. Dann wurden junge keltische Kriegsgefangene aus adeligen Familien vorgeführt. Auf Befehl des Strategen nahm man ihnen die Ketten ab und gab ihnen ihre Waffen, Rüstung, Kriegsmäntel und Pferde zurück. - 118 -
Durch einen Herold ließ Hannibal sie fragen, wer von ihnen zu einem Zweikampf bereit sei. Der Sieger erhalte einen hohen Preis und werde freigelassen, der Unterliegende gewinne durch seinen ruhmreichen Tod die Ehre zurück. Alle Gefangenen meldeten sich. Durch das Los wurden zwei Vorkämpfer bestimmt. Sie tanzten nach keltischer Sitte den Kriegstanz und stürzten sich dann ins Duell, bis einer auf dem Platz blieb. Die anderen Gefangenen sahen schweigend dem Schauspiel zu. Dann ergriff Hannibal selbst das Wort, in ihrer eigenen Sprache, die er schon als junger Offizier erlernt hatte. Die Wahl, die diese beiden Jünglinge getroffen hätten – eben die Wahl zwischen Sieg und Tod – symbolisiere jene Entscheidung, vor die sich jetzt alle keltischen Völker gestellt sähen. Wer mit ihm gegen Rom kämpfen wolle, würde Land in Italien oder Afrika oder Entgelt in Silber erhalten, wie er dies wünsche. Sklaven, die mit ihren Herren gemeinsam ins Feld ziehen wollten, sollten die Freiheit erhalten, ihre Herren eine Entschädigung in doppelter Höhe des Verlustes. Alsdann befahl Hannibal, ihm ein Lamm zu bringen. Er beschwor die Götter Karthagos, Baal Shannim und die Herrin Tanit und rief mit lauter Stimme: Würde er jemals diesen seinen Schwur brechen, so möchten alle anderen so mit ihm verfahren, wie er jetzt mit dem Lamm verfahre … Darauf zerschlug er mit einem schweren Stein dem Lamm den Kopf. - 119 -
Diese merkwürdige und blutige Geschichte stammt aus römischen Quellen.1 Unwahrscheinlich ist sie dennoch nicht, bedenkt man die seelische Abhängigkeit auch eines hellenistisch gebildeten Mannes wie Hannibal von den düsteren Göttern der Heimat und die Notwendigkeit, den ritterlich-romantischen Sinn des unsteten keltischen Adels zu beeinflussen. Nicht überliefert ist, welche Wirkung diese Szene ausgeübt hat. Einstweilen verlegten sich, von den Boiern abgesehen, die keltischen Stammeshäupter aufs Zuwarten. Die dauernden Requisitionen der karthagischen Feldintendantur für die Verpflegung der Armee trugen jedoch sicherlich nicht dazu bei, Begeisterung für den fremden Heerführer zu wecken. Trotz der Bestürzung und Verwirrung, die die Nachricht vom Erscheinen Hannibals in Oberitalien am Tiber hervorgerufen hatte, rüstete Rom sich jetzt zum Gegenschlag. Der Konsul P. Cornelius Scipio übernahm im Raum von Placentia das Kommando über alle irgend verfügbaren Grenzschutzverbände; von der für Spanien bestimmten Expeditionsarmee hatte er außerdem Kavallerie und leichte Infanterie mitgebracht. Die 2. konsularische Armee unter dem Konsul T. Sempronius Longus wurde von Sizilien im Seetransport nach Ariminum (Rimini) an der Adria übergeführt. Allerdings nahm eine solche Verlegung etwa 40 Tage in Anspruch, bevor wenigstens das Gros dieser Verbände bei Ariminum verfügbar war. Den umständlichen Weg von - 120 -
Sizilien längs der süd- und südostitalischen Küste in die Adria hatte man deshalb gewählt, weil die Hafen- und Straßenlage im Raum Ariminum weit besser war als an der Küste von Latium oder Etrurien (Toskana) im Norden. Die beiden amtierenden Konsuln unterschieden sich zwar wenig in ihren politischen Ansichten, standen jedoch persönlich nicht gut zueinander. P. Cornelius Scipio wollte darum mit eigenen Operationen nicht warten, bis sein Amtskollege in Ariminum eingetroffen war. Auch schien es gut, Hannibal sofort vor Augen zu führen, daß Rom sich keineswegs geschlagen gab. So rückte er mit Reiterei und leichter Infanterie Hannibal entgegen, auf halbem Weg zwischen Placentia und Taurinum. Auf einer Ponton-Brücke setzte er über den Ticinus-Fluß (Tessin), etwa in der Gegend des heutigen Pavia. Hannibal erhielt durch seine Kundschafter sehr früh vom Vormarsch des Konsuls Kenntnis und ging diesem mit seiner Reiterei entgegen. Westlich des Ticinus prallten die beiden Kavallerie-Korps aufeinander. Hannibal hielt sein Zentrum, schwere spanische Reiterei, zurück und ließ die Numider auf den Flügeln angreifen, mit Spießwurf, verstellter Flucht und neuerlichem Anritt. Der Konsul handelte ähnlich, ließ die ‚turmae‘ (Schwadronen) der römischen Reiterei verharren und attackierte mit keltischen Reitern und ligurischen Speerschützen zu Fuß. Diese wurden rasch niedergeworfen. Dar- 121 -
auf kam auf beiden Seiten die schwere Kavallerie zum Einsatz, wobei die Iberer Hannibals nach ihrer Landessitte zum Teil absaßen und zum Fußkampf übergingen. Im Getümmel wurde der Konsul schwer verwundet. Schon wähnten die Iberer, ihn fangen zu können, da rettete ihn – römischer Legende zufolge – sein 17jähriger Sohn, Publius Cornelius Scipio der Jüngere, zusammen mit einem ligurischen Speerschützen.2 Der Sieg blieb Hannibal. Der schwer getroffene Konsul wurde hastig über den Ticinus in Sicherheit gebracht, die Schiffsbrücke abgeschlagen, die Brückensicherung, 600 Mann, geriet in karthagische Gefangenschaft. Trotz seiner Verwundung gab der Konsul das Kommando nicht ab. Er zog sich auf das östliche Ufer der Trebia zurück. Hier, rechts des Po, durch einen sehr breiten Strom und die starke Festung Placentia, einen der größten Militärstützpunkte Roms gegen die oberitalischen Kelten, gedeckt, gedachte er das Eintreffen seines Amtskollegen in Ariminum abzuwarten. Entgegen den üblichen Gepflogenheiten ging der Krieg auch im hereinbrechenden Winter weiter. Hannibal sah keine Notwendigkeit, den geschlagenen Konsul erneut in der von diesem eingenommenen günstigen Position anzugreifen, führte jedoch seine Armee bis auf etwa acht Kilometer an den Gegner heran. Clastidium, Ort eines spektakulären römischen Sieges über die Kelten in jüngster Zeit und einer der bedeutsamsten römischen Verpflegungsstützpunkte, fiel in sei- 122 -
ne Hand. Der hier kommandierende Offizier, ein Mann namens Dasius aus Brindisi in Unteritalien, lieferte ihm die Stadt aus und ging zu Karthago über, ein Indiz dafür, welch mannigfaltige geheime Kontakte die Karthager und vor allem Hannibal und sein Stab auf der ‚Königsburg‘ zu Neu-Karthago innerhalb der italischen Eidgenossenschaft Roms hergestellt haben müssen. Nicht umsonst verbreiteten die Römer später wahre Schauermärchen von Hannibals Neigung für Kundschafterdienst und behaupteten, bisweilen sei dieser selbst verkleidet ausgezogen, um römische Stellungen auszuspähen. Der Sieg in der Reiterschlacht am Tessin blieb auch auf die wankelmütigen Kelten nicht ohne Wirkung. Im römischen Lager brach eine Meuterei unter der keltischen Bundesgenossen-Kavallerie aus. Geschlossene Einheiten gingen zu Hannibal über und schleppten zum Beweis ihrer Treue die abgeschnittenen Köpfe römischer Wachtposten mit – ein Zeichen, mit welch barbarischen Methoden dieser Krieg geführt wurde. Obendrein entschlossen sich jetzt die Insubrer, im Raum des heutigen Mailand, auf Hannibals Seite zu treten. 14.000 Mann keltischer Landsturm, darunter 5.000 Reiter, stießen zur hannibalischen Armee. Wieweit beziehungsweise wie lange man sich freilich auf diese neuen Bundesgenossen verlassen konnte, darüber mußte der weitere Verlauf des Winterfeldzuges entscheiden. Ältere Offiziere im Stab Hannibals und die ehrwürdi- 123 -
gen Gerusiasten mochten sich wohl der üblen Erfahrungen erinnern, die man mit den groben blondhaarigen Gesellen aus dem Norden schon gemacht hatte. Zum Plan Hannibals gehörte jedoch als Kernbestandteil die Mobilisierung aller Kelten, und ein Sieg Hannibals würde deren Treue bestätigen. Das war die Lage an der Trebia, dem rechten Nebenfluß des Po, im Dezember 218 v. Chr. Etwa Mitte Dezember traf T. Sempronius Longus, der Amtskollege des noch krank in seinem Feldherrnzelt liegenden Cornelius Scipio d. Ä. mit dem Gros seiner 2. konsularischen Armee auf dem Kriegsschauplatz ein. Sempronius Longus hegte eine eingewurzelte Abneigung gegen den aus dem Uradel stammenden Cornelier, der nun, betreut von griechischen Militärärzten, darniederlag. Endlich ergab sich für T. Sempronius Longus eine treffliche Gelegenheit, den alten Aristokraten auszustechen. Von solchen Rivalitäten abgesehen, lag es auch sonst nahe, daß man auf römischer Seite jetzt eilends versuchen mußte, das ins Wanken geratene militärische Ansehen Roms wieder zu festigen und dem verhaßten Punier in Oberitalien den entscheidenden Schlag zu versetzen. Auf römischer Seite konnte man darauf bauen, daß man an schwerer Infanterie – 36.000 Mann in den Legionen – überlegen war; der Gegner konnte etwa 28.000 bis 29.000 Mann schweren Fußvolks ins Treffen vorzüglicher Reiterei, denen Sempronius Longus nur 4.000 Reiter entgegenstellen konnte – von den Kampf- 124 -
elefanten Hannibals ganz zu schweigen. Doch die ‚lukanischen Ochsen‘, wie die Römer diese Riesentiere genannt hatten, als sie ihnen im Kampf gegen König Pyrrhos von Epirus vor mehr als 70 Jahren zuerst in Lukanien begegnet waren, bewertete man im römischen Stab nicht mehr sehr hoch. Tiberius Sempronius Longus beschloß, Hannibal anzugreifen, der Entschluß fiel um so leichter, als sein am Wundfieber darniederliegender Kollege, militärisch weit erfahrener, ihm riet, den Gegner kommen zu lassen. Sempronius Longus wollte den Feind mit den Legionen, seiner besten Waffe, der schweren Infanterie, im Zentrum treffen und dadurch auseinanderschlagen. Die römische Legion (42.000 Mann stark) marschierte damals mit ihren Manipeln (Kompanien) schachbrettförmig in drei hintereinander gestaffelten Treffen auf, den Principes, Hastati und Triariern. Das erste Treffen war mit dem Pilum, einem schweren, mit langem Eisen versehenen Wurfspieß, ausgerüstet, das zweite mit langen Lanzen. Nach ein bis zwei, exerziermäßig einheitlich geschleuderten Spießsalven griff diese Infanterie dann mit dem Schwert an. Kam die Manipulartaktik voll zum Tragen, war sie der auch im Heer Hannibals eingeführten hellenistischen Phalanx, der geschlossen, tiefgestaffelt ins Gefecht marschierenden Infanterielinie, überlegen. Hannibal hatte jedoch eine völlig andersgeartete Konzeption für den Aufmarsch in der Schlacht bereit. - 125 -
Man mußte im Zentrum mit den weniger gut ausgebildeten Kräften, in diesem Fall den Tausendschaften des keltischen Landsturms, verhalten und die besten Kräfte auf die Flügel ziehen, die libysch-phönizische und spanische schwere Infanterie, die spanische und numidische Kavallerie und die restlichen Elefanten. Obendrein sollte ein ausgesuchtes Streifkorps dem offenbar taktisch nicht sehr einfallsreichen Gegner in den Rükken fallen. Bezeichnenderweise entsprach diese taktische Konzeption im Landkrieg noch genau dem flottentaktischen Prinzip karthagischer Geschwader-Kommodore in den großen Seeschlachten der Vergangenheit. In den Seeschlachten des Ersten Punischen Krieges etwa operierten die karthagischen Flottenchefs stets nach der Regel, im Zentrum zu verhalten und auf den Flügeln anzugreifen – im Rammstoß. Wir wissen, daß Hamilkar Barkas in Spanien seinem Schwiegersohn Hasdrubal dem Schönen die Seestreitkräfte anvertraut hatte, offenbar doch wohl, weil dieser in der Seekriegführung erfahrener war als im Landkrieg. Wahrscheinlich hat es auch theoretische Abhandlungen über diese Fragen gegeben, auch wenn wir heute keine Zeile mehr davon kennen. Daß wiederum Hannibal von seinem Schwager von solchen seetaktischen Dingen gehört haben wird, ist sicher. Daß er diese, beflügelt durch das Studium der Feldzüge Alexanders und Pyrrhos, auf die Landkriegführung übertrug, beweist andererseits wieder den - 126 -
unerschütterlich konservativen Sinn der karthagischen Aristokratie, der er entstammte.3 Um die Wintersonnenwende 218 v. Chr. setzte Tiberius Sempronius Longus mit der 2. konsularischen Armee zum Angriff an der Trebia an. Er bot Hannibal die Schlacht an, genau das, was er brauchte, um sich als Sieger vor den Kelten und den italischen Bundesgenossen Roms bestätigt zu sehen. Das römische Feldlager befand sich auf dem rechten Ufer der Trebia, die infolge der Regen- und Schneefälle des Winters mehr Wasser als gewöhnlich führte. Auf dem linken Ufer, inmitten einer kahlen, nur von ein paar buschumsäumten Bächen durchzogenen Ebene, befand sich das Lager des Puniers. Hannibal schwebte vor, den angreifenden Gegner sozusagen von allen Seiten zu packen. Dies setzte bei seinen, hellenistisch geschulten Abteilungs-Kommandeuren eine ungewöhnlich einheitliche Denkweise voraus, die Fähigkeit, im Rahmen einer Gesamtkonzeption auch auftragsgemäß selbständig zu handeln. Die Schlacht an der Trebia beweist, daß Hannibals Führungskunst es vermocht hatte, seine Unterbefehlshaber in diesem Sinne zu erziehen. Am Abend vor der Schlacht, die der Gegner herbeiführen wollte, wie alle Kundschafterberichte erkennen ließen, befahl Hannibal seinem jüngsten Bruder Mago Barkas, mit je 1.000 Mann leichter Reiterei und Infanterie in umbuschtem Terrain im Süden an der Trebia ei- 127 -
ne verdeckte Stellung zu beziehen, um dem über den Fluß setzenden Angreifer im allerletzten Moment in die linke Flanke fallen zu können. Der Tag der ersten großen Schlacht Hannibals gegen die Legionen Roms fiel in die Zeit zwischen der Wintersonnenwende und Neujahr. Wahrscheinlich fand sie um Weihnachten herum statt. Es war kalt, der Himmel war bleigrau, und es lag Schnee in der Luft. Hannibal ließ die Zahl der Lagerfeuer erhöhen und Öl-Portionen ausgeben, damit die Infanterie aus afrikanischen Gefilden ihre Leiber für den Kampf geschmeidig machen konnte. Die Elefanten, in der nebelkalten Nacht in Decken gehüllt, wurden aufgeschirrt. Noch im Dunkel des Dezembermorgens setzte numidische Reiterei über die Trebia, um den Gegner mit ihrer verwirrenden Taktik von Anritt, verstellter Flucht und neuem Anritt zu irritieren. Zum Angriff mußte Tiberius Sempronius Longus über die Trebia gehen. Er schickte Reiterei und leichte Infanterie voraus, mit geringem Erfolg. Dann gab er den Legionen, in Helm, Panzer und Lederzeug, Befehl, die etwa dreiviertel Meter tiefe Trebia zu durchqueren. Ein Brückenschlag unmittelbar vor dem aufmarschierten Gegner war unmöglich. Langsam setzte Schneefall ein. Hannibal wartete in seinem Lager ab, bis das Geschmetter der römischen Tubae, der Signalhörner, anzeigte, daß der Gegner versuchte, den Fluß zu durch- 128 -
waten. Inzwischen waren Reiterei und leichte Infanterie der Römer von den Pulks der Numider schon aus dem Feld gefegt. Der zweite Konsul mußte jetzt alles was er noch hatte, die Legionen, in den Kampf werfen. Den Legionären geht das eisige Wasser bis zur Brust, als sie durch die Trebia waten. Auf dem anderen Ufer müssen sie erst die komplizierte, dreitreffige Schlachtordnung gewinnen, um einsatzfähig zu sein. Inzwischen vollzieht sich aus dem Lager heraus der Aufmarsch Hannibals, mit schwachem Zentrum und starken Flügeln. Hannibal hat die Entwicklung gut vorausberechnet. Den Legionen gelingt auf dem anderen Trebia-Ufer zwar der übliche Aufmarsch. Sie stoßen, nach der ersten Spießsalve zum Schwert greifend, erfolgreich gegen das Zentrum Hannibals mit dem keltischen Landsturm vor. Darauf gibt Hannibal den FlügelKommandeuren Befehl zum Eingreifen. Unter dem schrillen Trompeten der Elefanten und dem grellen Kampfruf der Numider stürmen die karthagischen Elitetruppen gegen die römischen Flanken vor. Der Konsul setzt sich selbst rücksichtslos ein, aber er verliert im Kampfgewühl völlig den Überblick. Und dann erscheint das Spezialkorps des Mago Barkas unvermutet im Rükken der völlig überraschten Legionen. Fast zeichnet sich für Hannibal die Einkesselung des Gegners ab. Die römische Schlachtlinie nimmt die Form eines nach rückwärts gespannten Bogens an. Der Versuch einer Umfassung scheitert, weil die Kelten im Zentrum - 129 -
Fersengeld geben. Ein Teil der völlig durcheinandergeratenen Legionen bricht noch in die Tiefe der karthagischen Aufstellung durch. Alles andere gerät unter die Auswirkung der Flügelangriffe mit Elefanten, leichter und schwerer Infanterie und der gesamten Reiterei. Das Gemetzel ist fürchterlich. Inzwischen hatte heftiges Schneetreiben eingesetzt, Nebel zog auf, und die Schlacht verlor sich in Blut und winterlicher Düsternis. Tiberius Sempronius Longus war froh, daß er sich selbst und schwache Reste seiner Armee aus dem allgemeinen Debakel nach rückwärts retten konnte. Nach Rom meldete er freilich vorsorglich, nur Nebel und Schnee hätten ihn daran gehindert, den bereits „errungenen Sieg“ voll auszunutzen. Jeder römische Konsul war schließlich nicht nur Armee-Oberbefehlshaber, sondern auch ein von der Volksgunst abhängiger Politiker. Die ‚Weihnachtsschlacht‘ an der Trebia stellte den ersten großen Sieg Hannibals dar. Eine konsularische Armee Roms war zerschlagen worden. Nur Teile der im karthagischen Zentrum durchgebrochenen Einheiten vermochten sich in das ursprüngliche Standlager zu retten. Der noch immer schwer leidende Konsul Cornelius Scipio d. Ä. raffte sich auf, übernahm das Feldkommando und ordnete die Aufgabe der Trebia-Stellung und den Rückzug auf Placentia an. Er selbst ließ sich in einer Maultiersänfte in schneeverhangener Win- 130 -
ternacht nach Placentia bringen. Sein geschlagener Amtskollege hatte es eilig, nach Rom zu gelangen, um die Niederlage, seiner politischen Zukunft wegen, beschönigend darzustellen.4 Hannibal blieb der Sieg in der Feldschlacht – mehr aber nicht. Das Gesamtaufgebot, das Rom und seine Bundesgenossen mobilmachen konnten, ließ sich auf eine Dreiviertel Million Mann veranschlagen. Karthago konnte Söldnerheere ins Feld schicken, aber das Reservoir auch an fremdartigsten Söldnern war begrenzt; die Zwangsrekrutierung iberisch-keltischer Krieger blieb immer umstritten und das Aufgebot an Kelten fragwürdig. Mit der Schlacht an der Trebia hatte man einen der Köpfe einer Hydra abgetrennt. Vorerst bezog nun auch Hannibal Winterquartiere im Raum des heutigen Bologna. P. Cornelius Scipio d. Ä. nahm alle noch vorhandenen Verbände in den Bereich der festen Plätze Placentia und Ariminum zurück. Diese anzugreifen und längere Belagerungen zu riskieren, konnte nicht Hannibals Sache sein. Damit hätte er die eigene Armee festgelegt. Jede Entscheidung mußte auf das nächste Jahr vertagt werden. In Rom herrschte um diese Jahreswende 218/217 v. Chr. erhebliche Nervosität. Theoretisch lag der Weg nach Rom für den Punier im Augenblick offen. Man befragte das Orakel der Sibylle von Cumae. Die Wahrsagerin in ihrer Höhle gab den simplen Rat, man möge große Mengen an Edelmetall für den Kriegsschatz spenden. - 131 -
Im Winterlager bei Bologna bewegten Hannibal unterdes ganz andere Sorgen und Probleme als ein Marsch auf Rom. Um die Kontakte zu den keltischen Stämmen enger zu gestalten, erlernte er in diesem Winter die verschiedenen Dialekte, die in der Poebene gesprochen wurden.5 Unter den römischen Kriegsgefangenen, deren Los gewöhnlich wie das aller Gefangenen im Krieg der Verkauf in die Sklaverei war, ließ er sorgfältig alle Angehörigen von mit Rom verbündeten Völkerschaften aussuchen, Samniter, Lukaner, Bruttier, Campaner, gab ihnen die Freiheit und sandte sie in ihre Heimat zurück. Diese Maßnahme gehörte zur psychologischen Kriegführung, um der Eidgenossenschaft in Italien zu beweisen, daß er ausschließlich gegen Rom und damit für ihre Unabhängigkeit kämpfte. Der Frontwechsel des Brindiseer Edelmannes Dasius und der bundesgenössischen Besatzung von Clastidium hatte gezeigt, welche Früchte solche propagandistisch-politische Arbeit tragen konnte. Der ungewöhnlich kalte und schneereiche Winter in der Poebene hatte aber noch andere Folgen. Bis auf ein Tier erlagen sämtliche Elefanten, die den Alpenübergang und die ‚Weihnachtsschlacht‘ an der Trebia überstanden hatten, den Unbilden der Witterung. Der Elefant, der am Leben blieb, hieß ‚Der Syrer‘ und stammte aus Asien, war also vermutlich indischer Herkunft. Hannibal benutzte ihn künftig gern als Reittier, wenn er seinen Einzug in keltische Ortschaften hielt. Auf kartha- 132 -
gischen Münzen jener Zeit findet sich oft ein Kriegselefant als Symbol der Stadt. Und wenn damals etrurische Städte, offiziell Verbündete, inoffiziell heimliche Feinde Roms, ihre Münzen mit dem Bild des karthagischen Kriegselefanten schmückten, so läßt dies wieder darauf schließen, wie weitverbreitet die Sympathien für den Punier waren, der als Befreier aller Italiker auftrat und wie weit das Netz prokarthagischer Kontaktleute reichte. Freilich war diese psychologisch-politische Kriegführung voll von Unsicherheitsfaktoren. Am schwierigsten waren die Kelten. Die Anlage der Schlacht an der Trebia, bei der die keltischen Landwehren zunächst den Hauptangriff der Römer auffangen mußten, hatte wieder Argwohn unter den Fürsten erweckt, der Punier opfere nur fremde Leute, um die eigene Mannschaft zu schonen. Manche Aufgebote kehrten in ihre Dörfer zurück. Die ständigen Forderungen der Verpflegungskommissare Hannibals nach Brotgetreide, Schlachtvieh, Pferden und Fuhrwerk, Öl und Wein gaben wieder Anlaß zu Mißhelligkeiten. Und wenn die Römer später erzählten, Hannibal, dies Muster an punischer Arglist, sei damals verkleidet und mit einer Perücke auf dem Kopf im eigenen Lager herumgeschlichen, um die Stimmung unter seinen fremden Kontingenten auszuforschen, so mag dies ein schwacher anekdotisch verzerrter Widerhall der Sorgen sein, die den karthagischen Oberkommandierenden in jenem harten Winter erfüllten.6 - 133 -
Dazu kam ein ganzes Bündel schlechter Nachrichten von den anderen Schauplätzen dieses Krieges, der nun die ganze Welt des zentralen und des westlichen Mittelmeeres erfaßt hatte. In Nordspanien hatte die Expedition des Gn. Cornelius Scipio zu einem vollen Erfolg geführt. Der von Hannibal dort eingesetzte Befehlshaber Hanno und der mit ihm kommandierende Ilergetenfürst Indibilis (Andobales) waren vernichtend geschlagen worden. Das große Nachschublager von Kissa war in römische Hand gefallen. Vor Lilybaion auf Sizilien war ein karthagisches Flottengeschwader, das die heimischen Regenten ausgesandt hatten, um durch eine Diversion zur See die Römer und den alten König von Syrakus zu beschäftigen, von überlegenen römischen Seestreitkräften besiegt worden. Römische Flotten- und Landverbände hatten sich der Insel Malta bemächtigt, einem wichtigen Seestützpunkt zur Kontrolle der Verbindungen zwischen Karthago, der griechischen Welt Unteritaliens und den hellenistischen Großmächten im Osten. Das einzige Unternehmen, das glücklich verlaufen war, war ein Vorstoß karthagischer Flotteneinheiten an die Küste von Bruttium (Kalabrien) in Unteritalien, dessen Bewohner eine feindselige Haltung gegenüber Rom einnahmen. Daß solche Aktionen stattfanden, lehrt, daß der Operationsplan Hannibals durchaus mit dem Stadtkönig und der ‚Gerusia‘ in Karthago abgestimmt worden war. Die Revolutionierung Unteritaliens gehörte zum Kernbestand - 134 -
des Planes. Die Friedenspartei der Hannoniden war einstweilen überstimmt. Und der Stadtkönig, wie die ‚Gerusia‘ waren aus guten Gründen karthagischer Innenpolitik, um der Behauptung ihrer eigenen Stellung willen, sicherlich auch nicht gesonnen, dem Barkiden in Italien und Spanien die Kriegführung und den erhofften Sieg ganz allein zu überlassen.7 Für Hannibal gab es zum Frühjahr 217 v. Chr. keine Alternative: Er mußte den Krieg nach Mittelitalien vortragen, um Rom zu einer Entscheidungsschlacht zu zwingen und die Auflösung des Bundessystems herbeizuführen – wofür sich zunächst die günstigsten Aussichten in Etrurien, der heutigen Toskana, und im nördlichen Latium zu bieten schienen. Schloß Rom dann Frieden, so konnte man ihm eine bescheidene Weiterexistenz garantieren. An einen Vernichtungsfrieden im Stil eines Todesurteils, wie dies später der grimme Cato für die Stadt Karthago und deren Einwohnerschaft verlangte, dachte niemand, weder im Stabe Hannibals noch bei den Oberbehörden von Karthago. Unterdes wählte man im Süden in Rom unter Leitung des an der Trebia geschlagenen, politisch jedoch unbesiegten Konsuls Sempronius Longus die neuen Konsuln für das Jahr 217 v. Chr. Für die Volkspartei, die Plebejer, wurde Caius Flaminius Konsul, ein Politiker und Organisator von hohen Graden. Mit militärischen Fähigkeiten hatten ihn die Götter allerdings weniger bedacht. Für die Optimaten, die Aristokratie, über- 135 -
nahm Gn. Servilius Geminus das Amt. Neue Rüstungen wurden ausgeschrieben, neue Legionen ausgehoben, wobei Flaminius zu inflatorischen Maßnahmen greifen mußte, einer erheblichen Verschlechterung des Münzfußes, um die Finanzierung der militärischen Anstrengungen zu sichern. Die Besatzungen in den vorgeschobenen Außenpositionen, auf Sizilien, Sardinien und in Unteritalien, vor allem in der wichtigen Flottenbasis Tarent mit sehr unsicherer griechischer Bevölkerung, erhielten Verstärkungen. Der Feldzug in Nordspanien ging weiter. Dort übernahm der wiedergenesene Ex-Konsul P. Cornelius Scipio d. Ä. gemeinsam mit seinem Bruder den Oberbefehl. Im Apennin errichtete man Sperren, um dem Punier den Weg ins römische Kerngebiet in Mittelitalien zu verlegen. Servilius Geminus bezog mit der 1. konsularischen Armee im Raum Ariminum (Rimini) Stellung, sein Amtskollege Flaminius mit der 2. Armee sollte den Raum von Arretium (Arezzo) sichern. Die weitauseinandergezogene Aufstellung der beiden Heere erklärt sich aus dem Umstand, daß niemand genau wußte, welche Angriffsrichtung Hannibal wählen würde. Hannibal blieb die Trennung beider römischer Armeen dank seines Kundschafterdienstes natürlich nicht verborgen. Er entschloß sich zur Offensive nach Etrurien, um eines der beiden Heere so rasch wie irgend möglich zur Schlacht zu stellen. Trotz der noch ungünstigen - 136 -
Jahreszeit brach er Ende März oder Anfang April 217 v. Chr. auf, verstärkt durch 20.000 Mann Fußvolk und 4.000 Reiter aus keltischen Landwehren. Unter einem fürchterlichen Unwetter mit Blitz und Donner und Hagelschlag überschritt er den Collina-Paß8 im Apennin. Im Raum des heutigen Pistoia gewann er die Ebene. Seine Absicht ging dahin, sich in den Rücken der Armee des Flaminius zu schieben und diese damit von ihren Verbindungen nach Rom abzuschneiden. Um diese Absicht zu verwirklichen, mußte er in Richtung auf Cortona marschieren, mitten durch die in diesem Frühjahr ausgedehnten Überschwemmungsgebiete des Arno und seiner Nebenflüsse. Der an Niederschlägen reiche Winter hatte zur Folge, daß hier weite Landstriche mit trübem, halbversumpftem Brackwasser bedeckt waren. Es war der kürzeste Weg, auf Marschverluste konnte und wollte man keine Rücksicht nehmen. Hannibal, der auf dem letzten, ihm verbliebenen Elefanten, dem ‚Syrer‘, ritt, erkrankte gleich vielen seiner Leute bei dem Zug durch die Sümpfe. Er zog sich eine Augenentzündung9 zu, die ihn schließlich die Sehkraft auf dem rechten Auge kostete.10 Der Konsul C. Flaminius stand indessen noch immer mit seinen 30.000 Mann bei Arezzo. Die Opferzeichen beim Amtsantritt waren ungünstig gewesen. Beim feierlichen Gottesdienst im Tempel hatte sich das Opfertier den Händen der Priester entwunden. Flaminius war ziemlich unbeeindruckt geblieben, was ihm das Volk - 137 -
von Rom sehr verübelt hatte, es bezichtigte ihn seitdem mangelnder Ehrfurcht vor den Göttern. Dann hatte es ein zweites Zeichen gegeben. Beim Abmarsch ins Feld hob ihn sein Stallmeister aufs Pferd, und dieses brach, vom Schlag getroffen, plötzlich zusammen. Flaminius, zornrot im Antlitz, antwortete auf dieses Omen mit einem Fluch und ließ sich ein neues Pferd vorführen. Als er kaum aufgesessen war, meldete man ihm, eines der in den Boden gerammten Feldzeichen im Lager lasse sich nicht herausziehen. Der Konsul schrie, so solle man das Ding doch mit Gewalt herausreißen, auch wenn die Hand des Fahnenträgers dabei zittern möchte … Für ihn zählte nur die harte Tagespolitik. Hannibal, der sich jetzt mit verbundenem Auge in einer Maultiersänfte tragen ließ, deren verhangenes Halbdunkel die Schmerzen linderte11, führte sein Manöver mit Erfolg durch. Flaminius mußte plötzlich erkennen, daß ihn der Gegner überflügelt hatte. Eilkuriere wurden zu Servilius Geminus gejagt, dieser möge sich unverzüglich auf der (von Flaminius erbauten und nach ihm benannten) Via Flaminia mit der konsularischen Armee in Nordetrurien vereinigen. Vorerst befahl er, der Armee Hannibals zu folgen, um diesen zu stellen. Besser, er schlug den Punier ohne die Hilfe seines Kollegen; dies konnte seiner eigenen politischen Laufbahn nur dienlich sein. Auf seinem Eilmarsch nach Süden hatte Hannibal im Rücken der römischen Sperrstellung bei Arezzo das - 138 -
Nordufer des 135 Quadratkilometer großen Trasimenischen Sees, zwischen dem oberen Tibertal und dem Tal der Chiana, erreicht. Die Seeufer stiegen hier zu Hügeln an, die dichter Wald bedeckte. Die Marschstraße führte erst am Nord- und dann am Ostufer des Sees entlang, wo die Höhen dicht an diesen herantraten. Gut neun Kilometer lang existierte ein Engpaß zwischen den Höhen und dem See. Am Ausgang dieses Defilées bog die Heerstraße nach Osten ab, in Richtung auf Perusia (Perugia) zu. Folgte der Konsul dem Punier auf dieser Straße am Nord- und Ostufer des Trasimenischen Sees – und alle Meldungen, die Hannibal erhielt, deuteten darauf hin, dann bot sich hier die ideale Gelegenheit für einen überfallartigen Angriff auf die römischen Marschkolonnen. Flaminius hatte es tatsächlich eilig, wiegte sich in der Annahme, Hannibal sei vor ihm schon weiter nach Süden ausgewichen und verzichtete daher auf jede Nahaufklärung. Wahrscheinlich, so der Konsul, würde es Hannibals Bestreben sein, etwa bei Perusia, einer alten Etruskerstadt, die Vereinigung der beiden römischen Heere zu verhindern. Hannibal dagegen vollzog jetzt den Aufmarsch am Nord- und Ostufer des Sees, in der Hoffnung, der Konsul werde in die Falle hineintappen. Die Reiterei wurde verdeckt in den Waldtälern am Nordufer postiert, die Kelten und die leichte Infanterie auf den Höhen über dem Defilée. Am Ende der Enge, nörd- 139 -
lich der Abzweigung der Straße nach Perusia, nahm Hannibal mit der schweren Infanterie Aufstellung. Der noch immer in seiner Maultiersänfte sitzende Feldherr muß mit seiner Binde über dem verlöschenden Auge einen seltsam düsteren Anblick geboten haben.12 Am Abend des 22. Juni 217 v. Chr. war der Aufmarsch vollzogen. Zur Täuschung des Gegners ließ man auf der Höhe im Süden der Seeenge Lagerfeuer anzünden, Zelte aufstellen und Wachen gehen, die sich unter dem Klang der Signalhörner regelmäßig abzulösen hatten. Der Konsul sollte den Eindruck gewinnen, als stünden hier noch karthagische Nachhuten. In den frühen Morgenstunden des 23. Juni 217 v. Chr. lagen noch Nebelschleier über der Talstraße. Doch je mehr die Sonne durchbrach, enthüllte sich für Hannibal, daß die ganze römische Armee, ohne jede Sicherung, in die Falle ging. Man sah die ReiterSchwadronen, die Tausendschaften leichter Infanterie, die Kolonnen der Legionen. Wie auf dem Marsch üblich, hatten die Legionäre die Erzhaube abgelegt und trugen statt ihrer leichte rostrote Filzhüte. Dahinter trotteten hunderte von Saumpferden, die der schweren Infanterie Koch- und Zeltgerät und grobes Schanzzeug nachschleppten. Den Schluß bildete der Fuhrpark mit Verpflegung und Belagerungsgerät. Inmitten der Legionen ritt der Konsul, weithin kenntlich durch den prachtvollen roten Feldherrnmantel, mit seinem Stab. - 140 -
Die karthagische Kavallerie im Norden des Defilées meldete, der Feind schwenke mit dem Gros in die Talstraße ein. Flaminius erhielt die Nachricht, auf der Südhöhe am Ausgang der Talenge befänden sich noch karthagische Wachen und Zelte. Er war’s zufrieden, denn dies mußte die Nachhut Hannibals sein. Darauf gab Hannibal das Zeichen zum Angriff. Im Norden faßte seine Reiterei den riesigen Train der Römer, im Zentrum prasselte von den Höhen der Geschoßhagel der leichten Infanterie und der Kelten auf die Kolonnen der Legionäre hinab. Im Süden setzte Hannibal seine schwere Infanterie ein. Keine römische Einheit konnte sich mehr zur Schlachtordnung entfalten. Jeder focht und fiel, wo er sich gerade befand. Scheugewordene Saumtiere erhöhten die allgemeine Verwirrung. Binnen drei Stunden wurden 15.000 Römer am Seeufer niedergehauen, 10.000 Mann streckten die Waffen. Im allgemeinen Gewühl stach ein keltischer Reiter, ein Insubrer aus jenem Volksstamm, dem Flaminius in besseren Tagen eine schwere Niederlage beigebracht hatte, den Konsul vom Pferd. Dessen Landsleute hatten ihm das Wort in den Mund gelegt, nicht Gelübde und Gebete zu den Göttern, sondern nur das Schwert bahne den Weg in der Schlacht. Nun bezahlte dieser Verächter altrömischen Glaubens seine trotzigen Reden mit dem Tod. Maharbal mit der Reiterei wurde zur Verfolgung angesetzt. Noch einmal kapitulierten 6.000 vom Schlacht- 141 -
feld entkommene Römer. Auch die Vorhut des zweiten Konsuls, die bei Perusia auftauchte, wurde geschlagen. Von den rund 50.000 Mann, die Hannibal in die Schlacht gebracht hatte, waren nur 1.500 Mann, zumeist Kelten, gefallen. Hannibal gab sich nach dem Sieg äußerst human. Er ordnete an, man solle nach dem Leichnam des gefallenen Konsuls suchen, um diesen mit militärischen Ehren bestatten zu können. Der Leichnam konnte nicht mehr gefunden werden, dafür erhielten 30 in der Schlacht gebliebene Senatoren ein ehrenvolles Begräbnis. Wiederum, wie nach der Schlacht an der Trebia, wurden alle Angehörigen italischer, mit Rom verbündeter Stämme unter den Gefangenen herausgesucht und in die Heimat entlassen. Vermutlich handelte man auch so bei dem Hilfskorps des Königs von Syrakus, das sich bei der römischen Armee befunden hatte, 1.000 Mann schwerer Infanterie und 5.000 kretischer Bogenschützen.13 Mit vielen dieser Gefangenen unterhielt sich Hannibal vor ihrer Entlassung eingehend, um ihnen klarzumachen, daß er nur gegen Rom Krieg führe, nicht gegen die von Rom zur Allianz gezwungenen, unterdrückten Völker Italiens. Von der Auswirkung solcher psychologischen Propaganda-Kriegführung hing jetzt mehr ab als vom spektakulärsten Sieg in der Feldschlacht. Die militärische Aktion konnte in diesem Ringen nur Wegbereiter des politischen Sieges sein. Mit ausschließlich militärischen Mitteln war der Sieg kaum zu erringen. - 142 -
Hannibal hat sehr wohl gewußt, wie begrenzt die Kraft des Schwertes war. Seine stillen Kontakte zu einflußreichen Persönlichkeiten oder Gruppen in der italischen Eidgenossenschaft Roms reichten fraglos weit. Bald nach dem Sieg am Trasimenischen See zeigt sich – quasi im Rückspiegel – eine der Auswirkungen des hannibalischen Erfolges im weit entlegenen, gleichwohl Karthago wie Rom durch Handelsbeziehungen eng verknüpftem Bereich – in Campanien, dem leistungsfähigsten Fabrikations- und Export-Zentrum Unteritaliens. Campanien mußte jetzt die römische Konkurrenz bei Fabrikationsvorgängen ebensosehr fürchten wie die Vernichtung Karthagos, seines besten Absatzgebietes. Bald nach der Kunde von der jüngsten römischen Niederlage entwickelte der ‚Meddix tuticus‘, der höchste Magistratsherr von Capua, der campanischen Hauptstadt, Pacuvius Calavius, als ‚Meddix‘ nominell Oberhaupt aller campanischen Gemeinden, eine merkwürdige Aktivität. Er redete dem Senat von Capua ein, das Volk würde sich erheben – gegen Rom – und alle Senatoren abschlachten. Darum sei es besser, ihm, dem ‚Meddix‘ alle Gewalt anzuvertrauen, weil nur er mit dem Volk fertigwerden könne. So geschah es. Nur verlegte Pacuvius Calavius sich dann wieder aufs Zuwarten, um den Moment abzupassen, da er mitsamt Capua und Campanien auf die Seite Hannibals übergehen konnte.14 - 143 -
All dies gehörte zu den Unwägbarkeiten dieses Krieges, nach einem schönen Sieg im Feld – gegen Rom.
