Die Katastrophe kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel – für das Riesenraumschiff der Klarri wie für die Bewohner der Er...
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Die Katastrophe kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel – für das Riesenraumschiff der Klarri wie für die Bewohner der Erde, wo die Rettungsboote mit den Überlebenden der Schiffsexplosion landeten. Die wenigen Klarri, die das Abwehrfeuer der Erde überlebten – hier dachte man zunächst an eine Invasion aus dem Weltall – genügten, um eine Serie von Epidemien auszulösen, die die Erde in ein Sterbehaus verwandelte und die menschliche Zivilisation in kurzer Zeit vernichtete. Die Überlebenden beider Rassen versuchten, mit den Umständen, an denen nichts mehr zu ändern war, fertig zu werden, so gut es ging – zu retten, was noch zu retten war. Denn noch waren die Seuchen nicht endgültig besiegt, starben Menschen und Klarri, während Medikamente immer knapper wurden. Nur eine Kleinstadt – was von ihren einst vierzigtausend Einwohnern noch übriggeblieben war – schien verschont zu sein, eine Insel des Friedens im Meer des Leidens ... ÜBERLEBEN UM JEDEN PREIS von Algis Budrys und weitere moderne Science-Fiction-Stories bekannter Autoren.
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1 bis Band 56 SCIENCE-FICTION-STORIES 57 (Ullstein Buch 3212) Zwei Erzählungen von Henry Kuttner und Lewis Padgett SCIENCE-FICTION-STORIES 58 (Ullstein Buch 3222) Stories von John Brunner, Harlan Ellison, H. H. Hollis und Doris Piserchia SCIENCE-FICTION-STORIES 59 (Ullstein Buch 3235) Drei Erzählungen von H. Beam Piper
Ullstein Buch Nr. 3314 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Dolf Strasser Umschlagillustration: ACE Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus ON OUR WAY TO THE FUTURE Copyright © 1970 by Terry Carr Übersetzung © 1977 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1977 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03314-8
SCIENCE-FICTION-STORIES 60 (Ullstein Buch 3250) Stories von Larry Niven, Clifford D. Simak, James H. Schmitz, David I. Masson, Jonathan Brand, R. A. Lafferty, Ron Goulart SCIENCE-FICTION-STORIES 61 (Ullstein Buch 3260) Stories von Vernor Vinge, Harlan Ellison, Christopher Anvil, Fritz Leiber und anderen SCIENCE-FICTION-STORIES 62 (Ullstein Buch 3265) Erzählungen von Frank Herbert, Edgar Pangborn, Kris Neville, Roger Zelazny, Robert Silverberg und Philip Latham SCIENCE-FICTION-STORIES 63 (Ullstein Buch 3285) Phantastische und utopische Erzählungen von Ray Bradbury SCIENCE-FICTION-STORIES 64 (Ullstein Buch 3298) Moderne Science Fiction von Colin Free, Philip K. Dick, Thomas M. Disch und anderen
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-stories/ Hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein. NE: Spiegl, Walter [Hrsg.] 65. Von Algis Budrys ... – 1977. (Ullstein-Bücher; Nr. 3314 Ullstein 2000) ISBN 3-548-03314-8 NE: Budrys, Algis [Mitarb.]
Science-FictionStories 65 von Algis Budrys Fritz Leiber Brian W. Aldiss James H. Schmitz
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Überleben um jeden Preis Algis Budrys .......................................................
6
Leben zwischen den Sternen Fritz Leiber .........................................................
76
Ein Faible für Dostojewski Brian W. Aldiss ..................................................
89
Nacht des Schreckens James H. Schmitz ............................................... 114
Algis Budrys ÜBERLEBEN UM JEDEN PREIS 1 Der Alte Herr ist ein guter Alter Herr. Sein Name ist Colston McCall, und ich weiß nicht, was er vorher gemacht hat. Jetzt ist er Polizeichef des westlichen Distrikts von Groß New York, und er weiß, was wichtig ist und was nicht. Ich saß unter einer großen Fichte und fühlte mich schwach und schwindlig. Ich hatte ein paar Aspirin genommen und ein flaues Gefühl im Magen. Es war ein schöner, sonniger Tag. Das moosige Kissen, an dem ich lehnte, gab unter dem Druck meines Rückens ein wenig nach. Das Geäst bildete einen angenehmen, schattenspendenden Baldachin. Auch der fichtennadelbedeckte Boden war weich, und es war schön, dort zu sitzen und über die Wiesen zu blicken. Überall wucherten Blumen. Man hätte dieses Gelände umpflügen und bepflanzen können. Aber wir hatten nicht genug Leute, um alles zu pflügen, sondern bestellten so viele Felder, wie es mit den vorhandenen Maschinen möglich war. Wir taten unser Bestes. Wir brauchten eine Menge Leute, die in die Lagerhäuser gingen, um unverdorbene Lebensmittel zu holen. Eine bessere Organisationsform gab es nicht. Wir alle hatten etwas Nützliches zu tun, alle von uns, die nicht bettlägrig waren. Unter einem Baum hätte ich sowieso nicht sitzen sollen.
Aber es war ein schöner Tag, und die ganze Nacht und am Morgen hatte ich schlimme Schmerzen gehabt. Die Ärzte im Krankenhaus hatten mir eine Bescheinigung gegeben, auf der stand, daß ich nur zu arbeiten brauchte, wenn ich konnte. Das sollte wohl heißen, daß ich nur arbeiten mußte, wenn ich wollte; aber wenn sie es so geschrieben hätten, hätten sie aus jedem, der mich darum gebeten hätte, einen Sadisten gemacht. Wir sind sehr vorsichtig geworden. Sehr rücksichtsvoll in einer bestimmten, praktischen Weise. Unsere Manieren sind gräßlich, weil wir keine Zeit haben, höflich zu sein. Aber das, was man früher sagte, ist wahr: Je weniger Leute es gibt, desto wichtiger sind sie. Ich weiß noch, wie es in den Jahren nach 1960 war, bevor die Klarri ihren Unfall hatten, aber man kann sich doch kaum mehr vorstellen, wie gemein die Leute damals zueinander gewesen sind. Ich erinnere mich noch an gewisse Dinge, die sie einander antaten, und es macht mich einfach rasend, weil es mich rasend machen würde, wenn mir heutzutage so etwas angetan würde. Uns alle würde es rasend machen. Ich glaube, daß manches, was uns damals krank machte, von unserer Lebensweise herrührte. Wäre ich fünfzehn Jahre jünger und hätte meinen eigenen Weg in der jetzigen Welt zu gehen, hätte ich nicht diese Schwierigkeiten und müßte nicht hier sitzen und nachdenken. Ich meine, ein Mann wie ich, der die Klarri-Krankheiten so gut überstanden hat, müßte eine Menge Dinge zu tun haben in dieser Welt. Statt dessen sonderte ich mich ab wegen etwas, was die alte Welt mir angetan hatte. Ich wünschte, ich hätte nicht unter dem Baum ge-
sessen. Ich wünschte, ich hätte nicht versucht, all das in mich hineinzufressen. Hätte ich es gekonnt, ich hätte Sonne und Bäume und alle wilden Blumen der Welt in mich hineingefressen, allein für mich, das wußte ich. Die Bescheinigung, die mir der Arzt auf die Rückseite eines Kalenderblattes geschrieben hatte, hatte ich weggeworfen. Nun, so etwas hebt man nicht auf. Nicht, wenn es in einem großen Zelt beim Schein einer Petroleumlampe mit einem Bleistiftstummel geschrieben wird, und wenn der Arzt so müde ist und die Leute im Zelt an schweren Krankheiten leiden, die keiner kennt. Ich meine, mit so etwas in der Tasche läuft man nicht herum. Lieber sitze ich noch eine Weile schuldbewußt hier. Aber lange hält man so etwas eben nicht aus. Man weiß, daß man nur mit sich selber spielt, denn jedesmal, wenn man sich schuldig fühlt, weil man etwas so Simples, Einfaches wie Krebs hat, tut man nur einfach so, als könnte man sich allen möglichen Luxus leisten. Ich brauchte mir keiner Schuld bewußt zu sein, nicht im geringsten. Aber es ist menschlich, Schuldgefühle zu haben, und das Schlimme am Schmerz ist nicht, daß er weh tut. Das Schlimme ist, daß man wieder in das nasse, hilflose Etwas zurückverwandelt wird, das man bei seiner Geburt war. Ich weiß, daß Himmel und Erde sich verändert haben und einen jederzeit verschlingen oder verbrennen können. Ich weiß, daß es für andere nicht so ist. Andere Leute tun noch Dinge in einer Welt, die morgen noch da sein wird und zuverlässig ist. Du aber nicht. Du hast dein Floß an einer Ein-Mann-Insel aus Gallert festgemacht. Und du bist glücklich über die Gelegen-
heit, dir Splitter ins Fleisch zu rennen. Das heißt spielen. Ich wollte gerade aufstehen, als Artel, mein Partner, aus dem Haus des Alten Herrn zu mir herüberkam. »Ed«, sagte er, »Mr. McCall möchte mit uns sprechen.« »Gut«, sagte ich, und wir gingen miteinander zurück. Jetzt konnte ich alle die Zelte und Häuser sehen, die in Büros verwandelt worden waren, und Lastwagenspuren und Leute, die auf dem, was früher die Wiesen der Siedlung gewesen waren, hin- und herliefen. Das Ganze verwandelte sich mehr und mehr in einen Morast, aber zumindest gab es genügend Platz zwischen den Häusern und ausreichend Grund, auf dem man Zelte und Fertighäuser aufstellen konnte, statt alles auf engstem Raume zusammenzudrängen, wie es in den Städten der Fall war. Und es stand schlimm in den Städten. Nicht nur wegen der Brände oder anderer Katastrophen, die es gibt, wenn viele auf engem Raum zusammenlebende Menschen krank werden und den Kopf verlieren. Wir waren darüber hinweg, aber in manchen Orten, wo die Straßen von Häusern gesäumt waren und alles von Leben und Treiben hätte wimmeln sollen, überkam einen der Hauch des Todes; aber man konnte nichts Sinnvolles tun. Schon vorher redete man davon, daß zu viele Leute aus der Stadt wegzogen. Vielleicht hatten die schon so ein Gefühl. Jedenfalls, die Anlage, die der Alte Herr hier eingerichtet hatte, lag an der Route 46, und droben in den Hügeln und Bergen gab es Seen und wilde Tiere; dort fühlte man sich wohler. Man hatte besseren Kontakt mit dem, was in der Welt dauerhaft ist.
»Kriegen wir einen Auftrag?« fragte ich Artel. »Ja.« Artel redete nicht sehr viel. Vor etwa einem Jahr hatte uns der Alte Herr zusammengespannt, und das lief sehr gut. Die Klarri sind uns sehr ähnlich. Ihre Arme und Beine sind länger im Verhältnis zu ihrer Körpergröße, und ihre Schultern sind breiter. Sie haben hohe, schmale Schädel, wobei die Gehirnmasse in der hinteren Kopfhälfte sitzt. Waschen sie sich einige Stunden lang nicht, dann bildet sich eine dünne, rostfarbene Ablagerung auf ihrer Haut, so daß sie dann diese bräunliche Farbe annehmen. Hat ein Mensch Zähne wie sie, dann hat er in seiner Jugend an schwerem Vitaminmangel gelitten. Aber es sind anständige Leute. Wenn sie ein Krankenhaus sehen, überkommt sie wohl dasselbe Gefühl, das wir haben würden, wenn unsere Raumschiffe ihre Welt verseucht hätten. Noch etwas haben die Klarri an sich. Ihre Kinder gehen alle vornüber gebeugt, darüber hinaus auch manche Erwachsene – ihre Wirbelsäulen sind so beschaffen. Aber sie haben damit eine Menge Probleme. Es ist wie Appendizitis bei Menschen, und es gibt keinen Klarr, der nicht weiß, daß ihn fast jederzeit ein schweres Rückenleiden befallen kann. Viele von ihnen unterziehen sich deshalb einer Operation der Wirbelsäulenbasis, entweder weil sie schon Krüppel waren, oder um eben diese Gefahr rechtzeitig abzuwenden. Es ist wie bei Menschen. Nur, statt Blinddarmnarben haben die operierten Klarri diese seltsame Art zu gehen und zu stehen – als würden sie jeden Moment nach hinten fallen. Auch Artel war so, doch mußte er auch noch ein Rückenkorsett tragen wegen eines Unfalls im Rettungsboot, bei dem er
Frau und Kinder verloren hatte. Ein derartiges Korsett wirkte noch besser als solche Rückenoperationen. Man sieht, es kann nicht mehr länger Zweifel bestehen. Man tut, was man kann. An Theorie glauben wir schon lange nicht mehr. Man kann zivilisiert sein wie die Klarri und wissen, daß man andere Welten nicht infizieren sollte. Aber dann hat so ein Überlichtgeschwindigkeits-Raumschiff einen Defekt, und man muß aussteigen. Man drängt sich in die Rettungsboote und steigt aus. Hat man großes Glück, dann passiert die Panne in der Nähe eines Sonnensystems, und das Sonnensystem besitzt einen Planeten, auf dem man leben kann. Irgendwie kommt man herunter, und Dekontamination steht dann nicht allzu hoch auf der Prioritätenliste. Das Leben ist hart; es ist hart für Klarri und hart für Menschen. Und jeden Tag muß man leben mit dem, was am Vortag geschehen ist – so ist es für jeden, der Verstand genug hat, und überall in der Schöpfung.
