Horst Althaus
Hegel
und
Die heroischen Jahre
der Philosophie
Eine Biographie
Carl Hanser Verlag
ISBN 3-446-16...
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Horst Althaus
Hegel
und
Die heroischen Jahre
der Philosophie
Eine Biographie
Carl Hanser Verlag
ISBN 3-446-16556-8
Alle Rechte vorbehalten
© 1992 Carl Hanser Verlag München Wien
Satz: Friedrich Pustet, Regensburg
Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe, Freiburg Printed in Germany
Inhalt Einleitung 11
Erstes Kapitel
Herkunft
23
Zweites Kapitel
Im Tübinger Stift
36
Drittes Kapitel
Zwischen Monarchie und Republik
46
Viertes Kapitel
Hofmeisterjahre 51 Fünftes
Kapitel
SchellingsLehrling 59 Sechstes Kapitel
Das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus
66
Siebentes Kapitel
Jena gegen Tübingen
70
Achtes Kapitel
Hölderlin
77
Neuntes Kapitel
Schelling
82
Zehntes Kapitel
Zwischen Bern und Frankfurt
92
Elftes Kapitel
Theologische Schriften
98
Zwölftes Kapitel
Nachträge zur philosophischen Theologie
108
Dreizehntes Kapitel
Die Stuttgarter Freundin
114
Vierzehntes Kapitel
Hegels Abschied von Frankfurt
120
Fünfzehntes Kapitel
Frankfurter Studien 124 Sechzehntes Kapitel
Der Privatdozent 139 Siebzehntes Kapitel
Bürgerliche Verhältnisse 170 Achtzehntes Kapitel
Differenz mit Schelling 183 Neunzehntes Kapitel
Phänomenologie des Geistes 191
Zwanzigstes Kapitel
Als Journalist in Bamberg
219
Einundzwanzigstes Kapitel
Ankündigung der Wende 232 Zweiundzwanzigstes Kapitel
Im Nürnberger Schulamt 239 Dreiundzwanzigstes Kapitel
Die Ungeheuerlichkeit der Vernunft:
Wissenschaft der Logik
261
Vierundzwanzigstes Kapitel
Die Heidelberger Professur 281 Fünfundzwanzigstes Kapitel
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
291
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Friedrich Heinrich Jacobi 298 Siebenundzwanzigstes Kapitel
Feudalismus oder Monarchie 305 Achtundzwanzigstes Kapitel
Von Baden nach Preußen 311
Neunundzwanzigstes Kapitel
Der preußische Staatsphilosoph 328
Dreißigstes Kapitel
Rechtsphilosophie
353
Einunddreißigstes Kapitel
Der unerkannte Gegenspieler
368
Zweiunddreißigstes Kapitel
Philosophie der Geschichte
376
Dreiunddreißigstes Kapitel
Die niederländische Reise
402
Vierunddreißigstes Kapitel
Ästhetik
408
Fünfunddreißigstes Kapitel
Die Reise ins Habsburgische
434
Sechsunddreißigstes Kapitel
Geschichte der Philosophie
442
Siebenunddreißigstes Kapitel
Die Reise nach Frankreich. Besuch in Weimar
477
Achtunddreißigstes Kapitel
Naturphilosophie
488
Neununddreißigstes Kapitel
Im Schatten: Das Ende von Ludwig Fischers
trauriger Geschichte
512
Vierzigstes Kapitel
Philosophie der Religion
5J9
Einundvierzigstes Kapitel
Ein politisches Wort letzter Hand:
Über die englische Reform Bill
545 Zweiundvierzigstes Kapitel
Der philosophische Absolutissimus
558
Dreiundvierzigstes Kapitel
Das Ende
576
Vierundvierzigstes Kapitel
Hegel und Hegelianisches
582
Bibliographie
617
Namenregister
641
Einleitung
Der Anteil Hegels an den in unserer Zeit geläufigen Denkvorstellungen ist auch da, wo er nicht eingestanden ist, gewaltig und unübersehbar. Ohne die Hegelsche Phi losophie und ihre Nachwirkungen wäre der weitere Ab lauf der Geschichte ein anderer gewesen. Aber mit den Nachwirkungen ist das Hegelsche Denken aus seiner ursprünglichen Umlaufbahn herausgelangt, es hat in ihnen Umgestaltungen erfahren, die einerseits über Hegel hinausführten, andererseits hinter Hegel zurück blieben, sich jedoch hier wie dort von seinem Kern niemals haben lösen können. Es stellt sich darum heute aus der Rückschau, nach mehr als hundertfünfzig Jahren seit seinem Tode und dringlicher als zu jeder anderen Zeit, die Frage: Lassen sich die Nachwirkungen der Hegelschen Philosophie ver stehen, ohne auf Hegel selbst zurückzugehen, sie bis auf ihren Ausgang zurückzuverfolgen? Eindringen in Hegels Denken bedeutet immer auch Ansetzen bei den Lebensvorgängen, in denen sich dieses Denken entwickelt und organisiert hat. Die Einheit von Sein und Denken gehört zu den großen Einsichten, die Hegel philosophisch zur Geltung gelangen läßt. Sie ist bei ihm ein aller Sprache vorausgehendes Erstes, das, was »gesetzt« ist, was seinen »objektiven Idealismus« von Kants »subjektivem« unterscheidet. Denken kennt in die ser »Setzung« keinen Ruhepunkt. In der unaufhörlichen Bewegung, in der es sich befindet, gibt es keinen Einlei tungsparagraphen und kein Schlußresümee, dafür im mer neues Setzen und Verwandlung des Gesetzten, das als »Begriff« auf die Fahrt ins Ungewisse geschickt wird. Das bedeutet zugleich Eintreten in ein großes Laby rinth, in das, wie es der Streit um Hegel gezeigt hat und unaufhörlich zeigt, die Hegeldeutung nicht immer hinrei chend Licht gebracht hat. Was »Hegelsche Philosophie« ist, hat sich nie ohne weiteres bestimmen lassen, es muß 11
sich immer erst aufs neue herausstellen. Man braucht hier nicht an den Streit der hegelschen Schulen zu denken, in denen sich der Zerfall des »Systems« bereits kurz nach seinem Tode abzeichnete, ohne daß die »Methode« da von betroffen worden wäre, weil zu ihr die antidogmati sche Anwendung gehört. Die Hegelsche »Methode« ist die Methode des großen Gegners jeglichen Dogmatis mus. Es gilt hier und kann immer nur gelten, auf dem Wege zu Hegel zu sein: ohne die Sicherheit des Erreichens. Wohl gibt es gewisse Erleichterungen für den Zugang, nämlich durch die aus Hegels Leben und seiner Lebens geschichte herausgewachsenen Vorstellungen, die er auf ihren »Begriff« zurückführt. Hegels Philosophie ist dabei keine »Lebensphilosophie« wie die seines späteren Gegen spielers Schopenhauer, aber sie hat in ihren »Abstraktio nen« doch Lebendiges, Organisches, aus der biographi schen Erfahrung Gewonnenes hereingenommen. Hegels Denken geht aus seiner Natur hervor, es ist ein Denken »von den Anfängen her«, wie bei den griechischen Natur philosophen, wie bei Descartes, Kant, Fichte; es ist mit dem »Sein« wie mit dem »Nichts« vertraut, es ringt sich aus der Anlage zur Zerspaltenheit zum »Ganzen« durch, in das wie auf dem Höhepunkt einer Bewegung tiefe Risse geschlagen werden und wo die »Idee«, etwa in den histori schen Religionen, ihre »Entfremdung« erfährt. Diesem Dissonieren steht natürlich das große Harmonieregister der Griechen gegenüber, die Hegel über alle stellt und denen in der nachgeborenen Gestalt Goethes zu begegnen er als besonderes Glück und auch als Anstoß zu seiner Erweckung für das Phänomen der Kunst empfunden hat. Und dann die große politische Tätergestalt, der er als Zeitgenosse in Napoleon begegnet, dessen Aufstieg er mit Bewunderung beiwohnt und an dem, als er ihn unterge hen sieht, sich für ihn die Logik der Geschichte ihr Bei spiel ausgesucht hat. Hier war jemand aus der Asche der Revolution aufgestiegen und dann, nachdem er im Na men des »Weltgeistes« das zu verrichtende Erneuerungs werk vollbracht hat, aus der Geschichte abgetreten. An 12
Napoleon hatte der »Weltgeist« ein Exempel dafür statu iert, wie das Vorrücken der Geschichte unerläßlich an die »Leidenschaften« gebunden ist; sie sind in ihrer ganzen Blindheit so notwendig, um sie in Gang zu setzen, wie die Opfer, die für ihr Fortschreiten auf der »Schlachtbank der Geschichte« entrichtet werden müssen: unabhängig von der Moral, die über die im Namen der historischen Notwendigkeit begangenen Verbrechen ihren Gerichts tag abhält. Hier kommen wir bis dicht vor den Knotenpunkt für Auseinanderstrebendes, hier begegnen sich die heute vor herrschenden Haupttendenzen des Hegelverständnisses: Hegel in seiner authentischen Form verstehen zu wollen, sein Denken an der historisch-kritisch ausgefilterten Textgestalt zu demonstrieren, die aus den verschiedenen Federn stammenden Nachschriften seiner Vorlesungen auf ihre Nähe zu Hegels Vortrag hin zu befragen, Hegels Philosophie aus sich und von ihren eigenen Voraussetzun gen her zu deuten, sie mit sich selbst enden zu lassen; oder Hegel als den Gipfel der idealistischen Dialektik zu sehen, die sich in ihm überschlägt und als »auf den Kopf gestell tes« Denken die notwendige Voraussetzung dafür ist, im dialektischen Materialismus »auf die Füße gestellt« zu werden. Damit allein ist Hegel natürlich nicht Genüge getan. Hegel wurde und wird bis heute für die verschiedensten Thesen in Anspruch genommen. Es gibt einen revolutio nären Hegel, den Napoleon-Anhänger, den Anwalt so wohl der absoluten wie der aufgeklärten als auch der konstitutionellen Monarchie, es gibt den Mann des absolut gesetzten Staats, und zwar des Preußens nicht mehr der Reform, sondern der Restauration, aber einer solchen mit liberalen Zwischentönen. Es gibt einen Hegel der Krone, deren Gewalt er durch die völlige Zerschlagung des Feu dalismus gestärkt sehen möchte, es gibt einen Freund der Stände, der später ihr erbitterter Gegner sein wird. Es gibt einen Hegel des Volkes. Der Theologe Hegel ist zugleich Antitheologe. Als württembergischer Lutheraner wagt er den Weg in die spinozistische Lehre von der Einen Sub 13
stanz, die Pantheismus und zugleich Atheismus ist, und entdeckt in der Logik wie in der Natur die Dreieinigkeit als triadisch-genetisches Entwicklungsprinzip des Geistes. Der Feind des Christentums in seiner katholisch-mittelal terlichen Form, das in der Hostie den Geist denunziert und mit der Feudalgewalt im Bunde steht, bleibt immer in Betracht zu ziehen auch wegen der aristotelisch-thomisti schen Elemente in seiner Logik. Wohin man sieht: die Sache ist die Sache selbst und ihr Widerspruch. Die Logik des Seins liegt immer auch in ihrer Abstrusität. So ergibt sich der im Hegeischen Den ken angelegte Widerspruch aus dem Widerspruch, den das Sein in sich hat. Nichts wäre, wenn es nicht den Widerspruch gäbe. Mit der Lehre vom Widerspruch, die Hegel in seiner Wissenschaft der Logik von Grund auf entwickelt und die das Kernstück seiner Dialektik bildet, hat er jenen Ein spruchskräften den Boden entzogen, die sein Denken widerlegbar machen. Die Dialektik geht als »Negation« aus dem Dampf der Anfechtungen ohne Schaden hervor. Aber auch das bleibt wie jedes Reden über Hegels Denken ein Reden in der Verkürzung, denn es reicht kein Reden über Hegels Denken an ebendieses Denken heran. Es enthält immer nur den Versuch des Nach-denkens dessen, was bei Hegel schon vor-gedacht ist, ohne daß dieser Versuch je voll zum Ziel führen könnte. Hegel hat zu seiner Zeit die aus der Antike überkommenen Fragen einer über Jahrtausende hinweg perennierenden Philoso phie nach Materie, Geist, Seele, nach Stoff, Form und Inhalt und ihrer Beziehung zueinander aufgeworfen, und selbst wenn er keine befriedigende Lösung fand, so bestätigte sein Denken noch als ein zu »überwindendes« Denken seine Unerläßlichkeit im Fortschreiten der Ge schichte. Im »Weltgeist« hat Hegel schließlich eine zweite Instanz neben dem ins »Absolute« verwandelten Einen Gott geschaffen, die nach eigenem Gutdünken befindet, die trägt, beflügelt, Widerstände beiseite räumt, der sich nichts entgegenstellen kann, die aber auch die Wendung einleitet und zu Fall und Untergang führt. Und hier 14
Übereinkünfte mit wie auch Trennendes von der »Welt seele« kennt! Ist der Abstand eines deutenden Hegelverständnisses zu Hegel selbst unüberwindbar, so läßt sich die Frage nach dem authentischen Hegel nicht abweisen. Sie bleibt immer akut. In ihr jedenfalls vereinigen sich die gegeneinander und auseinanderstrebenden Meinungen über Hegel. Sie führt zur Grundlage, zu Hegel selbst, in dessen Leben von den Voraussetzungen seiner Zeit, des geographisch-politi schen Raumes, der geschichtlichen Welt her im Einklang mit seiner Philosophie Denken und Sein zusammenfallen. Hegel ist Aufklärer, einer der größten innerhalb der europäischen Bewegung unter diesem Namen, und ebenso ist er von der Rätselhaftigkeit einer Sphinx. Un deutbares, Nichtaufzuschlüsselndes bleiben zurück. Das wäre bis in die Tiefen der Gespaltenheit seiner Natur zurückzuverfolgen, für die auch der lebende Hegel im mer wieder Zeugnisse gibt und die in seinem Denken durchschlägt, hier mächtig wird und den fortwährenden Wechsel von »Vereinigung« und »Entzweiung« hervor bringt. Die Geschichte von Hegels Denken ist also immer aufs engste mit der Geschichte seines Lebens verbunden. Aber will man hier eine aufstrebende Linie im Sinne einer fortschreitenden Entwicklung erkennen, gilt es sich vor zusehen. Denn eine solche Linie gibt es nicht. Als philoso phischer Schriftsteller hat Hegel nach der Phänomenologie des Geistes seinen Höhepunkt in der großen Logik erreicht. Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften in ihrer ersten Auflage bedeutet immer auch Anwendung von System und Methode für den akademischen Unterricht. Aber man wird nicht sagen können, daß die zweite und die dritte Auflage der Enzyklopädie ausschließlich Verbesse rungen gegenüber der vorausgehenden darstellen. Das gilt auch für seine Vorlesungen. Hegel beginnt 1816 in Heidelberg damit, seine Enzyklopädie und seine Geschichte der Philosophie vorzutragen. Von nun an zieht er mit den Vorlesungen über Ästhetik, Geschichte der Religion, der Natur- und Rechtsphilosophie, der Philosophie der Ge 15
schichte bis zum Tode unentwegt seine Bahn. Er setzt im Stoff fort, bekräftigt, korrigiert aber auch, spitzt zu und nimmt zurück, er verschärft und schwächt ab. Angesichts des vollen Zusammenwirkens von »System« und »Me thode« geht jede Vorstellung von einer durchgängigen Entwicklung fehl. Seine staatspolitischen Überzeugungen hat Hegel zwischen Französischer Revolution, Aufstieg Napoleons, Untergang des alten »Reichs«, dem Sturz Napoleons, dem Preußen der Reformen und der Restau ration bis zur englischen Reform Bill von 1831 bei gleich zeitigem Durchhalten bestimmter Grundüberzeugungen mehrere Male geändert. Unverkennbar bleibt seine sich steigernde Anlehnung an den politischen Konservatis mus, die ihn zum philosophischen Geschäftsführer des legitimistischen preußischen Staatsdenkens überhaupt machte, und daneben jene unheimliche Untergründig keit, die die Legitimisten später veranlaßt, Hegel des »Hochverrats« an jenem von ihnen immer mitgemeinten Bund von Monarchie und Christentum zu bezichtigen. Hegel hatte die Sache des Konservatismus und die der mit ihm verbündeten Religion befestigt und, wenn man alles zusammennahm, beides durch ihr Befragen schon ins Wanken gebracht. Nach dem »Alleszermalmer« Kant, der der Metaphysik das Vertrauen entzogen hatte, hat Hegel, der sie zusam men mit Schelling wieder in ihre Rechte einsetzte, sozusa gen unter dem Mantel dieser rehabilitierten Metaphysik und also mit ihrer Hilfe den historischen Ansprüchen von Christentum und Monarchie als fest institutionalisierten Gewalten seiner Zeit die alte Sicherheit endgültig genom men. Seit Hegel ist gegen allen möglichen Anschein das Bewußtsein ihrer Unangefochtenheit unwiederbringlich dahin. Durch die Vorstellung der Identität von Sein und Nichtsein im Werden als einem der Hauptsätze seiner Logik hat der Zweifel darin seinen Einzug gehalten. Eine Religion, die darauf angewiesen ist, »philosophisch« ge rechtfertigt zu werden, hat schon vieles von ihrer urtüm lichen Kraft der Anfänge verloren, eine Bewegung oder ein politischer Täter, auf dem Höhepunkt ihrer Wirksam 16
keit oder ihrer Macht angelangt, wissen gar nicht, wie schlecht es in Wahrheit um ihre Sache bestellt ist. Wo Hegel festigt, bereitet sich - in längeren Zeiträumen ge dacht - bereits der Einsturz vor. Wo Hegel stürzen läßt, hilft er den Aufstieg anzubahnen. In richtiger Einschät zung der »Methode« haben die dialektischen Materiali sten ihre Hoffnungen nicht an Kants Vernunftsethik, an die jakobinische Menschenrechtslehre Fichtes oder an den revolutionären Impetus des jungen Schelling ge knüpft, sondern allein an den Kronanwalt der restaurier ten Monarchie im nachnapoleonischen Preußen. In der »Methode« sind immer auch die unerläßlichen theoreti schen Mittel bereitgestellt, herrschende Systeme außer Kraft zu denken. Aber für Hegel läßt die »Weltge schichte« als »der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« bloß ein zeitweiliges Atemholen zu, das Ausruhen ist ein scheinbares. In Wirklichkeit ist es ein Sammeln der Kräfte für einen neuen Aufbruch zum prozessierenden Vorrük ken des »Weltgeistes«, nicht Vorbereitung zum Eintreten in ein Endstadium der Geschichte. Als immer mitwirkend beim Versuch, Hegelschem Denken Verständnis abzugewinnen, hat der historische Hintergrund zu gelten, auf dem es ebenso wie das gelebte Leben erfolgt- im Sinne der von Hegel selbst postulierten Identität von Denken und Sein. In diesem Zusammen hang können die biographischen Tatsachen nicht ausge lassen werden, spielen sie eine konstituierende Rolle für den Aufbau des Systems wie das Verfahren der Methode. Von solcher Einsicht war bereits Karl Rosenkranz als Verfasser der ersten Hegel-Biographie geleitet, der noch als Schüler Hegels dem engeren Freundeskreis um ihn angehört hatte. Diese persönliche Nähe bot naturgemäß große Vorteile für die Kenntnis von zu Lebzeiten Hegels miterfahrenen Ereignissen; was dagegen weiter zurück liegt, war dem Auge des Berichterstatters weitgehend entzogen, so daß hier seine Zuverlässigkeit nachläßt. Für seine Arbeit an der Lebensdarstellung hat er sich den Nachlaß nach und nach ins abgelegene Königsberg her überschaffen lassen. Von vielen Interna, etwa denen, an 17
deren Bekanntwerden Hegel selbst kein Interesse haben konnte, weiß Rosenkranz natürlich nichts, jedenfalls nicht viel zu berichten. Auch die Hegeischen Korrespondenzen liegen über weite Zeiträume außerhalb seines Gesichts kreises. Besondere Bedeutung gibt dem Buch die staats konservative Linie seiner Anschauungen als preußischer Professor auf dem Lehrstuhl Kants und Herbarts, die denjenigen des späten Hegel ins Moderate abgewandelt entsprachen. Anders Rudolf Haym in Hegel und seine Zeit. Mit seinem Namen verbinden sich Erwartungen des politischen Kon stitutionalismus an die Philosophie. Seine Tendenzen, die zu ihrer Zeit schon als die eines Altliberalen empfunden wurden, konnten zwangsläufig nicht aus dem Hegeischen System hervorgehen, das ja mit dem politischen Liberalis mus sehr ungnädig verfahren war, sie zeigten indessen den Weg eines dem demokratischen Bürgertum sich ver bunden fühlenden Schriftstellers auf, der in der Frank furter Nationalversammlung der Mitte angehörte, als He gel-Biograph ausdrücklich auf Rosenkranz aufbaut und ihn durch die ihm von Hegels Söhnen zur Verfügung gestellten, oft schwer entzifferbaren Manuskripte mit zu sätzlichen Kenntnissen ergänzt. An die Ankündigung des Vorworts, daß es sich »nicht um eine panegyrische Dar stellung des Lebens und der Lehre« Hegels handelt, hat er sich strikt gehalten und durch den insbesondere gegen dessen Rechtsphilosophie erhobenen Vorwurf, die »wis senschaftlich formulierte Rechtfertigung des Karlsbader Polizeisystems« zu sein, die Vorstellung von Hegel als Protagonisten des politischen Rückschritts und der Staats vergötterung stützen helfen, was heftige Repliken von Rosenkranz und auch der Hegelschen Familie auslöste. Kuno Fischers zweibändiges Werk ist das eines Rechts hegelianers der zweiten Generation. Zugleich ist es auf dem Boden viel breiter ausgeführter lebensgeschichtli cher Befunde ein Beispiel für eine ins Positivistische hin einreichende Vorurteilslosigkeit des Philosophiehistori kers, der seine Arbeit in die Reihe ähnlich angelegter Bücher über Spinoza, Descartes, Kant, Schelling, Scho 18
penhauer einfügt. Und es ist das Werk eines Mitbeherr schers der Universitätsszene des Heidelbergs nach der Reichsgründung, das seinen Rang als geschlossenste, die Fakten nach dem damaligen Kenntnisstand zuverlässig berichtende Hegel-Biographie nicht eingebüßt hat, auf die keine nachfolgende verzichten kann, auch wenn die seitdem hinzugekommenen Einzelbeiträge zu den ver schiedenen Lebensabschnitten Hegels längst über sie hin ausgelangt sind. An Wilhelm Diltheys Arbeit über Die Jugendjahre Hegels hat die durch seinen Verfasser entscheidend mitbegrün dete geistesgeschichtliche Richtung großen methodischen Anteil, wobei die Schleiermacherschen Vorstellungen von der »Psychologie« und in der Weiterführung Hegels ne ben »Religion« und »Kunst« die »Weltanschauung« ihre Rollen zugewiesen bekommen. Der lange anhaltende Sie geszug der Dilthey-Schule in den geisteswissenschaftli chen Disziplinen insbesondere an den deutschen Univer sitäten, der auch in Herman Nohls Herausgeberschaft von Hegels Berner und Frankfurter Manuskripten wahr nehmbar ist, kann zugleich als ein Beweis dafür angese hen werden, daß die Hegelsche Naturphilosophie durch die jedenfalls für Deutschland geltende fast völlige Unter drückung des Darwinismus als wissenschaftliche Biologie, für die sie hätte interessant sein können, weitgehend um ihre Wirkung gebracht wurde. Theodor Haerings Hegel — Sein Wollen und Werk ist ein dem Idealismus in seiner irrationalen Auslegung naheste hendes Werk, durch die dem dokumentarischen Material, so wie es damals vorlag, verpflichtete Arbeitsweise mehr monographischen als biographischen Charakters. Es ist eine Entwicklungsgeschichte Hegels, die sein Autor mit der Phänomenologie des Geistes abbrechen läßt und dies damit begründet, daß hier und mit der auf ihr fußenden Wissenschaft der Logik Hegel eigentlich schon abgeschlos sen ist - eine Meinung, der Heidegger nicht ganz fern steht. Gegenüber den vorwärtsweisenden, aus der Aufklä rung herüberreichenden Perspektiven in Hegels Denken mit ihren Wirkungen im 19. und 20. Jahrhundert behaup 19
tet sich bei Haering der Hang, in die tiefen labyrinthi schen Gänge der theologischen und naturmystischen Spe kulation einzudringen und von der württembergischen Geistesgeschichte her Hegel praktisch an Schelling heran zurücken. Hermann Glockners biographischer Hegel-Beitrag in der Stuttgarter Jubiläums-Ausgabe hat die sehr verbrei tete Vorstellung von einer Kant, Fichte, Hegel, Schelling einschließenden deutschen Philosophie kultiviert, die zweifellos ihr Recht hat, die aber leicht dem Mißverständ nis von einer irgendwie stillschweigend vorauszusetzen den oder daraus zu folgernden inneren Einheitlichkeit Vorschub leistet und dadurch brüskiert wird, daß Hegel von der idealistischen Linie Kants (und auch Fichtes) aus die schärfste Kritik Kants geleistet hat, die überhaupt geleistet worden ist und werden kann. Arsenij Gulyga - gleichzeitig Biograph Kants und Schellings — hat mit seiner Hegel-Biographie zum einen an die Unerläßlichkeit der aus idealistischem Denken heraus entwickelten »Vorgeschichte« der Aufhebung des Idealismus erinnert, er hat zum anderen den Ausgang der Hegeischen Dialektik beim frühen Schelling als dem Ur heber einer gemeinsamen Methode gesehen und unter Berücksichtigung des kulturgeschichtlichen Fortschrei tens seiner Darstellung einen marxistischen Annex beige geben, der Hegel selbst eine Vorbereiterrolle durch die dialektische Notwendigkeit einräumt, und zwar im Ein vernehmen mit Hegels Verständnis der »Weltgeschichte«, die ein »Umsonst« nicht kennt. Eintreten in den Prozeß des Hegeischen Denkens, so unzulänglich es im einzelnen auch gelingen mag, bedeutet immer, sich auf den Weg durch die graue Karstlandschaft des Seins zu machen. Es ist ein Weg, auf dem mit der »negativen Dialektik« (Adorno) als Mittel ein ins Unend liche hinein erfolgendes »objektiviertes Subjektwerden« mit dem Zusammenfall von »Subjekt-Objekt« als Ziel, und zwar als »Zusichselbstkommen« des »Geistes« im »absolu ten Geist«, stattfindet; eine Spekulation unerhörten Aus maßes, aber von Hegel sehr wohl aus den Verhältnissen 20
des eigenen Lebens heraus entwickelt: es sei denn, man will Denken aus dem Zusammenhang des Lebens über haupt herauslösen und zu einer Angelegenheit von To tem für Totes machen. Die Versuche zur Erfassung von Hegels Denken im Zusammenhang mit seiner Lebensgeschichte, die Abhän gigkeit wie die Unabhängigkeit von ihr, sind über einzelne biographische Abrisse hinausgehend gefördert worden durch Beiträge vorwiegend monographischen Charakters zur Stuttgarter, Tübinger, Berner, Frankfurter, Jenenser, Bamberger, Nürnberger, Heidelberger, Berliner Zeit, des weiteren die Materialienbände und ihre Ergänzung durch die Briefedition von Johannes Hoffmeister, Friedhelm Nicolin und Rolf Flechsig und die der zeitgenössischen Berichte über Hegel von Günther Nicolin. Hier ist wie bei der Fortführung der Werkeditionen noch alles in Bewe gung, ein Ende — Hegelschem Denken gemäß — außerhalb jeder Erwägung. Das alles liegt außerhalb des Hegeischen Denkens in seinem Vollziehen. Und solches Denken läßt sich nur bei Hegel selbst mitvollziehen.