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VII. Der große Sieg: Cannae In wenigen starken Tagesmärschen konnte Hannibal nach dem Sieg am Trasimenischen See nunmehr im Sommer 217 v. Chr. durch Etrurien hinab bis zum Tiber vorstoßen und vor Rom erscheinen. Mancher Offizier seines Stabes, vor allem der Reiter-Befehlshaber Maharbal, mag ihm damals dazu geraten haben.1 Aber eine überfallartige Attacke gegen Rom war noch immer ein Vabanquespiel, niemand konnte sich einbilden, daß man eine so große, wohlbefestigte Stadt im Handstreich nehmen konnte. Hannibal war davon überzeugt, daß die Entscheidung in diesem Ringen nur in der Mobilisierung der italischen Völker gegen Rom liegen konnte, daß man die Tiberstadt isolieren mußte. Dazu gehörte freilich auf militärischem Gebiet wieder die Notwendigkeit, jede Armee, die die Römer noch aufboten, im freien Feld zu schlagen. In Rom war man in den letzten Juni-Tagen noch ohne Nachricht vom Schicksal der Armee des Flaminius. Erst als vereinzelt Soldaten ohne Schild eintrafen, was für den Krieger antiker Zeiten als größte Schande galt, erfuhr man von der fürchterlichen Niederlage und vom Tod des Konsuls. Eine große Volksmenge lief auf dem Forum zusammen, darunter viele Frauen, deren Männer im Heer des Konsuls gestanden hatten; ihr Geschrei erfüllte das ganze Forum. Gegen Abend trat endlich einer der höchsten Justitiare der Republik, der Praetor - 145 -
Marcus Pomponius, aus dem Senatspalast und verkündete mit dumpfer Stimme, man habe eine große Schlacht verloren. Viele sahen darin die Strafe für die mangelnde Götterfurcht des gefallenen Konsuls. Im Augenblick war Rom ohne Staatschefs. Indes nahte von Nordwesten her der überlebende Konsul Servilius Geminus mit der 2. konsularischen Armee, zwei Legionen, leichte Infanterie und der Rest der von den Numidern Maharbals bereits arg zugerichteten Kavallerie. Diese Armee war immerhin in der Lage, Rom zu decken, falls der Punier es wagen sollte, sich der Hauptstadt zu nähern. Wie es in der Stunde der Not seit gut einem Vierteljahrtausend üblich war, wählte der Senat einen Diktator, um die Regierungsgewalt in einer Hand zu vereinigen. Zum Zeichen, daß der Diktator unumschränkter Herr über Leben und Tod sei, schritten ihm, wenn er öffentlich auftrat, 24 Liktoren (Amtsdiener) mit Rutenbündeln und Henkersbeilen voran, während einem Konsul nur 12 solcher Liktoren zustanden. Die Wahl fiel auf den greisen Fabius Maximus, der bereits fünfmal das Konsulat bekleidet und ehrenvoll in den Kriegen gegen Pyrrhos und Karthago gedient hatte. Bis zum Jahre 218 war er der Mann der Nichtintervention in Spanien und des Maßhaltens gegenüber Karthago gewesen, was ihm viele adelige Heißsporne als Schwäche angekreidet hatten. Jetzt sollte dieser außergewöhnlich fromme Greis den Staat retten. Der überlebende Konsul trat automatisch unter seinen Be- 146 -
fehl. Wie es Brauch war, mußte dem Diktator ein zweiter Befehlshaber, der ‚Magister equitum‘ (Befehlshaber der Reiterei) zugeteilt werden. Hierzu wählte man einen Mann der Plebejer-Fraktion, Marcus Minucius Rufus, der des Fabiers Bedachtsamkeit seinerseits für völlig unangebracht hielt.2 Der hünenhafte alte Fabier war gewiß kein Genie, wohl aber ein schlauer Rechner. Hannibal, so kalkulierte er, konnte sich mit seiner großen Armee in dem fremden Land nur halten, wenn er sich eine breite Basis schuf und jedes römische Heer aus dem Felde schlug, um Rom gewissermaßen politisch zu zernieren. Folglich mußte man alles tun, um ihn auszumanövrieren, bei Vermeidung jeder neuen Schlachtentscheidung. Gebiete, die man Hannibal überlassen mußte, sollten vor der Räumung planmäßig verwüstet werden, um der hannibalischen Armee die Verpflegung zu erschweren. Er hatte sich also für eine Ermattungsstrategie und eine Taktik der ‚verbrannten Erde‘ entschieden. Damit begann die weitreichende Verwüstung der Landschaft Mittel- und Süditaliens, die mehr als ein Jahrzehnt andauerte und einschneidende Folgen für die Agrar- und Sozialstruktur des späteren römischen Reiches haben sollte. Der Niedergang des römisch-italischen Bauerntums setzte ein. Hannibal bediente sich in gleicher Weise der Taktik der ‚verbrannten Erde‘, soweit er auf seinen Zügen Gebiete mit römischen Militärkolonien besetzte. Dagegen war er ostentativ bemüht, das Territorium ita- 147 -
lischer Völker zu schonen, die er für seine Sache zu gewinnen hoffte. Fabius Maximus ordnete die Aushebung zweier neuer Legionen an, die zusammen mit den beiden Legionen der 1. konsularischen Armee die Deckung Etruriens und Roms gegen mögliche karthagische Angriffe zu Lande oder von See her gewährleisten sollten. Die karthagische Flotte war in diesem Jahr, soweit ihre Mittel reichten, zur Offensive übergegangen – was wiederum auf die Generalabstimmung aller Planungen zwischen Stadtkönig, ‚Gerusia‘ und dem ‚Strategen von Libyen und Spanien‘ vor der großen Offensive in Italien schließen läßt. Ein karthagisches Geschwader von 70 Schiffen kaperte vor Pisa einen großen römischen Geleitzug mit Truppen für Nordspanien. Andere karthagische Flottengruppen operierten von den Liparischen Inseln aus vor den Gestaden Campaniens, Siziliens und Bruttiums (Kalabrien), doch vermochten sie kaum Erfolge zu erzielen. Es gelang der hauptstädtischen Flotte niemals, Truppentransporte der Römer nach Nordspanien völlig zu unterbinden. Noch ungünstiger verlief die karthagische Invasion auf Sardinien. Der dort mit See- und Landstreitkräften operierende karthagische Befehlshaber Hanno (für uns nicht mehr identifizierbar) und der mit ihm verbündete Sarden-Fürst Hampsicoras, die die karthagische Kontrolle über Sardinien wiederherstellen sollten, sahen sich durch eine Aktion des zweiten Konsuls Servillius Ge- 148 -
minus paralysiert. Die karthagischen Schiffseinheiten wurden bis nach Pantellaria zurückgetrieben. Gemäß der neuen Ermattungsstrategie des Fabius Maximus gab man in Rom zwar den Plan auf, von Sizilien aus die Invasion in Nordafrika einzuleiten. Aber im Verlauf des Jahres 217 hatte die Flotte Karthagos solche Einbußen erlitten, daß sie nicht einmal mehr imstande war, den alten König Hieron von Syrakus daran zu hindern, Rom über See (nach Ostia an der Tibermündung) abermals ein Korps von 1.000 kretischen Bogenschützen zu Hilfe zu schicken. Der hoch in den Achtzigern stehende König Hieron II. von Syrakus erwies sich im großen Spiel Hannibals um die Gewinnung der Verbündeten Roms mehr und mehr als Schlüsselfigur von fataler Bedeutung. Er war noch ein Nachkomme des Tyrannen Gelon von Akragas, der vor mehr als 250 Jahren bei Himera Karthago eine der schlimmsten Niederlagen seiner Geschichte zugefügt hatte. Die Abneigung gegen das Puniertum saß fest in der Seele dieses hellenistischen Herrschers. Er hatte auf Rom gesetzt und sah wohl jetzt die Sache Roms für höchst gefährdet an. Die Entsendung der Tausendschaft Kreter war nur eine symbolische Geste, obwohl der römische Diktator in jenen Tagen jede schlagkräftige Truppe als Verstärkung nur zu gut gebrauchen konnte. Darüber hinaus mahnte der alte König in einer Botschaft an den Senat mit allem Nachdruck, man möge doch den Krieg nach Afrika tragen, - 149 -
um das Übel an der Wurzel auszurotten. Derartige Mahnungen stießen allerdings bei dem alten Fabier auf taube Ohren. Hannibals Hauptziel mußte jetzt im Grunde Campanien sein, wo der ‚Meddix‘ von Capua alles für die Sezession von Rom vorbereitet hatte. Die Frage war nur, wie er mit seinen Truppen unbemerkt in den Süden von Rom gelangen konnte. Hannibal wählte einen weiten Umweg. Durch Etrurien marschierte er zunächst nach Osten ab. In den Städten Etruriens verhielt sich die an sich Rom abgeneigte Oberschicht abwartend. Die Gallier im karthagischen Heer, die sich nur mühsam von der gewohnten Brandschatzung fremden Gebietes abhalten ließen, standen hier seit dem großen Keltenkrieg von 225 v. Chr. noch in schlechtem Ansehen. Ein Versuch, sich im Handstreich Spoletos zu bemächtigen, scheiterte am Widerstand der hier stationierten römischen Garnison. Auch Narnia hielt sich dank römischer Besatzung. Durch Umbrien gelangte die Armee Hannibals in den ‚picentinischen Acker‘ an der Adria, wo kriegsgefangene keltische Senonen aus der Poebene angesiedelt worden waren, die den Punier nun als ihren Befreier begrüßten. Die Senonen waren noch auf Befehl des gefallenen Konsuls Flaminius hierhergebracht worden. Hannibal gewann in diesem Bereich eine gute Verpflegungsbasis für seine inzwischen wieder 50.000 Mann starke Armee mit rund 10.000 Kavalleriepferden - 150 -
und einer nicht schätzbaren Menge von Saumtieren und Fuhrgespannen. Der Sorge, Futter und Wasser für ein Elefanten-Korps aufzubringen, war man freilich vorläufig ledig. Aber Kampfelefanten wären bei diesem Manöverkrieg ohnehin nutzlos und sinnlos gewesen. Der neue feindliche Oberbefehlshaber vermied konsequent die Schlacht. Daß man über den alten Fabius Maximus im Stabe Hannibals wohl informiert war, dafür bürgten die alten Beziehungen zwischen der FabierClique und karthagischen Aristokraten wie auch karthagische Agenten in Rom. Einer dieser Kundschafter wurde in diesem Jahr von den römischen Behörden verhaftet, wobei man herausfand, daß der Spion zwei Jahre hindurch in Rom gearbeitet hatte. Man schlug ihm die Hände ab und jagte ihn aus der Stadt.3 An der Adriaküste zog Hannibal nach Süden. Von Hadria aus ging zu Schiff ein Bericht nach Karthago – soweit uns überliefert ist, der erste Versuch direkter Kontaktaufnahme mit den heimischen Regenten. Allerdings lassen die bereits erwähnten Operationen der karthagischen Flotte darauf schließen, daß man daheim im Schatten der Byrsa sehr wohl wußte, wessen die Armee in Italien bedurfte, zumal natürlich dauernde Verbindung mit dem barkidisch-spanischen Hauptquartier in Neu-Karthago bestand. Das waren: Sicherung der karthagischen Hauptbasen in Nordafrika und Spanien, Kontrolle über die sizilischen und westitalischen Kü- 151 -
stengewässer und Unterbindung der Truppentransporte nach Nordspanien.4 In Nordspanien stand die Sache Karthagos beziehungsweise der Barkiden einstweilen schlecht. Nach dem Sieg über Hannibals Befehlshaber in Katalonien, Hanno, bemächtigte sich Gn. Cornelius Scipio der Griechenstadt Emporion. Eine Gegenoffensive Hasdrubal Barkas mit Land- und Seestreitkräften scheiterte, das Geschwader von Neu-Karthago wurde an der Ebromündung von römischen und massaliotischen Flottenverbänden geschlagen, wobei die zwar kleinen, aber sehr gut geführten Kriegsschiffe Massilias für die Sache Roms den Ausschlag gaben. Die beiden Brüder Scipio stießen in der Folgezeit bis nach Sagunt vor, eroberten die Stadt und befreiten zahlreiche dort von den Barkiden festgehaltene vornehme Geiseln, denen sie die Freiheit wiedergaben. Durch das ganze barkidische Herrschaftsgebiet zog eine Welle von Unruhen, gleichzeitig drohte zeitweilig eine Meuterei auf der geschlagenen Spanien-Flotte der Barkiden – ein Zeichen, wie unsicher die spanische Basis tatsächlich war. In Italien marschierte Hannibal unterdessen bis Nordapulien vor, dem Südostteil der italischen Halbinsel. Die dort lebende Bevölkerung illyrischen Ursprungs war zwar seit hundert Jahren mit Rom verbündet, doch hatte die Zwangsföderation die freundlichen Gefühle für die Herren am Tiber nicht gerade vermehrt. Damals war diese Landschaft außerordentlich fruchtbar - 152 -
und wohlbebaut, so daß für das karthagische Heer gute Verpflegungsmöglichkeiten bestanden. Plünderung oder gewaltsame Requisitionen wurden den Söldnern streng untersagt. Hannibal schlug für eine Weile sein Hauptquartier in Luceria (Lucera) auf, bis dato eine römische Militärkolonie, die allerdings liquidiert wurde. Diese Operation an der Grenzlinie zwischen Mittelund Süditalien führte den Punier bereits in den Kernbereich des national-italischen Widerstandes gegen Rom. Breit nach Südosten wie nach Südwesten dehnte sich westlich von Luceria das Territorium der außerordentlich kriegstüchtigen Samniter aus, erbitterte Gegner Roms, wenn sie sich auch beim Ausbruch des Zweiten Punischen Krieges still verhalten hatten. Die Samniter hatten einst ein römisches Heer zu schimpflicher Kapitulation gezwungen.5 Diese weitausholenden Bewegungen Hannibals veranlaßten endlich den Diktator Fabius Maximus, seinerseits zu marschieren, um die Adler, die Feldzeichen der Legionen, wieder im Felde zu zeigen. Mit den zur Verfügung stehenden vier Legionen erschien er im samnitischen Land, bei der Stadt Maluentum, die die Römer in Beneventum (Benevent) umbenannt hatten. Es war ein für Rom glückverheißender Ort. Hier, wo die Straße Rom-Benevent aus den Apenninbergen trat, hatte anno 275 v. Chr. der Konsul M. Curius Dentatus den König Pyrrhos von Epirus mit seinen ‚lukanischen - 153 -
Ochsen‘ geschlagen, einen jener hellenistischen Militärlehrmeister, die auch Hannibal studiert hatte. Hannibal ging von Luceria aus den römischen Legionen entgegen und bot die Schlacht an, doch Fabius Maximus wich aus. Daraufhin entschloß sich Hannibal, ohne sich weiter um den unbehilflichen Gegner zu kümmern, zum Stoß von Apulien aus nach Nord-Campanien. Campanien, wo die karthagische Seite fraglos bereits über zahlreiche Kontakte verfügte, war das wichtigste, landwirtschaftlich wie fabrikationstechnisch reichste Gebiet der italischen Halbinsel. Vor dem Abmarsch aus dem Raum Benevent erfuhr dieses römische Militärkolonialgebiet noch das Grauen der ‚verbrannten Erde‘. Die Söldner durften wieder sengen und brennen, wie dies zur Berufsregel gehörte. Bauern, die Widerstand leisteten, wurden am Wegrand nach gut karthagischer Sitte gekreuzigt.6 Hannibal nahm den großen römischen Verpflegungsstützpunkt Telesia, wo die Römer aus preisgegebenem Land noch große Vorräte an Korn, Schlachtvieh, Wein und Öl gestapelt hatten, und rückte alsdann im Falerner Land ein. Der Falerner Wein war eines der begehrtesten Exportgüter Campaniens. Eben darum hatte Rom das Weingebiet unter seine Kontrolle gebracht, zum Ärger der Campaner. Hier, zwischen dem Fluß Volturnus und den Massiker-Bergen, hatte sich die römische Aristokratie die lukrativsten Besitzungen angeeignet. Auch Fabius Maximus besaß hier ein großes - 154 -
Landgut. Stadtrömischer Adelsbesitz wurde ausdrücklich von Hannibal zur Brandschatzung freigegeben, das Latifundium des Fabiers dagegen gesperrt und durch besondere Wachen gesichert. Das entsprang weniger kavaliersmäßiger Noblesse, obwohl Hannibal solch aristokratisches Denken keineswegs abging und einer seiner Stabsoffiziere, Karthalo, den Fabier persönlich gekannt hatte, als politisch-psychologischer Berechnung. Der Clan der Fabier hatte Beziehungen zum Clan der Hannoniden in Karthago unterhalten – wie schlau, wenn die Barkas sich jetzt nicht dadurch an den Hannoniden rächten, daß sie ihren alten Freund schamlos ausplündern ließen. Zum anderen konnte diese Maßnahme zum Schutz des persönlichen Besitzes des Diktators auch Mißtrauen in Rom gegen den greisen Gewaltherrn wecken. Ohnehin gab es dort genug Leute, die sich über dessen geradezu krankhafte Kampfscheu aufregten. Fraglos waren dies höchst hintergründige Überlegungen, und die Römer, die später den historisch-literarischen Markt beherrschten, haben nicht verfehlt, diese Politik als eine den Puniern, den ‚guggas‘, eigene abgefeimte Schläue zu brandmarken. Noch regte sich in den campanischen Städten keine offene Rebellion gegen Rom beim Erscheinen Hannibals. Auch der ‚Meddix tuticus‘ in Capua verlegte sich weiter aufs Zuwarten. Und Hannibal ging es im Augenblick darum, den merkwürdig ausweichenden Gegner dennoch zur Schlacht zu zwingen. Er bezog eine - 155 -
Stellung in den Bergen über Sinuessa, an der Nordgrenze Campaniens zu Latium, dem römischen Kerngebiet. Mußte Fabius Maximus jetzt nicht zuschlagen? Der alte Mann tat ihm diesen Gefallen nicht. Dafür sperrte er ihm den günstigsten Flußübergang über den Volturnus, falls der Punier, des herannahenden Winters halber, wieder nach Apulien ausweichen wollte. In der Tat befahl Hannibal im Spätherbst den Abmarsch nach Nordapulien. Römische Erkundungsergebnisse sagten Fabius Maximus keineswegs die Unwahrheit, wenn sie Meldungen brachten, die Armee des Puniers sei ungeheuer schwerfällig geworden. Sie führe Vorräte für den Winter, darunter große Herden requirierten Schlachtviehs, mit sich. Eben dies machte die Malaise solcher Söldnerheere aus, denen ihr Oberbefehlshaber einmal aus psychologisch-taktischen Gründen die Plünderung besetzter Gebiete freigab und darauf wieder unter Androhung drakonischer Strafen untersagte. Um den Rückmarsch des Puniers zu blockieren, hatte Fabius Maximus im Raum Casilinum den Paß von Callicula gesperrt, die für Hannibal günstigste Straße. Welcher Paß hier gemeint ist, läßt sich heute nicht mehr eindeutig feststellen. Jedenfalls hielten römische Verbände die Paßhöhe von Callicula besetzt. Hannibal griff zu einer Kriegslist, die die antiken Schriftsteller tief beeindruckt hat. Er gab Befehl, 2.000 der kostbaren Schlachtochsen, die man im Troß mitführte, zu opfern, - 156 -
ließ ihnen pechgetränkte Fackeln an die Hörner binden und stellte leichte Infanterie ab, um diese Ochsenphalanx zu begleiten. Die Fackeln wurden angezündet. Begleitet von Speerschützen wurde diese Fackellinie auf den Paß von Callicula vorgetrieben. Die römische Sperrbesatzung, vom Lichtermeer verwirrt, verließ ihre Stellungen und rückte der seltsamen Erscheinung entgegen, im Glauben, das karthagische Heer setze zum Nachtangriff an. Dies am späten Abend eingeleitete Manöver, befohlen vielleicht in Erinnerung an die iberische OchsenPhalanx, die dem Vater Hannibals 229 den Tod in der Schlacht gebracht hatte, führte zu vollem Erfolg. Der Kommandeur der leichten Infanterie, dessen Schützen einen ungeheuren Kampflärm entfalten mußten, ließ die Ochsen los, als die niederbrennenden Fackeln auf die Hornwurzeln übergriffen. Die vor Schmerz rasenden Tiere gerieten in die erwünschte Panik und rannten blindlings vorwärts, zum Teil setzten sie den Bergwald am Paß in Brand. Die karthagischen Speerschützen gewannen die Paßhöhe. Hannibal rückte mit dem Gros und dem Troß nach. Als die Römer endlich ihren Irrtum erkannten, kehrt machten und die Nachhut des Puniers attackierten, drehte dieser Verbände schwerer spanischer Infanterie ab, um die Arrièregarde herauszuhauen. Der Paß von Callicula war gewonnen. Im Raum von Gerunium in Nordapulien bezog Hannibal Winterquar- 157 -
tiere. Zuvor befahl er noch eine große Getreide-Einbringungsaktion. Die Römer störten diese Erntearbeit nicht mehr. Gerunium, das den Römern treu geblieben war, mußte im Sturm genommen werden. Für die Politik Hannibals war es bezeichnend, daß er die Winterquartiere seiner Armee in Bereiche verlegte, die gleichsam Strafe verdient hatten, nicht in Landschaften, deren Bewohner die Verbündeten von morgen bilden sollten. Die Kunde vom Nachtgefecht beim Paß von Callicula, von der bösartigen List des Puniers, brachte die Opposition gegen die Kriegführung des Diktators zur Siedehitze. Längst hatte man ihm den Beinamen ‚Cunctator‘ (Zauderer) gegeben und spottete über sein häßliches Antlitz mit der dicken Warze auf der Oberlippe.7 In der fabischen Familie, so erinnerten sich die Kritiker, hatte man den alten Herrn früher ‚ovicula‘ (das Schäfchen) genannt; und an Schafsdummheit hatte er es ja nun auch wahrlich nicht fehlen lassen … Nach dem Nachtgefecht von Callicula begab sich Fabius Maximus wieder nach Rom, um den Göttern zu opfern, da das Jahr sich dem Ende zuneigte. Er war ein sehr frommer Mann. Seinen Kritikern hielt er entgegen, manch kluger Arzt heile eine böse Krankheit besser durch Schonung des Patienten als durch Geschäftigkeit bei der Wahl der Medikamente. Hannibal gleiche einer hochauflodernden Flamme, die wieder in sich zusammensinke, sobald das Feuer seine Nahrung verzehrt - 158 -
habe. Solche Altersweisheiten wollten allerdings die wenigsten hören. Außerdem ging die Amtszeit des ‚Cunctators‘ zu Ende. Ein Diktator durfte nur ein halbes Jahr regieren. Viele Leute meinten jetzt, für diesen Brauch könne man nur den Göttern danken. In der den aristokratischen Clans abgeneigten plebejischen Partei führte nun ein Fleischermeistersohn das große Wort, ein ungeheuer betriebsamer Politiker, Caius Terentius Varro. In der römischen Ämterlaufbahn wechselten stets politische und militärische Dienststellungen. So hatte auch Terentius Varro militärische Erfahrungen sammeln können. Da die spätere römische Geschichtsschreibung jedoch fast ausschließlich von Adligen betrieben wurde – einer der ersten, der über den ‚Hannibalischen Krieg‘ schrieb, war ein Neffe des Fabius Maximus, Fabius Pictor –, halste man dann gern die Schuld an Niederlagen den Vertretern der Plebejer auf. Dies Schicksal wurde auch Terentius Varro zuteil, obwohl er keineswegs ein ausgemachter Dummkopf war, sondern nur ein allzu heißblütiger, auf rasche Entscheidungen drängender Politiker. Zur Partei des Terentius Varro aber gehörte auch der ‚Magister equitum‘ des Diktators, Minucius Rufus. Während sein Vorgesetzter in Rom mahnte, Ruhe zu halten, unternahm Minucius Rufus mehrere Aktionen gegen den in die Winterquartiere gegangenen Punier. Es gelang ihm, karthagische Verpflegungskommandos zusammenzuschlagen. Darauf erschien Hannibal mit star- 159 -
ken Kräften auf dem Plan und fügte dem Beigeordneten des Diktators eine schwere Niederlage zu. Fabius Maximus mußte noch einmal im Feld erscheinen. Jetzt wich Hannibal aus. Als er sich nach Gerunium zurückzog, bemerkte er scherzend zu seinen Stabsoffizieren: „Habe ich es Euch nicht oft prophezeit, daß diese ewig auf den Bergen liegende Wolke noch einmal mit Sturm und Ungewitter auf uns herniederplatzen würde?“8 Für den Winter erloschen damit die militärischen Aktionen auf beiden Seiten, während die politische Aktivität beiderseits zunahm. Das Hauptquartier Hannibals in Gerunium wurde zum Treffpunkt zahlloser Agenten, teils karthagischer, teils italischer Provenienz. Militärisch genommen, mußte man das kommende Jahr abwarten. Daß die Führung in Rom turnusmäßig wechselte, wußte man. Die Amtszeit des Diktators ging zu Ende. Neue Konsuln würden gewählt werden, und nach den Kundschafterberichten aus Rom mußte ein ungewöhnliches Doppelgespann die Wahl gewinnen: C. Terentius Varro, der vor Ehrgeiz barst, Hannibal endlich schlagen zu können, und für die Optimaten-Fraktion Lucius Aemilius Paullus, ein in den Feldzügen gegen die Illyrer in Dalmatien und gegen den Abenteurer Demetrios von Pharos bewährter Kriegsmann, der die Taktik des alten Fabiers für vollkommen richtig hielt. Und die beiden schafften es auch. Doch wie sollten sie sich auf einen gemeinsamen Aktionsplan einigen? - 160 -
Rückten die beiden Konsuln gemeinsam ins Feld, wie dies jetzt geplant wurde, führte der Tradition nach der Kriegerfahrenere – in diesem Fall Aemilius Paullus – den Oberbefehl. Der ehrgeizige Varro setzte es jedoch durch, daß man von dieser Regel abging und daß der Oberbefehl tagtäglich wechselte. Somit war die politisch-militärische Führung Roms für den Feldzug des Jahres 216 v. Chr. schlecht geordnet. Um so imponierender wirkte das neue Aufgebot Roms. Acht Legionen (zu je 4.200 Mann) wurden bereitgestellt, dazu kamen leichte Infanterie, Reiterei und bundesgenössische Kontingente. Insgesamt 80.000 Mann rückten ins Feld. Auch nach Spanien ging ein neuer Geleitzug mit Truppen und Nachschub. Für die Flotte wurden 25 Penteren auf Kiel gelegt. An den König von Makedonien, Philippos V., richtete man das Ersuchen, endlich den Raubfürsten Demetrios von Pharos an Rom auszuliefern. Damit wollte man in Rom unterstreichen, daß man den Hof in Pella, das Reich der Antigoniden auf dem Balkan, scharf im Auge behielt: schien doch der ehrgeizige Philippos V. ein idealer Bundesgenosse für Hannibal zu sein. Die beiden so ungleichen Konsuln an der Spitze einer Armee von 80.000 Mann gegen Hannibals 50.000, wurden von einer Reihe erfahrener Militärs ins Feld begleitet, dem Ex-Konsul Servilius Geminus, dem bisherigen Reiter-Befehlshaber Minucius Rufus, einem Mann der Partei Varros, und anderen. Im Arpi im nördlichen - 161 -
Apulien übernahmen die Konsuln die Armee. Aemilius Paullus hielt eine markige Ansprache an die Legionen. Der Tenor lautete, hier kämpfe ein Heer des Volkes, den Göttern seiner Stadt treu, gegen feile, fremde Mietlinge … Hannibal wußte sehr gut, wie das Dioskurenpaar der neuen feindlichen Oberbefehlshaber geartet war. Der eine, Terentius Varro, würde mit Sicherheit wieder eine Schlacht riskieren. Solche Entscheidung im freien Feld war dringend erforderlich, bislang hatte die Politik, die italischen Völker gegen Rom aufzubieten, trotz vielversprechender Kontakte, kaum praktische Erfolge zu verzeichnen gehabt. Da der Raum von Gerunium jedoch für ein Heer, dessen Hauptstärke jetzt in der glänzenden Kavallerie lag, für große Kampfhandlungen nicht günstig war, marschierte Hannibal in südöstlicher Richtung ab, in die apulische Ebene, zum Aufidus, dem heutigen Ofanto, der hier, im samnitisch-lukanischen Grenzgebirge entspringend, in mancherlei Windungen der Adria entgegenfloß. Bei dem Orte Cannae, den karthagischen Streifscharen schon im Vorjahr einmal heimgesucht hatten, dessen Stadtburg jedoch in römischer Hand geblieben war, schlug er auf dem linken Flußufer sein Lager auf. Die Burg von Cannae wurde gestürmt, und mit ihr fiel ein großes römisches Verpflegungslager in Hannibals Hand: Die Römer hatten hier Proviant für den Feldzug des neuen Jahres gespeichert. - 162 -
Wie Hannibal angenommen hatte, rückten die Römer nach, Legion für Legion in den braunen Lederpanzern mit erzenem Schulter- und Schenkelschutz, gefolgt von dem Riesentroß an Packpferden und Rüstwagen, mit Schanz-, Zelt- und Kochgerät sowie Verpflegung. Es war nun schon Hochsommer, und gewaltige Staubwolken zeigten auf den ausgetrockneten Straßen den Zug dieses Heerwurmes an. In zwei Tagesmärschen erreichte die römische Armee von Arpi aus den Raum von Cannae. Aemilius Paullus hielt nicht viel von der ganzen Operation. Hier verfügte der Gegner über allzu günstiges Terrain für seine Reiterei. Sein Amtskollege Varro hingegen plädierte für den Angriff auf den verhaßten Punier. Schließlich, so meinte er, könne das Volk von Rom dies von seinen Konsuln erwarten. Inzwischen tauchte bereits leichte Infanterie und Reiterei des Puniers auf; unter gellendem Geschrei jagten numidische Reiter heran, eine Legion mußte sich plötzlich mitten im Marsch zum Kampf formieren. Unterhalb von Cannae9 schlugen die Römer ihre Lager am Aufidus auf, wie stets mit Erdwall und Palisaden befestigt. Das größte Lager wurde in Sichtweite der Armee Hannibals auf dem linken Flußufer angelegt, ein zweites, kleineres auf dem rechten Flußufer. Damit erhoffte man, jede mögliche Bewegung des Gegners auf beiden Ufern blockieren zu können. Zudem bestand hier bei Cannae auf dem Aufidus, der im Altertum weit - 163 -
höher hinauf als heute schiffbar war, Verbindung nach der See hin. Hannibal verfügte bei Cannae damals über 20.000 Kelten, deren Kampfmoral nicht allzu hoch zu veranschlagen war. Dazu kamen 5.000 Mann schwerer spanischer Infanterie in ihren weißen gesteppten Leibröcken mit rotem Saum und schwarzen Ziegenmänteln, und 7.000 Mann schwerer libysch-phönizischer Infanterie in der traditionellen makedonisch-hellenistischen Rüstung. Die Römer behaupteten allerdings später, er habe diese Truppe mit am Trasimenischen See erbeuteten römischen Rüstungen ausstatten lassen, um die eigene Niederlage zu bemänteln.10 Daran reihten sich 8.000 Mann leichten Fußvolks, Schleuderer von den Balearen in ihren Sisyrnen, Schafspelzen, Ligurer mit Wieselfellkappen und Kelten mit ihren phantastischen Helmzierden, die Wisenthörner, Wolfsfratzen und Adlerköpfe zeigten. Die Elite dieser Armee bildeten die 10.000 Mann schwerer und leichter Kavallerie. Bot der Gegner hier die Schlacht an, so gedachte Hannibal anzugreifen, gegen alle Regeln der Kriegskunst mit schwächeren Kräften.11 Zwei Tage standen sich beide Heere am Aufidus gegenüber. Die römische Führung war sich nicht klar, was sie tun oder lassen sollte. Im Kriegsrat wurde Varro immer wieder von Aemilius Paullus und Servilius Geminus ermahnt, er möge die Schlacht vermeiden. - 164 -
Am dritten Tag, dem 2. August 216 v. Chr., führte Varro wieder den Oberbefehl und beschloß, zu handeln. Numidische Späher, die das römische Lager auf dem linken Ufer des Aufidus beobachteten, galoppierten eilends zurück und meldeten, am römischen Feldherrnzelt sei der rote Mantel ausgehängt, das Zeichen, daß der Oberkommandierende befohlen hatte, sich kampfbereit zu machen. Alle Bewegungen ließen vermuten, daß der Römer den infolge des Sommerwetters nur niedriges Wasser führenden Aufidus überqueren und auf dem rechten Ufer aufmarschieren wollte, um die Karthager möglicherweise von ihrem Lager wegzulocken. Hannibal gab seiner leichten Infanterie Befehl, gleichfalls über den Fluß zu gehen, und begab sich zu Pferd mit seinem Gefolge auf das rechte Ufer, wo er auf einem kleinen Hügel dicht bei der Stadtburg haltmachte. Je deutlicher erkennbar wurde, daß der Feind einen Uferwechsel vornehmen wollte, um so klarer wurde ihm, daß dieser einen schweren Fehler beging. Dem römischen Reglement nach marschierte Legion für Legion nebeneinander, in drei Treffen gestaffelt auf. Die Manipel standen mit kleinen Zwischenräumen, in Schachbrettform hintereinander in den Treffen geordnet. Jeder Manipel, 120 Mann stark, stellte sich in sechs Gliedern auf. Normalerweise konnte man bei dieser Dreitreffentaktik hoffen, daß das erste, und möglichst auch noch das zweite Treffen zum exerziermä- 165 -
ßigen Pilenwurf in Salvenform gelangten, bevor sie zum Nahkampf mit dem Schwert ansetzten. Terentius Varro, der Oberkommandierende an diesem 2. August, schien indes anderes im Sinn zu haben. Um die Stoßkraft seines Zentrums zu erhöhen und die Masse seiner Legionäre beim Sturm im Nahkampf voll zur Geltung zu bringen, verringerte er seine Frontbreite und ließ die Manipel zwölf Mann tief aufmarschieren. Gelang es diesmal, das karthagische Zentrum mit voller Wucht zu zerschmettern, mußten alle möglichen listigen Flankenund Umgehungsmanöver, wie sie der Punier an der Trebia probiert hatte, zu spät kommen. Hannibal beobachtete mit großer Sorgfalt, wie umständlich der Gegner sich zur Schlacht entfaltete, wie dieser alle Kräfte in der Mitte zu massieren suchte. Einer seiner Stabsoffiziere, Geskon mit Namen, bemerkte, die Riesenzahl der Feinde, die sich da ausbreite, komme ihm wunderlich vor. Hannibal erwiderte lächelnd, Geskon lasse einen anderen Umstand außer acht, der noch wunderlicher sei. Als Geskon fragte, was er damit meine, sagte Hannibal: „Nun, dies, daß unter all denen, so viel ihrer auch sind, kein einziger Geskon heißt.“12 Alle lachten, die Zuversicht stieg. Der Stratege mit dem erloschenen Auge pflegte selten zu scherzen. Unterdes formte sich in seinem Kopf der Plan für den Tag. Soweit ihm die hellenistische Militärliteratur geläufig war13, betrachtete man dort die ‚schiefe Schlachtordnung‘, die Operation mit einem stärkeren Flügel zur - 166 -
Erzwingung der Entscheidung, als höchsten Trumpf. So hatte der Thebaner Epaminondas vor beinahe 200 Jahren die Spartaner besiegt, so Alexander bei Gaugamela 331 die Perser. Es mußte möglich sein, mit zwei starken Flügeln, bei Verhalten im Zentrum, den Gegner im freien Felde zu umfassen. So wählte Hannibal die entgegengesetzte Form jener auf die Landkriegführung übertragenen karthagischen Flottentaktik, die er schon an der Trebia erprobt hatte. Die ganze Armee marschierte auf dem rechten Ufer des Aufidus auf. Das Zentrum, keltische Fußaufgebote und spanische Infanterie, nach Tausendschaften gemischt aufgestellt, wurde in Form eines Halbmondes weit vorgebogen geordnet. Die Flanken dieser sichelförmigen Aufstellung wurden treppenweise zurückgestuft. Weit im Rückhalt auf den Flügeln wurde je ein Korps zu 3.500 Mann schwerer libysch-phönizischer Infanterie postiert. Die Reiterei kam auf die Außenflügel: rechts die Numider unter Hanno Bomilkar, links die Spanier unter dem Generalquartiermeister Hasdrubal. Hannibal nahm im Zentrum Aufstellung. Hatte sich noch Alexander selbst in den Kampf gestürzt, sobald sein Schlachtplan vollendet war, so war dies jetzt bei einer so komplizierten Schlachtlenkung undenkbar geworden. Der Feldherr konnte sich unmöglich selbst des Überblickes berauben, soweit im Gewühl der Infanterieschlacht in Staub und Dunst überhaupt noch ein Überblick möglich war. - 167 -
Die Schlacht rollte mit der Genauigkeit eines Uhrwerkes ab. Die karthagische Armee wartete stehenden Fußes den Anmarsch der Römer ab. Diese brauchten Zeit, um die Verbände nach der Durchquerung des Aufidus wieder zu ordnen. Dann nahten die Legionen, überragt von den Feldzeichen der Manipel, im Marschschritt: vor der Front Schwärme leichten Fußvolks, die Reiterei auf den Flügeln. Im Zentrum ritt der Ex-Konsul, auf dem linken Flügel befahl Terentius Varro. Nachdem das Gewölk der Leichtbewaffneten aus dem Feld gefegt war, nahten die Legionen, nunmehr im Geschwindschritt, starr in gewohnter Ordnung vorrükkend. Wie es Hannibal berechnet hatte, schleuderte das erste Treffen seine Pilensalve, die zum Teil ins Leere ging. Darauf fielen die Legionäre in Sturmschritt. Dem keltischen und spanischen Fußvolk im vorgeschobenen Halbmond war eingeschärft worden, sie könnten langsam fechtend ausweichen, dürften aber auf keinen Fall flüchten. Die römische Schlachtlinie gerät infolge der bogenund treppenartigen Aufstellung des Gegners in Unordnung. Alles drängt zur Mitte, wo in Kampfgeschrei, Staub und Gewühl die Infanterieschlacht mit voller Gewalt tobt. Langsam wird der Halbmond der Karthager eingedrückt, ein Durchbruch in die Tiefe scheint den Römern nicht zu gelingen. Unterdes hat sich auf den Flügeln das Schicksal schon zugunsten Karthagos entschieden, die römische - 168 -
Reiterei ist geschlagen. Die beiden Reiter-Kommandeure Hannibals führen ihre Hundertschaften in den Rükken der römischen schweren Infanterie. Für einen Augenblick schwankt die Waage im Zentrum. Keltische Einheiten versagen, werfen Schild und Schwert weg und flüchten. Hannibal gelingt es jedoch, die Front wieder zu schließen. Der Durchbruch in die Tiefe bleibt den Römern versagt. Hannibal sieht den Augenblick gekommen, um seine beiden Flügelkorps loszulassen. Die hellenistisch-karthagischen Phalangen nahen, mit wehenden roten Helmbüschen, gedeckt durch große Erzschilde, mit den langen Stoßlanzen. Ihr Stoß geht in die tiefe Flanke der durcheinandergeratenen Legionen. Terentius Varro wird schwer verwundet, läßt sich jedoch wieder aufs Pferd heben. Aemilius Paullus fällt im Kampf. Und dann naht im Rücken der Römer die karthagische Reiterei und vollendet den Sieg. Von 80.000 Mann bleiben 50.000 auf dem Schlachtfeld, darunter 80 Senatoren, die Offiziersstellen in der Armee bekleideten. Terentius Varro rettet sich mit einem Trupp von 50 Reitern aus diesem Debakel. Es war der größte Sieg – und der letzte große Sieg –, der Hannibal im Felde gegenüber Rom beschieden war. Die erste und auch vollendetste Umfassungsschlacht im freien Felde in der Kriegsgeschichte war geschlagen worden. Clausewitz, der preußische Kriegsphilosoph, lehrte später, dem Schwächeren gezieme konzentrisches Handeln nicht. Napoleon lehrte, der Schwächere - 169 -
dürfe niemals auf beiden Flügeln zugleich die Umfassung versuchen. Der preußische Generalstabschef Graf Schlieffen suchte vor dem Ersten Weltkrieg nach seiner Verabschiedung Trost im Studium von Cannae, um sich selbst zu beweisen, sein großer Umfassungsplan gegen Frankreichs Armeen könne Aussicht auf Erfolg haben.14 Hannibals eigene Verluste in dieser Schlacht betrugen rund 5.000 Tote, meist Kelten, die im Zentrum geblieben waren. Ein Versuch römischer Einheiten, das große karthagische Lager auf dem linken, dem Nordufer des Aufidus, zu nehmen, war vereitelt worden. Aus dem römischen Lager gegenüber den Karthagern retteten sich ein paar tausend Mann vor der Gefangennahme. Hannibal hatte als Soldat den höchsten, verwegensten Einsatz gewagt und alles gewonnen. Das größte Wehrpflichtheer, das Rom bislang je aufgeboten hatte, war so gut wie ausgelöscht. Aber hatte er damit nun den Krieg gewonnen? Kein Wunder, daß am Abend dieses 2. August ihn seine Stabsoffiziere und Kommandeure bedrängten, er möge nun auf Rom marschieren. Man wollte sich die Schiffsschnäbel der karthagischen Penteren wieder holen, aus denen nach dem ersten großen Seesieg der Römer bei Mylae vor 44 Jahren, 260 v. Chr., die Rednertribünen auf dem Forum der Tiberstadt gezimmert worden waren, wie man sich in Karthago erzählte. Am lautesten plädierte der Reiter-Obrist Maharbal für den - 170 -
Marsch auf Rom. Als Hannibal abwinkte, soll er gesagt haben: „Ich sehe wohl, die Götter verleihen ein und demselben nicht alle Gaben zugleich. Du verstehst zu siegen, Hannibal, aber den Sieg zu nutzen verstehst Du nicht!“ Livius hat diese berühmt gewordenen Worte in die klassische Formel gekleidet: „Vincere scis Hannibal, victoria uti nescis.“15 Es war der erste Schatten, der, vielleicht noch am Abend dieses 2. August 216, auf den Sieg fiel. Denn seit diesem Ausspruch verschwindet Maharbal aus den uns noch zugänglichen Quellen. Fiel er in Ungnade? Hat der dem Alter nach wohl viel jüngere Stratege den brüsken Ausspruch eines seiner Unterbefehlshaber hart bestraft? Oder ist er einer Verwundung erlegen, die er 216 beim Sturm auf Casilinum erlitten hat? Aber bei dem eingewurzelten Stolz der karthagischen Aristokratie läßt sich sehr wohl denken, daß allzuviel Freimut gegenüber hochgestellten Persönlichkeiten als unangemessen empfunden wurde. Anstelle Maharbals erscheinen zwei andere ReiterBefehlshaber in Hannibals Gunst. Karthalo16, den er nach dem Tag von Cannae als Unterhändler nach Rom entsandte, und Myttones aus Hippo Diarrythos, einer libysch-phönizischen Kolonialstadt. Muttines, wie ihn die Römer später nannten, ein Mann, der auf Hannibal und das Haus Barkas eingeschworen, jedoch keineswegs gesonnen war, sich anderen karthagischen Oligarchen zu beugen, wie die Zukunft lehren sollte.17 - 171 -
Ohne dies zu ahnen, hatte Maharbal vermutlich einen neuralgischen Punkt in den Überlegungen Hannibals getroffen. Im Felde verstand er, den Sieg an die Feldzeichen Karthagos zu heften, in der Politik meinte er wohl, den richtigen Weg zu wissen, den er einschlagen mußte. Nur hing der Erfolg der Politik von Imponderabilien ab, die schwer zu beurteilen waren. Rom jetzt im Handstreich zu nehmen, war militärisch nicht möglich, eine lange Belagerung der Riesenstadt am Tiber mit ungesichertem Hinterland wäre noch größerer Unsinn gewesen. Rein militärisch war der ganze Krieg überhaupt nicht zu gewinnen. Doch der Sieg von Cannae bot jetzt die Möglichkeit, Rom, dessen Feldheer für mindestens ein bis zwei Jahre ausgeschaltet war, von seinen Bundesgenossen zu trennen. Hannibals politische Planungen gingen noch weiter. Man mußte die ganze hellenistische Welt von Griechenland mit seinen Städtebünden bis zum Seleukidenreich im Orient gegen Rom mobilisieren. Der nächste mächtige, potentielle Bundesgenosse konnte der ehrgeizig-unruhige König Philippos V. aus dem Haus der Antigoniden in Makedonien werden, der Rom wegen dessen Intervention in der Adria und in Dalmatien mit Abneigung betrachtete. Erschien eine makedonische Armee in Italien, so würde dies eine erhebliche Entlastung bedeuten. Jahrhunderte hindurch hatte Karthago mit der hellenischen Welt im Streit gelegen. Die Griechen hatten das punische Wesen ver- 172 -
achtet oder gehaßt. Im Grunde genommen schmiedete jetzt ein neuer Gegner beide Repräsentanten der alten Zeit zusammen: Rom. Das hat Hannibal sehr deutlich gespürt. Aber konnte dies seltsame politische Spiel überhaupt jemals gelingen? Oder barg der größte Sieg seiner Feldherrnlaufbahn zugleich den Keim für die politische Niederlage?