2 Colston McCall war ein hünenhafter Mann – irgendwann einmal mußte er um die zweihundertdreißig Pfund gewogen haben. Er war über einsachtzig groß und bestand, von einem kleinen Bauchansatz abgesehen, nur aus Muskeln und Knochen. Er war etwa fünfzig bis fünfundfünfzig Jahre alt, glaube ich, und wenn es ein Problem zu lösen gab, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und verkündete seine Ansicht mit einer Stimme, die in der Zeit, als er noch irgendeine Firma besaß, seinen Leuten recht unange-
nehm in den Ohren geklungen haben muß. Immer wenn er die Stimme erhob und jemanden rief, dann ließ der alles liegen und stehen, um auf der Stelle zu ihm zu eilen. Wir gingen in sein Büro, und er sah auf und wies auf ein paar metallene Klappstühle. »Setzt euch, Leute.« Das taten wir; Artel hatte wegen seines Rükkens die Lehne vorn und saß wie die Cowboys in alten Western-Filmen. »Wie fühlen Sie sich, Ed?« »Ganz gut.« Einen Augenblick lang sah mich der Alte Herr prüfend an. »Schaffen Sie die dreißig Kilometer zu einem Ort, wo es vielleicht keine Ärzte gibt?« Die einzige andere Antwort darauf wäre gewesen: »Nein, ich lege mich hin und sterbe«, was ich infolgedessen nicht sagte. »Gut. Es gibt eine Stadt weiter unten an der Küste, wo niemand krank ist.« Artel saß plötzlich kerzengerade. »Wie bitte?« Der Alte Herr legte seine Hand flach auf einen kleinen Stoß von Papieren. »Diese Leute haben nie um Medikamente gebeten. Was das zu bedeuten hat, weiß ich auch nicht. Vor etwa zweieinhalb Jahren kamen wir zum erstenmal mit ihnen in Kontakt. Einer unserer Scouts begegnete einer Gruppe von ihnen, als sie Discount-Häuser an der Route 35 ausräumten.« Ich nickte. So war es häufig in diesen Tagen. In den Städten gab es nichts mehr, und Überlebende mußten hinaus, um sich dort zu versorgen. Aber das war nicht ganz leicht. Man verbrauchte, was man noch an Benzin hatte, fuhr weiter und weiter und kam mit
immer weniger beladenen Lastwagen zurück. Schließlich steuerte jeder sein restliches Benzin bei, man lud alle und alles auf die Lastwagen und fuhr nach Norden, denn jedermann glaubte, daß es in der großen Stadt dort anders sein mußte. Der Alte Herr fuhr fort: »Nun, ausnahmsweise zeigte es sich, daß das Leute waren, die durchaus an Ort und Stelle bleiben wollten, wenn wir ihnen versprachen, Lebensmittel zu schicken. Dabei ist es seitdem geblieben.« Wofür wir überaus dankbar sind, dachte ich. »So weit, so gut«, sagte der Alte Herr. »Aber allmählich wird es mir doch etwas zu gut. Sie beklagen sich nicht. Man darf nicht vergessen, daß von ihren ursprünglich vorhandenen Vorräten an Heilmitteln nur noch die Elementarmedizinen übrig sein können. Antibiotika und so weiter sind entweder nicht mehr da oder unbrauchbar geworden. Aber das wißt ihr ja.« Wir wußten es. Das war unser größtes Problem, und es wurde immer schlimmer. Es hatte auch wenig Zweck, Penicillin auf solchen Fermentationsstoffen zu züchten, für die man nur wenig Flora braucht. »Aber diese Leute scheinen das nicht bemerkt zu haben. Nicht einmal über ihre Lebensmittel beklagen sie sich; sie nehmen, was immer man bringt, wollen nie mehr, fragen auch niemals nach etwas anderem. Ich verstehe nicht, warum sich die Leute nicht ständig beschweren über das, was wir liefern. Nehmen es einfach und gehen weg und sagen kein einziges Wort.« »Wie viele Leute?« fragte ich. »Etwas über einhundertachtzig. Ich kürzte ihre Rationen um drei Prozent, nur um zu sehen, was passie-
ren würde. Sie haben überhaupt nicht reagiert. Was die Heilmittel anbetrifft, so ließ ich einen der Fahrer fragen, ob sie einen Arzt wollten, und sie sagten nein. Sie sagten weder, daß sie einen Arzt hätten, noch daß sie alle gesund seien. Sie sagten einfach ›nein‹ und gingen davon.« »Entweder sind sie sehr glücklich oder sehr anspruchslos«, sagte Artel. Der Alte Herr warf ihm einen raschen Blick zu. »Bis zu einem gewissen Punkt bin ich immer bereit, an solche Dinge zu glauben. Aber jetzt möchte ich wissen, ob es da vielleicht etwas gibt, wovon sie niemandem erzählt haben.« Artel nickte. Ich hatte noch eine Frage wegen der Nahrungsmittel. »Was für eine Art Stadt ist das?« wollte ich wissen. »Was für Leute sind das? Sind es vielleicht Fischer oder Bauern?« »Nicht in diesem Landstrich«, sagte der Alte Herr. »Die haben nur irgendwelchen Besitz und bilden eine Gemeinschaft. Alles Freunde und Verwandte, alles Stadtleute. Grundstücksmakler, Geschäftsinhaber, Baumchirurgen – alles, was sie wissen, ist, wie sie einander Autos und Bonbons verkaufen können.« Seine Stimme klang verärgert. Uns alle ärgerte das gleiche: Man hatte gesehen, daß zur Landwirtschaft mehr nötig war, als nur den Boden aufzureißen und Samen darauf zu streuen. Und es ist langwierig und auch nicht leicht zu lernen. Aber selbst wenn man ihnen mit Engelszungen das Gegenteil verkündete, wären die hungrigen Stadtleute lieber gestorben, als das Land zu bebauen. Es sieht sehr gut aus, wenn man mit einer
schwungvollen Handbewegung sagt: »Es werde wieder Licht.« Aber gerade das ist es ja, was einen so wütend macht. Die vier apokalyptischen Reiter sind lahme Enten, die einen beknabbern, bis nichts mehr übrigbleibt. »Nein, ich glaube es nicht«, sagte der Alte Herr und schlug wieder auf seinen Stoß Formulare. »Fahrt einmal hin und untersucht die Sache. Und dann kommt wieder und informiert mich. Und macht mir kein Aufsehen.« »Natürlich«, sagte Artel. »Wir dürfen keine falschen Hoffnungen erwecken.« »Und auch keine echten. Das war eben der Unterschied zwischen einer Führernatur wie ihm und Fußvolk wie Artel und mir. Unser Alter Herr geht die Dinge behutsam an. Vorher, als man alles mit RiesenTamtam machen mußte wegen der Konkurrenz, da war er vielleicht kein Top-Mann gewesen. Aber jetzt war er gut für uns. Du möchtest behutsam vorgehen. Du möchtest die Sache langsam und vorsichtig anpacken, und du mußt wissen, was du schleifen lassen kannst. Man sagt, daß früher Krebs in der einen oder anderen Form fünfundzwanzig Prozent der Bevölkerung befiel. Damals war man ziemlich nahe daran gewesen, Gegenmittel zu finden. Weiter war man inzwischen nicht mehr gekommen, denn wenn man Seuchen hat, die in einem Sommer sechzig bis siebzig Prozent töten, dann kann man etwas wie Krebs durchaus vergessen. Man macht sich nicht einmal darüber Gedanken, ob es ganz und gar die Schuld der Klarri war oder nicht. In eine ganz unbekannte Welt verschlagen, wa-
ren auch sie in einer schrecklichen Situation, und unsere Seuchen setzten den überlebenden Klarri furchtbar zu. Dabei hatten sie noch weniger Biochemiker als wir. Ich meine – was sollte man tun? Man hätte eine Art Vernichtungskrieg beginnen und sie alle an Laternenpfählen aufhängen können. Aber man hatte andere Dinge zu tun, vor allem, als die erste Reaktion einmal vorüber war und die meisten von uns, die daran sterben sollten, schon ziemlich tot waren. Könnte mich jemand mit Hilfe einer Zeitmaschine ins Jahr 1960 zurückversetzen, dann würden mich die Leute von damals wie einen tollwütigen Hund auf der Straße niederknallen; ich trug die Keime von mehr Todesarten in mir, als man früher überhaupt für möglich gehalten hätte. Und wäre da nicht diese selbstherbeigeführte Geschichte, ich würde nach heutigen Maßstäben als gesunder Mann gelten. Über früher sollte man sich also keine Gedanken machen. Man nimmt, was man hat, und arbeitet heute damit.« »Also gut«, sagte der Alte Herr. »Ihr macht euch beide dorthin auf den Weg. Vielleicht erleben wir ein Wunder.« Zu lachen, uns auf die Schulter zu klopfen und Halleluja zu rufen, bestand für uns kein Anlaß. Ich ging zum Krankenhaus hinunter, während Artel auf mich wartete. Ich ging zur Apotheke, die man mit Vorbedacht im hinteren Teil des Zeltes eingerichtet hatte. Wenn man gesund genug war, herzukommen und um Medizin zu bitten, dann mußte man gleichzeitig krank genug sein, um an all diesen Betten vorbeigehen und immer noch nach Medizin verlangen zu können. Ich sah sie alle: Die mit den Wunden und die mit den verkrüppelten Gliedern, die mit den blinden Augen und die mit den Blutungen. Ich hörte
sie und ich roch sie, Menschen und Klarri. Sie waren Überlebende. Die Verlierer waren tot. Die hier waren es, die noch eine Chance hatten, am Leben zu bleiben, wenn sie stark genug waren, nicht Dingen wie Lungenentzündung oder den anderen Mördern der Geschwächten zum Opfer zu fallen. Ich hatte immer noch gewisse, nicht sehr gravierende Lymphknotenbeschwerden. Die Arme schliefen mir ein, und ich konnte nichts fest in die Hand nehmen, ohne daß meine Finger für Stunden taub wurden. Und während man versucht hatte, irgend etwas gegen diese Störung meines lymphatischen Systems zu tun, fand man das andere, was nun schon seit geraumer Zeit in mir lebte. Es macht mir nichts aus. Ich war noch kräftig genug, zwischen diesen Betten hindurchzugehen. Meine Mary war in ihrem eigenen Blut ertrunken. Und ich hatte diesen Jungen von sechs Jahren mit seinem kleinen Fahrrad. Es hatte Vollgummireifen und war nur für ein paar kurze Fahrten ums Haus gedacht. Eine Art erster Schritt vom Dreirad. Ein paar Querstraßen von uns gab es eine Eisdiele, die sonntags offen war, und etwa zehn Tage, bevor es die Rettungsboote der Klarri vom Himmel regnete, waren dieses Kind und ich zu dieser Eisdiele gefahren, ich auf meiner Kaufhausmaschine mit Dreigangschaltung und er auf seinem Knochenschüttler. Sechs Jahre alt war er und trat wie verrückt in die Pedale, ohne zu sehr vom Fleck zu kommen, und ich ermahnte ihn, ein wenig langsamer zu tun, und er grinste über das ganze Gesicht, wenn seine kleine Maschine in die Löcher des Gehsteigs plumpste. Ein liebes Kind.
Der Apotheker nickte, als er mich kommen sah. Er war ein junger Klarr, der gewöhnlich über ein Arzneimittelverzeichnis gebeugt dastand. An der Wand hingen anatomische Zeichnungen von Menschen und Klarri, und ein menschlicher Angestellter heftete die vervielfältigten Blätter irgendeines fachwissenschaftlichen Textes zusammen. Allmählich begann die Sache ordentliche Formen anzunehmen. Schon seit langer Zeit erlaubte der Alte Herr nicht mehr, daß menschliche Patienten und Klarri an verschiedenen Enden des Zeltes behandelt wurden. Wer hier arbeitete, sollte inzwischen mit allen Problemen fertig werden, ganz gleich, wer sie hatte, das war der zugrunde liegende Gedanke. Immer waren so ein, zwei Klarr-Patienten im Krankenhaus. Daß die Zahl der zum Personal gehörigen oder in Ausbildung befindlichen Klarri stets höher war, das bedeutete schon etwas. Jedenfalls zeigte ich dem Apotheker meinen Requisitionsausweis der Sonderabteilung, und er markierte ihn mit einer weiteren Lochung am Rand und gab mir eine Plastikflasche mit fünfundzwanzig Aspirintabletten. Ich sagte danke und ging wieder aus dem Zelt. Es gab einen Versorgungslastzug nach Trenton, der uns bis auf dreißig bis vierzig Kilometer an unser Ziel heranbringen konnte. Artel hatte mit seinem Ausweis zwei Fahrräder aus dem Transportpool geholt und band sie gerade an der Bordwand des Lastwagens fest. Wir stiegen hinten auf und fuhren auf einem Haufen Kisten und Säcken mit. Artel machte sich aus Bohnensäcken ein Kissen und legte sich auf den Bauch. Ich keilte mich in eine Ecke, wo es mich nicht zu sehr herumwerfen würde, und nach einer Weile fuhren wir los.
3 Der Name der Stadt war Ocean Heights. Nachdem uns der Lastwagen abgesetzt hatte, fuhren wir durch eine überaus hübsche Landschaft darauf zu, wobei wir teilweise den Garden State Parkway benützten. Die Räder waren sehr gut. Artels Rad war ein Peugeot, meines ein Raleigh; beide waren sehr leicht und hatten fünfzehn Gänge, Schlauchreifen und Rennhaken an den Pedalen. Sehr bequem waren sie nicht, aber auf glatter Straße recht schnell, und mit den vielen Gängen war die Fahrt bergauf und bergab geradezu ein Vergnügen. Jeder von uns hatte ein Kleinkalibergewehr – dem Alten Herrn wäre es nicht recht gewesen, wenn wir etwas Gefährlicheres mitgenommen hätten – und etwas Proviant, ein paar Werkzeuge und eine Wasserflasche. Wir sahen sehr technisiert aus, und man fühlt sich ganz gut, wenn man anständig ausgerüstet ist. Wir waren also bester Stimmung, als wir auf der glatten Asphaltstraße durch die Fichtenwälder dahinfuhren. Als wir dann auf die Route 35 einbogen, trafen wir natürlich auf regen Kommerz in all seinen Formen – eine Menge Buden am Straßenrand, einen leuchtorange gestrichenen Saloon, Geschäfte für Gartenbedarf oder Außenbordmotoren und große Einkaufszentren. Alles wirkte wie ein Potemkinsches Dorf, schäbig und heruntergekommen. In den Einkaufszentren gab es nur noch Schallplatten, kleine Plastiktöpfe für Gummibäumchen und Spiele von der Wham-O-Manufacturing Company. Der Wind kam vom Meer herein, und das war gut so.