21
22
Erstes Kapitel
Herkunft
Als Hegel am 27. August 1770 in Stuttgart geboren wurde, hatte bereits die Landschaft, in der das geschah, kräftig an seinem künftigen Charakterbild mitgewirkt. Hegel ist Württemberger und hat sich — auch noch als späterer preußischer Beamter - als Württemberger ge fühlt. Der Familienüberlieferung nach sind die Hegels Nach kommen von Einwanderern aus der Steiermark oder Kärnten, die um die Mitte des 16.Jahrhunderts als ver folgte Protestanten in Württemberg Schutz suchten und fanden, darunter ein Johann Hegel, von Beruf Kannegie ßer, der sich in Großbottwar niederließ und es noch zum Bürgermeister dieses Städtchens im jetzigen Neckarkreis brachte. Er gilt als der Stammvater mit zahlreicher in Württemberg verbreiteter Nachkommenschaft, so der Pa stor Hegel, von dem Schiller getauft wurde, so auch Hegels Vater Georg Ludwig, herzoglicher Rentkammer sekretär und späterer Expeditionsrat. Hegels Großvater war Oberamtmann in Altensteig im Schwarzwald gewe sen, Hegels Mutter Maria Magdalena entstammte einer seit dem 17. Jahrhundert in Stuttgart ansässigen Familie, aus der Theologen, Juristen, Beamte hervorgegangen waren und die über den mütterlichen Zweig auf Johannes Brenz, den Reformator Württembergs, zurückging. In Württemberg während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geboren zu werden bedeutete für einen jungen Mann mit der Herkunft und den Interessen He gels eine hervorstechende Gunst. Württemberg hatte ne ben Sachsen und den sächsisch-thüringischen Landesfür stentümern im »Reich« das am weitesten entwickelte Schulsystem. Preußen hinkte damals noch hinterher; als kärglich besoldete Volksschullehrer standen ihm lediglich ausgediente Soldaten und Kriegsinvaliden ausreichend zur Verfügung. Die klassischen Schullandschaften aber sind Sachsen 23
und Württemberg. Über Meißen, Grimma und Schul pforta zieht sich Sachsen seine Beamten heran, vornehm lich aber Theologen und Gymnasiallehrer, auf die es im Staat eigentlich ankommt, Philologen, die, nachdem sie ihren Homer gelesen haben und einen schönen lateini schen Stil schreiben können, mit dem Gefühl scheiden, hinfort für jedes Amt gerüstet zu sein. Voll ausgebildet ist schon ein Stipendiatensystem mit zwei Hauptkriterien für die Auslese, die den »Christenmenschen«, seinen Glauben und Wandel betreffen sowie dessen Fertigkeit in der Grammatik der alten Sprachen. Herrscht hier Ordnung, läßt sich über alles andere reden. Als Württemberger sind die Schwaben zu Hegels Zeiten der einzige auf einem geschlossenen staatlichen Territo rium lebende protestantische deutsche Volksteil südlich der Mainlinie, und dies seit 1565, jenem Jahr, in dem nach langen konfessionellen Kämpfen, aber dann unwiderruf lich, der Landtag das Augsburgische Bekenntnis zur allei nigen Landesreligion erklärt hatte. Damit unterscheiden sie sich von den Schwaben des alten Habsburgischen Besitzes, einem merkwürdigen Gebilde von Herrschaften, die zum Teil, unzusammenhängend, wie sie waren, nie zu einer politischen und kulturellen Einheit gefunden hat ten. »Osterreichisch-Schwaben« ist zusammen mit Vorarl berg und dem Breisgau Vorderösterreich zugehörig und bis 1752 von Innsbruck, später von Freiburg aus regiert worden. Diese Region mit ihren mittleren und kleineren Flächenterritorien an der oberen Donau und im Norden zählt zu den Nebenländern der Habsburgischen Krone, sie kennt daneben freie Städte und reichsunmittelbare Ritterschaften. Aber unter Karl Eugen beginnt man, Schwaben mehr und mehr mit Württemberg gleichzuset zen, weil das Herzogtum mit seinen etwa 500000 Ein wohnern als straff zusammengehaltener Staat dieser Zer splitterung der außerhalb seiner Grenzen liegenden schwäbischen Siedlungsgebiete und ihrer vorwiegend ka tholischen Bevölkerung neben simultanen (Biberach) und Diaspora-Gebieten mächtig hervortreten läßt. Dort das absolutistische Regiment eines Souveräns des 18. Jahr 24
hunderts mit Teilnahme an der Aufklärung und mit zentralistischer, pragmatischer, säkularisierter Verwal tung, hier Altertümlichkeit des «Reichs« mit starken feu dalen Resten, die dem Staat der omnipotenten Monarchie zähen Widerstand entgegensetzen. Was »Staat«, »Monar chie« und »Feudalismus« als historische und politische Gewalten bedeuten, war in Schwaben, wo sie nebeneinan der bestehen und sowohl miteinander als auch gegenein ander auftreten, an der Quelle in Erfahrung zu bringen. Dazu kam in Württemberg eine Landeskirche, die über alle Regierungswechsel hinweg seit der Reformation ih ren Einfluß ungeschmälert beibehielt und das Leben des Untertans mitunter von der Geburt bis zum Tode sehr genau kontrollierte. Nichts zu übereilen ist in Schwaben ein Grundsatz mit Vorrang. Gut Ding will Weile haben. Man muß erst in die Jahre kommen, ins »Schwabenalter«, das mit vierzig be ginnt, bevor man klug wird. Der Gedanke braucht hier eine längere Durchlaufzeit, um zur Reife zu gelangen. Aber er hat dann oft Unerwartetes im Gefolge. Einen Ausweg auf einfallsreiche Weise schaffen, das ist gute schwäbische Art, die freilich auch die Umkehrung in die Groteske des aller Vernünftigkeit spottenden »Schwa benstreichs« kennt. Man darf sich hier vielleicht getrost der Charakterisie rung anvertrauen, die Friedrich Theodor Vischer in sei ner Streitschrift Dr. Strauß und die Württemberger gibt, für die er durch seine Herkunft aus dem innersten Kern des Stammes unbestreitbare Kompetenz mitbringt, wenn er sie als die »Norddeutschen des Südens« sieht, und zwar ihrer Konfession wegen. Das galt wohlgemerkt nur für das Herzogtum, und es galt auch nach Vischer nur mit Einschränkung; denn was der »Norddeutsche« bei ihnen findet und nicht als Eigenes besitzt, ist »das süddeutsche Behagen, das gesunde Phlegma, die frische Genußfähig keit, das Konkrete und Kompresse einer fest in sich zu sammengehaltenen Gemütswelt; er wird die wesentlich sten Elemente des Mittelalters hier finden; wie wird er sich aber täuschen, wenn er darum meint, ein Naturvolk voll 25
heiterer Illusionen über die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Geistes zu treffen! In diesem weichen, scheinbar behaglichen Elemente wird er auf die skrupulö seste Dialektik, auf die tiefsten Zweifel, auf das weiteste Interesse an den spitzigsten Fragen moderner Bildung, auf eine melancholische Entsagung, er wird auf so viel Hamlet und Faust stoßen, daß seine etwaige Lust, sich zu der erwarteten Naivität ironisch zu verhalten, sich selbst als Naivität könnte zu stehen kommen.« Vischer nimmt damit eine vermittelnde Stellung in der von Theodor Storm und Eduard Mörike geführten Nord-Süd-Debatte teil, wie sie angesichts des Aufstiegs Preußens als politi scher Kraft des deutschen Nordens während der 6oer und 70er Jahre des 19.Jahrhunderts die Korrespondenz zweier unmittelbar durch ihre Landschaftsdichtung darin verwickelte Autoren bestimmt. Und Vischer hat auch eine Erklärung dafür: »Württemberg nahm die Reformation mit einem Eifer, einer Entschiedenheit auf wie kein süd deutscher Staat. Die Religion, die Konfession ist eine Probe des Menschen, sie geht bis in die Fußspitze ... Man kann sagen, das Naturell des in unseren Gegenden ange siedelten Volksstammes hat eine besondere Empfänglich keit für dieses weltgeschichtliche Prinzip in sich getra gen ...« Das waren nicht nur Urteile eines bedeutenden Hegelianers, der Vischer war, sondern gehört schon fast zur Einführung in die Hegeische Philosophie. Weiter hören wir: »auf der einen Seite poetischer Tief sinn, auf der anderen die Kraft und Kühnheit des Zweifels, der Kritik«. - »Der Schwabe ist lebhaft und flink wie alle Weintrinker«, zu denen der »Norddeutsche« nicht ge hört, und er ist »phlegmatisch«. Vischer warnt ausdrück lich davor, das »Simplizissimusartige in uns« für bare Münze zu nehmen. Ein solcher Eindruck des historischen Schwaben, von dem bei Vischer die Rede ist, täuscht, er ist mit dem faustisch-hamletischen Zwiespalt seiner »Doppel natur« nicht in Einklang zu bringen: »Es ist etwas Nach denkliches, Skrupulöses, Sorgenvolles, ja Tristes, was den Schwaben auch in seinen Zerstreuungen verfolgt.« Der Ton, mit dem sich Vischer zugleich auf die Seite der 26
Kritiker Schwaben-Württembergs, des Herzogtums ins besondere, auf das es ihm vor allem ankam, schlägt, liegt woanders. Er hat eine höchst biographische Ursache. Was Schiller, Hegel, Schelling (und für Vischer auch David Friedrich Strauß) wurden, sind sie nicht durch Württem berg geworden: »Schwaben hat es freilich von jeher ge liebt, seine edelsten Kinder zu verleugnen. Es hat Schiller erzeugt und fortgeschickt, es hat Schelling und Hegel erzeugt und fortgeschickt.« Alle mit diesem Land und seinen Bewohnern angestellten Rechnungen gehen nicht auf: »Will man den Sinn des Württembergers in ein kurzes Wort zusammenfassen: es ist, was der unlösbare Wider spruch scheint, das Moment der Reflexion in sich, des freien und kritischen Selbstbewußtseins in der Form der Naivität.« Es bleibt zu fragen: War diese auf eine hegelsche For mel gebrachte Charakterisierung des »Württembergers« aus der Hegeischen Philosophie, oder war die Hegelsche Philosophie aus seinem Württembergertum, wie Vischer es sieht, abgeleitet? Aber das sind alles nur provisorische Wahrheiten, die von der Wirklichkeit immer wieder überholt werden. Schiller hatte das »Schwabenalter« noch längst nicht er reicht, als er die Räuber schrieb, und eine Anstrengung, zum sprachlichen Stil zu finden, läßt sich bei ihm nicht bemerken. Auch Hölderlin, ein anderer Wortgewaltiger, bleibt in der Erinnerung als jugendlicher »Hellene« zu rück, die selbst das Alter mit seiner Tristesse nicht auslö schen kann. Beide, soweit sie auch auseinanderliegen, sind zugleich immer Prediger, sie haben Botschaften zu verkünden. Der Prediger, der in ihnen steckt, wirft sie selbst in ihren Höhenflügen wieder auf ihre Landschaft zurück, aus der sie herausgewachsen sind. Denn der Prediger ist im Würt tembergischen unangefochtener Archetypus von Stadt und Land: als Mann der Kanzel und des Talars, der Schrift und der Schriftauslegung. Das eine ist ans andere gebunden und schafft die im ganzen Herzogtum ihm abgenommene Autorität. Vom Allgemeinen kann man 27
leicht zum Einzelnen gelangen, von der herrschenden Orthodoxie zu den Erweckten im »Land«, den Anhän gern eines Bengel, Oetinger und Hahn, den pietistisch Durchsäuerten, den Theosophen, den Mystikern, den Spekulierern und Spintisierern, zur Idylle vom ländlichen Pfarrhaus mit Rosengarten, das leidliches Wohlleben ge stattet, dicht beim Kirchturm mit dem Wetterhahn auf dem Dach. Württemberg ist ein Land der Städte, aber es gibt mit Ausnahme der Residenzen Stuttgart und Ludwigsburg keine strenge Trennung von »Stadt« und »Land«. Das »Land« beginnt in der »Stadt«, es reicht tief in sie hin ein, ist mit seinen ackerbürgerlichen Quartieren bereits Teil von ihr, kennt in ihren Häuserzeilen die Stallung von Vieh und die Stapelung von Gerät zum Bewirtschaften der außerhalb der Wohngebiete liegenden Äcker. Fried rich Theodor Vischer nennt 1849 Tübingen noch ein »schmutziges ödes Dorf«. Durch seine engen Gassen wer den Kühe getrieben. Stuttgart ist nicht Dresden, sowenig wie Lessing Schiller ist, es ist noch weniger Leipzig, das Goethe zu der Zeit, als Hegel noch nicht geboren war, bereits wie ein »Klein-Paris« erschien. Aber als Residenz mit etwa 20 000 Einwohnern bietet es Behaglichkeit durch seine Parks, Gärten, Promenaden und Geschäfte, die Lä den der Hoflieferanten, ein erheblicher Kontrast zum bäuerlichen Umland. Die Gegend um das neue Schloß, der nach Cannstatt hin angelegte englische Garten, die rechtwinkligen Straßenanlagen der Vorstädte und der Ludwigsburger Residenz sind klassisches 18.Jahrhun dert. Nicht zuletzt durch Schillers Lebensumstände, die ihn aus Staat und Residenz vertrieben, blieb der Eindruck vom Württemberg Karl Eugens als einer Zuchtanstalt unauslöschbar. Die Attribute des Absolutismus mit Will kür, Verschwendung, Mätressenwirtschaft der Franziska von Hohenheim als ihrem Idol und dem Hohenasperg als Kerker für die Staatsgefangenen fehlten hier nicht. Das Schicksal des Dichters Schubart, den der Herzog heimtük kisch auf württembergisches Territorium gelockt hatte 28
und dort zehn Jahre auf schmählichste Weise gefangenhielt, hat das ganze Deutschland des alten »Reichs« em pört bis hin zu Friedrich dem Großen, der seine schließ liche Freilassung erwirkte. Aber das System wirkt wie künstlich aufgelegt, es kann in die vorwiegend ländlichen Lebensvorgänge kaum tiefer eindringen. Die Erinnerung an das »gute alte Recht« ist nie verlorengegangen. Es stand für den Feudalismus, den Hegel später unbarmher zig bekämpft, aber es stand auch für seine »gemütliche Seite«, mit der die Stände der absoluten Monarchie Paroli boten. Doch es ist gerade der Absolutismus gewesen, der dem Erziehungswesen in Württemberg modernisierende Im pulse verliehen hat gegenüber dem kirchlichen Monopol. In der Karlsschule sucht der Herzog nicht Nachwuchs für Kanzel und Schulstube, der in Schwaben seit Jahrhunder ten auch ohne ihn kräftig heranwächst, sondern neben Offizieren Ärzte und Leute für die technischen und admi nistrativen Elitekader auszubilden. Und er nimmt sie überall da, wo er sie findet. Schiller studiert Medizin und Naturwissenschaften; er hat als Karlsschüler mit der Theologie nichts mehr im Sinne. Aber dieser Bildungsrealismus, wie er hier aufkommt, bleibt dennoch im Württemberg weiterhin eine Sache zweiten Ranges. Gegen das schwäbische Theologenwesen wird er sich in der Folge noch lange nicht als gleichrangig behaupten können. Der Weg, der für den künftigen Got tesmann eingeschlagen werden muß, ist der von den kleinen Seminaren zur Universität Tübingen, auf klassi sche Weise der von Maulbronn oder Blaubeuren zum Tübinger Stift. Wieder, wie in Sachsen, über ein stark entwickeltes Stipendiatensystem, nur ohne den großen Anspruch der »Fürstenschule« mit dem vom Namen aus gehenden Doppelsinn. Wir begegnen einer landeskirch lichen Anstalt ohne weiteren Aufhebens als Erziehungs stätte von Seminaristen mit dem Ziel der Ordination zum beglaubigten Diener des Worts, zum Mann, in dem das »schwäbische System« seine Erfüllung erfährt! Das war auch der Weg, der Hegels Vater, dem Sekreta 29
rius der herzoglichen Rentkammer, für seinen ältesten Sohn vorschwebte. Der kommt schon mit drei Jahren in die Deutsche Schule, mit fünf Jahren in die Lateinschule, aber der Plan, ihn anschließend in eines der württem bergischen Vorbereitungsseminare zur Universität zu schicken, wird fallengelassen. Statt dessen besucht er vom siebten Jahre an — die Familie war ein Jahr zuvor aus der eher populären Eberhardstraße in das neue wohlhaben dere Viertel der Röderschen Gasse umgezogen — das Stuttgarter Gymnasium. Das ist weniger und zugleich mehr. Als Abweichung vom schwäbischen Schema erster Wahl bedeutet es weni ger, aus der Sicht und nach den Regeln der Stuttgarter Hofgesellschaft bedeutet es mehr, wird auf dem Gymna sium illustre doch der Ausbildung hin zu gehobeneren Verhältnissen Tribut gezollt. Seiner Stellung nach war der Vater, wenn auch nicht Mann des Hofs, immerhin Mann der Hofadministration. Aber das Gymnasium war nicht die erste Schule in Stuttgart. Die besseren Lehrer und die Zuneigung des Herzogs hatte die Karlsschule, die auch der Bruder Ludwig besuchte, aber mit ihrer aufs Prakti sche eingestellten Richtung für Hegel nicht in Frage kam, weil er Theologe werden sollte. Für den Eintritt ins länd lich gelegene Klosterseminar bestand bei Hegel nicht der selbe äußere Zwang wie bei Schelling oder Hölderlin als jungen Leuten aus kleineren Städten und Ortschaften der Umgebung. Der Hegel des Stuttgarter Gymnasiums zeigt sich durch und durch als Musterschüler, dem die Autorität der Leh rer so viel gilt, daß er ihren persönlichen Umgang nach drücklich sucht. So insbesondere den seines Klassenleh rers Löffler, der dem Achtjährigen eine ShakespeareAusgabe in der Eschenburgschen Übersetzung schenkt und den er auf Spaziergängen begleitet. Anerkennung des Amts seiner Legitimität wegen! Da hinter steckt für den Schüler Hegel bereits eine erste Erfahrung mit der »Geschichte«: »Geschichte« als »Welt geschichte«, wie er sie sich durch das Kompendium von Schröckh zu eigen zu machen versucht! Was er an 30
Schröckhs Werk schätzt, trägt er am 27. Juni 1785 in sein Tagebuch ein: »Er vermeidet den Ekel der vielen Namen in einer Spezialhistorie, erzählt doch alle Hauptbegeben heiten, läßt aber klüglich die vielen Könige, Kriege, wo oft ein paar Hundert Mann sich herumbalgten, und dgl. ganz weg .. « Das bedeutet für ihn die Forderung nach einer »pragmatischen Geschichte«. Was darunter zu verstehen sei, beantwortet er an gleicher Stelle unter dem l.Juli: »Eine pragmatische Geschichte ist, glaub' ich, wenn man nicht bloß Facta erzählt, sondern auch den Charakter eines berühmten Mannes, einer ganzen Nation, ihre Sit ten, Gebräuche, Religion und die verschiedenen Verän derungen und Abweichungen dieser Stücke von anderen Völkern entwickelt; zeigt, was diese oder jene Begebenheit oder Staatsveränderung für die Verfassung der Nation, für ihren Charakter u. s. f. für Folgen gehabt...« Der bei aller Weitläufigkeit doch vor allem humanisti schen Richtung der Schule hat der Vater durch Privat stunden des Sohnes beim Artillerieoberst Duttenhofer entgegenzuwirken gesucht, der ihn in Geometrie und Astronomie zusätzlich unterrichtet und gleichzeitig zur Feldvermessung auf seinen Gängen mit ins Freie hinaus nimmt. Dessen Sohn gehört zum Kreis von Hegels eng sten Jugendfreunden. Der Vater ist es auch, dem nach dem Tode seiner Frau während einer Ruhrepidemie die häusliche Erziehung der drei Kinder — neben dem zweiten Sohn Ludwig, der später Offizier wird, noch die Tochter Christiane — zufällt. Hegel war damals dreizehn Jahre alt und selbst so krank, daß man an seiner Rettung zweifelte, aber er genas wieder. Er hat den Verlust der Mutter tief beklagt und sehr schwer verwunden. Den Schulpflichten hat sich Hegel mit außerordentli cher Sorgfalt unterzogen. Piaton und Sokrates bilden für ihn natürlich die tägliche Hauptgesellschaft, dazu Homer und Aristoteles. Von den griechischen Tragödiendich tern begeistert ihn neben Euripides besonders Sophokles mit seiner Antigone; bei den Lateinern Livius und später Cicero, Longin und Longus, den er übersetzt, ebenso wie Epiktet; alles hellenistische Autoren der Kaiserzeit. Das 31