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VIII. Von Capua nach Capua Die politische Entscheidung Nach dem überwältigenden militärischen Sieg bei Cannae stellte sich Hannibal die Frage, wie man diesen Sieg für die Beendigung des Krieges nutzen könne. Ein Marsch auf Rom schien unrealistisch, also blieb nur der Versuch, mit Rom ins Gespräch zu kommen. Mit dieser Aufgabe betraute Hannibal den bei ihm in hoher Gunst stehenden Reiter-Befehlshaber Karthalo, der aus nicht mehr ersichtlichen Gründen über Beziehungen zur römischen Aristokratie verfügte, vor allem zum Hause des greisen Ex-Diktators Fabius Maximus.1 Offiziell lautete Karthalos Auftrag, über die Freigabe der bei Cannae in Gefangenschaft geratenen Römer – gegen Lösegeld – zu verhandeln. Die Kriegsgefangenen aus den Reihen der römischen Klientelvölker waren nach Hannibals Gepflogenheit sofort in die Heimat entlassen worden. Tatsächlich hatten schon früher Beziehungen zwischen Kreisen des karthagischen und des römischen Adels bestanden. Bei Hannibal wird auch hin und wieder das Bestreben deutlich, unter dem Adel beider Stadtstaaten einen gewissen Stil aufrechtzuerhalten.2 Und was Karthalo, vermutlich einen bereits älteren Offizier, anbetrifft, so kann man annehmen, daß dieser möglicherweise als junger Mann im Ersten Punischen Krieg in römische Gefangenschaft geraten war und in Rom das ‚paternum hospitium‘ (Livius) erlangt - 174 -
hatte, die ‚väterliche Gastfreundschaft‘ der Fabier-Familie. Ähnlich wie Hannibal nach Cannae hatte König Pyrrhos von Epirus nach seinem großen Sieg über die Römer bei Ausculum 279 v. Chr. gehandelt, als er den Römern Friedensverhandlungen anbot. Ähnlich waren der Stadtkönig und die ‚Gerusia‘ von Karthago verfahren, als sie sich 249 v. Chr. während des Ersten Punischen Krieges im Besitz des Sieges wähnten. Doch bislang hatten sich die Römer niemals auf vorzeitige Friedensverhandlungen eingelassen. Unterdes hatte sich die Kunde von der Vernichtung der römischen Feldarmeen wie ein Lauffeuer in ganz Italien verbreitet. Der überlebende Konsul Terentius Varro sandte einen Eilkurier nach Rom, meldete den Tod seines Amtskollegen und gab an, er wolle im Raum Canusium-Venusia (das heißt südwestlich von Cannae) eine neue Armee sammeln. Nach Canusium (Canosa di Puglia), das auf einem Hügel über dem Aufidus lag, hatten sich ein paar tausend Soldaten und Offiziere der Armee von Cannae gerettet. Unter den jungen aristokratischen Offizieren machte sich Mutlosigkeit breit. Der Staat, meinten sie, sei verloren, man müsse nach Osten auswandern … Zwei Standesgenossen, Angehörige der cornelischen und der claudischen Familie, wandten sich scharf gegen solchen Defaitismus. Der erste von ihnen war Publius Cornelius Scipio der Jüngere, der Sohn des von Hannibal am Ticinus geschla- 175 -
genen Konsuls, der bei Cannae als Militärtribun (Stabsoffizier) einer Legion gekämpft hatte. Er sollte sehr bald noch viel von sich reden machen. In Rom selbst mahnte Fabius Maximus, jetzt gelte es, die Ehre zu wahren. Dem Glauben der Väter entsprechend befragte man das Orakel der Sibylle von Cumae. Ihr Spruch lautete, um die Götter zu versöhnen, möge man ein griechisches und ein keltisches Paar, jeweils Mann und Weib, opfern, um abtrünnige Völker zu bestrafen. Die Römer, die die Karthager stets und ständig wilder Grausamkeit bezichtigten, befolgten das Orakel. Vier Menschen, ein Grieche und eine Griechin, ein Kelte und eine Keltin, Sklaven oder Kriegsgefangene, wurden bei lebendigem Leibe begraben. Daneben ergriff der Senat sofort Maßnahmen, um die Niederlage auszugleichen. Nachdem wieder wie im Vorjahr einer der Konsuln gefallen war, wurde abermals ein ‚Diktator‘ ernannt: M. Junius Pera, Konsul von 230 v. Chr. und damals Sieger über die Ligurer. Der überlebende Konsul Varro wurde mit allen Ehren in Rom empfangen. Eine Legion, die als Marine-Infanterie für das vor Ostia an der Tibermündung liegende Kriegsschiffgeschwader bestimmt war, wurde nach Rom gezogen. Ihr Kommandeur, der Praetor Marcus Claudius Marcellus, Konsul von 222 v. Chr. und damals Sieger über die keltischen Insubrer, erhielt den Auftrag, mit diesem Verband und den Resten der Armee von Cannae die Deckung Roms an der Grenze von Latium, - 176 -
dem Kerngebiet der Tiberstadt, und Campanien zu übernehmen. Er nahm bei Teanum (Teano) an der Straße von Rom nach Neapel Aufstellung. Als Karthalo mit ein paar Begleitern und etlichen vornehmen, gefangengenommenen Römern, die sich bereit erklärt hatten, als Vermittler zu fungieren, in Rom eintraf, fand er eine zwar höfliche, aber kühle Aufnahme. Von Friedensgesprächen war keine Rede. Einen Freikauf der Gefangenen lehnte der Senat ab. Die Römer, die sich Karthalo zur Verfügung gestellt hatten, mußten mit der karthagischen Gesandtschaft zusammen die Stadt wieder verlassen; man sah in ihnen Verräter. Rom hatte zwar abermals eine fürchterliche Niederlage erlitten, aber der Krieg, das wußte man recht gut, war damit noch lange nicht verloren. Man behauptete die Herrschaft auf dem Meer, trotz mancher karthagischen Einzelaktion, und in Spanien stand der Krieg recht günstig.3 Obwohl es Hannibal gelungen war, Rom in Italien fürs erste in die Defensive zu drängen, mangelte es den Römern keineswegs an Möglichkeiten, auf anderen Kriegsschauplätzen wieder zur Offensive überzugehen oder bereits begonnene Unternehmen fortzusetzen: in Nordspanien, auf Sardinien, auf Sizilien, jenseits der Adria in Griechenland und in der Poebene gegen die Kelten. Der Praetor M. Valerius Laevinus, der die politischmilitärischen Aktionen in der Adria und in Griechen- 177 -
land leitete, nahm Verhandlungen mit dem ‚Aitolischen Bund‘, einem der beiden griechischen Stadtbünde, auf, den Gegnern des Königs Philippos V. von Makedonien, dem potentiellen Alliierten Hannibals in Italien. In der Poebene erlitt man freilich einen neuen Rückschlag. Der dort operierende Praetor L. Postumius, designierter Konsul für das Jahr 215 v. Chr., wurde mit seinem Korps im Litana-Wald überraschend angegriffen und fiel im Kampf. Die ganze Truppenabteilung wurde niedergemacht. Der Schädel des Postumius diente, in Gold gefaßt, künftig keltischen Priestern als Trinkgefäß beim Opfer. Für Hannibal besaß die Poebene noch immer Bedeutung als Rekrutierungsgebiet wie als mögliches Durchzugsgebiet, wenn es gelingen sollte, im Landmarsch eine zweite Armee aus Spanien nach Italien zu schicken. Wichtiger für ihn jedoch war die Gewinnung Unteritaliens und damit die Auflösung der römischen Eidgenossenschaft. Nach dem Sieg von Cannae schwenkten tatsächlich die großen Stämme der Samniter und Lukaner, die campanischen Städte, die Zwölf-Stämmegemeinschaft der Bruttier im heutigen Kalabrien zu Hannibal über. Der Abfall von Rom grassierte wie eine Seuche. Aber für Hannibal blieb es ein halber politischer Erfolg. Es gelang ihm nicht, die wichtigen Häfen von Cumae und Neapel an der campanischen Küste, die Basen der römischen Seemacht, zur Übergabe zu bewegen. Und auch die Hafenstädte Süditaliens, Lo- 178 -
kroi, Kroton, Rhegion und Tarent, wurden von den Römern fürs erste behauptet. Das interessanteste Gebiet war für Hannibal Campanien mit seinen großen Erzgießereien und Töpferwerkstätten. Hier unterhielt Hannibal mutmaßlich bereits Beziehungen zum ‚Meddix tuticus‘ von Capua, Pacuvius Calavius, der prokarthagischen Sezessionspartei in Capua und anderen campanischen Städten. Der ‚Meddix‘ und seine Freunde sahen ihre Stunde nach dem Sieg Hannibals bei Cannae gekommen. Der Punier selbst marschierte mit der Armee von Apulien nach Campanien. Auf dem Zug nach Capua schloß sich eine Reihe wichtiger Städte der Sache Karthagos, d. h. der Sache der Freiheit von Rom, an: Arpi, Herdonea, Salapia. Der Vertrag, den der ‚Meddix tuticus‘ und die aristokratischen Sezessionisten in Capua mit Hannibal abschlossen, ist uns überliefert. Capua sicherte sich die Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit und seiner früheren Vormachtstellung unter den campanischen Städten sowie die Befreiung von allen Kriegslasten. Von aktiver militärischer Unterstützung der hannibalischen Armee war nicht die Rede. Die neuen Herren von Capua waren in erster Linie Geschäftsleute und wußten jeden erdenklichen Vorteil zu ergattern. Nichtsdestotrotz war die Sicherung dieses reichen Agrar- und Fabrikationsgebietes ein Vorteil für Hannibal, was die Versorgung seiner Armee anbelangte. Wenn er aller- 179 -
dings gehofft haben mochte, der Verlust Campaniens könne zu einer Erschütterung der Finanz- und Wirtschaftskraft Roms führen, so täuschte er sich. Dessen eigenständige Wirtschaft war bereits so groß geworden, daß Rom auch diesen Verlust überstand. Eben in dieser Tatsache lag ein Gutteil der Beweggründe für die Erhebung der Aristokratie von Capua. Sie fürchtete die übermächtig gewordene Konkurrenz der Tiberstadt. Von Campanien aus sandte Hannibal eine Truppenabteilung unter Hanno Bomilkar zu den Zwölf-Stämmen von Bruttium, im heutigen Kalabrien. Die Bruttier, vorwiegend Holzfäller, Köhler, Hirten, Teerschweler und Jäger in dem von dichtem Nadelholzwald bedeckten Gebirgsland, konnten gutes Soldatenmaterial liefern. Außerdem sollte Hanno Bomilkar die unteritalienischen Häfen von Kroton und Lokroi besetzen, um eine günstige Seeverbindung mit Karthago herzustellen. Wohl noch von der Mündung des Aufidus in die Adria aus hatte Hannibal nach dem so spektakulären und dennoch so schwer auszunutzenden Sieg seinen jüngsten Bruder Mago zu Schiff in die Heimatstadt geschickt. Mago sollte die Meldung vom Sieg überbringen und einen Lagebericht seines Bruders überreichen, wonach zu einer günstigen Beendigung des Krieges in Italien Verstärkung notwendig sei. Die beiden Brüder kannten das politische Treiben der Heimatstadt zwar - 180 -
nicht aus eigener Anschauung, doch wußten sie, daß ihr Schritt – militärisch und politisch vollkommen richtig und unumgänglich – alle Gegner des Hauses Barkas zu der spöttischen Gegenfrage herausfordern würde: was denn dies für ein merkwürdiger Sieger sei, der nach seinem Sieg nur Verstärkung erbitte? Um solchen naheliegenden Einwänden zu begegnen, habe sich Hannibal, so heißt es, ein besonderes Schaustück ausgedacht. Er hatte die goldenen Fingerringe der bei Cannae gefallenen römischen Ritter sammeln lassen und Mago mitgegeben. Dieser schüttete den Segen nun der ‚Gerusia‘ und den ‚Dreihundert‘ vor die Füße, als er vor der erlauchten Versammlung sprach.4 Hanno der Große, das Oberhaupt der Anti-Barkiner, verlangte ungerührt den sofortigen Friedensschluß mit Rom. Aber das hatte Hannibal ja bereits vergeblich versucht. Wir wissen über die Charaktereigenschaften Magos so gut wie nichts. Aber ob der junge Barkide, im Feldlager groß geworden, nun ein guter Sprecher für die Sache des Bruders war oder nicht: das Haus Barkas besaß genügend Freunde in den Ratsbehörden wie in der Volksversammlung. Im ersten Augenblick erreichte Mago Barkas, daß man für Italien 24.000 Mann schwere Infanterie, 4.000 numidische Reiter und 40 neue Kampfelefanten bewilligte. Dazu kamen 1.500 Talente Silbermünze für Hannibals Kriegskasse. Der großzügige Beschluß wurde indes nicht eingehalten. Vom Kriegsschauplatz in Spanien trafen schlech- 181 -
te Nachrichten ein. Die beiden Brüder Cornelius Scipio setzten ihre Offensive südlich des Ebro mit ungebrochener Kraft fort. Spanien benötigte ebenfalls Verstärkungen. So beschloß man in Karthago, Mago selbst mit einem Korps von 12.000 Mann schwerer Infanterie seinem Bruder Hasdrubal in Neu-Karthago zu Hilfe zu schicken. Das spanische Silberminengebiet mußte in jedem Fall gehalten werden. Im Ringen um die Wiedergewinnung der Seeherrschaft im Mittelmeer erschien ferner die Rückeroberung Sardiniens von großer Bedeutung. Hier hatte sich einer der mächtigsten Stammesfürsten der Sarden, Hampsicoras, zum Aufstand gegen Rom bereit erklärt. Infolgedessen wurde eine neue Diversion nach Sardinien angeordnet. Dafür wurden die zweiten 12.000 Mann schweren Fußvolks bestimmt, die ursprünglich Hannibal zugeführt werden sollten. Ein neuer Stratege für Sardinien wurde ernannt, wiederum ein Mann namens Hasdrubal. Zu seinem Stab gehörte ein Verwandter der Barkas, wiederum Mago geheißen, den wir nicht weiter identifizieren können.5 Für die Hauptarmee unter Hannibal in Italien blieben somit nur das numidische Reiterkorps, das Elefanten-Korps von 40 Tieren und das zugesagte Geld, nach unserer Rechnung etwa 1,2 Millionen Mark, übrig: fraglos eine unheilvolle Zersplitterung aller Kräfte! Der strategisch geniale und politisch verständige Oberbefehlshaber in Italien war ohne jeden Einfluß auf die - 182 -
Gesamtkriegsleitung. Wir kennen nicht einmal mehr die Namen des Stadtkönigs, der Sufeten, der ‚Gerusia‘Mitglieder, die in diesen Jahren über das Geschick Karthagos entschieden. Nur der Oppositionsführer, der greise Hanno d. Gr., wird deutlich. Aber dieser empfahl im Grunde die sofortige Kapitulation gegenüber Rom. Und dieser Schritt widerstrebte den Angehörigen der Oberbehörden. Es stimmt auch nicht, wenn man, wie das früher gerade in Deutschland gern geschehen ist, behauptet, Hannibal sei sozusagen am ‚Dolchstoß‘ der Heimat gescheitert, der glanzvolle Soldat sei das Opfer feiler, geldgieriger Krämerseelen geworden. Die karthagischen Oberbehörden taten, was in ihren Kräften stand, um einen mittelmeerischen ‚Weltkrieg‘ in Italien, Spanien, auf Sardinien und Sizilien zu führen. Von der Byrsa und vom Justizpalast in Karthago aus betrachtet, war Italien zwar ein Hauptkriegsschauplatz, aber dort mußte nun Hannibal aus den neuen Verbündeten herausholen, was herauszuholen war. Spanien war nicht minder wichtig. Gewann man Sardinien wieder als Flottenbasis, konnte man von dort aus gegen römische Transporte nach Spanien operieren. Bei den Nachrichtenmitteln und Verkehrsverbindungen des Altertums war eine zentrale Leitung eines solchen Riesenkrieges – ob nun von Karthago oder vom wechselnden Hauptquartier Hannibals aus – ungeheuer schwierig. Dazu kam die Tatsache, daß die Kräfte Karthagos, verglichen mit den Anfangsjahren - 183 -
des Ersten Punischen Krieges, vor allem zur See stark zusammengeschmolzen waren. Die Finanzkraft mochte hinreichen, solange man über das spanische Silber gebot. Theoretisch wäre die berühmte Königliche Staatsbank der Ptolemäer in Alexandria der nächste mögliche Anleihegeber gewesen. Aber dort hatte man schon während des Ersten Punischen Krieges vergeblich angeklopft. Und der derzeit regierende König Ptolemaios IV. Philopator hielt es mit Rom, dem er Getreide lieferte. Unterdes war im Herbst 216 v. Chr. – während Mago in Karthago unterhandelte –, der Krieg in Süditalien weitergegangen. Hannibal versuchte vergeblich, sich in Campanien der römischen Flottenbase Neapel zu bemächtigen. Neapel blieb römisch. M. Claudius Marcellus, der römische Oberbefehlshaber, behauptete seine Stellungen bei Casilinum am Volturnus-Fluß, zwei Marschstunden vor Capua, der Metropole pro-hannibalischer Sezession in Campanien. Als Hannibal versuchte, die Stadt Nola zu besetzen, ein wichtiger Stützpunkt im campanischen Bereich, eilte Marcellus sofort zur Hilfe. In Nola gab es eine pro-hannibalische Partei im Stadtadel, angeführt von einem gewissen Bantius, den Hannibal als Kriegsgefangenen von Cannae nach Haus gesandt hatte. Doch Nola blieb römisch. Marcellus veranstaltete hier ein grausames Strafgericht. 70 Mitgliedern des Stadtadels, die sich für Hannibal eingesetzt hatten, wurde in aller Öffentlichkeit der Kopf abge- 184 -
schlagen. In römischer Sicht war dies ein Bürgerkrieg, in dem auch der Terror selbstverständlich gerechtfertigt war. Hannibal machte zum ersten Mal, nach dem schönsten aller Siege die bedrückende Erfahrung, daß das Kriegsglück eine sehr launische Sache ist. Immerhin gelang es wenigstens noch vor Winteranbruch, die römische Sperrstellung bei Casilinum zu stürmen. Dann nahm die Armee Winterquartier in Campanien. Hannibal fand gastliche Aufnahme im Stadtpalast einer capuanischen Adelsfamilie, der Brüder Stenius und Pacuvius Ninnius. Capua sei Hannibals ‚Cannae‘ geworden, sagt der römische Schriftsteller Florus in seiner im 2. Jahrhundert nach Christi erschienenen Geschichte von Rom.6 Diese Sentenz könnte man sogar akzeptieren, bezieht man sie auf die politisch-militärische Niederlage, die Hannibal schließlich durch den Verlust von Capua erlitten hat. Florus meint indes etwas anderes. Nach seiner Überzeugung hat die Söldner-Armee Hannibals in diesem sicherlich sanften campanischen Winter ihre Kampfmoral eingebüßt, im wüsten Genuß campanischen Weins, im Zusammensein mit Dirnen oder Lustknaben. Nun war Capua, war Campanien zwar damals nicht nur durch seine Fabrikations-, sondern auch durch seine Vergnügungsstätten bekannt und im zweiten Falle berüchtigt, aber nichts deutet darauf hin, daß die Armee Hannibals nach diesem Winter weniger kampffreu- 185 -
dig gewesen wäre. Wie Söldner oder in diesem Fall Fremdenlegionäre aus aller Herren Ländern nun einmal beschaffen sind, werden sie den Winter genossen haben. Dies aber hat höchstens die Kampfkraft für den nächsten Feldzug wieder gehoben. Das einzige Moment, das, im einzelnen kaum nachprüfbar, schwächend wirken mußte, war der Generationswechsel im Veteranenbestand. Die Zahl der Söldner, die etwa noch Hamilkar gekannt hatten, die auf dessen Sohn wie auf einen Halbgott schworen, mußte sich verringern, nicht nur durch Kampf- oder Marschverluste, sondern durch Überalterung und Invalidität. Doch diese bunt zusammengewürfelte Armee in fremdem Land blieb – von einer späteren Ausnahme bei der numidischen Kavallerie abgesehen – dem einäugigen Punier ergeben, nicht nur weil dieser dem Heer den Sold garantierte, sondern weil er es verstanden haben muß, den Söldnern grenzenloses Vertrauen einzuflößen. In Rom wählte man indessen die Konsuln für das Jahr 215 v. Chr. Designiert war ursprünglich Marcus Claudius Marcellus zusammen mit Tiberius Sempronius Longus, den Hannibal an der Trebia geschlagen hatte. Da die Prognosen der Opferbeschauer für Marcellus ungünstig lauteten, und man nicht noch einmal einem so frevlerischen Gemüt wie dem Besiegten vom Trasimenischen See, Flaminius, aufsitzen wollte, beließ man Marcellus, mit dem Titel eines Proconsuls als Befehlshaber im Felde gegenüber Hannibal und erwies - 186 -
sich selbst damit einen guten Dienst, denn dieser Claudier war der beste Soldat, über den man zur Zeit auf dem italischen Kriegsschauplatz verfügte. An seiner Stelle übernahm Fabius Maximus noch einmal das Konsulat. Neue Legionen wurden ausgehoben, zum Teil aus Sklaven, denen man bei tapferer Haltung die Freiheit versprach. Zwei Legionen gingen unter dem Praetor Appius Claudius Pulcher nach Sizilien. In Syrakus wurde die Situation kritisch. Hier konnte man allmählich beinahe täglich mit dem Ableben des treuen Verbündeten Roms, des uralten Königs Hieron II. aus dem Hause Gelons rechnen. Es schien gut, die römische Präsenz auf der Insel zu stärken. Nach den ursprünglichen Feldzugsplänen von 218 war Sizilien das Sprungbrett für die Invasion in Nordafrika. Hannibal blieb zunächst mit dem Gros der Armee in Campanien. Zwei Korps unter Hanno Bomilkar und einem nicht näher bekannten Himilko operierten in Süditalien. Consentia (Cosenza), die Hauptstadt von Bruttium, und der wichtige Hafen von Lokroi (Lokri) wurden jetzt besetzt. In Lokroi erschien im Sommer 215 v. Chr. der karthagische Flottenbefehlshaber Bomilkar (vielleicht ein Verwandter des Neffen Hannibals, Hanno Bomilkar) mit dem für Hannibal bestimmten Hilfskorps von 4.000 Numider-Reitern und 40 Kampfelefanten, deren Transport über See immer besondere Ladevorkehrungen erforderte. Hannibal unterstellte sich - 187 -
den Geschwaderchef, damit verfügte er nun über eine bescheidene Seemacht, mit der er, sofern notwendig, Sizilien forcieren konnte. Hannibals Neffe Hanno Bomilkar lernte jedoch ein Beispiel für die Schwierigkeiten der Koalitionskriegführung mit den großen eigenwilligen Stämmen oder Stammesgenossenschaften Unteritaliens, den halb-italischen, halb-romanisierten oder noch halb-hellenischen Städten im Süden, in Campanien, Bruttium, Lukanien und Apulien kennen, denen manche italischen Stämme wieder bitter feind waren. Die Bruttier hatten 152.000 Mann Landsturm aufgeboten, um Hanno Bomilkar beim Angriff auf den zweiten wichtigen Hafen an der Südküste, Kroton, zu unterstützen, eine damals schon heruntergekommene Griechen-Kolonie, ehedem aber eine der glänzendsten Metropolen Großgriechenlands. Die Hellenen von Kroton hatten mit der bruttischen Zwölfer-Gemeinschaft selten in Frieden gelebt. Jetzt wollten die rauhen Bruttier aus den Waldbergen vom Sila ihre Rache haben und die Krotoner massakrieren. Die Fürsten des Zwölfer-Bundes schickten Gesandte zu Hannibal. Dieser wich aus und verwies sie wieder an seinen bevollmächtigten Unterstrategen Hanno Bomilkar. Dieser, zwischen zwei Feuern, setzte einen Kompromiß durch: Kroton wurde bruttisches Gebiet, doch die griechische Bevölkerung wurde unter größtmöglicher Schonung nach dem ebenfalls noch halbgriechischen Lokroi umgesie- 188 -
delt. Der Vorfall zeigte deutlich, in welchem Maß bei den neuen Bundesgenossen Hannibals nicht so sehr gemeinsamer Kampfwille gegen Rom als die uralten Streitigkeiten und Eifersüchteleien oder nackte Wirtschaftsinteressen wie in Capua den Vorrang hatten. Gute Vorzeichen waren dies nicht. Wahrscheinlich haben Geschehnisse wie der bruttisch-krotonische Konflikt Hannibal jedoch nur darin bestärkt, die Gemeinsamkeit der Interessen zwischen Karthago, den Völkern italischen Stammes und der hellenischen Welt Griechenlands wie der hellenistischen Großmächte, vor allem Makedoniens, zu stärken.7 Zu den Mitteln der Kriegspropaganda der Zeit gehörte dabei die Abfassung politischer Flugschriften. Wir kennen – aus viel späteren, für Hannibal weit dunkleren Zeitläufen – einen Sendbrief des Puniers an die hellenische Inselrepublik Rhodos, damals noch eine See- und Handelsmacht von Rang. Höchstwahrscheinlich hat Hannibal aber auch nach dem Sieg bei Cannae solche Flugschriften an die griechische Welt gerichtet, ganz einfach aus der Überlegung heraus, man müsse den uralten Zwist zwischen Puniern und Griechen mit allem Haß und aller Verachtung füreinander begraben, weil es für Punier wie Hellenen nur noch einen Feind gab: die ‚Barbaren‘, die rohen Adelsbauern zu Rom. Ein schwacher Nachhall solcher Bestrebungen hat sich in einem neuerdings entdeckten ägyptischen Papy- 189 -
rus gefunden. Es handelt sich dabei um eine Anthologie fingierter Briefe berühmter Persönlichkeiten aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert, deren Quelle in unserem Fall ein Briefroman über den Zweiten Punischen Krieg gewesen sein muß. Solche literarischen Erzeugnisse waren in der hellenistischen, alexandrinischen Sekundärliteratur des 2. Jahrhunderts v. Chr. und noch später sehr beliebt. Da wird ein erdachter Brief Hannibals nach dem ‚Sieg‘ (Cannae?) an die Athener zitiert. Der unbekannte Romanautor war sicherlich kein Freund der Punier, verfügte jedoch über historische Kenntnisse. In diesem fingierten Aufruf läßt er Hannibal, den er schlicht als ‚basileus‘ (Stadtkönig) ausgibt, ein Preisausschreiben für Lobgedichte auf seinen Sieg veranstalten, an dem sich athenische Poeten beteiligen sollen. Die Athener werden ermahnt, sich des Feldzugs gegen die Troer zu erinnern, nach der Sage die Vorfahren der Römer. Um die ‚Echtheit‘ des Briefes von Hannibal zu untermauern, enthält dieser, dem punischen Verfasser, einem ‚Barbaren‘, angelastete, erhebliche Sprachschnitzer im Griechischen.8 Es erscheint nur natürlich, daß Hannibal auf politischem Gebiet alles Erdenkliche versuchte. Und dazu gehörte eben auch die Überwindung uralter historischer Gegensätze zwischen dem Punier- und dem Hellenentum, was vermutlich auch eine in den Einzelheiten nicht mehr erkennbare weitgespannte Agitationstätig- 190 -
keit bedingte. Ein Beispiel bot die Entwicklung auf Sizilien, das als Sprungbrett für eine mögliche neue römische Invasion Nordafrikas und als nahegelegene Kornkammer für Rom damals von eminenter Wichtigkeit war. 215 v. Chr. starb, fast 90 Jahre alt, der König Hieron II. von Syrakus, ein unerschütterlicher Bundesgenosse Roms. Die Nachfolge fiel auf seinen Enkel, Hieronymos, den einzigen Sohn des verstorbenen Kronprinzen Gelon aus seiner Ehe mit einer Tochter des Königs Pyrrhos von Epirus. Hieronymos war ein junger Mensch von 14 oder 15 Jahren9, und sein Großvater hatte ihm eine Gruppe von Vormündern zugedacht, die ihn von unüberlegten Entschlüssen abhalten sollte. In dem neuen König muß jedoch etwas von dem phantastischen, stets alle Realitäten überschätzenden Geist seines mütterlichen Großvaters Pyrrhos gelebt haben. Er wollte ein Bündnis mit Hannibal abschließen und hoffte, den Hof der Ptolemäer in Alexandria, zu dem die Geloniden-Dynastie in Syrakus gute Beziehungen unterhielt, für die hellenistische Welt und gegen Rom mobilisieren zu können. Hieronymos entsandte einen seiner Oheime, Zosippos, und einige noch jüngere Brüder nach Ägypten. Dort hatte freilich der König Ptolemaios IV. Philopator, wie erwähnt, bisher stets Wert auf normale Beziehungen zu den ‚Barbaren‘ am Tiber gelegt: Ägypten lieferte Getreide nach Rom, und die Römer beglichen ihre Rechnungen recht pünktlich. - 191 -
Auf die Nachricht vom Tod des alten Königs schaltete sich Hannibal sofort ein, als habe er von den antirömischen Neigungen des Thronerben Kenntnis gehabt. Die beiden von syrakusanischen Emigranten abstammenden Offiziere seines Stabes, Epikydes und Hippokrates, gingen als Emissäre nach Syrakus. Der junge König Hieronymos wollte sich freilich das Bündnis mit Karthago bezahlen lassen. Um den Preis einer Beteiligung am Krieg gegen Rom verlangte er, Karthago müsse ihm all seine ehemaligen Gebiete in Westsizilien garantieren. Hippokrates, als Verhandlungsführer, konzedierte im Einvernehmen mit Hannibal alles, was der junge ‚basileus‘ sich wünschte. Der römische Praetor Appius Claudius und die bisherigen königlichen Vormünder sahen sich überspielt. Gegen Ende des Jahres war das syrakusanisch-karthagische Bündnis perfekt. Die Oberbehörden von Karthago, die nun eng mit dem Strategen in Italien zusammenarbeiteten, beschlossen, eine neue Armee nach Sizilien zu entsenden. Doch das brauchte Zeit. Und die eitle Hoffnung Hieronymos von Syrakus, er könne den sehr geistreichen, aber bereits etwas dekadenten König Ptolemaios IV. Philopator gegen Rom einnehmen, zerrann rasch. Der Monarch sah nicht ein, weshalb er sich mit Rom anlegen sollte, zudem Hof, Staatsbank und Getreideexporteure keine unerfreulichen Erfahrungen gemacht hatten. Zudem galt seine Aufmerksamkeit in der Hauptsache den - 192 -
Auseinandersetzungen mit Antiochos III. dem Großen, Herrscher über das Riesenreich der Seleukiden zwischen Bosporus und Persischem Golf, um den Besitz Syriens und Palästinas. Im Jahre 217 v. Chr., als Hannibal am Trasimenischen See die Römer besiegte, hatte Ptolemaios IV. Philopator mit seiner überlegenen Elefanterie die Schlacht von Raphia (Syrien) gegen Antiochos gewonnen. Beide Königshäuser, Ptolemäer wie Seleukiden, waren Diadochen, Erben des AlexanderReiches. Für sie lagen Karthago wie Rom noch außerhalb ihrer Interessensphären. Es schien auch nicht schlecht, wenn sich die beiden Randmächte gegenseitig die Köpfe zerschlugen. Ob Hannibal bewußt gewesen ist, welch unwahrscheinliches Bündnissystem auf schwankendem Boden er sich in Unteritalien, Sizilien und in der hellenischen Welt zu schaffen versuchte? Wie dem gewesen sein mag, eine andere Wahl blieb ihm nicht. Die Übernahme der Herrschaft in Syrakus durch Hieronymos war ein Glücksfall in diesem Spiel. Doch im gleichen Jahre 215 v. Chr. bot sich ein zweiter Glücksfall an. König Philippos V. von Makedonien, damals 22 Jahre alt, Erbe des dritten großen Diadochenreiches und nach Meinung der Zeitgenossen nicht nur ein schöner, sondern auch höchst edelmütiger Jüngling10, faßte den Entschluß, sich im Bunde mit Hannibal an Rom zu rächen. Die Römer hatten den von ihm ausgehaltenen Abenteurerfürsten Demetrios von Pharos aus der obe- 193 -
ren Adria vertrieben; und dieser Mann lag dem jungen König nun in den Ohren, nach dem Sieg Hannibals bei Cannae sei die Stunde für einen Feldzug gegen Rom auf der italischen Halbinsel gekommen. Das makedonische Heer, die Phalanx mit den meterlangen Sarissen, den Riesenstoßspeeren, genoß noch einen legendären Ruf. Der König schickte 215 v. Chr. eine vom Hofkämmerer Xenophanes, einem gebürtigen Athener, angeführte Gesandtschaft zu Hannibal. Da dessen Hauptquartier noch immer der Palast der Ninnier in Capua war, mußte sich die makedonische Delegation nicht nur auf der Seereise durch die römische Seeblockade vor Unteritalien hindurchwinden, sondern auch zu Land die römischen Linien passieren. Xenophanes bedeutete höchst gewandt den römischen Kommandeuren, er reise in wichtiger Mission seines ‚basileus‘ zu den Vätern des Senates nach Rom. Als die makedonische Gesandtschaft in Capua eintraf, standen die römischen Hauptgruppen zur Dekkung Latiums im nordcampanisch-latinischen Grenzbereich sozusagen ‚Spieß bei Fuß‘: An der Westküste bei der Seefestung Sinuessa der Konsul Tib. Sempronius Longus, nordöstlich davon, mehr zum Zentrum der Proconsul Marcellus, weiter landeinwärts der zweite Konsul, Fabius Maximus. Ihre Weisheit bestand darin, auf die Offensive des Puniers zu warten. Und dies war genau das Richtige. Ein Versuch des Puniers, sich im - 194 -
Handstreich des wichtigen Hafens von Cumae zu bemächtigen, mißlang. In seinem Rücken hielten die Römer mit aller Zähigkeit die Festung Nola. Der große Krieg schien auf der italischen Halbinsel zum Stillstand gekommen zu sein. Immerhin hatte Hanno Bomilkar sich nun von Bruttium (Kalabrien) aus mit einem starken Korps bruttischer Aufgebote nach Campanien in Marsch gesetzt. Auf Sizilien hatte sich die Situation offenbar zugunsten Karthagos gewandelt. Und man wird auch im Palast der Ninnier gewußt haben, daß eine Diversion nach Sardinien im Gange war. Als die makedonische Gesandtschaft in Capua eintraf, wurde sie mit allen Ehren empfangen. Erschien Philippos V. tatsächlich mit einem Korps makedonischer Truppen in Italien, konnte, ja mußte dies die Römer zu ganz neuen Überlegungen veranlassen. Da beide Verhandlungspartner von vornherein zum Abschluß bereit waren, kam die Generalallianz zwischen Hannibal und dem Königreich Makedonien schnell zustande. Hannibal, flankiert von den Mitgliedern der ‚Gerusia‘ in seiner Umgebung, handelte hier in stillschweigend angenommener Vollmacht auch für die Oberbehörden in der Heimat. Durch Xenophanes verpflichtete sich der Makedonenkönig ein Armeekorps makedonischer Truppen, 15.000 Mann, in Italien zu landen. Einen etwaigen Friedensschluß mit Rom behielt sich Hannibal namens seiner Stadtväter, ohne vorherige Konsultation mit dem - 195 -
Königshof im fernen Pella, der Hauptstadt Makedoniens, ausdrücklich vor. Dafür sicherte er dem König im Fall des Friedens mit Rom die Wiederherstellung der Herrschaft des Demetrios von Pharos, die Abtretung der römischen Stützpunkte in Illyrien und an der Küste von Epirus an Makedonien zu sowie die Anerkennung Griechenlands als makedonischer Interessensphäre. In Italien dagegen sollte geschehen, was Hannibal, respektive Karthago, für recht befanden. Der Bündnisvertrag ließ im Grunde ahnen, wie Hannibal sich die Teilung der Mittelmeerwelt im Falle eines siegreichen Friedens vorstellte. Rom sollte dabei als Mittelstaat sein Dasein fortführen. Von einer Auslöschung Roms war bei beiden Partnern nicht die Rede. Rom sollte dafür später zuerst das Königtum der Antigoniden zerstören, dann Karthago. Die äußere Form dieses Allianzvertrages, der uns in griechischer Sprache überliefert ist, entsprach ganz der Abfassung eines ‚berit‘, eines altphönizischen Vertragswerkes. Nur die im uralten Tyros übliche Formel der Verwünschung der Vertragsbrüchigen fehlte in der Schlußformel. Da Hannibal und sicher auch die Gerusiasten im Stab den Text aufgesetzt haben werden, beweist dieser Rückgriff auf urtraditionelle Formeln, wie stark auch der Stratege auf dem italischen Kriegsschauplatz, bei aller wissenschaftlichen hellenistischen Bildung in der Kriegskunst, im Denken der Väter und Vorväter gelebt hat. Hannibal, die Gerusiasten, die Ange- 196 -
hörigen der ‚Dreihundert‘, die als Offiziere in der Armee dienen, schwören bei allen Gottheiten Karthagos und bei den Göttern Makedoniens und Griechenlands, wobei sich aus der Nennung der Gottheiten für Hannibal, vorab des Baal Shannim und der Herrin Tanit, auch Rückschlüsse auf den speziellen Olymp des Hauses Barkas ziehen lassen. Eine düster abergläubische Welt enthüllt sich in diesen Formeln, die meint, man könne das Schicksal zwingen und für die eigene Sache in Bann schlagen, sofern man nur den verschollenen Urvätern und ihren Göttern von Tyros folge … Die Gesandtschaft des Xenophanes, begleitet von Geskon, dem bereits bei Cannae genannten Stabsoffizier Hannibals, und den Gerusiasten Bostar und Mago (um zu dokumentieren, daß der Stratege nicht eigenmächtig, sondern im Einvernehmen mit seinen Regenten handelte!), reiste durch Campanien und Bruttium zur Küste zurück, zur Zeit ein durch die Operationen Hanno Bomilkars wohl halbwegs gesicherter Weg. Mit sich führten sie ein Handschreiben Hannibals an den ‚basileus‘ von Makedonien und eine Ausfertigung des Allianzvertrages. In Kroton, das inzwischen karthagischer Seestützpunkt geworden war, gingen sie an Bord eines Schiffes, das sie nach der epirotischen oder griechischen Küste tragen sollte. Unweit des Lakynischen Vorgebirges bei Kroton – das einst Zeuge für Hannibals Räumung Italiens werden sollte – stellte ein römischer Blockadekreuzer den - 197 -
Schnellsegler mit der makedonischen Gesandtschaft und den Karthagern an Bord. Der römische Kommandant ließ sie mitsamt den Aktenstücken nach Rom bringen. Dort konnte noch der hellenisch-prorömische Historiker Polybios die Akten einsehen.11 Da beide Allianzpartner nicht von dem Vertrag lassen wollten, muß die ganze Verhandlungsprozedur wiederholt werden. Drei andere Hofleute des makedonischen ‚basileus‘, Herakleitos Skoteinos, Kriton und Sositheus von Magnesia12, reisten in das Hauptquartier Hannibals, das inzwischen nach Nordapulien verlegt worden war. Der Vertrag, der ‚berit‘, wurde wiederholt. Nun schrieb man bereits 214 v. Chr. Der Sand verrann im Stundenglas. Und König Philippos V. hatte immerhin soviel vom Erbe seines unstet ideenreichen Urgroßvaters Pyrrhos von Epirus in sich aufgenommen, daß er damals schon neuen Plänen nachging: der Eroberung ganz Griechenlands mit seinen halb zerfallenden Städtebünden. Nichts gelingt mehr recht – für Hannibal – für Karthago! Im Jahre 214 v. Chr. fielen die Schatten düsterer ein. Die Expedition nach Sardinien scheiterte ziemlich kläglich. Der karthagische Kommandeur und der Verwandte der Barkiden namens Mago gerieten in römische Gefangenschaft, der sardische Rebellenfürst Hampsicoras gab sich selbst den Tod. In Spanien mißlang eine neue Nordoffensive, die Hasdrubal Barkas, der ältere Bruder Hannibals, eingeleitet hatte. - 198 -
Hannibal selbst hatte inzwischen das Gros der Armee von Campanien nach Nordapulien in den Raum von Arpi verlegt. In Arpi hatte er das Winterquartier 215/14 v. Chr. genommen. Hier, am Rand der Ebene des Aufidus, erreichte ihn die zweite Gesandtschaft König Philippos V. Aber wann – und ob überhaupt noch – der König der Phalanx nun marschieren würde, stand bei den Göttern, deren Segen man auf den Pakt herabgefleht hatte. Aus Sizilien kamen sehr schlechte Nachrichten. Zu Sommeranfang 214 v. Chr. war der junge König Hieronymos in Leontinoi von römischen Parteigängern ermordet worden. Der Adel von Syrakus hatte beschlossen, die Republik wieder einzuführen. Es kostete Hippokrates und Epikydes, den Emissären Hannibals, große Mühe, diese unruhige und wenig verständige Sippschaft wieder auf das Bündnis mit Karthago festzulegen. Die letzte Hoffnung war, daß endlich das von den Oberbehörden in Karthago zugesagte Heer auf der Insel landete. Zur Sommerkampagne von 214 v. Chr. verlegte Hannibal die Operationslinie, aber hielt dabei strikt die Grenzlinie gegen Rom im nördlichen Unteritalien, im Trennbereich des nördlichen Campanien und Apulien, ein. Die Römer vermieden konsequent jede große Auseinandersetzung im offenen Felde. Der Schock von Cannae saß noch zu tief in den Knochen. Andererseits wollte Hannibal mit diesen taktischen Wechselzügen den Eindruck beim Gegner aufrechterhalten, - 199 -
er sei jederzeit willens, den Marsch auf Rom anzutreten. An die griechische Bevölkerung in Cumae und Neapel ergingen Sendschreiben, die die Erhebung gegen Rom forderten. Cumae und Neapel reagierten nicht. Von Bruttium gedachte Hannibal seinen Neffen Hanno Bomilkar mit starken Formationen bruttischen Landsturms zur Deckung Nord-Campaniens und Capuas heranzuziehen.13 Doch die Kolonnen des Unterbefehlshabers wurden beim Straßenkreuz von Beneventum (wo einst 275 v. Chr. Pyrrhos die letzte Schlacht gegen Rom verloren hatte) von dem Konsul Sempronius Longus gestellt und vernichtend geschlagen. Der bruttische Landsturm erwies sich in der Feldschlacht als völlig untauglich. Eine Unternehmung gegen die noch immer von den Römern gehaltene Festung Nola mißlang ebenfalls völlig. Hannibal beließ Besatzungen in den sezessionistischen Städten Campaniens, die durch landeseigene Milizen verstärkt wurden, und rückte nach Südostapulien in den Raum vor Tarent, der alten Metropole Großgriechenlands. Hier gab es im jüngeren Adel, der wiederum wie die Standesgenossen in Capua die steigende Wirtschaftsmacht Roms fürchtete, eine prokarthagische Partei. Aber in der Stadt, einem der wichtigsten Häfen Unteritaliens mit einer eigenen, wenn auch nicht mehr sehr starken Kriegsflotte, befand sich auch eine römische Besatzung. Und die ältere Generation unter - 200 -
dem Patriziat scheute bereits den Bruch mit Rom. Tarent hatte einst den König Pyrrhos als Schirmherrn des unteritalischen Griechentums nach Italien gerufen. Das Abenteuer war übel ausgegangen. Sollte man sich jetzt ausgerechnet einem Punier anheimgeben? Das Jahr 214 v. Chr. verrann ohne große Entscheidungen. Hannibal bezog sein Winterquartier in Salapia in Apulien, einer Stadt, die im Altertum an einem heute längst verschwundenen See gelegen hatte und wegen des in weitem Umkreis dort betriebenen Getreidebaues, ihrer Pferdezucht und ihrer Schafherden berühmt war. Salapia schien als Verpflegungsbasis für ein großes Heer vorzüglich geeignet. Rund zweihundert Jahre nach Hannibals Tode erzählte der römische Naturforscher Plinius in seiner ‚Historia naturalis‘ (Bd. III), Salapia sei berühmt geworden durch die „meretricio amore Hannibalis“, durch die Liebe Hannibals zu einer Dirne oder Hetäre in der Stadt.14 Die Stadt, ursprünglich eine griechische Kolonie, scheint sich mit dieser Affaire des Puniers gebrüstet zu haben. In Salapia gab es zwei rivalisierende Stadtadelsgeschlechter, die Dasier und die Blattier, die ersten prokarthagisch, die zweiten prorömisch gesonnen. Einer der Blattier spielte im Jahre 210 v. Chr. die Stadt wieder den Römern zu. Die karthagische Garnison, 500 Numider, wurde dabei niedergemetzelt. Soviel ist noch bekannt. Über die Frau, die Hannibals Nächte in diesem Winter geteilt hat, wissen wir nichts. Vielleicht handelte - 201 -
es sich tatsächlich um eine ‚meretrix‘, eine griechische Kurtisane, vielleicht auch um eine Tochter des Stadtadels, die später wegen ihrer Beziehungen zu dem Punier von der römischen Propaganda zur Dirne gestempelt wurde? Wahrscheinlicher ist das erste, da uns auch bei dem gräko-römischen Schriftsteller Appian eine Geschichte von Hannibals Vergnügungen mit Kurtisanen überliefert ist. In jedem Falle können wir annehmen, daß der Stratege Karthagos in Italien, dessen Ehe mit der spanischen Prinzessin längst versunken war, die Feldzugsjahre nicht als Asket verbracht hat … Aus Sizilien kam wenigstens eine erfreuliche Nachricht in diesem Winter nach Salapia. Um die Wende 214/13 v. Chr. war ein neuer Stratege der karthagischen Oberbehörden, mit Namen Himilko, auf Sizilien gelandet, an der Spitze von 25.000 Mann Fußvolk, 3.000 Reitern und zwölf Kampfelefanten. Der Hannibal unterstellte Geschwaderchef Bomilkar sperrte mit seinen Schiffen die Gewässer vor Syrakus. Hannibals Emissäre auf der Insel, Epikydes und Hippokrates, hatten damit neuen Handlungsspielraum15. Der neue Kriegsschauplatz band römische Kräfte. Rom schickte den besten Soldaten, über den es verfügte, M. Claudius Marcellus, mit einem starken Korps nach Sizilien. Marcellus machte sich an die Aufgabe, Syrakus von der Landseite her zu blockieren.16 Karthago gewann noch einmal große Teile Mittel- und Westsiziliens zurück. Zahlreiche griechische Städte fielen - 202 -
von Rom ab. Hippokrates durchbrach mit 10.000 Mann den Sperrgürtel des Marcellus vor Syrakus, vereinigte sich mit Himilko und sammelte einen neuen sizilischgriechischen Städtebund um sich, der für Karthago auch Truppen aufbrachte. Gemeinsam mit Himilko begann er die Offensive gegen die römischen Einschließungslinien, während in der Stadt Syrakus Hannibals Delegierter Epikydes die Abwehr leitete. Dabei konnte er auf den Rat und die Hilfe eines der genialsten Ingenieure der Antike, des Archimedes, rechnen, eines entfernten Verwandten des Geloniden-Hauses. Archimedes, ebensosehr Mathematiker wie Konstrukteur, schuf Kriegsmaschinen, die die Römer immer von neuem in Verwunderung versetzten.17 Die Operationen der Armee des Hippokrates und Himilko auf Sizilien verschafften Hannibal in Unteritalien ein wenig Entlastung. Zu großen Aktionen bot ihm freilich der Gegner keine Gelegenheit mehr. Die Kriegführung beschränkte sich auf Einzelunternehmen und den Kampf um die Positionen, die Hannibal in Campanien, Apulien und Lukanien gewonnen hatte. Dabei ging die wichtige Sperrfestung Casilinum in Nordcampanien schon wieder verloren. Die geheimen Unterhandlungen mit Tarent dauerten fort. Dafür traf Rom eine höchst entscheidende Maßnahme, die die Allianzpläne Hannibals mit Makedonien durchkreuzte. Ein römisches Flottengeschwader sperrte die Adria zwischen Brundisium (Brindisi) und der Küste von Epirus. - 203 -
Eben von Epirus aus hatte König Philippos V. sein Hilfskorps nach Italien überführen wollen. Aus den im Jahr 215 erbeuteten Akten mit dem Text des karthagisch-makedonischen Bündnisvertrages wußte man am Tiber sehr wohl, was Hannibal im Sinn hatte. Daher setzte man alles daran, den Aitolischen Städtebund in Griechenland gegen den König von Makedonien zu mobilisieren. Und der junge König, ein sehr unsteter Kopf, ließ sich leicht von dem Abenteuer in Italien ablenken, zumal ja die Unterwerfung ganz Griechenlands zu den Zielen gehörte, die er sich gesteckt hatte. Mit dem Erscheinen der makedonischen Phalanx auf italischem Boden konnte Hannibal im Jahre 213 v. Chr. kaum mehr ernsthaft rechnen. Neben der erfolgreichen Aktivität in der Adria und in Griechenland ging Rom auch dazu über, Karthago in seinem nordafrikanischen Kerngebiet Schwierigkeiten zu bereiten. Römischen Agenten gelang es, einen der einflußreichsten Fürsten der Numider, den ‚König‘ Syphax, zu gewinnen. Syphax erhob sich gegen Karthago. Die numidische Aufstandsbewegung in Nordafrika war wohl auch die Ursache dafür, daß rund 4.000 numidische Reiter Hannibals geschlossen zu den Römern übergingen, der einzige Fall eines Frontwechsels großen Maßstabes unter seinen Söldnern, der uns überliefert ist. Stammesbindungen spielten bei diesen berberischen Reiternomaden eine entscheidende Rolle, und man kann leicht vermuten, daß die Römer ihre - 204 -
Wühlarbeit in der Heimat der Numider auch auf die numidischen Verbände Hannibals ausdehnten. Der sogenannte ‚König‘ Syphax schickte sich an, gegen Karthago zu marschieren. Über nennenswerte Truppen gebot man hier nicht mehr, nachdem man noch eine starke Armee nach Sizilien geworfen hatte. Daher wußte man keinen anderen Rat, als Hasdrubal Barkas in Spanien zu Hilfe zu rufen. Diesem gelang es, mit einem Korps seiner Armee den Numider-Aufstand niederzuschlagen. Freilich war es Hasdrubal Barkas so nicht mehr möglich, in Spanien selbst größere Operationen durchzuführen, und damit rückte auch die Idee, eine zweite karthagische Armee aus Spanien im Landmarsch nach Italien zu ziehen, in immer weitere Ferne. Es war ein schwacher Trost für Hannibal, daß in seinem Hauptquartier – das sich wahrscheinlich noch immer in Salapia befand, vielleicht auch der ‚meretrix Salapina‘ halber – zwei Angehörige der Adelsopposition von Tarent, Nikon und Philemenos, einfanden, um mit ihm einen Plan zu erörtern, wie man den größten Kriegshafen Unteritaliens in Hannibals Hand spielen könnte. Dafür kam aus Sizilien eine Unheilsbotschaft. Das karthagische Heer unter Hippokrates und Himilko lag noch immer vor Syrakus, in den mit Papyrosstauden bewachsenen Niederungen am Anapos-Fluß. Die römische Armee unter Marcellus behauptete ihre Stellungen, war jedoch praktisch blockiert zwischen dem kar- 205 -
thagischen Heer im Westen und dem von Hannibals Emissär Epikydes beherrschten Syrakus. Weshalb Hippokrates und Himilko nicht zum Angriff ansetzten, ist nicht ganz verständlich. Wahrscheinlich wollten sie ihre kostbare Söldner-Armee nicht unnötig in die Schlacht werfen, in der Hoffnung, Marcellus würde zwischen zwei Feuern sich schließlich gezwungen sehen, zu kapitulieren. Statt dessen ruinierten Hippokrates und Himilko ihre Armee. In den ungesunden, zum Teil versumpften Niederungen am Anapos brach bei den üblichen schlechten sanitären Vorkehrungen in solchen Söldnerlagern eine Seuche aus, vermutlich Ruhr oder Typhus. Die beiden Oberbefehlshaber und Tausende von Soldaten starben. Die Reste des Heeres wichen nach Westsizilien aus. Darauf entschloß sich Marcellus zum Angriff auf Syrakus. Der Verrat eines spanischen Söldnerhauptmanns der Karthager öffnete ihm den Weg in die Stadt. Hannibals Delegaten Epikydes gelang es zwar, sich mit etlichen treugebliebenen Soldaten nach Westen durchzuschlagen. Aber Syrakus wurde im Jahre 212 v. Chr. römisch. Die Legionäre machten eine ungeheure Beute; bei der Plünderung nach dem ersten Einbruch stach ein Legionär den greisen Archimedes über den Haufen, sicher ohne zu ahnen, welch genialen Geist er mit seiner Tat auslöschte. Gemeinsam mit dem karthagischen Kommandanten in Akragas, abermals einem Mann namens Hanno, - 206 -
versuchte Epikydes in Westsizilien eine neue Streitmacht auf die Beine zu bringen. Hannibal, der offenbar beiden nicht allzuviel zutraute, entsandte einen neuen, eigenen Strategen aus seinem Stab nach Sizilien, den Liby-Phönizier Myttones. Dieser verdiente Offizier, der aus der hörigen Landbevölkerung Nordafrikas stammte, wurde in praxi den beiden Kommandeuren vor die Nase gesetzt, was weder Epikydes noch gar dem adelsstolzen Hanno paßte. Myttones konnte sich ihnen gegenüber nicht durchsetzen; der alte Haß gegen die punischen Aristokraten brach bei ihm wieder durch: Er ging zu den Römern über und wurde in deren Dienst unter dem latinisierten Namen Muttines hoch geehrt.18 Diese unglückliche Affaire wirft die Frage auf, ob Hannibal, was seine engste Umgebung betraf, wohl ein guter Menschenkenner gewesen ist, oder ob ihm diese Gabe, gleich anderen großen Feldherrn, Friedrich d. Gr. und Napoleon, gefehlt hat? Einen Mann niederer Abkunft gleich gegen zwei Aristokraten, einen HalbPunier und einen waschechten Punier zu stellen, beweist nicht viel Einfühlungsvermögen. Auf der anderen Seite muß man einen Umstand in Betracht ziehen, an dem Hannibal nichts ändern konnte: Das Reservoir an fähigen höheren Offizieren war äußerst beschränkt. Die traditionelle Vorbedingung, daß diese aus karthagischem Stadtadel stammen mußten, bot noch lange keine Gewähr für soldatische Begabung. Hannibal hat sich - 207 -
offenbar mehrfach über diese Regel hinweggesetzt, wie das Beispiel des Myttones lehrt. Aber auch Namen wie Maharbal oder Karthalo begegnen sonst kaum im karthagischen Adel, so daß es nicht ausgeschlossen ist, daß diese Reiterbefehlshaber Außenseiter waren, aufgestiegen unter den Feldzeichen des Hauses Barkas. Hannibal selbst eröffnete das düstere Jahr 212 v. Chr. mit einem großangelegten Handstreich. Im Winter 213/12 hatte er sein Hauptquartier in das Gebiet der Sallentiner, drei Tagemärsche vor Tarent, verlegt. Mit Vertretern des tarentinischen Adels, Nikon und Philemenos, war der Plan zur Besetzung von Tarent und zur Überrumpelung der römischen Besatzung verabredet worden. Die beiden jungen Herren waren als eifrige Jäger bekannt. Vor allem Philemenos jagte gern in den Waldungen vor der Stadt auf Rot- und Schwarzwild. Er verfehlte auch nicht, dem römischen Kommandanten von Tarent, Caius Livius, Wildbret für dessen Tafel zu liefern. Den römischen Torwachen war er wohlbekannt. Sie ließen ihn passieren, auch wenn er am späten Abend heimkehrte. Auch sie nahmen gern ein Stück erlegten Wildes als Geschenk. Auf diese Waidmannskünste wurde der Handstreich abgestellt. Man wählte einen Winterabend 213/12, an dem der römische Kommandant im ‚Museion‘, einem Gesellschaftsklub am Markt, ein großes Festessen gab. Philemenos veranstaltete wieder einmal seinen Jagdausflug. Während des Essens wurde dem Komman- 208 -
danten gemeldet, numidische Reiter trieben sich vor der Stadt herum. C. Livius meinte auf seinem Speisesofa, man werde am nächsten Tag das Gesindel schon verjagen. Es waren die Aufklärer für Hannibals Unternehmung. Philemenos erlegte zwar ein Stück Wild auf der Jagd, doch der Hauptzweck seines Ausfluges bildeten die letzten Abreden mit Hannibal. Um Mitternacht erschien er vor dem Temenischen Tor. Seine Jagdsklaven schleppten einen prächtigen toten Keiler mit sich. Die römischen Posten ließen ihn durch. Aber unmittelbar hinter der Jagdpartie quoll aus dem Dunkel keltisches Fußvolk mit fratzenhaften Helmen, libysch-phönizische schwere Infanterie mit gefälltem Spieß herein, dahinter, schattenhaft erkennbar auf seinem Roß, der unheimliche einäugige Punier in eigener Person. Die Karthager waren in der Stadt. Hannibal brach zum Markt durch, um den Kommandanten beim Festmahl auszuheben. Doch C. Livius war gewarnt worden. Mit der Mehrzahl seiner Leute rettete er sich auf die Akropolis von Tarent. Die Tempelburg beherrschte den Hafen und war nur durch eine längere Belagerung zu nehmen. Hannibal hatte Tarent genommen – und das interessanteste Objekt nicht gewonnen. Abermals war eine sorgfältig eingefädelte Operation nur noch halb gelungen. Hannibal beließ einen seiner besten Offiziere, Karthalo, als Kommandanten in Tarent. Um die Akropolis - 209 -
zu zernieren, wurde eine Mauer durch das Stadtgebiet gezogen. Die Kriegsschiffe von Tarent wurden im Landtransport an den Strand außerhalb der Stadt geschafft und wieder zu Wasser gelassen. Mit diesem Flottenverband griff der tarentinische Marinebefehlshaber Demokrates ein römisches Geschwader von 20 Schiffen an, das sich der Stadt näherte. Auch die Karthager schickten eine Gruppe von Penteren. Der römische Verband wurde vernichtet. Doch war auch dies wieder ein halber Sieg. Karthalo behauptete fortan Tarent, C. Livius die Stadtburg von Tarent. Immerhin hatte der Übergang von Tarent zu Hannibal zur Folge, daß der ‚Lukanische Bund‘, die Gemeinschaftsvertretung aller alten Stämme Lukaniens (etwa der Bereich der heutigen Provinz Potenza), beschloß, sich korporativ Hannibal zu alliieren. In Unteritalien besetzten Hanno Bomilkar und Mago Saunites die Häfen am Jonischen Meer, Metapontum, Herakleia und Thurioi. Mago Saunites lockte bei Herdonea den noch immer im Feld befehligenden Exkonsul Tiberius Sempronius Longus in einen Hinterhalt. Der alte Gegner Hannibals fiel im Kampf. Das alles waren sicherlich wiederum Erfolge. Irgendeine Entscheidung zeichnete sich jedoch für Hannibal nicht ab. Der mit so großen Hoffnungen begrüßte potentielle Verbündete, König Philippos V. von Makedonien, verzettelte seine Kräfte in Aktionen in Illyrien (Dalmatien) und Griechenland.19 Weder das durch den - 210 -
Numideraufstand erschütterte Karthago noch das barkidische Generalkommando in Spanien konnten zur Entlastung Hannibals in Italien etwas beitragen. Der Krieg versandete. Es war kein gutes Zeichen, daß sich Hannibal persönlich zur Leitung eines GroßpartisanenUnternehmens wie dem Überfall auf Tarent hergab – oder hergeben mußte. Konnte er Teilerfolge im Süden seines ephemeren Heer-Herrschaftsbereiches in Unteritalien verbuchen, so mußte dennoch die Hauptentscheidung über den Bestand dieser unsicher gefügten Gegen-Bundesgenossenschaft zu Rom im Norden, in Campanien, fallen. Nach wie vor war Capua die Schlüsselstellung; und nach wie vor war es das Hauptbestreben der vorsichtigen römischen Kriegführung, diese Stadt wieder aus dem Herrschaftsbereich Hannibals herauszubrechen. Für ernsthafte eigene Kriegsanstrengungen war Capua moralisch schlecht gerüstet. Nicht umsonst hatte sich der ‚Meddix‘ Pacuvius Calavius bei der Allianz mit Hannibal die Freiheit von Kriegslasten ausbedungen. Wenn man schon von Tarent spottete, hier gäbe es mehr Festals Werkeltage, so galt dies in beinahe noch höherem Maße für Capua. Der Kommandant, den Hannibal hier eingesetzt hatte, abermals ein – nicht näher identifizierbarer – Offizier namens Hanno, hatte keinen leichten Stand, allzumal unterschwellig immer die Abneigung aller hellenistisch oder gar noch hellenisch gebildeten Leute gegen die punischen ‚guggas‘ schwelte. - 211 -
Im Jahre 212 v. Chr. gelang es Hannibal noch, eine unmittelbare Einschließung von Capua durch die Römer zu vereiteln. Wie lange dies noch möglich war, stand dahin. Zudem wird man auch in capuanischen Adelskreisen, die über vielerlei verwandtschaftliche Beziehungen zu Rom verfügten, gewußt haben, mit welch finsterer Entschlossenheit Rom seine Kriegsanstrengungen weiterverfolgte. Als der Abfall der unteritalischen Seestädte am Tiber bekannt wurde, stürzte man die in Rom befindlichen Geiseln aus diesen Orten vom Tarpejischen Fels auf dem Kapitol zu Tode. So begann das Jahr 211 v. Chr. für Hannibal unter recht düsteren Aspekten. Ein erfolgversprechendes Ende des Krieges war nicht abzusehen. In Rom hatte man für dieses Jahr Fulvius Centumala und Sulpicius Galba zu Konsuln gewählt. Für den Wandel in der römischen Kriegsverfassung, die der ‚hannibalische‘ Krieg bewirkte, war es jedoch symptomatisch, daß häufig nicht mehr die Konsuln selbst ins Feld ausrückten, sondern daß man bereits erprobten Militärs, vor allem Claudius Marcellus und in Spanien den beiden Brüdern Cornelius Scipio die Führung beließ. Und einem Soldaten wie Marcellus war es völlig klar, daß Capua zum Angelpunkt kommender Entscheidungen geworden war. Im Jahre 211 v. Chr. gelang den römischen Streitkräften nun tatsächlich die Einschließung von Capua. Hannibal, der den Winter im Gebiet von Tarent verbracht hatte, detachierte seinen Neffen Hanno Bomil- 212 -
kar mit einem großen Verpflegungs-Konvoi zum Entsatz. Als der Versuch, nach Capua durchzubrechen, fehlschlug, marschierte Hannibal selbst mit dem Gros der Armee und 33 Kampfelefanten von Lukanien nach Campanien. Appian, der im 2. Jahrhundert n. Chr. eine Römische Geschichte in 24 Bänden verfaßt hat, gibt an, Hannibal sei nur deshalb bei Capua zu spät erschienen, weil er sich in Lukanien eine Geliebte genommen und sich wüster Schwelgerei ergeben habe. Diese Geschichte spiegelt jedoch nur die übliche römische Propaganda wider.20 In Wahrheit brauchte die Verlegung einer Armee von immer noch etwa 50.000 Mann Kampftruppen mit umfangreichem Troß und einem Elefanten-Korps aus Lukanien nach Campanien ganz einfach ihre Zeit. Hannibal versammelte sein Heer in den Tifata-Bergen über Capua, nahm die Ortschaft Caletta nahe bei der Stadt und bot dann dem Gegner die Feldschlacht an. Darauf ließen sich die Belagerer wohlweislich nicht ein. Nun faßte Hannibal den Entschluß, die Belagerungsarmee von Capua durch einen direkten Vorstoß auf Rom fortzulocken. In Eilmärschen durchzog er Samnium und das Sabinerland, überschritt den Anio, der drei Kilometer oberhalb von Rom in den Tiber mündet und von großer Bedeutung für die Wasserversorgung der Riesenstadt war, seitdem Manlius Curius Dentatus, der Sieger über Pyrrhos bei Beneventum, - 213 -
275 v. Chr. hier die berühmten Aquädukte gebaut hatte, und schlug eine Wegstunde vor Rom ein Feldlager auf. Von allen Seiten drängte flüchtendes Landvolk mit Karren und Herden in die Stadt, um hinter den Mauern Schutz zu suchen. In der Stadt selbst brach eine Panik ohnegleichen aus. Der Ruf ‚Hannibal ad portas‘ (Hannibal vor den Toren) ging wie ein Lauffeuer um. Als die von Hannibal zu den Römern desertierten numidischen Reiter, die man vorsichtshalber erst einmal in Rom stationiert hatte, aufgeboten wurden und durch die Straßen galoppierten, glaubten Tausende, die Punier seien bereits in der Stadt.21 Aber dann geschah genaugenommen gar nichts. Um Rom auf lange Zeit zu belagern, waren Hannibals Streitkräfte zu schwach. An einen Handstreich war überhaupt nicht zu denken. Valerius Antias, ein römischer Schriftsteller des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, der eine phantasievolle Geschichte Roms in 75 Bänden verfaßte, weiß zwar von dem grenzenlosen Haß des Puniers gegen Rom zu berichten: Um die Größe dieses Hasses zu untermalen, habe Hannibal einmal besonders heftig mit dem Fuß auf den Boden gestampft, so daß eine mächtige Staubwolke aufflog, und ausgerufen, der Krieg zwischen Karthago und Rom würde so lange dauern, bis eine der beiden Städte in Staub verwandelt sei. Solche und ähnliche Geschichten kolportierte man gern in Rom.22 Aber mochte Hannibal auch den Zorn seiner Götter auf die Stadt am Ti- 214 -
ber herabbeschwören – er war ohne gesichertes Hinterland und eine ausreichende Verpflegungsbasis nicht einmal imstande, sehr lange vor den Mauern der Todfeindin Karthagos zu verweilen. In der Stadt hatten die Väter im Senat die Mauern und Türme besetzen lassen. Vom weitgedehnten karthagischen Lager her konnte man die Hornsignale und das Trompeten der Elefanten vernehmen. Das Wetter verschlechterte sich. Graue Regenwolken zogen über den Himmel und machten das Dasein im Lager noch beschwerlicher als zuvor. An einem dieser Tage unternahm Hannibal mit einem kleinen Gefolge selbst einen Erkundungsritt. Gedeckt durch numidische Reiter auf ihren sehnigen Rossen, erschien der Punier mit dem einen Auge und dem kohlschwarzen Bart, in Bügelhelm und rotem Feldherrnmantel vor dem Collinischen Tor im Nordosten der Stadtmauer. Die Wachen konnten ihn und die Reitergruppe genau beobachten, auf den Gleitschienen der Pfeilgeschütze lagen die Geschosse bereit, die Bogen waren gespannt. Doch niemand auf römischer Seite riskierte einen Schuß, niemand dachte an einen jähen Ausfall gegen den verhaßten und abergläubisch gefürchteten großen Gegner. Hannibal ritt ein gutes Stück der riesigen Stadtmauer ab. Fern darüber mochte man das Kapitol ahnen. Dort hatten die Römer jetzt der Venus Erycina von Sizilien einen Tempel errichtet. Nach der Niederlage vom - 215 -
Trasimenischen See hatte die Cumäische Sibylle den Römern geraten, den Kult der Aphrodite vom Berge Eryx nach Rom zu überführen, um den Geist vom Eryx für sich zu bannen. Auf diesem Berg, unter dem von den Römern gehaltenen Tempel Aphrodites und ihrer heiligen Liebesdienerinnen, hatte Hannibals Vater Hamilkar seinen letzten Kampf auf Sizilien ausgefochten – bis zur letzten Stunde. Nun hatten die Römer die Göttin vom Berg der Barkas für sich beschlagnahmt. Ein düsteres Zeichen, und wir wissen, wie sehr Hannibal ganz im Bann solch magischer Bezüge stand. Schwere Wolkenbrüche gingen über dem römischen Land nieder. Nach drei Tagen brach Hannibal sein Lager ab. Das, was er sich von dieser Diversion versprochen hatte, der Abmarsch des Belagerungsheeres vor Capua nach Norden zur Deckung von Rom, war nicht eingetreten. Die Römer hatten viel vom Gegner gelernt – zu viel. In Rom erzählte man sich später eine hübsche Geschichte, um Hannibals plötzliches Verschwinden zu erklären. Von einem gefangenen römischen Soldaten habe er erfahren, daß gerade in den Tagen seiner militärischen Demonstration vor der Tiberstadt der Grund und Boden, auf dem sich sein Lager befand, den Besitzer gewechselt habe. Der Landpreis sei nicht im geringsten gesunken. Dies habe Hannibal ebensosehr in Wut wie in Bestürzung über Roms Unerschütterlichkeit versetzt, und so habe er das Weite gesucht.23 - 216 -
Der Entschluß, den er jetzt faßte, erscheint völlig unverständlich: Hannibal ließ Capua mit der eingeschlossenen karthagischen Besatzung und dem dem Tod geweihten sezessionistischen Adel unbeachtet liegen. Mit dem Gros der Armee marschierte er durch das mittlere Süditalien nach Rhegion an der äußersten Westspitze Bruttiums (Kalabriens). Wir vermögen nicht mehr zu entschleiern, was diese riesige Marschoperation in Hannibals Augen für einen Sinn gehabt hat: Ob er gehofft hat, er könne die Römer auf diese Art in Verwirrung bringen, indem er einen möglichen Übergang nach Sizilien vortäuschte? Der ‚Meddix Tuticus‘ von Capua und seine aristokratischen Freunde konnten nur mehr feststellen, daß die Römer doch recht hatten, wenn sie von „punischer Treulosigkeit“ redeten. Capua fiel wieder in römische Hand. Der eine der amtierenden Konsuln von 211, Appius Claudius, vordem Kommandeur auf Sizilien, riet wegen mancher verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem römischen und campanischen Adel zur Milde. Umsonst! Sein Kollege Fulvius Flaccus bestand darauf, daß die Rache die schönste Frucht des Sieges sei. Achtundzwanzig führende Sezessionisten wählten vor der Gefangennahme den Tod von eigener Hand. 53 Adelige von Capua wurden öffentlich ausgepeitscht und dann geköpft; das gleiche Schicksal widerfuhr 17 Adeligen aus anderen abtrünnigen campanischen Städten, die sich in Capua befunden hatten. Rom kannte - 217 -
keine Gnade. Nach römischer Ansicht handelte es sich einfach um Aufständische, die mitten im Krieg ihrer Regierung in den Rücken gefallen waren. Der Fall von Capua anno 211 v. Chr. bedeutete die große Wende im Krieg Hannibals in Unteritalien. Er bewirkte eine langsam sich ausbreitende Vertrauenskrise im lockeren Gefüge der antirömischen ‚Gegen-Eidgenossenschaft‘, die Hannibal hatte schaffen wollen. Fünf Jahre zu spät konnten dafür Hannibals Brüder Hasdrubal und Mago in Spanien, denen die Oberbehörden von Karthago zwei neue Strategen beigegeben hatten, Hasdrubal Geskon, den Sohn des im Söldnerkrieg ermordeten Befehlshabers, und den numidischen Prinzen Masinissa, den ersten großen Sieg verbuchen. Die Brüder Publius und Gnaeus Cornelius Scipio, die sich umfangreiche iberische Hilfskontingente zugelegt hatten, wurden in der Feldschlacht besiegt, Teile ihrer iberischen Verbände liefen zu den Karthagern über. Die beiden Scipionen blieben im Kampf.24 Die spanische Front schien für den Augenblick freigekämpft zu sein. Damit konnte eigentlich Hasdrubal Barkas daran denken, mit einer zweiten karthagischspanischen Landarmee dem Bruder in Unteritalien zu Hilfe zu kommen. Dies wurde durchkreuzt durch die Tatsache, daß die Oberbehörden von Karthago jetzt ein ganzes Strategen-Kollektiv in Spanien eingesetzt hatten. Die alte Unsitte, jeweils zwei Strategen an die Spitze einer Feld- 218 -
armee zu stellen, feierte ihren letzten Triumph in der Verdoppelung dieses Dualismus. Da man den zwei Barkiden im Herzen doch nicht recht über den Weg traute, hatte man den Geskoniden Hasdrubal nach Spanien gesandt, und um den unsicher gewordenen NumiderFürsten zu schmeicheln, hatte man dem KavallerieKommandeur in Spanien, Masinissa, einen sehr eitlen und ruhmbegierigen Mann, wieder mit besonderen Würden ausgestattet. Nachdem die Römer aus dem Felde geschlagen zu sein schienen, trieb die Rivalität vor allem zwischen den Brüdern Barkas, von denen Hasdrubal als ‚basileus‘ auf der Königsburg zu Neu-Karthago fungierte, und dem Geskoniden die schönsten Blüten. Hasdrubal Geskon war der Enkel des karthagischen Flottenchefs Hannibal Geskon, der 260 v. Chr. die Seeschlacht von Mylae gegen die Römer verloren hatte – der erste furchtbare Schlag für die bisherige Herrin der Meere. Gleichwohl hatte ihn der Staatsgerichtshof der ‚Hundertvier‘ ungeschoren gelassen. Später hatte er das Kommando über eine Expedition nach Sardinien erhalten und war von seinen Söldnern wegen seiner Grausamkeit ans Kreuz geschlagen worden. Hasdrubal Geskon war, was Grausamkeit, Ehrgeiz und Ungeschick betraf, ein würdiger Erbe. Ganz offensichtlich plagte ihn in Spanien die Sucht, dem Haus Geskon eine ähnliche Position zu schaffen, wie sie das Haus Barkas errungen hatte. Infolge dessen konnte Hasdrubal Barkas - 219 -
vorerst nicht daran denken, den spanischen Kriegsschauplatz zu verlassen.