Als wir noch etwa zehn Kilometer bis Ocean Heights hatten, begann es zu dämmern. Das war uns recht. Wir strampelten noch ein paar Kilometer weiter und fuhren dann auf einem Seitenweg in den Wald hinein. Wir fanden eine gute Stelle, wo wir die Räder lassen konnten, und machten uns eine Art Camp. Es tat gut, absteigen zu können. Artel ging recht mühsam und mehr nach hinten gebeugt denn je. Ich verlor kein Wort darüber; daß wir, mit unseren eigenen Augen von vor zehn oder fünfzehn Jahren gesehen, ziemlich ungehobelte Menschen waren, habe ich schon gesagt, glaube ich. Artel seufzte erleichtert, als wir uns endlich setzen und irgendwo anlehnen konnten. Ich wohl auch. Wir saßen nahe beisammen. Artel hatte eine dieser Dynamo-Taschenlampen. Wir hängten uns meine Windjacke über die Köpfe, um das Licht abzuschirmen, studierten die Landkarte und legten uns einen Weg nach Ocean Heights zurecht. In ein paar Stunden konnten wir zu Fuß dort sein. Wir prägten uns die Marschzahl ein und konnten dann die Windjacke wieder beiseite legen, worüber ich nicht unglücklich war. Einer der Gründe dafür, daß Artel und ich als Team zusammenarbeiten konnten, war, daß mir sein Geruch nicht allzuviel ausmachte. (Das sagte ich jedenfalls, in Wirklichkeit mochte ich ihn sogar.) Aber nicht in so reichlicher Dosis. Das ist, als äße man ein Pfund Milchschokolade auf einen Sitz. Wir hatten so etwas schon früher gemacht und wußten, was zu tun war. In ein paar Stunden, wenn es dunkel war und die meisten Leute ans Zubettgehen denken würden, würden wir uns in Bewegung setzen, so daß bei unserer Ankunft alles im Traum-
land sein würde. Wir würden herumgeistern und sehen, was wir finden konnten. Als erstes mußten wir die ganze Lage erkunden und uns für alle Fälle Fluchtwege merken. Das hört sich wie ein Indianerspiel an, aber es ist genau die Technik, die man anwendet, wenn man heutzutage mit unbekannten Leuten zu tun hat. Mitunter kann man nicht einmal von vornherein sagen, ob es Menschen oder Klarri sind; das war auch ursprünglich der Grund, warum bei einem Team der Sonderabteilung mindestens einer von beiden Arten dabei sein mußte. Wir saßen also im Wald und warteten, bis es soweit war. Meistens redeten wir ja nicht viel. Zum einen hatte eine Krankheit Artels Atemwege so sehr in Mitleidenschaft gezogen, daß er beträchtliche Schwierigkeiten hatte, genug Luft zu bekommen. Außerdem ist das Leben zu einfach, als daß es allzu vieler Konversation bedürfte. Andererseits war es da, wo wir uns jetzt befanden, recht einsam, und der Anbruch der Nacht bedrückt mich immer. »Hör mal«, fragte ich Artel, »glaubst du, daß deine Leute dich jemals wiederfinden?« »Ziemlich unwahrscheinlich«, sagte er nach einer Weile. »Da müßten sie schon sehr weit und sehr lange suchen.« Nach kurzer Pause fügte er dann hinzu: »Wenn sie es nicht tun, ist es besser. Für unsere Heimat wären wir jetzt ebenso tödlich, wie wir es für euch waren.« Ich konnte sehen, daß er ein wenig lächelte. »Wir Klarri haben zu viel Umgang mit der Erde gehabt. Jetzt sind wir euch ähnlicher als unseren eigenen Leuten.« Er verschränkte die Arme und legte die Hände auf die Schultern, wie es ihre Gewohnheit ist. »Eigentlich
sehe ich nicht mehr viel Unterschied zwischen euch und uns. Unsere Maschinen sind vielleicht ein klein wenig besser. Aber die meisten von uns verstehen auch nicht viel mehr davon als ihr von den euren. Ab und zu verlieren wir mal ein Raumschiff. Wir finden sie auch nicht öfter wieder als ihr die euren. Wir müssen nur so tun, als sei das nicht so, sonst könnten wir einander keine Tickets mehr verkaufen.« »Reiseagenturen sind wohl überall gleich«, sagte ich. Er zuckte die Achseln. »Die Zivilisation ist mehr oder weniger überall gleich. Du nimmst ein Schiff von einem Stern zum anderen und sagst dir: ›Das hätte mein Vater noch nicht gekonnt.‹ Es ist wahr. Aber eine Welt mit drei Milliarden Bewohnern infizieren, das konnte mein Vater auch nicht. Oder ein interstellares Passagierschiff verlieren. Und nur ein paar tausend von den Fahrgästen retten. Die ganze Zukunft ungelöst vor sich haben.« Er legte sich auf den Rücken, die Hände hinter dem Kopf, blieb eine Weile so liegen und sah nach oben. »Ich bin schon froh, daß ich mir nicht ausdenken muß, wie das alles zu machen ist.« Es klang nicht sonderlich besorgt; nun, unser Problem war es auch nicht. Ich hatte schon Menschen und Klarri davon sprechen hören, was passieren würde, wenn wir wieder Raumschiffe bauten. Raketen würden es nicht mehr sein, so viel stand fest. Vermutlich würden sie den Klarr-Schiffen sehr ähnlich sein. Aber wohin würden sie steuern? Sollten sie nach Planeten suchen, wo Klarri ebenfalls mit Menschen zusammenleben konnten, oder Kontakt mit den Klarr-Welten aufnehmen oder was? Was würde geschehen, wenn wir
Klarri irgendeiner politischen Richtung begegneten, die unsere Klarri nicht mochten? Nun, Narren gibt es wohl überall. Wenn die wirklichen Probleme einmal kamen, dann hatten sie sicher ihr eigenes Gesicht, und eine Lösung würde entsprechend den Verhältnissen der betreffenden Zeit entweder gelingen oder scheitern. »Hast du von dieser neuen Idee gehört?« sagte Artel etwas zögernd. »Irgendein Biochemiker hat da eine Hypothese. Nach zwei oder drei Generationen Gen-Manipulation könnte vielleicht ein biologisch voll funktionsfähiger Zwischentyp zwischen Klarri und Menschen entstehen. Glaubst du, daß da was dran ist?« »Das habe ich auch gehört. Was hältst du davon?« Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen, aber die Vorstellung drehte mir richtig den Magen um. Und auch Artel ging es wohl nicht viel anders. »Es ist eine Idee«, sagte Artel, und ich konnte sehen, daß sie ihm auch nicht besser gefiel als mir. Trotzdem war das etwas, worüber wir beide uns keine Gedanken zu machen brauchten. Und ich hatte Verständnis für das, was er im Sinn hatte. Man versucht, so engen Kontakt herzustellen wie möglich. Wahrscheinlich hatte uns der Alte Herr ursprünglich deshalb zusammengespannt, weil wir beide auf die gleiche Weise einsam waren. Jeder möchte, daß ein Team so gut ist wie möglich. Schon als Selbstzweck gewissermaßen, nicht nur, weil so viele Klarr-Schiffe zufällig in die westliche Hemisphäre geraten waren. Anderenorts hatte es so wenig Klarri gegeben, daß man sie, glaube ich, in der Seuchenzeit alle umgebracht hatte. Manche sprachen davon, daß der Natio-
nalstolz tangiert sei; sie sagten eine Menge derartiger Dinge – vielleicht, um der nächsten Generation irgend etwas an die Hand zu geben, wofür sie in den Krieg ziehen konnte. Gegen ein Gespräch zur rechten Zeit ist nichts einzuwenden. Nachdem wir uns also unterhalten hatten, warteten Artel und ich in unserem Unterschlupf im Wald.
4 Etwa um zehn Uhr erreichten wir die Außenbezirke von Ocean Heights. Die Städte an der Küste von Jersey sind sich alle sehr ähnlich. Stets verläuft die Autostraße in etwa fünf Kilometer Abstand zur Küste, und Stichstraßen führen zum Meer hinunter. Folgt man irgendeiner von ihnen, dann kommt man ganz von selbst auf die Hauptstraße irgendeiner Stadt, die etwa um 1880 ihre Blüte erlebt hatte. Am Wasser entlang liegen Sommerhäuser im Stil der Dampfschiffgotik: Drei, vier Stockwerke hoch, mit Giebeln und Erkerchen und Schieferdächern. Große Veranden, hohle hölzerne Säulen und viel geschliffenes Glas in den Erdgeschoßfenstern. Die Leute denken, daß das ein Kennzeichen feiner Lebensart sei. Meiner Ansicht nach beweist es nur, wie sehr wir der Massenproduktion bedurften. Weiter zum Zentrum hin sind viele Geschäfte. Manche haben terrazzo- oder aluminiumverkleidete Vorderfronten, aber die Gebäude dahinter sind alle schon fünfzig Jahre alt. Dann gibt es in jeder dieser Städte ein paar Bauten aus rotgelbem Klinker, wo
jetzt im Erdgeschoß alles möglich ist; früher waren da A & P oder Woolworth. In den fünfziger Jahren zogen die dann in die Einkaufszentren um. Daneben gibt es ein paar Kinos; eines davon war sicher schon lange geschlossen, als die Katastrophe begann. Es gibt einen Freimaurertempel, Kirchen verschiedener christlicher Richtungen, ein Hotel für alleinreisende Damen und eines für Handelsvertreter. Außerdem gibt es die Plätze von Gebrauchtwagenhändlern, wo eine Menge alter Kisten steht. Ein Eisenbahngleis. Ein paar Fernsehreparaturwerkstätten und ein vierseitiges Wochenblatt, das die Leute dazu auffordert, in ihrer Nachbarschaft einzukaufen. Direkt an der Küste gibt es einige Fischrestaurants, einen Minigolfplatz und ein Gebäude, das wie ein Pferdestall aussieht, im Sommer aber eine Art Volksfest mit Glücksrad und Wurstbuden beherbergt, wobei die meisten Stände selbst in der Hochsaison leer sind. Auf dem großen Parkplatz davor fanden früher auch Hunderennen statt. Überall zerfällt der hölzerne Gehsteig. Da, wo er früher am Strand entlanglief, ragen noch eiserne Schienen aus dem Boden, an denen vereinzelt rostige Blechplatten hängen. Die republikanischen Abgeordneten aus dem Landesinneren waren es, die diese Städte umbrachten, sagen die Leute. Wenn man vom Strand kommt, bemerkt man als erstes das plastikbeschichtete Papier der Pfannkuchenbuden. Es löst sich nicht auf und verschwindet auch nicht im Boden; es wird nur grau. Weiter marschierten wir durch die Außenbezirke. Artel sagte: »Hier war es schlimm.« So sah es aus. Überall waren Schutthaufen, aus denen verkohlte Balken ragten; abgestorbene Bäume
standen dazwischen. Im Rinnstein häufte sich Unrat jeder Art: Dreck, Holzstücke, Dachpappe, Sand und Kies. Die Gullys waren alle verstopft, die Oberfläche der Straßen geborsten. Regen und Frost hatten den Asphalt platzen lassen und den Beton unterminiert. Manche der Straßen waren mit Ziegeln gepflastert; jetzt sah es aus, als seien da ganze Mauern umgestürzt. Erst viel näher am Meer konnte man, wenn man genau hinschaute, einzelne Lichter erkennen und sehen, daß jenseits dieser Trümmer noch jemand lebte. Wir fanden nur eine Straße, die wirklich offen war. Sie hatte tiefe, teilweise mit Schutt aufgefüllte Lastwagenfurchen; an anderen Stellen war der Sand völlig glatt. Der letzte Versorgungskonvoi war vor einigen Wochen gekommen, und es sah aus, als seien unsere Lastwagen das einzige, was hier fuhr. Nachdem wir so die Hauptstraße gefunden hatten, entfernten wir uns davon und arbeiteten uns durch die Seitenstraßen weiter. Wir kamen an kaputten Autos vorbei und an den verwitterten Resten von Barrikaden. Einmal stolperte ich über ein Gewehr mit zerbrochenem Kolben; das Holz war schon körnig von Regenwasser und Sonnenlicht, der Lauf fast nur noch Rost. »Eigentlich hätte man annehmen können, daß sie nützliche Dinge sichergestellt hätten«, sagte Artel. »Es ist doch unbrauchbar.« »Aber man hätte es reparieren können.« »Nein, nicht hier«, sagte ich. Der Boden bestand nur aus Sand, wie ihn der Atlantik in Tausenden von Jahren erzeugt hatte, in denen er sich gegen die Felsen der Küste geworfen hatte. Hier konnte nichts wachsen außer Gebüsch. West-
lich der Verbindungslinie zwischen New York und Camden war man abseits der großen Autostraßen und der Haupteisenbahnlinien. In diesem Teil der Welt konnte man nicht viel tun außer spielen und schlafen. Oder irgend jemandem Tinnef verkaufen. An der Stadtgrenze waren wir an einer Pferderennbahn vorbeigekommen. Hochragende Tribünen, die schmutzig in der Dunkelheit standen. Der Parkplatz war voll von Autos gewesen, und der dumpfe Geruch all dieser nassen Polster hing in der Luft. Soweit waren sie also gekommen – die Leute, die aus der Stadt heraus wollten. Schwitzend und fluchend mußten sie sich von der Polizei zurückweisen lassen und Gott danken, daß es wenigstens irgendeinen Platz gab, wo sie sterben konnten. Weiter stadteinwärts kamen wir am Haus des Frauenklubs vorbei – einem großen Gebäude mit pseudogriechischer Fassade, aus dem die Leute an diesem Ende der Stadt vermutlich ein Notlazarett gemacht hatten. Wir stiegen die Treppe hinauf; drinnen war alles voll Leichen; wir kehrten sofort wieder um. »Hier finden wir keine lebende Seele«, sagte Artel. In zwanzig Jahren würde das Haus des Frauenklubs und das Sandsteingebäude der Kegelbahn am Ende der Straße das einzige sein, was noch aus dem Gestrüpp herausragen würde. Aus den Kanallöchern würden Bäume wachsen. Wir überquerten die Bahnlinie und standen plötzlich starr, als seien wir mitten in der Nacht aus dem Schlaf hochgefahren. Das erste, was ich bemerkte, war der Geruch frischer Farbe. Aber es gab auch noch manches andere, was einen beinahe umwarf.