Neue Testament gehörte zur frühen Griechisch-Lektüre. Weil für den württembergischen Gymnasiasten in jedem Fall das Pfarramt als Lebensziel ins Kalkül gezogen wer den muß, kommt das Hebräische noch hinzu, auf das im Unterrichtsplan der Schule wie für das Griechische zwei Wochenstunden entfielen. Von der neueren deutschen Dichtung ist es Goethes Werther, mit dem er neben Les sings Nathan und Schillers Fiesko Bekanntschaft macht. Dasjenige Buch aber, das ihn am meisten gefesselt hat, ist Sophiens Reise von Memel nach Sachsen von Johann Timo theus Hermes, ein Roman in sechs Bänden über die Abenteuer eines jungen Mädchens zur Zeit des Siebenjäh rigen Kriegs und der russischen Besetzung in Ostpreu ßen. Darin läßt sich der Verfasser in der Manier Fieldings und Richardsons mit großer Ausführlichkeit über die Alltagswirklichkeit aus, in Schilderungen von Szenen aus dem Volksleben, aus Bürgerstuben, Gasthöfen mit Köchinnen und Reitknechten, mit Postkutschen, von de nen aus die Landstraße betrachtet wird. Hegel kann sich, wie er als Tagebuchschreiber vermerkt, von diesem Buch, das zu den meistgelesenen Werken des Jahrhunderts ge hört, solange er es in Händen hält, immer nur schwer trennen. Schopenhauer nimmt das später zum Anlaß, um zu höhnen: »Mein Leibbuch ist Homer, Hegels Leibbuch ist Sophiens Reise von Memel nach Sachsen.« Man braucht hier nicht tiefer zu graben: Die populari stische Richtung von Johann Timotheus Hermes hat es ihm zeitlebens angetan. Mit gleicher Hingabe liest er Theodor Gottlieb von Hippeis Lebensläufe nach aufsteigen der Linie. Sie machen ihn vertraut mit dem, was ihm das eigene Leben vorenthält. In ihm gilt das Unauffällige, die Abwesenheit der großen Geste. Das macht er sich auch als Besucher der Hofkonzerte zur Regel, die ihm, wie er bemerkt, über ihre eigentlichen Zwecke hinaus diskrete Gelegenheit »zum Anschauen schöner Mädchen« bieten. Zwar nimmt er an einem Tanzkurs teil, aber die jungen Damen müssen, wie die Mutter seines späteren Anhän gers Friedrich Theodor Vischer noch zu berichten weiß, weil sie selbst dazugehört hatte, unter seiner »Unbehol 32
fenheit« schrecklich gelitten haben. Die Schwester Chri stiane hält im gleichen Zusammenhang stichwortartig fest: »liebt Springen, aber beim Tanzmeister linkisch«. Es verstand sich von selbst, daß der Schüler des Gymna siums illustre an den nachmittäglichen Promenaden im Residenzstil, die einige seiner Mitschüler sich angelegen sein ließen, nicht teilnahm. Um so schlimmer fühlt er sich betroffen, als er in einen Vorgang von außerordentlicher Peinlichkeit hineingezogen wird. Einige 16—17jährige Gymnasiasten hatten sich unterstanden, 11- und i2Jäh rige Mädchen öffentlich auszuführen und damit sozusa gen erste Kavaliersübungen zu veranstalten. Das kann die Schule nicht hinnehmen. Von den einzelnen Klassen wird der jeweilige Primus, also auch Hegel, zu einem Konvent mit den Lehrern bestellt; Verwarnungen werden ausge sprochen und für den Wiederholungsfall Konsequenzen angedroht. Wenn auch selber an den Vorgängen unbetei ligt, so war Hegel doch wider Willen auf die Seite der möglicherweise für künftige Verfehlungen in Frage Kom menden geraten. Das kann er als Erfahrung mit nach Hause nehmen. Ähnliche Anlässe dazu im täglichen Leben gibt es ge nug. Werden entsprechende Erkundungen gemacht, so bringt er sie nach Möglichkeit gleich mit entsprechenden Schlußfolgerungen zu Papier. So am 3.Juli 1785: »Auf dem Rückweg eines Spaziergangs stellten wir, besonders ich ... den Satz auf: >Jedes Gute hat seine böse Seite< (oft minder, oft mehr, nach Verhältnis des Guten) und wende ten diesen Satz bei jedem Tritt an.« In seinem Tagebuch hat er es von Anfang an darauf abgesehen, vernünftige, für sein Alter vielleicht ein wenig allzu vernünftige Aufzeichnungen einzutragen. Irgend eine Beteiligung an einem Streich oder einer Jugendtor heit ist ihm nicht nachzuweisen, denn jung ist der Schüler Hegel eigentlich nie gewesen. Den gefährlichen Seiten, die gesellschaftliches Leben mit sich bringen kann, begeg net er früh durch eine entwaffnende Gutmütigkeit. Harmlose Kameraderie, Schach und Kartenspiel bei höchstens ganz geringen Einsätzen! Das ist es, was ihm 33
Freude macht. Wie einige seiner Mitschüler in eine der mondänen Sozietäten einzutreten, die sich «Doggenge sellschaft« oder »Lappländer« nannten, wäre ihm kaum in den Sinn gekommen. Mädchen sieht man - wenn sie schön sind - mit Wohlgefallen, aber nur aus der Ferne zu. Das hält er in den Tagebuchaufzeichnungen als für sich selbst bestimmtes Geheimwissen fest. Am Sonntag einmal nicht in die Kirche zu gehen, ist schon eine Kühnheit, die es verdient, in den abendlichen Niederschriften ange führt zu werden. Er kann sogar als lutherischer Christ, um Vergleiche anzustellen, die katholische Kirche besuchen mit Lob für die dort gehörte Predigt; aber auch mit geäußertem erheblichen Unbehagen an der Einrichtung der Messe: wodurch die Wohlausgewogenheit des »un parteiischen« Beurteilers wiederhergestellt ist. Hier sind schon Grundanschauungen dabei, sich in ihm auszubilden, die am Bestehenden Anlehnung suchen und doch schon Abstand zu ihm kennen. Es gilt: mit dem Bestehenden muß gerechnet werden. Darum: »Ei, Ei! Schlimme Nachrichten von Hohenheim. Diese Bauern, das sind verwünschte Leute, haben dem Herzog alle Fen ster im Schloß zu Scharnhausen eingeworfen.« So kann er am 29. Juni 1785 festhalten. Aber ob ein Urteil durchgän gig Gültigkeit habe, hatte er einen Tag vorher ernsthaft in Zweifel gezogen: »Ich machte die Bemerkung, was für verschiedene Eindrücke einerlei Gegenstände auf ver schiedene Personen machen können.« Von dieser frühen Beobachtung der »Wirklichkeit« sind schon die ersten Ansätze für das »Einerseits« und »Andererseits« aufge nommen. Hier ist jemand dabei, über seine ersten Ein drücke und Erfahrungen von Welt und Leben genau Buch zu führen, sie zu einem großen Fundus zusammen zutragen. Ein Sammeln von Tatsachen, das er über Jahre fortsetzen wird und in dem auch seine Eindrücke und Erfahrungen in den Rang von Tatsachen rücken! Die Frage, wer die Abschiedsrede des Jahrgangs über »den verkümmerten Zustand der Künste und Wissen schaften unter den Türken« halten darf, wird von der Schule auf diplomatische Weise gelöst, indem man sie auf 34
fünf Schüler verteilt. Hegel als Primus ist bei der Feier der letzte, der die Einhaltung des von ihnen erwarteten jähr lich wiederkehrenden Zeremoniells, mit viel Lob für die Lehrer natürlich, streng beobachtet. Der Vortrag enthält die entsprechenden stilisierten Elemente der Schulrede. Aber an einer Stelle bricht denn doch ein unverfälschter Hegelscher Ton durch, der schwerer wiegt als eine bloße Demutsgebärde, bei jener Versicherung, »daß wir zum Teil schon jetzt, für das Vergangene zu spät, es einsehen lernen, was jede Unachtsamkeit auf die Warnungen unse rer Lehrer und Vorgesetzten für nachteilige Folgen hat...«. Mit anderen Worten: Was wir versäumt haben, ist für uns dahin, durch eigene Schuld unwiederbringlich verloren. Das war der rechte Ton des zerknirschten lutherischen Sünders mit den niedergeschlagenen Augen, der aber der Verheißung gewiß sein darf, jetzt vom Tiefpunkt der Jugend mit ihren Irrungen und Wirrungen jenem Alter entgegenzugehen, das ihn vor den Untugenden, die er reumütig bekennen muß, bewahrt. Ein Lobpreis des Al ters, in das man gar nicht schnell genug gelangen kann, dessen Vernünftigkeit man tunlichst vorwegnehmen soll! Dieses Schuldgeständnis und die daraus gewonnene Ein sicht aber waren nicht mehr nur rhetorischer Topos, sondern spiegelten glaubwürdig das Gefühl eines altklu gen jungen Mannes, der hier eigene Erfahrungen aus spricht und sich mit einer gleichfalls glaubwürdigen Ein sicht verabschiedet: daß es sich in jeder Hinsicht im Würt temberg besser leben lasse als in der Türkei. Wofür dem Herzog wie den Lehrern der höchst verdiente Dank aus zusprechen sei!
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Zweites Kapitel
Im Tübinger Stift Im Herbst 1788 bezieht Hegel die Universität Tübingen. Die Matrikel mit seinem Namen nennt den 27. Oktober und als Fach Theologie. Ein anderes Studium wäre für ihn nicht in Betracht gekommen. Das hatte für den Absolven ten des Stuttgarter Gymnasiums immer festgestanden und entsprach auch den Vorstellungen des Vaters. Dem Antritt des Studiums war ein erfolgreiches Gesuch wegen des Hirschmann-Gomerischen Stipendiums vor ausgegangen. Mit dem Stipendium ausgestattet, konnte Hegel nach erteilter herzoglicher Erlaubnis das Tübinger Stift beziehen. Das Stift, eine (Gründung von Herzog Ul rich, befand sich in dem seit 1547 aufgelösten Augustiner kloster und nahm künftige Pfarrer und Gymnasiallehrer unter den Landeskindern für die Zeit ihrer Ausbildung auf. An der Spitze des Stifts stand als Ephorus jener Jakob Friedrich Abel, der Schillers Lehrer in Stuttgart gewesen war. Im Hause selbst befand sich die Leitung in den Händen des Repetenten. Als halbklösterliche Einrichtung galt darin die Stiftsdisziplin. Belohnungen und Strafen wurden jeweils vierteljährlich addiert; ihre Summe gab einen ernst zu nehmenden Maßstab zur Beurteilung des Zöglings ab. Für Verstöße waren Ahndungen vorgesehen, sogenannte Garitionen, die von der Ermahnung über den Entzug des Tafelweins bei den Mahlzeiten (bzw. bei des sen schlechter Qualität Einziehung eines dafür angesetz ten Geldbetrages) bis zur Einsperrung im Karzer reichten. Die Universität Tübingen mit ihren knapp 300 Studen ten ist zu dieser Zeit von hervorstechender Bedeutungs losigkeit, eine Ausbildungsstättc vorwiegend für den Schul- und Kirchendienst in Württemberg, wohingegen Mediziner und Juristen die Stuttgarter Karlsschule besu chen. Die Aufklärung, die sich auch von Tübingen nicht hatte fernhalten lassen, ist Aufklärung im Wolffschen Stadium, während Kant trotz der schon 1781 erschiene
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nen Kritik der reinen Vernunft, eher noch als Geheimtip
einiger Vorwitziger gilt. Dazu wird Hegel nicht gehören. Aber ob Wolff oder Kant, Rousseau oder Herder: auf den Tübinger Kathedern haben Storr und Schnurrer, Flatt und Rösler ihre kleinen Herrschaften aufgerichtet. Da geht es um den Vorrang der Dogmatik gegenüber der Kirchengeschichte und Exegese oder umgekehrt, um Bi belglauben im Licht der Orthodoxie oder des Pietismus. An diesen unbestrittenen Leuchten ihres Fachs bekommt Hegel, dem auf dem Stuttgarter Gymnasium die Überle genheit »der Griechen« nahegebracht worden war, »Chri stentum« als theoretische und angewandte Disziplin de monstriert, als Phänomen der »Weltgeschichte«, als neues Prinzip gegenüber einem alten. Es gibt hier nichts, was nicht ernst zu nehmen wäre. Ein Mann wie Storr, an den Hegel sich zeitweilig anschließt, ist sehr wohl in der Lage, ihm die jüdische Vorstellung der Strafgerechtigkeit und den Gedanken der Versöhnung in unanfechtbarem pauli nisch-lutherischem Verständnis nahezubringen. Unab hängig von »Glauben« oder »Nichtglauben« wird in sol chen Kathedervorträgen die Bewegung des »objektiven Geistes« sichtbar, in ihnen kann Hegel als Zuhörer diesen Übergang vom »Judentum« zum »Christentum« unmit telbar miterleben. Zugleich zeigen sie ihm Handwerker bei der Arbeit, die mit ihren Werkzeugen das »Myste rium« wie einen zerlegbaren Mechanismus in seinen Ein zelteilen vorführen. Hegel hat auf den Tübinger akademischen Unterricht mit seiner gewaltigen Fähigkeit zur Lethargie reagiert. Lethargie als Glücksfall, als Mittel zum Ertragenkönnen! Im Hegel der Tübinger Jahre stecken eine eigentümliche Verschlafenheit und ein Hang, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Das reicht bis in seine zahlreichen Verstöße gegen die Stiftsdisziplin, die im Jahre 1790 bei ihm auf 18 »Caritioncn« anwachsen; Fernbleiben von den Vorlesun gen, Vernachlässigung der Anstaltstracht, Schlafen bis zum Mittag nach durchzechten Nächten, Fehlen beim Gebet, was ihm von der Stiftsauf sieht vorgehalten werden kann. Ein Jahr später landet er wegen verbotswidrigen
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Ausritts und verspäteter Rückkehr vom Urlaub im Kar zer. Die Beurteilung seiner Sitten zeigt in den Zeugnissen bis zum Jahre 1791 fallende Tendenz bei gleichbleibendem Lob von Begabung und Fleiß, obwohl seine häufige Abwe senheit von den Lehrstunden sehr wohl vermerkt wurde. Hier tritt ein eigentümlicher Zug des Stifts zutage, das, ohne im geringsten permissiv zu sein, doch eher einem gewissen Gewährenlassen zuneigte. Lin drakonischer Charakter war den hier üblichen Strafen nicht nachzusa gen. Die von Hegel für das Studieren bevorzugten Nächte werden ihm für sein Fernbleiben zugute gehalten. Mit Hegel zusammen war Hölderlin ins Stift gekom men, gleichaltrig, zum gleichen Jahrgang gehörig. Auch er dem Fache nach Theologe, aber in seinen Gedanken unablässig bei den »Griechen« und im »Griechenland« der »Antike« mit seinen Künsten, seinen Göttern und seinen Tempeln verweilend, ein junger »Götterbote«, der seine Kleidung pfleglich behandelt! Hölderlin war übri gens den schwäbischen Weg erster Wahl, über das Klo sterseminar Maulbronn, zur Landesuniversität gegangen. Er behauptet, in der Rangliste (»Location«) vor Hegel gelegen zu haben, denn er teilt der Mutter im Frühjahr 1790 betrübt mit, daß er hinter Hegel und Märklin zu rückgefallen sei. Die als Ranglisten angelegten Schüler verzeichnissc bestätigen das freilich nicht. Hegel dagegen wird zurückgesetzt, und zwar hinter ebendiesen Märklin, seinen alten Mitschüler aus Stuttgart. Leutwein, eine »Promotion« voraus und guter Freund Hegels, macht für diese Zurücksetzung dessen Ungezwungenheit verant wortlich, die man bei der Stiftsleitung nicht gern gesehen habe. Durch sein »genialisches Betragen«, was er durch unregelmäßigen Besuch der Kollegs noch unterstrich, hatte er sich bei ihr nicht gerade empfohlen. Unbeständig keit des Arbeitens, unsystematisches Viellesen und ständi ger Wechsel der Interessen, »etwas Desultorisches« sind ihm gerade von diesem Freund entgegengehalten wor den. Aber der wahre Grund für diese Zurücksetzung war
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nach Hegels Meinung die Tübinger Rücksicht auf Märk lins Onkel gewesen, der später Probst des Klosterseminars von Denkendorf wurde; sie muß für ihn »eine bleibende Wunde in seinem Herzen« bedeutet haben, die er aller dings nach außen hin verbarg. Noch in Berlin wird sich Hegel bei Besuchern aus Württemberg nach den Lebens umständen des Freundes Märklin erkundigen, mit dem er damals in heftiger Konkurrenz gestanden hatte und der inzwischen Prälat von Heilbronn geworden war. Aber Leutwein zieht eine für Hegels weiteres Leben günstige Schlußfolgerung aus dieser, wie er glaubt, ihm widerfah renen Ungerechtigkeit, wenn er meint: »Wäre er der Dritte in der Promotion geblieben, so würde gewiß Berlin ihn nicht gesehen haben, noch er dem deutschen Vater lande so viel von sich zu reden gegeben haben.« Die sogenannten »Locationen« waren ein im gesamten württembergischen Erziehungswesen angewandtes Diszi plinierungsmittel. Hier konnten sich Eltern, aber auch sonst alle, die es wissen wollten, über das Verhalten des Zöglings und seine Einschätzung durch die Schule unter richten. Die Reihenfolge in der Sitzordnung und auch beim Essen gibt Aufschluß darüber. Kandidaten und Ma gister werden in Württemberg ebenso »loziert« wie Kna ben der ersten Schulklasse. Am schwersten wiegt, daß die »Locationen« gedruckt und damit bekannt werden. Sie dringen nach außen und geben dem Schüler wie dem abgehenden Studenten einen lebenslänglichen Stempel. Darum nimmt der Gedanke an die »Location« Hegel wie Hölderlin und Schelling beständig in Anspruch. Er be drückt sie aufs tiefste, und Hegel wird das Trauma seines Absinkens in der »Location« lebenslang nicht mehr los. Hier fällt schon eine Vorentscheidung, die daran mit wirkt, daß er nicht in den württembergischen Kirchendienst eintreten wird, wo sich einem späteren Aufstieg in der Amtshierarchie Schwierigkeiten entgegenstellen mußten. Und wie sieht es mit dem Predigen aus? Man wird ihn im Auge behalten. In den Kreisen der schwäbischen Theologenschaft vergißt man nicht leicht. Für Hegel bedeutete die Zurücksetzung hinter Märklin
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einen Stachel, der ihn aus der Lethargie und Nachlässig keit herausreißt und dazu bringt, mit bis dahin bei ihm nicht üblicher Kraftanstrengung zu arbeiten. Mit einem Mal werden Energien in Bewegung gesetzt, die man bei ihm nicht vermutet hatte. Er hat keine Zeit mehr, ins Bett zu gehen, und übernachtet wochenlang auf dem Sofa. Der gegen ihn geführte Schlag war geheime Triebfeder zur Veränderung geworden. Es mochte tatsächlich eine unübersehbare Zurückge bliebenheit gegen die neuesten Strömungen mit im Spiel gewesen sein, die ihm im Vergleich zu Märklin einen Nachteil bescherte. Vielleicht war der Entscheid bei der Rückstufung Hegels so ungerecht nicht gewesen, dessen Vorzüge zweifellos beim nächtlichen Zechen, vor allem beim Tarockspiel lagen, der sich aber auf Gespräche über Kant, den Märklin damals studierte, weniger einließ. Bis zu Kant war er, der Kenner von Sophiens Reise oder Hip peis Lebensläufen, noch nicht gekommen oder jedenfalls nicht so weit, um darüber zu diskutieren. Die von ihm bevorzugten Autoren sind Aristoteles, Platon, einiges von Schiller, Spinoza, Jacobi, Herder, aber vor allem Rous seau. Auch im Namen Rousseaus hatte die Französische Revolution die Tore des Ancien régime gestürmt und geriet mit ihm bald selbst an die Schwelle des Stifts. Zumindest mit dem Gedanken der »Freiheit« findet sie Eingang und bei den Stiftlern freudigen Anklang. Die Begeisterung muß Hegel damals so überwältigt haben, daß er mit einigen Freunden auf ein freies Feld zog, um dort einen Freiheitsbaum aufzurichten. Im Stift hielt man französische Zeitungen; ein politischer Club ganz nach französischem Vorbild wird gegründet, in dem vor allem die »Mömpelgarder« (Studenten aus dem linksrheini schen Montbéliard, das zu Württemberg gehörte) eine Rolle spielten. Das neue Jahrhundert als Jahrhundert der Freiheit: das ließ sich hören. Hegel wird als einer der überzeugtesten Revolutionsfreunde geschildert. In seinen Stammbuchblättern finden sich denn auch zwar von fremder Hand, aber im Sinn des Adressaten entsprechende Ausrufe wie 40
»Vive la Liberté«, »Vive Jean Jacques« und das Schiller sche »In tyrannos«, das der Regimentsmedikus zur Zeit, als er bei der Hauptmannswitwe Vischer in unmittelbarer Nähe der Familie Hegel wohnte, seinen Räubern vorange stellt hatte. Johann Eduard Erdmanns Meinung zufolge muß Hegel damals als Republikaner der jakobinischen Richtung gegolten haben, die durch Schellings Eintritt ins Stift im Herbst 1790 frischen Zuzug erhielt. Hegel war damals schon Magister der Philosophie. Schelling ist in Leonberg geboren, Theologe, Pastoren sohn, Absolvent der Klosterschule in Bebenhausen, fünf Jahre jünger als Hegel und Hölderlin. Mit ihm wird die Vorstellung vom »Schwabenalter« vollends zur Legende. Denn Schelling ist erst 15 Jahre alt, als er nach Tübingen kommt, hat drei »Promotionen« übersprungen, brilliert durch seine Sprachenkenntnisse und eine unerhörte Fä higkeit der raschen und kühnen Kombination, kurz das, was sich von Hegel nicht behaupten läßt. Schelling ist das eigentliche »Genie« im verspäteten Stil der »Stürmer und Dränger«, der beide, Hölderlin und Hegel, glatt in den Schatten stellt. Er ist — und hier wieder im strikten Gegen satz zu ihnen - frühreifer Abkömmling der schwäbischen Klerikeraristokratie. Aber das Bild von einer »Dreieinigkeit« täuscht. Es ist ein Bild, das sich erst im Rückblick und mit viel Zwang einstellen kann. Keiner der drei, die kurze Zeit vor Hegels Weggang von Tübingen und mehr durch Zufall auf ei nem Zimmer wohnen, hat damals etwas von der Zukunft gewußt, in der sie wie zu einem Bund vereint zusammen gesehen werden sollten. Keiner von ihnen ist der Primus seines Jahrgangs, was, um bei den Stiftlern hervorzuste chen, ins Gewicht gefallen wäre. Schelling, der nur eines zufällig frei gewordenen Platzes wegen ins Stift eintreten konnte und bei der Bewältigung des Gesamtpensums noch einige Lücken hat, liegt in seiner »Promotion« hinter einem Studenten namens Beck an zweiter Stelle. Sein Ansehen bei den Mitstudierenden gründet sich vor allem auf seine Kenntnisse im Hebräischen, für das er durch seinen Vater, inzwischen Professor für Altes Testament an