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IX. Hasdrubals Kopf Die letzte Hoffnung und die letzten Jahre in Italien Vier Jahre waren seit dem Fall von Capua ins Land gegangen. Man schrieb das Jahr 207 v. Chr. Der Sommer hatte bereits begonnen. An der Stelle, wo die Straße von Canusium nach Herdonea die garganischen Berge verließ, war eine Gruppe numidischer Reiter postiert. Sie gehörte zur äußersten Vorpostenkette der Hannibalischen Armee. Etwas weiter zurück, südwestlich von diesem Punkt, hatte Hannibal bei Apuleia, nahe Canusium, ein verschanztes Feldlager bezogen, nachdem er zu Beginn des Frühjahres aus den Waldbergen Bruttiums wieder nach Apulien heraufmarschiert war. Für das Jahr 207 stand eine große Entscheidung bevor. Man wußte im karthagischen Lager, daß Hasdrubal Barkas mit einer Armee Spanien verlassen hatte, um über die Alpen hinweg seinem älteren Bruder in Italien Entsatz zu bringen. Man war jedoch ohne jede Nachricht, wo sich die Armee des zweiten Barkiden inzwischen befand und an welcher Stelle Hasdrubal sich mit dem Bruder vereinigen wollte. Auch die Vorposten waren davon unterrichtet, daß jeder Tag Nachrichten von Hasdrubal Barkas bringen konnte, sei es durch Agenten, sei es durch Stafetten. Es war ihnen äußerste Wachsamkeit und Aufmerksamkeit befohlen worden. Doch die - 221 -
Reiterposten wußten nichts zu melden. Die Zeit verstrich … Wieweit man im Stabe Hannibals im einzelnen von der fatalen Entwicklung der Dinge in Spanien Kenntnis gehabt hat, ist unbekannt. Dort jedenfalls war alles zum Unheil ausgeschlagen. 210 v. Chr. hatte der jüngere Publius Cornelius Scipio, der Sohn des gleichnamigen, im Vorjahr gefallenen römischen Oberkommandierenden und Exkonsuls, den Oberbefehl auf dem spanischen Kriegsschauplatz erhalten. Die drei rivalisierenden Strategen Karthagos taten das Ihrige, um jede Kooperation zu vermeiden. Von einem einheitlichen Oberkommando war keine Rede, dazu reichte die Autorität des offenbar rechtschaffenen, aber doch nicht sehr begabten Hasdrubal Barkas nicht aus. Hasdrubal Geskon ging 209 v. Chr. in das heutige Portugal, um die dortigen einheimischen Stammesfürsten wieder unter karthagische Botmäßigkeit zu bringen und Geiseln mitzubringen, vor allem schöne Mädchen und Frauen aus dem Adel, die ihn selbst interessierten. Mago Barkas nahm eine Position im Südzipfel Spaniens, nahe des heutigen Gibraltar, ein. Hasdrubal Barkas rückte in das Gebiet der Karpetaner, in das heutige Kastilien vor, um dort die karthagische Herrschaft zu festigen. Ihm fiel auch die Sicherung der barkidischen Hauptstadt und der Silberminen von Neukarthago zu. Doch für ein Eingreifen im Küstenbereich stand er viel zu weit im Landesinnern. Wahrscheinlich - 222 -
bildeten sich alle drei Kommandierenden ein, die Römer würden nicht zur Offensive übergehen. Niemand von ihnen kannte den jüngeren Scipio, ein Feldherrntalent, das Hannibal glich. P. Cornelius Scipio, damals ungefähr 26 Jahre alt, nahm seine Chance wahr. Mit 25.000 Mann Infanterie und 2.500 Reitern stieß er in einem sechstägigen Gewaltmarsch vom Ebro längst der Küste hinab auf Neukarthago vor. Auf See kreuzte vor der barkidischen Königsburg ein römisches Flottengeschwader auf. Die stark befestigte Stadt war schlecht besetzt. Im Hafen gab es nur ganz wenige Kriegsschiffe. Zwar verteidigte sich die Garnison, eine Tausendschaft Fußsöldner und die Bürgermiliz aus den hier ansässigen karthagischen Handelsleuten und dem Minenpersonal, tapfer, aber die römische Übermacht war zu groß. Neukarthago, die Zentrale des barkidischen FamilienImperiums und der Hort des Minengebietes, fiel quasi im Handstreich an Scipio. Es war – nach Capua – die zweite große Entscheidung im Krieg um das Mittelmeer. Die römische Beute an Gold, Silber, Kunstschätzen und Waffenvorräten im Arsenal war ungeheuer. Zwei Mitglieder der ‚Gerusia‘ und 15 Angehörige der karthagischen Oberbehörden, die sich in der Stadt aufgehalten hatten, wurden gefangengenommen, zahlreiche Geiseln aus spanischen Adelsfamilien befreit. Die iberischen Fürsten neigten sich jetzt Rom zu.1 - 223 -
Hasdrubal Barkas muß nach diesem furchtbaren Schlag erkannt haben, daß die Sache Karthagos und seines Hauses in Spanien verloren war, daß nichts mehr blieb, als diese Position zu verlassen und über Gallien und die Alpen hinweg seinem Bruder in Italien zu Hilfe zu eilen. Er bezog 208 v. Chr. bei Baecula am Guadalquivir eine Sperr- und Ausfallstellung. Den Troß mit der Kriegskasse und einer Gruppe von Kampfelefanten sandte er bereits nach Nordosten voraus. Das läßt auf die Absicht schließen, von hier abzumarschieren. Scipio gedachte, ihn bei Baecula aufzuhalten. Der Versuch mißlang. Unter schweren eigenen Verlusten erkämpfte sich Hasdrubal Barkas die Handlungsfreiheit. Der Marsch nach Italien begann. Das war etwa im Sommer 208. Wieweit die komplizierten Nachrichtenverbindungen zwischen dem spanischen und dem italischen Kriegsschauplatz noch funktionierten, ist dunkel. Da jedoch von den unteritalischen Häfen aus Kontakt mit Karthago vorhanden war und man dort wieder Meldungen aus Südspanien über Nordafrika erhielt, scheint Hannibal immerhin erfahren zu haben, daß der ältere Bruder aus Spanien abgerückt war und beabsichtigte, im Frühjahr des nächsten Jahres, 207 v. Chr., über die Alpen zu gehen. An Erfahrungsberichten über den Alpenübergang von seiten Hannibals wird es nicht gefehlt haben. Möglicherweise bestand auch noch ein weitmaschiges Netz karthagischer Agenten oder Verbindungsoffiziere in Südgalli- 224 -
en, bei den Alpenbewohnern wie in der keltischen Poebene. Überdachte Hannibal im Frühjahr 207, in Erwartung des Bruders die vergangenen vier Jahre, so war das Bild trübe genug. Jahr um Jahr hatten seit dem Fall von Capua die Römer beharrlich versucht, die karthagische Position in Unteritalien einzuengen. Dieser stete Kampf um Landstriche, Städte und Straßenkreuze mit immer neuen, zum Teil weitausholenden Manövern bedeutete für Unteritalien eine immer stärker um sich greifende Auszehrung und somit für die Armee Hannibals den Verlust von Verpflegungsbasen. Beide Parteien, Römer wie Karthager, gingen zur Taktik der ‚verbrannten Erde‘ über, wenn es sich darum handelte, abtrünnige Verbündete zu bestrafen oder bislang besetzte Gebiete endgültig zu räumen. 210 v. Chr. war Salapia durch Verrat wieder verlorengegangen. Im gleichen Jahre hatte Hannibal bei Herdonea den Pro-Konsul Fulvius Centumala vernichtend geschlagen, der ehemalige Konsul war in der Schlacht gefallen. Herdonea, das sich Rom zugewandt hatte, erlebte ein fürchterliches Strafgericht. Darauf räumte Hannibal Nordapulien und wich nach Lukanien aus. Bei Numistro versuchte ihn M. Claudius Marcellus, der Eroberer von Syrakus, der in diesem Jahr das Konsulat bekleidete, zu stellen, doch kam es zu keiner Entscheidung. Hannibal entwand sich dem Versuch, ihn der Operationsfreiheit zu berauben. In den beiden - 225 -
größeren Kampfhandlungen bewährte sich noch einmal die klassische hellenistisch-karthagische Waffengattung der Kampfelefanten. Aber generell wich die römische Führung der großen Schlacht aus und verlegte sich auf den Manöverkrieg, um Hannibal zu Lande zu blockieren. Und es nutzte diesem gar nichts, daß Rom in diesen Jahren innere Krisen zu bestehen hatte: wachsende Schwierigkeiten infolge der ständig größer werdenden Kriegsbelastungen, Steuerstreiks in den römischen Koloniestädten in Latium, Unruhen in Etrurien, wo der alte Unabhängigkeitssinn der Etrusker wieder aufflackerte. Im Jahre 209 v. Chr. kommandierte Claudius Marcellus wieder in Unteritalien. Einer der beiden amtierenden Konsuln dieses Jahres, der greise Fabius Maximus, eroberte Tarent zurück. Hannibals alter Vertrauter Karthalo, der hier kommandierte, fiel im Straßenkampf, ein Teil seiner Einheiten, bruttischer Landsturm, ging zu den Römern über. Als der Fall von Tarent gemeldet wurde, soll Hannibal im Rhetorenstil gesagt haben: „So haben auch die Römer ihren Hannibal. Wir müssen uns über den Verlust der Stadt zu trösten suchen. Wie gewonnen, so zerronnen.“2 Plutarch hat uns diese steif-pathetische Bemerkung überliefert. Er schrieb im 2. Jahrhundert n. Chr., und das Ganze sieht nach Übungen in den damals beliebten Rhetorenschulen aus. Die Äußerung, sofern sie echt ist, verrät Resignation. Zwar blieb ein neues größeres - 226 -
Treffen gegen Marcellus unentschieden, und die Römer hatten Mühe, das Schlachtfeld zu behaupten, aber das nächste Jahr, 208 v. Chr., sollte nicht besser werden. Es half nichts mehr, daß Marcellus, der in diesem Jahre gemeinsam mit Fulvius Crispinus abermals zum Konsul erkoren worden war, von der Bühne abtrat. Bei einem leichtsinnigen Erkundungsritt im Raum von Venusia-Bantia im lukanisch-apulischen Grenzgebiet wurden die beiden Konsuln auf einem bewaldeten Hügel von numidischen Reitern überfallen. 43 Mann ihrer Bedeckung fielen unter dem Wurfspießhagel der Numider; Marcellus, von einem Spieß in der Hüfte getroffen, sank tot vom Pferd. Sein Amtskollege konnte schwerverletzt in Sicherheit gebracht werden. Als Hannibal berichtet wurde, Marcellus – den er nicht zu Unrecht für seinen hervorragendsten Gegner auf diesem Kriegsschauplatz hielt – sei gefallen, ritt er selbst zum Kampfplatz, ließ sich den Leichnam seines Feindes zeigen, nahm den Goldring des Konsuls an sich und ordnete an, der tote Feldherr sei unter militärischen Ehren zu verbrennen. Den Ring und die Aschenurne übersandte er dem gleichfalls im Felde stehenden Sohn des Gefallenen.3 Diese homerisch-ritterliche Geste sollten die Römer dem Punier im folgenden Jahr auf römische Manier heimzahlen. Vorerst freilich dachte man nur an eines: Hasdrubal Barkas mußte jetzt in Italien eintreffen, damit konnte der Krieg eine neue Wendung nehmen. Über dessen - 227 -
Marschrichtung hatte man keine Nachricht. Hannibal konnte vermuten, der Bruder wolle die römische Zentralstellung in Mittel- und Westitalien im Osten umgehen und an der Adriaküste herabziehen. Darum wählte er im östlichen Apulien eine Auffangstellung bei Canusium auf dem rechten Ufer des für ihn historisch gewordenen Aufidus. Hasdrubals Zug war bereits ein verzweifelt kühnes Unternehmen, weil der römische Gegner zwar nicht die Poebene, wohl aber Nord- und Mittelitalien wieder unter Kontrolle hatte. Rom mußte 208/07 v. Chr. einen unruhigen Winter hinnehmen. Geheimnisvolle Brandstiftungen ereigneten sich in der Tiberstadt, die man campanischen Agenten Hannibals in die Schuhe schob. Kriegsmüdigkeit breitete sich aus. Aus dem Osten hatte man den Kult der Magna Mater, der großen Muttergöttin von Pessinus, nach Rom verpflanzt, mitsamt Tempeldirnen und Lustknaben, die sich beim Gottesdienst den Gläubigen hingaben. Viele Menschen suchten Trost in solchen rituellen Ausschweifungen. Zu Konsuln für das Jahr 207 v. Chr. waren indes zwei Männer besonderer Art gewählt worden: Marcus Livius Salinator – Konsul anno 219, gut vertraut mit der barkidischen Politik in Spanien, dann in Verdacht geraten, weil er der Schwiegersohn des ‚Meddix von Capua‘ , des ‚Verräters‘ Pacuvius Calavius, war, der inzwischen seinem Leben selbst ein Ende bereitet hatte – und ein Angehöriger der claudischen Familie, Caius - 228 -
Claudius Nero, ein harter, ja grausamer Mann, der überraschendes militärisches Talent entfalten sollte. M. Livius Salinator seinerseits hatte allen Anlaß, sich um seine patriotische Rehabilitierung zu bemühen. Das vordringlichste Ziel der neuen Konsuln mußte es sein, die Vereinigung der beiden karthagischen Heere zu verhindern. Durch das traditionell verbündete Massilia wußte man von Hasdrubals Zug durch Gallien. Die Vereinigung mußte verhindert werden, sollte der Krieg nicht verlorengehen oder zumindest verlängert werden. Im Frühjahr 207 v. Chr. bekamen die Konsuln die Meldung, Hasdrubal Barkas habe die Poebene erreicht und betreibe Werbung unter den Keltenstämmen. Claudius Nero4, der die konsularische Armee in Unteritalien erhalten hatte, ordnete eine scharfe Überwachung aller Straßen, Wege und Pfade an, um etwaige Staffetten Hasdrubals an den Bruder abzufangen. Ursprünglich hatte Claudius Nero an der Südfront Hannibal bei der Senke von Gruentum den Marsch nach Apulien verlegen sollen, zwei römische Korps sollten Sperren vor Bruttium und Tarent einnehmen. Hannibal hatte durch die Anlage eines kompletten Scheinfeldlagers mit brennenden Feuern den Konsul getäuscht und sich durch den Abmarsch nach Nordosten die Operationsfreiheit erhalten. Er bezog Stellung bei Canusium, Claudius Nero rückte hinterdrein und wartete ab, was der Punier fürderhin unternehmen würde. - 229 -
Sein Amtskollege Livius Salinator hatte die Dekkung Mittelitaliens übernommen, mit Flügelkorps bei Ariminum (Rimini) im Osten und Arretium (Arezzo) im Westen. Noch wußten beide Konsuln nicht, wo der zweite Barkide mit seinem Heer auftauchen würde. Dann nahmen die Vorposten des Claudius Nero am Rand der Aufidus-Ebene einen Trupp von sechs numidischen Reitern gefangen, eine Stafette Hasdrubals mit einem Brief an den Bruder. Danach stand Hasdrubal Barkas noch bei Placentia (der großen römischen Festung gegen die Kelten Oberitaliens). Er wollte sich indes mit einer Belagerung nicht weiter aufhalten, sondern an der Adriaküste durch Umbrien nach Süden marschieren, um auf halbem Wege sich mit Hannibals Armee zu vereinigen. Claudius Nero zog die richtigen Schlüsse aus der einzigartigen Beute. Er jagte einen Eilkurier zu Livius Salinator, um diesen zu warnen und brach selbst mit 7.000 Mann Elitetruppen nach Norden auf. Diesmal war Hannibal der Geprellte. Claudius Nero, ein guter Soldat, verstand es, seinen Abmarsch geschickt zu verschleiern. Hasdrubal verfügte in diesem Augenblick über etwa 22.000-25.000 Mann, Kerntruppen aus Spanien, zehn Kampfelefanten und keltische Aufgebote, die sich ihm angeschlossen hatten. Daß die Römer alles tun würden, um die Vereinigung der Brüder Barkas zu verhindern, muß er gewußt haben. Daß der Oberbefehlshaber im - 230 -
Norden noch Verstärkung, nicht nur durch Claudius Nero, sondern durch ein drittes Korps unter dem Praetor Marcus Porcius Cato erhalten hatte, hat er vermutlich nicht so schnell erkannt. Er marschierte an Ariminum vorbei und setzte über den Metaurus-(Metauro-)Fluß. Hier, beim Übergang der Via Flaminia und dem Furlo-Paß, war gewissermaßen das Eingangstor nach Mittelitalien. Eben an dieser Stelle sperrten starke römische Kräfte den Weg. Hasdrubal entschloß sich zur Umkehr und fiel über den Metaurus zurück. Er gedachte, in günstiger Stellung erst einmal ein befestigtes Lager zu beziehen und die Antwort seines Bruders auf seinen Brief abzuwarten. Daß die Stafette inzwischen abgefangen worden war, konnte er nicht wissen. Der Rückzug über den Metaurus erwies sich als schwierig. Hasdrubal befand sich jetzt in der Nähe der Küste, die Flußufer waren hier versumpft. Also marschierte er mit dem ganzen Heer wieder flußaufwärts, um besseres Gelände zu gewinnen. Bei dieser Bewegung faßten ihn die Römer, die beiden Konsuln und Cato, der Praetor. Hasdrubals Verbände waren durch die Hin- und Hermärsche bereits stark mitgenommen. Doch ihm blieb nichts anders übrig, als den Kampf aufzunehmen. Auch Hasdrubal hatte die griechische Militärwissenschaft studiert. Er wollte nach dem Prinzip der ‚schiefen Schlachtordnung‘ siegen, jener Methode, mit der - 231 -
einst 371 v. Chr. der Thebaner Epaminondas die Spartaner geschlagen hatte. Mit sehr starkem rechten Flügel marschierte er auf einem Hügelrücken auf. Hier wollte er mit den Elefanten und seiner erprobten schweren spanischen Infanterie angreifen, während den Kelten ein hinhaltender Kampf auf dem linken Flügel befohlen war. Eine Weile schien alles gutzugehen. Hasdrubal, die Elefanten voraus, kam auf der Rechten gut vorwärts, und die Kelten hielten sich brav. Dann fiel Claudius Nero ihnen in den Rücken. Sie begannen zu weichen, und als Hasdrubal Ordnung stiften wollte, fiel er im Getümmel. Damit verlor sein Heer jeden Zusammenhalt. Von Hasdrubal Barkas wird berichtet, er habe eine Methode ersonnen, dank derer die ‚Inder‘, die Elefantenlenker, ihre Tiere durch Stoß mit einem scharfen Meißel in eine bestimmte Nackenpartie töten konnten, wenn diese im Kampfgewühl scheu wurden. Diese Methode feierte am Metaurus einen letzten Triumph.5 Claudius Nero ließ den Leichnam des Barkiden suchen und den Kopf vom Rumpf trennen. Die Ärzte mußten ihn präparieren, so daß der Konsul die schauerliche Beute dem verhaßten Punier übersenden konnte. Römische Reiter näherten sich, aus Staub und Glast des Sommertages auftauchend, den numidischen Vorposten am Straßenkreuz vor den garganischen Bergen. Die Numider machten sich mit ihren Wurfspießbündeln gefechtsbereit. Einer der Römer schwenkte als Par- 232 -
lamentärzeichen einen grünen Laubzweig. Zwischen den Reitern gewahrten die Numider zwei Männer, die sich mühten, im Laufschritt den römischen Kavalleristen zu folgen. Einer der Römer galoppierte vor und rief den Numidern ein paar lateinische Worte zu. Dann wurden die Männer, Kriegsgefangene, losgelassen und zu den Vorposten hinübergejagt. Einer von ihnen hielt einen Kopf mit schwarzem Haupt- und Barthaar in der Hand, eine wohlkonservierte Trophäe. Es war das vom Rumpf getrennte Haupt des Hasdrubal Barkas. Die beiden Gefangenen waren Hauptleute in seiner Armee gewesen. Inmitten der römischen Reitergruppe konnte man noch andere, mit Ketten beladene Kriegsgefangene erkennen. Ihr Anblick sollte deutlich machen, daß die zweite barkidische Armee aufgehört hatte zu existieren.6 Die römischen Reiter warfen ihre Pferde herum und entfernten sich wieder. Ihr Auftrag war erfüllt – gemäß dem Befehl des Konsuls Claudius Nero. Wie anders war doch Hannibal im Vorjahr verfahren, als ein anderer Claudier im Kampf gegen numidische Reiter gefallen war! Mit dem Scheitern der Entsatzoffensive verlosch die letzte Hoffnung, daß Hannibal den Krieg in Italien noch aus eigener Kraft entscheiden konnte. „Es scheint das Schicksal Karthagos zu sein, daß es untergehen soll. Die Götter sind nicht mit uns.“ Dies Wort Hannibals, als er die Nachricht von der verlorenen Schlacht und vom Tod - 233 -
des Bruders erhielt, hat uns Plutarch überliefert.7 Im Grunde verrät es den geschraubten Stil spätantiker Rhetorenschulen. Aber Stunden der Resignation waren ihm jetzt sicherlich nicht mehr fremd. Horaz legt ihm die Worte in den Mund: „Alle Hoffnung, alles Glück unseres Namens ist tot, ist dahin. Hasdrubal ist nicht mehr.“8 Nach der Kunde von der Niederlage am Metaurus zog sich Hannibal wieder in die Waldberge von Bruttium zurück. Hier harrte er noch vier Jahre auf unteritalischem Boden aus, einem der riesigen Mähnenlöwen des marokkanischen Atlas vergleichbar, den die Jäger von allen Seiten umstellt hatten. Noch hegte er wie die Oberbehörden in der Heimat die Überzeugung, solange Hannibal in Italien stünde, würde der Feind den Sprung nach Nordafrika nicht wagen. Eben diese Operation leitete der jüngere Scipio jedoch in den nächsten Jahren ein, weil Hannibal zu großen Operationen nicht mehr fähig war. Hannibal schlug sein Hauptquartier in Kroton (Crotone) auf. Kroton war vor zwei-, dreihundert Jahren eine der glänzendsten und reichsten Städte der Magna Graecia Großgriechenlands gewesen. Hier hatte der Philosoph, Mathematiker und Mystiker Pythagoras gelehrt, dessen verschlungene Weltdeutung auch in Karthago Anhänger gefunden hatte – im Gegensatz zu allen anderen rationalistischen griechischen Philosophen. Inzwischen hatte Hannibals Neffe Hanno Bomilkar auf Drängen der bruttischen Zwölf-Stämme-Genos- 234 -
senschaft, die Reste der bereits arg zusammengeschmolzenen griechischen Bewohner nach Lokroi umgesiedelt. Bruttier hatten von der Stadt Besitz ergriffen. Nun nisteten sich die Söldner des Puniers mit Weibern, Troßdirnen und Soldatenkindern in den zum Teil leerstehenden Häusern und Palästen ein. Einst hatte Hannibal gehofft, er könnte durch den kühnen Zug nach Italien dem Gegner den entscheidenden Kriegsschauplatz aufzwingen, könnte Rom im eigenen Bereich zum Friedensschluß nötigen. Jetzt sah er sich selbst ausmanövriert. Die Entscheidung fiel auf anderen Kriegsschauplätzen, in Südspanien und dann endlich in Nordafrika selbst. Die karthagischen Oberbehörden konnten ihm nicht mehr viel Unterstützung geben, da sie sich im eigenen Kernbereich nicht mehr sicher wußten. Der offiziell auf dem Papier noch verbündete König Philippos V. von Makedonien schloß im Jahre 205 v. Chr. einen Sonderfrieden mit Rom. Rom hatte es verstanden, nicht nur den Aitolischen Städtebund, sondern auch das westkleinasiatische Königreich von Pergamon gegen ihn aufzubringen. Daß Hannibal gleichwohl noch versuchte, auf die Entwicklung in Karthago Einfluß zu nehmen, lehrt die Entsendung seines Neffen Hanno Bomilkar in die Heimatstadt, die in diesen Jahren erfolgte. In dem gleichen Jahre 205 v. Chr., als das Kapitel griechisch-makedonischer Politik für Hannibal endgültig abgeschlossen war, ließ er im Tempel der Hera La- 235 -
kinia bei Kroton, die die Römer die lacinische Juno nannten, zwei große Erztafeln mit seinem Feldzugsbericht in punischer und griechischer Sprache aufstellen, als hätte er bereits gewußt, daß alles zu Ende war. Die Tafeln stellten gewissermaßen ein Vermächtnis an die großgriechische Welt dar, zu deren Retter er sich gegenüber Rom aufgeworfen hatte, weniger um der hellenischen Zivilisation willen, als für Karthagos Sieg. Niemand hatte ihn recht begriffen. Noch kein Jahrzehnt später sollte der eitle König Philippos V. von Makedonien Roms eiserne Faust im eigenen Lande zu spüren bekommen. Der Tempel der Hera, dessen Dach von 48 gewaltigen Marmorsäulen getragen wurde und zu dessen Besitz eine Herde heiliger Rinder gehörte, lag unweit von Kroton auf dem Lakinischen Vorgebirge. In Marmor und bunten Farben ragte er hoch aus dem dunkelgraugrünen Fichtenwald, der die Berghänge bedeckte, über das Meer, auf dem sich kaum noch ein karthagisches Schiff zu zeigen wagte. Der Sage nach hatte Herakles den Tempel gestiftet zur Sühne für den Heros Lakinios, einen König der Bruttier, den er erschlagen hatte. Hannibal mochte gehofft haben, die Erztafeln würden alle Zeiten überdauern, zumal sie an heiliger Stätte aufgestellt waren. Aber bald nach der Geburt Christi geriet Kroton ganz in Verfall, der Kult der Hera Lakinia kam in Vergessenheit, die schützenden Fichtenwälder wurden dem römischen Flottenbau geopfert. Livi- 236 -
us, der unter Kaiser Augustus schrieb, hat die Tafeln noch gekannt und sie als Quelle benutzt, soweit diese Inschriften in seine Konzeption paßten. Dann verschwanden sie. Ihr Schicksal ist unbekannt … 9
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X. Entscheidungsschlacht in Afrika Von den Waldbergen des heutigen Kalabrien, des antiken Bruttium, aus führte Hannibal Jahr um Jahr Kleinkrieg gegen die Römer. Diese bezeigten vernünftigerweise nicht viel Ehrgeiz, den Punier aus dieser Position zu vertreiben. Die Blockade zu Lande genügte. Fast erschien die gebirgige Halbinsel wie ein letzter, dünner Abglanz des barkidischen Heer-Vizekönigtums in Spanien. Hannibal herrschte wie ein Vizekönig über das Bergland mit seiner Zwölf-Stammes-Gemeinschaft, und sehr viel verläßlicher als die launischen iberischen Fürsten waren die Häuptlinge der Hirten, Jäger, Holzfäller und Köhler Bruttiums auch nicht. Infolge des Versiegens finanzieller Unterstützung von Karthago war er sogar genötigt, eigene schlechte Münzen schlagen zu lassen, um seinen zusammengeschmolzenen Tausendschaften den nötigen Sold zahlen zu können. Unterdes verteidigten die letzten beiden, rivalisierenden Strategen Mago Barkas und Hasdrubal Geskon noch eine Weile den Rest des einstigen barkidischen Vizekönigreiches in Spanien. Die großen Stammesfürsten, immer geneigt, sich den Göttern zu unterwerfen, welche sich als mächtiger erwiesen, waren auf die Seite des jüngeren Scipio übergewechselt. 206 v. Chr. schlug Scipio den ehrgeizigen Geskoniden Hasdrubal in der nach dem Muster von Cannae angelegten Flügelschlacht von Ilipa. Nur ein schwerer Regensturm ver- 238 -
hinderte am Abend die volle Ausnutzung des Erfolges.1 Hasdrubal Geskon verließ Spanien. Die Entwicklung in Afrika erschien ihm jetzt wichtiger. In dem gleichen Jahr, in dem Hannibal seinen erzenen Kriegsbericht im Tempel der lakinischen Hera bei Kroton aufstellen ließ, räumte sein Bruder Mago die letzten Stützpunkte in Spanien. Gades (Cadiz), die älteste phönizische Kolonie auf iberisch-spanischem Boden, bekam darüber noch die Brutalität zu spüren, die in diesem jüngsten Barkiden gelebt haben muß. Die ‚schofet‘ von Gades, die obersten Gerichtsherren, hatten vermutlich bereits heimlich, so wähnte Mago Barkas, Verbindung mit Scipio gesucht. Mago schlug erbarmungslos zu, ließ die ‚schofet‘ (Sufeten) ans Kreuz schlagen, die Stadt restlos plündern und den reichen Tempelschatz des Melkarth, den die Griechen als ‚gaditanischen Herakles‘ bezeichneten, beschlagnahmen. Der Tempelschatz ließ sich zur Anwerbung neuer Truppen verwenden. Vielleicht war Mago weniger abergläubisch und mystisch veranlagt als sein strategisch genialer Bruder. Nach altphönizischem Glauben mußte ihn nun der Baal (Herr) Melkarth strafen. Zur See ging er mit dem Rest seiner Truppen nach den Balearen, dem noch von Karthago behaupteten Stützpunkt im westlichen Mittelmeer, warb neue Truppen und landete wohl noch im gleichen Jahr – setzen wir die Affäre von Gades um die Wende 206/05 an – an der Küste Ligu- 239 -
riens, im Raume des heutigen Genua oder La Spezia. Die Ligurer, Reservoir karthagischer leichter Sold-Infanterie – waren erbitterte Gegner Roms. Von Ligurien aus wollte Mago Barkas wieder in die Poebene vorstoßen, um die Kelten zu mobilisieren und auf solche Weise die Römer von anderweitigen Plänen, gegen den Bruder in Bruttium oder gegen Nordafrika selbst, abzulenken. Anders ist diese realiter phantastische Diversion nicht zu deuten. Alle diese Aktionen karthagischer Kriegführung in der letzten Phase des mittelmeerischen Krieges waren offenbar völlig unkoordiniert. Mago Barkas handelte auf eigene Faust, erhielt aber noch den Segen und die Unterstützung der heimischen Oberbehörden. Hannibal blieb sich selbst überlassen. Hasdrubal Geskon bezeigte offensichtlich in dieser Krise den Ehrgeiz, sich selbst als Retter zwischen den abgewirtschafteten Barkiden und der Partei des Hauses Hanno zu offerieren. Als neuer politischer Faktor in Nordafrika traten jetzt, wie auch schon bei der römischen Invasion während des Ersten Punischen Krieges, die Fürsten der berberischen Numider in Erscheinung. Nicht umsonst hatte Rom durch Agenten bereits einen Aufstand in Nordafrika auslösen können. Von Spanien aus knüpfte der jüngere Scipio Beziehungen zum Oberhaupt des mächtigsten Stammes, der Masaesyler im heutigen Algerien, an: Syphax. Dieser Fürst beanspruchte den Königstitel für die Numider. Dem Beispiel der barkidi- 240 -
schen Rivalen folgend, die aus politischen Gründen Ehebündnisse mit numidischen Prinzen gesucht hatten, gelang es Hasdrubal Geskon, dem ‚König‘ Syphax seine sehr schöne und intelligente Tochter Sophonisbe als Gemahlin anzubieten. Damit war dieser Stammeskönig zunächst einmal für Karthago gewonnen. Und dies wog um so mehr, als Scipio selbst am Hofe des ‚basileus‘ zu Verhandlungen eingetroffen war. Unterdes marschierte Mago Barkas 205/04 mit etwa 15.000 Mann und sieben Kampfelefanten in die Poebene ein, in der utopischen Hoffnung, diese Bewegung könne Rom zu gewaltigen Gegenanstrengungen verführen. Der ‚König‘ Syphax machte sich ans Werk, den längst aus dem barkidisch-karthagischen Verband in Spanien ausgeschiedenen Prinzen Masinissa, Sohn des Gala von Cirta, auszuschalten. Das gelang zunächst. Der ‚König‘ Syphax, Alliierter seines neuen Schwiegervaters Hasdrubal Geskon, warf sich zum Herrn von ganz Numidien auf. Darüber hatte der Numider, noch schlauer als die Punier sich gebend, die alten Bündnisbeziehungen zu Rom noch keineswegs offiziell aufgegeben. Er hatte sich nur mit Karthago arrangiert. Und dies unklare, schwerverständliche Ränkespiel fand nun darin seine Krönung, daß der ‚königliche‘ Schwiegervater Hasdrubal Geskon, den listigen Numiderscheich überredete, er möge doch den Römern klarmachen, er könne das – ihm teure, unverletzliche – Bündnis mit Rom nur aufrechterhalten, bei Handlungs- 241 -
freiheit gegenüber Karthago, wenn Rom sich verpflichte, auf eine Invasion in Nordafrika zu verzichten. Soviel Falschheit macht sich in der Politik selten bezahlt. Immerhin aber konnte Hasdrubal Geskon für den Augenblick für sich in Anspruch nehmen, er sei der pfiffigste aller karthagischen Adligen und Herr der Situation. Die ihm und wohl auch seinem Clan verhaßten Barkiden verbrauchten sich in Italien. Der eine saß in Bruttium fest, der andere ging in der Poebene Abenteuern nach. Unterdessen verlegte der jüngere Scipio das Gros seiner Armee von Spanien nach Sizilien. Er selbst erschien in Rom, um die Ehrungen für seine Siege entgegenzunehmen und auf eine Entscheidung in diesem schier nicht endenwollenden Krieg zu dringen. Dies geschah mit der kühnen, aber angesichts allgemeiner tiefer Erschöpfung sehr unpopulären Sentenz: Der Krieg habe noch gar nicht richtig begonnen, er fange jetzt richtig an. Scipio verlangte die Invasion im Kerngebiet von Karthago. Hauptsächlichster Wortführer der breiten Opposition im Senat war der alte Fabius Maximus. Nach hitzigen, langen Debatten und nachdem Scipios Gegner ihm noch einen Skandal wegen des unmöglichen Benehmens eines seiner Unterführer auf Sizilien anzuhängen versucht hatten, erhielt er die Genehmigung zur Landung in Nordafrika. Einmütigkeit bestand wenigstens darüber, daß man sich auf die verschlungene Verhandlungstaktik des sogenannten Kö- 242 -
nigs der Numider, Syphax, nicht einlassen könne und dürfe. Nicht ganz zu Unrecht erblickte man darin eine verschleierte Erpressung. Im Sommer 204 v. Chr. landete Scipio mit 35.000 Mann beim ‚Schönen Vorgebirge‘ im Raum von Utika nördlich von Karthago. Der mächtigste Mann in Karthago war zu dieser Zeit unzweifelhaft Hasdrubal Geskon als ‚Stratege‘. Gemeinsam mit seinem königlichen Schwiegersohn Syphax blockierte er das römische Invasionsheer im Winter 204/03 v. Chr. bei Utika. Anzugreifen getraute sich der Geskonide nicht. Er baute von neuem auf Verhandlungen. ‚König‘ Syphax als Vermittler unterbreitete den Römern ein Waffenstillstandsangebot: Bedingung war die Räumung aller noch von beiden Parteien besetzten Gebiete. Die Karthager gaben Bruttium und die noch in ihrer Hand befindlichen unteritalischen Städte auf, das römische Invasionsheer verließ Nordafrika. Auf Grund dieses Waffenstillstandes sollten danach Friedensverhandlungen beginnen. Scipio versprach, alles gründlich zu bedenken. Aber er gedachte nicht, diese Verhandlungen jemals zum Abschluß zu bringen. Dafür überfiel er im Frühjahr 203 v. Chr. eines nachts das große, schlecht gesicherte Lager der karthagischnumidischen Armee bei Utika. Zelte und Hütten wurden in Brand gesteckt, Tausende von Menschen und Tieren fanden den Tod in den Flammen. Das karthagisch-numidische Heer löste sich in Panik auf. Doch - 243 -
Hasdrubal Geskon gab noch nicht auf.2 Gemeinsam mit dem bereits wieder unsicher gewordenen ‚König‘ Syphax reorganisierte er die Armee – und erlitt eine zweite schwere Niederlage. Auf den ‚Großen Feldern‘ am Bagradas-(Medjerda-)Fluß kam es zur Schlacht. Syphax stürzte im Getümmel mit seinem Pferd und wurde gefangengenommen. An seiner Stelle wurde nun der zu Scipio übergewechselte junge Prinz Masinissa, einst barkidischer Reiter-Kommandeur in Spanien und auf Grund alter Stammesfehden ein Todfeind des Syphax, Herrscher über alle Numider. In Karthago rüstete man zum letzten Kampf. Die halb vergessene Miliz, die ‚Adelsgarde‘, eine Reitertruppe aus Söhnen der Oberschicht, wurde in Bereitschaft versetzt. Hasdrubal Geskon, verantwortlicher Stratege bei der Niederlage am Bagradas, trat von der Bühne ab. Appian will sogar wissen, man habe ihn vor Gericht ziehen wollen, was wohl heißt, vor die Staatskontrolle der ‚Hundertvier‘; diese hätten ihn in contumaciam zum Tod verdammt. Tatsächlich aber war der Ex-Stratege nicht auffindbar: Er führte wohl im tunesisch-algerischen Grenzland einen Partisanenkrieg gegen die Invasoren. Hannibals Neffe, Hanno Bomilkar, erhielt das Amt des Strategen. Und jetzt, in äußerster Bedrängnis entschloß man sich, Hannibal und die Reste seiner Armee nach Nordafrika zurückzuholen. Die Oberbehörden entsandten ein Transportgeschwader, dem zum Schutz etliche Kriegsschiffe beigegeben wurden. - 244 -
Die Lage Karthagos verschlechterte sich, nachdem ein Angriff der Flotte auf die römischen Kriegsschiffe am Landungsstrand fehlgeschlagen war. Darum ist es denkbar, daß die ‚Hundertvier‘ wenigstens noch versucht haben, Staatsrache an dem besiegten Strategen Hasdrubal Geskon zu üben. Noch während Kuriere und die Transportflotte für die Evakuierung der Armee Hannibals unterwegs waren, gelangte man bei den Oberbehörden zu dem Schluß, das beste sei, dem römischen Feldherrn Frieden anzubieten. Eine Waffenstillstandskommission begab sich in das römische Hauptlager, das inzwischen nach Tunes (Tunis), 20 Kilometer vor Karthago, verlegt worden war. Beim Empfang durch den römischen Oberbefehlshaber warfen sich die würdigen Gerusiasten nach altorientalischer Sitte zu Boden und küßten den Fuß des Siegers. Der stolze, von Griechen erzogene römische Aristokrat, der die Proskynese nicht kannte, war von soviel scheinbarer Unterwürfigkeit unangenehm berührt. Er stellte kühl seine Bedingungen: Aufgabe aller Positionen Karthagos außerhalb Afrikas, 5.000 Talente Kriegsentschädigung und die Reduzierung der Kriegsflotte auf 20 Schiffe. Bei diesem Punkt sträubten sich die Vertreter der ‚Gerusia‘, wenngleich sie die Kontakte nicht abbrachen. Vielmehr beschloß man in Karthago, zu Schiff eine Gesandtschaft nach Rom zu schicken. Kuriere und Transporter waren nicht nur nach Unteritalien, sondern auch nach Ligurien unterwegs. Auch - 245 -
das Expeditionskorps des Mago Barkas sollte das Heer in Nordafrika auffüllen. Doch inzwischen war Mago in der Gegend von Mailand von dem römischen Prokonsul Ceteghus gestellt, geschlagen und im Kampf schwer verwundet worden. Nur Trümmer seines Korps konnten noch eingeschifft werden. Er selbst starb auf der Rückreise an den Folgen seiner Verwundung.3 Offenbar blieben jedoch einzelne karthagische Verbindungsoffiziere bei Kelten-Stämmen zurück. Jedenfalls brach, wohl noch im Jahre 203, in der Poebene unter Führung eines Puniers namens Hamilkar eine neue Aufstandsbewegung aus, die den Römern geraume Zeit schwer zu schaffen machte. Inzwischen erscheinen die Kuriere aus Karthago bei Hannibal in Kroton. Die Heimat rief ihn zurück. Die Boten berichteten von der ungünstigen Entwicklung in Nordafrika, vom Wirrwarr unter den Regenten. Sie hatten vermutlich schon Kenntnis von deren Absicht, mit Scipio einen Waffenstillstand auszuhandeln und Frieden mit Rom zu schließen. Keine Quelle verrät mehr, ob sich Hannibal gegen die Idee eines Friedensschlusses aufgelehnt hat. Der römische Historiker Livius hat uns nur einen etwas pathetisch klingenden Ausbruch der Bitternis überliefert: „Jetzt rufen sie mich schon nicht mehr durch versteckte List, sondern offen zurück, sie, die durch Verweigerung von Truppen und Geld schon lange mich zurückzerrten. Meine Sieger wurden nicht die Römer, - 246 -
die ich so oft geschlagen habe, sondern die Gerusia von Karthago mit ihrem Parteihaß. Und über diesen meinen schimpflichen Abzug wird Scipio nicht lauter frohlocken als Hanno, der meine Familie, weil er es durch andere Mittel nicht vermochte, unter den Trümmern Karthagos begrub.“4 Mag sein, daß solche Worte gefallen sind. Wahrscheinlich gab sich Hannibal in diesen Stunden, in denen er Abschied von allen großen Plänen nehmen mußte, sehr bitteren Empfindungen hin. Der Familienhaß zwischen Barkiden und Hannoniden war Tradition, und seinen Hauptwidersacher in Karthago konnte er mit Recht in dem alten Hanno dem Großen erblicken. Tatsache war auch, daß die Heimat ihn in den letzten Jahren ohne Hilfe gelassen hatte. Ob das nun allein auf den Familienstreit der Häuser Hanno und Barkas zurückzuführen war, ob sich alles mit Partei-Rankünen erklären ließ oder ob einfach auch die Mittel für eine großzügige Kriegführung in Unteritalien nicht mehr ausreichten, zumal eine zentrale Kriegsleitung gänzlich fehlte, vermögen wir nicht mehr sicher zu entscheiden, wie es auch vermutlich Hannibal in Kroton in diesem Augenblick gar nicht zu übersehen vermochte. Mit Sicherheit können wir erschließen, daß der Verlust der spanischen Silberminen der Finanzkraft Karthagos einen schweren Schlag versetzt hatte. Die Finanzkrise muß der Friedenspartei, muß den Anti-Barkinern erheblichen Auftrieb gegeben haben. Obendrein erstand - 247 -
dem Haus Hanno in diesen Jahren ein neuer Sprecher, der mit den Massen umzugehen verstand, Hasdrubal mit dem Beinamen Eriphos. Das griechische Wort bedeutet ‚Böckchen‘. Weshalb dieser Hasdrubal einen solchen Spitznamen führte, wissen wir nicht.5 Als Soldat hatte Hannibal dem Befehl der Oberbehörden zu gehorchen. 2.000 Kelten und 10.000 Mann schwerer Infanterie, darunter Reste der alten spanischafrikanischen Garde und bruttische Söldner, gingen mit ihm an Bord. Von Elefanten und Reiterei sagen die Quellen nichts. Vielleicht fehlte es für sie an den nötigen Transportmitteln? Vielleicht aber waren die Elefanten auch den harten Wintern im bruttischen Bergland erlegen. Dafür ist bezeugt, daß Hannibal an etlichen wichtigen Punkten Besatzungen in Bruttium zurückließ. Das entsprach schon allein diplomatischen Überlegungen, ganz abgesehen davon, daß er sich möglicherweise Gedanken über eine spätere Rückkehr gemacht haben mag. Bei allen Verhandlungen mit Rom mußten die außerafrikanischen Gebiete Karthagos eine Rolle spielen. Mindestens bildeten sie ein Faustpfand, das man nicht einfach verschenken konnte. Die römische Geschichtsschreibung hat uns dafür ein wundervolles Greuelmärchen überliefert, das den Abzug des „treulosen und grausamen Puniers“ aus Italien, dieser Geißel Roms, ins rechte Licht rücken sollte. Danach strömten um Kroton viele alte Mitstreiter Hannibals aus Lukanien und Bruttium zusammen, als sie - 248 -
von Hannibals Abfahrt erfuhren, um im Heiligtum der Hera Lakinia Schutz zu suchen. Der Götter verachtende Punier habe daraufhin befohlen, diese Italiker allesamt der Göttin zum Opfer zu bringen, das heißt sie abzuschlachten. Eine solche Geschichte eignete sich vorzüglich dazu, unter den italischen Völkern den Haß auf alle Punier zu schüren.6 Nicht genug damit: Man schilderte auch seine Abfahrt von Kroton in düsteren Farben: Vom Tempel der Hera sei dieser Mensch zu seinem Schiff herabgestiegen, und kaum je habe ein Emigrant mit solcher Trauer im Herzen sein Vaterland verlassen wie Hannibal Italien verlassen habe.7 Damit wollte man ausdrücken, Hannibal habe im Grunde bereits den Krieg verlorengegeben, als er Kroton verließ. Daß dies die erste vieler schwerer Stunden war, die ihn noch erwarteten, hat er sicher empfunden. Daß er den Krieg noch nicht für verloren ansah, bevor er die letzte große Schlacht geschlagen hatte, sollte die Zukunft sehr bald lehren. Inzwischen hatte die römische Flotte trotz der Waffenstillstands- und Friedensgespräche, die Blockade des Hafens von Karthago verstärkt, womit sie freilich ihre Kräfte im Norden festgelegt hatte. Hannibals Absicht war es offenbar von vornherein, keineswegs in Karthago selbst zu landen, wo man ihm allzu leicht die Operationsfreiheit nehmen konnte, er setzte seine bescheidene Armee viel weiter südlich an Land. Im Herbst oder Anfang des Winters 203 v. Chr. wurden die Trup- 249 -