Dies mußte eines der schönsten Viertel der Stadt gewesen sein. Die Häuser waren aus Ziegeln, zwei oder drei Stockwerke hoch. Alle waren von kleinen Parks umgeben, und die meisten hatten diese Vorderfronten im georgianischen Stil, die auf den gehobenen Status des Besitzers schließen lassen. Bei Tageslicht hätten wir vielleicht Ruß oder Mauerrisse gesehen, aber nicht jetzt. Alle Konturen waren klar und scharf; nirgends gab es ein verzogenes Brett oder ein eingesunkenes Dach. Als wir uns weiter umsahen, entdeckten wir hübsch aussehende, geschickt plazierte Lauben hinter den Häusern. Ihre Vorderfronten waren aus Ziegel und mit Efeu bewachsen. Und so war auch alles andere. Die Hecken waren geschnitten. Der Rasen war weich wie Samt. Das Pflaster der Gehsteige war makellos, und auf dem Gras lag kein Unrat. In zwei oder drei von den Häusern brannte in den Obergeschossen Licht. »Was sagst du dazu?« meinte ich. Acht, zehn Querstraßen lang ging das so weiter. Es hätte nur noch eine Mauer drumherum gebraucht. »Dies liegt weit ab von der Versorgungsstraße«, sagte Artel. »Um das zu sehen, muß man schon tun, was wir getan haben. Hast du die Bäume bemerkt – wie dick sie sind? Ich glaube, sie haben sogar an Flugzeuge gedacht, als sie sich diese Stelle aussuchten.« »Horch«, sagte ich. Aus dem offenen Fenster eines der Häuser kam es durch die milde Nachtluft herüber: »Bella figlia del amore ...« »Was ist das?« sagte Artel. »Oper. Irgend jemand hat hier ein Aufziehgrammophon.«
»Oder einen Generator.« »Aber keinen Bulldozer, um seine Toten damit zu begraben.« Über die Schulter sah Artel zurück, hinüber auf die andere Seite der Eisenbahnlinie. »Das ist ja wirklich was anderes.« Bei leiser Musik gingen wir weiter. Sonst hörten wir kein Geräusch. Keine Nachtvögel, keine verliebten Katzen, keine Hunde. Keinen Schritt eines Menschen, der durch einen Garten schlich. In dieser Stadt gab es keine Teenager, die einander besuchten. All diese Leute waren in ihrer sauberen, kleinen Stadt in der Stadt eingesperrt, und die meisten von ihnen schliefen den Schlaf des Gerechten. Des Gerechten – und des Gesunden. Wir kamen dem Ozean näher. Jetzt waren wir nur noch eine Querstraße davon entfernt. Regelmäßig und sanft rollten die Wogen ans Ufer und erzeugten jetzt, da wir außer Hörweite des Grammophons waren, das einzig vernehmbare Geräusch. Ich blickte über die Schulter zurück und sah nur die Lichter in den oberen Stockwerken, von denen einige inzwischen gelöscht worden waren. Solide Bürger, die sich zur Ruhe legten. Die Lichter sahen aus wie Kerzen oder Petroleumlampen. Vielleicht waren es schwache Glühbirnen. Diese Stadt stellte mehr Fragen, als wir beantworten konnten. Am Strand stießen wir wieder auf etwas Schmutzig-Verfallenes – ein Motel mit zerbrochenen Fenstern. Auf dem Spielplatz davor wucherte Gestrüpp zwischen den Schaukeln. Eine hölzerne Treppe führte windschief die Ufermauer hinunter. Fuhr man mit einem Boot hier vorbei, dann ahnte man nicht, was für
ein hübscher Fleck mit Blumenbeeten und sauberen Straßen sich unweit von hier verbarg. Etwas landeinwärts hinter dem Spielplatz stand ein großes, dunkles, viereckiges Gebäude. Es war zwei Stockwerke hoch, und die hohen, sehr schmalen Fenster des Erdgeschosses befanden sich weit über Kopfhöhe. Wäre jetzt Krieg gewesen, und hätte das Gebäude an einer wichtigen Kreuzung gestanden, dann hätte ich es für einen Bunker gehalten. Eine Freitreppe führte zu einer in dickes, solides Mauerwerk eingelassenen Doppeltür. Von innen hätte ich es mit einem Maschinengewehr verteidigen können. Eine Kette mit einem Vorhängeschloß ging durch die Handgriffe der Türen. »Im Zweiten Weltkrieg war in Ocean Heights ein Spielkasino«, sagte Artel. Er hatte die Akte des Alten Herrn über die Stadt durchgesehen. »1947 wurde es auf staatliche Anordnung geschlossen.« »Wir haben's gefunden.« Eine am Rand hübsch geschnitzte, früher einmal weiße Holztafel zeigte an, daß ein Architekt und ein Grundstücksmakler sich hier niedergelassen hatten, als das Haus freigeworden war. Jetzt hörte man keinen Laut, sah kein Licht. Aber ich bemerkte etwas, und es machte mich stutzig. Ich holte durch die Nase tief Atem. »Es ist nicht leer«, sagte ich. »Scheint mir auch«, sagte Artel. »Ich habe auch so ein Gefühl. Aber ich kann nicht sagen, warum.« Im schwachen Schein der Sterne konnte ich sehen, wie er rasch den Kopf schüttelte. »Merkwürdig. Wie geschaffen für ein Versteck. Da drinnen könnten sie praktisch alles tun.« »Sehen wir uns noch ein wenig um«, sagte ich.
»Wie du meinst«, sagte Artel zögernd. Drunten an der Küste fanden wir noch etwas. Es war etwas Riesiges; das meiste davon war unter Wasser, und die Wellen phosphoreszierten schwach an der uns zugekehrten Seite. Es erstreckte sich hinaus in die Dunkelheit, und der gekurvte Umriß sah aus, als sei dies der gewaltigste Wal in der Welt. Eine lange Strebe ragte in flachem Winkel aus dem Wasser heraus, und auf ihrem Ende erkannte ich den abgeknickten Fuß eines Landegestells. Es war ein abgestürztes Rettungsboot der Klarri. »Was wohl mit den Leuten aus dem Boot passiert ist?« fragte Artel. »Die sind in dem Gebäude da hinten. Sperrten sich ein und ließen sich nicht mehr blicken«, sagte ich. Ich hatte ihren Geruch wahrgenommen, der schwach durch die Doppeltüren und Gott weiß wie viele andere Barrieren drinnen gedrungen war. »Was willst du mit ihnen anfangen?« Das war seine Sache. Es waren seine Leute. Wenn er jetzt dort eindringen und sie herausholen wollte, dann hatte ich keine andere Möglichkeit, als ihm zu helfen. Vielleicht würden wir heil davonkommen; ich war nicht sehr scharf darauf, aber er mußte entscheiden. »Was du für richtig hältst.« »Laß doch, Ed. Wir wissen einfach nicht genug über die Lage hier, und was wir suchen sollten, haben wir nicht gefunden.« Artel klang etwas verärgert. Verdenken konnte ich es ihm kaum, denn ich hatte mehr oder weniger gesagt, daß er kein Team-Mann sei. Meine Taktlosigkeit tat mir leid. »Komm – gehen wir zum Lager zurück. Wir hatten einen Plan, und den wollen wir ausführen.« Artel verschwand in der
Dunkelheit. Ich folgte ihm. An diesem Abend sagte keiner von uns mehr ein Wort. Wir gingen zu unserem Lager zurück und legten uns schlafen. Ein Team, das ist ein bißchen wie eine Ehe. Ganz gleich, was andere sagen – manchmal ist es besser, eine Sache auf sich beruhen zu lassen. Eine Zeitlang fühlt man sich wie auf Kohlen, aber am nächsten Morgen wird vielleicht der eine von beiden irgend etwas Freundliches sagen. Und dann wird der andere erleichtert sein, und die Geschichte ist damit vorüber.
5 Am Morgen fuhren wir geradewegs in die Stadt hinein. Lange herumzuschleichen hatte keinen Zweck. Wenn wir Telefonabhörgeräte, Schnüffelmikrofone und Wahrheitsserum gehabt hätten, hätten wir es vielleicht anders gemacht. Aber dieses Zeug ist in unseren Tagen nichts wert, dazu ist das Leben in dieser Zeit zu einfach. Wir würden ihnen nur Fragen stellen und sehen, was sie zusammenlügen würden. Wir radelten die Hauptstraße entlang, dann durch das ausgestorbene Geschäftsviertel der Stadt und bogen dann ein paar Querstraßen vom Meer entfernt nach rechts auf eine Betonstraße ein. Bald würden wir Anzeichen von Leben begegnen, vermutete ich. Was wir als erstes hörten, war das »plop« eines Baseballschlägers. Es schien irgendwoher von rechts zu kommen, dort, wo ein paar Straßen weiter die schönen Häuser waren. Sehen konnten wir nichts, doch hörten wir Kinder schreien; es hörte sich an wie
der Lärm auf einem Schulhof während der Pause. Wir fuhren weiter an verlassenen Häusern vorbei, bis wir plötzlich ein Kind schreien hörten: »Daddy! Daddy! Daddy!« Schnelle, kleine Füße rannten über eine Veranda, daß es von der anderen Straßenseite zurückhallte, und dann schlug eine Tür zu. Endlich hatte man uns entdeckt. Wir stiegen ab und schoben unsere Räder auf der Mitte der Straße weiter. Etwa einhundert Meter vor uns hing eine Verkehrsampel über einer Kreuzung. Ein paar Tankstellen waren da vorne zu sehen und die Einfahrt zu einem Drive-In-Eisstand. Das ganze war eine Art offener Platz, wo die Leute vielleicht zusammenkamen, wenn man die Proviantlastwagen ablud. Zwischen uns und der Stelle waren einige Häuser, die möglicherweise bewohnt waren. Ihre Fenster waren noch ganz, und an einzelnen Stellen sah man farblosen Kitt in den Rahmen. Sehr schön sahen die Häuser zwar nicht aus, aber bewohnbar. In einer anderen Stadt, die kein so hübsches Wohnviertel hatte wie das, welches wir in der Nacht zuvor in geringer Entfernung von hier gesehen hatten, wären diese Häuser sicher kaum aufgefallen. Wieder schlug eine Tür zu, und dieses Mal merkten wir auch, aus welcher Richtung es kam: Es war ein paar Häuser weiter rechts von uns. Das dreistöckige Gebäude war grün gestrichen, und wir konnten Gesichter hinter den Fenstern erkennen, aber das Glas war schmutzig, und man vermochte nicht viel zu unterscheiden. Ein Mann trat auf die Veranda heraus und kam dann die Vordertreppe herunter. Er blieb stehen, als wir uns näherten. Der bebrillte, ältlich aussehende Mann war groß
und hager. Er trug ein kariertes Hemd und Anzughosen und hatte eine Pfeife in der Hand. In seiner sackartig herunterhängenden Hose sah er ärmlich und doch zufrieden aus. Er winkte uns wie ein freundlicher Nachbar zu und ging dann um die Ecke des Hauses. Plötzlich schlug hämmernd Metall auf Metall – es war ein wilder, weithin hörbarer Lärm – und alle anderen Geräusche, die vorher zu hören gewesen waren, verstummten. Nur noch das gleichmäßige Rauschen des Ozeans war zu vernehmen. Als wir beim Haus anlangten, kam der Mann wieder um die Ecke. Er hatte graues Haar mit fast bis zum Hinterkopf reichenden Geheimratsecken und erinnerte mich an irgendeinen Pensionisten, der im Sommer herüberkommt und einem für ein paar Dollar hilft, die Rosen zu schneiden. »Hallo!« sagte er. »Ich hörte Sie gar nicht kommen.« Mit prüfendem Blick sah er Artel an. Mir kam es vor, als könnte er sich nicht entscheiden, ob Artel vielleicht ein Klarr war oder nicht. »Hallo«, sagte ich. »Mein Name ist Ed Dorsey. Das ist mein Partner, Loovan Artel. Artel ist sein Vorname. Was war das denn eben für ein Lärm?« Der Mann trat zu uns und streckte uns die Hand hin. »Mein Name ist Walter Sherman. Ich hab einen von diesen eisernen Feueralarmringen neben dem Haus. Wenn es Besuch gibt, laß ich's die andern wissen. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Er schüttelte mir die Hand und sah dann Artel noch einmal argwöhnisch an, ganz kurz. Dann schüttelte er auch Artels Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Ganz meinerseits«, sagte Artel und grinste ein bißchen.
Sherman zuckte ein wenig zusammen. Er war bemüht, sich richtig zu verhalten. Und es gelang ihm ganz gut, dachte ich, angesichts der Tatsache, daß er noch nie zuvor einen Klarr in Menschenkleidung gesehen hatte, der auf einem Fahrrad fuhr. Sherman sah gar nicht übel aus. Zwar wurde er bereits alt, aber in seinen Augen war ein lebendiges Funkeln, und sein Gesicht hatte noch Farbe. Sein Haar war nicht stumpf und tot, und das Weiß in seinen Augen war klar. Er wirkte nicht wie ein Mann, der sich nur noch hinsetzen möchte und warten, bis er alt wird. Ein Gentleman, hätte man meinen können, wie man ihnen nicht mehr sehr häufig begegnet. Ich sah mich rasch um. Jetzt zeigten sich noch andere Leute. Ein paar von ihnen kamen aus umliegenden Häusern, die meisten aber versammelten sich auf der Kreuzung unter der Verkehrsampel. Sie kamen aus Seitenstraßen und von dort drüben, wo die schönen Häuser waren. Wenn man sie so kommen sah wie, sagen wir, ein Lastwagenfahrer, der Proviant bringt, dann hätte man glauben können, daß sie alle aus den Häusern dort drüben kamen. »Wir sind aus Philadelphia«, sagte ich zu Sherman. »Erkundungsteam.« Artel und ich zogen Karten aus unseren Brusttaschen und zeigten sie ihm. Sie waren mit »F. X. Daley, Bevollmächtigter der Vereinigten Staaten für den Bezirk Philadelphia« unterzeichnet. »Wir fangen eben an, diesen Teil des Landes zu überprüfen«, sagte ich, als Sherman die Karten in Augenschein nahm. Die Pfeife in seinem Mund war kalt und leer – wahrscheinlich schon seit Jahren. »Wir möchten nur ein wenig über diese Gemeinde in Er-
fahrung bringen – wie viele Leute, welche Art sozialer Organisation ... Dinge in dieser Art.« »Für Ihre Mitarbeit wären wir Ihnen dankbar«, sagte Artel. »Oder wenn Sie uns gleich den Weg zu Ihrem Bürgermeister oder sonstigen Oberhaupt zeigen wollen, dann verschwinden wir auf der Stelle wieder und halten Sie nicht mehr länger auf.« »O nein, das macht gar nichts«, sagte Sherman und gab uns die Karten zurück. »Ein paar Leute von unserem Stadtrat werden sicher in wenigen Minuten hier sein. Freut mich, wenn ich Ihnen helfen kann.« Unsere Gegenwart war ihm unangenehm, daran gab es gar keinen Zweifel. Während er redete, dachte er angestrengt über irgend etwas anderes nach. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob diese Leute vielleicht wußten, daß es in Philadelphia nichts, aber auch gar nichts gab – aber das war nicht wahrscheinlich. Es gibt nichts, dessen man weniger sicher sein könnte als das Nichts. »Also, kommen Sie rein und ...« Mit seiner Pfeife machte er eine Bewegung zu den Stufen seiner Veranda. »Äh, wollen Sie sich nicht setzen?« Er warf einen Blick auf die Rennsättel unserer Räder. »Wenn Sie auf etwas Ebenem zu sitzen kommen, müßte Ihnen das doch ganz guttun.« Er lachte leise. Er war wirklich bemüht, umgänglich zu erscheinen. Aber daß wir ohne die Vorankündigung durch einen dröhnenden Lastwagenmotor in die Stadt gekommen waren und nicht beide der menschlichen Rasse angehörten, machte ihm sehr zu schaffen. Wir ließen uns auf den Stufen der Treppe nieder. Die Räder lehnten wir auf die Kickständer, die Ge-
wehre an die Gepäckträger geschnallt wie jedes xbeliebige Erkundungsteam. »Sie ... äh ... sind wohl ziemlich müde«, sagte Sherman. »Sind Sie den ganzen Weg von Philadelphia bis hierher auf diesen Rädern gefahren?« Ich nickte. »In kleineren Etappen, ja«, sagte ich. »Wir müssen uns alles mögliche anschauen.« Er sah viel gesünder aus als wir beide, soviel stand fest. »Es sind die Leute, die keine reguläre Arbeit tun können«, sagte Artel, »die man für solche Erkundungen erübrigen kann, das sollten wir vielleicht zur Erklärung sagen.« Wie ich beobachtete er die Leute, die jetzt auf uns zukamen. Sie gingen schnell. Nicht daß sie rannten – sie gingen nur rasch. Da waren jüngere und ältere und ein paar Kinder – eine gut gemischte Menschenmenge, wie sie zum Bahnhof geht, um den Blitzzug vorbeirasen zu sehen. Gesunde, handfeste Leute. Auch wenn sie nicht rannten, bewegten sie sich doch schneller, als ich es bei irgendwelchen anderen Leuten seit Jahren gesehen hatte. Sie sahen gut aus, sauber, lebhaft. Sie sahen aus, wie Leute aussehen sollten, wenn sich irgend etwas Aufregendes ereignet. Als die Vordersten bemerkten, was Artel war, wurden sie langsamer, und ihre Mienen verfinsterten sich. Ein sommersprossiger Mann mit Fältchen in den Augenwinkeln zwängte sich zwischen ihnen hindurch, als sie sich auf der Wiese vor Shermans Haus zusammendrängten. »Hallo, Walt!« sagte er, während er zu uns herüberkam. »Sie haben Besuch, wie ich sehe.« »Ein paar Regierungsbeamte aus Philadelphia«, sagte Sherman.