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der Klosterschule in Bebenhausen, vorbereitet worden war. Es hat damals den Anschein, als ob er sich ganz den philologischen, besonders den orientalischen Studien, widmen würde. Mit Schellings Eintritt ins Stift hatte die republikanische Partei eine erhebliche Verstärkung erfahren. Sein Tem perament und der mitreißende Schwung, den er einer Sache geben kann, heben ihn so stark heraus, daß der Herzog den Eindruck gewinnt, bei den Demonstrationen der Studenten mit Absingen der Marseillaise in Schelling den Rädelsführer vor sich zu haben. Als er sich zur Unter suchung der Vorgänge ins Stift begibt, präsentiert er Schelling, dem die Rolle des Verantwortlichen wie von selbst zugefallen war, die Übersetzung des Liedes: »Da ist in Frankreich ein sauberes Liedchen gedichtet worden, wird von Marseiller Banditen gesungen, kennt Er es?« Schellings Geistesgegenwart in der Antwort: »Durch laucht, wir fehlen alle mannigfaltig«, läßt für den Herzog, der sich etwas auf sein Christentum zugute hält, keine wirksame Erwiderung zu. Gegen dieses Selbstbewußtsein Schellings steht das schwer in Gang zu Bringende und auch dann noch immer Schwerbewegliche in Hegels Natur als Mitläufer. Welchen Anlasses hatte es bei ihm bedurft, um sich einen Ruck zu geben, das bislang Ungeordnete seiner Zeiteinteilung, des Lesens und Arbeitens, das man im Stift bemerkte, allmäh lich in eine gewisse Bahn zu bringen? Er galt im Stift als Eklektiker, der sich von überall her mit Wissen versorgt, aber kein System in seine Gedanken hineinbringt. Eklekti zismus bedeutet hier die Folge eines bodenlosen Reflektie rens, »Weltverstand« dagegen ist Stil der Residenz, also ohne jede tiefere Gelehrsamkeit, ist Verlust jener ländli chen Unschuld, wie sie die Absolventen von Maulbronn, Denkendorf, Bebenhausen — so konnte man glauben — mit nach Tübingen brachten. Aber war dieser Gegensatz von Reflexion und Naivität als Gegensatz von Stadt und Klostergarten wirklich be gründbar? Konnte man einem jungen Mann wie Schelling Naivität nachsagen? Lagen in einer Erscheinung, wie er 42
sie darstellte, nicht eher Merkmale des Überkultivierten als Merkmale des »Neckarschwaben« aus dem Stift vor, wie Friedrich Sengle in seiner kulturmorphologischen Betrachtung dieser Landschaft meint? Der Gegensatz mochte hier und da aufgehen. Indes sen bleibt ein gehöriger Rest. So bedeutet auch das Alt väterliche, das den Studiengenossen an Hegel vertraut war, keineswegs irgendein Gehabe, gibt aber schon die Kerbe her, in die man schlägt, wie sein Freund Fallot aus Mömpelgard es auf einem Stammbuchblatt tut. Fs zeigt einen kahlköpfigen, bärtigen Hegel im Mönchsge wand, der auf Krücken geht, und dazu die Worte: »Gott stehe dem alten Mann bei!« Wenn eine gelungene Karikatur die äußeren und in neren Merkmale in der Überspitzung wiedererkennbar macht, so bezeugte die flüchtige Skizze Hegels Gebrech lichkeit und Schwerbeweglichkeit, einen völligen Mangel an Glanz. Das traf im Vergleich zu Schelling zu, ergab einen Kontrast, wie er stärker kaum sein konnte. Hegels »Altsein« mochte im Ungelenken, Unbeholfenen liegen, keineswegs in der Reife durch vielseitige Kenntnisse oder in der Überlegenheit durch das Organisierte seines Arbeitens. Gerade darin wurde er von vielen, die ihn das fühlen ließen, mühelos ausgestochen. Hegel tappte hier hinterdrein. So sind seine Predigten, die er wie alle Theologie studierenden Stiftler turnusgemäß halten mußte, Katastrophen gewesen. Sie fanden, wie es dem Brauch entsprach, während der Mittagsmahlzeiten statt und gehörten zu den Tisch-Andachten mit Schriftle sung und Schriftauslegung, wobei der Redner an die sem Tage ein besonders ausgewähltes Essen vorgesetzt bekam. Ob es der äußere Anlaß dieser Predigtübung war, der ihn befremdete? Sein Vortrag war leise und stockend und beschwor den Mantel der christlichen Nächstenliebe herauf. Auf seinem Abgangszeugnis be kommt er auf lateinisch zu lesen, was auf deutsch heißt: »hat sich nicht als guter Redner gezeigt«. Für die Lauf bahn des künftigen Pfarrers mit Aussicht auf die höhe ren Würden innerhalb der Amtshierarchie der Würt
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tembergischen Kirche konnten darum die Dinge keines wegs glänzend für ihn stehen. War das gegenüber der Pedanterie seiner Stuttgarter Schulzeit ein Zwischenakt, der sich in dem Augenblick dem Ende näherte, wo er langsam zur Sammlung seiner Kräfte ansetzte, so wurde sein Unbesorgtsein gegenüber den ritterlichen Künsten des Studenten davon zunächst nicht betroffen. Das Fechten war von ihm bald wieder aufgegeben worden, ein Pferd hatte ihm bei einem Ausritt den Gehorsam versagt und war nicht zur Rückkehr zu bewegen gewesen. Ernsthafte Versuche gab es, beim Um gang mit »Frauenzimmern« die bis dahin geltende Regel des Betrachtens aus der Ferne durch mehr Nähe weniger streng zu beachten. Gegenüber den Freunden gibt er sich als Verehrer des schönen Geschlechts ohne jede Prüderie, der Johann Christian Fink im Stil der Anakreontik am 4. September 1790 in dessen Stammbuch schreibt: Glücklich, wer auf seinem Pfad einen Freund zur Seite hat; dreimal glücklich aber ist wen sein Mädchen feurig küßt. Aber auch sein eigenes Stammbuch enthält einige Eintra gungen Tübinger Mädchen, teils mit vollem Namen ge zeichnet, teils mit Monogramm. »Das Schicksal des Men schen ist, sich einander zu finden und wieder sich zu verlieren«, schreibt »im Wein Monat 1791« eine unbe kannt bleiben Wollende, die sich »Ihre Freundin Ch. K. F.« nennt. Aridere sagen bei ihrem Sprüchlein, daß sie Caroline Freyberger oder Karoline Haselmeier heißen. Sein Hauptinteresse scheint zeitweilig einer Auguste He gelmeier gegolten zu haben, der Tochter eines verstorbe nen Theologieprofessors und einem sehr ansehnlichen Mädchen, das sich sehr wohl des Eindrucks, den sie auf die Studierenden macht, bewußt war. Hier hat sich Hegel vorzugsweise unter ihre anderen Anbeter gemischt, die abends in einer Weinstube zusammenkamen, wenn sie für eine Stunde dort erschien. Dabei ist es auch geblieben.
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Was seine Schwester von ihm sagt, daß er heim weiblichen Geschlecht »nie Hoffnungen für die Zukunft« geweckt habe, hatte einen höchst realen Grund. Hegels Aussichten auf ein Amt erschienen ihm bei seinem erwiesenen gerin gen Predigertalent und den deswegen offenbar nagenden Zweifeln an der Eignung zum Pfarrer nicht sehr fest gegründet. Dem Tanzen bei weitem vorgezogen hat er damals stets das Pfänderspiel. Nach dem Urteil seines Freundes Leutwein war Hegel zunächst »cavaliermente« im »Reich des Wissens« umher geschweift, er hatte sich mit Dingen beschäftigt, die nicht unbedingt zum Lehrstoff gehörten oder weit über das Geforderte hinausgingen. Die Stuttgarter Vorliebe fürs Exzerpieren behält er bei. Er schreibt an den oberen Rand eines Einzelblattes das Kennwort für den Textauszug und legt das Blatt in die passende Mappe. Aus seinen Vorle sungen über die Geschichte der Philosophie wissen wir, daß er sich damals intensiv mit Aristoteles befaßt hat und daß ihm dies sehr sauer geworden ist, weil er nur auf eine unleserliche Ausgabe (Basler Ausgabe von 1531 oder 1550) ohne lateinische Übersetzung habe zurückgreifen können. Was für ihn der Dialektiker Aristoteles bedeutet, bedeutet für Schelling die Gnosis und hier das»ophitische und valentianische System«, wie Albert Schwegler in sei nen Erinnerungen an Hegel berichtet, die die Zeitung für die elegante Welt 183g abdruckte. Hölderlin, damals schon im Bann von Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands, schreibt am J2. Februar 1791 in Hegels Stammbuch die Worte, die Goethe den Pylades in der Iphigenie sprechen läßt: »Lust und Liebe sind die Fittige zu großen Taten!« über dem berühmten, wahrscheinlich von anderer Hand hinzugesetzten Spinozas: sozusagen als Formel ihrer Übereinkunft, der auch Schelling hätte zustimmen können.
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Drittes Kapitel
Zwischen Monarchie und Republik Die Sommermonate vor seinem Kandidatenexamen Ende September 1793 hatte Hegel im väterlichen Haus in Stutt gart verbracht. Das wurde von ihm mit Rücksichten auf seine angegriffene Gesundheit begründet. Wir wissen das auch aus einem Brief des Theologieprofessors Schnurrer vom 10. September an den ehemaligen Tübinger Stiftler Johann Eberhard Scholl, der sich zu der Zeit als » Hofmei ster« in Amsterdam aufhielt. Hegels Universitätslehrer spricht darin von einem bloßen »Vorwand« für seine Abwesenheit von Tübingen, die er offenbar nicht billigt. Mit Schnurrer, dem Ephorus des Stifts, stand Hegel nicht sehr gut. Hegel ist dann wohl nur noch zur Ablegung des Examens nach Tübingen gefahren und sah damit den Aufenthalt im Stift als abgeschlossen an. Zum Vater in Stuttgart gab es natürlich beträchtliche Unterschiede der politischen Ansichten. Herzoglicher Be amter und Freund des revolutionären Konvents in Frank reich: das vertrug sich nicht ohne weiteres. Aber tiefgrei fende Spannungen scheinen hier dennoch nicht bestan den zu haben. Engsten persönlichen Kontakt während dieser Monate vor und nach dem Examen hat Hegel mit Stäudlin gehabt. Gottfried Friedrich Stäudlin war zwölf Jahre älter als er, Jurist und Schriftsteller; er hatte sich als Herausgeber des ersten schwäbischen Musenalmanach ei nen Namen gemacht und sich als sein Rezensent mit Schiller angelegt, der ihm seine eigene »Anthologie« ge genüberstellte, inzwischen aber einiges für die Versöh nung getan. Das wird bald für Hölderlin von großer persönlicher Bedeutung sein. Denn es kommt durch Ver mittlung Hegels zwischen Stäudlin und Hölderlin eine sehr enge Freundschaft zustande. Hölderlin wird durch cbendiesen Stäudlin den aus Jena zu Besuch nach Würt temberg hergereisten Schiller kennenlernen, der ihn sei ner älteren Freundin und Gönnerin im thüringischen Waltershausen, der Frau von Kalb, als »Hofmeister« für 46
ihren Sohn empfahl. So geht Hölderlin nach Jena, wohin auch Schelling später gelangt und schließlich Hegel nach holen wird. Es war also Stäudlin, der die Verkettung der drei Tübinger für ihre Zukunft bewirkt hat. Es lag damals an Hegel, sich einige Gedanken über seine nächste Zukunft zu machen. Das geschieht denn auch, allerdings ohne alle Züge des Dringlichen. Erste Fühler waren bereits vor dem Examen ausgestreckt worden, es gibt Erkundigungen, bei denen auch Mittelsmänner ein geschaltet wurden. So hatte ein Hegel persönlich nicht bekannter Herr von Sinner, der vom Stiftler Hauff über ihn informiert worden war, auf eine Anfrage der Familie von Steiger in Bern wegen eines Hauslehrers auf Hegel aufmerksam gemacht. Es ging dabei zunächst um einen Magister Schwindrazheim, ebenfalls aus dem Stift, der die Stelle antreten sollte und über den der Familienvater von Steiger sich nähere Auskünfte zu verschaffen wünschte. Sinner zieht Erkundigungen ein und rät wegen der in Erfahrung gebrachten fragwürdigen »conduite« des Kan didaten ab. Statt seiner schlägt er Hegel vor. Sinncr scheint sich bei Steiger Verdienste erwerben zu wollen, indem er von dem einen abrät und den andern empfiehlt, und er möchte gleich vollendete Tatsachen schaffen. Für die Herrschaft in Bern war das offenbar noch nicht ge nug, denn Steiger läßt über einen Vermittler, einen Leh rer namens von Rütte und ebenfalls aus Bern, bei Johan nes Brodhag, Besitzer des Stuttgarter »Goldenen Och sen«, dem man vielleicht einschlägige Berufserfahrungen mit Schwindrazheim zutraute, zusätzliche Erkundigun gen anstellen und bekommt das gleiche »schiechte Lob« über ihn zu hören bei gleichzeitiger Empfehlung Hegels. Der Stuttgarter Ochsenwirt geht noch weiter und rät, beim Herzoglichen Consistorium um Urlaub für Hegel nachzusuchen. Um die Sache zu beschleunigen, begibt sich Brodhag persönlich in Hegels Wohnung. Hegel zö gert zunächst, weil ihm das Salär von 15 Louisdor jährlich zu gering erscheint, er hält eher 25 Louisdor und »noch einige Nebenvorteile« für angemessen und erbittet sich auf jeden Fall eine Bedenkzeit von vierzehn Tagen. 47
Es gab auch Erwägungen in der gleichen Sache von anderer Seite. So hatte sich Schnurrer, bevor Hegel bei ihm zur Prüfung erschienen war, in seinem Brief an Scholl über ihn in einer Weise ausgesprochen, die von seiner Einschätzung Hegels einiges sagt: »Ich zweifle sehr«, heißt es da, »ob er inzwischen gelernt hat, diejenigen Aufopfe rungen sich geduldig gefallen zu lassen, die immer mit einer Privatlehrerstelle, wenigstens anfangs, verknüpft sein werden.« Damit war die Problematik des Hofmeisterwesens im allgemeinen und hier für Hegel im besonderen von einem Mann, der sich als einer seiner Universitätslehrer in sei nem Charakter offenbar recht gut auskannte, zur Sprache gebracht. Hofmeister hieß: Bediensteter in Erziehungs sachen; es war ein Amt zu Nutz und Frommen adliger Familien. Die Spanne des Dienstes reichte weit, von der schönsten persönlichen Vertrautheit zwischen Lehrer und Schüler, die denkbar war, bis zum Lakaientum. Der Hofmeister konnte Prinzenerzieher, Reisebegleiter jun ger Herren auf ihrer Kavalierstour sein, was selbst Lessing für sich als nicht zu gering erachtet und Herder als große Gunst betrachtet hatte. Der Hofmeister hatte gute Aus sichten, sich im Sinne des Weltläufigen und des »Weltver standes«, der im Gymnasium illustre von Stuttgart etwas galt, zu vervollkommnen, aus der Enge bürgerlicher Ver hältnisse herauszukommen. Das Amt ließ Empfehlungen für Hofdienste und Staatsstellen erwarten, in die sonst schwer oder überhaupt nicht zu gelangen war. So konnten persönliche Wahl, wirtschaftliche Notwendigkeit, Nutzen für das weitere Fortkommen bei diesem zeitlich begrenz ten Dienst sehr wohl zusammengehen und sogar aufs schönste harmonieren. Es kam dabei auf Glück und Zufall so gut an wie auf Eignung, Takt und die Fähigkeit, sich anztipassen. Andererseits aber konnten die Vorzüge eines solchen Dienstes von den Schwierigkeiten, die er mit sich brachte, leicht überwogen werden. Hegel hatte also guten Grund, sich zwei Wochen Be denkzeit auszubedingen und — so gut es ging — die Um stände zu prüfen, mit welchen er rechnen mußte. Die Zeit 48
der jakobinischen Hochstimmung lag längst hinter ihm, das republikanische Bern mußte deswegen keineswegs mehr verlockend für ihn sein. Aber das war das Vikariat für den jungen Theologen mit seiner geringen Prediger begabung, wie sie das Abschlußzeugnis dem Kandidaten bescheinigte, auch nicht. Wenn Hegel Zeit zu gewinnen suchte und nach anderen Möglichkeiten Ausschau hielt, sprachen aus seinem Zögern die sehr zwiespältigen Ge fühle, die er mit der ihm angetragenen Hofmeisterstelle in Bern verband. Am 11. September allerdings kann He eel nach Bern an Rütte schreiben, »daß mich keine weite ren Hindernisse abhalten, den Auftrag im Hause des Herrn von Steiger anzunehmen«. Wegen des noch abzulegenden Examens läßt sich seine Ankunft in Bern erst für die ersten acht Tage des folgen den Monats in Aussicht stellen. Er erbittet nochmals ein Urlaubsgesuch durch Steiger bei der Kirchenbehörde, bestätigt, den Wechsel auf 5 Louisdor erhalten zu haben, und verspricht, auch zur »Bildung« der »Tochter des Herrn Hauptmann ... alles ... beizutragen«. Am 20. September, also zehn Tage nach Schnurrers Brief an Scholl, berichtet Stäudlin an Schiller: »Von sei nem Freunde Magister Hegel hörte er (Hölderlin), daß Sie gegenwärtig eine solche Stelle in der Gegend von Jena zu vergeben hätten. Da nun Hegel ohnehin bereits als Hof meister nach Bern engagiert ist und nun mehr allen anderen Absichten auf immer entsagt hat, so bittet sie H(ölderlin) mit mir recht dringend um Ihr gütiges und viel wirkendes Vorwort bei jener Hofmeisterstelle.« Hier erfahren wir es: K. F. von Steiger oder Charlotte von Kalb, Bern oder Jena, die Stadt, die für praktische Politik steht, und die Stadt, die für Schiller steht. Hegel hatte sich für die Berner Republik entschieden. Eine Dissertation hat Hegel in Tübingen nicht verfaßt. Er wurde Kandidat, weil er eine von Le Bret, dem Kanzler der Universität, geschriebene Dissertation De Ecclesia Wir tembergicae Renasccnüs Calamitatibus verteidigte, so wie er
Magister geworden war, indem er, statt eine eigene Arbeit zu verfassen, die Dissertation des Professor Bock De limile 49
officiorum verteidigt hatte. Verteidigung des Bestehenden, dein kraft seines Bestehens Autorität zukommt, Autorität, die sich als bestehende von selber rechtfertigt, eine Recht fertigung, die zugleich die Vernunft des Bestehenden mit seiner Autorität bekräftigt! Ein eigenes Gewicht wird dem nicht entgegengesetzt. An diese Leitlinien hat sich der Magister und Kandidat Hegel mit auffallender Striktheit gehalten. Überhaupt über eigene Thesen im Kreise von jungen Fachgenossen sich auszulassen, war eher Schel lings als Hegels Sache. So hatte sein Freund und Kon kurrent Märklin sich durch Kenntnisse über Kant ausge zeichnet, die Hegel lange Zeit nicht besaß. Dagegen von allgemeinen politischen Verhältnissen, von den Lebens umständen des Volks und den verschiedenen Gesell schaftsklassen mit ihren Lebensformen und Anschauun gen her zu denken und ein eher zwangloses Gespräch zu führen, liegt ihm näher. Daß damals der Repetent im Stift, Karl Immanuel Diez, als großer Kant-Kenner gilt, sagt über Hegels Vertrautheit mit dem Philosophen im fernen Königsberg überhaupt nichts. Es hat bei ihm keine philo sophische Fachdebatte über Kants Kritik der reinen Ver nunft gegeben, aber gewiß viele Erörterungen ohne esote rischen Anspruch über Regeln, die im Leben ebenso wie in Hermes' Sophiens Reise gelten! Man sollte dem Tübinger Abgangszeugnis vom 20. September 1793 wohl Glauben schenken, das Hegel bescheinigt, in der »Philologie nicht unwissend« (non ignarus) zu sein und »Philosophiae nul lam operam impendit« — »in der Philosophie keinen Fleiß gezeigt« zu haben.