pen bei Leptis (Lebda) im südlichen Tunesien8 ausgeschifft, in dessen Bereich die Barkas umfangreiche Landgüter besaßen. Von hier aus marschierte Hannibal nach Norden bis Hadrumet, wo ihm sein Neffe und vormaliger Unterbefehlshaber Hanno Bomilkar die Heimatarmee übergab.9 In Karthago schlug die Stimmung wieder um, als bekannt wurde, Hannibal sei in Afrika erschienen. Inzwischen traf freilich die karthagische Gesandtschaft aus Rom wieder ein. Sie hatte alle Bedingungen angenommen, die Scipio präzisiert hatte, und der Senat wiederum hatte Scipio das Placet gegeben. Damit war auch die Abwrackung der Flotte bis auf einen kümmerlichen Rest besiegelt. Hannibal blieb zunächst für den Winter in Hadrumet stehen. Ob er Einfluß auf die politischen Entscheidungen in Karthago zu nehmen versucht hat, ist nicht überliefert. Wir kennen nur einige sehr verworrene und merkwürdige Mitteilungen über die Ereignisse in und um Karthago aus diesem Winter 203/02 v. Chr. Danach haben etliche Karthager versucht, eine römische Delegation zu ermorden, die sich auf der Reise zu Scipio befand. Ferner wurden römische Getreidetransporter, die bei Tunes gestrandet waren, geplündert. Zum dritten kam es offenbar in Karthago zu schweren Unruhen. Die Wut des Volkes richtete sich vor allem gegen Hasdrubal Geskon (der inzwischen wohl wieder in die Stadt zurückgekehrt war). Der Pa- 250 -
last des Geskon-Sohnes wurde gestürmt, der Unselige flüchtete in das Grabmal seines von den Söldnern ermordeten Vaters und gab sich selbst den Tod, indem er Gift nahm.10 Aus diesen schwer entwirrbaren Erzählungen läßt sich nur entnehmen, daß Karthago einen unruhigen Winter erlebte. Wir wissen auch, daß etliche karthagische Oligarchen nach dem Pöbelaufruhr nicht etwa Schutz bei Hannibal, sondern bereits beim Feind, bei Scipio, suchten. Möglicherweise war der Aufruhr von der Friedenspartei gegen ‚Kriegsverlängerer‘ angezettelt worden. Der Waffenstillstand ging jedenfalls zu Ende, ohne daß ein Friede geschlossen wurde. Hannibal verbrachte den Winter damit, bei Hadrumet die letzte große Armee Karthagos zu formieren und nach seinen Vorstellungen zu schulen. 12.000 Mann Kerntruppen hatte er selbst mitgebracht. Dazu kamen einige Verbände Magos aus Ligurien, 12.000 Mann karthagischer Bürgeraufgebote, die wohl Hanno Bomilkar kommandiert hatte, 1.200 Mann berittener Adelsgarde von Karthago, 2.000 numidische Reiter unter einem Scheich namens Tychaios, einem Vasallen des unglücklichen ‚Königs‘ Syphax, sowie 80 Kampfelefanten.11 Noch einmal brachte man Geld für Werbungen zusammen. 12.000 Söldner iberisch-spanischer Abkunft, von den Balearen und aus Ligurien wurden zusammengetrommelt. Diese gewaltigen Anstrengungen wären nicht denkbar, wenn nicht – ungeachtet aller Wirren in - 251 -
Karthago – ein Consensus zwischen Hannibal, dem Stadtkönig, den Sufeten und der ‚Gerusia‘ bestanden hätte. Doch weder der Mobilisierung der letzten Silberreserven noch Gebet und Opfer für die Götter der Barkas, den Herrn Shannim, die Herrin Tanit und den Herrn Haddad, den karthagischen Mars, noch Fluch und Prügelschlag alterprobter Exerziermeister Hannibals vermochten diesem Heer aus heterogensten Elementen jenen Geist einzuflößen, der einst das hellenistisch geschulte Berufsheer erfüllt hatte, mit dem Hannibal nach Italien marschiert war und mit dem er seine großartigen Siege über Rom erfochten hatte. Diese Armee existierte nur noch in einem Restbestand von schwerer Infanterie. Nur mit einer derart hart gedrillten Berufsarmee waren die höchst unkonventionellen Manöver in den weit zurückliegenden Schlachten an der Trebia, am Trasimenischen See oder bei Cannae ausführbar gewesen. Bei diesem Heer konnte sich Hannibal höchstens auf ein Drittel der Mannschaft verlassen. Darin ist wohl der Grund dafür zu suchen, weshalb er für seine letzte Schlacht ein höchst konventionelles Rezept wählte. Das Jahr 202 v. Chr. zog herauf. Hannibal entschloß sich zur Offensive. Es mußte etwas geschehen, solange Scipio in Nordafrika stand. Mit rund 36.000 Mann schwerer und leichter Infanterie, 3.500 Reitern und dem starken Elefantenkorps (80 der Riesentiere) marschier- 252 -
te er in nordwestlicher Richtung auf Zama, das etwa 140 Kilometer südwestlich von Karthago lag (wahrscheinlich identisch mit der Stadt Zama Regia der römischen Kaiserzeit und dem heutigen Dorfe Jama in Tunesien). Hannibal wählte diese Marschrichtung, um seinen rätselvoll-genialen Gegner so weit wie möglich von seiner Küstenbasis wegzulocken, in der Annahme, daß dieser versuchen würde, die letzte karthagische Feldarmee so rasch wie möglich auszuschalten. Nahm Scipio diese Herausforderung an, so mußte er sich sozusagen mit verkehrter Front schlagen, mit den ewig unsicheren Numider-Fürsten in Westtunesien und Ostalgerien im Rücken. Mochten diese auch heute mit dem Prinzen Masinissa an der Spitze überwiegend auf Rom setzen, so wie sie zuvor auf Hasdrubal Geskon gesetzt hatten – sie würden stets mit den stärkeren Bataillonen gehen. Die Numider kannte man im Hause Barkas seit den alten Ehebündnissen gut genug.12 In der Einschätzung der Reaktionen des jüngeren Scipio täuschte sich Hannibal nicht. Während er eine Weile bei Zama verhielt, um sich über die Bewegungen des Gegners zu orientieren, marschierte der Römer von Tunes aus im Tal des Bagradas (Medjerda) aufwärts gen Süden. Etwa 45 Kilometer nordwestlich von Zama legte auch Scipio einen Halt ein, um seinerseits die Lage zu erkunden. Er mußte auch das Eintreffen des NumiderKorps von Prinz Masinissa – 4.000 Reiter und 6.000 Leichtbewaffnete – abwarten. Scipio war genötigt, sei- 253 -
nerseits eine Entscheidung herbeizuführen. Er wußte sehr wohl, daß ein neuer endloser Krieg keineswegs die Billigung des Senates in Rom mehr finden würde. Scipio verfügte mit 29.000 Legionären über weniger schwere Infanterie als Hannibal. Doch diese Legionssoldaten waren, ursprünglich Milizen aus Ackerbürgern und Bauern, in den Jahren des Krieges erstklassige Feldsoldaten geworden. Dazu kamen noch 2.500 Mann römischer Kavallerie und das Korps Masinissas. Hannibal hatte die alte Überlegenheit an erstklassiger Kavallerie eingebüßt. Daran änderte nichts, daß sich bei seinem Heer noch ein Numiderprinz, Gatte einer seiner Nichten, einfand, Maesotylos (lateinisch Mazaetullus) mit vielleicht 1.000 Reitern. Hannibal setzte auf die zahlenmäßige Überlegenheit an schwerem Fußvolk und auf die halbmechanische (nie ganz zu berechnende) Stoßkraft der starken Elefanterie. Dabei kam es darauf an, die schwere Infanterie je nach deren Schlagkraft in Etappen einzusetzen. Kam es zur Schlacht, gedachte er eine ganz hellenistisch konventionelle Durchbruchsschlacht zu schlagen, um das Zentrum des Gegners zu zerschmettern. Das war – zwangsläufig – der Abschied von genialen Konzepten der Vergangenheit. Der Feldherr Hannibal war auf sonderbare Art auch in Nordafrika bereits ausmanövriert. Ob er das alles empfunden hat? In jedem Fall konnte er der Entscheidung nicht ausweichen; im Gegenteil er wollte eine Entscheidung um jeden Preis! - 254 -
Vor der Schlacht in der großen Ebene südlich von Zama hat Hannibal ein Gespräch mit seinem ihm unbekannten Gegner Scipio geführt, wir müssen denken, auf sein Ersuchen.13 Möglicherweise ließ sich noch eine politische Lösung finden. Hannibal bot den Verzicht auf alle außerafrikanischen Positionen an, kritisierte die verlangte Kriegsentschädigung als zu hoch und lehnte die Abrüstung der Kriegsmarine ab. Diese Diplomatie vor bereits aufmarschierten Heeresfronten, die wiederum nicht denkbar war ohne Absprache mit den Regenten daheim auf der Byrsa und im Justizpalast, sollte wohl dazu dienen, den Willen Karthagos zu unterstreichen, einen tragbaren Frieden zu schließen und damit den Gegner moralisch ins Unrecht zu setzen, sofern dieser Verhandlungen ablehnte. Scipio lehnte ab. Die Schlacht rollte an. Am Tag nach der Unterredung formierten sich beide Armeen. Scipio stellte seine Manipel in den drei Treffen der Principes, Hastati und Triarier nicht wie üblich schachbrettförmig auf, sondern genau hintereinander, so daß sich in der Front Gassen ergaben. Damit wollte er den zu erwartenden Elefantenangriff ableiten. Die Reiterei kam auf die Flügel, links die Römer unter dem Tribun Laelius, rechts die Numider unter Masinissa. Hannibal bildete vier Treffen. Das erste gaben die 80 Elefanten ab, deren Gefechtstürme mit Wurfschützen gespickt waren. Das zweite Treffen machten 14.000 - 255 -
Mann neugeworbener Soldtruppen aus, die er seinem alten Kameraden Mago Saunites anvertraut hatte. Das dritte Treffen, die karthagische Bürgerwehr, kommandierte sein Neffe Hanno Bomilkar. Das vierte Treffen übernahm er selbst mit 10.000 Veteranen aus seinen ruhmreichen Feldzügen. Auf den Flügeln postierte er die Kavallerie, die sogenannte Adelsgarde und die Numider unter dem Scheich Tychaios.14 Hannibal nahm nach genauem Studium der in Spanien erfolgreich angewendeten Taktik seines Gegners an, dieser würde versuchen, mit seinem ersten Infanterietreffen die karthagischen Kräfte frontal zu binden, um dann mit den beiden anderen Treffen zur Umfassung nach der Manier von Cannae anzusetzen. Dieser Möglichkeit setzte er in der Theorie eine in der Antike bis dahin unbekannte Taktik entgegen: die Bildung einer Schlachtreserve, eben dem vierten Treffen mit dem Veteranenkorps unter seiner persönlichen Führung. Diese Idee war so vollkommen neuartig, daß viele seiner, keineswegs auf seine Künste eingeschworenen Unterführer sie nicht begriffen. Sie machte die Schlacht von Zama zum Exempel für die Kriegsgeschichte und kostete Hannibal vielleicht den Sieg, weil er ein psychologisches Moment in diesem buntgewürfelten Heer unterschätzte: die entmutigende Wirkung der Zurückhaltung der Elite, während andere Einheiten sich verbluteten, was bei dem alteingewurzelten Mißtrauen aller karthagischen Söldner gegen die Eigensucht punisch- 256 -
aristokratischer Strategen eine verheerende Wirkung haben mußte. Bewußt eröffnete Hannibal die Schlacht mit dem Angriff der Kampfelefanten und verstellter Flucht seiner Reiterei auf den Flügeln, um die überlegenen gegnerischen Schwadronen erst einmal vom Kampfplatz fortzulocken. Die Attacke der grauen Riesentiere wurde unter ungeheurem Getöse römischer Lärmtrompeten und einem Geschoßhagel der leichten Infanterie zerschlagen, bevor die Tiere und die Besatzung in den Türmen recht zur Wirkung kamen. Ein Großteil der Kolosse brach, scheu geworden, nach rechts und links aus, diejenigen Elefanten, die bis an das erste römische Treffen gelangten, wurden in die befohlenen Gassen gedrängt, wo sie wenig Schaden anrichten konnten. Etliche der Riesentiere stifteten auch noch auf den Flügeln Verwirrung unter der karthagischen Reiterei. Von Hasdrubals Methode zur Tötung nervös gewordener Elefanten hören wir nichts. Die erste Phase der Schlacht war also ein Fehlschlag; die zweite scheint zu gelingen. Auf den Flügeln lassen sich Römer und Numider zur Verfolgung der scheinbar ausweichenden karthagischen Kavallerie verführen. Damit kann Mago Saunites das römische Zentrum mit dem Söldnerhaufen angreifen. Die Söldner, Iberer, Mauren, Ligurer, die sich zum Kampf mit Schweinefett und Mastixöl zu salben pflegen und einen scheußlichen Gestank entfalten, Kelten, Balearen schlagen sich besser, - 257 -
als man erwartet hatte. Dann jedoch klappte das Zusammenwirken des zweiten und dritten Treffens nicht, vielleicht auch darum, weil der Feldherr, Hannibal, im vierten Treffen unter den riesigen Staubwolken des Kampfgewühls keine klare Übersicht mehr hat, weil Adjutanten nicht durchkommen oder weil die einheitliche Befehlsführung bei einem solchen Infanteriekampf von Mann gegen Mann überhaupt äußerst schwierig ist. Das dritte Treffen stand noch, auf Befehle wartend. Die Söldner, die sich plötzlich ohne rechtzeitige Unterstützung sahen, argwöhnten Verrat. Der alte Haß gegen die arglistigen Punier, die alle opferten, nur sich selbst nicht, brach durch. Sie fluteten zurück, gegen das dritte Treffen. Hanno Bomilkar ließ die Spieße fällen. An diesem Wall von Erzspießen prallten die kopflos gewordenen Söldner ab. Die dritte Phase des Schlachtplans von Hannibal hatte sich somit ebenfalls als Fehlschlag erwiesen; das Ineinandergreifen der beiden Infanterietreffen hatte nicht funktioniert. Noch schien nicht alles verloren. Aber es brauchte jetzt Zeit, um die Treffen wieder zu ordnen. Hannibal warf jetzt alles in die Schlacht, was er noch hatte, die Bürgerwehren des Neffen und die bislang ausgesparte Reserve, das Veteranenkorps. Vielleicht gelang es doch noch, Scipios Zentrum zu durchstoßen. Auch bei den Römern zeigten sich Ermattungserscheinungen. Während die Infanterieschlacht in der heißen Sonne, in Staub und Blut und Dunst noch weiterging, ertönte plötzlich - 258 -
im Rücken der karthagischen Einheiten gellendes Kampfgeschrei. Die römische und die numidische Reiterei jagten heran, nachdem sie die Reiter Hannibals aus dem Felde geschlagen hatten. Dies war das Ende. Die Schlacht und der Krieg waren verloren. Die Veteranen verkauften ihr Leben teuer. Sie schlugen sich bis zum letzten Mann. Mago Saunites und Hanno Bomilkar werden nach Zama nirgends mehr erwähnt, sie sind vermutlich in der Schlacht geblieben. Hannibal selbst ritt mit einem kleinen Gefolge nach Hadrumet zurück. Er suchte nicht den Tod in der Schlacht, weil er wußte, daß erst jetzt für den geschlagenen Feldherrn und für die Heimatstadt die schwerste Stunde kam. Und dieser Wendung wollte er nicht ausweichen. Der Tod auf dem Schlachtfeld wäre zu billig gewesen. Die Sitte der Vorväter, sich nach verlorener Schlacht dem Selbstopfer auf dem Scheiterhaufen zu überantworten, schien wenig sinnvoll. Allenfalls drohte ihm jetzt die Klage vor dem traditionellen Staatskontrollhof der ‚Hundertvier‘. Aber auch die ‚Hundertvier‘ hatten sich überlebt. Von Hadrumet aus begab sich Hannibal nach Karthago, der Stadt, die er als Kind verlassen hatte. Kuriere hatten die Niederlage bereits gemeldet. Die Oberbehörden mußten sich noch härtere Bedingungen diktieren lassen, nachdem sie eilends eine Gesandtschaft zu Scipio geschickt hatte. Karthago mußte nicht nur alle überseeischen Posten räumen, sondern auch Masinis- 259 -
sas Anspruch auf alle Gebiete in Nordafrika anerkennen, die nach dessen Meinung Numidien gebührten.15 Die Kriegsflotte wurde auf zehn Schiffe reduziert. Außerhalb Afrikas durfte Karthago überhaupt keinen Krieg mehr führen; in Nordafrika durfte es Verteidigungsmaßnahmen nur ergreifen, wenn der Senat von Rom das billigte. Die Kriegsentschädigung wurde auf 10.000 Talente festgesetzt, zahlbar in 50 Jahresraten. Hundert Söhne des karthagischen Adels sollten als Geiseln nach Rom gehen. In Karthago sprach sich Hannibal vor der ‚Gerusia‘ und dem Dreihunderter-Rat für die Annahme dieser Friedensbedingungen aus. Das hatte offensichtlich niemand erwartet, am wenigsten die Partei der Hannoniden. Es gab Abgeordnete, die sich leidenschaftlich für eine Fortsetzung des – aussichtlos gewordenen – Krieges einsetzten, selbst auf die Gefahr hin, daß Karthago belagert werden würde. Ein Träger des Namens Geskon, vielleicht ein Verwandter des so schrecklich ums Leben gekommenen Hasdrubal Geskon, wandte sich mit wutverzerrtem Antlitz gegen Hannibal und sprang auf die Rednertribüne. Da riß diesem die Geduld: er warf ihn hinunter in die Ratsversammlung. Dann bezwang er sich und sagte mit ruhiger Stimme: „Bürger, bedenkt, als neunjähriger Knabe verließ ich die Stadt. Die Regeln des Krieges, in denen man mich von Kindheit an unterwiesen hat, soll ich ja wohl so ziemlich begriffen haben. Allein über die Rechte der Stadt und des - 260 -
Gerichts, über Gesetze und Gebräuche habe ich Eure Belehrung nötig.“16 Dann folgte noch einmal die eindringliche Mahnung, man möge diesen Frieden annehmen. Wolle man ein übriges tun, dann könne man nur zu den Göttern flehen, daß Rom diese Bedingungen bestätigt …17 Stadtkönig, Sufeten, ‚Gerusie‘, die ‚Dreihundert‘, die Volksversammlung beugten sich dem Rat ihres ‚Strategen‘. Nachdem man mit Scipio einen Waffenstillstand vereinbart hatte, reiste eine karthagische Gesandtschaft unter Führung des Hasdrubal Eriphos nach Rom. Dort hielt dieser merkwürdige Anwalt des Friedens und des Volkes eine äußerst peinliche Rede vor dem Senat. Er erdreistete sich darin zu behaupten, hätte Karthago auf ihn und Hanno gehört, hätten sie die Friedensbedingungen, um die sie jetzt bitten müßten, selbst fixieren können. Als Hasdrubal Eriphos geendet hatte, fragte ihn ein Senator, bei welchen Göttern die Karthager eigentlich den Frieden zu beschwören gedächten? Den alten Göttern gegenüber, bei denen sie den Frieden von 241 beschworen hätten, seien sie doch eidbrüchig geworden. Hasdrubal Eriphos, vom Parteihaß geplagt und dennoch sprichwörtlich schlau wie ein Punier, erwiderte: „Bei denselben, deren Rache jetzt die Bundbrüchigen so sichtbar verfolgt.“18 Der Friede wurde geschlossen, zu den von Hannibal hingenommenen, harten Bedingungen. Hannibal zog sich in den Stadtpalast der Barkas in der Gartenvor- 261 -
stadt Megara zurück. Auf See vor dem Hafen ließ Scipio, den seine Legionäre künftig den ‚Africanus‘ nannten, 500 von den Karthagern ausgelieferte Kriegs- und Transportschiffe verbrennen, und die düsteren, riesigen Rauchwolken muß man auch im Adelsviertel sehen haben können. Die erste Krise kam, als die erste Rate der Kriegsentschädigung fällig wurde und niemand recht wußte, wie man diese begleichen sollte. Hannibal wurde Zeuge der Verwirrung im Justizpalast. Er lächelte still, so erzählt uns Livius. Da fuhr Hasdrubal Eriphos wie ein Tiger auf ihn los: „Wie kannst Du noch lächeln, Du, der Du die Ursache allen Unglücks bist?“ Hannibal erwiderte: „Wenn Ihr in mein Innerstes sehen könntet, so würdet Ihr feststellen, daß dieses Lachen aus einer Brust kommt, die durch das Unglück des Vaterlandes fast empfindungslos geworden ist. Und doch ist mein Lachen lange nicht so unzeitig wie Eure albernen Klagen. Da hättet Ihr weinen sollen, als uns die Waffen, die Schiffe genommen wurden, als uns verboten wurde, ohne Erlaubnis von Rom Krieg zu führen. Mit dieser Wunde empfingen wir den Todesstreich. Doch Euch erbittert nur eine Einbuße an Geld. Jetzt heult Ihr, als ob der Staat zu Grabe getragen werden soll. Ihr, die Ihr aus Eurem Vermögen mit Leichtigkeit die fällige Rate zahlen könnt. Ich fürchte, Ihr werdet allzubald einsehen müssen, daß dieses Übel, worüber Ihr heute jammert, noch das kleinste ist.“19 - 262 -
XI. Gegen Rom – bis zum Tod von eigener Hand Reform in Karthago – Emigrantenschicksal Ein Feldherr, der nach der Niederlage für den Frieden statt für einen heroischen Untergang plädiert, verdient zwar den Respekt der Historiker, kann aber nicht immer auf das Verständnis der eigenen Nation rechnen. In Karthago war das offenbar anders. Die Volksmassen waren hier des Krieges so müde wie die Plebejer in Rom. Dennoch gab es in der herrschenden Oligarchie eine Menge Leute, die nach der Niederlage bei Zama der Meinung waren, man müsse sich nun so entschlossen erzeigen wie die Römer nach der Schlacht von Cannae; man müsse eine lange Belagerung der Stadt in Kauf nehmen, weil auch die Römer des Krieges überdrüssig seien. War dies nicht die Stunde des Hauses Barkas, um mit dem friedwilligen Haus Hanno abzurechnen, um sich zum Herrn der Stadt aufzuwerfen? Hannibal hat sich anders entschieden, wenn man will, nicht als Soldat, der den Tod in der Schlacht als das höchste Ziel menschlichen Daseins ansieht, sondern als kühl rechnender punischer Kaufherr, wie dies seine Ahnen gewesen waren. Es galt die Substanz der Stadt zu retten, für bessere Zeiten. Er handelte in den politischen Wirren der Zeit des Friedensschlusses freilich als Soldat, auch dem Amt - 263 -
nach. Seine Funktion innerhalb der Oligarchie und ihrer Oberbehörden war immer noch diejenige des ‚Strategen‘ (zwar nicht mehr von Spanien aber noch von Libyen), des Oberkommandierenden, den die Armee gewählt und dessen Wahl die ‚Gerusia‘, die ‚Dreihundert‘ und die Volksversammlung gutgeheißen hatten. Die Tatsache, daß er sich ganz selbstverständlich in die viel geringer gewordene Rolle des militärischen Oberbefehlshabers schickte, läßt den Rückschluß zu, daß man nicht zuviel in die führende Rolle der Barkiden in Spanien hineingeheimnissen darf. An ein selbständiges pseudo-hellenistisches Soldatenkönigtum hat Hannibal wohl nie gedacht. Dazu war die Bindung an die Götter der Heimat, die aristokratische Verfassung und die eigene Kaste viel zu stark. Während der ersten zwei Jahre nach dem Friedensschluß war Hannibal bemüht, mit den schwachen Truppen, die sich die Stadt noch leisten konnte, die Ordnung in der ‚chora‘, dem libysch-phönizischen Agrargebiet, wiederherzustellen, wo unter den Zinsbauern wieder einmal Unruhen ausgebrochen waren. Im Winter ließ er die Soldaten Ölbaumkulturen anlegen, um sie nutzbringend zu beschäftigen.1 Diese Maßnahme zeigt, wie sehr er sich dessen bewußt war, daß Karthago jetzt nach dem Verlust des spanischen Silbers wieder auf die eigene wirtschaftliche Kraft angewiesen war. Diese basierte auf dem sehr reichen agrarischen Hinterland, auf der Produktion und dem Export von Verbrauchsgü- 264 -
tern und auf dem Handel. In Rom hatte man beim Friedensschluß offensichtlich vergessen, Sondermaßnahmen gegen Hannibal zu verfügen. Als man gewahr wurde, daß dieser unheimliche Mensch noch immer die Streitkräfte Karthagos kommandierte, verlangte man im Jahre 200 v. Chr. seine Entfernung aus dem Amt. Dies geschah ohne Widerspruch. Die römische Intervention erfolgte nicht zufällig in dem für die Väter im Senat sorgenvollen Jahr 200. In der Poebene braute sich ein neuer Keltenkrieg zusammen, vielleicht noch ein später Nachhall der Aktivität des karthagischen Partisanen-Offiziers Hamilkar. Um die Kontrolle über Griechenland drohte jetzt ernsthaft ein Krieg mit König Philippos V. von Makedonien, dem ehemaligen Verbündeten Hannibals, der nach Cannae die große Stunde einer erfolgreichen Militärallianz gegen das schwer geschlagene Rom versäumt hatte und sich nun doch zur Auseinandersetzung mit dem siegreichen Rom genötigt sah. Im Vorderen Orient und auf dem Balkan in Thrazien zeichnete sich der nächste Konflikt ab: der Zusammenprall mit dem mächtigsten Herrscher der hellenistischen Welt, dem König des Seleukidenreiches, das von Kleinasien bis nach Nordostpersien und Westafghanistan reichte, Antiochos III., den die Zeitgenossen aus unerfindlichen Gründen ‚den Großen‘ nannten. Rom sah hier wieder seine griechischen Interessen gefährdet, und es war ein schwacher Trost, daß Philippos V. und Antiochos III. bitter ver- 265 -
feindet waren. Wie jedoch, so mußte man sich am Tiber fragen, wenn Hannibal diese Situation ausnutzte und neue Beziehungen zu den Höfen von Pella und Antiochia knüpfte? Der verabschiedete Stratege zog sich keineswegs ins Privatleben zurück, auf die Latifundien in der Byzacene in Osttunesien. Der Stadtpalast der Barkas in Megara blieb Zentrum für die Partei der Barkiner. Gehässige Klagen der Antibarkiner, die ihren Niederschlag in römischen Quellen gefunden haben, dürften gar nicht weit an der Wahrheit vorbeigegangen sein.2 Freilich wird das Bild Hannibals unschärfer für uns. Vordergründig gesehen, könnte man meinen, es sei nun einsam um ihn geworden, weil fast alle Kameraden der großen Jahre dahingegangen waren. In Wahrheit muß Hannibal, wie die Folgezeit lehren sollte, Mittelpunkt einer starken Fraktion gewesen sein, die auf ihn schwor und, nach barkidischer Sitte, dabei mit den Massen, mit der Volksversammlung operierte. Möglicherweise haben auch seine beiden griechischen Sekretäre, Sosylos von Sparta und Silenos von Kale Akte, noch diese Phase seiner Tätigkeit als Innenpolitiker mit ihm geteilt. Sie hätten bei ihm ausgeharrt, „quamdiu fortuna passa est“ (solange das Schicksal es zuließ), berichtet Hannibals Biograph in römischer Kaiserzeit, Cornelius Nepos3. ‚Fortuna‘ hat aber auch eine andere Bedeutung: Das Schicksal mußte glückverheißend sein. Und wann die beiden Literaten das Ende - 266 -
von Hannibals Glück gekommen wähnten, wissen wir nicht.4 Wir können nicht mehr mit Sicherheit entscheiden, ob die zwei Griechen ihrem militärischen Mäzen in ihren Schriften die Treue gehalten haben. Die römisch orientierte Historie – und nur diese hat sich erhalten – war bemüht, sein Bild in düsteren Farben zu malen. Livius, Appian, Valerius Maximus und Cicero5 verraten sämtlich das Bestreben, den Mann, der Rom beinahe besiegt hätte, als typischen ‚schlechten Punier‘ und als Sohn des Hades darzustellen. Livius bescheinigt Hannibal wenigstens außerordentliches militärisches Talent, das konnte den Sieg über ihn nur in um so hellerem Licht erstrahlen lassen. Appian notiert, um Hannibals spätes Erscheinen beim Entsatz von Capua zu motivieren: „Der wilde Mann hatte sogar eine Geliebte“ – wenigstens ein menschlicher, aber wieder unmoralischer Zug. Valerius Maximus nennt Hannibal einfach ‚wild und grausam‘.6 Cicero mißt ihm ein mürrisches, finsteres Gebaren zu, und meint, so sehr die Römer den König Pyrrhos wegen seiner Gerechtigkeitsliebe bewundert hätten, so würden sie Hannibal wegen seiner Grausamkeit stets verabscheuen.7 Noch Seneca, der Philosoph, Erzieher und väterliche Berater Kaiser Neros, kolportiert eine Geschichte, daß Hannibal beim Anblick eines mit Menschenblut gefüllten Baches einmal ausgerufen habe: „Oh, welch schönes Bild.“8 - 267 -
Derlei Greuelgeschichten entstammen fraglos der römischen Kriegspropaganda: Da gibt es Erzählungen von Menschen, die auf Hannibals Befehl bei lebendigem Leib geschunden oder verbrannt worden seien; da gibt es die Mär von einer Brücke aus menschlichen Leichnamen, die er habe errichten lassen; da gibt es eine andere Geschichte, er habe Zweikämpfe unter gefangenen Römern veranstalten lassen. Daß es mindestens eine wenig vornehme Maßnahme gewesen war, den Kopf des am Metaurus gefallenen Hasdrubal Barkas vom Rumpf zu trennen, ihn zu präparieren und Hannibal zuzuwerfen, wird notiert, jedoch nicht getadelt. Daß Hannibal Massenhinrichtungen angelastet wurden, ist in diesem Zusammenhang beinahe selbstverständlich.9 Massenhinrichtungen sind auf beiden Seiten in diesem Krieg vorgekommen, man denke nur an das Strafgericht der Römer in Capua! Mindestens seit der Schlacht von Cannae war die gesamte Kriegführung in Mittel- und Unteritalien zu einem Zwischending von regulären Operationen und Partisanen-Aktionen geworden. Im Ringen um die italische Eidgenossenschaft verwandelten sich weite Gebiete in ‚Besatzungsregionen‘ römischer oder karthagischer Observanz. Wer sich zu der oder jener Partei bekannte, hatte Strafexpeditionen dieser oder jener Art zu fürchten. Wer heimlich oder offen unter verräterischen Handlungen die Front wieder wechselte, mußte mit dem Gericht der anderen Partei rechnen. Hannibal war gezwungen, in - 268 -
den einzelnen Regionen verantwortliche Unterbefehlshaber einzusetzen, punische Aristokraten oder fremde Soldhauptleute, denen ein Menschenleben nichts galt und die gewohnt waren, den Krieg auch als Beutegeschäft anzusehen. Der Krieg wurde auf römischer wie karthagischer Seite gleich grausam geführt. Wenn Hannibal selbst bisweilen das Bestreben verriet, Menschlichkeit walten zu lassen, so konnte er nicht überall zugleich sein. Was aber von seiten der Unterbefehlshaber geschah, geschah in seinem Namen. Und so werden wir aus all dem Wust römischer Kriegspropaganda doch eines mit Sicherheit entnehmen können, daß sich die Truppen Hannibals Übergriffe und harte Maßnahmen haben zuschulden kommen lassen, die den römischen Schriftstellern genügend Stoff geboten haben. Die gesamte Kriegführung der Zeit war weit entfernt von jenen Maßstäben der Humanität, die wir heute kennen und deren Achtung wir fordern.10 Nur der berühmte griechisch-römische Historiker Polybios, der im Stabe des jüngeren Scipio Africanus 146 v. Chr. die Zerstörung Karthagos miterlebte, läßt Hannibal bis zu einem gewissen Grad Gerechtigkeit zuteil werden. Allerdings glaubt auch er an die Erzählungen von seiner entsetzlichen Habsucht.11 Der alte König Masinissa von Numidien, Hannibals Zeitgenosse in seinen jungen Jahren, der in einem karthagischen Adelshaus erzogen worden war, hatte ihm Geschichten über Hannibals Geldgier erzählt. Dieser und sein - 269 -
Freund Mago Saunites, so behauptete Masinissa, hätten niemals gemeinsam eine Stadt in Italien erobert, sonst hätten sie sich in die Beute teilen müssen. Das sind offensichtlich Klatschgeschichten. Erst in der späten Kaiserzeit, als Nichtrömer, Illyrer, Nordafrikaner, Asiaten, den kaiserlichen Purpur trugen, wandelt sich das Bild, ja es tritt uns geradezu eine ‚Hannibal-Renaissance‘ entgegen. Marcus Junianus Justinus rühmt Hannibals Bescheidenheit und Enthaltsamkeit, Dio Cassius dessen militärische Begabung und hohe griechische Bildung. Der aus Nordafrika stammende Militärkaiser Septimius Severus (193-211 n. Chr.) pflegte ostentativ einen förmlichen Hannibal-Kult. Der Punier wurde leuchtendes Beispiel für die Tüchtigkeit der von Rom einst Unterworfenen. Mochten die Römer sich auch anstrengen, den auf ihr Geheiß aus dem Amt entlassenen ‚Strategen‘ zu verleumden, so war dieser doch in den Jahren zwischen 200 und 195 v. Chr. in Karthago noch immer die Zentralfigur des politischen Lebens. Wahrscheinlich haben die ‚Hundertvier‘, altväterlicher Sitte eingedenk, noch einmal die Idee erwogen, ob man dem Feldherrn, der den Krieg verloren hatte, nicht den Staatsprozeß machen und ihn ans Kreuz schlagen lassen könne.12 Unter den Anti-Barkinern liefen Gerüchte um, nach der Schlacht von Cannae habe er Rom nur deshalb nicht angegriffen, weil er Unsummen aus der Beute in der Schlacht unterschlagen habe und erst die Beute sichern - 270 -
wollte, bevor der Krieg zu Ende ging und seine Machenschaften vielleicht aufgedeckt würden.13 Aber die Idee eines Staatsprozesses gegen Hannibal war ein gefährliches Gedankenspiel. Die Barkiden hatten einst der Volksversammlung, der ‚volonte génerale‘, wieder Geltung verschafft, und sie bedienten sich jetzt wie einst der Massen. Damals hatten die Barkiden die Wahl der beiden höchsten Justitiare dieses Staatswesens, der ‚schofet‘ (Sufeten) durch die Volksversammlung durchgesetzt, und zwar jeweils für ein Jahr. Den Sufeten oblag zwar nur die Kontrolle des gesamten Rechtswesens aber sie hatten auch die Befugnis, jeweils die höchsten Ratsgremien – Volksparlament, ‚Dreihundert‘ und ‚Gerusia‘ – zu Sitzungen einzuberufen, und konnten auf diese Weise indirekt auch erheblichen Einfluß auf politische Entscheidungen nehmen. Viel hing dabei von der Persönlichkeit der beiden Sufeten ab. Hannibal jedenfalls stellte sich im Jahre 197 v. Chr. zur Wahl für das Sufetat von 196. Hannibals Entschluß, für eines der obersten Staatsämter zu kandidieren, kann nur in Zusammenhang mit der außenpolitischen Situation gestanden haben. Im Jahre 197 hatte der Prokonsul Titus Quinctius Flamininus, der sich mit 20 Jahren als Stabsoffizier seine Sporen im hannibalischen Krieg verdient hatte, die makedonische Phalanx des Königs Philippos V. in der Schlacht bei den ‚Hundsköpfen‘ (Kynoskephalei) geschlagen. Die in starrer Schlachtlinie formierte, ehedem berühmte - 271 -
schwere Infanterie hellenistischer Manier hatte sich der wendigeren Manipeltaktik gegenüber als hilflos erwiesen. Der König hatte mit Rom Frieden schließen müssen. Sein Gegenpart im Spiel der hellenistischen Monarchen, der Diadochen Alexanders, um die griechische Welt, König Antiochos III., geriet mit dem Ausfall Makedoniens jetzt in die unmittelbare Konfrontation mit Rom. Das Reich der Seleukiden aber war eine der stärksten Mächte in der ostmittelmeerischen Welt. Für das besiegte und gedemütigte Karthago konnten sich neue Aspekte ergeben, wenn dieser Herrscher die Stunde begriff, was bei seinem Rivalen in Makedonien, Hannibals ehemaligem Verbündeten, nie recht der Fall gewesen war. Wie unter der Herrschaft der von den Barkinern gelenkten Volksversammlung nicht anders zu erwarten, wurde Hannibal zum Sufeten für das Jahr 196 v. Chr. gewählt. Sicherlich wurde – der von den Barkinern bewirkten Verfassungsänderung von ehedem entsprechend – auch ein zweiter Sufet gekürt, höchstwahrscheinlich ein Parteigenosse. Der Name ist uns nicht überliefert, ebensowenig wie wir den Namen des amtierenden ‚basileus‘, des halb sakralen Stadtkönigs, kennen. Möglicherweise war dies noch immer der dann freilich uralte Bomilkar II., der Schwager Hannibals und Vater des hannibalischen Unterbefehlshabers.14 Der ‚schofet‘ (Sufet) Hannibal, als Soldat erzogen und als Soldat hochbewährt, entwickelte eine ganz - 272 -
nüchterne, wirtschaftlich korrekte Politik, wobei man bedenken muß, daß im karthagischen Staatswesen – wie auch in Rom – militärische Dienste und politische Amtsaufgaben beständig miteinander verknüpft waren, so daß die schlichte moderne Faustregel von der Antithese von Soldat und Politiker in der Antike kaum Gültigkeit hatte. Auch die Familiengeschichte der Barkiden mit dem quasi ‚Heer-Königtum‘ in Spanien bildete dabei keine Ausnahme, weil die Bindung an Karthago, an die Götter der Stadt, nie gelöst wurde. Der Sufet des Jahres 196 hatte drei große Programmpunkte, die wir in den Grundzügen noch sicher erkennen können: konsequente Erfüllungspolitik gegenüber Rom sowie eine Finanz- und Verwaltungsrechtsreform. Zur Erfüllungspolitik gehörte die Zerschlagung der traditionellen adligen Pfründnerwirtschaft. Ganz offensichtlich waren Jahrhunderte hindurch die hohen Ämter, die Sufetie und die Schatzkanzlei, einander nebengeordnet gewesen. Jede Amtsgruppe war auf ihrem Sektor autonom. Wo eigentlich die koordinierende Schaltstelle lag, ist nicht mehr klar zu erkennen. Hannibal, gestützt auf die Volksversammlung, beschloß jedenfalls, hier Abhilfe zu schaffen. Als der Schatzkanzler gegen eine geregelte Finanzpolitik opponierte, ließ ihn der Sufet durch Polizeidiener verhaften.15 Die adligen Standesgenossen waren entrüstet: Noch gab es den Staatsgerichtshof der ‚Hundertvier‘. Doch diesen traf der nächste Streich. Der Sufet brachte in - 273 -
der Volksversammlung ein Gesetz durch, wonach alle Mitglieder dieses Gremiums jährlich neu gewählt werden mußten und nicht länger als zwei Jahre im Amt bleiben durften.16 Dies war das Ende für das stärkste Bollwerk der Oligarchie. Hatten die ‚Hundertvier‘ ihr Amt bislang auf Lebenszeit ausgeübt, so schieden jetzt die Pfründner der Staatskontrolle aus dem Amt. Die Volksversammlung wird nicht gerade erprobte AntiBarkiner zu Kontrolleuren gewählt haben. Diese Maßnahmen kamen einer unblutigen, demolegalistischen Revolution gleich. Offenbar war Hannibal sehr daran gelegen, Ausbrüche der Volkswut, wie ihnen der unglückliche Hasdrubal Geskon zum Opfer gefallen war, zu vermeiden. Durch seinen griechischen Sekretär Sosylos von Sparta hat er sicher Kenntnis von dem Staatsstreich des Königs Kleomenes III. im Jahre 227 v. Chr. gegen die fünf ‚Ephoren‘, die Staatskontrolleure von Sparta, Kenntnis gehabt. Der gewalttätige Monarch hatte vier der ‚Ephoren‘ einfach umbringen lassen. Als Kleomenes nach großen Anfangserfolgen scheiterte, machte er als Emigrant in Ägypten seinem Leben selbst ein Ende.17 So blutrünstig wollte der Reform-Sufet keinesfalls verfahren. Das tragische Ende des Spartaner-Königs erscheint uns heute freilich als böses Omen. Hannibals innenpolitische Maßnahmen mußten natürlich die entmachtete Oligarchie verbittern, die sich bald und gründlich zu rächen gedachte. Anlaß dazu bot ein außenpolitischer - 274 -
Schachzug, die Aufnahme von geheimen Beziehungen zum Seleukiden-König Antiochos III. Hatten bereits früher Verbindungen zwischen karthagischen und römischen Adelsfamilien bestanden – wie das Beispiel des Karthalo lehrt –, so müssen sich diese seit dem Frieden von 202 erheblich verstärkt haben. Jahr um Jahr befanden sich jeweils 200 Söhne des Stadtadels zur ‚Erziehung‘ (in praxi als Geiseln) in Rom. Umgekehrt hatte der Senat im Jahre 201 v. Chr. auf Bitten der damals regierenden Sufeten 200 junge kriegsgefangene Adlige ohne Lösegeld in die Heimat entlassen. So war es der Adelsfronde in Karthago ein leichtes, Rom zu alarmieren. In Rom hatte man Hannibals Wahl zum Sufeten schon nicht gern gesehen. Die Denunziation seiner Geheimkontakte zu Antiochos III. steigerte die Besorgnis und das Mißtrauen. Zwar hatte man Makedonien besiegt, doch der Seleukidenherrscher hatte gleichfalls Interessen in Thrazien und im klassischen Griechenland. Mit einem neuen Konflikt war durchaus zu rechnen. Dazu kamen Aufstände der Kelten und Ligurer in Norditalien und der iberischen Stammesfürsten in Spanien. Obendrein komplizierte sich die Situation in Nordafrika durch einen Streit zwischen Karthago und König Masinissa von Numidien. So ging 195 v. Chr. eine römische Gesandtschaft nach Karthago, offiziell, um den Streit zwischen dem Numiderfürsten und der Stadt zu schlichten. Ohne Genehmigung durch den Senat am - 275 -
Tiber durfte Karthago ja keinen Krieg mehr führen – was natürlich auch Hannibal nur zu gut wußte. Die römische Mission bestand aus dem bereits hochbetagten Cn. Servilius, Konsul des Jahres 217, dem Jahr, in dem Hannibal Sieger am Trasimenischen See gewesen war, Claudius Marcellus, dem Sohn des Eroberers von Syrakus, der im Kampf gegen Hannibal gefallen war, und Terentius Culleo, einem Senator, den Scipio aus karthagischer Kriegsgefangenschaft befreit und der dann an den Friedensverhandlungen teilgenommen hatte. Alle drei konnten auf diese oder jene Art als Experten für karthagische Probleme gelten und hatten ihre Erfahrungen mit dem einäugigen Punier gemacht. Abgesehen von dem Schiedsspruch zwischen dem Numider und der Stadt sollten sie auch deutlich machen, daß es das beste sei, wenn die Stadt den ExSufeten ausliefern würde … Für Hannibal gab es unter diesen Umständen keine Wahl. Verlangten die Römer tatsächlich seine Internierung, so war es klar, daß die ihm hörige Volksversammlung dies nicht zulassen würde. Das bedeutete Krieg, und dafür war die Stadt nicht gerüstet. Umgekehrt konnte die Adelsopposition, flankiert von Rom, den früheren Sufeten wegen Verfassungsbruches anklagen. Dies wiederum hieß Bürgerkrieg in der Stadt. Im Gegensatz zu früheren Strategen, die versucht hatten, sich zu absoluten Königen in Karthago aufzuwerfen, hatte sich Hannibal im Grunde aber immer nur als der vor- 276 -
nehmste Diener der Stadt gesehen. Darum zog er es vor, dem eigenen Gemeinwesen alle Komplikationen zu ersparen und ins Exil zu gehen, natürlich mit der Hoffnung aller politischen Emigranten, eines Tages, in besseren Zeiten, wieder zurückkehren zu können. Die Flucht wurde unter strengster Geheimhaltung vorbereitet. Hannibal gedachte, über die Mutterstadt Tyros an den Hof des Seleukidenherrschers zu reisen. Am letzten Tag seines Aufenthaltes in Karthago sah man ihn noch in der düsteren Tracht der ‚rab‘, der hohen Richter und Würdenträger, einem schwarzen Obergewand und schwarzen, silberbesternten Halbstiefeln18 auf dem Markt und im Justizpalast, wo er Bittsteller und politische Klienten anhörte. Als es dunkelte, verließ er die Stadt, begleitet von ein paar treuen Dienern. Reitpferde standen bereit. Für Pferdewechsel auf der Flucht war gesorgt worden. In einem Gewaltritt über 200 Kilometer erreichte er einen seiner ‚Türme‘, ein Landschloß bei Thapsus, tief im Süden des heutigen Tunesien. Am Kap Cabondia erwartete ihn ein Schiff.19 Es sollte ihn nach dem allen Phöniziern heiligen Tyros bringen, der Stadt des Herrn Melkarth, der dem Hause Barkas, wie die Namensgebung verrät, besonders teuer war. Das Schiff, das er bestieg, legte an der Insel Cercina vor der osttunesischen Küste an, wo etliche karthagische Kauffahrer auf der Rückreise in die Heimatstadt gleichfalls Station gemacht hatten. Die Kapitäne und - 277 -