»So, aus Philadelphia?« sagte er. Wir standen auf und schüttelten ihm die Hand. »Mein Name ist Luther Koning. Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Luther ist so etwas wie unser Bürgermeister«, erklärte Sherman. Was immer er war, er war der Mann, den wir brauchten. Er war etwa fünfzig, lang und drahtig. Außerhalb jenes großen, toten, stillen Gebäudes hinter dem verlassenen Spielplatz einem Klarr zu begegnen, schien ihn nicht sehr zu beeindrucken. Koning schaltete schnell, das sah man; nun hatte er sofort den Stier bei den Hörnern gepackt. »Ganz meinerseits«, entgegnete ich. Ich sagte ihm meinen Namen und fügte hinzu: »Das ist Artel, mein Partner.« »Mhm«, sagte Koning. »Das sieht man«, fügte er mit einem Blick auf die Fahrräder und die beiden Gewehre in freundlichem Ton hinzu. »Immerhin stecken ja da zwei gleich intelligente Rassen im selben Schlamassel. Bekämpfen sie sich, dann besteht keine Hoffnung. Also arbeiten sie zusammen. Das ist nur vernünftig.« Er sah erst mich an, dann Artel. »Sie sehen müde aus – alle beide. Die Lage ist also noch nicht sehr gut in der großen Stadt, wie?« »Die Lage ist nirgends sehr gut, Mr. Koning«, sagte Artel. »Aber wir bemühen uns, sie zu verbessern. Deswegen sind wir hier.« »Wozu sind Sie hier?« Koning lächelte wieder. »Da stehen wir hier und reden, obwohl Sie doch sicher irgend etwas Dringendes zu erledigen haben.« »Sie haben Ausweise, ausgestellt in Philadelphia«, sagte Walter Sherman. Er hatte sich jetzt etwas gefaßt, und seine Stimme klang ruhiger. »Ich hab ganz schön
gestaunt, als sie auf ihren Rädern daherkamen.« Er lachte ein wenig: »Sind ja richtig tolle Maschinen. Gute Idee. Spart 'ne Menge Benzin.« Worauf er hinauswollte, war wohl, daß wir anders waren als die Leute, die mit Lastwagen kamen, und daß wir von irgendwelchen anderen Organisationen vielleicht überhaupt nichts wußten. »Wir wollen nur feststellen, ob Sie hier irgend etwas benötigen«, sagte ich zu Koning. Ich beobachtete die anderen Leute. Es waren etwa dreißig oder vierzig. Wenn man nur einen Hut fallen zu lassen braucht, und es kommen sofort zwanzig Prozent der Einwohner zusammen, dann hat man es mit einer leicht erregbaren Bevölkerung zu tun, dachte ich mir. Aber sie wirkten nicht unruhig wie ein Haufen von Nervenkranken. Diese Leute waren nicht auf der Suche nach irgend etwas Aufregendem. Kranke brauchen Aufregung, weil es ihnen hilft, ihr Elend zu vergessen. Begegnen sie etwas Aufregendem, dann verlieren sie ihre Würde; es ist wie eine Droge, die sie unbedingt brauchen, und wenn man sie ihnen vor die Nase hält, dann können sie nicht verbergen, wie sehr sie ihrer bedürfen. Diese Leute waren nicht so. Sie hatten es nicht nötig, sich zusammenzurotten. Aber sie waren sehr, sehr interessiert. Wie Mitglieder eines Klubs, die zum Vortrag eines bekannten Wissenschaftlers oder Politikers kommen. Es war kein Klarr unter ihnen. Auch wenn ich nichts von jenem Gebäude hinter dem Spielplatz gewußt hätte, wäre mir das aufgefallen. Es gelang mir nicht, mir ein klares Bild zu machen. Da waren Männer aller Altersstufen und Hausfrauen in bedruckten Baumwollkleidern; einige von ihnen
waren wohl gerade beim Abspülen gewesen und hatten noch nasse Schürzen um. Junge Männer in TShirts waren darunter, die aussahen, als hätten sie gerade irgendwo im Garten gearbeitet, und ältere Männer, die wie Sherman und Koning aussahen – als hätten sie ein nützliches, fröhliches Leben gelebt und könnten noch vieles Nützliche tun. Beim Anblick dieser Leute hatte man das Gefühl, das Leben sei ständig schön und angenehm. Solche Leute gab es in der ganzen Welt nicht mehr. Ich wußte nicht recht, was ich von ihnen halten sollte. Im Hintergrund begannen ein paar von den Kindern, Ball zu spielen. Andere liefen jetzt hin und her. Unsere Konversation auf der Veranda interessierte sie vermutlich nicht sehr, und so machten sie sich daran, die Neuigkeit zu verbreiten. Manche von ihnen waren bereits mehrere Male zwischen Shermans Haus und der Kreuzung hin- und hergelaufen. Jetzt rief eines von ihnen: »Da kommt Tully!« Koning fuhr herum, als hätte ihn ein Schuß getroffen, faßte sich aber sofort. »He! Beruhigt euch doch, wir haben hier was zu besprechen«, sagte er. Aber aus den Augenwinkeln sah er zu einem Mann hinüber, der jetzt auf dem Gehsteig heranschlenderte. Also taten Artel und ich dasselbe.
6 Tully sah aus wie einer von jenen Männern, die auf einer Bank am Ufer sitzen und auf das Wasser hinausstarren. Niemand kann etwas für sie tun, niemand
kann ihnen etwas antun. Sie haben die Aufregungen des Lebens schon hinter sich. Er hatte es aufgegeben, aussehen zu wollen, als hätte Gott niemals Bäuche geschaffen, und trug eine weite, bequeme Hose aus leichtem Stoff. Er hatte gummibesohlte Stoffschuhe an und helle Socken, die beim Gehen unter den Hosenbeinen sichtbar wurden. Unter den breiten Hosenträgern trug er ein helles, kurzärmeliges Hemd. Seine Arme waren dünn und knotig und noch dunkler gebräunt als Konings Gesicht unter seinen Sommersprossen. Er trug ein Stirnband mit einem durchsichtigen grünen Augenschirm. Sein kahler Schädel war glatt und glänzend; nur über den abstehenden Ohren hatte er weißes Haar. Mit breitem Lächeln schlenderte er dahin, als hätte er alle Zeit der Welt. Er stand im Brennpunkt des Interesses, das wußte er, und der Rest der Schau würde auf ihn warten. Weder Koning noch Sherman sagten ein Wort. Manche Leute glauben, wenn sie aufhören zu reden, dann bleibt auch die Zeit stehen. Lächelnd ging Tully auf die Menge zu, und die Menge wich vor ihm zurück. Der Vorgang wirkte nicht übermäßig bedeutungsträchtig; es war nicht, als teile sich das Rote Meer vor einem Moses in zwei ebenmäßige, schimmernde Wälle. Sie hielten sich nur in einer ganz selbstverständlichen Manier auf Distanz, als wüßte in dieser Stadt jedermann seit Kindesbeinen, daß man Tully nicht zu nahe kam. Tully blieb lächelnd vor uns stehen und wandte sein kleines, rundes Gesicht mit dem runden Kinn zur Veranda herauf. Er sah Artel an und schaute dann an Koning und mir vorbei zu Sherman. Als er sprach, war seine Stimme hoch wie das Gegacker ei-
nes Huhns mit dem größten Ei im ganzen Hühnerhof. »Ah, Doc. Einer von diesen Hammerköpfen ist bei Ihnen zu Besuch, wie ich höre.« Er musterte Artel von oben bis unten. »Wenn man bedenkt, wie winzig die heutzutage sind, schaut er ganz eindrucksvoll aus.« Jetzt sah er mich an. Seine Augen unter dem Schirm waren klein, schwarz und listig. »Sein Partner macht auch nichts besonderes her, was?« Er stand da, die kleinen Eichhörnchenpfoten in den Hosenbund eingehängt, und als er zu lachen begann, begannen erst seine Wangen zu zittern, dann die lockere Haut an seinem Hals, dann sein Bauch unter dem Hemd; dann begann er auf den Fußballen zu vibrieren. Aber zu hören war nichts. Er schlotterte fast vor Lachen, während seine Augen von Sherman zu Artel, zu mir und zu Koning gingen. Dann wandte er sich langsam um, und seinem Blick entging niemand von den Leuten um ihn herum. Und schon ging er wieder, entfernte sich über denselben Gehsteig, den er gekommen war, die Hände noch in den Hosenbund eingehängt, die Hosenträger straff über den krummen Schultern. Der Augenschirm ließ einen Reflex des Sonnenlichtes herüberblitzen. »Na«, sagte Artel amüsiert und ganz beiläufig, »so hat wohl jede Stadt ihr Original.« Koning fuhr sich mit der Hand über den Nacken, wo die Haut von der Sonne ganz körnig war. Sein Mund war offen; ich konnte seine unteren Zähne sehen. Sie waren feucht und braun; das Zahnfleisch war etwas geschrumpft. Sein Atem ging regelmäßig und mit einem dünnen Pfeifen. Er nahm seinen khakifarbenen Regenhut ab und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Dann setzte er den Hut wieder auf – alles,
ohne den Blick von Tully zu wenden. Die Leute starrten uns erwartungsvoll an. Viele hielten, glaube ich, den Atem an. »Ich wußte nicht, daß Sie Arzt sind«, sagte ich zu Sherman, wie wenn dies interessant, aber nicht wichtig sei. »Das sollten wir festhalten, Artel«, fuhr ich fort. »Eine gute Nachricht. Es bedeutet, daß wir unsererseits keinen zu schicken brauchen.« Artel nickte und holte einen Stoß vervielfältigter Formblätter aus seiner Tasche. Er nahm einen Bleistift, befeuchtete mit der Zunge die Spitze und machte ein Kreuz in ein Kästchen. »Arzt vorhanden, ja«, murmelte er gelangweilt. »Meinen Glückwunsch übrigens, Doktor«, sagte ich zu Sherman. »Sie müssen ausgezeichnete Arbeit leisten. Diese Leute sehen sehr gesund aus.« Sherman sagte schnell: »Augenblick mal – das ist wohl ein Mißverständnis. Ich bin kein Arzt. Wir haben überhaupt keinen Doktor. Der verrückte alte Kerl nennt einfach jeden so.« »Einsperren müßte ich ... nein, verdammt, ich ... kann nicht ...« Koning sprach nicht zu mir, sondern zu Sherman. Was auch immer der Grund war, sie wirkten sehr betroffen und mitgenommen. Ich konnte mir vorstellen, wie sie um den Küchentisch herum gesessen sein mußten und sich gegenseitig damit nervten, was zu tun sei, wenn Schnüffler kamen. »Hören Sie, Luther – was werden wir machen, wenn jemand kommt und Fragen stellt?« »Das kriegen wir schon, Walt. Immerhin ist das unsere Stadt, und wir leben hier. Das Wichtige ist ja nicht zu sehen; wie sollten sie also wissen, was für Fragen sie stellen müssen? Da machen Sie sich mal keine Gedanken, Walt. Lassen Sie mich nur reden, und ich werde schon da-
für sorgen, daß sie nur das erfahren, was wir sie wissen lassen möchten.« So und nicht anders mußte es gewesen sein; genauso besprechen sich smarte, anständige Männer seit jeher, wenn es ein Geheimnis zu wahren gibt. Und früher, als die Lage noch besser war, ging das auch. Sie sahen einander an wie zwei an den Enden eines Seiles festgebundene Männer, dessen Mitte an einer Felsnase fünftausend Meter über dem Abgrund hängt. »Oh. Tut mir leid, Mr. Sherman«, sagte ich. »Du mußt wohl ein neues Formular nehmen, Artel.« »Ja. Zuvor noch eine Frage, Mr. Sherman. Gibt es sehr viele alte Leute unter der Bevölkerung hier? Haben Sie Bedarf an speziellen Dingen wie Beruhigungsmitteln und so weiter?« »Nein, ich glaube nicht«, sagte Sherman störrisch. »Und Tully ist ganz harmlos, solange man ihn nicht beachtet.« »Wir haben hier mächtig Glück gehabt«, sagte Koning. Allmählich hatte er sich wieder gefaßt. Er sprach ziemlich rasch, und seine Augenwinkel waren jetzt nicht mehr verkniffen. »Wir sind hier alle völlig gesund. Natürlich, zwischendurch haut sich mal einer mit dem Hammer auf den Daumen. Aber mit so etwas werden wir fertig. Wir leben ganz ruhig und ordentlich. Alles sehr gut. Wenn ich an früher denke, muß ich sagen, daß wir jetzt besser leben. War ja schrecklich, als diese Stadt noch fünfundzwanzigtausend Einwohner hatte, von denen die meisten noch nicht ans Sterben dachten. Aber jetzt, wo wir das Schlimmste überstanden haben, ist alles sehr gut. Für die, die noch leben. Nichts für ungut, aber vielleicht
geht es uns hier besser als Ihnen dort draußen.« Unverwandt sah er Sherman an. Jetzt schien er zu einem Entschluß gekommen zu sein. Er wirkte nervös und hatte nicht mehr Vertrauen in seine eigenen Improvisationen als irgendein anderer. Aber er würde die Sache durchstehen, was immer es war. Er wartete jetzt nicht mehr länger auf Stichworte von Artel und mir. Man sah es ihm an, hörte es in seiner Stimme. »Meine Herrn«, sagte er, trat einen Schritt zurück und lächelte. »Ich wurde ganz unversehens hierhergeholt, aber da wären noch ein paar kleine Dinge, die ich zu Ende bringen müßte, wenn es Ihnen beiden recht ist. Ich meine, hier handelt es sich ja nicht um etwas überaus Dringendes. Wenn Sie mich also für eine halbe Stunde entschuldigen könnten; ich würde dann wiederkommen und Ihnen für den Rest des Tages zur Verfügung stehen. Sicher wird Ihnen Mr. Sherman inzwischen Gesellschaft leisten und Ihnen vielleicht einiges Allgemeine sagen. Genaueres können Sie dann gerne von mir erfahren. Wäre Ihnen das recht?« Er grinste Sherman an, doch seine Augen lächelten nicht. »Warum bitten Sie sie nicht hinein, Walt? Millie könnte ihnen doch eine kleine Erfrischung anbieten.« »Nun, ich weiß nicht ...« Sherman sah Koning an, als hätte er sich ebenso seltsam benommen wie Tully. »Ich meine, es ist nicht aufgeräumt ...« Es war traurig, mit anzusehen, wie sich ein Mann vor meinen Augen in eine nervöse Hausfrau verwandelte. »Aber nein, gehen Sie nur mit ihnen rein«, sagte Koning. »Wegen der Ordnung ...« Er grinste wieder. »Nur die Ruhe, Walt! Sie sind nur keinen Besuch gewohnt«, fügte er mit leisem Lachen hinzu.