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Viertes Kapitel
Hofmeisterjahre Hegels Entschluß, nach Bern zu gehen und das Schick sal eines Hauslehrers selbst zu erfahren, bedeutet für ihn einen tiefen Einschnitt. Zunächst waren damit seine doch mit einer gewissen Ungebundenheit zugebrachten Studentenjahrc zu Ende. Dazu kam das Verlassen der Heimat im Herzogtum Württemberg und das neue Le ben in einer schweizerischen Stadtrepublik. Durch die lange Regierungszeit Karl Eugens war das Land völlig heruntergekommen. In den letzten dreiund zwanzig Jahren hatte der Herzog versucht, die Wunden zu heilen, die er in den vorausgehenden dreiunddreißig Jahren durch verschwenderische Hofhaltung, Steuer auspressung, Willkür, Akte persönlicher Gewalttätigkeit selber geschlagen hatte. Das war nicht leicht, und es ist ihm auch nie gelungen. Selbst im Kreise deutscher Duo dezfürsten hatte sein Name keinen guten Klang. Es be sagt nicht wenig für sein Regime, daß der Kaiser, Preu ßen, England und Dänemark zum Schütze der württem bergischen Verfassung zu Hilfe gerufen wurden, die der Herzog auf das gröbste verletzt hatte. Es war dies der Ruf der Stände als den Wahrern des »guten alten Rechts« gegen eine Regierung, die trotz aller Drang salierung die schwäbische Idylle jedoch nie hat völlig zerstören können. Im gleichen Jahr 1770, in dem Hegel geboren wurde, mußte der Herzog den sogenannten Erbvergleich mit großen Zugeständnissen an die alt schwäbische Libertät hinnehmen. 1793, als Hegel nach Bern geht, ist das Ende seiner Regierung gekommen. Die Revolution, die in Frankreich siegreich gewesen war, hatte in der Form von Umzügen, mit dem Errich ten von Freiheitsbäumen und der Gründung republika nischer Clubs auch in Tübingen von sich hören lassen und angezeigt, daß seine Zeit um war. Das konnte jedoch besondere Hoffnungen auf das re publikanische Bern nur im Fall äußerster Verwegenheit 51
erwecken. Ob Hegel bei Antritt der Reise solche Hoffnun gen hegte, ist schwer zu sagen. Von den schweizerischen Stadtrepubliken war Bern damals noch immer die mächtigste, ein Staat, dessen Ver gangenheit, ohne daß seine Regierenden es bemerkten, bereits größer war, als seine Zukunft je sein sollte; der sich allerdings seinen Rückzug aus der alten Macht Schritt für Schritt nur schwer abringen läßt. Das bürgerlich Zivile hat hier zeitweise im Schatten des Kriegerischen gestanden. Man hatte nicht nur das Waadtland und den Aargau unterworfen, sondern auch alle Versuche, sich von Bern loszureißen, niedergeschlagen, ebenso wie Staatsver schwörungen im Inneren. Die Aristokratie, die in Bern die Macht fest in Händen hält, ist hier eine stadtbürgerli che Oligarchie; sie besteht aus den sogenannten »Zwei hundert« des Großen Rats als gesetzgebender Gewalt, aus dem der Schultheiß sowie der Kleine Rat als Exekutive hervorgehen. Der Große Rat steht in Bern für den Souverän im absolutistischen Staat, seine Mitglieder werden gewählt, aber nur aus den regierenden und regimentsfähigen Fa milien der Stadt. Alle zehn Jahre finden zu Ostern die jeweils notwendig gewordenen Ergänzungen statt. Über die Umstände, unter denen sie erfolgen, werden wir von Hegel ins Bild gesetzt, der sie beobachten konnte. Eine solche Verfassung zeigt Züge der Stetigkeit, des Verharrcns, des Hängens an dem, was ist. Mit den »Ber ner Exzellenzen« ist nicht zu spaßen. Friedrich der Große hat ihre »Würde« nachdrücklich gelobt. Freigeisterei und deren Duldung gehören freilich nicht zu ihren Tugen den. Das hat Rousseau zu spüren bekommen, der es wagte, sich auf der Petersinsel im Bieler See niederzulas sen. Als sich Voltaire im kleinen Zirkel über die Berner Autorität mokiert, was zu ihren Ohren gelangt, bekommt er eine Warnung zugestellt, die sich hören läßt und sogar Witz verrät: Der Unterschied zwischen Gott oder Christus oder der Religion und den Bernern bestehe darin, daß die Berner den Spott niemals verzeihen. Karl Friedrich von Steiger, in dessen Dienst Hegel als 52
Hauslehrer des sechsjährigen Sohnes und der achtjähri gen Tochter tritt, gehört zu einer Familie der regierenden altbernischcn Oligarchie. Der Hausherr ist Mitglied des Großen Rats und Enkel von Christoph Steiger, in dessen Amtszeit als Schultheiß die Kämpfe gegen die ihre Macht ausweitende und mißbrauchende Oligarchie einsetzen, die ihr Ende langsam, aber sicher einleiten werden. Sein Diplom vom 10. Dezember 1714, durch das er in den preußischen Freiherrenstand erhoben wird, zeigt den neuen monarchischen Zuschnitt des Patriziers republika nischer Herkunft. Aber da es vom Bernischen Rat nicht zuerkannt worden war, hat sein Adel hier keine Geltung besessen. Die Berner Stadtwohnung der Steigers befand sich in der Junkerngasse 51. Das Haus war allerdings erst im gleichen Jahr von der Familie Wattenwhyl an die Steigers verkauft, also gerade bezogen worden. Ihr Familiengut Tschugg in der Vogtei Erlach ist im Jura zwischen Bieler und Neuenburger See gelegen. Auf die Jahreszeiten Som mer und Winter verteilt hat Hegel hier seine Erzieher jahre verbracht. Herausgekehrter Familienstolz in einer herrschaftsgewohnten Stadt konnten den Umgang der beiden Parteien gewiß nicht erleichtern. Die persönliche Sympathie scheint darum auf keiner Seite sehr groß gewe sen zu sein. Hegels Titel »Hofmeister«, der bei den briefli chen Verhandlungen genannt worden war, war trotz der sehr respektablen Residenzen der Steigers etwas hoch gegriffen; er wird im Berner Reisepaß auf »Gouverneur des enfants de notre eher et feal citoyen Steiguer de Tschougg« zurückgenommen. Nichts spricht dafür, daß die Familie Steiger in ihrem Hauslehrer etwas anderes als einen der üblichen Brot und Förderung suchenden Kan didaten gesehen hat, einen anspruchslosen, biederen Deutschen — einen Schwaben mit Latein- und Griechisch kenntnissen (was für das Mädchen ohnehin nicht in Frage kam), dazu etwas Geschichte, Geographie, Geometrie, reformierte Religionslehre, Literatur. Nichts spricht auch dafür, daß der Kandidat mit seiner Bescheidenheit es ihnen schwergemacht hätte, so zu denken; aber sehr vieles 53
dafür, daß der Hausherr den jungen Mann aus dem Schwäbischen mit zusätzlichen Aufgaben betraut hat. Das Amt bot freilich auch gehörige Vorzüge. Es ließ Hegel Zeit zum eigenen Studium. In Tschugg steht ihm eine große Bibliothek zur Verfügung, von der er ausgie big Gebrauch macht. Ob er die Berner Stadtbibliothek mit ihrem großartigen klassizistischen Lesesaal benutzt hat, ist nicht nachzuweisen, steht aber zu vermuten. Sie liegt in unmittelbarer Nähe des Steigerschen Hauses. Eine der Hauptbeschäftigungen Hegels war seit der Stuttgarter Schulzeit das Anfertigen größerer Buchauszüge, das Sam meln von Materialien, vielleicht zu irgendeiner der Zu kunft vorbehaltenen Verwendung. Bei den Steigers wird Französisch gesprochen, was ihn in die Praxis der gespro chenen Sprache hineinführt. Aber sonst wiegt in Bern der Einfluß der englischen Ökonomen vor. Hegels Beschäftigung mit der englischen wirtschafts theoretischen Literatur durch Lektüre und Kommentie rung von James Steuarts Untersuchung der Grundsätze von der Staatswirtschaft (so der Titel des bei Cotta in deutscher Übersetzung erschienenen Buchs) zu Anfang des Jahres 1799 belegt dies auf ihre Weise. Steuart ist Ökonom in der letzten Phase des englischen Merkantilsystems mit mode raten Anschauungen. Das zuerst 1767 in London ge druckte zweibändige Werk mit dem Untertitel Versuch über die Wissenschaft einer Haushaltspolitik freier Nationen nennt
als darin behandelte Gebiete Bevölkerung, Landwirt schaft, Handel, Industrie, Gold, Münze, Zins, Verkehr, Banken, Geldumtausch, öffentlichen Kredit und Steuern und damit Themen, die dem württembergischen Theolo gen und Untertan in seiner bisherigen Biographie fern gelegen hatten. Also nicht Fragen der paulinisch-lutheri schen Rechtfertigung, nicht »Reich Gottes«, sondern Bo denbewirtschaftung und Bodenertrag, Export und Im port, Zölle, Eigentum. Steuart operiert schon mit dem Unterschied von Verkaufs- und Herstellungspreis, mit Angebot und Nachfrage, was freilich nicht verhindern kann, daß sein Name durch Adam Smith' Wealth of Nations von 1776 hinfort verdunkelt wird. Hegels erste Beschäfti 54
chen. Aber er stimmt der von Schelling ausgemachten Alternative: »Kant oder Orthodoxie« zu, mit einer sehr persönlichen Schlußfolgerung: »Die Orthodoxie ist nicht zu erschüttern, so lang ihre Profession, mit weltlichen Vorteilen verknüpft, in das ganze des Staats verwebt ist.« »Orthodoxie« als herrschende theologische Gruppierung ist der »Trupp« von »Nachbetern oder Schreiern«, ist »System des Schlendrians«. Aber auch Fichte, der hoch verehrte, wird aus der Distanz nicht ganz herausgenom men, er hat »durch seine Kritik der Offenbarung Tür und Angel geöffnet«. »Er konstruiert aus der Helligkeit Got tes, was er vermöge seiner moralischen Natur tun müsse und solle, und hat dadurch die alte Manier in die Dogma tik, zu beweisen, wieder eingeführt.« Doch die Dinge selbst sind noch zu sehr in Fluß, die Übersicht über sie noch zu unreichend, um volle Sicher heit zu gewinnen. Es kommt dem Briefschreiber darauf an, sich zunächst umzusehen und seine Meinung weiter zuentwickeln, dabei von Schelling Belehrung zu erhalten mit aller Bereitschaft, sich dessen Kritik zu unterwerfen. Hegel anerkennt uneingeschränkt die geistige Überlegen heit des jüngeren Freundes, er sieht in ihm seinen Tn struktor oder noch mehr: seinen Vorgesetzten in allen anstehenden Fragen der Philosophie, von dem er sich Verständnis für seine Beschränktheit der Miltel und der Zeit erbittet. Das war keine Geste der stilisierten Bescheidenheit, sondern ergab sich aus der Hegeischen Natur und den äußeren Umständen, insbesondere aber der genialischen Vehemenz, die bei Schelling zutage trat, ebendem, was Hegels Sache nicht war. Übrigens erfährt Schelling hier zum erstenmal vom Dritten im Bunde, von Hölderlin. Hegel bittet Schelling um Nachsicht dafür, daß Hölderlin, der inzwischen nach Jena gegangen ist, brieflich nichts von sich hören läßt. Das sei nicht als Kälte zu verstehen: das wachsende »Interesse für weltbürgerliche Ideen« bei ihm, der sich unter den Schülern Eichtes befinde, stehe außer Zweifel. Ohne es eigentlich zu wollen, ist Hegel hier in die Vermittlerrolle
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Kind in die Schweiz übergesiedelt und unterrichtete als Professor an der Berner Kunstschule. »>Freude schöner Götterfunken< wird oft genug zu ihrem Andenken ge sungen«, schreibt er am 13.11. 1797 an Hegel, als der längst die Stadt verlassen hatte, um ihm diese gemeinsa men Abende in Erinnerung zu rufen. Die interessanteste Bekanntschaft, die Hegel in Bern gemacht hat, ist zweifellos die mit Konrad Engelbert Oels ner. Als Augenzeuge der revolutionären Vorgänge von 1792 und mit Männern aller politischen Lager persönlich bekannt, hat Oelsner in seinen Briefen aus Paris berichtet, worin er, der dort Gesandter der Stadt Frankfurt war, sich über die Gründe ausläßt, die zum Scheitern der Republik führen müßten. Hegel erwähnt gegenüber Schelling diese Briefe, die in der Minerva, dem von Archenholz herausge gebenen historisch-politischen Journal, erschienen waren und dadurch zu den ersten Augenzeugenberichten über die französische Revolutionsszene in deutscher Sprache gehörten. Die Beziehung zu Oelsner bedeutete für Hegel zugleich Verkehr mit einem maßgeblichen Vertreter der jenigen Stadtrepublik, die ihn später selbst in ihre Mauern ziehen sollte. Ansonsten war Hegel während seiner Berner Jahre von seinem Brotgeber Steiger mit allerlei Sonderaufträgen betraut worden. In Tschugg hat er zeitweilig Funktionen eines Gutsaufschcrs ausgeübt, der dem Besitzer während dessen Abwesenheit genauen Bericht über seine Beobach tungen erstatten muß. So kann er im Sommer 1795 ver melden, daß die Kiesarbeiten wegen anderweitiger Be schäftigung der Arbeiter an den Reben noch nicht ausge führt werden konnten. Die Wege seien mit Sand gefüllt und geebnet; das Vieh sei wohlauf. Auch die Rückkehr der Hausherrin aus dem Bade wird mitgeteilt, mit den Kindern ist der Hauslehrer zufrieden; dies in Form präzi ser Angaben bei aller dem Bediensteten auferlegten Di stanz zum Gutsherrn. Auffällig ist, daß in den erhaltenen Briefen Hegels aus dieser Zeit kein Wort über die revolutionären Ereignisse in Frankreich bzw. ihre Auswirkungen auf Bern fällt, 56
obwohl sich das Geschehen geradezu überschlug. Am 16. Oktober 1793 wird Marie Antoinette guillotiniert, am 28. Juni 1794 folgt ihr Robespierre. Abgesehen von einem Wort über die Niederlage der »Robespierroten« an Schcl ling schweigt er sich darüber aus. Die Mitteilung, »daß Carrier guillotiniert ist, werdet Ihr wissen« im gleichen Brief vom 24. Dezember 1794, rechnet mit dieser Tatsa che als kausal begründeter Notwendigkeit. Man muß hier einflechten: Hegel befindet sich während dieser Jahre in Bern als dem Zentrum der antirevolutionären Bewegung in der Schweiz, das in der Koalition mit Österreich und Preußen strenge Vorkehrungen zur Verhinderung des Eindringens umstürzlerischer Individuen und Ideen ge troffen hatte. Und er lebt noch dazu im Hause Steiger als der stärksten Stütze des konservativen Regiments, also inmitten der Gegenpartei zur Revolution. Die Bewunde rung Preußens für Bern, die Friedrich der Große aus drücklich geteilt hatte, beruhte nicht zuletzt auf der Politik der Steigers als alten Konfidenten der Regierung in Ber lin. Der Grund für Hegels Zurückhaltung kann aber auch die Vorsicht vor der Zensur sein. Es war damit zu rechnen, daß die Briefe geöffnet wurden. Daß Hegel diese Überwa chungspraxis in Betracht zieht, darf vielleicht aus der Empfehlung an Schelling in dem Postskript seines Briefes vom 16. April 1795 geschlossen werden: »Sei so gut, Deine Briefe in Zukunft gar nicht mehr zu frankieren, sie laufen sicherer.« Im Lande selbst hat sich Hegel auf zwei größeren Aus flügen umgesehen: im Mai 1795 nach Genf und im Juli 1796 ins Berner Oberland. Seine Gebirgstour in der Ge sellschaft der drei sächsischen »Hofmeister« Thomas, Stolde, Hohenbaum hat er in seinem Tagebuch ausführ lich beschrieben. Am 25. Juli morgens um 4 Uhr brechen die Ausflügler zu Fuß auf und kommen gegen 10 Uhr in Thun an. Dort besteigen sie ein Schiff und beginnen anschließend von Interlaken aus ihre Fußwanderung durch das Berner Oberland, die sie über Grindelwald und die Scheidegg nach Meiringen führt, weiter über das Bernische hinaus 57
bis nach Andermatt und von hier die Route über Flüelen zum Vierwaldstättersee nach Luzern. Hegels Zug über das Gebirge ist nicht wie bei Goethes Weg durchs Berner Oberland ein Erlebnis der lebendigen Natur gewesen. Einer Ergriffenheit oder einem Staunen angesichts der Gewalt der Bergwelt begegnen wir in seinen Reiseaufzeichnungen nirgendwo. Auch die Grindelwald gletschcr können ihrer erdgeschichtlichen Formation we gen seine Aufmerksamkeit nicht erregen. Warum nicht? »Ihr Anblick bietet weiter nichts Interessantes dar. Man kann es nur eine neue Art von Schnee nennen, die aber dem Geist schlechterdings keine weitere Beschäftigung gibt.« Hier ist ein Berner Hauslehrer auf der Wander schaft, der zugleich allfälliger Pfarramtskandidat ist und angesichts einer Natur ohne Vegetation den physikotheo logischen Beweis für die Existenz Gottes prüft, den er später zurückweisen wird. Als er die oberen Ränder des Haslitales und ihre vollkommene Öde sieht, scheint ihm der aufgeklärte Gedanke von einer den menschlichen Zwecken dienenden Natur eine Absurdität: »Ich zweifle, ob hier der gläubige Theologe es wagen würde, der Natur selbst in diesen Gebirgen überhaupt, den Zweck der Brauchbarkeit für den Menschen zu unterlegen ...« Das »Muß der Natur« sei hier nicht ohne weiteres ersichtlich, es sei so weit entfernt wie in den Wasserfällen des Staubbach, die allenfalls Heiterkeit in die Düsternis der kahlen Berg welt hineinbringen und »das Bild eines freien Spiels« ergeben. Die Wanderung der vier Bergtouristen folgte einer damals sehr beliebten Route. Sie war ungefährlich, aber strapaziös, ohne jede Annehmlichkeit, und Hegel hat sich am Ende erheblich die Füße wundgelaufen. Auch das Essen war nicht immer einladend. So ist ihm das unterwegs im Spital angebotene Murmeltierfleisch nicht als Lecker bissen erschienen. Erfreut stellt er allerdings fest, daß er die Sprache der Alpenbewohner besser versteht als die der Berner. Und außerdem: Man muß, um zu wissen, was sie meinen, »Kenntnis der Alten Deutschen Sprache haben«, die sich hier mehr als in Deutschland selbst erhalten hat. 58
Fünftes Kapitel
Schellings Lehrling Über Hegels Beziehung zu Schelling seit dem Weggang von Tübingen erfahren wir zunächst nichts, weil die brief lichen Zeugnisse fehlen; anders als bei Hölderlin, der als Korrespondent Hegels früher in Erscheinung tritt. Die Abgeschiedenheit des Berner Hauslehrers war groß, es kam für ihn darauf an, sich darin einzurichten und mit den äußerlich gesehen wenig ergiebigen Verhältnissen fertig zu werden. Schelling, dessen Studienabschluß noch ausstand, hatte 1792 unter Schnurrers Anleitung seine Arbeit über die biblische Schöpfungsgeschichte geschrieben. Kantischer Rationalismus und Herders Gedanke vom Sündenfall als dichterische Darstellung der Ursprünge des Bösen waren darin zusammengeführt. Das gleiche Verfahren in Aus dehnung des Themas verwendet Schelling noch einmal in einem Aufsatz Über Mythen, historische Sagen und Philoso pheme der ältesten Welt, der im 5. Stück der Memorabilien,
Zeitschrift für Philosophie und Religionsgeschichte, er scheint. Ihr Herausgeber war Heinrich Eberhard Paulus, der 1761 im gleichen Leonberger Pfarrhaus wie Schelling geboren war, jetzt als sein Förderer auftritt und später auf der Seite seiner erbittertsten Gegner stehen wird. Eine Anzeige des Aufsatzes, die er liest, veranlaßt Hegel, am 24. Dezember 1794 zur Feder zu greifen und Schelling sein Interesse an der Arbeit mitzuteilen. Der Brief bedeutet erste sichtbare Wiederaufnahme der durch Hegels Abreise abgebrochenen Verbindungen und eine allerdings sehr vorsichtige Standortbestimmung des Briefschreibers. Es werden einige gemeinsame Posi tionen von früher her abgesteckt. Von Tübingen — so glaubt Hegel Schellings Zustimmung voraussetzen zu dür fen — ist nichts zu erwarten. Tübingen bedeutet Storr, orthodoxes Mittelmaß sowie Schnurrer und Kollegen: »Ehe nicht eine Art Reinhold oder Fichte dort an einem Katheder sitzt, wird nichts Reelles herauskommen. Nir
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gends wird wohl so getreulich als dort das alte System fortgepflanzt ...« Aber wir erfahren noch einiges mehr. Von den alten Sympathien für die Revolution in Frankreich ist nichts geblieben; im Gegenteil: »die ganze Schädlichkeit der Robespierroten« liegt klar zutage. Daß die französischen Zeitungen in Württemberg verboten sind, stört Hegel nicht im geringsten. Der Brief hat zugleich eine private Seite, die Hegels Anteilnahme an den Tübinger Verhältnissen zeigt. Seine besondere Nachfrage gilt Renz, dessen Name auch später in der Korrespondenz mit Schelling auftaucht. Man sollte etwas für den ehemaligen Primus des Jahrgangs tun, findet Hegel und bietet an, ihm in Sachsen eine Stelle zu verschaffen. Außerdem ist die Rede von Reinhard. Karl Friedrich Reinhard ist ebenfalls ehemaliger Stiftler, neun Jahre älter als Hegel, Theologe, der unter Schnurrer Orientalistik studiert hatte, in französische Dienste getre ten war und sich bei den Revolutionären, insbesondere den Girondisten, zahlreiche Freunde verschafft hatte. Bei Sieyes hatte er sich durch eine in dessen Auftrag verfaßte Schrift über die Kantische Philosophie empfohlen. Hegel kann, als er Schelling mitteilt, daß Reinhard »im Departe ment des affaires etrangeres einen Posten von großer Bedeutung hat«, nicht ahnen, daß dies nur die Anfänge einer großen politischen Karriere sind, die ihn auf den Posten des französischen Außenministers führen soll. Fs wird der Tübinger Stiftler Reinhard, der Sohn eines Dia kons aus Schorndorf, sein, der Napoleon die unbe schränkte Vollmacht des Direktoriums erteilt. Wenn wir es nicht aus den Berner theologischen Papie ren wüßten, so könnten wir es aus dem einige Wochen später geschriebenen (undatierten) Brief an Schelling er fahren, daß die Lektüre Kants Anfang des Jahres 1795 inzwischen in den Mittelpunkt von Hegels Privatstudien gerückt ist. Was er beklagt, ist sein Abgeschnittensein von den literarischen Schauplätzen. Es gibt für ihn keine Mög lichkeit, sich mit den derzeitigen gleichlaufenden Bemü hungen um die Kantische Philosophie vertraut zu ma