Superkargos erkannten natürlich den Mann mit dem einen Auge. Hannibal sah sich von Neugierigen und Verehrern umringt. Er wich allen Fragen aus und erklärte sehr bestimmt, er reise als Gesandter der Oberbehörden nach Tyros. Am Abend veranstaltete er, nach einem Opfer im Tempel, ein Festessen für die Schiffsoffiziere und Geschäftsleute und ließ reichlich Wein auffahren. Als die Gäste beseligt auf den Speisesofas entschlummerten, entschwand er und ging an Bord seines Schiffes, das ihn nach Tyros brachte, der Stadt, aus der die Gründer Karthagos stammten. In Karthago lief am Tage nach seiner Flucht wieder das Volk vor dem Ratspalast zusammen, um Hannibal zu sehen und zu sprechen. Als er nicht erschien, verbreitete sich sogleich das Gerücht, die Römer hätten ihn entführt oder umbringen lassen. Doch die Menge zerstreute sich dann, und die barkinische Partei fiel auseinander. Ohne den letzten Barkiden hatte die Partei ihren Sinn verloren. Von seinem Reformwerk blieben nur Teile bestehen, vor allem die Finanzmaßnahmen.20 Hannibal hatte alles hinter sich gelassen, die Heimat, die politisch-militärische Position und den sehr stattlichen Großgrundbesitz seines Hauses. Wir können annehmen, daß dieser eingezogen wurde. Wir hören nichts davon, daß er im Ausland noch Einkünfte aus der ‚chora‘ bezog. Seine materielle Lage scheint jedenfalls vom Jahr 195 an immer unsicher gewesen zu sein. Zu Schiff erreichte er Tyros, die Mutterstadt, welche - 278 -
der von ihm so bewunderte Alexander der Große nach langer Belagerung einst genommen und hart bestraft hatte. Doch das heilige Tyros mit dem Tempel des Herrn Melkarth war neuerstanden und empfing den berühmtesten Sproß aller Phönizier mit allen Ehren. Von Tyros begab sich Hannibal an das seleukidische Hoflager in Antiochia, der Hauptstadt von Syrien. Dort weilte indes nur der Kronprinz Seleukos. König Antiochos III. hielt Hof in Ephesos im griechischen Westkleinasien, der Stadt mit dem Tempel der hundertbrüstigen Artemis. So reiste Hannibal weiter. In Ephesos traf er mit dem hellenistischen Monarchen zusammen. Antiochos III., wie in diesen Diadochen-Dynastien üblich, enger Verwandtenehe entstammend, war ein liebenswürdiger, recht gebildeter Mann, aber auch von einem unsteten Geist und nicht ohne Züge von Dekadenz. Mit Hannibal teilte er das Interesse und die Bewunderung für Alexander den Großen, den militärischen Ahnherren der drei Diadochendynastien.21 In Ephesos lernte Hannibal das Treiben an einem pompösen hellenistischen Hof kennen. Das bunt zusammengestückte Riesenreich des Seleukiden, den man nach persischer Sitte wohl auch als ‚Großkönig‘ bezeichnete, wurde von einer dünnen Schicht makedonisch-griechisch-asiatischer Hofleute und ziviler wie militärischer Amtsinhaber verwaltet. Das Reichsgebiet zwischen dem Bosporus und dem westlichen Afghanistan umfaßte Griechen sowohl wie Syrer, Phönizier - 279 -
und viele halbhellenisierte oder noch ganz barbarische Völkerschaften in Kleinasien, im Zweistromland und im heutigen Iran, sowie indoarische Stämme im persisch-afghanischen Grenzgebiet. Unter den Ministern, ‚Strategen‘ und Kämmerern herrschte eine noch üppigere Cliquenwirtschaft als in der Oligarchie Karthagos. Hannibal, der weltberühmte Feldherr, war zwar ein ehrenvoll aufgenommener Gast. Aber irgendwelche praktischen Aufgaben erhielt er keineswegs und konnte dies vernünftigerweise auch kaum erwarten. Natürlich hätte König Antiochos III. theoretisch den Punier als obersten Militärberater oder gar als Heermeister einsetzen können. Doch eine solche Herausstellung des punischen Emigranten wäre in Rom als schwerer Affront angesehen worden, und niemand, am wenigsten der König selbst, wußte an diesem Hof, ob man angesichts des schwebenden Konfliktes mit den ‚Barbaren‘ am Tiber wirklich das Risiko eines großen Krieges eingehen sollte oder nicht. Außerdem hätten die tonangebenden Hofkreise die Betrauung Hannibals mit offiziellen Amtsbefugnissen vermutlich mit einem Entrüstungssturm quittiert. Es handelte sich hier immerhin um einen Punier, einen Phönizier, in den Augen makedonisch-hellenischer Staatsbeamter zumeist immer noch ein Menschenschlag zweiter Klasse. Hannibal blieb Gast des Königs. Natürlich schmiedete er Pläne für den Fall des Krieges mit Rom. Er schlug Antiochos III. vor, ihn mit einem Korps von - 280 -
10.000 Mann Infanterie und 1.000 Reitern der seleukidischen Berufsarmee nach Südostitalien zu schicken. Er wollte im Raum Brundisium (Brindisi) landen und die Bundesgenossen von ehedem in Lukanien und Apulien mobilisieren. Dieser Plan war tollkühn, denn dies projektierte Expeditionskorps mußte ja erst einmal zur Einschiffung nach Epirus gebracht werden. Zudem hatten die Seleukiden, wie übrigens auch die Antigoniden, stets wenig Wert auf den Unterhalt einer tüchtigen, starken Kriegsmarine gelegt. In Ephesos lernte Hannibal einen Großkaufmann aus Tyros kennen, der den griechischen Namen Ariston führte. Da dieser über gute Geschäftsbeziehungen in Karthago verfügte, gewann ihn Hannibal als Mittelsmann, um die Verbindung zu seiner eigenen Partei wiederaufzunehmen.22 Ariston ließ sich auf diesen Handel ein. Doch seine Mission scheiterte infolge Verrats von unbekannter Seite. Er konnte sich mit Mühe in Karthago vor den Amtsdienern der Sufeten retten, die nun wieder von der alten Oligarchie gestellt wurden. In Karthago saß die Reaktion wieder fest im Sattel. Am liebsten hätte man jetzt den Namen Hannibal aus allen Registern verschwinden lassen.23 Der berühmteste Feldherr seiner Zeit war jetzt tatsächlich ein Ausgestoßener, geächtet von der Heimat wie vom Feind, von Karthago und von Rom. An Warnungen vor Rom ließ er es am seleukidischen Hofe nicht fehlen. Das Beispiel - 281 -
des Antigoniden Philippos V. in Makedonien bot Stoff genug. Aber die beiden anderen Diadochenreiche, das der Seleukiden und der Ptolemäer, wo seit 205 v. Chr. Ptolemaios V. Epiphanes (der Berühmte) regierte, waren von einer unfaßbaren Erschlaffung ergriffen. Sicher war diesen Herrschern Rom unbehaglich, ebenso sicher aber scheuten sie einen großen Krieg mit der neuen rohen Weltmacht am Mittelmeer. Die Könige hofften, sich bei Wahrung der eigenen Position irgendwie mit Rom zu arrangieren. Der Gedanke an ein gemeinsames Vorgehen war völlig absurd. Seleukiden und Ptolemäer waren traditionell Todfeinde. Ein Emigrant, der zum Kriege mahnte, der unablässig warnte und warnte, konnte bei diesem Spiel auch zu einer höchst lästigen Figur werden – Hannibals Schicksal. Immerhin versuchte Antiochos III. in diesen Jahren wenigstens durch eine defensive Heiratsdiplomatie, wie sie nun einmal der dynastischen Vorstellungswelt entsprach, die Front der Monarchen zu stärken. Eine Tochter vermählte er dem König von Kappadokien im südöstlichen Kleinasien, eine zweite Tochter – quasi ein diplomatisches Sonderstück – dem Ptolemaios V. Epiphanes. Für den Ptolemäer, der der Geschwisterehe seines Vaters Ptolemaios IV. entstammte (den die Leute auch ‚Tryphon‘, den Schwelger, genannt hatten), war dies ein Bruch einer beinahe sakralen Familiensitte. Die Ehe hinderte ihn auch nicht daran, seine Neutralitätspolitik fortzusetzen. Wer Rom nicht reizte, den würde - 282 -
Rom schon in Frieden lassen. Ein dritter Ehestreich, den Versuch Antiochos III., dem Attaliden-König Eumenes II. von Pergamon im westlichen Kleinasien, einem entschiedenen Bundesgenossen Roms, eine seleukidische Prinzessin anzutragen, scheiterte. Eumenes II., ein guter Politiker und großer Mäzen, der Schöpfer des Pergamon-Altars, dachte nicht im Traum daran, auf eine solche Heirat hereinzufallen. Im übrigen war man sich am Seleukidenhof immer noch nicht im klaren darüber, ob man es nun zum Krieg mit Rom kommen lassen sollte oder nicht. Hannibal erreichte im Jahre 194 v. Chr. wenigstens die offizielle Zusage, man würde ihm im Ernstfall ein Flottengeschwader anvertrauen, um eine Landung in Italien durchzuführen. Aber dies Geschwader existierte nur auf dem Papier. Vielleicht gehörte allerdings die Mission des Ariston in das weitmaschige Netz all dieser unsicheren, halbherzigen Planungen, um doch gewissermaßen eine große Koalition gegen Rom zusammenzubringen. Karthago blieb jedoch unansprechbar. Dafür ging der ‚Aitolische Bund‘ in Griechenland auf die Seite des Seleukiden über, nachdem ihm die Römer jede Anerkennung für seine Hilfe gegen den König von Makedonien versagt hatten. Der Sieger in der Schlacht bei den ‚Hundsköpfen‘, T. Quinctius Flamininus, hatte zum Ärger des ‚Aitolischen Bundes‘ auch ein Bündnis mit dem ‚Achaiischen Bund‘, dem konkurrierenden Städtebund, abgeschlossen, um den Aitolern klarzumachen, daß - 283 -
Rom ihnen niemals die ersehnte Vorherrschaft in Griechenland zugestehen würde. Die Härte und Konsequenz in der Vertretung aller Machtansprüche durch Rom wirkte im Grunde staunenerregend. Die anderthalb Jahrzehnte Krieg auf italischem Boden hatten fürchterliche Verheerungen hinterlassen. Rund 300.000 Römer und römische Föderalgenossen waren dem Krieg zum Opfer gefallen. 400 Städte und Dörfer lagen in Trümmern.24 Weite, einst fruchtbare Landstriche, vor allem in Campanien, waren verödet. Es war oft schwer, Bauern und Ackerbürger, die sich in vielen Jahren an den Soldatendienst gewöhnt hatten, wieder an die Pflugschar zu bringen. Der Hannibalische Krieg hatte Verheerungen hinterlassen, die zu tiefgreifendem sozialem Strukturwandel führen sollten. Der Niedergang des altrömischen Bauerntums begann. Dazu kamen in den Jahren des Exils Hannibals am seleukidischen Königshof fortgesetzte große Aufstände in Spanien, und wir können annehmen, daß Hannibal, einstmals Schwiegersohn eines iberischen Fürsten, sehr wohl davon erfahren haben wird. In seinen Augen war dies die letzte Stunde für den großen Entscheidungskampf gegen Rom. Doch Antiochos III. zögerte. Im Jahre 194 v. Chr. reiste eine königliche Gesandtschaft nach Rom, um über eine freundschaftliche Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Thrazien und im griechischen Westkleinasien zu verhandeln. Hier besaßen die - 284 -
Römer in der Inselrepublik Rhodos – neben Pergamon – einen treuen Verbündeten. All dies brauchte Zeit. Erst 193 kehrten die Gesandten unverrichteter Dinge wieder zurück. Nun schickte Rom seinerseits eine Mission unter dem Senator Vibius Villius, die dem Großkönig klarmachen sollte, daß nur der Verzicht auf all seine Ansprüche noch den Frieden retten könne.25 Antiochos III. hatte inzwischen das Hoflager nach Apameia verlegt, von wo aus er eine Strafexpedition gegen die räuberischen Pisidier im südöstlichen Kleinasien unternehmen wollte. Als der römische Gesandte Vibius Villius dort eintraf, herrschte Bestürzung über den Ernst der Situation. Die Pläne, dem gleichfalls nach Apameia gekommenen Hannibal ein Flottengeschwader für weitreichende Diversionen zu geben, schwanden dahin.26 Derart kühne Unternehmungen glaubte man sich nicht mehr leisten zu können. Die Römer trugen den Krieg praktisch ins seleukidische Kerngebiet.27 Jetzt schien es wichtiger, sich eine gute Basis in Griechenland selbst zu sichern, wozu der Bundesfeldherr der Aitolier, Thoas, die Hand bot. Vibius Villius erreichte, daß ihm Hannibal mehrere Unterredungen gewährte, was nicht sehr klug von diesem war. Solche Unterhaltungen mit dem erklärten Todfeind der Syrer mußte alle Ohrbläser am königlichen Hofe beflügeln, dem Herrscher einzureden, der ‚Punier‘ treibe ein doppeltes Spiel. Jetzt habe er gute - 285 -
Beziehungen zum römischen Gesandten angeknüpft.28 Hannibal stieß plötzlich auf mißtrauische Kühle. Ohnehin hatte er es seinen Freunden kaum leichtgemacht; ganz offensichtlich wurde er im Alter und im Exil mürrischer und galliger als in besseren Jahren, wie Anekdoten aus dieser Zeit beweisen29: So hörte er z.B. in einer Epheser Rhetorenschule einen endlosen Vortrag eines Schönredners und Pseudophilosophen namens Phormio über Feldherrnpflichten an; als Phormio schloß, spendeten die Zuhörer mit Ausnahme des Karthagers begeistert Beifall. Daraufhin angesprochen, sagte er boshaft, er sei in seinem Leben schon vielen ‚eitlen Schwätzern‘ begegnet, aber solch einem Philosophen noch nie. Einem Bettelphilosophen, wie sie damals zu Dutzenden mit ungepflegtem Äußerem, Ziegenbart und zerfransten Mänteln die antiken Großstädte belebten, sagte er auf dessen Bemerkung, nur der ‚Weltweise‘ könne Feldherr sein, grob, Feldherr würde man durch Erfahrung, und diese könne man sich nur im Krieg erwerben, wobei der Zusatz unausgesprochen blieb: nicht durch Bettelei. Anekdoten sind keine einwandfreien Quellen. Sie können auch in diesem Fall durchaus erfunden sein. Aber alles, was noch an Aussprüchen Hannibals aus diesen letzten Jahren seines Daseins überliefert ist, zeigt den gleichen grimmigen oder spottenden Ton und weist darauf hin, daß den alternden, um alle Hoffnung betrogenen Mann eine große Bitterkeit ergriffen - 286 -
hatte – und allmählich wohl auch die Einsicht in die Ausweglosigkeit des eigenen Lebens. Die eisige Zurückhaltung bei Hofe konnte Hannibal nicht verborgen bleiben. Die Gespräche mit dem Repräsentanten Roms hatten sich übel ausgezahlt. Vielleicht war Vibius Villius gerade darum so erpicht darauf gewesen, sich mit dem einäugigen, verhaßten, ‚wilden Menschen‘ zu unterhalten? Schließlich gelang es Hannibal, beim König unter vier Augen vorstellig zu werden. Er fragte, weshalb er in Ungnade gefallen sei? Antiochos III. erwiderte ebenso offen, die Unterhaltungen mit dem Römer seien Schuld daran. Darauf erwiderte Hannibal (oder soll dieser erwidert haben)30: „Mein Vater Hamilkar, Antiochos, ließ mich als neunjährigen Knaben beim Opfer einen hochheiligen Eid schwören, den Römern nie wohlgesonnen zu sein. Das war mein Fahneneid, unter dem ich sechsunddreißig Jahre gedient habe. Dieser Eid hat mich aus meiner Heimat getrieben, von ihm geleitet, will ich, wenn Du meine Hoffnungen unerfüllt lässest, hingehen, wo ich noch eine Macht, noch Waffen anzutreffen glaube, um Roms Feinde aufzufinden. Die Kreise Deines Hofes, die mir nicht wohlgesonnen sind, müssen sich schon Besseres ausdenken, um mich bei Dir zu verleumden. Ich hasse die Römer und werde von ihnen gehaßt. Mein Vater Hamilkar und die Götter sind Zeugen, daß ich die lautere Wahrheit rede. Gedenkst Du nunmehr, mit Rom Krieg zu führen, so wähle mich als Deinen Bera- 287 -
ter, und ich werde Dir mit allen meinen Kräften dienen. Bist Du jedoch gesonnen, Frieden zu halten, so suche Dir einen anderen Berater an meiner Statt.“ Das mannhafte, im Ton rauhe Wort – sofern es korrekt überliefert worden ist – bewirkte immerhin soviel, daß der König, dem offener Streit in seiner engsten Umgebung zuwider war, Hannibal wieder in Gnaden aufnahm und ihm auch einen Platz in seinem Hofkriegsrat gewährte. Irgendwelche entscheidenden militärischen Befugnisse erhielt er jedoch nicht, und der Monarch befolgte seine Ratschläge bestenfalls erst dann, wenn es zu spät war.31 Das königliche Hauptquartier wurde im Winter 193/92 v Chr. infolge der gespannten Lage nach Thessalien vorgezogen. Hier fand etwa um die Jahreswende in Demetrias am Pegasaeischen Meerbusen ein allgemeiner Kriegsrat statt. Hannibal war dabei nur eine Randfigur; das große Wort führten der Hofminister Minnio, ein besonderer Vertrauter des Königs, der Elefantenbefehlshaber Philippos, der mit seinem Korps indischer Riesentiere 217 v. Chr. die Schlacht von Raphia gegen Ptolemaios IV. Tryphon gewonnen hatte, der höchste Kavalleriebefehlshaber, Prinz Antipatros, ein Neffe des Königs, und vor allem der ‚Stratege‘ des aitolischen Bundes, Thoas, den im Grunde weder Rom noch die Seleukiden-Monarchie noch gar Hannibal und Karthago interessierten, sondern einzig der innergriechische Zwist zwischen Aitolern und Achäern. - 288 -
Hannibal gelangte wenigstens soweit zum Zuge, daß er noch einmal ein großes Konzept vortragen durfte. Dazu gehörten der Abschluß eines Bündnisses mit Philippos V. von Makedonien, eine Landung unter seiner Führung in Italien, gemäß seiner alten These, daß Rom nur in seinem Kernbereich zu schlagen sei, und die Sicherung einer breiten Ausfallbasis im Gebiet von Byllis (dem Raum von Valona im heutigen Albanien) durch den König selbst mit der Hauptarmee und der Flotte, um beim Gelingen der Hannibalischen Expedition nach der italischen Halbinsel überzusetzen. Glückte es nicht, König Philippos V. als Bundesgenossen zu gewinnen, sollte der Kronprinz Seleukos mit einem starken Korps Thrazien besetzen, um den Makedonier wenigstens an einer Kooperation mit Rom zu hindern.32 Dieser breit angelegte Aufmarschplan verriet noch einmal den genialen Feldherrn. Für den Verstand und die Anschauungswelt der seleukidischen Minister, Prinzen und hohen Kommandeure war er viel zu weit, zu kühn angelegt. Auch hatte Hannibal nicht genügend in Rechnung gestellt, daß die Flotte, die für solche Unternehmung notwendig war, erst noch gebaut werden mußte. Die Seleukiden-Monarchie verfügte zwar über eine große, wenn auch altmodisch gedrillte gute Berufsarmee, nicht jedoch über eine starke Marine. So siegte im Hofkriegsrat nicht Hannibal, sondern der aitolische Bundesfeldherr Thoas, der den König mit aller Gewalt in Griechenland engagieren wollte. Han- 289 -
nibal dagegen erhielt den Auftrag, erst einmal den Ausbau der Kriegsflotte zu übernehmen und in den phönizischen Seestädten Syriens Personal und wohl auch Schiffe zusammenzubringen. Wozu, mochte sich mancher Hofmann des Antiochos III. fragen, hielt sich die Majestät einen Phönizier im Stabe?33 Der König selbst marschierte in Griechenland ein. Das heißt, vorerst war er völlig von einer neuen Liebesaffäre in Anspruch genommen. Er hatte sich in eine schöne griechische Bürgerstochter verliebt. Zwar war er legitim mit der Tochter des Königs von Pontus vermählt. Aber Nebenfrauen waren an hellenistischen Höfen auch nichts Unstandesgemäßes, und so beschäftigte ihn die Gewinnung des reizvollen Mädchens weit mehr als die Sicherung Griechenlands. In Griechenland stand jedoch eine römische Armee. Rom konnte mit der Unterstützung durch den Achaiischen Städtebund, die Inselrepublik Rhodos mit einer sehr guten Flotte und auf König Eumenes II. von Pergamon in Nordwestkleinasien rechnen. Auch das Königreich Pergamon verfügte über Seestreitkräfte. Hannibal erhielt gemeinsam mit dem seleukidischen Marinebefehlshaber Apollonios den Befehl, zunächst einmal die Flotte von Rhodos auszuschalten. Vor der Mündung des Eurymedon an der Küste Kleinasiens kam es zu einer Seeschlacht. Hannibal errang auf dem von ihm kommandierten Flügel Vorteile über die Rhodier, auf dem anderen Flügel wich der Flottenchef Apollonios - 290 -
aus. Die Schlacht blieb unentschieden. In der Folge blockierte die Flotte von Rhodos die von Hannibal befehligten Schiffe im Hafen von Megisthos an der kleinasiatischen Küste, und damit war die Rolle dieses strategischen Genius im Krieg zwischen Antiochos III. und Rom zu Ende. Im Jahre 191 v. Chr. rückte der König endlich mit einer starken Armee in das Gebiet des Achaiischen Bundes ein. Am welthistorisch berühmt gewordenen Thermopylen-Paß erlitt er gegen den römischen Konsul Manlius Acilius Glabrio eine schwere Niederlage. Der Legat M. Porcius Cato, der sich schon bei der Rückeroberung von Tarent und in der Schlacht am Metaurus ausgezeichnet hatte, vollzog ein Umgehungsmanöver und faßte das königliche Heer im Rücken. Nur Trümmer der Invasionsarmee retteten sich nach Kleinasien. Im nächsten Jahre, 190 v. Chr., landete eine römische Armee in Kleinasien, unterstützt durch ein pergamenisches Korps. Den Oberbefehl führte einer der amtierenden Konsuln, Lucius Cornelius Scipio, der Bruder des Siegers von Zama, der auch als Berater in dessen Stab wirkte. Die leichte Kavallerie kommandierte ein Mann, dem Hannibal einst höchstes Vertrauen geschenkt hatte, der Liby-Phönizier und nunmehrige Ritter Muttines (alias Myttones). Im Kriegsrat erklärte der Sieger von Zama, man werde in einem Lande, in dem Hannibal weile, nie die Gewißheit des Friedens haben. Und der eigentliche Sieger bei den Thermopylen, Por- 291 -
cius Cato, prägte später das Wort, Rom werde niemals Frieden haben, bevor nicht Karthago zerstört sei.34 Am Berge Sipylos bei Magnesia in Lydien stellte sich Antiochos III. zur Entscheidungsschlacht. Er hatte alle verfügbaren Kräfte mobilisiert und gebot über alle Waffengattungen hellenistisch-asiatischer Kriegskünste: indische Kampfelefanten, ein Korps von Sichelwagen mit riesigen Messern an den Rädern, um die Infanterielinie des Gegners zu zersäbeln, ein Korps von Kataphrakten, persischen Panzerreitern, bei denen auch die Rosse gepanzert waren. Selbst ein arabisches Kamelreiterkorps mit Bogenschützen fehlte nicht. Diese uneinheitlich ausgebildete Armee hatte trotz ihrer Stärke und ihrer komplizierten Kampfmittel kaum Aussicht, gegen die wohlgedrillten kampferprobten römischen Manipel zu bestehen.35 Nach dem Beispiel Alexanders verzichtete der König auch auf eine übergeordnete Befehlsführung und stürzte sich an der Spitze der persischen Panzerreiter selbst ins Gewühl. Nach einigen Anfangserfolgen dieser den Römern noch unbekannten schweren Reiterei ging die Schlacht verloren. Das Riesenheer wurde unter sehr hohen Verlusten völlig zerschlagen. Der König entkam mit einigen Getreuen dem Gemetzel. In allem Unglück war er wenigstens insoweit noch Kavalier, als er Hannibal im Hafen von Megisthos eine Warnung zukommen ließ: Der Krieg sei verloren und die Römer würden sicher beim Friedensschluß auf sei- 292 -
ne Auslieferung dringen. Der Prinz Antipatros übernahm gemeinsam mit einem ehemaligen seleukidischen Statthalter von Lydien die Friedensverhandlungen. Die Römer forderten sowohl Hannibals wie Thoas Kopf. Für Hannibal begann die letzte Flucht. Es muß ihm gelungen sein, zu Schiff von Megisthos zu entkommen, denn die nächste Station, wo er auftauchte, war das Hafennest von Gortyn auf Kreta. Mit sich nahm er ein paar treue Diener, einiges Bargeld und seine Hausgötter, darunter den ihm teuersten Schatz, eine Statue des ‚gaditanischen Herakles‘, wie die Griechen den tyrischen Herrn Melkarth von Gades nannten. Es war ein Tischaufsatz von der Hand des berühmten Bildhauers Lysippos. Herakles bzw. Baal Melkarth war sitzend dargestellt, in der Rechten hielt er einen Becher, in der Linken die Keule. Der Blick war gen Himmel gerichtet. Phönizische Glaubenstradition war in diesem Götterbild durch hellenische Kunst überdeckt. Angeblich hatte diese Statuette Alexander dem Großen gehört. Hundert Jahre nach Hannibals Ende tauchte sie in den Sammlungen Sullas, des letzten, großen, schrecklichen Corneliers, wieder auf. Später zierte sie die Kunstkabinette römischer Snobs.36 Der Lebensweg Hannibals wird nun dunkel. Das meiste, was uns noch überliefert ist, besteht in mehr oder weniger anekdotischen Erzählungen. Gortyn auf Kreta, der erste Zufluchtsort, genoß einen denkbar - 293 -
schlechten Ruf. Es war ein Sammelplatz für entlaufene Sklaven, für Verbrecher und Seeräuber, die Anlaß hatten, unterzutauchen. Immerhin schien Kreta außerhalb des römischen Machtbereiches zu liegen. Der seleukidisch-römische Friedensvertrag galt nicht für die große Insel, die im Windschatten der Geschichte lag. Es gibt eine recht albern klingende Geschichte, wie Hannibal hier seine letzten Barbestände vor der Habsucht der diebischen Gortynier geschützt haben soll.37 Danach ließ er feierlich mehrere Schatzkrüge im Tempel der Artemis aufstellen. Er hatte sie mit Blei füllen lassen, das mit einer dünnen Gold- und Silberschicht bedeckt war. Sein Geld hatte er jedoch im Inneren seiner erzenen Hausgötter verborgen. Stadtdiener von Gortyn bewachten seitdem argwöhnisch den Tempel, um der Stadt im Falle einer neuen Flucht des Exulanten dessen Schatz zu sichern. Im Jahre 189 v. Chr. landete der römische Praetor Qu. Fabius Labeo auf Kreta, um Streitigkeiten zwischen Gortyn und anderen Städten zu schlichten und um nach römischen Kriegsgefangenen Ausschau zu halten, die nach Kreta in die Sklaverei verkauft worden waren. Angeblich befanden sich auf der Insel 4.000 solcher Sklaven-Gefangenen. Gortyn zögerte keinen Moment, sich den Römern gefällig zu erzeigen, und wollte Hannibal ausliefern, der nach dem Frieden mit Antiochos III. sozusagen auf den römischen Suchlisten stand. Hannibal verschwand aus Gortyn.38 - 294 -
Zunächst scheint er Zuflucht am Hofe des Königs Artaxias von Armenien gesucht und gefunden zu haben. Auf welch abenteuerliche Weise er von Kreta zu Schiff und zu Land in das ferne Reich am Kaukasus gelangt ist, davon berichtet keine Quelle mehr. Artaxias war zwar ehemals Vasall der Seleukiden gewesen, hatte sich jedoch selbständig gemacht, und Armenien fiel nicht unter die Bedingungen des seleukidisch-römischen Friedens über die Auslieferung aller Fremden, die für Antiochos III. gekämpft hatten.39 Von Armenien aus ging er dann an den Hof des Königs Prusias I. von Bithynien im nordwestlichen Kleinasien.40 Das halbhellenistische Haus der Prusiaden war in den Diadochenkämpfen nach dem Tod Alexanders zur Macht gelangt. Bithynien galt damals mit einer meist nichtgriechischen Bevölkerung als rauhes, waldreiches Bergland. Prusias I. war ein finsterer, mürrischer Herr, der ungezählte Kriege gegen die benachbarten, weit kultivierteren Attaliden von Pergamon, Roms Verbündete, führte, dabei es aber sorgsam und schlau vermieden hatte, sich auf Auseinandersetzungen mit Rom selbst einzulassen. Im Seleukidenkrieg war er strikt neutral geblieben. Bei der Belagerung einer pontischen Festung hatte ihm die Steinkugel eines Wurfgeschützes ein Bein zerschmettert, so daß er seither stark hinkte. Dies hatte seine unsympathischen Charakterzüge womöglich noch verstärkt.41 - 295 -
Nach der Schlacht von Cannae hatte er allerdings einmal vorübergehend Beziehungen zu Hannibal gesucht, weil seine Gemahlin Apame eine Schwester des Königs von Makedonien war. Damals hatten bithynische Seestreitkräfte auch an Operationen des Schwagers Philippos V. in Griechenland und in der Adria teilgenommen. Von solchen Unternehmungen hatte er allerdings bald Abstand genommen. Und für seine Nichteinmischung in den Kriegen Roms gegen Philippos V. und Antiochos III. hatte er sich jeweils von Rom die Unversehrtheit Bithyniens garantieren lassen. Daß er dem landflüchtigen berühmten karthagischen Feldherrn Asyl gewährte und diesem ein festes Schloß bei Libyssa, an der Straße nach der bisherigen Landeshauptstadt Nikomedia zur Verfügung stellte, gehörte auch zu seiner Bauernschlauheit. Zu Rom hielt er gute Beziehungen. Für Rom war Hannibal in seiner Obhut sozusagen unschädlich gemacht. Andererseits konnte er einen hervorragenden Militär gut gebrauchen, um seinen Todfeinden, den Attaliden von Pergamon, endlich die Rechnung zu präsentieren. Das meiste, was wir über Hannibals Aufenthalt in Bithynien wissen, ist wiederum anekdotisch verzerrte Überlieferung, in der vor allem sein mürrisch-bissiges Wesen Niederschlag fand. So soll Hannibal vor einer Schlacht gegen Pergamon, bei der das Opfer ungünstig ausfiel und die Priester aus dem zuckenden Leib des Opfertieres Unheil weissagten, den König Prusias I. an- 296 -
gefahren haben: „Willst Du lieber einem Stück Kalbfleisch glauben oder einem alten Feldherrn?“43 Beruht diese Geschichte auf Wahrheit, was nicht mehr auszumachen ist, so würde sie darauf hindeuten, daß die Bitternis des alternden Mannes auch vor den Göttern nicht mehr haltmachte. Hatte sich Hannibal, in Seekriegführung an sich ganz ungeschult, schon unter Antiochos III. als Flottenbefehlshaber bewährt, so bewies er auf diesem Sektor neue Fähigkeiten im Dienst des Prusias. Er schlug die Flotte des Königs von Pergamon. Der König scheint ihn auch als Baumeister beschäftigt zu haben. Auf Hannibal geht die Anlage der neuen Landeshauptstadt Prusa (Brussa) zurück. Als diplomatischer Berater warb er dem König Verbündete unter den Keltenstämmen, die sich in Galatien (Mittelkleinasien) festgesetzt hatten, und knüpfte auch wieder neue Beziehungen zum Hof des königlichen Schwagers in Makedonien an. In diese Jahre fällt auch ein letzter Versuch Hannibals, durch Flugschriften die griechische Welt vor Rom zu warnen. Im Jahr nach der Schlacht am Berge Sipylos hatte der römische Konsul Gn. Manlius Volso eine Strafexpedition gegen die drei keltischen Volkskönige von Galatien unternommen, weil sie die Seleukiden durch die Stellung von Soldtruppen unterstützt hatten, während sie selbst offiziell neutral geblieben waren. Das Strafgericht war fürchterlich, selbst die Ehre der Königin Chiomara, der Gemahlin - 297 -
des Volkskönigs Ortiagon, den Hannibal aus Verhandlungen gekannt haben wird, war ihnen nicht heilig.44 Hannibal richtete daraufhin ein Sendschreiben an die Inselrepublik Rhodos, seine alte Gegnerin zur See und treue Bundesgenossin Roms, einen der letzten noch kraftvollen hellenischen Stadtstaaten. Er riet den Rhodiern, sich an die Spitze aller griechischen Städte gegen Rom zu stellen, weil Rom die Freiheit aller Hellenen bedrohe. Das Schreiben blieb offensichtlich ohne Echo. Unterdes nahm der bithynisch-pergamenische Zwist eine unheilvolle Wendung. Eine Gesandtschaft aus Pergamon unter dem Prinzen Athenaios reiste Anfang 183 nach Rom, um sich über den Schwager Prusias I., den makedonischen König, zu beschweren; dieser unterstütze Bithynien durch Waffenlieferungen im Krieg gegen Pergamon. Makedonische und bithynische Gesandte weilten zur gleichen Zeit in Rom. Und am Tiber konnte nicht verborgen geblieben sein, daß hinter all diesen Machenschaften wiederum wahrscheinlich Hannibal stand. T. Quinctius Flamininus, der Sieger von den ‚Hundsköpfen‘, wurde beauftragt, Frieden zwischen Bithynien und Pergamon zu stiften. Er reiste in dieser Mission an den Hof des Prusias I.; primär handelte es sich dabei kaum um ein Begehren auf Auslieferung Hannibals.45 Der König von Bithynien hielt sich für einen erzschlauen Mann. Gewissensregungen erschienen ihm in politischen Dingen gänzlich unnütz. Auf einen Kon- 298 -
flikt mit Rom konnte und wollte er sich auf keinen Fall einlassen. Wie war es darum, wenn er der römischen Mission des Flamininus, sozusagen um seinen guten Willen zu beweisen, Hannibal, seinen Heermeister, als Köder anbot? So geschah es, und T. Quinctius Flamininus begrüßte natürlich diese Gefälligkeit des Königs. Hannibal hatte in dem von ihm bewohnten königlichen Schlosse bei Libyssa sieben verschiedene Fluchtausgänge anlegen lassen, dazu einen achten Geheimgang, von dessen Existenz nur er selbst wußte (eine etwas märchenhafte Geschichte, denn irgendwelche Bauleute mußten ja den Gang eingerichtet haben). Mit einer neuen Flucht hatte er also wohl stets gerechnet. Aber auch der König war ein gewitzter Kopf. Er ließ das Schloß von Soldaten umstellen, so daß es kein Entkommen mehr gab. Es blieb nur der Tod von eigener Hand oder die Gefangenschaft in Rom. Der römische Historiker Livius hat Hannibal für seine letzte Stunde die Worte in den Mund gelegt, er wolle nun Rom von seiner ewigen Sorge befreien, weil es Rom unmöglich sei, den Tod eines alten Mannes abzuwarten …46 Daraufhin soll er den Fluch der Götter auf Prusias und sein Haus herabbeschworen haben, weil diese die den Göttern heilige Gastfreundschaft gebrochen hatten, und einen Becher Gift geleert haben. Als die Leibwächter des Königs Prusias, die Schergen des Flamini- 299 -
nus, in das Schloß eindrangen, fanden sie nur noch einen Toten vor. Das Jahr, in dem Hannibal aus dem Leben ging, ist nicht einmal sicher zu bestimmen. Wahrscheinlich geschah der letzte Akt noch zu Ende des Jahres 183 v. Chr. Möglich ist aber auch, daß sich die Tragödie erst 182 vollzog. Lange noch zeigte man sein Grab als Sehenswürdigkeit. Mit dem Untergang der antiken Welt verschwand auch das Grabmal …
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Nachwort Die Persönlichkeit und das Schicksal Hannibals haben seit der Antike nicht nur die Historiker, sondern auch die Schriftsteller und die Dichter vieler Nationen zu immer neuer Darstellung oder Deutung angeregt. Vielleicht liegt dies neben der Ungewöhnlichkeit des Lebensweges auch daran, daß die uns überlieferten Quellen über das Leben des karthagischen Feldherrn unbefriedigend und zum größten Teil von der römisch-hellenischen Geschichtsschreibung verfärbt sind. Damit ist diese außerordentliche Erscheinung der antiken Geschichte von einem Geheimnis umwoben, das wir nicht immer oder nur mit Hilfe von Hypothesen entschleiern können. Dazu kommt, daß die Geschichte der Heimatstadt Karthago zu Lebzeiten Hannibals durch die Zerstörung der phönizisch-punischen Lebenswelt bei der Erstürmung durch die Römer im Jahre 146 v. Chr. fast völlig ausgelöscht worden ist. Archäologische Funde, Münzenreste, Überbleibsel von Kultdenkmälern vermögen nur kümmerlich die fehlenden schriftlichen Zeugnisse zu ersetzen. Um so reizvoller wird die Betrachtung beziehungsweise die Ergründung der Lebens-, Glaubens- und Gedankenwelt der versunkenen königlichen Großstadt auf dem Boden der heutigen Republik Tunesien. Für uns Deutsche erlangte Hannibal als Feldherr spezifische Bedeutung, als der verabschiedete Chef des - 301 -
preußischen Großen Generalstabes, Generalfeldmarschall Graf v. Schlieffen, in den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg daranging, aus dem Studium der ersten klassischen Umfassungschlacht der Weltgeschichte, Hannibals Sieg über die Römer bei Cannae 216 v. Chr., Beweise für die Richtigkeit seines Aufmarschplanes gegen Frankreich, eben des ‚Schlieffenplanes‘, zu gewinnen. Für die Deutschen, die sich nach dem verlorenen ersten Weltkrieg 1919 mit der Legende vom ‚Dolchstoß‘ der schwächlichen, vergifteten Heimat gegen das siegreiche Frontheer zu trösten versuchten, gewann Hannibals Kampf in Italien gegen Rom eine besondere Anziehungskraft. Der von der Heimat im Stich gelassene, immer siegreiche Feldherr wurde als Beispiel brennend interessant. Aber schon Theodor Mommsen hatte in seiner ‚Römischen Geschichte‘ diese angebliche Tragödie angedeutet, die dann in den Anfängen der nationalsozialistischen Ära noch einmal hochgespielt wurde. Der vor mehr als 2.100 Jahren durch Selbstmord geendete Feldherr wurde beinahe zu einem Politikum. Uns interessiert heute die Frage, wie das nun alles wirklich gewesen ist, und im Zusammenhang damit als zweite Frage, wieweit sich Hannibals Bild noch aus den Quellen herausheben läßt. Die uns zur Verfügung stehenden Quellen aus antiker Zeit enthalten nirgends einen ausführlichen Lebenslauf, abgesehen von der Kurzbiographie des Cornelius Nepos, der mit Cicero und - 302 -
Catull befreundet war und im letzten vorchristlichen Jahrhundert schrieb. Wir kennen die Namen hellenistischer Schriftsteller, die – zu unbekannter Zeit – über Hannibal geschrieben haben: Sosylos von Sparta, Silenos von Kale Akte, beide ehemals Angehörige seines Stabes, Chaireas1, Eumachos von Neapel und Xenophon, der keinesfalls mit dem berühmten der ‚Anabasis‘ zu verwechseln ist. Von Sosylos und Silenos sind bisher nur Fragmente oder im Rückschluß auslegbare Zitate auf uns gekommen.2 Punisch-phönizisches Schrifttum über Hannibal ist, wenn es existiert hat, bei der Zerstörung des alten Karthago 146 v. Chr. untergegangen. Flugschriften von der Hand Hannibals, die er sicher in griechischer Sprache verfaßte, sind mit einer einzigen Ausnahme und einer romanhaften Überlieferung nicht auf uns gekommen.3 Hannibals Bild ist uns in der Sicht spätgriechischer, sich an Rom orientierender Historiker oder streng römisch-konservativer Schriftsteller und Historiker überliefert. Die hervorragendsten sind Polybios und Livius, deren Werke nicht vollständig erhalten sind. Sie fußten natürlich auf älteren Autoren und auf Aktenbeständen, die sämtlich verloren sind. Wir können vermuten, daß die ersten Biographien Hannibals, mindestens die des Silenos von Kale Akte, noch im Stil der Lebensbeschreibungen hellenistischer Soldatenherrscher, der Nachfolger Alexanders, abgefaßt worden sind. Ein später Nachhall davon findet sich noch in den ‚Totenge- 303 -
sprächen‘ des Lukianos von Samosata, der im 2. nachchristlichen Jahrhundert schrieb. Es gibt darüber hinaus in der antiken Literatur einen reichen Schatz von Legenden. Wir haben die Erzählung vom Essig, den Hannibal zum Sprengen von Felsgestein in den Alpen verwendet haben soll. Wir haben eine andere spannende Geschichte von der Begegnung zwischen Hannibal und seinem Besieger Scipio Africanus d. Ä. vor der letzten Entscheidungsschlacht am Berge Sypylos in Kleinasien, an der Hannibal nicht mehr beteiligt war. Diese Dinge sind in unserer Darstellung nicht berücksichtigt worden.4 Die römische Geschichtsschreibung hat uns das Bild vom ewig römerhassenden karthagischen Adelshaus der Barkas, der ‚Löwenbrut‘, übermittelt. Polybios, der im Stabe des jüngeren Scipio Africanus Zeuge der Vernichtung des alten Karthago im Jahre 146 geworden war, hat dies Bild bei allem Bemühen um eine faire Beurteilung Hannibals zuerst entworfen. Dabei ging er wohl von den vielleicht vernünftigsten oder gar prohannibalischen Schriften des Silenos von Kale Akte und des Chaireas aus. Das verrät noch seine heftige Polemik gegen diese Biographen. Für Polybios war Geschichte nach dem Vorbild des Thukydides nur verständlich, wenn alles Geschehen unter einem inneren, scheinbar logischen Gesetz und Zusammenhang stand. Gesetz war der unaufhaltsame Aufstieg Roms zur Weltmacht, den Hannibal zu verhindern bestrebt gewesen - 304 -
war. Über solcher Geschichtsdeutung mag Polybios Trost im Hinblick auf sein eigenes Schicksal gefunden haben. Die Römer hatten diesen Abkömmling einer alten Adelsfamilie aus Megalopolis nach Rom verschleppt. Theodor Mommsen, dieser geniale deutsche Historiker des 19. Jahrhunderts, hat einst das Bild vom ‚Helden‘ entworfen, den derben Holzschnitt von der nationalen Barkidenfamilie, die in Spanien für das Vaterland ein neues Kolonialreich gründen wollte, um den Revanchekrieg gegen Rom zu führen. Inzwischen ist die Forschung weitergegangen: Die großartigen Gemälde von der Historie sind oft zu prächtig, um wahr zu sein.5 Zwei Anmerkungen sind noch zu machen: Mit absoluter Sicherheit läßt sich bis heute keine Büste, kein Münzporträt in unseren Museen und Sammlungen auf Hannibal deuten. Wir haben darum verzichtet, diesem Band Abbildungen beizugeben, die nur unsichere Hoffnungen erwecken können. Wir müssen uns mit den Schilderungen begnügen, die die antiken Schriftsteller von den physischen Eigenschaften Hannibals überliefert haben.6 Keine Quelle geht auf die Mutter Hannibals ein. Für denjenigen, der sich mit Adelsgeschichte befaßt, ist jedoch die Auffächerung des Stammbaumes stets von großer Bedeutung. Wir müssen uns mit der Feststellung begnügen, daß in der phönizisch-altorientalischen Welt Karthagos nur der Vatername im Stammbaum - 305 -
galt. Wir können im Rückschluß die Vermutung hegen, daß die antiken Schriftsteller sicher ein Moment nicht unerwähnt gelassen hätten: eine Herkunft der Mutter aus griechisch-sizilischem oder aus numidisch-berberischem Geschlecht. Daß es Mischehen zwischen karthagischem und sizilisch-griechischem, syrakusanischem Adel und mit numidischen Fürstenhäusern gegeben hat, wissen wir aus der Geschichte des Hauses Barkas selbst.7 Es hat eine Zeit in Deutschland gegeben, die dazu neigte, Hannibal als Vertreter hellenischen Geistes im phönizisch-punischen Milieu Karthagos zu deuten. Als der Verfasser dieser Arbeit 1935 eine erste Studie über Hannibal veröffentlichte, in der Manier einer ‚biographie romancée‘ wurde ihm nahegelegt, Hannibal, als potentiellen Hellenen, in jedem Fall wenigstens mit blondem Haar zu schildern. Die (nicht befolgte) Empfehlung mag die Zeitgebundenheit aller Geschichtsdeutung verdeutlichen. Wir sind zu anderen Ufern vorgestoßen. Zum Schluß ist es dem Verfasser ein aufrichtiges Bedürfnis, eines Mannes zu gedenken, dem er an Anregung und auch an Kritik viel zu danken hat: Professor Wilhelm Hoffmann, zuletzt Ordinarius für alte Geschichte in Tübingen, vordem lange in Hamburg und später in Gießen. Wilhelm Hoffmann war einer der besten Kenner der Geschichte Karthagos zur Zeit Hannibals und dessen Persönlichkeit. Er ist im Jahre 1969 – - 306 -
zu früh – verstorben. Er hat um diese Arbeit gewußt, an deren Publikation lange gearbeitet worden ist. So bleibt heute nur der Dank post mortem. W. G.