Sherman nickte langsam. »Schon gut«, sagte er, »vielleicht haben Sie recht.« Über sein Gesicht ging ein Zittern; ich glaube, er versuchte zurückzulächeln und erkannte dann gleich, daß er es nicht fertigbringen würde. Ich wagte nicht, Artel anzusehen, aus Angst, daß wir uns auf die gleiche Weise verraten könnten. Durch die Leute ging jetzt wieder eine Bewegung. Daß Koning irgend etwas zu unternehmen gedachte, schien ihre Angst vor Tully wieder zu lösen. Die Kinder hatten sich natürlich kaum eine Minute stillgehalten. Einige spielten Fangen, ein paar andere trotteten Tully hinterher – ich weiß nicht, ob sie ihm folgten oder nur zufällig dieselbe Richtung gingen. Mir fiel ein, daß niemand eine spöttische Reaktion gegenüber Tully gezeigt hatte, nicht einmal die Kinder. Es war eine nette Stadt; die Bevölkerung war hier höflich zu ihren Kranken. »Sicher keine schlechte Idee«, sagte ich. »Und einen kühlen Schluck könnte ich wirklich gebrauchten, Mr. Sherman. Du, Artel?« Artel nickte. »Doch.« »O ja, natürlich«, sagte Sherman. »Gar kein Problem. Wir haben eine gute Quelle dort drüben, wo die Raketenstellung war. Eine tiefe, von der Regierung gebohrte Quelle. Auch in dieser Hinsicht hatten wir Glück. Jede Menge ausgezeichnetes Wasser.« »Wunderbar!« sagte ich. Ich hörte, wie Koning einen leisen Seufzer ausstieß. »Also gut! Der Doc hier kümmert sich um Sie beide, bis ich zurück bin. So kommen wir schon zurecht.« Koning drehte sich um und ging die Treppe hinunter.
»Bis gleich!« Ich winkte ihm fröhlich nach. Artel auch. »Nun«, sagte Sherman. »Gehen wir ..., gehen wir hinein.« Das taten wir.
7 Eine junge blonde Frau, Mitte Zwanzig, stand wartend in der Diele. Sie hatte ein Baby im Arm, das in frische, saubere Windeln gewickelt war. Ein paar andere Kinder drängten sich um sie: Ein kleines Mädchen, das vielleicht ein Jahr älter war als das Baby, und ein Junge in T-Shirt und Kordhosen, der noch nicht ganz im Schulalter war. Seine kleinen ledernen Schuhe hatte er an den Kappen aufgewetzt, seit seine Mutter sie an diesem Morgen mit Creme geputzt hatte. Das Mädchen umfaßte mit den Armen die Knie ihrer Mutter und versteckte ihr Gesicht in den Falten ihres Rockes. Sherman sagte: »Das ist meine Frau Millie. Und meine Kinder. Das ist Lavonne, das Walter, und das Baby heißt Lucille. Millie, das ist Mister ...« Er sah mich fragend an. »Dorsey. Sehr angenehm. Das ist mein Partner ...« »Loovan Artel. Loovan ist sein Familienname«, sagte Sherman. Millie Sherman nickte und sah Artel an. Ihre Augen waren sehr groß, und ihre Mundwinkel zuckten. Schließlich sagte sie: »Oh.« »Alles in Ordnung, Millie«, sagte Sherman besänftigend. »Wenn wir uns nur irgendwo setzen dürften, Mrs.
Sherman«, sagte Artel freundlich, »bis Mr. Koning wieder zurück ist.« »Ja, Liebling«, sagte Sherman und warf Artel einen dankbaren Blick zu. »Luther meinte, wir könnten diesen Herrn eine Erfrischung anbieten, bis er wieder zurück ist. Er bat mich, sie mit ins Haus zu nehmen.« Konings Autorität flößte ihr offenbar Zutrauen ein. »Oh.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Nun, wollen Sie nicht hereinkommen?« Sie zog den Jungen aus dem Weg und trat selbst zur Seite. Wir befanden uns in einer jener engen Dielen, die bis zur Rückseite des Hauses gehen. Links und rechts waren Zimmertüren, und eine Treppe führte nach oben. »Am besten gehen wir gleich in die Küche. Es macht Ihnen doch nichts aus«, sagte Sherman. »Nicht das geringste«, sagte Artel, und wir gingen zusammen nach hinten. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick ins Wohnzimmer. An den Wänden standen Couches und viele Stühle, und vor jeder Couch ein Kaffeetischchen. Auf den Tischen lagen Bücher, in helles, billiges Leinen gebunden. Romane. In der geräumigen Küche gab es einen verchromten Tisch, hölzerne Schränke und eine Anzahl verchromter Stühle mit Plastiksitzflächen und -lehnen. Ein mit einer Kappe verschlossenes Gasrohr kam aus dem Boden. Daneben stand ein gußeiserner Herd. In der Spüle lag eine große, gußeiserne Pfanne im Abwaschwasser. Das Trinkwasser war in einem ganz gewöhnlichen Wasserkühler, wie man sie in Büros hat. Und in einer Ecke stand spindelbeinig ein Petroleumkühlschrank. »Also, ich muß schon sagen«, bemerkte ich und deutete mit einer Kopfbewegung darauf. »Mit euch geht's aber wirklich aufwärts hier.«
Shermans Augen folgten den meinen. Er warf einen Blick auf den Kühlschrank, als sei alle Hoffnung dahin. »Ich muß ihn haben«, sagte er. »Oh? Sind Sie Diabetiker?« fragte ich. Was sich jetzt in seinem Gesicht abspielte, kann ich nicht beschreiben. Der Blick, den er mir zuwarf, war fast nicht zu ertragen; ich hätte eine Kobra sein können. Ohne die Augen von mir zu wenden, sagte er zu seiner Frau: »Millie, du und die Kinder, ihr habt bestimmt etwas zu tun. Ich kann mich selbst um diese Gentlemen kümmern. Also geh jetzt, Millie. Geh jetzt bitte.« Millie nickte und ging rückwärts hinaus, die Kinder mit sich nehmend. Die Schwingtür der Küche schlug wieder zu. »Was soll das heißen – bin ich Diabetiker? Alle Diabetiker sind tot.« »Sie scheinen nur beides zu haben, Kühlschrank und Insulin, Doktor«, sagte ich. »Und behaupten Sie bloß nicht noch einmal Sie seien kein Doktor. Jeder Narr kann sehen, daß es Koning nicht mehr kümmert, ob wir es herausfinden oder nicht. Artel hast du drüben sein Behandlungszimmer bemerkt, gegenüber vom Warteraum?« »Mhm. Ich konnte die Desinfektionsmittel riechen.« »Also, Dr. Sherman, keine unnötige Aufregung«, sagte ich. »Koning hat es Ihnen gesagt, und ich sage es Ihnen. Da haben Sie es von beiden Seiten; es wird also schon was dran sein. Setzen wir uns doch und warten wir. Wir können uns unterhalten wenn Sie
wollen. Koning hatte offensichtlich irgend etwas vor.« »Stadtratssitzung vermutlich«, sagte Sherman. »So etwas dachte ich mir. Nur die Ruhe, Doc – wir sind es doch, die möglicherweise den Kopf in der Schlinge haben. Artel, geh mal rüber und schau dir sein Sprechzimmer an, ja?« Artel nickte und ging hinaus. Ich konnte hören, wie Millie Sherman im Korridor ein Schreckenslaut entfuhr und Artel irgend etwas Beruhigendes murmelte, das mit »Entschuldigung, Ma'am ...« endete. Sherman sank auf einen der Küchenstühle. Er verbarg das Gesicht in den Händen, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. »Mußten Sie denn einen von denen mitbringen?« murmelte er. Ich rückte mir einen Stuhl zurecht und setzte mich. »Sicher, Doktor. Er ist Bürger der Vereinigten Staaten. Zumindest dort, wo wir herkommen, und er hat genau das gleiche Recht, durch diese Straßen zu gehen, wie ich.« »Sie haben gar keine Ahnung, was Sie uns antun.« »Nein. Aber wenn jemand ein schlechtes Gewissen hat, dann entgeht mir das nicht. Übrigens eine gute Frage: Wer tut da wem was an?« Sherman fuhr hoch. »Wie meinen Sie das? Was wissen Sie?« »Ganz gleich, was wir wissen – wir werden bald sehr viel mehr wissen. Und wenn wir nicht mehr zurückkommen, um unserem Alten Herrn darüber zu berichten, dann wird er auch daraus seine Schlüsse ziehen.« Ich redete jetzt sehr schnell. Ich hatte ihn in der Zange und würde zudrücken, solange mir Koning die
Zeit dazu ließ – ganz gleich, wie es ausgehen würde. »Was glaubt ihr Leute denn, daß ihr hier tut, Sherman? Daß ihr hier in eurer eigenen kleinen Welt lebt? Vielleicht glaubt ihr das, verschanzt hinter Skeletten und ausgebrannten Häusern, wie ihr hier seid. Aber da draußen ist eine ganze verdammte Welt, und manchmal, mitten in der Nacht, wißt ihr es auch. Dies hier ist nur eine Stadt. Eine Stadt in einem ganzen Land. Auf einem Kontinent. Auf einer Welt. Wir sterben nicht nur dort draußen – wir leben und atmen auch. Glauben Sie, es macht mir und Artel Spaß, hierher zu kommen und mit Ihren Leuten hier ein Kasperltheater aufzuführen? Dazu haben wir keine Zeit.« Er war blaß und schwitzte. Sein Kopf bewegte sich vor und zurück. »Nein. Nein, dies ist eine gute Stadt. Sie sind nicht die einzigen Leute, die wir gesehen haben. Wir haben andere Leute von draußen gesehen. Ihr seid alle krank – alle. Ihr seid schwach und habt Schmerzen. Ich habe aufgepaßt, wie Sie sich bewegen, Dorsey. Wie wenn Ihre Knochen aus Glas wären. Ich kann mir vorstellen, wie es da draußen ist. Ihr habt es überlebt – ihr hattet Glück. Und jetzt seht euch an! Eure Lebern und eure Nieren müssen wie alte Schwämme sein. Eure Lungen sind zerfetzt. Vielleicht – vielleicht, wenn ihr halbwegs akzeptable Nahrung und genügend Ruhe und ausreichend Zeit bekommt, dann werdet ihr langsam wieder dahin kommen, wo ihr einmal wart. Aber die meisten von euch werden es niemals schaffen. Eure Kinder vielleicht – die Kinder von denen, die genug Energie zur Elternschaft hatten und ihren Nachkommen Immunität übertragen können. Wie hoch ist Ihre Kindersterblichkeit,
Dorsey? Wie viele Totgeburten gibt es? Wer nimmt sich der Kinder an? Wer erzieht sie? Wer kümmert sich um die allgemeine Hygiene? Wie viele Psychopathen gibt es bei euch?« Artel kam in die Küche zurück. »Er scheint Chirurg zu sein. Hat fast nur Instrumente. Die einzigen Heilmittel sind Aspirin, Jod und Vaseline. Das seltsamste Sprechzimmer, das ich jemals gesehen habe. Nun, wir wußten es ja von Koning. Daß Sie die Sache geheimhalten wollten, wundert mich aber nicht.« Artel holte sich einen Stuhl, setzte sich und beobachtete Dr. Sherman mit schläfriger, ausdrucksloser Miene. »Tut mir leid, daß sich Ihre Frau und Ihre Kinder so über mich aufregen mußten«, sagte er. Sherman nickte blind, ohne vom Boden aufzusehen. »Der Junge ist von meiner ersten Frau«, sagte er. »Ich hatte spät geheiratet. Stellte mir immer vor, daß es ein zu großer Einschnitt in meinem Leben sein würde. Als ich dann älter wurde, dachte ich anders.« »Sie haben sehr großes Glück gehabt«, sagte Artel. »Ich weiß. In der ganzen Stadt gibt es nicht noch eine Familie mit zwei Überlebenden. Glauben Sie, ich hätte nicht gewußt, wie gering unsere Chancen waren, als ich endlich begriff, wie es um uns stand? Was hätte ich nicht getan, um Mary und den Jungen zu retten? Im Krankenhaus war es zu diesem Zeitpunkt schon hoffnungslos. Ich sprach mich dafür aus, es in die Luft zu sprengen, so schlimm war es. Es spielte ohnehin keine Rolle – selbst wenn mir alle zugestimmt hätten – wir hatten nicht Zeit, nicht Willen, nicht Kraft genug, es zu tun. Mann, vielleicht können Sie schwimmen, aber wenn so eine Welle Sie packt, dann schmettert es Sie im nächsten Moment gegen
eine Klippe. Ich kam heim und verbarrikadierte dieses Haus. Ich hatte große Pfannen voll Karbolsäure, tränkte Stoffetzen damit und stopfte sie in die Fenster. Besprühte alles mit Desinfektionsmitteln. Man konnte kaum mehr atmen hier. Und wozu das alles? Ich überlegte es mir nicht einmal. Wir waren alle völlig von Sinnen. Wir waren krank und schlugen mit allem um uns, was wir hatten. Als es losging, verbrauchten wir die Antibiotika, als könnten wir jeden Tag einen neuen Lastwagen davon bestellen. Wir taten alles verkehrt herum. Wir konnten uns nicht vorstellen ...« Sherman hielt sich den Kopf und lachte. »Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, was kommen würde. Wir konnten uns einfach nicht verhalten, als hielten wir für möglich, was kommen würde. Ich meine, wenn wir tatsächlich gewagt hätten, für möglich zu halten, was kommen würde ...« Er stand rasch auf. »Sie wollten ja Wasser.« Er ging zu einem Schränkchen über der Spüle und nahm zwei Gläser heraus. »Wir hörten uns weiter an, was im Radio kam, und sagten uns, daß irgend jemand irgendwann medizinische Gegenmaßnahmen verkünden würde. Wohin ich auch ging, ich hatte ein kleines Radio bei mir. Tag und Nacht ließ ich es laufen, hatte meine Taschen voll Batterien. Als ich keine Sender mehr hereinbekam, ließ ich's trotzdem laufen – wartete darauf, ob sich der Sender WOR wieder melden würde.« Er stellte die Gläser klirrend unter den Wasserhahn. »Ich wartete nicht mehr auf irgendeine Ankündigung. Ich hörte nur zu, wie die Städte starben. Jedesmal, wenn ein Sender verstummte, sagte ich zu mir selbst: ›Da habt ihr es, ihr schlauen Burschen im Zen-
tralkrankenhaus von Massachusetts. Und ihr mit euren grandiosen Laboratorien im John-HopkinsInstitut. Und ihr im Medizinischen Zentrum von Columbia – ihr konntet es auch nicht finden.‹ So war es bei uns – wissen Sie noch, wie es bei Ihnen war?« Er kam zu uns herüber und reichte uns die Gläser. »Hier. Hier.« Wasser lief über mein Handgelenk.