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chen. Aber er stimmt der von Schelling ausgemachten Alternative: »Kant oder Orthodoxie« zu, mit einer sehr persönlichen Schlußfolgerung: »Die Orthodoxie ist nicht zu erschüttern, so lang ihre Profession, mit weltlichen Vorteilen verknüpft, in das ganze des Staats verwebt ist.« »Orthodoxie« als herrschende theologische Gruppierung ist der »Trupp« von »Nachbetern oder Schreiern«, ist »System des Schlendrians«. Aber auch Fichte, der hoch verehrte, wird aus der Distanz nicht ganz herausgenom men, er hat »durch seine Kritik der Offenbarung Tür und Angel geöffnet«. »Er konstruiert aus der Helligkeit Got tes, was er vermöge seiner moralischen Natur tun müsse und solle, und hat dadurch die alte Manier in die Dogma tik, zu beweisen, wieder eingeführt.« Doch die Dinge selbst sind noch zu sehr in Fluß, die Übersicht über sie noch zu unreichend, um volle Sicher heit zu gewinnen. Es kommt dem Briefschreiber darauf an, sich zunächst umzusehen und seine Meinung weiter zuentwickeln, dabei von Schelling Belehrung zu erhalten mit aller Bereitschaft, sich dessen Kritik zu unterwerfen. Hegel anerkennt uneingeschränkt die geistige Überlegen heit des jüngeren Freundes, er sieht in ihm seinen Tn struktor oder noch mehr: seinen Vorgesetzten in allen anstehenden Fragen der Philosophie, von dem er sich Verständnis für seine Beschränktheit der Miltel und der Zeit erbittet. Das war keine Geste der stilisierten Bescheidenheit, sondern ergab sich aus der Hegeischen Natur und den äußeren Umständen, insbesondere aber der genialischen Vehemenz, die bei Schelling zutage trat, ebendem, was Hegels Sache nicht war. Übrigens erfährt Schelling hier zum erstenmal vom Dritten im Bunde, von Hölderlin. Hegel bittet Schelling um Nachsicht dafür, daß Hölderlin, der inzwischen nach Jena gegangen ist, brieflich nichts von sich hören läßt. Das sei nicht als Kälte zu verstehen: das wachsende »Interesse für weltbürgerliche Ideen« bei ihm, der sich unter den Schülern Eichtes befinde, stehe außer Zweifel. Ohne es eigentlich zu wollen, ist Hegel hier in die Vermittlerrolle 61
hineingeraten, der die Extrempositionen der beiden Freunde zusammenzuführen versucht. Als Vermittler kann er glaubwürdig aussprechen, was ihnen in Tübingen gemeinsam vorgeschwebt hatte, dem zuzustreben ihr Plan gewesen war: das »Reich Gottes«. Aber eben nicht mehr im Sinne der Theologen von »Profession«, der Kirche der Rechtgläubigen, die ihre Diener nährt, sondern eines neuen Programms, für das Kant und Fichte stehen: »Ver nunft und Freiheit bleiben unsere Losung und unser Vereinigungspunkt die unsichtbare Kirche.« Hier gelingt Hegel, ohne es darauf angelegt zu haben, bei der bloß vortastenden Orientierung ein großes Wort. Es war darin für den landläufigen »Christenmenschen« so gut wie alles anstößig. »Freiheit« in der verdächtigen Nähe der »Vernunft« konnte im Verständnis der Orthodoxie nicht auf Beifall hoffen; das eigentliche Ärgernis aber ist die »unsichtbare Kirche«. Das klingt nach Jakob Böhme. Die »unsichtbare Kirche« ist ein Dreh- und Angelpunkt, von der ungeahnte Bewegung ausgeht gegen das Regime der »sichtbaren Kirche« mit ihren materiellen Sakralmit teln. Schellings Antwort vom 4. Februar 1795 bedeutete für Hegel in seiner Berner Einsamkeit eine gewaltige Ermun terung, sich mit den darin gebotenen Ideen vertraut zu machen. Er geht sehr weit, wenn er, unter dem 16. April niedergeschrieben, darin schon ein »System« sieht und noch mehr: eine »Vollendung der Wissenschaft, die uns die
fruchtbarsten Resultate geben wird«. Das Selbstvertrauen ist nicht gering, es wird der Anspruch auf Mitwirkung am Wandel des in der Gegenwart herrschenden Denkens vorgetragen, wobei Hegel dem Freund die Führungsrolle überläßt. Natürlich befindet man sich noch immer auf der Suche. Eines jedoch glaubt Hegel sagen zu dürfen: »Vom Kantischen System und dessen höchster Vollendung er warte ich eine Revolution in Deutschland.« Schelling möge ihm derweil Einsicht in Fichtes Wissenschaftslehrc geben mit allen Konsequenzen, an die bisher noch nie mand zu denken gewagt hat. Vor allem kommt es darauf an, »daß die Menschheit vor sich selbst so achtungswert
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dargestellt wird«. Man kennt auch die Schuldigen dafür, daß es bis jetzt noch nicht dahin gekommen ist: Die Religion war die Gehilfin des Despotismus bei der »Ver achtung des Menschengeschlechts«. Es kommt darauf an, die Ideen, wie sich alles entwickeln soll, zu verbreiten. So wird auch die Gleichgültigkeit der Menschen über ihr Los verschwinden. Idealismus und ungetrübter Optimismus haben den beiden Briefschreibern die Feder geführt. Kant, Pichte, Schiller werden von Hegel beim Namen genannt, sie sind die eigentlichen Verkünder der Botschaft der »unsichtba ren Kirche«. Von Hölderlin als ihrem künftigen Apostel ist in der Korrespondenz mehrfach die Rede. Der Inhalt ihrer Verkündigung lautet: Es ist auf die belehrende Kraft der Ideen zu setzen. Über allen aber steht für Hegel Theodor Gottlieb von Hippel. Ihm verdanke er, wie er Schelling wissen läßt, die Richtung seines Denkens: »Ich rufe mir immer aus den Lebensläufen zu: >Strebt der Sonne entgegen, Freunde, damit das Heil des menschli chen Geschlechts bald reif werde. Was wollen die hindern den Blätter, was die Äste? Schlagt Euch durch zur Sonne! ischtistsKunst< vereint und sie nicht, wenn beide schon als selbst polarstrukturierter Pol der Spekula tion gegenübertreten sollen, als Religion bezeichnet« (Jaeschke). Nur: Hegel holt sich das, was er preisgibt, auf dialektischem Wege zurück, läßt bei der Unsicherheit, die das Dunkel der Metaphysik über ästhetische Urteile aus breitet, das »Sowohl-Als-auch« gelten. In dieser Frage bekommt die Sache einen Sprung gegenüber Kant. Der Kantische Schritt war einmal getan, er ließ sich, wie Hegel gerade mit seinem Rückschritt dartut, nicht mehr unge schehen machen. Aber wenn Hegel auf der einen Seite hinter Kant zu
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rückblicb, ging er auf der anderen Seite über ihn hinaus durch Erfahrungen der Kunst und des Kunstwerks, die Kant nicht gemacht hatte. Kants Ästhetik als »Kritik der Urteilskraft« verhielt sich gegenüber dem Phänomen der Kunst und hier den Einzelkünsten formal-formalistisch. Sie enthielt nicht das, was Hegels Ästhetik auszeichnet, rührte mit keinem Wort ernsthaft daran: Sie war keine Philosophie der Kunst. Kant war als Ästhetiker über den Geschmack der frü hen Aufklärung nicht hinausgelangt. Schon Lessing war ihm, wie sein von Hamann mitgeteiltes Urteil über den Nathan zeigt, unverständlich geblieben. In der Geniebe wegung mit Goethes Werther sah er, von seinem Stand punkt aus zu Recht, eine die Vernunft bedrohende Ge fahr. Umgekehrt bildet er für die heranwachsende Gene ration, darunter seine ehemaligen eigenen Schüler wie Hamann und Herder, eine Zielscheibe der Angriffe ge gen die Vorherrschaft des Vernunftgebrauchs. Die klassi sche Bewegung, Goethe und Schiller, ebenso die aufstei gende Romantik seit den neunziger Jahren des 18.Jahr hunderts: an Kant im fernen Königsberg schienen sie vorübergegangen zu sein. Wer nach Spuren vom Feuer des Ergriffenseins angesichts großer Kunstwerke der Dichtung, der bildenden Künste, der Musik bei Kant sucht, wird leere Seiten finden. Über Goethes Egmont, über Mozarts Zauberflöte, Werke seiner jüngeren Zeitge nossen also, ist bei ihm nichts zu erfahren. Sie haben für Kant, der seinen Kritizismus an Hume und Locke und gegen sie entwickelte, nicht existiert: »nicht der Königs berger Dom, aber Tapeten, Buchgraphiken, Porzellan, Stockknöpfe zeigten ihm, was Kunst ist« (Pöggeler). Was schon feststeht und dann bei Hegel wiederkehrt, ist der Gegensatz von »Natur« und »Kunst«, das große Thema von Goethes Ästhetik der »Propyläen«, hier als »Naturschönes« und »Kunstschönes« auseinandergehal ten, aber ohne die Verdächtigung der »Natur«, wie sie idealistischem Denken eigentümlich und bei Schiller als Interpret Kants sehr zum Leidwesen Goethes anzutreffen ist. Hier scheiden sich die Geister, zeichnet sich die halb
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materialistische Ader Goethes ab. Hier rückt auch Hegel, wenn er der Kunst höheren Rang als der Natur zuer kennt, näher an Schiller heran. Der Porträtist oder der Plastiker müssen sich über das nur Natürliche hinwegset zen, sie müssen das den Sinn für die Schönheit Beleidi gende weglassen, wenn sie die Schönheit der Natur über bieten wollen. Und das hatten sie zu wollen, wie der Künstler, der den Diskuswerfer oder die Venus nachbil det. Denn die in Marmor geschlagene Makellosigkeit des schönen Körpers mit den genau eingehaltenen richtigen Proportionen ist sehr wohl imstande, die bloße Natur mit ihren kleinen Unebenheiten, Fehlern und Flecken zu übertreffen. Die darin enthaltene Aufforderung an den Künstler läßt sich weiter ausdehnen: Weil die Nachbil dung des gemeinen Lebens mit seinem »Alltagsjammer« nicht zur Kunst führen kann, muß der Künstler sie erst gar nicht versuchen. Wo die Darstellung sich auf die »physischen Lebenszwecke« gründet, ist es um die Frei heit und Selbständigkeit des Individuums getan, es »ist deshalb nicht aus seiner eigenen Totalität tätig und nicht aus sich selbst, sondern aus Anderem verständlich«. Also weg von der »gemeinen Wirklichkeit« und hin zum Ideal als der eigentlichen Wirklichkeit der Kunst! So wie es Schiller in seinem Gedicht Das Ideal und das Leben gesagt hatte: Aber in den heiteren Regionen, Wo die reinen Formen wohnen, Rauscht des Jammers trüber Sturm nicht mehr. Das nimmt der Kunst eine niederdrückende, sie am Bo den haltende Schwere, die sie um sich selbst bringen müßte, den Unterschied zum Leben aufheben würde. Aber »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst«. Aus diesem von Hegel wiederholt angeführten Wort Schillers läßt sich das Grundverständnis einer auf Idealität bedachten Kunst heraushören. Hier liegen die Elemente seiner Ästhetik nebeneinander geordnet vor uns: die Be trachtung des Schönen hat im Einklang mit Kant »libera
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ler Art« zu sein, »ein Gewährenlassen der Gegenstände als in sich freier und unendlicher«; sie beruht auf der Platoni schen Lehre von der Substantialität der Ideen, aber sie kennt eben gerade deswegen auch das Heranrücken des Schönen an das Gute und ihr mögliches Zusammenfallen. Was hier auf Zustimmung schließen läßt, enthält indessen zwei Brüche von eminenten Ausmaßen. Ein mit dem Guten verbündetes Schönes hat etwas mit Moral zu tun. Aber die Größe der Kantischen Ästhetik bestand gerade darin, daß in ihr jede Verbindung zum Moralischen be stritten worden war. Die Kunst hat sich nach Hegel über die Prosa des Lebens zu erheben. So muß das Epos in der Welt der Götter, der Könige, der Fürsten spielen. Es muß darin seine eigene Höhe gegen alles Niedrige erkennen lassen. Warum? Nicht aus Liebe zur hier anzutreffenden Vor nehmheit, sondern weil nur hier Freiheit und die Form der individuellen Selbständigkeit anzutreffen sind. Hier beruht das Subjekt ganz auf sich, es beruht nicht auf den Beschlüssen anderer. Hier kann sein Fall verhandelt, kann Freiheit verspielt werden, weil nur das verspielt werden kann, was vorher in Besitz gehalten wurde. Das führt jede Kunst in die Form des jeweiligen Weltzustandes hinein. Wie er beschaffen ist, hängt mit Faktoren ganz verschiedener Art zusammen, die sich in ihm treffen und so an ihm mitwirken. Er ist ursprünglich nicht durch eine gesetzliche Ordnung der Dinge, durch Staatsverfas sungen oder Institutionen geschaffen worden, sondern durch gewaltige Menschen, durch Heroen, die allem Ge setz, allem Staat vorausgehen, die außerhalb oder vor der Geschichte leben. Sie sind, was sie sind, durch sich sfclbst, sie nehmen ihre Tat auf sich und mit ihr die Folgen, wie bei den Homerischen Helden, wie bei Ödipus und Ore stes. Knechtische Dienste wie bei Herakles, dem Urtypus für den griechischen Heroenkult, oder wie bei Odysseus können zwar von ihnen geleistet werden, aber sie dienen schließlich doch ihrer eigenen Verherrlichung. Die Tat des griechischen Heros kann nicht von einem andern stellvertretend gesühnt werden, denn es ist seine Tat.
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Als idealer oder poetischer Weltzustand hat demnach der heroische zu gelten. In der verchristlichten Welt tre ten die Heroen als Ritter auf, als Ritter der Tafelrunde, als Paladine Karls des Großen oder wie der Cid als Musterbild eines Kämpfers gegen die Ungläubigen. Aber die voraus gesetzte Idealität kann bedroht werden, der Weltzustand durch Verrottung ins Verderben umschlagen und den Verlust allen Rechts nach sich ziehen. In seinen Räubern hatte Schiller mit seinem Karl Moor ein heroisches Indivi duum dargestellt, das den Kampf gegen den vorhande nen Weltzustand aufnimmt, allerdings selbst ins Unrecht verstrickt wird und darum zugrunde geht. In der Verän derung des Weltzustandes zeigt sich die vorrückende Ge schichte selbst bei der Arbeit. Durch die Schillersche Tra gödie — Kabale und Liebe, Fiesco, Don Carlos, Wallenstein geht immer der heroische Wille zur Erneuerung der Welt, während in Goethes Götz von Berliehingen der umgekehrte Weg eingeschlagen ist; hier trotzt ein mittelalterliches ritterliches Heroentum der heraufziehenden Zeit, es stemmt sich dem Untergang, der ihm von der neuen WTeltordnung droht, entgegen und unterliegt. Anders bei der idyllischen Dichtung; hier geht es nicht um kriegeri sche Taten, sondern um kleine Begebenheiten: ein Schaf ist verlorengegangen, ein Mädchen hat sich verliebt. Die Größe Goethes sieht Hegel darin, daß er in Hermann und Dorothea die schlichten Geschehnisse eines begrenzten Kreises vor dem Hintergrund der Französischen Revolu tion sich abspielen läßt und die große Politik mit ihren Weltintercssen in diese Verhältnisse halbländlicher Ein falt oder der kleinen Stadt hineinwirken läßt. Die Dichtung steht für Hegel allen anderen Künsten voran. Nicht die bildenden Künste oder die Musik! Die Architektur - so hören wir — hat deswegen als die »unvoll ständigste Kunst« zu gelten, weil sie mit der »schweren Materie, welche sie als ihr sinnliches Element ergriff und nach den Gesetzen der Schwere behandelte«, letztlich »unfähig« ist, »Geistiges in angemessener Gegenwart dar zustellen«. Die Skulptur ist höher anzusetzen, sie macht »Geistiges selbst zu ihrem Gegenstand«. Musik bedeutet
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unter Preisgabe der »totalen Räumlichkeit« das »völlige Zurückziehen in die Subjektivität«. Hier bleibt beim Freund der italienischen Oper, für den Mozart nur am Rande, freilich mit viel Sympathie für die Zauberflöte, und sein eigener Generationsgenosse mit dem gleichen Ge burtsjahr, Beethoven, überhaupt nicht existieren, ein Rest an Fremdheit, ein Zaudern vor dem Überschreiten der Schwelle, die über die Opern Rossinis hinausführt, immer bestehen. Dahlhaus möchte Hegels »Schweigen über Beethoven« als ein »beredtes Schweigen« verstanden wis sen, und zwar »aus eingewurzeltem Mißtrauen gegen die von Beethoven eingeschlagene Richtung«, weil er »die absolute Musik... als Irrweg« angesehen hätte. Dieses Schweigen läge dann für den »Antiromantiker« Hegel in der Nähe seiner Ablehnung von Webers Freischütz. Diese auffällige Scheu vor dem eigentlich dionysischen Element unterscheidet ihn vom großen philosophischen Gegen spieler. Für Schopenhauer ist Musik eine objektive Kunst, sie ist der Ausdruck des Weltwillens selbst und darum die höchste aller Künste. In der Theorie der Künste bis ins 18. Jahrhundert galt vornehmlich der Vergleich zwischen Malerei und Poesie. Haben sie etwas miteinander zu tun? Wo liegen ihre Grenzen? So hatte Lessing gefragt, »Malerei« schloß hier die Kunst der Skulptur ein. Für Winckelmann ohnehin, aber neben Lessing auch für Herder wie für Goethe, von Kant ganz zu schweigen, lag Musik in einem möglichen Rangsystem der Künste untenan. Warum? Man wußte zuwenig von ihr, die erste große Höhepunkte hinter sich hatte, aber von der ein bedeutender Teil der Entwicklung noch ausstand oder sich nicht übersehen ließ. In der Antike war die Musik hinter den bildenden Künsten und der Dichtung zurückgeblieben. Hegels Musikästhetik be deutet indessen, die Philosophie der Musik in das System der Künste einzubauen, ohne daß es ihm gelingt, der Musik den Ruf einer gewissen Bescheidenheit ganz neh men zu können. In der Musik gerät ein sinnliches Material in Bewegung, das als »Ton« das »Resultat dieses schwin genden Zkterns« ist. Aber die Definition dieser Kunst
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bedarf des Vergleichs mit andern Künsten. Endet Les sings Versuch, über die »Grenzen der Malerei und Poesie« zu befinden, in der Anerkennung der Eigenart zweier verschiedener Künste, so bezieht Hegel jetzt die Musik in den Vergleich ein. Und er weiß: Im Blick auf Material und Gestaltungsweise liegen Musik und Skulptur weit ausein ander, gibt es aber eine nähere Beziehung von Musik und Malerei. Keiner Kunst jedoch ist die Musik verwandter als der Poesie. Hegel geht auch hier, wie gegenüber dem Entwurf von Kants Ästhetik, über Lessing hinaus, indem er die Malerei von der Skulptur genauer unterscheidet und die Musik dem vergleichenden System der Philosophie der Kunst einfügt, und fällt, ebenso wie es ihm bei Kant widerfahren war, hinter Lessing zurück, dessen Laokoon schon den Beweis erbracht hatte, daß der Vergleich der Künste untereinander der Kunst selber nicht viel beschert. Solche Stützen der Abstraktion sind für die Kunst in ihrer Sinn lichkeit von innen hohl. Von diesem Urteil, das im Verlaufe des 19. und 20.Jahrhunderts seine Bestätigung noch erhalten wird, sind die Darstellungen der Einzelkünste nicht betroffen. Ein vergleichendes System der Kunst hat nur Sinn für eine Philosophie der Kunst, nicht für die Kunst. Inner halb seines Kunstsystems hält Hegel am Gedanken der Einheit der Kunst als der Zusammengehörigkeit aller Einzelkünste fest. In den Einz.elkünsten wie Architektur, Dichtung, Musik zeigt die Kunst verschiedene Gesichter, so wie die Natur in Vulkanen, Menschen, Tierleibern, Kristallen, Wasser, Luft, Feuer zu finden ist. Aber es gibt Staffelungen. Architektur ist »Anfang aus dem Begriff der Kunst« - sie ist Kunst, sofern sie schon die »erste Gestaltungsweise« der Kunst abgibt, aber sie ist gleichzei tig nur als »Vorkunst« zu betrachten, weil der Geist in ihr noch nicht Gestalt angenommen hat. Sie ist nicht von ihren Zwecken zu trennen, die von der Hütte bis zum Tempel reichen; dazwischen Häuser und Paläste. Sie sind alle für etwas geschaffen, sie haben eine Funktion zur Unterbringung, zur Aufbewahrung; oder sollen Gott und
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seine Gemeinde umschließen. Es gibt Bauten zum Ver such der »Vereinigung der Nation oder Nationen«. Zu ihrer Bestimmung gehört immer die Bestimmung des Materials, z. B. der Unterschiede Holz oder Stein. In der Abfolge der Kunstperioden urteilt Hegel konventionell nach Winckelmann, Herder und den Italienern des 17. Jahrhunderts: die ägyptische Architektur ist die ar chaische, sie Hegt der griechischen voraus. Das Urteil Herodots, der als Grieche Ägypten bereist hat und dar über berichtet, gilt ihm viel. Beider ägyptischen Architek turist mit außergewöhnlichen Funktionen zu rechnen, wo die Pyramide als Totenbehausung auf die Bedeutung des Totenreichs als Reich des Unsichtbaren hinweist. Der Form nach bieten die Pyramiden nichts Fesselndes, sie sind leicht zu überschauen und in der Abstraktion und Regelmäßigkeit verständlich. Das Symbolhafte - hier für die Aufbewahrung der »dauernden Leiblichkeit« - findet darin, wie überhaupt in der Architektur, nie zur ganzen Identität. Es könnte oft auch für anderes stehen. Symbol haftes wird in der Skulptur, in Säulen, Obelisken, organi schen Formen von Menschen-, "Eier- und Pflanzengestal ten, in Darstellungen von Gliedern (Phallus) stärker zum Ausdruck gebracht. Hegels Aufteilung der Architektur in symbolische, klassische und romantische ist aus den historischen Zusammen hängen herausgelöst, auch wenn er die klassische Archi tektur in Griechenland gipfeln läßt. Bei der klassischen Architektur besteht ihre Schönheit in der Zweckmäßig keit. Die klassische Architektur, die sich bei öffentlichen Bädern, Theatern, Kaiserpalästen, Wasserleitungen usw. findet, kennt das Nützliche als das Vorherrschende. Sie ist freier als die symbolische, die sich bei Obelisken und Ornamenten um Bedeutungen bemühen muß. Der von Friedrich Schlegel geprägte Ausdruck von der Architek tur als »gefrorene Musik« hat es Hegel angetan. Über die architektonische Schönheit und Zweckmäßigkeit der be kanntesten Säulenordnungen — den dorischen, ionischen und korinthischen — hinaus ist später nichts mehr erfun den worden. Die romantische Architektur, wie Hegel sie