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Anmerkungen
I. Karthago und Rom: Der erste Zusammenprall 1
Zur Geschichte des Hauses Barkas vgl. vor allem die neue Arbeit des französischen Hannibal-Experten Gilbert Charles-Picard: Hannibal (Paris 1967), S. 13-40, künftig zitiert als GCP/Hannibal.
II. Hamilkar Barkas – Retter Karthagos 1
Über Karthago im allgemeinen vgl. u.a. das Werk von Stephan Gsell: L’Histoire ancienne de l’Afrique du Nord (Tome I-IV, Paris 1912-1929), künftig zitiert als Gsell, ferner Rom und Karthago. Ein Gemeinschaftswerk, hrsg. v. Joseph Vogt (Leipzig 1943), künftig zitiert mit Einzelbeiträgen als RuK., Gilbert Picard: Das wiederentdeckte Karthago. Übers. v. S. v. Claes-Rheden (Frankfurt 1957), künftig zitiert als Picard, sowie Gilbert und Colette Charles-Picard: So lebten die Karthager zur Zeit Hannibals. Übers. v. S. v. Claes-Rheden (Stuttgart 1959) künftig zitiert als Charles-Picard. Über die im folgenden erwähnte Byrsa: Appian, Lib. I 128, 130, Strabo XVII 3, Florus I 31, Orosius IV 22, Zonaras IX 30. 2 Ausführlich beschreibt Diodor XX 13 seinen Kult. Kinder wurden auf die nach oben flach ausgestreckten Handflächen des riesigen, erzenen Götterbildes gelegt und rollten von dort in einen im Inneren befindlichen Glühofen. Vgl. auch CharlesPicard, S. 37 ff. 3 Plinius n. h. VI 200. Andere haben die Lebewesen, von denen die Trophäen stammten, für Pygmäen halten wollen. Vgl. auch Charles-Picard, S. 37 ff. 4 Vgl. Reinhard Herbig: Das archäologische Bild des Puniertums (RuK., S. 139 ff.). Dgl. Charles-Picard, S. 131 ff. 5 Aristoteles pol. II 11 bildet unsere Hauptquelle für die karthagische Verfassung, neben Einzelangaben und Urteilen bei Polybios, Livius und Justinus. Vgl. den Artikel Ehrenberg: Sufeten in RE IV A 1 Sp. 643 ff., H. Lüdemann: Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte Karthagos bis auf Aristoteles. (Diss. Jena 1932), Alfred - 313 -
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Heuss: Die Gestaltung des römischen und des karthagischen Staates (RuK., S. 83 ff.). A. Heuss widerspricht dort der These Lüdemanns von einer Stadt-Dynastie vor dem Sufetat. Vgl. CharlesPicard, S. 193 ff., ferner die neuesten Untersuchungen von Gilbert Charles-Picard: Les sufètes de Carthage dans Titus Livius et Cornelius Nepos (Révue des Etudes Latines XLI 1964, S. 269-281) und seine Darstellung in Hannibal, S. 63 ff. über Stadtkönigstum und Sufetat. Über Mago d. Gr. vgl. Gsell II, S. 186 f. Über das Wesen der Pentarchien sind die verschiedensten Vermutungen angestellt worden. Vgl. Gsell II, S. 209 f., Meltzer: Geschichte der Karthager (1879) II, S. 57. Hennebert: Histoire d’Annibal I, S. 260, vergleicht sie mit aristokratisch-politischen Klubs. Fraglos aber wurde in diesen Gremien politische Ausschuß-Arbeit geleistet. Über Mago und sein Lehrbuch vgl. Charles-Picard, S. 89 ff. Silius Italicus III 23-27. Vgl. auch Charles-Picard, S. 72 ff. Trogus XX nennt den wahrscheinlichen Stammvater der Familie Hanno, der um die Mitte des 4. Jahrhunderts lebte und wohl in der Schlacht am Flusse Krimisos gegen den Tyrannen Timoleon von Syrakus 339 v. Chr. den Tod fand. Offenbar hat schon er den Beinamen ‚der Große‘ geführt, der dann in der Familie für das Oberhaupt erblich wurde. Vgl. Gsell II, S. 245 f. über diesen Hanno. Gsell II, S. 253 (Anm. 5), hält jedoch den familiären Zusammenhang beider Hannos, des im Krieg gegen Timoleon gebliebenen und des Gegenspielers der Barkiden, keineswegs für gesichert. Über Trachten der Kelten (Gallier) vgl. Diodor V 30. Vgl. Aelian n.a. XIII 9. über die Ausrüstung eines Kampfelefanten. Gsell II, S. 407, ähnlich Gavin de Beer: Alps and Elephants (London 1955) glauben freilich nicht, daß die karthagischen und speziell die hannibalischen Kriegselefanten Kampftürme getragen hätten, eine These, die der Autor der Biographie nicht teilt, weil der höchste Effekt des Einsatzes von Elefanten eben in der Mischung von tierischer Rasanz und lockernder Schüt- 314 -
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zenwirkung vom Turm aus lag, der dem anstürmenden Riesentier schon den Weg bahnte. Vgl. auch Tarn: Hellenistic military (1930), S. 94 f. Das Vorhandensein des Elefanten im antiken Nordafrika bezeugen u.a. Hanno Periplus 4 (Geogr. gr. min. I, S. 3), Aristoteles de caelo II, 14, 15, Agatharchides (Geogr. gr. min. I, S. 117), Polybios XII 3, 5, Plinius n. h. VIII 31, Manilius IV 664 u.a.m. Polybios gibt im I. Buch seiner Geschichte die wohl beste, auf uns gekommene Darstellung des Söldnerkrieges. KromayerVeith: Antike Schlachtfelder III 2 gibt die Rekonstruktion der Schlachten. Polybios I 78 erwähnt die Ehe zwischen der Tochter Hamilkars, mithin einer Schwester Hannibals, mit dem numidischen Fürsten Naravas. Eine Tochter aus dieser Verbindung ist offenbar die bei Livius XXIX 29 erwähnte Nichte Hannibals, welche in erster Ehe mit dem numidischen Fürsten Oesalces, in zweiter Ehe mit dem numidischen Fürsten Mazaetullus vermählt gewesen ist. (?) Diodor XXV fr. 8 sagt, Hamilkar Barkas habe sich aus niedersten Motiven mit dem gemeinsten Gesindel verbündet. In dieser Aussage steckt natürlich ein gehörig Stück altrömischer Propaganda. Die römische Geschichtsschreibung unterstellte den Barkiden einen lang geplanten Angriffs- und Revanchekrieg, unausgesprochen stand dahinter die Ansicht, daß jeder Krieg gegen Rom als ‚bellum iniustum‘ anzusehen sei. Damit konnte man dem angeblichen Aggressor absolute moralische Minderwertigkeit bescheinigen. Valerius Antias IX 3, 2. Nach diesem Autor hat Hamilkar Barkas vier (!) Söhne gehabt. Uns sind drei Söhne sicher bezeugt: Hannibal, Hasdrubal, Mago. Hennebert (Histoire d’Annibal I, S. 236) spricht gleichfalls von vier (!) Söhnen. Historisch gesichert sind nur drei Söhne, wie oben zitiert. Wenn Livius XXIX 34 einen Reiter-Kommandeur namens Hanno, Sohn Hamilkars, erwähnt, so war dieser eben der Sohn eines anderen Hamilkar. - 315 -
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Wäre dieser Reiter-Befehlshaber ein Bruder Hannibals gewesen, hätte gerade Livius dies erwähnt, dieser Rückschluß ist erlaubt. Vgl. zur neuesten Quellenkritik u.a. Wilhelm Hoffmann: Hannibal und Rom (‚Antike und Abendland‘, Band VI/1957, S. 7 ff.) und die Kurzbiographie Hannibals vom gleichen Verfasser: W. Hoffmann: Hannibal (Göttingen 1962). Vgl. auch Verweise i.d. folgenden Kapiteln.
III. Vizekönige in Spanien 1 2
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Über karthagische Männertracht vgl. Charles-Picard, S. 137 ff. Zur Rüstung karthagischer schwerer Infanterie s. Charles-Picard, S. 198 f. und S. 269 mit Hinweisen auf weiterführende Literatur, Grabungsfunde, Stelen usw. Vgl. auch Plutarch Tim. c. 27, wo 10.000 Geharnischte mit weißen Schilden und Rüstung im karthagischen Heere erwähnt werden, und c. 28, wo Plutarch die karthagische Hoplitenrüstung beschreibt: Harnisch, eherner Helm, großer Schild. Ein Bronzepanzer aus dem 4. oder 3. Jh., sicher campanischer Herstellung, hat sich in Ksour es Saf in Nordafrika gefunden. Auch die schwere Reiterei war griechisch gerüstet, wie eine kleine Reiterfigur beweist (vgl. Catalogue illustre du Musée Lavigerie de St. Louis de Carthage von R. P. Delattre). Iberische Söldner hatten beispielsweise bereits unter dem Magoniden Hannibal, Sohn des Geskon, an der Erstürmung der griechischen Städte Selinus und Himera im Jahre 409 v. Chr. teilgenommen, eine der glänzendsten Waffentaten karthagischer Söldnerheere vor den Feldzügen Hannibals. Zum Äußeren numidischer Reiterei: Vgl. die Stelen von Constantine bei L. Leschi: Algérie antique, S. 196, zitiert auch bei Charles-Picard, S. 199. Die Pferde waren ungesattelt, sie wurden nur mit einem Zaum (einer Art Trense?) gelenkt. Auch Livius XXI 44 kennt diese Eigenart der numidischen Reiter. Die Geschichte vom Eid Hannibals findet sich bei Polybios III 11, Livius XXI 1, XXX 19, Cornelius Nepos Hann. 2, Valerius - 316 -
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Antias IX 9, 2, Martial IX 44, Silius Italicus Pun. I 81-143, Florus II 62, Orosius IV 14, Aurelius Victor de vir. ill. 42. S. auch Eberhard Zeller: Hannibal (1947), S. 114. Auch der schärfste Kritiker der Überlieferung, Wilhelm Hoffmann, hält das Geschehen für möglich, meint aber, der Erzählung komme ein streng urkundl. Wert nicht zu. (Vgl. W. Hoffmann: Hannibal und Rom [‚Antike und Abendland‘ VI/1957, S. 77 ff.] und Hannibal, S. 36 f.) Hoffmann weist darauf hin, nach der ältesten Version habe Hannibal selbst diese Geschichte erst sehr spät, als er nach Unterredungen mit dem römischen Gesandten Vibius Villius in Apameia 193 v. Chr. beim seleukidischen König Antiochos in Verdacht der Römerfreundlichkeit geraten sei, erzählt. Hoffmann bezweifelt, daß sich die Eid-Geschichte schon bei Sosylos oder Silenos gefunden hat, er fragt weiter, wer denn diese Geschichte nach dem Gespräch zwischen Hannibal und Antiochos eigentlich preisgegeben hat, Hannibal selbst, der Großkönig oder einer von dessen Vertrauten? Hoffmann macht auch klar, daß die Geschichte vom Eid in der Jugend in der Sicht romfreundlicher Historiker, wie Polybios, natürlich ein Mittel zum Zweck gewesen ist, Hannibal nur als unabänderlich festgelegten Vollstrecker des väterlichen Willens erscheinen zu lassen. Diese Überlegungen haben einiges für sich! Aber der Eid, niemals den Römern wohlgesonnen zu sein, beinhaltet doch nicht die Verpflichtung, mit allen Mitteln nach Krieg gegen Rom zu streben, sondern ist ein Schwur, der zu stetem Mißtrauen verpflichtet. Solch ein Eid mußte doch nicht a priori eine Festlegung im politischen Handeln Hannibals bedeuten. Und wenn dieser, was anzunehmen ist, die Eidesformel lange als sein Geheimnis gehütet hat, so zeigt dies doch nur, daß er den Eid als das aufgefaßt hat, was er war: Verpflichtung zu Mißtrauen und Wachsamkeit. In Apameia hatte Hannibal selbst alles Interesse daran, daß die Geschichte nun bekannt wurde. Die Auslegung, die Polybios und die späteren antiken Autoren dem Geschehnis gaben, ist wieder eine andere Sache. - 317 -
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Zu den römisch-karthagischen Verträgen in alter Zeit vgl. Fritz Taeger: Völker- und Rassenkämpfe im westlichen Mittelmeer (RuK., S. 44 ff.). Die Frage, ob die Karthager schon vor Hamilkar in Spanien ein Reich besessen haben, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Vgl. dazu: Hoffmann, Hannibal, S. 25, und Grimal, Pierre (Hg.), Der Hellenismus und der Aufstieg Roms. Die Mittelmeerwelt im Altertum II. (= Fischer Weltgeschichte, Bd. 6, Frankfurt 1965), S. 329 f. Hoffmann vertritt die Ansicht, die karthagische Herrschaft habe sich im wesentlichen auf einige Stützpunkte an der spanischen Küste beschränkt (etwa von Gades im Westen bis zum Kap de la Nao im Osten). In dem von Grimal herausgegebenen Fischer-Bändchen hören wir dagegen von einem großen karthagischen Reich in Südspanien. Karthago habe aufwendige Kämpfe gegen eingeborene Bevölkerungsgruppen führen müssen und sich auch ständig der von Massalia (Marseille) ausgehenden Unternehmungen griechischer Seefahrer zu erwehren gehabt. Das Reich sei wahrscheinlich im Verlauf des Ersten Punischen Krieges verlorengegangen. Es wird die Vermutung geäußert, dieser Krieg habe Karthago daran gehindert, den lokalen Erhebungen scharf entgegenzutreten. Noch Plutarch de r. p. ger. III 6 schildert den karthagischen Volkscharakter folgendermaßen: gallig, unfreundlich, unterwürfig gegenüber Herrschenden, hart gegen die Untergebenen, trocken, schwunglos, maßlos im Zorn wie in der Furcht, Scherzen abgeneigt. Vgl. auch Erich Burck: Das Bild der Karthager in der römischen Literatur (RuK., S. 332 ff.). Vgl. GCP/Hannibal, S. 79 ff. Vgl. Zeller: Hannibal, S. 110 ff. Tacitus Agric. 2. Polybios, Fragm., beschreibt die Kampfesweise eingeborener spanischer Reiterei beim Fußgefecht. Die Pferde waren so abgerichtet, daß sie in Reih und Glied stehenblieben, wenn ihnen die Reiter die Zügel über den Kopf zogen und die klei- 318 -
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nen, an diesen befestigten Holzpflöcke in den Boden steckten. Die Tiere warteten dann geduldig, bis die Reiter wieder aufsaßen. Nach Zonaras VIII 24 hat Hannibal viele Sprachen beherrscht. Die Werke des Königs Pyrrhos werden erwähnt bei Plutarch Pyrrh. 8, Aelian Tactic. c. I, Cicero ep. ad. div. IX 25, Dionysios Halicarn. XX 10. Zu den Ephemeriden, den Kriegstagebüchern Alexanders, die Ptolemaios I. Soter in seinem Werk über diesen benutzt hat, vgl. die Biographie v. J. F. C. Fuller: Alexander der Große als Feldherr (Stuttgart 1961). – Was den oben erwähnten Philinos von Akragas angeht, so schrieb dieser sowohl über den Söldnerkrieg als auch den Ersten Punischen Krieg. Zur ersten Gesandtschaft Roms an Hamilkar vgl. Hoffmann: Hannibal, S. 24 ff. Über iberische Kriegstrachten s. Diodor V 33. Hamilkars Tod ist verschieden überliefert. Appian Ib. 3 schildert den Angriff der Iberer hinter den Ochsenwagen. Tarn (Hellenistic military, 1930, S. 92 f.) meint, Hannibal habe sich später dieser iberischen List im Gefecht am Paß von Callicula, 217 v. Chr., entsonnen. Übrigens griffen noch die Hottentotten 1510 die portugiesischen Truppen Don Francesco d’Almeidas in Südafrika hinter einer Ochsenherde an und brachten ihnen eine schwere Niederlage bei (Tarn ebd.). Diodor hingegen läßt Hamilkar sich freiwillig opfern, um das Leben der im Lager befindlichen Söhne zu retten. Er soll zu Pferde den Tod in den Fluten eines Flusses gesucht haben. Diese Version gemahnt stark an den freiwilligen Tod des Magoniden Hamilkar am Tag der verlorenen Entscheidungsschlacht gegen die Griechen auf Sizilien 480 v. Chr. Zufolge Herodot VII 166 stürzte sich Hamilkar in einen brennenden Scheiterhaufen. Wahrscheinlich bietet Appian die bessere Überlieferung. Polybios II 1 sagt ausdrücklich, Hamilkar habe in der Schlacht den Tod eines Tapferen gefunden, ebenso Corn. - 319 -
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Nep. Hann. c. 4. Sicher ist in jedem Fall der Verrat eines der verbündeten Fürsten vom Stamm der Oretaner. Polybios III 8, 2-4 gibt an, Hasdrubal habe zu Beginn seiner Herrschaft in Spanien versucht, in Karthago eine Verfassungsänderung durchzusetzen. Als Gewährsmann dafür nennt er den ersten römischen Annalisten, Fabius Pictor. Über diesen vgl. Peter Bung: Q. Fabius Pictor. Der erste römische Annalist. Untersuchungen über Aufbau, Stil und Inhalt seines Geschichtswerkes an Hand von Polybios I-II (ungedr. Diss., Köln 1950). Bung hält immerhin einen erheblichen Antagonismus gegen Karthago bei Hasdrubal für möglich, ebenso bei Hannibal. Ob Hasdrubal das Eingreifen in Numidien zu weitergehender Aktivität in Karthago ausgenutzt hat, ist nicht mehr zu entscheiden. Zu vermuten ist es bei einem so vorsichtigen Politiker nicht. Vgl. auch De Sanctis (Storia dei Romani III 1, S. 409). Livius XXI 3 führt dagegen aus: Hannibal sei erst von seinem Schwager als Jüngling nach Spanien gerufen worden, aus keinem anderen Grund, als ihn homosexuell zu mißbrauchen, wie es einst sein Schwiegervater mit ihm, Hasdrubal, selbst getan habe. Solches mag Hanno d. Gr. in Karthago erzählt haben. Das entspricht römischer, schon von griechischem Ungeist erfaßter Überlieferung. Wir haben keinen Anlaß anzunehmen, die Päderastie sei in Karthago so allgemein üblich gewesen wie im alten Griechenland. Vgl. Charles-Picard, S. 158. Livius XXIV 41 berichtet, Hannibal sei mit einer Spanierin aus Castulo, der Stadt der Oretaner, vermählt gewesen. Silius Italicus nennt in seinem Epos Punica diese Frau Imilke, ein Name, der punisch klingt. Sofern er überhaupt historisch ist, müßte ihn diese Dame bei der Heirat angenommen haben. Silius weiß weiter von einem Sohn aus dieser Ehe. Wenn er überhaupt existiert hat, muß er früh gestorben sein, wie wahrscheinlich auch die Mutter. Wir hören nie von einer Familie Hannibals oder von Nachkommen. Hätten Frau oder Sohn noch gelebt, als der jüngere Scipio 209 V. Chr. Neu-Karthago - 320 -
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einnahm, wäre solch kostbares Beutegut sicher erwähnt worden. Der griechische Herakles von Gades meint den punischen Gott Melkarth, eine Bezeichnung, die ‚König der Stadt‘ bedeutet. Zur Münzprägung der Barkiden s. auch E.S.G. Robinson Essays in Roman Coinage, pres. to H. Mattingly 1956, S. 34 ff., wo sich der Verf. i. d. Festschrift f. Mattingly mit diesem Problem befaßt. M.E. würden Herrscherbildnisse auf Münzen einen völligen Umsturz im Denken dieser doch sehr konservativen orientalischen Adelsschicht bedeuten, für die die Abbildung von Menschen sozusagen wider alle Tradition war. S. auch Nachwort Fn. 6 zu möglichen Bildnissen von Hannibal; Hoffmann: Hannibal, S. 24 ff. Vgl. GCP/Hannibal, S. 104 ff. Vgl. Plinius n. h. XXXIII 97 über die Grube von Baebelo. Zum Problem des Ebrovertrages vgl. u.a. Peter Bender: Untersuchungen zur Vorgeschichte des 2. Punischen Krieges (ungedr. Diss., Hamburg 1954), W. Hoffmann: Hannibal, S. 32 f., und speziell zur Jucar-These GCP/Hannibal, S. 96 u. 264 f. mit Verweisen auf die Arbeiten von Jerôme Carcopino und den Auseinandersetzungen über die einschlägige Literatur. Charles-Picard macht darauf aufmerksam, daß Carcopinos und seine Deutung des Hiberus/Iberus-Problems, daß es nämlich in römischer Sicht zwei Flüsse des Namens Iberus gegeben habe, einen nördlichen (Ebro) und einen südlichen (Jucar), bisher keineswegs einhellig von der Fachwelt übernommen worden ist. Gleichwohl macht seine scharfsinnige Beweisführung klar, daß die Römer unter dem von ihnen Iberus/Hiberus genannten Strom keineswegs den heutigen Ebro verstanden haben können. Wäre im Vertrag der heutige Ebro gemeint gewesen, hätte Hannibal seine Expedition gegen Sagunt auch sehr viel leichter und einleuchtender verteidigen können, als dies hernach der Fall war. Fritz Taeger meint hingegen (Das Altertum. Geschichte und Gestalt der Mittelmeerwelt, 6. Aufl. Stuttgart 1958, Bd. 2, S. 516520), der Vertrag von 226 beziehe sich eindeutig auf den Ebro. - 321 -
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Sagunt und die alten Griechenstädte südlich der Ebromündung seien gar nicht Gegenstand von Verhandlungen gewesen. – Im Winter 220/19 war eine römische Gesandtschaft in Cartagena eingetroffen, man verlangte von Hannibal, jeden Angriff auf Sagunt zu unterlassen und den Ebro nicht zu überschreiten. Taeger konstatiert, nur die letzte Forderung sei durch den Ebrovertrag gerechtfertigt, Sagunt hingegen sei keinesfalls Vertragsobjekt gewesen. Das Bündnis zwischen Rom und Sagunt sei höchstwahrscheinlich erst 220/19 durch eben jene Gesandtschaft abgeschlossen worden, von der Hannibal in Cartagena aufgesucht worden war. Livius XXI 4, 5-9. Zitiert auch b. E. Burck (RuK., S. 332 ff.). Vgl. die bereits zitierte Untersuchung von Fuller: Alexander der Große als Feldherr, dazu auch die Schlacht-Analysen, S. 125 ff. Cornelius Nepos, Hann. c. 13 gibt an, Sosylos habe Hannibal in der griechischen Sprache unterwiesen. Ebenso bezeugt Dio Cassius fr. 52, 5, daß Hannibal gut griechisch sprach. Auch hören wir nie von Dolmetschern im Verkehr mit Griechen. Cicero de or. II 18, 75 meint dagegen, Hannibal habe nicht besonders gut griechisch gesprochen. Lukian, Totengespräche XII, äußert, Hannibal habe keinerlei feinere griechische Bildung besessen. Eine frühe Quelle für solche Verdächtigung des ‚Barbaren‘ findet sich in einem fingierten Brief Hannibals an die Athener, erdacht für die Zeit nach Cannae 216 v. Chr., der – vielleicht aus einem verschollenen hellenistischen Briefroman über den 2. Punischen Krieg, in einer Anthologie fingierter Briefe auf uns gekommen ist. Vgl. R. Merkelbach: Anthologie fingierter Briefe Nr. 129, Griechische Papyri der Hamburgischen Staats- u. Universitätsbibliothek (Hrsg. v. Seminar f. Klass. Philologie, Hamburg 1954). Dio Cassius lobt ausdrücklich Hannibals griechische Bildung! Aeneas der Taktiker schrieb vermutl. im 3. Jahrhundert. Vgl. sein Werk Von der Belagerungskunst (Griechische Kriegsschriftsteller, hrsg. v. Köchly u. Rüstow, Bd. 1, Leipzig 1853). - 322 -
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Über Fackeltelegraphie: Hannibals Feuer-Relais-Post erwähnen Livius XXII 19, 6 und Plinius n. h. II 181 und XXXV 169. Vgl. auch den Art. Nachrichtenwesen RE XVI 2 Sp. 1503 f. Was im folgenden Pyrrhos betrifft, so bezeugt Athenaios Poliorc. XXXI 6, daß Pyrrhos auch Poliorcetica geschrieben hat. W. Hoffmann vermutet erheblichen Einfluß der Taten Alexanders auf Hannibal und dessen Feldzugsplanung. Appian Ib. 8, Anm. 2. Polybios II 36. Livius XXI 2 schildert die Geschichte vom Sterben des Mörders Hasdrubals.
IV. Der große Krieg beginnt … 1
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Natürlich muß man annehmen, daß Hannibal, Sohn eines semitischen Volkes, der Phönizier, schwarze Haare gehabt hat. Hennebert I., S. 248 vermutet freilich, er habe aschblondes Haar gehabt. Solche Vermutung bleibt unverständlich. Vgl. zur Vorgeschichte des 2. Punischen Krieges P. Bender: Untersuchungen zur Vorgeschichte des 2. Punischen Krieges, und W. Hoffmann: Hannibal, S. 42 ff. – E. Zeller, der nach dem Zweiten Weltkrieg das letzte populäre Werk über den Karthager veröffentlicht hat, hält freilich noch ganz an der älteren Tradition fest, vgl. S. 122 ff. S. auch: GCP/Hannibal, S. 121 ff. Polyaen VII 48. Dazu W. Hoffmann: Hannibal, S. 41 f., dessen Urteil der Verf. hier folgt. Zum äußeren Aussehen Hannibals vgl. Fn. 1 zu diesem Kap. Vgl. die Schilderung bei Zeller, S. 122 ff. Hängt dieser noch der älteren Version der Gesamtdeutung Hannibals an, so folgt er doch sehr gut der antiken Überlieferung – allerdings kritiklos! Kundschafter Hannibals sind bezeugt bei Livius XXI 13, gegenüber Polybios freilich einer weit späteren, absolut nationalrömischen Quelle. Daß es solche Erkundungstätigkeit gegeben hat, möchte der Verf. annehmen. Nur wird man einzelne Aktivitäten im Ergebnis nicht zu hoch veranschlagen dürfen. Dar- 323 -
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auf deuten schon die vielen unerwarteten Schwierigkeiten hin, die Hannibal beim Übergang über die Alpen und beim ersten Einbruch in die Poebene erleben mußte. Auch war die Zeit zu kurz für eingehende Verhandlungen mit den vielen keltischen Stämmen – bedenkt man allein die Dauer der Reisen solcher Agenten. Vgl. P. Bender, S. 6. S. auch GCP/Hannibal, S. 138 ff. Vgl. P. Bender, S. 33 f. – Bender und W. Hoffmann fragen sehr richtig, wie sich die großen Schwierigkeiten mit keltischen Stämmen beim Alpenübergang und die sich daran anschließenden Kämpfe mit den Taurinern im Gebiet des heutigen Turin erklären ließen, wenn tatsächlich im Winter 219/18 keltische Unterhändler in Neu-Karthago geweilt hätten. Nach Ansicht des Verf. braucht beides einander nicht auszuschließen. Weder die Keltenstämme in Gallien noch diejenigen in Oberitalien bildeten eine Einheit. Was Hannibal etwa mit einem Volke oder Stamm aushandelte, galt beileibe nicht schon für die Nachbarn! Erfolgreiche Fühlungnahmen mit Oberitalien müssen sich auf den Stamm der Boier beschränkt haben, dessen Gesandtschaft dann auch Hannibal an der Rhône begegnete (vgl. dazu auch Bender). Über Hannibal Monomachos Polybios IX 24,5 und RE VIII, Sp. 2351. Untaten dieses Offiziers sind mehrfach in der antiken Literatur, auf Grund der Namensgleidhheit, dem großen und viel humaneren Namensvetter zugeschrieben worden. Zum Problem und zur Datierung der Entwicklung im Jahre 218 v. Chr. vgl. heute die neuesten gründlichen Untersuchungen v. P. Bender, S. 33 ff. und W. Hoffmann: Hannibal, S. 44 ff. Was die Kriegsschuldfrage beim 2. Punischen Krieg anbetrifft, so haben hervorragende deutsche wie italienische Historiker, Theodor Mommsen, Eduard Meyer, De Sanctis, die Ansicht geäußert, seit Hamilkar Barkas hätten die Barkiden den großen Revanchekrieg gegen Rom geplant und vorbereitet, kein anderes Ziel hätten sie gekannt. Der Verf. gesteht, daß auch er lange - 324 -
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dieser These angehangen hat, obwohl auch ältere gegenteilige Ansichten in der Literatur vorliegen. Zu halten ist diese These nicht. Vgl. z. B. Gilbert: Rom und Karthago in ihren gegenseitigen Beziehungen (Leipzig 1876), Meltzer: Geschichte der Karthager II, S. 393-456, V. Ehrenberg: Karthago (Morgenland 14/1927), J. Kromayer: Hannibal als Staatsmann (HZ 103/1909, S. 273 ff.) und E. Groag: Hannibal als Politiker (Wien 1929), S. 17 ff. E. Groag (S. 76) sagt wörtlich: „Hannibal trägt vor der Geschichte nicht die furchtbare Verantwortung, diesen Krieg hinaufbeschworen zu haben …“ Eins ergibt sich heute ganz klar: Hannibal mußte, als Oberbefehlshaber und Generalstabschef, seit der römischen Gesandtschaft bezüglich des Falles ‚Sagunt‘ Überlegungen anstellen, wie man überhaupt verfahren müsse bzw. verfahren könne, falls es jetzt zum neuen Krieg mit Rom käme. Sofern er, wie der Verf. annimmt, den Eid in seiner Jugend geleistet hat, niemals den Römern wohlgesonnen zu sein, so meinte dieser Eid jetzt doppelte Wachsamkeit und Vorbereitung. Ganz klar tritt ein Moment aus dem noch erkennbaren zeitlichen Ablauf heraus: Hannibal, dem man hernach anlasten wollte, er habe stets im Widerpart zu den Oberbehörden in der Heimat gehandelt und diese hätten ihn niemals ausreichend unterstützt, hat, nach dem Übergang über den Ebro, einen außenpolitisch entscheidenden Schritt erwartet. Er hat lange, zu lange Zeit in Anbetracht des unumgänglichen Marsches über die Alpen zur Vorwinterzeit, in Nordspanien verharrt, bis zum August des Jahres 218, weil er nichts unternehmen wollte ohne Karthago und die ihm unbekannten Herren in der Sufetie, der Gerusia und den ‚Hundertvier‘. Daraus aber läßt sich schließen, daß er den Krieg gegen Rom nicht gewollt hat oder jedenfalls nicht absolut provozieren wollte … Erst dann, wenn Rom den Fehdehandschuh hinwarf – dann wollte er marschieren. Zum Charakter und zur Eigenart hellenistischer Armeen vgl. auch Launey: Recherches sur les armées hellénistiques (Paris - 325 -
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1949/50). – J. Kromayer (HZ 103/1909) verweist darauf, es habe sich bei den Barkiden um Söhne eines phönizischen Handelsstaates mit ausgeprägtem Sinn für Realitäten gehandelt. Cicero de div. I 49 bringt die Geschichte vom Traume Hannibals nach der Lektüre von Silenos.
V. Die Berge des ewigen Schnees Marsch über die Alpen 1
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Vgl. die Erzählungen des Silius Italicus in seinen Punica, wonach die Gemahlin Hannibals ihn habe ins Feld begleiten wollen. Dies alles, uns nur in einem späten epischen Verswerk überliefert, ist auf den Wahrheitsgehalt nicht mehr nachzuprüfen. Daß jedoch die Karthager Offizier-Relais-Posten in Südgallien einrichteten, zeigen vermutlich die Funde von Ensérune und Ruscino in Südfrankreich. Beide Ortschaften liegen im Mündungsgebiet der Aude, wo von hier aus eine uralte Handelsstraße im Tal der heutigen Garonne aufwärts zum britannischen Zinnrevier führte. Vgl. Charles-Picard, S. 190 ff. Vgl. Polybios III 33, 14 u. Livius XXIII 26, 4. Seltsamerweise ist die Frage des Überganges über die Pyrenäen niemals eingehend erörtert worden, soweit der Verf. zu sehen vermag. Die hier geäußerte Version ist eine Hypothese. Auch diejenigen Autoren neuester Zeit, die Skepsis gegenüber Verbindungen zu keltischen Stämmen in Oberitalien hegen, halten die Mission des Fürsten Magalos für gesichert. Vgl. P. Bender, S. 33 u. W. Hoffmann: Hannibal, S. 51 ff. – Nimmt man diese Mission des Boier-Fürsten als wahr an, muß sie doch aber auf vorherige Fühlungnahme zurückzuführen sein. Eine Reihe von Autoren (Pais: Storia di Roma I, S. 165 u. 317, Much: Germanistische Forschungen, Wien 1925, S. 18 ff.) haben die Ansicht vertreten, es habe sich hier um germanische Reisläufer gehandelt. - 326 -
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Auch Groag (Hannibal als Politiker, S. 34) hält dies für möglich. Diese Versionen sind nicht mehr zu halten. Zu Problemen hellenistischer Armeen vgl. W.W. Tarn: Hellenistic military, Oxford 1930 u. Launey: Recherches. Zum Rhône-Übergang vgl. G. Zeller, S. 138 ff. mit chronologischer Schilderung, u. W. Hoffmann: Hannibal, S. 50 ff. Wie oben (Fn. 2) bereits erwähnt, weisen Grabungsfunde in Ensérune und Ruscino, deren Namen wahrscheinlich auf punische Namensgebung zurückgeht, auf Aktivitäten der Karthager im südgallischen Bereich hin. Die Literatur zum Problem des Alpenüberganges von Hannibal ist schier unübersehbar geworden. Der Verf. hat ursprünglich noch der These angehangen, Hannibal sei über den Kl. Sankt Bernhard marschiert, welche von zahlreichen Autoren, u.a. von Theodor Mommsen, vertreten wurde. Sie läßt sich nicht mehr aufrechterhalten. – Die Ansicht eines Naturforschers (Gavin de Beer: Alps and Elephants, London 1955) der annehmen möchte, Hannibal sei über zwei Hochpässe, den Col de Grimone und darauf den Col de la Traversette marschiert, hat heftige Proteste ausgelöst, freilich damit die Diskussion erneut beflügelt. Scharfe Kritik u.a. bei Ernst Meyer: Hannibals Alpenübergang (Museum Helveticum 15. Jg. 1958, S. 227 ff.) u. F.W. Walbank: Some reflections on Hannibals pass (The Journal of Roman studies Vol. XLVI/1956, S. 37 ff.) – E. Meyer, der für den Col du Clapier eine Lanze bricht, im Gebiet des heutigen Mt. Cenis, hält Gavin de Beer vor, er kenne wohl kaum die Methode neuerer Quellenkritik und nehme dafür alles Zitierte für bare Münze, ohne den Wert der einzelnen Quellen genügend zu berücksichtigen. – Unter neueren Autoren plädieren mehrere, nicht nur Meyer und Walbank, für den Col du Clapier oder jedenfalls für einen Paß im Gebiet des Mt. Cenis (vgl. u.a. Hoffmann: Hannibal, S. 54). S. auch bei Gavin de Beer, S. 108 ff. die Zusammenstellung aller Paß-Hypothesen. Danach haben sich für den Col du Clapier entschieden: 1887 - 327 -
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der Oberst Perrin, ein guter Kenner der Alpen, ferner Paul Azan (Annibal dans les Alpes, Paris 1902) und Spenser Wilkinson (1911). Für den Mt. Cenis plädiert auch GCP/Hannibal, S. 151. Die These von Gavin de Beer, Übergang über Col de Grimone und Col de la Traversette findet sich auch schon früher, z.B. bei G. Torr: Hannibal crosses the Alps (Cambridge 1935). Für den Kl. St. Bernhard haben sich u.a. Th. Mommsen in seiner Röm. Gesch., Lehmann (Angriffe der drei Barkiden) S. 55 ff. u. S. 71 ff.) entschieden, ebenso Lenschau i. d. RE VIII 2, Sp. 2328. Für den Mt. Cenis treten ein: C. Jullian (Histoire des Gaules I, S. 451 ff.), Gsell III, S. 152 und W. Osiander (Der Hannibalweg, 1900). – Hennebert (Histoire d’Annibal II) plädiert für den Mt. Génèvre. Endlich ganz abweichend Douglas Freshfield (Alp. Journ. XI/1883 S. 267-300). Er läßt Hannibal über den Col de Vars und den Col de l’Argentière gehen. S. auch D. Freshfield: Hannibal once more (London 1914). Will man nicht mit einem Experten, Ulrich Kahrstedt, die ganze Frage mehr für ein literarisches denn ein geographisches Problem halten, wird man sich heute für den Col du Clapier entscheiden müssen. (Anm. d. Verf.) S. bei Polybios IX 24. Zu den folgenden Passagen und den hohen Marschverlusten: Delbrück-Daniels: Geschichte des Kriegswesens I, S. 83 f. (Berlin 1920, Slg. Göschen) möchte freilich erheblich geringere Verlustziffern, als überliefert, vermuten und äußert die Ansicht, solche hohen Verluste seien bei einem Heer von Berufssoldaten auszuschließen. – Vgl. dazu die außerordentlich hohen Marschverluste der gewiß wohltrainierten napoleonischen Armee in Rußland 1812, oder etwa den Versuch des Tataren Khans Mohammed II. Toghluk, eines der turkvölkischen Soldatenherrscher im mittelalterlichen Nordindien, von dort aus im Jahre 1337 mit angeblich 200.000 Mann über den Himalaya durch Tibet nach China zu marschieren. Sein ganzes Heer kam dabei in den verschneiten Gebirgspässen um (Schmidt: Geschichte Indiens, Leipzig 1923, - 328 -
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S. 88). Im Herbst des Jahres 1799 kostete der Zug des russischen Feldmarschalls Fürst Suworow über den Großen St.-GotthardPaß ein Drittel der russischen Mannschaft, fast alles Geschütz und ein Drittel des Pferdebestandes. Clausewitz (Bd. V, Feldzüge von 1799, II) bemerkt darüber: „Diese Verluste ließen sich den Verlusten einer verlorenen Schlacht gleichstellen.“ Selbst die Verbände der Armee des Generals San Martin, die im Januar 1817 während des südamerikanischen Freiheitskrieges von Argentinien aus über die Anden nach Chile marschierten, um dort die spanischen Truppen anzugreifen, waren nach dem Hochgebirgsmarsch auf das Äußerste erschöpft, obwohl sie einen Riesentroß, 10.000 Pack-Maultiere für eine Division von 4.000 Mann, mit sich führten. Wir müssen daher annehmen, daß die sehr hohen Verluste Hannibals beim Marsch über die Alpen durchaus den Tatsachen entsprechen. Vgl. Polybios III 56, 4 über die Verluste Hannibals, nach der von Hannibal errichteten Gedenktafel im Tempel der Hera auf Kap Lacinium in Süditalien. Von Verlusten an Elefanten ist hier nicht die Rede, worauf auch Gavin de Beer hinweist. Da jedoch für die Schlacht an der Trebia nur 20 Kriegselefanten genannt werden, muß sich zuvor deren Zahl reduziert haben.
VI. Von der Trebia zum Trasimenischen See Die ersten großen Siege 1 2 3
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Vgl. Zeller, S. 159 ff. Vgl. W. Hoffmann, S. 56 ff. Vgl. dazu Franz Miltner: Wesen und Gesetz römischer und karthagischer Kriegführung (RuK, S. 203 ff.), dessen These der Verf. hier folgt, wenn auch in erweiterter Form. Ausführlich über die Schlacht an der Trebia Kromayer-Veith Ant. Schlachtfelder III, 1, noch immer die beste neuere Arbeit über die Schlachten Hannibals. Laut Polybios III 78 ließ sich Hannibal verschiedene Perücken und Kleidung anfertigen. Appian, Anm. 6, übertreibt dies dann. - 329 -
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Vgl. zu diesen u. den folgenden Ausführungen Miltner, S. 217 ff., über Kriegsziele Hannibals und Karthagos W. Hoffmann: Hannibal, S. 60 ff. Ähnlich urteilt heute der beste Kenner der Fragen in Deutschland, Prof. W. Hoffmann († 1969), in einer dem Verf. freundlicherweise gewährten Unterredung vom 20. August 1962. Zur wahrscheinlichen Marschroute vgl. Kromayer-Veith III, 1, S. 104 ff. Über die Augenkrankheit Hannibals 217 v. Chr. berichten Polybios III 79 (H. verlor ein Auge), Livius XXII 2 (wird auf einem Auge blind), Cornelius Nepos Hann. c. 4 (konnte sein rechtes Auge in der Folge nie mehr gut gebrauchen), ähnl. Cicero de div. I 24, Plutarch: Sertorius I (wird auf einem Auge blind), Tacitus Hist. IV 13 (eine stark sichtbare Verunstaltung des Auges und damit des Antlitzes bleibt zurück). Silius Italicus Pun. V 352 ff. nennt einen Synalos als Arzt des hannibalischen Heeres. Der Name ist punisch (Inscr. graec. II 235 nennt einen Karthager Synalos, der nach Athen ging!). Dieser Arzt Synalos soll Namen und ärztliche Weisheit von seinen Vorfahren geerbt haben und gemahnt darin verdächtig an legendäre Ärzte des homerischen Epos, etwa Machaon. Hennebert (Histoire d’Annibal ) möchte Synalos freilich als historische Gestalt werten. In I, S. 356 bezeichnet er ihn als Leiter des Sanitätsdienstes in der Armee in Italien (?). Ehe wir nicht eine Büste finden, die einen auf einem Auge (vermutl. dem rechten) blinden Mann zeigt, bleiben alle Deutungsversuche von Büsten auf Hannibal unverbindlich, so z.B. die sog. Neapeler Büste, die sich in dem in den 30ern veröffentlichten Roman Hannibal von Mirko Jelusich als Titelbild findet. Cornelius Nepos Hann. c. 4. Aufmarsch und Schlacht nach Kromayer-Veith Antik. Schlachtfelder III, 1. So vermutet M. Launey: Recherches sur les armées hellénistiques I., S. 259 bezgl. der kretischen Bogenschützen-Einheit, die König - 330 -
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Hieron von Syrakus den Römern zur Verstärkung geschickt hatte. Zur italischen Politik Hannibals vgl. u. a. GCP/Hannibal, S. 124 ff.