8 Sherman ging wieder zu seinem Stuhl. Er setzte sich und sah uns an. Er drehte die Pfeife in seinen Händen und sagte grimmig: »Luther wollte, daß ich Sie über die Situation aufkläre. Bitte, ich kläre Sie über die Situation auf. Was, glauben Sie, geschieht mit der Organisation eines Ortes wie diesem hier? Die Wasserleitung kommt von einem Reservoir, das einer Stadt fünfundzwanzig Kilometer von hier gehört. Was passiert, wenn die uns den Hahn zudrehen, weil sie glauben, sie brauchen alles selbst? Was ist mit Ihren Nahrungsmittelvorräten, wenn die Kühlung aussetzt? Was für Vorräte, glauben Sie, hatten wir hier, wo wir doch in ein paar Stunden alles und jedes aus Newark bekommen konnten? Was passiert, wenn Sie dann feststellen, daß das alles ist und Sie nirgendwoher etwas kriegen können, weil niemand mehr etwas herstellt, niemand etwas verpackt, niemand etwas transportiert? Mein Gott, sie kämpften darum in der Nacht! Sie brachen in Häuser ein, wo fette Leute wohnten, manchmal bevor ein Block wegen der Seuche in Brand gesteckt wurde, und manchmal nachher. Tot – alles tot da draußen«, sagte er und deutete
hinaus. »Sie sind durchgekommen, Sie haben's gesehen. Sie haben's da überlebt, wo Sie waren, aber Sie waren in einer verdammten Großstadt mit Flüssen, aus denen Sie Wasser holen konnten, und mit Lagerhäusern, die mit Vorräten vollgestopft waren bis unters Dach. Wissen Sie, was wir anstellen mußten, um die Stelle freizumachen, wo die Quelle ist, aus der Sie jetzt trinken? Sie waren tot! Alle waren tot, und wir krochen durch die Kanalisation und brauchten drei Tage lang, um ein paar Straßen weiter zu kommen. Wir räumten sie nicht weg. Wir – wir wühlten uns förmlich durch sie durch. Krochen zwischen ihnen hindurch wie Schlangen.« Er sah auf. »Jetzt ist natürlich alles hübsch und sauber«, sagte er lächelnd. »Alles hübsch und sauber. Dies ist eine Modellstadt.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Sein Hemd war schweißnaß unter den Achseln. »Trinken Sie Ihr Wasser«, sagte er. »Danke«, sagte ich. Ich nahm einen herzhaften Schluck. »Ihre Mary konnten Sie nicht retten, wenn ich Sie richtig verstehe.« »Nein«, sagte er bitter, empört über meine Manieren. »Meine Mary konnte ich nicht retten.« Nun, ich hatte gar nicht erwartet, daß er mich richtig verstehen würde, aber es wäre nicht schlecht gewesen, wenn er halbwegs begriffen hätte, daß man mit so einer Geschichte in diesen Tagen nicht mehr sehr weit kam. Immer waren sie so, wenn man mit ihnen in Kontakt kam. Die Einzelgänger – diejenigen, die wir auf dem offenen Lande antrafen, weil sie Farmer waren – erzählten uns tagelang immer wieder dieselben Geschichten. Jedesmal brauchten sie eine ganze Weile, bis sie
bemerkten, daß niemand zuhörte. Die Gemeinden, mit denen wir in Kontakt traten, konnten nicht glauben, daß es in der übrigen Welt nicht anders aussah als bei ihnen. Immer hatten sie diese Vorstellung, daß ihr Ort allein von der Katastrophe befallen worden sei, obwohl es nirgendwo in der Welt mehr etwas gab, was Elektrizität oder Kraftstoff verbrauchte oder der Zusammenarbeit mit einer größeren Anzahl von Menschen bedurfte. Wir alle hatten schreiend die Flucht ergriffen. Wir hatten alles verbraucht, was wir hatten, und hatten versucht, zu fliehen, uns zu verstecken, zu töten, eine Antwort zu finden. Man konnte nur froh sein, daß die Militärmacht der Welt noch unter dem Schock dessen stand, was ihre Luftabwehrraketen den sich nähernden Rettungsbooten der Klarri zugefügt hatten. Denn wenn sie von ihrem gewöhnlichen Kampfgeist erfüllt gewesen wäre, hätte sie sicher irgendeinen Grund dafür gefunden, ihr Vernichtungspotential auch noch auf uns selbst abzuladen. Das einzige Besondere, was Ocean Heights zugestoßen sein mochte, war vielleicht, daß so ein Rettungsboot direkt vor ihrer Haustür landete und ihnen gut fünfhundert Infektionsherde bescherte, so daß sie nicht warten mußten, bis Wind und Flüchtlinge die Seuche zu ihnen brachten. Aber das totenstille Gebäude dort drüben machte vielleicht auch diese Entschuldigung gegenstandslos. Und außerdem, Mary ist ein weit verbreiteter Name. »Hören Sie, Doktor«, sagte ich, »wir haben Ausweise der Regierung der Vereinigten Staaten. Sie erinnern sich doch an die Vereinigten Staaten. Wir repräsentieren also die Wiederherstellung einer bestimmten sozialen Organisationsform in der Welt. Sie
sehen uns – Sie sehen, in welcher Verfassung wir sind. Sie haben auch andere Leute gesehen, sagen Sie. Außerdem können Sie nicht behaupten, daß es irgend jemand in dieser Stadt gibt, der nicht einen Detektorapparat bauen kann. Viel zu hören gibt es zwar nicht, aber immerhin etwas. Sie geben vor, abgeschnitten zu sein, aber das sind Sie nicht – Sie wissen, in welchem Zustand die Welt ist, selbst wenn Ihr Wissen nur bruchstückhaft ist. Und wir sitzen hier in Ihrer Küche und setzen die kleinen Stücke zusammen, die wir jetzt kennen – und das Bild sieht nicht gut aus. Nach dem, was wir da von Ihnen hören, Doktor, sieht es sogar ziemlich schlecht aus. Was geht in dieser Stadt vor?« Sherman schüttelte den Kopf. »Ich kann es Ihnen nicht sagen«, flüsterte er. »Sie haben es doch versucht«, sagte Artel. »Auf vielerlei Art. Sie haben es nur nicht in Worte gekleidet.« Shermans Augen begegneten den seinen. In Artels Blick lag Mitleid. Ich weiß nicht, ob er das bei einem Klarr erkennen konnte oder nicht. »Doktor, Sie haben ein großes Geheimnis in dieser Stadt. Und Sie sind sein einziger Hüter. Es ist möglich, bis zu Ihrem Hause zu kommen, ohne entdeckt zu werden. Und dann machen Sie sich auffällig, indem Sie einen Gong schlagen. Wenn Sie und Koning vor uns miteinander sprechen, tun Sie alles, daß wir jede Lüge bemerken. Glauben Sie, wir wüßten das erst durch Tully? Tully haben wir dafür nicht gebraucht. Aber Sie und Koning waren es, die uns zu erkennen gaben, daß Tully wichtig ist – Sie und Koning und alle Ihre anderen Nachbarn und Freunde. Wenn Sie uns sagen, wie es hier in der Stadt steht, entschuldigen Sie sich im
voraus für das, was wir wissen werden, wenn wir alle Einzelheiten zusammengefügt haben.« Sherman wurde bleicher und bleicher. Das Holz der Pfeife knackte in seinen Händen, als er sie zusammenpreßte und seine Haut feucht darüber hinwegglitt. »Sie könnten niemanden irreführen, der auch nur im geringsten interessiert ist«, endete Artel mit immer noch sanfter Stimme. »Das wissen Sie. Von Anfang an wußten Sie das.« Ich stellte mein Wasserglas weg und ging zum Kühlschrank hinüber. »Er führte uns am Wartezimmer vorbei, weil es schlau war, uns nicht dort Platz nehmen zu lassen. So würden wir nicht daraufkommen, daß er Arzt ist, und ihm keine medizinischen Fragen stellen. Er führte uns direkt hierher in die Küche. Wo der Kühlschrank ist.« Ich öffnete ihn. »Wir konnten keine zwei bekommen!« rief Sherman laut. »Wir konnten nur einen finden, und es war naheliegend, ihn in der Küche aufzustellen.« Ich nickte. »Und da war noch das Brennstoffproblem«, sagte ich. Ich konnte mir erlauben, mich verständnisvoll zu geben. Ich hatte noch nicht die leiseste Ahnung, was er überhaupt meinte. »Das Leben ist hart; wir müssen sparen.« Ich inspizierte den Kühlschrank, was wegen der geringen Helligkeit im Raum nicht ganz einfach war. Ein paar Salatköpfe, eingewickelt in Zellophan mit dem New Yorker Siegel darauf, und ein paar Reste in Plastikbehältern; eine halbe Wurst ... und, dicht unter den Kühlschlangen, eine Halbliter-Milchflasche mit einem selbst angefertigten Gummiverschluß darauf. Ich nahm sie heraus und hielt sie gegen das Licht. Sie war zu drei Vierteln mit einer schwach gelblichen
Flüssigkeit gefüllt, die einen dünnen, weißen Bodensatz enthielt. Sherman starrte auf die Flasche, dann auf mich und Artel. Plötzlich machte er einen Satz darauf zu und versuchte, sie mir aus der Hand zu schlagen. Seine Augen traten aus ihren Höhlen. Sein Gesicht sah aus, als sei es eine Elle breit und aus Kreide. »Nein, lassen Sie mich!« keuchte er, als ich sie blitzschnell aus seiner Reichweite zog. »Bitte!« Ich machte einen Schritt zur Seite, so daß er tapsig gegen einen Schrank plumpste, und noch während er sich um sein Gleichgewicht bemühte, sagte ich ruhig: »Also gut«, und hielt ihm die Flasche hin. Er richtete sich auf, und ich gab sie ihm vorsichtig in die Hand. Er sah darauf nieder, und ebenso plötzlich, wie er aufgesprungen war, fielen jetzt Tränen auf seine Hemdärmel. Mit schmerzlicher Miene stellte er die Flasche in den Kühlschrank zurück und schloß die Tür. Dann drehte er sich um und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Er holte lang und tief Atem und stieß dann scharf die Luft aus. Wie es jedermann macht, wenn er weint. Ich sah Artel an. »Sie benützen solche Flaschen, um die Dosis Ihrer Injektionen abzumessen.« Artel nickte. »Sterilisiert hat er hier auf dem Herd.« Er fing an, die Türen der Schränke zu öffnen, und fand alsbald den plastiküberzogenen Blechkasten mit Spritzen und Injektionsnadeln. Ich wandte mich Sherman zu. »Wie lange sind wir jetzt in dieser Stadt – dreiviertel Stunden? So lange habt ihr gebraucht, um uns zu dem Wundermittel zu führen. Dies ist wirklich eine gute Stadt.« Sherman starrte zum Bo-
den. Er war in seinen Kleidern geschrumpft. Schauder überliefen ihn, und er weinte noch immer. Ich sah Artel an. Artel schüttelte den Kopf – was das für ein Zeug war, konnte er auch nicht sagen.