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versteht, kann sie darin nicht erreichen. Ihre Entwicklung geht in eine andere Richtung. Romantisch ist hier gleich »gotisch«. Der seit Jahrhunderten geltenden Geringschät zung des »Gotischen« muß entgegengewirkt werden, weil sie unverdient ist. Hier sprach Hegel für Goethe, der es in seiner Schrift Von deutscher Baukunst wiederentdeckt hatte. Das war in Straßburg geschehen. Hegel denkt an den Kölner Dom, vor dem er gestanden hatte und in dem, obwohl Torso, er den größten baulichen Entwurf einer gotischen Kirche glaubt entdecken zu können mit der gegenüber der klassischen Architektur veränderten Funktion: »nicht Zweckmäßigkeit als solche«, dafür aber »Zweckmäßigkeit für die subjektive Andacht des Gemüts« herzustellen. Das Haus ist nach Hegel das »anatomische Knochenge rüst« der klassischen Architektur. Mit ihm wird der Zweck aller Behausung erfüllt. Grundtypus für das Gebilde der Skulptur ist die menschliche Gestalt. Hier liegen die Un terschiede, die tief in die Künste eingreifen: Das Haus ist eine menschliche Erfindung, die menschliche Gestalt hin gegen »ein vom Menschen unabhängiges Naturprodukt«. In der menschlichen Gestalt findet die Kunst der Skulptur ihr eigentliches Sujet. Tier- und Pflanzcnkörpcr folgen erst mit gehörigem Abstand. Das ergibt aus der Hegel schen Sicht und ihren griechischen Maßstäben: Die Skulp tur ist mehr als jede andere Kunst dem Ideal der mensch lichen Gestalt verpflichtet, sie steht für den objektiven Gharakter, für freie schöne Notwendigkeit, sie ist Mittel punkt der klassischen Kunst. Diese aus der Skulptur herausgelesenen Gebote zeigen wieder die ästhetische Überlegenheit der Kunst gegen über der Natur an. Denn eine solche Makellosigkeit in der Darstellung des menschlichen Körpers, das unfehlbar Richtige in den genau errechneten Proportionen kann die Natur nicht hervorbringen. Das heißt auch: die Skulptur hat sich von allen Extremen in der Physiologie fernzuhal ten. Sie hat ihre eigene Idealität. Wenn die Augen in griechischen Plastiken tiefer liegen als in der Natur, so entspricht das nach Winckelmann dem Skulpturidcal, das
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die Natur hier fein korrigiert. Eine solche gebotene Voll endung bleibt der symbolischen oder romantischen Kunst versagt. Vollendung bedeutet zugleich: keine breite und herabhängende oder aufgestülpte Nase. Stirn und Nase bilden eine durch keine Mulde unterbrochene gerade Linie wie bei den griechischen Plastiken. Wenn Chinesen und Ägypter das anders sehen, irren sie. Das griechische Profil stellt durch diese Schönheitslinie, die mit einer von der Nasenwurzel zum Gehörgang führenden zweiten Li nie einen rechten Winkel bildet, den Ausdruck des »Gei stigen« her und drängt den Ausdruck des »bloß Natürli chen« ganz in den Hintergrund. Die Augenfarbe fehlt in der Regel und kann dies tun, weil die plastische Kunst nach ihr nicht zu fragen hat. In ihrer Idealität ist die Skulptur ohne »Augenstern«, sie ist »blicklos«, weil sie sich über den »Augenblick« erhebt. Die Ohren haben die griechischen Künstler in der Blütezeit aufs feinste indivi dualisiert; der Mund, nach den Augen der schönste Teil des Gesichts, darf weder dünne noch übervolle Lippen zeigen, er ist leise geöffnet, ohne daß die »Zähne« zu sehen sind, die mit dem »Ausdruck des Geistes« nichts zu tun haben. Dagegen stand die romantische Kunst mit ihren die strenge Geschlossenheit der Form mildernden Zügen. »Die Passionsgeschichte, das Leiden am Kreuz, die Schä delstätte des Geistes, die Poesie des Todes« -alles das ist in seiner künstlerischen Darstellung vom »klassisch plasti schen Ideal« weit abgelegen. Klassisch war der blicklose Gott, nicht der mit ausgemalten Augen, nicht der se hende, von sich selbst wissende. Für die romantische Kunst gilt bei Hegel der Supremat der Menschengestalt, und zwar angenähert an den Augenblick, wo sich die Kunstform durch die »vollendete Zufälligkeit und Äußer lichkeit« des Stoffes aufzulösen beginnt. Es fällt die abstrakte Notwendigkeit weg, die für das klassische Kunstwerk kennzeichnend ist. Die Statue eines griechischen Gottes, nicht mehr von einem antiken Künstler, sondern einem modernen geschaffen, oder ein Marienbild, von einem Protestanten gemalt, bleiben als Darstellungen von etwas
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Vergangenem, nicht unmittelbar den Künstler Angehen den, ohne Identität. Bei keinem von ihnen ist ganzer wahrer Ernst am Werk gewesen, hier wie da gibt es einen Abstand zum Objekt, regiert der (romantische) Zufall mit hinein. »Nachbildung des äußerlich Objektiven« bedeutet nicht mehr Objektivität im Sinne der klassischen Kunst, in ihr findet bereits ein »Zerfallen der Kunst« statt. An der Subjekt-Objekt-Beziehung als der zentralen der Logik hält Hegels Ästhetik fest, allerdings mit Einschränkun gen, die ihr von ihrer »Eigenart« auferlegt werden; sie findet statt in der »Originalität«, die »identisch mit der wahren Objektivität« ist, nach neuerer hegelianischer Ausdeutung von Lukács übernommen als »subjektiv blei bende Objektivität« des großen Kunstwerks oder als die darin »objektivierte Individualität« des Künstlers, dessen »Privatsphäre« wir kennen, weil er sich selbst darüber ausgesprochen hat oder wir die biographischen Doku mente besitzen (Eigenart des Ästhetischen). Aber Hegel kon zediert bereits, daß die »Objektivität« als Kennzeichen des unanfechtbar Klassischen schon eine Schwächung erlebt hat, sie kann die Einsamkeit ihrer Höhe nicht für immer ertragen. Sie kann auch nicht nachgeahmt werden. Die »Weisen« von objektiven Dichtern wie Homer, Sophokles, Ariost, Shakespeare sind »ausgesungen«. Sie können in anderer Zeit nicht mehr hervortreten, man würde ihnen, wo sie angestimmt werden, keine Beglaubigung zuteil werden lassen, weil sie unwiederholbar sind. »Zerfallen der Kunst« bringt ihre Grenzen, ihr »Ende« in Erinne rung. Unbedeutend gegenüber der Plastik ist in Griechenland die Malerei gewesen. Es war darum leicht für die christ liche Malerei, sie zu überflügeln. Die Malerei hat nicht in der »klassischen«, sondern erst in der »romantischen« Kunstform ihren Höhepunkt erreicht. Warum? Sie konnte nach Hegel jetzt erst ihren Inhalt erfassen, sie war erst jetzt imstande, ihre Mittel zu gebrauchen. In der Malerei ist die räumliche Totalität von drei Dimensionen zusammengezogen; eine der drei Dimensionen ist getilgt. Wo die Fläche zum Element ihrer Darstellung geworden
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ist, entfernt sie sich weiter von der Architektur als die Skulptur. Ihr physikalisches Element ist das Licht und ihr Gegenteil. Aber Licht und Schatten, Hell und Dunkel können nicht abstrakt voneinander geschieden werden, sondern erleben mannigfaltige Übergänge. Farbe ist das eigentliche Material der Malerei. Schlechterdings und aus konkretem Anlaß heraus zurückgewiesen hat Hegel die Ansicht, das Licht sei aus den Farben und ihren Vermi schungen zusammengesetzt. Das wäre Newtons Licht theorie gewesen, die Goethe in seiner Farbenlehre aus drücklich verworfen hatte. Unterschiede von Menschen oder was sie von den Gegenständen trennt, Entfernung, Mienenspiel, Ausdruck: alles ist ein Werk der Farbe und ihrer Anwendung. Die Malerei kann auf die dritte Dimen sion als das »räumlich Reale« verzichten, um es durch »das höhere und reichere Prinzip der Farbe zu ersetzen«. Ihre eigentlichen Sujets findet die Malerei nicht mehr in den Helden der alten Mythologie, obwohl sie gerade von der Malerei auf dem Höhepunkt ihrer geschichtlichen Entwicklung, z. B. bei Rubens, immer wieder dargestellt worden sind. Für Hegel liegen sie am Rande. Der eigent liche Gegenstand hat Gott-Vater in anthropomorphischer Darstellung zu sein, auch wenn er religiös verstanden »Geist« ist. Hegel rühmt an dieser Stelle van Eycks Genter Altarbild, vor dem er selbst gestanden hatte. Aber derglei chen kann den Malern nur ausnahmsweise gelingen. Nä her liegt ihnen als Sujet Gott in der in Christus menschge wordenen Gestalt. Aber auch nicht als bloßes Porträt, als Christuskopf, sondern innerhalb einer Situation seiner Lebensgeschichte, einer Szene aus der Kindheit oder der Kreuzigung mit seinem Leiden, wo Naivität oder mensch lich ertragener Schmerz in der göttlichen Hoheit hervor leuchten! Bei der Darstellung der Mutterliebe der Maria zu ihrem Kinde als ihrem größten Thema befindet sich die Malerei in ihrem eigentlichen Element, unübertreffbar in Raffaels Sixtinischcr Madonna, von der Hegel sich bei seinen Besuchen in Dresden immer wieder angezogen fühlte. Die Malerei gibt bewegende Handlungen wieder, wäh
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rend die Skulptur in der Regel Konfliktloses zur Darstel lung bringt und erst im Relief durch die Gruppierung Vorgänge oder Leidenschaften nachbilden kann. Giotto markiert den Zeitpunkt, wo sich die Malerei von den griechischen Vorbildern losreißt und vor dem flächigen Goldhintergrund Menschliches in schon individueller Form hervortreten läßt. In der von Giotto angeregten Sinnesweise wird sich die Malerei fortbilden. Zum »Heili gen«, in dessen Sphäre sich die Italiener zu Hause gefühlt haben, kommt beim weiteren Fortgang der Kunst eine andere Wirklichkeit hinzu. Es wirkt die bürgerliche Be triebsamkeit in die gemalte Welt hinein. Städtebilder und Landschaften tauchen im Hintergrund auf, Handel, Ge werbe einer lebensheiteren Gegenwart machen sich be merkbar. Inneres und Äußeres, Religion und Welt wer den miteinander versöhnt. Der veränderte Weltzustand hat den Ausgleich zwischen der körperlichen Gestalt und dem inneren bewegten Leben zustande gebracht und zu einer Kunst geführt, die in Leonardo da Vinci ihren Gipfelpunkt erreicht. Die Deutschen und die Niederländer - das wird von Hegel ausdrücklich vermerkt — sind nicht zu den »freien idealen Formen und Ausdrucksweisen« der Italiener ge langt, sei es, daß sie es nicht konnten, sei es, daß sie es nicht wollten. In der deutschen Malerei findet man »mehr den Ausdruck einer formellen Halsstarrigkeit widerspensti ger Naturen«; Trotz und Eigenwilligkeit lassen auf einen Kampf schließen, der in ihnen tiefe Wunden schlägt. Das gilt vor allem für die oberdeutsche Malerei. Abweichen von der Idealität der Maße und Formen bedeutet für Hegel im Einklang mit Goethe immer ein Sich-Entfernen vom letztlich Vollendeten in der Kunst. Darum steht für ihn Raffael höher als die Brüder van Eyck. Der eigentli chen holländischen Malerei war mit den klassischen Maß stäben der Hegclschen Ästhetik ohnehin nicht beizukom men. Auch die Zuordnung zum »Romantischen« ging hier nicht auf. Für diese Interieurwelt der Holländer mit der Freude am aufgehäuften Reichtum, am glitzernden Hausgerät,
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aber auch an Tänzen, Kirmessen, derben Spaßen, bevöl kerten Landschaften, Szenen aus dem Soldatenleben, Hochzeiten, bäuerlichen Gelagen, war in der Hegeischen Ästhetik eigentlich kein Platz vorgesehen. Das ist eine Kunst außerhalb der im klassischen Sinne zulässigen, die allenfalls durch das Behagen, das dem Auge damit berei tet wird, bestehen kann. Hegels Ästhetik ist wie die Kants und Goethes allem voran Lehre vom Schönen. Dessen Gegenteil hat sie nur ausnahmsweise Aufmerksamkeit erwiesen. Ein Gegen part von gleich zu gleich war das Häßliche nicht. Es ist denn auch nicht zu verwundern, wenn hier später Chri stian Hermann Weiße, der sich für einen Schüler Hegels ausgegeben hatte, einen eigenen, um die Kategorie des Häßlichen bereicherten Entwurf der Ästhetik aufzieht. Hegel hatte wohl von Unterschieden zur klassischen Schönheit, von »markierten Zügen des Unschönen« oder Werken der »gotischen« Kunst wie etwa bei Grünewald gesprochen, die der Schönheit den Rücken wenden, aber über das Häßliche selbst läßt er sich ebensowenig aus wie ein Theologe angesichts der Allmacht Gottes über die Teufe leien des Satans. Es wird an die Existenz des Häßlichen erinnert, aber als eine besondere Sphäre wird sie ausge spart. Das hatte die Logik für sich. Beruht die Schönheit auf Gesetzen, so lassen sich für das Häßliche als ihrem Gegensatz keine Gesetze anfuhren, kann es sich bei ihm nur um ihre kleineren oder größeren Abweichungen han deln, aber um nichts, was weiter anzuführen der Mühe wert wäre. Abweichungen vom System waren sehr wohl vermerkt worden. Wir wissen: China und Indien lagen für Hegel außerhalb seines Schemas von der Weltgeschichte in ih rem Fortschreiten. Das galt auch für ihren Anteil an der Philosophie im Vergleich zu Griechenland und den Fol gen. Von Afrika, das für ihn der Erdteil mordlustiger Neger war, ganz zu schweigen! Was später als »Kunst der Primitiven« etikettiert werden wird, war ihm mit den Verzeichnungen in der chinesischen Malerei als Fehlen der Perspektive und bei ostasiatischen Fayencen begeg
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net, wo der Phallus sich über die humanen Proportionen hinwegsetzt. Er hält fest: »Auf gewissen Stufen des Kunst bewußtseins und der Darstellung ist das Verlassen und Verzerren der Naturgebilde nicht unabsichtliche techni sche Übungslosigkeit und Ungeschicklichkeit, sondern absichtliches Verändern, welches vom Inhalt, der im Be wußtsein ist, ausgeht und von demselben gefordert ist.« Es wäre leicht der Beweis zu erbringen, daß Hegels Fortschrittsgedankc innerhalb der Geschichte der Kunst mit der Wirklichkeit kollidiert, wenn Hegel selbst ihn auf dem Gebiete der Künste verfochten hätte. Daß er das nicht tat, ergab sich bereits aus dem Kunstsystem, nach dem die schönen Künste in der antik-klassischen Idealität ihren Höhepunkt erreicht hatten, über den hinaus es keine Steigerung mehr gab. Sie werden in der Renais sance, insbesondere durch den namentlich erwähnten Michelangelo, wiedererweckt. Aber das »plastische Prin zip der Alten« läßt sich nur durch die gewaltige Kühnheit eines solchen Künstlers mit dem Religiös-Romantischen, sprich Ghristlich-Gotischen, das er in Michelangelo als einmaligen Fall zu erkennen glaubt, vereinigen. Warum? Es sind zwei verschiedene Welten: »die ganze Richtung des christlichen Sinnes ist. . . nicht auf die klassische Form der Idealität gerichtet.« Das hieß auch: Die christliche Gesinnung, die Hegel bei Michelangelo annimmt, war von Haus aus ungeeignet, der Kunst der griechischen Plastik eine Steigerung zu bescheren. Auch schon darum, weil die Skulptur in Grie chenland bereits vollendet war! In der Malerei hingegen sahen die Dinge anders aus. Stand hier Raffael für seinen vollendeten Stil, so konnte Apclles mit seinen Bildern nicht »Vorübungen« für den Italiener geleistet haben, so wenig wie Sophokles mit seinen Tragödien für Shake speare. Denn keiner hatte die Werke seines Vorgängers gekannt. Beim Epos vollends nimmt der Entwicklungsge danke innerhalb der Kunst verwunderliche Züge an, wollte man Vergil als Dichter eines verfeinerten Zeitalters über Homer stellen, von dem er nur eine »Nachübung« geschaffen hat. Am Fortschrittsgedanken innerhalb der
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klassisch-idealistischen Kunst mit ihrer Maßgerechtheit festzuhalten, hätte bedeuten müssen, Griechenland im preußischen Klassizismus Schinkels und in den Darstel lungen der sogenannten Düsseldorfer Schule Schadows auf eine höhere Stufe gebracht zu sehen. Nichts derglei chen ist bei Hegel zu finden. Im Gegenteil, er hat gegen die Düsseldorfer, deren Bilder er auf einer Ausstellung in Berlin kennenlernt, manches einzuwenden: Sie sind »ohne Phantasie für Situationen, Motive und Ausdruck«. Ist in der Kunst bei der Malerei eine Raumdimension, nämlich die dritte, die in der Skulptur gegenwärtig ist, aufgehoben und der Schauplatz auf die Fläche be schränkt, so bedeutet Musik Tilgung jeder Räumlichkeit. Das Erzittern des Körpers im Ton oder Klang kennt nur einen zeitlichen Bestand. Mit der Zahl der Schwingungen im gleichen Zeitraum wird über den Ton befunden. Der Körper ist nicht Objekt der künstlerischen Darstellung, sondern deren Instrument. »Die eigentümliche Gewalt der Musik ist eine clementa rische Macht«; was hier die »Kunst bewegt«, liegt im Ton, der wortlos das Subjekt ergreift, es mit seinem »einfachen Selbst, dem Zentrum seines geistigen Daseins«, in das Werk hineinhebt und es selber in Tätigkeit setzt. Das Ohr
reicht dahin, wohin kein Auge dringt. Es kann die Signale zum bacchantischen Treiben, zum Tumult der Leiden schaften empfangen und weiterleiten. So hatte Orpheus die Bestien gezähmt und Amphion die Steine. Musik als Kunst rein in der Zeit lebt wie keine andere von der Vergegenwärtigung in der Reproduktion. Das bedeutet Begeisterung für die Musik und zugleich Zurücknahme. Hegel betrachtet die Musik wohl als »ro mantische Kunst« in einer andern als der geläufigen Be deutung des Wortes. Aber sie ist ihm Kunst neben andern Künsten, nicht Weltgrund wie bei Schopenhauer. Er fin det anerkennende Worte für Bach: »ein Meister, dessen großartige, echt protestantische, kernige und doch gleich sam gelehrte Genialität man erst neuerdings wieder voll ständig hat schätzen lernen«. Für »wahrhaft idealistische Musik« stehen ihm Palestrina, Lotti, Pergolesi, Gluck,
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Haydn, Mozart. In der Darstellung der Musik bleibt er aufs Ganze gesehen - was sich bei dieser Kunst als nicht ausreichend erweist - auf die Anwendung der zwischen »Versöhnung« in der »Harmonie« und »Entzweiung« in den »Dissonanzen« angelegten »Methode« beschränkt. Ihre Grenzen liegen offen zutage, als er in Carl Maria von Weber der neueren und eigentlich »romantischen« Musik begegnet. Er sieht damit seine Musikästhetik in Gefahr gebracht, erschrickt vor dem » Effekt in gewaltsamen Kon trasten« und einer »Zerrissenheit«, wo »dann von Genuß und Rückkehr des Innern zu sich selbst nicht mehr die Rede sein kann«. Poesie als redende Kunst ist für Hegel die »allgemeine Kunst«, ihr Inhalt die gesamte Welt, die innere und äu ßere. Sie kann jeden Inhalt der Phantasie in jeder Form gestalten. Ihr Material bekommt sie aus dem inneren Anschauen. Im Bunde mit den beiden anderen Künsten ist sie die dritte und zugleich die höchste, weil sie »die Totalität, welche die Extreme der bildenden Künste und der Musik auf einer höheren Stufe in sich vereinigt«. Sprache, mit der es die Poesie zu tun hat, muß als die geläufigste Form der Mitteilung genommen werden. Ihre Wahrheit ist nicht abstrakt, sondern lebendig bildlich. Ihren Gattungen nach gliedert sie sich ins Lyrische, Epi sche, Dramatische. Daran muß festgehalten werden: Poe sie ist älter als das »kunstreich ausgebildete prosaische Sprechen«. Das gilt für alle Zeiten und für alle Völker. Das »Morgenland« ist poetischer als das »Abendland«. Prosa als Gegensatz zur Poesie reinen Verständnisses muß »rich tig«, »deutlich bestimmt« und »verständlich« sein. Meta phorisches Sprechen der Poesie kann dagegen bildlich, »unrichtig« und »undeutlich« sein. In Betracht zu ziehen ist die Unterschiedcnheit der Zeitepochen. Jede Zeit hat ihre höhere oder beschränktere Fmpfindungsweise. Im Krieg ist sie anders als im Frieden, bei Homer anders als im Mittelalter, im Mittelalter anders als zur Zeit des Drei ßigjährigen Krieges. Natürlich sind nach Hegel die Gattungen der Dichtung nicht nur für sich da, sie werden erst ganz verständlich,
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wenn sie gegeneinander gestellt und miteinander vergli chen werden. Inhalt des Lyrischen ist das Subjektive, es wird darin die »vereinzelte Anschauung« zum Ausdruck gebracht. Die »Stimmung« herrscht vor. Lyrisches macht die »Leidenschaft« zur Hauptsache. Epische Dichtung dagegen stellt das »Objektive selbst in seiner Objektivität« heraus. Im Epos wird die »Handlung in ihrem Kampfund Ausgang vor uns hingebreitet«; Mächte stehen sich hier gegenüber, sprechen sich aus, bestreiten sich, Zufälle treten ein, es kommt zu Verwicklungen, menschliches Wirken gelangt in ein Verhältnis zur »weltregierenden Vorsehung«. Der Objektivität des Ganzen wegen muß das Subjekt zurücktreten. Die alte Frage nach der Verfasserschaft der Odyssee und der Ilias hat Hegel auf seine Weise beantwortet. Die Tota lität des Epos enthält einen Organismus, der nur von einer Hand stammen kann. W7enn es auch Zusätze und Ein schübe enthalten mag, es muß Einen gegeben haben mit dem Überblick über das Ganze. Darum ist Homer für ihn als ihr Dichter gegen alle möglichen philologischen Ein wände nicht anzuzweifeln. Der im Epos zur Sprache gebrachte Weltzustand birgt Wahrheiten eigener Art. Im epischen Weltzustand ist der Mensch noch nicht aus dem Zusammenhang der Natur herausgelöst. Das Volk folgt noch freiwillig seinen Köni gen, Fürsten und Führern. Es stellt ihre Herrschaft nicht in Frage. Zwingende Gesetze, denen das Volk unter worfen wäre, gibt es nicht. Das neue Maschinen- und Fabrikwesen mit seinen Produkten, ebenso die moderne Staatsorganisation müßte dem Epos unangemessen sein. Individuelle Gesinnung hat sich in den Zuständen der eigentlich epischen Weltanschauung noch nicht geltend gemacht. Das Feld, auf dem sich im Epos Handlungen kollidie render Art abspielen, teilt es sich mit dem Drama. Seit Aristoteles ist die Nähe zwischen Epos und Drama alther gebrachte Einsicht. Die Tragödie in Griechenland war aus dem Epos und ihrer Stoffmasse hervorgegangen. Der Epiker Homer ist auch der Vater der griechischen Tragö