VII. Der große Sieg: Cannae 1 2 3 4
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Der menschliche Konflikt zwischen H. u. Maharbal erschlossen aus Livius XXII 6/7. Cicero de sen. 4 schildert ihn im persönlichen Umgang als liebenswürdig und von würdevollem Auftreten. Zur Situation vgl. Zeller, S. 188 ff. S. auch die Präzisierung des Urteils über die Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen Karthago und der Armee Hannibals bei W. Hoffmann. Das alte Bild vom heldischen Patrioten, den eine feile, geldsüchtige Clique in der Heimat verriet – wie dies noch Theodor Mommsen fasziniert hat – ist nicht zu halten. (Anm. d. Verf.) Caudinisches Joch: Vgl. Livius IX 2 ff. Im zweiten Krieg gegen die Samniter wurde das römische Heer durch die Schachzüge des samnitischen Oberfeldherrn Pontius in den Furculae Caudinae, zwei engen Gebirgspässen nahe der Stadt Caudium, südwestlich des heutigen Benevent, 312 v. Chr. mit den beiden amtsführenden Konsuln rettungslos eingeschlossen. Das Heer mußte kapitulieren und ohne Waffen unter dem Joch, zwei Spießen, die oben durch einen dritten verbunden waren, Mann für Mann hindurchgehen. Später verwarf der Senat die hier von den Konsuln geschlossene schimpfliche Waffenstrekkung. Vgl. was Polybios IX 22 sehr schön und treffend über die unabänderlichen Bindungen eines Mannes in führender Stellung sagt, der nicht nur nach Herz und Gemüt gehen darf. Plutarch Fab. Max. I. Hier auch weitere Anekdoten. Plutarch Fab. Max. 12. Zumindest eine hübsche Anekdote. Das Lokalproblem von Cannae ist vielfältig erörtert worden. - 331 -
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Die Schilderung der Schlacht ist nach Kromayer-Veith Ant. Schlacht. III, 1 gegeben. Im folgenden sei auf die verschiedenen Hauptthesen kurz hingewiesen. Stürenburg (De Rom. cladibus Trasumena et Cannensi, Progr. Leipzig 1883) läßt die Schlacht auf dem linken Ufer des Aufidus stattfinden. Ebenso: McDougall (The campaigns of Hannibal, 1858), Dodge (Hannibal ), Neumann-Nissen (Nissen: Ital. Landeskunde II, 1902, S. 852). Bei Nissen wird ein ganz anderer Flußlauf des Aufidus – als in heutiger Zeit – angenommen. Hesselbarth (De pugna Cannensi, Göttingen 1874), Arnold (The second punish war, hrsg. v. W.J. Arnold 1886) setzen das Schlachtfeld auf dem rechten Flußufer oberhalb von Cannae an. Wie Kromayer-Veith entscheiden sich für das rechte Flußufer unterhalb Cannae: Wilms (Schlacht bei Cannae, Progr. Hamburg 1895), Strachan-Davidson (Selections from Polybios, Oxford 1888, S. 34). Soweit der Verf. zu sehen vermag, ist die Schilderung bei Kromayer-Veith bis heute gültig. Polybios III 114 u. Livius XXII 46, Hannibal habe die schwere Infanterie mit römischen Rüstungen und Waffen ausgerüstet, welche er am Trasimenischen See erbeutet habe. Von neueren und neuesten Autoren übernehmen Zeller, S. 213 ff. u. W. Hoffmann: Hannibal, S. 65 f. diese These. Nach Ansicht des Verf. ist dies eine ganz unmögliche Version, es sei denn, man räumt ein, daß schadhaft gewordene Panzer und Schilde aus römischer Beute ersetzt wurden. Das ist möglich, ja auch wahrscheinlich, da man bislang ohne Berührung mit Rüstungserzeugungsbereichen (wie etwa Campanien) war und Nachschub aus Spanien auch nicht zu beziehen war. Die volle Übernahme römischer Rüstung und Bewaffnung bei der schweren libysch-phönizischen und spanischen Infanterie hätte die Übernahme der Manipulartaktik und des Pilenwurfes für die karthagische Phalanx bedeutet. Wenn das Polybios und Livius wenigstens andeuten, so klingt das doch sehr nach der Entschuldigung: Die Karthager - 332 -
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hätten nur deshalb, als arglistige Menschen, bei Cannae gesiegt und siegen können, weil sie nach Römerart gekämpft hätten! – Wir hören aber nicht, daß die schwere afrikanische Infanterie auf den Flügeln bei Cannae anders als in der herkömmlichen Form einer hellenistischen Phalanx mit Langspießen gefochten hat. Vgl. was H. Delbrück (Gesch. d. Kriegskunst IV, S. 248 f.) dazu sagt. Delbrück meint, Hannibal habe die alte Regel, der Schwächere dürfe nicht auf beiden Flügeln zugleich umfassen, umgehen können, „weil er der unbedingten Überlegenheit seiner Kavallerie sicher war“. Plutarch Fab. Max. 15, eines der wenigen, offensichtlich authentischen Worte Hannibals. Vgl. Lenschau RE VII 2 Sp. 2350. H. Delbrück (Gesch. d. Kriegskunst I) vermutet, Silenos habe im Winterquartier Hannibal das Werk des Ptolemaios Soter über die Feldzüge Alexanders vorgelesen. Vermutlich hat er dies Werk längst selbst früher gelesen, als er sich in Spanien um militärwissenschaftliche und kriegsgeschichtliche Studien bemüht hatte. Vgl. die berühmte Studie des Generalfeldmarschalls Alfred Graf v. Schlieffen, des ehemaligen Chefs des Generalstabes, über Cannae (Ges. Schriften Bd. I, 1913). Schlieffen ist von dem Bild der Umfassung eines überlegenen Gegners mit schwächeren Kräften stark beeindruckt worden. S. dazu G. Ritter: Der Schlieffenplan (München 1956), S. 49 f. Livius XXII 51. Dies Wort Maharbals hat vermutlich nur anekdotischen Wert. So auch heute W. Hoffmann (Hannibal, S. 73). Wie der Verf. (1935) hält aber auch Hoffmann solche oder ähnliche Äußerungen im Stab Hannibals durchaus für denkbar. Der Verf. möchte noch weiter gehen: Irgend etwas in diesem Sinne wird Maharbal geäußert haben. Die Koinzidenz zwischen dem Ausspruch und seinem Verschwinden aus der Geschichte der Armee Hannibals ist zu auffällig! Anders berichtet Plutarch Fab. Max. 17. Danach spricht ein Verwandter von Hannibal, Barkas genannt, das berühmte Wort. Wen man sich darunter vorstellen könnte, ist ungewiß, es sei - 333 -
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denn, man wollte diesen ‚Barkas‘ (kein Personen- sondern nur ein Zuname!) mit jenem Neffen Hannibals, Mago (Barkas) gleichsetzen, der 215 als höherer Befehlshaber nach Sardinien ging und dort in römische Gefangenschaft geriet. Dieser ‚Neffe‘ könnte aus der Ehe Hasdrubals d. Schönen mit der zweiten Schwester Hannibals stammen (?). Ganz verzerrt dann Valerius Antias IX 5, 3: Hannibal wurde nach seinem Siege (bei Cannae) so übermütig, daß er mit seinen Landsleuten nur noch durch Mittelsleute verkehrt habe. Darauf habe sich Maharbal vor Hannibals Zelt aufgestellt und laut gerufen, er wisse, wie man es anzustellen habe, daß Hannibal in wenigen Tagen auf dem Kapitol speisen könne. Aber Hannibal habe diese Erklärung mit Verachtung gestraft. Valerius Antias schrieb um die Mitte des 1. Jh. n. Chr. und liebte Übertreibung oder farbige Ausmalung in seiner 75 Bücher umfassenden Geschichte Roms. Livius XXII 15, 8 bezeichnet ihn als Oberbefehlshaber der Reiterei. 216 v. Chr. geht er als Gesandter nach Rom. Später im Krieg wird er Stadtkommandant von Tarent und fällt bei der Wiedereinnahme der Stadt durch die Römer. Vgl. Victor Ehrenberg Art. Myttones RE XVI 2 Sp. 1428 ff.
VIII. Von Capua nach Capua Die politsche Entscheidung 1
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Vgl. Livius XXII 58, 7 ff. u. XXVII 16, 5. Livius spricht von dem ‚paternum hospitium‘ des Karthalo zu Fabius. Die Mission des Karthalo, früher des öfteren als Erfindung römischer Annalisten betrachtet, wird heute allgemein für historische Tatsache genommen. S. Hoffmann: Hannibal, S. 74. Vgl. sein Verhalten nach der Schlacht am Trasimenischen See, wo er nach dem Leichnam des gefallenen Flaminius forschen läßt, und später die feierliche Bestattung des gefallenen römischen Feldherrn M. Claudius Marcellus. Zur Situation nach Cannae s. auch J. Kromayer: Hannibal als - 334 -
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Staatsmann (HZ Bd. 103/1909, S. 273 ff.) u. W. Hoffmann, S. 74 ff. Livius XXIII 12-14 berichtet ausführlich über die Verhandlungen, schildert allerdings den karthagischen ‚Senat‘ als sehr kriegslustig und hannibal-freundlich und läßt Mago Barkas die Fingerringe gleich zu Beginn ausschütten. Es ist aber nicht anzunehmen, daß Mago seinen stärksten Trumpf gleich zu Beginn ausgespielt hat. – Abweichend vom Verf. hält W. Hoffmann (S. 76) die Geschichte mit den Fingerringen für eine römische Erfindung. Über Mago Barkas vgl. Fn 15 zum vorausgehenden Kap. ‚Cannae‘. L. Annaeus Florus II 6, 21. Auch Livius verbreitet sich (XXIII 18) ausführlich über die Ausschweifungen, die Hannibals Heer in Capua ruiniert haben sollen. Von einer Minderung der Schlagkraft ist aber in den nächsten Feldzügen nichts zu spüren! Immerhin wurde die auch noch heute übliche Wendung ‚Sein Capua finden‘ schon im Altertum zum Sprichwort. S. auch dazu Kromayer (HZ Bd. 103,) S. 273 ff. Der Brief findet sich kommentiert bei R. Merkelbach: Anthologie fingierter Briefe Nr. 129 (Griechische Papyri der Hamburger Staats- u. Universitätsbibliothek. Hrsg. v. Seminar f. Klass. Philogogie, Hamburg 1954). Über Hieronymos vgl. Lenschau, RE VIII Sp. 1537 ff. Polybios VII 12 deutet später auf einen Wandel in der seelischen Verfassung des Königs hin. Polybios XXIV 8 vertritt dann die Ansicht, der König habe sich am Ende seines Lebens in einem an Wahnsinn grenzenden Zustand befunden. – Über Philippos V. vgl. auch RE XIX 2 Sp. 2303 ff. mit ausführlicher Würdigung. Ausführlich handelt Groag: Hannibal als Politiker, S. 79-96 über den Bündnisvertrag Hannibals mit Philippos V. Holleaux: Rome, la Grèce et les monarchis hellénistiques, S. 182, vermutet, die Anregung sei von Hannibal ausgegangen. De Sanctis III 2, S. 408 nimmt von vornherein bei dem König Mißtrauen und Eifer- 335 -
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sucht gegenüber Hannibal an. Von neueren s. vor allem E. J. Bikkerman: An Oath of Hannibal (Transac. Amer. Philolog. Ass. LXXV/1944) u. vom gleichen Autor: Hannibals Covenant (American Journal of Philology Vol. LXXIII/1952, S. 1 ff.). Zur altorientalischen Form des Vertrages, dem ‚berit‘, vgl. auch G. u. Ch. Picard, S. 193 ff. Wenn Appian Lib. 53, 64 behauptet, im Fall des Sieges von Hannibal hätte nicht einmal der Name der Römer übrigbleiben sollen, so gibt er die allgemeine, von Rom geformte Ansicht der Antike wieder. Anders haben schon Egelhaaf (Anal., S. 170 ff), Kromayer, S. 244 ff. (HZ Bd. 103), Eduard Meyer (Meister d. Politik, S. 80) und H. Delbrück (Geschichte der Kriegskunst I, S. 385) geurteilt. Ebenso heute W. Hoffmann, S. 81 über das Bündnis. Zum Vertrag vgl. auch neuestens GCP/Hannibal, S. 28 ff. mit der sehr scharfsinnigen, eingehenden Analyse der Götterwelt der Barkiden. Nach Livius XXIII 39. Appian Ann. 20 bezeichnet Hanno Bomilkar als Neffen Hannibals. Nach allem, was wir sonst wissen, eine annehmbare Version. Plinius n. h. III 103. Justinus XXXII 4 rühmt freilich an Hannibal, dieser habe während des Krieges und als Sufet weder liegend gespeist noch je mehr als einen Schoppen Wein getrunken und habe inmitten vieler gefangener Frauen solche Züchtigkeit an den Tag gelegt, daß man meinen mußte, er könne nicht in Afrika geboren worden sein. Beide Stellen brauchen keinen Widerspruch zu enthalten. Eine Liebesaffäre bedeutet noch nicht dauernde Ausschweifungen. Ganz belanglos ist die bei Lukian Totengespräche XII geäußerte Floskel, Hannibal habe sich in Capua an Dirnen gehängt. Zum Feldzug auf Sizilien vgl. W. Hoffmann, S. 80 ff. Vgl. die von Plutarch verfaßte Biographie des Marcellus. Berühmt ist des Archimedes letztes Wort: „Störe meine Kreise nicht“ (Noli turbare circulos meos), das er gesprochen haben - 336 -
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soll, als ein römischer Legionär in seinen Garten eindrang, wo er im Sand mathematische Figuren zeichnete. Angeblich hat Marcellus Befehl gegeben, den großen Mann zu schonen. Das Wort wird verschieden wiedergegeben. Vgl. Valerius Maximus VIII 7, ext. 7: Noli, obsecro, istum disturbare. Nach neuplatonischer Version soll Archimedes gesagt haben: „Nimm meinen Kopf, aber laß unberührt, was ich gezeichnet habe.“ Myttones erlangt später für sich und seine Söhne das römische Bürgerrecht und befehligt die leichte Reiterei im Krieg gegen Antiochos d. Gr., in dessen Umgebung Hannibal weilte. Vgl. das Urteil von F. Geyer in dem bereits zitierten Artikel über Philippos V. i. d. RE. Appian Ann. 43. Meist falsch zitiert unter ,Hannibal ante portas‘. Vgl. Livius XXIII 16. Sprichwörtlich dann schon bei Cicero. Valerius Antias IX 3, 3 Livius XXVI 11. Masinissa war in Karthago im Haushalt eines der Oligarchen erzogen worden.
IX. Hasdrubals Kopf Die letzte Hoffnung und die letzten Jahre in Italien 1 2 3
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Zur Lage in Spanien vgl. Miltner (i. RuK), S. 227 ff., W. Hoffmann, S. 89 ff., S. 94 ff. Livius XXVII 16, Plutarch Fab. Maximus 23. Cicero de sen. 20 drückt das folgendermaßen aus: Auch der grausamste Feind (d.h. Hannibal!) habe Marcellus nach dessen Tod nicht die Bewunderung versagt. Ein typischer Sproß der claudischen Familie ist noch der Kaiser Tiberius Claudius Nero (14-37 n. Chr.). Zur familiengeschichtlichen Analyse der Claudier vgl. Albert Esser: Cäsar und die iulischclaudischen Kaiser im biologisch-ärztlichen Blickfeld (Leiden 1958), S. 74 f. Über die Schlacht am Metaurus vgl. Kromayer-Veith: Ant. Schlachtf. III 1, Miltner (i. RuK), S. 227 ff. - 337 -
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Zum Italienfeldzug des Hasdrubal Barkas s. Livius XXVII 3951. Von neueren Autoren vor allem Konrad Lehmann: Die Angriffe der drei Barkiden auf Italien (Leipzig 1905), S. 190-283. Die Datierung der Schlacht am Metaurus schwankt in der Kritik zwischen Frühjahr und Sommer 207 v. Chr. W. Hoffmann, S. 97 f., läßt die Zeitfrage offen, der Verf. entscheidet sich für den Frühsommer 207 v. Chr., da nicht anzunehmen ist, daß Hasdrubal nach dem Alpenübergang noch viel Zeit mit Operationen in Oberitalien vertan haben wird. Livius XXVII 51. Horaz Carmina IV 4. Über die Erztafeln mit Hannibals Bericht im Tempel der Hera Lakinia s. Livius XXVIII 46. Über den Tempel auf Kap Lakinion vgl. auch den Artikel ‚Hera‘ RE VIII Sp. 381. Über Hannibals letzte Jahre in Italien vgl. das Urteil bei Eduard Meyer (Meister der Politik I, S. 131 f.) Ed. Meyer hält es für denkbar, daß Hannibal sich nicht von Hoffnungen habe losreißen können, welche sich dann nicht erfüllt hatten. Ähnlich Cavaignac (Histoire de L’Antiquité, S. 310), De Sanctis III 2, S. 543. – An anderer Stelle faßt Ed. Meyer sein Urteil dahin zusammen: Hannibal habe in diesen Jahren den richtigen Blick des Staatsmannes für die Situation nicht mehr besessen (Kl. Schr. II, S. 353, 2). Man wird aber fragen müssen, was Hannibal anderes hatte tun können, um eine Invasion in Nordafrika zu verhindern und den Gegner in Italien zu binden, als was er getan hat? Und daß er die Stimmung in Rom ganz richtig eingeschätzt hat, zeigt die lebhafte Opposition im Senat gegen Scipios Plan, nach Afrika hinüberzugehen.
X. Entscheidungsschlacht in Afrika 1 2
Zur Schlacht von Ilipa vgl. auch Miltner (i. RuK), S. 227 ff. Über Hasdrubal Geskon s. Polybios IX 11, X 6, 7, 37 u. XI 2, Livius XXIX 28, Appian Lib. 36. Mit Sicherheit gehörte er nicht zu den Anhängern der Barkiden. - 338 -
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Die Ansichten über die Expedition Mago Barkas wie über dessen Ende gehen stark auseinander. Vgl. d. Art. ‚Mago Nr. 6‘ von Ehrenberg RE XIV 1 Sp. 499 ff. Ehrenberg glaubt nicht an die strategische Zielsetzung bei diesem Unternehmen, sondern sieht es für eine große Truppen-Werbe-Aktion an. Kritisch auch etwa Kahrstedt, S. 538, 3, 541, 3 u. 555, De Sanctis III 2, S. 511 ff., 540 f. Livius XXVIII 46, Appian Ann. 54, Zonaras IX 11 wissen noch von Verstärkungen, die im Jahre 205 an Hannibal von Karthago aus abgegangen, jedoch von den Römern abgefangen worden sein sollen. Was das Ende von Mago Barkas anbelangt, so hat Cornelius Nepos Hann. c. 8 eine abweichende Version, die singulär ist. Nach ihm hat Mago noch 193 v. Chr. gelebt. Damals traf er sich mit seinem Bruder in Kyrene in Nordafrika, wohin Hannibal mit fünf Schiffen aus Syrien gesegelt sein soll. Beide sollen in Kyrene erörtert haben, ob sie nicht die Karthager zu einem neuen Krieg gegen Rom bewegen könnten. Mago soll dann später entweder bei einem Schiffbruch umgekommen oder von seinen Sklaven ermordet worden sein. Es handelt sich wohl um Legenden. Vgl. Gsell II, S. 273, Anm. 7, 281, Anm. 2. Ganz anders Friedrich: Biographie des Barkiden Mago (Untersuch. a. d. alten Gesch., Heft 3, Wien 1880), der die bei Cornelius Nepos vorhandene Version zu retten sucht, ohne sonderliche Überzeugungskraft. Livius XXX 20. Die Äußerung ist stark zugeschnitten auf die These vom Unterschied zwischen barkidischer und stadtstaatlicher Politik. Aber Äußerungen von Bitterkeit gegenüber der Heimat wird man Hannibal in diesem Moment wohl zutrauen dürfen. Über diesen Hasdrubal vgl. Livius XXX 42, 44, Appian Lib. 34, 49. Vgl. Appian Ann. 58, 59: Hannibal ließ 203 die italischen Bundesgenossen, die ihm nicht nach Afrika folgen wollten, nie- 339 -
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dermetzeln. Zufolge Diodor XXVII 12 betrug ihre Zahl 20.000 Mann und 3.000 Pferde – schon der Zahl nach eine bare Unmöglichkeit! – Appian Ann. 54 meldet auch, Hannibal habe in Bruttien viele treulose Einwohner hinrichten lassen. Livius XXX 20. Vgl. die Schilderung bei Zeller, S. 399. Die Stärke des Korps, das Hannibal aus Italien heimgeführt hat, wird verschieden geschätzt. Kahrstedt, S. 542, 561 möchte 15.000 Mann veranschlagen. Ebenso Ed. Meyer (Meister d. Pol. I, S. 135), ähnl. De Sanctis III 2, S. 597 f. – Kromayer-Veith Ant. Schlachtf. III 2, S. 679 gibt 12.000 Mann an. Appian Lib. 31, Dio Cassius I 264, 267 (Boiss.), Zonaras IX 12, 13. Über das Schicksal des Hasdrubal Geskon Appian Lib. 38, Zonaras IX 13. – Nach Appian Lib. 50, 55, Dio Cassius XVII 75 u. Zonaras X 13 verdächtigte das Volk von Karthago zeitweilig damals sogar Hannibal, er konspiriere mit Rom. Kromayer-Veith Ant. Schlachtf. III 2, S. 680 bezweifelt allerdings die hohe Zahl der Elefanten. Ebenso Delbrück Gesch. d. Kriegskunst I, S. 392. Livius XXX 26 verzeichnet ein makedonisches Hilfskorps von 4.000 Mann, das unter Führung des Sopater, eines Hofmannes des Königs Philippos V., zu Hannibal gestoßen sein soll. Das erscheint völlig ausgeschlossen, der König von Makedonien hatte längst Frieden mit Rom geschlossen. Appian Lib. 33 berichtet, 4.000 Reiter seien von Masinissa zu Hannibal übergelaufen, an der gleichen Stelle erzählt er, ein gewisser Mesotylos habe Hannibal 1.000 Reiter zugeführt. Das erste ist unwahrscheinlich, sonst wäre Hannibal an Kavallerie nicht so schwach gewesen, wie er dies nach den besten Quellen am Tag von Naragarra/Zama tatsächlich gewesen ist, das zweite wirkt wahrscheinlich. Mesotylos ist ohne Zweifel die griechische Namensform für Mazaetullus, den Gatten einer Nichte Hannibals, einen Numider-Scheich. - 340 -
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Vgl. zur Vorgeschichte der Entscheidungsschlacht und zur Schlacht selbst Kromayer-Veith Ant. Schlachtf. III 2. Die Unterredung ist bezeugt bei Polybios XV 8, Livius XXX 31. Nicht nur der Verf., sondern zahlreiche bedeutende Kenner der Materie haben sie für unhistorisch gehalten. KromayerVeith erwähnt sie in seiner Analyse der Schlacht überhaupt nicht, Delbrück Gesch. d. Kriegskunst I 406 und Groag, S. 99, Anm. 2, lehnen die antike Version ab, dgl. Lehmann (Jahrb. f. klass. Phil., Suppl. XXI/1894, S. 574 f.) u. a. m. Nach dem Stand der Forschung ist sie dennoch heute als Faktum zu werten. Vgl. W. Hoffmann: Hannibal u. Rom (Ant. u. Abendland, Bd. VI) u. Hannibal, S. 106, dem der Verf. hier folgt. Die Ansichten über die Lage des Schlachtfeldes gehen in der neueren Literatur weit auseinander. Für West-Zama haben plädiert: Th. Mommsen (Zama, Hermes XX/1885, Hist. Schr. I, S. 36 ff.), Meltzer (Wochenschr. f. Phil., 1896), Gsell (Mélanges d’archéologie et d’histoire XVIII/1898, S. 78). Für Ost-Zama: Schmidt (Zama, Rhein. Museum XLIV/1889), Filek v. Wettinghausen (Ort und Zeit der Schlacht bei Zama, Wiener Studien XIX/1897, S. 272 ff.). Mit Appian nimmt Hennebert (Histoire d’Annibal III) den Ort Killa als Stätte der Schlacht an, dessen Lage heute unbekannt ist. Für Killa haben weiter plädiert Toussaint Rapport sur la région de Mactar, Bull. comit. (1899, S. 185 ff.) u. L. Pareti Zama (1911). In die Nähe der Stadt Naragarra verlegen das Schlachtfeld K. Lehmann (Der letzte Feldzug des Hann. Krieges, Jahrb. f. Phil. Suppl. 21/1894) u. Delbrück Gesch. d. Kriegskunst I (2. Aufl. 1908). Sie legen sich auf die angebliche Hochfläche Hannencha fest. Ältere Biographen wie Dodge (Hannibal) oder W. T. Morris (Hannibal, soldier, statesman, patriot) lassen sich gar nicht auf die kaum mehr voll befriedigend zu klärende Frage ein, ähnlich neuestens W. Hoffmann. Gilbert Charles-Picard vertritt heute die These von Zama Regia – Jama. Vgl. GCP/Hannibal, S. 204 f. - 341 -
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Appian Lib. 24 berichtet, Hannibal habe nach der Niederlage zuerst bei Masinissa angefragt, ob dieser zwischen ihm und Scipio vermitteln könne, mit dem Hinweis, daß der Numider doch in Karthago aufgewachsen sei. Die Nachricht findet sonst in den Qellen keine Bestätigung. Livius XXX 37. Zufolge Appian Lib. 55 sollen sehr angesehene Männer gegen die Annahme des Friedens gewesen sein, wie Hannibal sie empfahl. Vgl. dazu W. Hoffmann (Hannibal u. Rom, Ant. u. Abld. VI, S. 19). Livius XXX 42. Livius XXX 44. Man kann sich sehr wohl vorstellen, daß Hannibal Ähnliches gedacht oder auch ausgesprochen hat, wiewohl der Text bei Livius etliche Merkmale rhetorischer Zuspitzung enthält.
XI. Gegen Rom – bis zum Tod von eigener Hand Reform in Karthago – Emigrantenschicksal 1
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Aurelius Victor, Caes. 37, 2, 3, welcher Hannibal hier mit dem spätrömischen Kaiser M. Aurelius Probus (276-282 n. Chr.) vergleicht, der seinen Soldaten am Rhein und an der Donau befohlen hatte, Weinberge anzulegen. Vgl. Polybios XV 19, 2 ff., Livius XXXIII 45, 7 f. u. Justinus XXXI 1, 8, die Erzählungen von Gegnern Hannibals anführen, er habe sich nicht in die bürgerliche Ordnung fügen können. Cornelius Nepos, Hann. c. 13. Aus Polybios III 20, 3 läßt sich möglicherweise schließen, daß Sosylos seiner Bewunderung für die Römer Ausdruck gegeben hat. Die Geschichte vom Traum Hannibals vor dem Zug nach Italien, die von Silenos stammt (Cicero de div. I 49, Livius XXI 22, Zonaras VIII 42), gestattet natürlich auch die Auslegung, Silenos habe Hannibal als Frevler an dem Gebot der Götter hinstellen wollen, s. auch Groag, S. 13 ff. - 342 -
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Eine punierfreundliche Einstellung der beiden griechischen Schriftsteller vermuten u.a. De Sanctis III 2, S. 166 f., Ed. Meyer (Kl. Schr. II, S. 336 u. 368 ff.), Beloch (Hermes L/1915, S. 357372), Kahrstedt III, S. 146 ff., Kromayer-Veith Ant. Schlachtf. III, S. 328. Über die Stellung der beiden Griechen in der Umgebung Hannibals gehen die Vermutungen weit auseinander. Hennebert (Histoire d’Annibal I, S. 363 f.) bezeichnet sie als ‚secrétaires historiographes’. Egelhaaf (Hannibal, S. 58) sieht in Sosylos den militärischen Berater des großen Puniers. Vielleicht haben sie eine ähnliche Stellung eingenommen wie die Gelehrten, die Alexander d. Gr. auf seinem Zug mit sich führte (Kallisthenes u. a.) oder wie Polybios in der Umgebung des jüngeren Scipio. Will man Polyaen VI 41, 1 Glauben schenken, so haben karthagische Feldherrn schon früher Griechen im Stab gehabt. Dort ist von einem ‚Taktiker‘, also etwa Militärberater, die Rede, welcher den ‚Strategen‘ Hamilkar auf Sizilien im Feldzug gegen den Tyrannen Agathokles von Syrakus begleitet hat. Z.B. Appian, Ann. 54, Valerius Antias IX 2, 2, IX 6, 2. Vgl. die Anekdote bei Valerius Antias IX 8, 1. Cicero, de am. 8, de off. I 30. Seneca, de ira 2, 5. S. z.B. Plinius n. h. VIII 18. ‚Perfidus Hannibal‘ ist ein stehender Ausdruck. Auch Horaz verwendet ihn (Carm. IV 4, 49). Dion von Prusa, der in der römischen Kaiserzeit schrieb, nennt Hannibal den bösen Geist Karthagos, der durch seinen Krieg das Verhängnis über seine Vaterstadt heraufbeschworen habe (or. XXV 7). Neuere Historiker haben den Karthager gleichermaßen sehr unterschiedlich beurteilt. Ein so profunder Gelehrter wie K. J. Beloch spricht ihm jede Genialität ab und mißt ihm die Hauptschuld am Untergang Karthagos zu. Theodor Mommsen hat Hannibal mit Respekt, aber doch mit einer gewissen Kühle behandelt. Eduard Meyer, Kromayer, Egelhaaf, Groag zollen ihm - 343 -
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höchste Bewunderung. – Pais dagegen meint z. B., Hannibal sei der Sohn eines Händler-Volkes gewesen und glaubt, das Einsammeln der reichen Beute bei Cannae habe ihn daran gehindert, den Sieg auszunutzen. Cavaignac bewundert den Soldaten Hannibal, spricht ihm aber politische Gaben ab. Friedrich d. Gr., Napoleon und Schlieffen zählen wieder zu den Verehrern. Vgl. die Charakteristik Hannibals bei Polybios IX 22-26, s. auch Dio Cassius I, fr. 83. Über Polybios vgl. Konrat Ziegler, Art. Polybios, RE XXI 2 Sp. 1440 ff. Zum ‚Hannibal-Kult‘ in der spätrömischen Kaiserzeit vgl. Dio Cassius LXXVII 13, 7 u. Herodian IV 8, 5, Carac. 2, 2; 4, 10; 5, 4. Hiernach hat etwa der Kaiser Caracalla, Sohn des Septimius Severus, Hannibal außerordentlich verehrt. Dio Cassius XVII 57, 86. Nach Gsell II, S. 273, verdient hingegen diese Nachricht keinen Glauben. Dion von Prusa or. XXV 7. Appian Lib. 38 berichtet, das Volk von Karthago habe die Regierung für alle Mißstände verantwortlich gemacht. Livius bezeichnet diesen Beamten als ‚quaestor‘. Nach römischen Begriffen also der Verwalter der Staatskasse. Cavaignac (Histoire de l’Antiquité III, S. 164 u. 321) vertritt die Ansicht, die ‚Hundertvier‘ hätten sich aus einer den Regierungskreisen entgegengesetzten Finanzaristokratie zusammengesetzt, mithin habe sich Hannibals Unternehmen nicht gegen seine adligen Standesgenossen gerichtet. Vgl. dazu auch Groag, S. 116, Anm. 2. Aus Livius XXXIII 46, 4 u. Justinus XIX 2, 5 läßt sich schließen, daß die Vermutung von Cavaignac nicht zutrifft. – Über die Reform vgl. auch W. Hoffmann, S. 113 ff. Bereits Aristoteles pol. II 11 hat die Ephoren mit den ‚Hundertvier‘ verglichen. S. auch Groag, S. 119, Anm. 4. Livius XXXIII 47: ‚vestitu forensi …‘ Über Hannibals Flucht berichten Livius XXXIII 47, 48; Justinus XXXI 2, 3; Zonaras IX 18 u. Eutropius IV 3. Die Angaben bei Corn. Nepos Hann. c. 7 über Maßregeln gegen Hanni- 344 -
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bals Besitz und Vermögen sind aber doch wohl erst auf die Zeit nach dem Mißlingen der Mission des Ariston anzusetzen, ausgenommen die Angabe, die Karthager hätten zwei Schiffe zu seiner Verfolgung ausgesandt. Zur Datierung der Flucht (Anfang Juli 195 v. Chr.?) vgl. Maurice Holleaux: La rencontre d’Hannibal et d’Antiochos le Grand à phèse (Hermes XLIII/1908, S. 296 ff.). Holleaux glaubt, Hannibal habe, über Tyros, Ephesus spätestens im September erreicht. Vgl. Groag, S. 127 Anm. 2. – Anders Gsell II, S. 279 f., welcher annimmt, das Gesetz über die Reform der ‚Hundertvier‘ sei wieder aufgehoben worden (?). Speck (Handelsgeschichte des Altertums III 1, S. 116) beurteilt die ganze Finanzreform völlig anders. Ihm zufolge hat es sich nur um Verbesserungen im Landund See-Zollwesen gehandelt. De Sanctis III 1, S. 56 sieht nur in der Beseitigung der Korruption Hannibals Verdienst. Vgl. Justinus XXXI 5 über die Fehler Antiochos d. Gr. Es sei an das Wort des Jesaia XXIII 8 über die Kaufleute von Tyros erinnert: „… so doch ihre Kaufleute Fürsten sind, und ihre Krämer die Herrlichsten im Lande …“ Über Hannibal u. Antiochos und die Aufnahme und Aussichten des Landflüchtigen vgl. heute auch W. Hoffmann, S. 119. Hierzu paßt Cornelius Nepos Hann. c. 7, 7. Vgl. hierzu etwa die Angaben bei Strabo VI 3, 11 über die Auswirkungen des hannibalischen Krieges in Apulien. Diodor XXIX fr. 19 bringt ebenfalls Angaben über den verwüstenden Krieg auf der italischen Halbinsel. Dgl. Appian Lib. 63, 134 sowie Ann. 60 u. Syr. 10. Livius XL 38 bezeugt, daß noch um 180 v. Chr. weite Gebiete von Samnium so menschenleer waren, daß man dort Ligurer ansiedeln mußte. Bei dieser Gesandtschaft soll sich auch Scipio d. J. Africanus befunden haben, der in Wahrheit damals schwer erkrankt in Elaia unweit von Pergamon lag. Folglich ist das Gespräch zwischen ihm und Hannibal, das Livius XXXV 14 gibt, eine Erfindung. Lenschau RE VII 2, Sp. 2345 hält es immerhin für - 345 -
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den Beweis, daß man Hannibal ein eingehendes Studium der Feldzüge Alexanders und Pyrrhos zutraute. Vgl. auch H. Delbrück (Gesch. d. Kriegskunst I, S. 289 f.) Über diese Flottenpläne vgl. Livius XXXV 18, 8 u. 42, 2 ff. W. Hoffmann analysiert kritisch (Hannibal u. Rom/Antike u. Abendl.) die spätere Überlieferung bei Livius XXXIV 60, 3 ff.; Appian Syr. 7 u. Justinus XXXI 3, 5 ff. Vgl. W. Hoffmann, S. 123, wo dieser meint, die Hintergründe seien schon den Zeitgenossen ,dunkel‘ gewesen. Die Anekdoten bei Cicero de or. II 75 u. Stobaios flor. 54, 58. Livius XXXV 18. Ursprung der ganzen, bis heute vieldiskutierten und angezweifelten Geschichte vom ‚Eid‘ in der Jugend. Kromayer (Hannibal und Antiochos d. Gr./Neue Jahrbücher f. d. klass. Altertum XIX 1907, S. 681-699) u. Ant. Schlachtf. II, S. 127 f. gibt Antiochos recht, wenn dieser nicht auf Hannibals Pläne eingegangen sei, weil diese den Interessen des Seleukidenreiches und seiner Kraft nicht entsprochen hätten. Ebenso urteilt Ed. Meyer (Meister d. Politik I, S. 140 f.). Ganz anders dagegen K. Lehmann (Hannibals letzter Kriegsentwurf. DelbrückFestschrift 1908, S. 67-92) u. Groag, S. 134. Über Hannibals Rede in Demetrias berichten Livius XXXVI 6, 6 ff.; Appian Syr. 14, Justinus XXXI 5, 3 ff. Vgl. die ob. zitierte Kritik von Kromayer an seinen Plänen. W. Hoffmann (Hannibal u. Rom/Ant. u. Abdl.) folgt der Kromayerschen Kritik. Nach Appian Syr. 6 waren die Aufgaben Hannibals im Krieg gegen Rom sekundärer Natur. Das berühmte Wort: „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam“, das der ältere Cato in allen Senatsreden angebracht haben soll, häufig i. d. ant. Literatur bei Plutarch, Cicero, Diodor, Florus, Valerius Maximus (Antias) u.a.m. zitiert. Über die seleukisische Armee bei Magnesia und das Heer des Antiochos d. Cr. allgemein vgl. Launey (Recherches sur les armées hellénistiques I, S. 59 f., 96 ff. u. 318 f.) S. auch die breit ausgemalte Schilderung dieser kgl. Armee bei Zeller, S. 466. - 346 -
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A. Gellius N. A. V 5, ein Anekdotenkrämer, der im 2. Jh. n. Chr. schrieb, gibt in seinen Noctes atticae eine ganz unwahrscheinliche Anekdote. Danach soll Antiochos d. Gr. Hannibal seine Armee vorgeführt haben, mitsamt Panzerreitern, Sichelwagen und Elefanten, ein sinnverwirrendes Bild! Der König fragt den Punier: „Meinst Du nicht, daß dies alles hinreichend die römische Kriegsmacht aufwiegt?“ Hannibal: „Sicherlich, es wird für sie genug sein, auch wenn sie noch so beutegierig ist.“ Martial IX 44, 45; Statius silv. 4, 6. Cornelius Nepos Hann. c. 9 u. Justinus XXX 4. Die Kreter genossen in der Antike einen denkbar schlechten Ruf. Vgl. Polybios IV 8, VI 46, Diodor XXVIII 23 u.a.m. In seinem Brief an Titus bezichtigt der Apostel Paulus (I 12) die Kreter der Lügenhaftigkeit, Treulosigkeit und Völlerei. Zufolge von Plutarch Flamin. 20 irrte Hannibal lange umher. Nach Plutarch Luc. 31 gelangte er auch nach Armenien zum König Artaxias, einem früheren Militär im Dienste des Antiochos d. Gr. Er soll ihn beim Bau der neuen Hauptstadt Artaxata beraten haben. Diese Überlieferung kennt auch der Geograph Strabo (XI 528). Zufolge von Plinius n. h. VI 48 gründet Hannibal die Stadt Prusa in Bithynien. Dazu Egelhaaf (Hannibal, S. 26): „Unwillkürlich erinnert man sich der Erzählung, nach der er auch in Armenien mit genialem Blick eine neue Stadt angelegt hat; ein Bericht stützt den anderen.“ Ed. Meyer (Meister d. Politik I, S. 45 u. Ursprung u. Anfänge d. Christentums II, S. 217) hält freilich diese Nachrichten für historisch. Ähnlich entscheidet sich heute W. Hoffmann, S. 126. Memnon c. 27 u. Strabo XII 546 bezeugen, daß Prusias I. Hannibal aufgenommen hat. Den noch weit unsympathischeren Prusias II., welcher den Beinamen ‚der Jäger‘ führte, hat er nur als Kronprinzen erlebt. Vgl. wie oben Memnon u. Strabo. Plutarch Flamin. 20, 21. Das Schloß soll sieben Ausgänge gehabt haben, die ständig von Dienern Hannibals bewacht wur- 347 -
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den. In c. 21 findet sich die Angabe, Hannibal habe bei Prusias in hohem Ansehen gestanden und dessen Militär und Flotte befehligt. Cicero de div. II 24, Valerius Antias II 7, 17. Vgl. was Groag, S. 147 Anm. 4 über etwaige Vorbilder in Sendschreiben von Scipio sagt. Staehelin (Geschichte d. kleinasiatischen Galater 1907, S. 50-61) urteilt freilich günstiger über den Zug des Manlius Volso. – Vielleicht ist die Schändung der Chiomara durch einen römischen Centurio, wie sie Polybios XXI 38 bezeugt (der die Fürstin in Sardes auch persönlich kennengelernt hat!) und wie diese auch von Livius, Florus und Plutarch bezeugt ist, durch Hannibals Sendschreiben allgemein bekanntgeworden, wie jedenfalls Groag, S. 145 vermutet. Zur Entwicklung der letzten Beziehungen zwischen Bithynien und Pergamon in jenen Jahren, als sich Hannibals Leben dem Ende zuneigt, vgl. die Untersuchung von Christian Habicht (Über die Kriege zwischen Pergamon und Bithynien. Hermes LXXXIV/1956, S. 90 ff.). Wie sich König Prusias I. gegenüber Hannibal verhalten hat, als die römische Gesandtschaft erschien, ist sehr unterschiedlich überliefert. (Vgl. Egelhaaf: Hannibal, S. 27 f.) Sicher ist, daß der bithynische König seinen Emigranten-Gast fallenließ, ob mit oder ohne Skrupel? Cornelius Nepos Hann. c. 12 weiß, Prusias habe sich recht nobel verhalten. Er habe den Römern erklärt, man könne ihm keine Handlung zumuten, welche gegen die Gastfreundschaft verstoße, wollten sie Hannibal ergreifen, möchten sie dies selbst tun, sein Aufenthalt sei leicht zu finden. Nach Plutarch hat der König seine eigenen Soldaten zur Verfügung gestellt. Was nun davon wahr ist, können wir nicht mehr entscheiden. Sicherlich werden die Vertreter Pergamons auf die Gefahr in Rom aufmerksam gemacht haben, die darin läge, daß Hannibal im Dienst ihres Todfeindes stand. Im römischen Senat gab es damals zwei Strömungen. Scipio Africanus, ein anständiger - 348 -
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Mensch, meinte, man möge den alten Feldherrn nicht mehr behelligen. Die Gegenpartei unter T. Quinctius Flamininus, eben dem Führer der Gesandtschaft zum bithynischen Hofe, war der Ansicht, Hannibal sei, solange er am Leben sei, eine Gefahr für Rom. Später haben Flamininus Feinde im Senat vorgebracht, er habe nur deshalb die Gesandtschaft zu Prusias I. übernommen, weil er seinen Namen mit dem Tod Hannibals verknüpfen wollte! Die Worte, welche Livius XXXIX 51 Hannibal beim Tod in den Mund legt, sind schwerlich echt. Hannibal spielt darin auch auf die Anekdote an, die Römer hätten den König Pyrrhos vor seinem Arzt gewarnt, weil dieser sich dem römischen Senat gegenüber anheischig gemacht hatte, seinen Herren zu vergiften. Das ist anerkanntermaßen eine Erfindung römischer Annalisten. Hannibal kann sie kaum gekannt haben, und selbst wenn dies der Fall wäre, hätte er sie kaum für bare Münze genommen. Plutarch Flamin. 20, 21 kennt auch andere Versionen über den Tod Hannibals. Er soll sich seinen Mantel fest um den Hals haben binden lassen und darauf seinem Diener befohlen haben, sich mit dem Knie auf seine Hüfte zu stemmen, um ihn, Hannibal, dergestalt zu erwürgen – eine konfuse Geschichte. Anderen zufolge soll er wie Themistokles und Midas Ochsenblut getrunken haben, nach dem antiken Aberglauben ein tödlich wirkendes Mittel. Mutmaßlich hat er den Tod durch Schierlingsgift gewählt, das damals Selbstmörder bevorzugten, wie z.B. der berühmte Arzt Erasistratos im ptolemeischen Ägypten, der sich wegen eines unheilbaren Leidens das Leben nahm (Stobaios flor. III 7, 57). Vgl. auch W. Morel Art. ,Gifte‘ RE Suppl. V/1931, Sp. 223 ff. Das Jahr des Todes (183 o. 182 v. Chr.?) ist unsicher, wie schon Cornelius Nepos Hann, c. 13 beweist.
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Chaireas muß, wie aus der Polemik bei Polybios zu entnehmen ist, eine Geschichte Hannibals verfaßt haben. Vgl. RE III 1, Sp. 2023. Eumachos von Neapel schrieb, vielleicht in zwei Büchern, Peri Anniban historiai, erwähnt bei Athenaios XIII 577 a. Vgl. RE VI II. Halbbd., Sp. 1073. Sosylos, gebürtiger Spartaner, mutmaßlich Sklave oder Freigelassener in der Umgebung Hannibals, schrieb unter dem Titel Taten Hannibals sieben Bücher, Denkwürdigkeiten über den großen Karthager. Bis heute liegt nur ein Papyrusfragment vor mit dem Bericht über eine Seeschlacht unbekannten Ortes zwischen römischen und karthagischen Flotteneinheiten, die durch das Eingreifen eines Geschwaders von Massilia (Marseille) entschieden wurde. Vgl. U. Wilcken: Ein Sosylosfragment (Hermes 41/1906, S. 103 ff.) u. vom gleichen Verf.: Zu Sosylos (Hermes 42/1907, S. 510f.). Vgl. auch F. Jacoby: Sosylos RE III A 1 Sp. 1204 ff. Silenos von Kallatis (Kale Akte auf Sizilien) schrieb sowohl über die Geschichte Siziliens wie über die Taten Hannibals und gehörte zu dessen Umgebung. Titel und Zahl der Bände seines Werkes sind unbekannt. Wir wissen nur, daß sich sein Werk lange Zeit großen Ansehens erfreute und sowohl von Polybios wie von dem römischen Annalisten Coelius Antipater benutzt wurde. Vgl. Jacoby: FGr. Hist., Bd. 2/1929. Cornelius Nepos, Hannibal c. 13. Überliefert ist uns eine politische Flugschrift an die Inselrepublik Rhodos, um diese gegen Rom aufzurütteln. Vgl. was A. Neuburger (Die Technik des Altertums, Leipzig 1919, S. 468 ff.) über die Unmöglichkeit dieser angeblichen Gesteinssprengungen Hannibals sagt. Zum neuesten Stand der quellenkritischen Forschung vgl. vor allem die Arbeiten des Althistorikers Wilhelm Hoffmann, denen auch der Verfasser zu großem Dank verpflichtet ist: Hannibal und Rom (Antike und Abendland, Bd. VI/1957, S. 7 ff.) und die - 350-
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Kurzbiographie: Hannibal (Göttingen 1962). In England und Frankreich erschienen im letzten Jahrzehnt einige neue Lebensschilderungen: Leonard Cottrell Enemy of Rome (London 1960), Gabriel Audisio Hannibal (Paris 1961) und Jean Pernoud Annibal (Paris 1962). G. Audisio stellt Betrachtungen zur barkidischen Familiengeschichte und zur karthagischen Namensgebung an. Die Dürftigkeit der Quellen setzt hierbei freilich Grenzen. Ganz anders ist die Untersuchung von Gilbert Charles-Picard Hannibal (Paris 1967) angelegt, mit zum Teil neuartigen, weit über die Biographie des Karthagers hinausführenden Analysen der karthagischen, römischen und italischen Wirtschafts- und Volksgeschichte. Der Verf. geht bei seiner Unterscheidung zwischen Stadtkönigtum und Sufetat auf Charles-Picard zurück; die These, der römisch-karthagische Vertrag von 226 setze nicht den Ebro, sondern den Jucar als Trennungslinie der Einflußbereiche, wurde von J. Carcopino übernommen. Plinius n. h. XXXIV 32 gibt an, zu seiner Zeit hätten sich nicht weniger als drei Bildsäulen Hannibals in Rom befunden. Keine von ihnen hat sich erhalten. Ob Münzprägungen aus der Ära barkidischer Herrschaft in Spanien tatsächlich Porträts bringen, scheint noch immer nicht unbestritten. Vgl. jedoch den Beitrag von E.S.G. Robinson in der Festschrift f. H. Mattingly: Essays in Roman Coinage (1956, S. 34 ff.), Sir Gavin de Beer Alps and Elephants (London 1955) meint, auf Münzen, die zu Hannibals Zeiten in Neu-Karthago (Cartagena) in Spanien geprägt wurden, in dem Kopf des gaditanischen Herakles Hannibals Gesichtszüge konstatieren zu können. Das Münzbild zeigt nur die konventionellen Umrisse eines Kopfes des Herakles, wie ihn sich die Alten dachten. Auf dem ersten internationalen Kongreß der Hannibal-Forscher in Cortona (Italien) wurde im Oktober 1961 von seiten des Pariser Professors Gilbert Charles-Picard ausgeführt, der 1944 in Marokko entdeckte Bronzekopf stelle nicht, wie bisher vermutet, König Juba II. von Mauretanien dar, sondern Hannibal. Picard fußt auf Verglei- 351 -
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chen mit Münzbildern, die angeblich Hannibal darstellen, gibt aber eine Abweichung in der Augenzeichnung zu. Die gelehrten Kontroversen über diese These dürften nicht entschieden sein. Bislang scheint uns Reinhard Herbigs Feststellung: „Die angeblichen Hannibalbildnisse sind absolut apokryph“ nicht erschüttert zu sein. (R. Herbig: Das archäologische Bild des Puniertumes in ‚Rom und Karthago‘ [Ein Gemeinschaftswerk, hrsg. v. J. Vogt, Leipzig 1943, S. 139 ff.]) G. Charles-Picard vertritt freilich in seinem bereits erwähnten Hannibal weiter mit viel Scharfsinn – und mit ganz leiser Einschränkung die These, die Büste von Volubilis stelle nicht Juba II., sondern Hannibal dar. Der Verf. vermag hier nicht ganz zu folgen. Die Büste zeigt einen Jünglingskopf mit völlig unphönizischen Zügen, ein Athletenantlitz, bei dem man nicht einmal unbedingt an hellenische Abkunft denken muß. GCP/Hannibal, S. 104 ff. (Portrait d’Hannibal ). Herodot VII 166 bezeugt, daß Hanno, der Sohn Magos d. Gr., mit einer Syrakusanerin verheiratet war. Diodor XIV 77,5 beweist, daß es offenbar mindestens zu Beginn des 4. Jh. v. Chr. eine griechische Kolonie in Karthago gegeben hat. Vgl. auch Gilbert u. Colette Charles-Picard: So lebten die Karthager zur Zeit Hannibals (Stuttgart 1959, S. 120 ff.). Auch sonst kennen wir Griechen, die in Karthago lebten. Es sei nur erinnert an den Philosophen Hasdrubal Kleitomachos und den Bildhauer Boethios, die, wenigstens der Namensgebung nach zu urteilen, von Elternteilen griechischen Blutes abstammten. S. auch Gsell: Histoire ancienne de l’Afrique du Nord (Paris 1913-1924, IV, 175, 206). Vgl. auch Pausanias II 21, 6 u. IV 35, 4, der einen Schriftsteller Prokles den Karthager, Sohn eines Eukrates, erwähnt, der Pyrrhos und Alexander d. Gr. in militärischer Hinsicht verglichen hat.
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