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die. Als Normalsituation des Epos hat der Kriegszustand zu gelten. Im Krieg treffen Völker aufeinander. Hier hatte Aristoteles im vierten Kapitel der Poclik die Grenze gezogen, wenn er empfiehlt, in der Tragödie den tragi schen Konflikt innerhalb der Familie stattfinden zu lassen. Die Orestie, Ödipus, aber auch, von Hegel vermerkt, die historischen Tragödien Shakespeares, sind Familientra gödien. Hier werden Kämpfe der Dynastie oder Bruder gegen Bruder ausgetragen. Kriege in Epen müssen eine »universalhistorische Berechtigung« haben wie in der [lias der Kampf zwischen Griechen und Kleinasiaten, der einen Wendepunkt in der griechischen Geschichte aus macht, ebenso wie bei Tasso und Ariost, wo Christen und Sarazenen aufeinandertreffen. Allgemeines wird im Epos immer an ein Individuum geknüpft, bei Homer an Odys seus oder Achill, denn nur Individuen, ob Götter oder Menschen, können wirklich handeln. In der Göttlichen Komödie ist Dante selbst das Individuum, das die Wande rung durch Hölle, Fegefeuer und Paradies macht. Aber es geht dem Epos nicht um die Handlung an sich, sondern um die Begebenheiten: Es ist interessant, was den Helden bei der Absicht, ihre Wünsche zu erfüllen und ihre Zwecke zu erreichen, alles widerfährt, etwa dem Odysseus bei der Heimkehr nach Ithaka, nicht aber um deren Realisation. Die Tätigkeit des Helden bei der Realisation und ihren Folgen ist Sache des Dramas. Im Drama macht der Charakter sein Schicksal selber, im Epos wird es gemacht, und zwar durch die Macht der Umstände. Ausdrücklich unterschieden hat Hegel zwischen »ur sprünglichen« und »künstlichen« Epen. Darin liegt für ihn der Gegensatz zwischen Homer und Vergil. Epen der zweiten Art, zu denen Miltons Paradise Lost und Klop stocks Messias zu rechnen sind, können die Höhe der »ursprünglichen Epen« nicht halten. Sie leben vom »Zwie spalt des Inhalts und der Reflexion des Dichters«. Be trächtliche Mängel, die Hegel am Nibelungenlied entdeckt, hindern ihn daran, es den Homerschen Epen gleichzustel len. Die Fortsetzung des alten Epos war der Roman als seine
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bürgerliche Form. Der »Roman im modernen Sinne«, so hält er fest, »setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirk lichkeit voraus«, in der der »ursprünglich poetische Welt zustand« des alten Epos verlorengegangen ist. Er kann sich in der Welt der neuen Verhältnisse nicht mehr be haupten, er wird sozusagen auf die Sphäre großer Ge fühle reduziert. Auf dem schematischen Gegensatz der »Poesie des Herzens« und der »Prosa der Verhältnisse«, die sie zuschanden macht oder zum Kompromiß zwingt, baut der bürgerliche Roman seit seinen Anfängen im England des 17. Jahrhunderts auf. Auch das Drama hat sich vom »Weltzustand« des Epos entfernt, kennt nicht mehr die epische »Totalität«. Seine Kollisionen sind einfacher. Es kann sich von seiner Expo sition her nicht in der gleichen Breite ausdehnen wie das Epos, die Form duldet kein lang schilderndes Verweilen, sondern fordert stete Fortbewegung hin zur Endkatastro phe. Dramatische Dichtung im Vorwärtsrücken von der An tike über Shakespeare bis zur modernen Zeit bei Goethe und Schiller zeigt den Wandel in den Weltverhältnissen an. Diepersonae dramatis lassen ihn durchscheinen. So sind die Könige nicht mehr das, was sie waren. Als Monarchen sind sie nicht mehr die Herren des mythischen Zeitalters, also keine »in sich konkrete Spitze des Ganzen«, aber dafür »ein mehr oder weniger abstrakter Mittelpunkt innerhalb für sich bereits ausgebildeter und durch Gesetz und Verfassung feststehender Einrichtungen«. Sie haben die »wichtigsten Regentenhandlungen« inzwischen aus der Hand gegeben. Sie sprechen selbst in eigener Person nicht mehr Recht, befinden auch nicht mehr über ihr »Hauptgeschäft« von ehemals, nämlich über Krieg und Frieden. Der »Unterschied« zwischen den Personen und den Ständen kann natürlich nicht aufgehoben werden. Er macht die Tragödie erst möglich durch die »Fallhöhe«, die dem Sturz des Helden vorausgeht, die zu seiner Per son im Verhältnis zu den andern Personen gehört, die ihn auszeichnet und ihn damit für die Katastrophe auswählt. Das Heroentum, das den »Helden« auch noch im Mittelal
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ter umgibt, ist gewissermaßen vom Nebel der Mythologie umgeben. In Goethes Götzvon Berlichingen verfolgt Hegel die »Kollision mit dem gesetzlich gewordenen modernen Leben«. »Rittertum« und »Lehnsverhältnis« waren der Boden für seine selbständig freie Existenz. Es ist die »neue Ordnung der Dinge«, die sie untergräbt und zu Fall bringt. Gegen die Übermacht der neuen Ordnung rennt der alte Heros vergeblich an, erfährt er seine Veralterung, gehört er zu dem Geschlecht derer, denen Gervantcs in seinem Don Quixote ihre Lächerlichkeit bestätigt. Goethes Götz zeigt, wie das Zeitalter des alten Rittertums endgültig dahin und ein neues, kälter urteilendes im Aufbruch begriffen ist, das die Widerstände mittelalterlicher Über bleibsel niederringt. Im Namen einer fortschreitenden Geschichte werden sie auf deren »Schlachtbank« erbar mungslos geopfert. Im Drama sind nach Hegel die Objektivität des Epos und das subjektive Prinzip der Lyrik miteinander verei nigt; das Geschehen wird dabei nicht aus den Umständen, sondern aus dem inneren Wollen der Individuen und ihrem Gharakter entwickelt. Zu Wille und Gharakter als der Quelle der Handlung kommt das Thema als der Zweck, den das Individuum verfolgt. Der Wille, mit dem das tragische Individuum seine Zwecke durchsetzen möchte, ruft eine Gegenkraft auf den Plan, womit ein unausweichlicher Konflikt herbeigeführt ist. Beide Seiten haben für sich genommen ihre Berechtigung. Jede Seite sieht in der anderen die Negation, die Verletzung, und muß bei dem Versuch, ihre Macht zu behaupten, in Schuld geraten. So berechtigt tragischer Zweck und tragi scher Charakter sind, so notwendig ist der Zusammenstoß und auch die tragische Lösung des Konflikts. Nicht ver gessen werden kann der griechische, also »heidnische« Ursprung des nach Aristoteles sich aus dem Epos heraus lösenden Dramas mit der Folge, »daß Hegel dem christli chen Bewußtsein, welches das Prinzip der Versöhnung in sich weiß, die Möglichkeit einer tragischen Kunst ab spricht« (Helmut Kuhn). In der Hegelschen Dramaturgie behält das Tragische
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gegenüber dem Komischen nicht zwangsläufig das letzte Wort: » I n der Tragödie zerstören die Individuen sich durch die Einseitigkeit ihres gediegenen Wollens und Charakters ...; in der Komödie kommt uns in dem Gc lächter der alles durch sich und in sich auflösenden Indivi duen der Sieg ihrer dennoch sicher in sich dastehenden Subjektivität zur Anschauung.« Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Denn in der Komödie als dem zweiten Arm der dramatischen Kunst macht sich der Mensch »zum vollständigen Meister alles dessen ..., was ihm sonst als der wesentliche Gehalt seines Wissens und Vollbrin gens gilt«. Die Komödie gehört bei Aristophanes zur Weltdarstellung mit dem aufgeklärten Stadtbürger als seinem Hauptdarsteller. Ihm bescheinigt der Berliner Ästhetiker mit allen Zeichen ausdrücklicher Abneigung: »Einem demokratischen Volke z.B. mit eigennützigen Bürgern, streitsüchtig, leichtsinnig, aufgeblasen, ohne Glauben und Erkenntnis, schwatzhaft, prahlerisch und eitel, einem solchen Volke ist nicht zu helfen; es löst sich in seiner Torheit auf.« Die Hegelsche Kunsttheorie neigt sich also mit ihrem Schwerpunkt der Dichtung zu. Die großartigsten Partien der Vorlesungen über Ästhetik finden sich in seiner Dar stellung über epische und tragische Werke der Weltlitera tur. Was über das Lyrische gesagt wird, tritt eigentümlich zurück. In seinem eigenen Kunstgeschmack ist Hegel über die Gedichte Goethes, Schillers und Klopstocks als dem Nonplusultra der zeitgenössischen Lyrik nicht hin ausgelangt. Daß sein Tübinger Zimmergenosse und Freund Hölderlin Verse von einzigartiger Expressivität geschrieben hat, ist ihm nicht bewußt geworden. Oder wollte er darüber nicht sprechen? Das System der Hegelschen Ästhetik ist in ihrem Wert register durch und durch konventionell. Hegel vertritt die Grundpositionen der Klassik als dem nach Goethe »Ge sunden« und leitet sie in ihren Kunstpartien insbesondere aus Aristoteles ab, indem er von ihm her die von den Einzelkünsten ausgehenden Fäden zu einem Gesamtsy stem aller Künste verknüpft. Das hieß für die bildenden
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Künste: Winckelmann und für die Dichtung: Lessing und Herder als Autoritäten. Der Name Lessing wird zwar selten genannt, und Her der gehl unter im allgemeinen Taumel der Geniebewe gung, die aber nach Weimar und zur »Kunstperiode« hinüberfuhrt, deren philosophische Ästhetik Hegel in seinen Vorlesungen vorträgt. Hier kommt es zu einem überraschenden Zusammenklang mit dem unbekannten »Gegenspieler«. Auch Schopenhauers Kunstlehre ist klas sisch-konventionell und fußt wie die von Hegel auf Goe the. Beide enthalten das, was in Weimar »geglaubt« wurde, nur bei Schopenhauer »aus dem Geiste der Mu sik«, bei Hegel »aus dem Geiste der Poesie« geboren. Aller Zukunftsgestimmtheit der Kunst ist nach Hegel ein beharrlicher Zweifel entgegenzusetzen. In seiner Kunstphilosophie reißt der vom Vorwärtsschreiten der Geschichte in Bewegung gehaltene Faden mit einem Male ab. Es ist sehr wohl mit dem »Ende der Kunst« zu rechnen. Die Möglichkeit bleibt vorstellbar, wonach es eine Kunst nicht mehr gibt, so wie die Naturgeschichte in ihren gewaltigen Zeiträumen ohne das Existieren der Kunst gedacht werden kann. Die Vorstellung von der »Ewigkeit der Kunst«, in der sich auch die klassische Ästhetik be wegte, wird hier vollends zu einer gedankenlosen Phrase. Was als Kunst in Erscheinung tritt, gehört einer kurzen Zeitspanne innerhalb der Geschichte der Natur an. Nietz sche, sonst Hegel so fernstehend, wird den Gedanken aufnehmen und weitertreiben. Sein »Übermensch« als Mensch der Zukunft ist der Überwinder des Künstlers. Wer sagt, daß die Zukunft nicht auch ohne Kunst und Künstler auskommen könnte? Bei Hegel scheint der Ge danke wie eine Bruchstelle im System zu sein oder wie ein daran angehängtes fremdes Teil. So jedenfalls ist er oft genug aufgefaßt worden. Aber der Zweifel, der auf gera dezu unerklärliche Weise an die Schopcnhauersche Ge genposition heranführt, macht das System erst vollstän dig. Wenn später Haym in seiner Biographie die zeitge schichtlich bedeutsame Bemerkung macht, »daß Hegel
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das Spezifische der Kunst anerkennt, während er das Religiöse mißkannte und herabsetzte«, so konnte das den Eindruck wiedergeben, den Hegel, mit. der ganzen Aureole der Goethefreundschaft ausgestattet, gerade in seinen Vorlesungen über die Ästhetik bei seinem Berliner Auditorium hinterließ. Auch wenn man Haym nicht fol gen will, so hält sein Urteil doch fest, wie bei Hegel Kunst und Religion als Gegenkräfte voneinander schon getrennt erscheinen, wie die Kunst als eine sich von der Religion emanzipierende verstanden ist in einer Bewegung, die Hegel selbst durch die eingeschaltete »Kunstreligion« zwar retardieren läßt, die aber weitergeht als »Befreiungs kampf der Kunst von den Einflüssen der Religion« (Lukacs) oder auch mit Ungewissem Ausgang, vielleicht dahin, wo sie ihr Ende erfährt. Die Hegelsche Ästhetik gibt darüber keine Auskunft. Das »Ästhetische« nimmt sich durch seine »Eigenart« die Freiheit gegenüber den Verheißungen der Religion heraus. Ästhetische Erfah rungen über Natur und Kunst, über »Naturschönes« und »Kunstschönes«, wörtlich als Erfahrung über das sinnlich Erfahrbare, Gegenständliche, über Körper, Stoff, Form, Gestalt, Maße, Farbe, Wort, Klang, Rhythmus usw. ist keine Erfahrung im Gestern und Morgen, in der Prä existenz oder einer künftigen Herrlichkeit, im Glauben und Hoffen, sondern von dem unendlichen Wert der Zeit in der Gegenwart, eben dem, was sich nicht in der Reli gion, sondern in der Kunst realisiert. Darunter stand die tiefe Beglaubigung durch Goethe, der bei allem Respekt vor der Religion, hier insbesondere der christlichen, kein Bedürfnis empfand, als »Heide«, wie er sich fühlte, im Sinne ihrer Inaussichtstellungen »erlöst« zu werden, und auch offen aussprach, warum das für ihn selber so war: Wer Kunst und Wissenschaft besitzt,
Hat auch Religion;
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der habe Religion.
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Fünfunddreißigstes Kapitel
Die Reise ins Habsburgische Auf der Reise durch die Vereinigten Niederlande waren Hegels Erwartungen, die er darin gesetzt hatte, voll be friedigt worden. Ohne die Absicht, den befreundeten van Ghert in Brüssel zu besuchen, wäre sie freilich nicht zustande gekommen. 1824, zwei Jahre später, bricht er zum zweiten Male auf. Jetzt fehlt der private Hinter grund, und allein der Zweck, anschauliche Belehrung zu gewinnen, seine vorhandenen Gewißheiten zu bekräfti gen und neue hinzuzugewinnen, gibt den Ausschlag. Über die Gründe, die den idealistischen Philosophen nach Österreich, also auf den Boden der jahrhunderte lang das »Reich« beherrschenden Dynastie führten, sind wir recht gut im Bilde, weil Hegel sie in den Briefen an seine Frau mehr unterderhand, aber doch ausführlich, selber mitteilt. Ein Preuße aus Württemberg in Öster reich! Das mußte die Berührung mit einer Welt bedeuten, die ihm, auch wenn Teile Schwabens eine österreichische Vergangenheit hatten, durch seine Herkunft, seine An schauungen, seine Lebensform von Grund auf verschlos sen war. Zwar war Österreich der Bundesgenosse Preu ßens zusammen mit Rußland gegen den gemeinsam be zwungenen Feind, den »Weltgeist zu Pferde«, gewesen, aber jeder in Preußen aufsteigende Gedanke an Öster reich ging in den vollen Dampf des Unbehagens auf. Österreich stand stellvertretend nicht nur für das alte untergegangene »Reich«, sondern auch für seine Schwä che, seine von Hegel immer wieder tief beklagte Herun tergekommenheit, dem mit dem Zusammenbruch nur das längst verdiente Schicksal widerfahren war. Seine Trüm mer sind die Stoffmasse, aus der Preußen seine künftige Herrschaft in Deutschland langsam und mit Rückschlä gen, doch im ganzen zielstrebig aufbauen wird. Aber das Metternichsche Österreich war die eigentliche politische Triebfeder im Kampf gegen Napoleon gewe sen. Mochte der idealistische Schwung eines Stein auch
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nicht eine österreichische Sache gewesen sein, so war es doch nie in ein Bündnis mit dem Korsen hineingezwun gen worden, hatte es ihm doch stets seine Zähigkeit, die Meisterschaft im Taktieren und Lavieren, Fäden von lan ger Hand zu ziehen, dagegengesetzt. Und es war die an Anciennität überlegene Monarchie. Metternichs Name als der Name des eigentlichen Sie gers über Napoleon hatte am Ende alle anderen über strahlt. 1815 auf dem Wiener Kongreß, wo über die europäische Friedensordnung verhandelt wurde, war er der Gastgeber. Dort hatte er sich durch eine Meisterdiplo matie ausgezeichnet, die zuließ, daß sich beim Besiegten, für den Talleyrand am Konferenztisch saß, das Gefühl der Unterlegenheit nicht einstellen konnte. Metternichs Politik von 1815 ist geleitet gewesen von dem Gedanken, daß es eine Wiederholung ähnlicher Abenteuer wie der Napoleonischen, die dem europäischen Konzert der Völ ker den dissonierenden Schluß beschert hatten, nie wie der geben dürfe. Dafür nahm er die volle Integration Frankreichs in ein von den konservativen Monarchien beherrschtes Europa in Kauf. Garantin einer solchen Politik ist für Metternich die »Heilige Allianz« zwischen den beiden Kaiserreichen Österreich und Rußland und dem Königreich Preußen. Auch hier zieht er wieder die Fäden, ist er der eigentliche Initiator der »Karlsbader Beschlüsse«, die die Ausfüh rungsbestimmungen für die erforderlichen Kontrollen, polizeilichen Reglements im Dienste dieser Politik enthal ten, repräsentiert er die ganze Ära der nachnapoleoni schen Restauration. Mit der Heiligen Allianz kann Österreich als die siegel bewahrende Macht des alten Reichs einen Teil seiner Funktionen wenigstens zeitweise zurückerobern, die es seit dem Abtreten vom Schauplatz der deutschen Politik verloren hatte. In allen Fragen einer konservativen Politik geht es voran, ihm gegenüber ist das hohenzollernsche Preußen vergleichsweise ein liberaler Staat. Die allmäch tige, dank völliger Undurchsichtigkeit und Verzöge rungsstrategien meisterhafte Administration hat die
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Monarchie zu einem gut funktionierenden Bewachungs staat gemacht mit einem ausgebildeten Polizeispitzels) stem, mit der strengsten Pressezensur, die sich denken läßt, und Vorkehrungsbestimmungen, die jeder möglichen An sammlung verdächtiger Elemente entgegenwirken. Die Verhältnisse spitzen sich vor 1848 mehr und mehr zu und machen durch die Klagen, die vor allem aus den Kreisen der fortschrittlichen Publizistik, aber auch durchreisender Ausländer kommen, aus Österreich den »Völkerkerker«. Österreich gilt als das China Kuropas. Es ist wie durch eine Mauer von den Nachbarn abgetrennt. Die Grenzen sind geschlossen und nur nach peniblen Kontrollen zu passie ren. Zur gefährlichsten Konterbande gehören mitge führte Zeitungen, überhaupt im Ausland hergestellte Schriften, die allein durch den Umstand, daß sie gedruckt sind, Verdacht erregen. Jeder Luftzug aufgeklärter Gesin nung soll aus dem Lande ferngehalten werden. Die Läh mung, die die Geister damals befallen hat, das Depressive in der Zeitstimmung, ist immer wieder bezeugt worden. Es traf freilich die Empfindlicheren, während sich andere in ihrer nachromantischen Schwärmerei und der phäaki schen Genußfreude, die vor allem im Wienerischen behei matet ist, deswegen nicht stören lassen mußten. Wie heißt es in Hegels gcschichtsphilosophischen Vorle sungen? »Österreich ist nicht ein Königtum, sondern ein Kaisertum; d. h. ein Aggregat von vielen Staatsorganisatio nen. Die hauptsächlichsten sind nicht von germanischer Natur und unberührt von den Ideen geblieben. Weder durch Bildung noch durch Religion gehoben, sind teils die Untertanen in der Leibeigenschaft und die Großen depri miert geblieben, wie in Böhmen, teils hat sich, bei demsel ben Zustand der Untertanen, die Freiheit der Krone für ihre Gewaltherrschaft behauptet, wie in Ungarn.« Das Urteil konnte angesichts Hegels uneingeschränkter Ver werfung des Feudalismus als Gewaltherrschaft nicht un günstiger lauten. Mit den damals nicht nur in Preußen geläufigen Vorstel lungen vom Charakter des Habsburgerreichs hat sich Hegel im September 1824 auf die Reise begeben.
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Dresden war die erste Station, von wo aus er auch brieflich nach Hause berichtet. Hierher hatte es ihn im mer wieder gezogen. Die Stadt, in der er sich so wohl fühlte, war von ihm ausdrücklich als Treffpunkt für die Begegnung mit den alten Heidelberger Freunden, vor allem mit Creuzer und Daub, gedacht gewesen, die dann nicht wie vorgesehen stattfinden konnte. Diesmal kann es Hegel, der im »Blauen Stern« abgestiegen war, bei einer kürzeren Besichtigung bewenden lassen. Er promeniert auf den Brühlschen Terrassen, wohnt einem Vortrag Böttigers bei, der das Antikenmuseum leitet, und erlebt bei Tieck die Vorlesung einer Holbergschen Komödie. Zweimal besucht er die Gemäldegalerie. Vorsorglich be merkt er gegenüber seiner Frau, der er die Weiterreise nach Prag ankündigt, keine politischen Dinge zu erwäh nen, weil »die Briefe im Österreichischen gelesen wer den«. In Teplitz, der Bäderstadt, steigt er auf den Schloß berg und genießt von dort den Blick ins Tal, abends sieht er einige Feile von Webers Preziosa, die allerdings, so erinnert er sich, in Berlin besser gespielt worden sei. Weiter geht es nach Prag. Der für Prag vorgesehene Aufenthalt muß wider Willen um zwei Wochen verlängert werden, weil alle Wagen nach Wien bereits besetzt sind. Einen der Abende verbringt er in einer Komödie nach der Devise »Es ist alles eins, ob ich Geld hab oder keins«, die ihn offenbar amüsiert hat. Beim Aufstieg zum Hradschin auf der Kleinseitc gerät er in ein Militärmanöver und muß, wie er nach Hause schreibt, den »Rückzug« antre ten. Den Ausflug nach dem vier Stunden von Prag gelege nen Schloß Karlstein scheint er in der Verlegenheit unter nommen zu haben, die lange Wartezeit bis zur Weiterreise nach Wien abzukürzen. Er verbringt sie übrigens in einem Wagen, der in zwei »Zimmer« mit je vier Personen, dazwi schen ein Fenster, geteilt ist. Zweiundvierzig Meilen wer den in sechsunddreißig Stunden zurückgelegt. Was ihn an Wien besonders angezogen hatte, bemerken wir bei seiner Ankunft. Noch ermüdet von der langen Reise, begibt er sich im »Reiseschmutz« sogleich in die Oper, wo am Abend Doralice von Meradente gespielt wird.
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Es ist die italienische Oper, die ihn in den nächsten Tagen in Anspruch nimmt. Er zeigt sein Unverständnis für Besu cher der Stadt, die es versäumen, in die italienische Oper zu gehen. Nicht Gluck, nicht Mozart, sondern Rossini und die italienischen Sänger und Sängerinnen sind seine Favo riten. Er ist berauscht vom »Schnickschnack« dieser Musik mit dem pikanten und nicht selten trivialen Schönton in den flimmernden Koloraturen. Von Rossini erwähnt er noch eine Othello-Aufführung und den Figaro (Barbier von Sevilla), den er sich sogar zweimal anhört und der ihn »unendlich mehr vergnügt hat als Mozarts >Nozze