9 »So ist es doch, Doktor, oder?« fragte ich. »Das Zeug in der Flasche da ersetzt alle anderen Arten von Medizin. Jemand kommt in Dr. Shermans Praxis und hat, sagen wir, Leberwürmer, Herzbeschwerden und einen gebrochenen Arm. Sherman richtet ihm den Arm ein, geht dann in die Küche und kommt mit einer Spritze mit diesem Zeug zurück. Er injiziert es ihm, und der Mann geht zufrieden weg, völlig geheilt. Einer kommt mit Augenflimmern, Ohrensausen und einer Schwellung der Achselhöhlen. Der Doktor gibt ihm die Spritze, und sechs Stunden später tanzt er wieder mit seiner Freundin. Ist es so, Doktor?« »Sie sollten's nicht lächerlich machen«, flüsterte Sherman. So weit war er jetzt. Mehr hatte er nicht mehr. Es hatte ihn gebrochen – nein, nicht wir beide, wir alle drei und diese Stadt, diese Welt hatte ihn gebrochen. So wird es immer kommen, wenn man es zuläßt. Sherman sagte: »Die spezifische Wirkung ist gegen von Klarri übertragene ansteckende Krankheiten und allergische Reaktionen. Und bei der Behandlung älterer Formen von ansteckender Krankheit hat es ein breites Wirkungsspektrum. Einen Herzschaden heilt es nicht, nein. Aber es vermindert die Belastung des Herzens.«
Er sah Artel an und kniff dann die Augen zusammen, als wäre ihm ein plötzlicher, mit Regen vermischter Windstoß ins Gesicht geschlagen. »Vielleicht ist es ein Allheilmittel«, erklärte er. »Nach einer Injektion von drei Kubikzentimetern ist der Patient innerhalb von Stunden völlig frei von allem, das irgendwie durch Antikörper zerstört werden kann. Ich ... ich versuche, mich klar auszudrücken. Der menschliche Körper reagiert auf die Substanz, indem er Antikörper erzeugt, die nicht nur sie zerstören, sondern auch jeden anderen eingedrungenen Organismus. Zumindest habe ich niemals eine ansteckende Krankheit festgestellt, für die eine Dosis nicht gereicht hätte. Ich ...« Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Die Bevölkerung hier ist zu klein als daß ich schon Fälle aller Krankheiten kennengelernt hätte, die Menschen bekommen können. Aber das Serum hat mich noch nie im Stich gelassen. Und die Reaktion ist von Dauer. Wir brauchen es nur für die Neugeborenen. In dieser Stadt gibt es keine Krankheit, Mr. Loovan.« Wieder traten Tränen in seine Augen, nicht mehr so groß und regelmäßig wie vorher, aber er mußte blinzeln. »Sehen Sie, der menschliche Körper hat seine Verteidigungsmechanismen. Dieses Serum stimuliert sie. Phantastisch.« Er schüttelte heftig den Kopf und wandte sich mir zu, weil Artel ihn weiter mit einem Sphinx-Gesicht angesehen hatte. »Sie können es sehen, Dorsey! Sie müssen wissen, daß der menschliche Körper ständig damit zu tun hat, alle möglichen Arten potentieller Krankheiten abzuwehren. Ständig ist ein beträchtlicher Teil der Mechanismen des menschlichen Körpers damit beschäftigt, eingedrungene Mikroorganismen zu zerstö-
ren und die entstandenen Abfallstoffe zu filtern und abzuführen. Und ich brauche Ihnen zweifellos nicht zu sagen, wie verletzlich der Organismus ist, wenn er erschöpft ist. Und ich brauche Ihnen auch nicht zu erklären, wie entkräftigend selbst einfache Krankheiten wirken; irgendwann in Ihrem Leben haben Sie sicher eine Erkältung gehabt, oder eine Reaktion auf einen eitrigen Zahn, oder eine Schnittverletzung. Können Sie sich vorstellen, welche Energie so alltägliche Dinge aus Ihrem Organismus abzogen? Energie, die auch die Wachstums- und Reparaturfunktionen Ihres Körpers hätten gebrauchen können?« Er sah jetzt von einem von uns zum anderen. Wir schauten ihn ausdruckslos an, weil er nun keines weiteren Anstoßes mehr bedurfte und wir ihn nicht unterbrechen wollten. Er versuchte weiter, zu uns durchzukommen – versuchte, uns zum Lächeln zu bringen oder dazu, daß wir ihm auf die Schulter klopften und sagten: »Schon gut.« »Können Sie sich vorstellen, wie die Einwohner dieser Stadt sind? Sie können ihre ganze Energie dem Leben zuwenden. Nichts mehr von dem grauen, bedrückenden Zeug, mit dem sie in früheren Tagen zu mir in die Praxis kamen und das sie so elend machte und das ich nicht diagnostizieren konnte und für das ich ihnen Kräftigungsmittel verschrieb. Ist Ihnen klar, wieviel belastende Spannung aus ihrem Leben genommen ist? Sie haben nicht unter hunderterlei Wehwehchen zu leiden. Sie brauchen keine Angst vor plötzlichen Magenkrämpfen, vor unerklärlichen Hautausschlägen oder Hustenanfällen zu haben. Sie spucken und pissen kein Blut. Sie ärgern sich keine Magengeschwüre an und kriegen auch keine Ner-
venleiden. Wenn Sie jetzt noch bedenken, daß auch die meisten der alten sozialen Spannungen verschwunden sind ... verstehen Sie nicht? Für sie ist es wie ein Wunder – sie leben – sind vital. Ermüden nicht so schnell, werden nicht trübsinnig ...« »Und sie lachen ununterbrochen«, sagte ich. »Artel und ich konnten das sehen; hüpften und tanzten und sangen und klatschten in die Hände, als sie uns sahen. Wie ein paar glückliche Südseeinsulaner in einem Buch. Kinder der Natur.« Sherman zog wieder den Kopf ein. »Es ging ihnen recht gut, bis Sie kamen«, murmelte er. »Keine Arthritis, Doktor?« fragte Artel. »Keine Plattfüße, keine Nierensteine?« »Das habe ich nicht gesagt«, sagte der Arzt. »Wenn jemand so etwas hatte, bevor die Klarri kamen, dann kann man nichts dagegen tun, außer ihn insgesamt gesünder zu machen. Das hilft.« Jetzt hob er wieder ein wenig den Kopf. »Trotzdem, etwas ist daran interessant. Ich stelle keine neuen Fälle mehr fest. Bei einer vergleichsweise so geringen Anzahl muß das noch nichts heißen, aber es könnte sein, daß es nach dieser Generation so etwas gar nicht mehr gibt. Es gibt da vieles, was ich noch nicht weiß. Was ich habe, bewirkt das, was es bewirken soll. Aber ich möchte Ihnen gegenüber nicht den Eindruck erwekken, als seien meine Extraktionsmethoden genau. Ich habe weder die Zeit noch die Geräte, um die Wirkungssubstanz präzise zu isolieren, was immer sie ist. Ich habe nur eine Art gebündeltes Serum, und irgend etwas darin ist der Wirkstoff. Der Rest ist zumindest unschädlich.« Allmählich hatte er sich wieder gefaßt. Etwas fachzusimpeln tat ihm gut. Sicher war das ei-
ner der Gründe dafür, warum er es tat. »Wie wirkt es bei Krebs, Doc?« fragte ich. »Es verhindert ihn, glaube ich. Ich weiß, daß es ihn nicht heilt.« »Sehr gut, Doktor.« Ich sah ihn an wie aus weiter Ferne. Ich ahnte, daß ich ihn gleich wieder furchtbar erschüttern würde. Ich schaute zu Artel hinüber. Auch er hatte es der Wortwahl des Arztes entnommen. Es war traurig, jetzt sein Gesicht zu sehen. »Doktor ... woher nehmen Sie diese Substanz?« Er hatte es fast verdrängt. Er hatte geredet und geredet, und während der ganzen Zeit hatte er innerlich Barrieren errichtet. Er starrte mich an, als hätte ich in der Kirche gerülpst, und wich dann unwillkürlich ein wenig vor Artel zurück. »Aus menschlich infiziertem Klarrblut«, sagte er, jedes Wort für sich allein aussprechend. Artel seufzte auf und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Ich hatte meine nächste Frage bereit und war mir der Antwort schon ziemlich sicher. Aber ich mußte kurz innehalten und ihn studieren. Dann sagte ich: »Und jedermann in der Stadt weiß, woher es kommt?« Zwei- oder dreimal nickte Sherman langsam. »Alle Erwachsenen. Ich wünschte, Sie hätten Mr. Loovan nicht mitgebracht.« »Ich denke, es wird wohl Zeit, Artel.« Er war nicht ganz hier in Gedanken, aber er nickte. »Ja.« Wir stießen die Schwingtür auf. »Warten Sie!« rief Sherman uns nach. »Wenn Sie zu entkommen versuchen, wird man Sie töten!« Artel schritt rasch den Gang entlang. »Das wissen
wir«, sagte ich über die Schulter hinweg. Solches Gerede ärgerte mich. Wie ich meinen Job zu tun hatte, brauchte er mir nicht zu sagen. Shermans Frau und Kinder hingen drei Viertel der Treppe höher über dem Geländer und starrten zu uns herunter. Artel stieß die Eingangstür auf, daß sie krachend gegen die Wand schlug. Die Leute draußen fuhren zusammen. Nun, das war genau der Effekt, den er wollte. »Auf Wiedersehn, Mister!« piepste das kleine Mädchen, als Artel mit polternden Schritten auf die Veranda stürmte. Ich folgte ihm ebenso rasch und schlug die Tür hinter mir zu. Artel wurde nicht langsamer; das darf man nicht. Ich sprang die Stufen hinunter und holte ihn ein, so daß wir die Menge Seite an Seite erreichten. Wir gingen an unseren Rädern vorbei, suchten uns den größten Mann der Gruppe heraus und standen ihm praktisch auf den Zehen. »Wo finden wir Luther Koning?« bellte ich ihm ins Gesicht. Die anderen wichen zurück. Artel und ich stierten den Mann an; wir waren sichtlich außer uns vor Wut. Der Mann trat einen Schritt zurück, wir einen Schritt vor. Artel packte ihn am Gürtel. »Also, was ist! Die Regierung läßt nicht mit sich spaßen!« Der Mann machte eine vage Geste die Straße hinunter, dorthin, wo die Kreuzung war. »So!« rief ich. »Na denn los.« Artel stieß den Mann von sich, und wir beide marschierten mit grimmigen Gesichtern und schwingenden Armen Seite an Seite den Gehsteig hinunter. Kinder und Hausfrauen machten sich ängstlich davon. »Sie können doch nicht ...« protestierte jemand. »Na, dann laufen Sie hin und sagen es ihm«, entgegnete ich, und wir marschierten weiter.
»Dorsey! Loovan!« Sherman rief uns nach, während er die Verandastufen herunterkam und quer über die Wiese lief, um uns den Weg abzuschneiden. Wir marschierten weiter. Keuchend holte er uns ein. Er versuchte, mit uns Schritt zu halten, fiel aber zurück, als er sich uns zuwandte, um etwas zu sagen. Ich wandte den Blick nicht von den Leuten bei der Kreuzung; es war eine ganze Anzahl, und ich bemerkte, wie einer von ihnen uns kommen sah und erstarrte. »Dorsey!« keuchte Sherman. »Sie verstehen nicht. Es ist nicht nur ...« Er stolperte über den eisernen Deckel eines Wasserleitungsventils und blieb ein wenig zurück. Dann hatte er uns wieder eingeholt. »Loovan ...« Er bemerkte, daß er sich an den Falschen gewandt hatte, um ihm den Rest zu erzählen. »Dorsey! Wir lagen im Sterben. Wir waren zu schwach, uns zu bewegen. Wir hatten seit Tagen nichts gegessen. Seit Wochen hatten wir nicht genug gegessen, und während der ganzen Zeit plagte uns hohes Fieber. Meine Frau lag tot im Schlafzimmer. Drei Tage lang. Und ich konnte nicht zu ihr hinauf. Ich hatte den Jungen in meinem Behandlungszimmer – auf dem Untersuchungstisch. Ich lag auf dem Boden. Ich konnte ihn nicht erreichen. Ich hatte ihn anschnallen lassen. Ich weinte. Ich konnte ihn nicht erreichen. So ging es uns allen.« »Uns auch«, sagte ich. Ich war am Ende meiner Geduld. Aber Sherman wollte uns noch etwas erklären. Die ganze Zeit hatte ich darauf gewartet, daß er uns sagen würde, wo ihre gefangenen Klarri waren. Aber statt dessen plapperte er weiter: »Sie waren nicht so
verloren, abgeschnitten vom Rest der Welt! Wissen Sie denn, wie sehr sich der Mensch ans Leben klammert? Wissen Sie, was er alles tut, um am Leben zu bleiben, bis zur letzten Minute? Solange er noch Zähne und Klauen hat?« Ich hörte hauptsächlich darauf, ob sich uns von hinten entschlossene, schnelle Schritte näherten. Aber das war nicht der Fall. Sie waren alle wie angewurzelt stehengeblieben. Jetzt hatten wir schon fast die Kreuzung erreicht. An einer Ecke stand ein großes Hotel, das jetzt wohl als Rathaus diente, denn ich sah Koning und eine Anzahl anderer Männer rasch aus der Tür kommen und wie erstarrt stehen bleiben, als sie uns bemerkten. Unter ihnen war eine grinsende Gestalt, die auf uns deutete und sich auf den besenstieldünnen Schenkel schlug, daß der Stoff seiner lose hängenden Hose nachgab, als hätte er überhaupt keine Knochen. »Es war Tully!« keuchte Sherman. »Eine Zeitlang töteten wir eine Menge Klarri. Dann wurden wir zu schwach und gaben es auf. Aber Tully verletzte einen ... irgendwo, wohin sie sich beide geschleppt hatten, um zu sterben, glaube ich. Beide waren sie am Verhungern. Tully muß sich so sehr vergessen haben – daß er nichts anderes mehr war als ein sterbendes Tier. Sie wissen doch, was ich meine?« sagte er drängend. »Verstehen Sie, in welcher Verfassung Tully war? Da war nur er und dieser sterbende Klarr. Und Tully ... er war das Tier. Aber Tully besaß auch Vernunft genug, zu kommen und mich zu retten – und den kleinen Walt zu retten – nachdem er wieder ein Mensch geworden war.« Er hatte Mühe, die Worte zu artikulieren. »Tully hat es herausgefunden. Ich habe
nur seine Entdeckung verfeinert. Habe sie in eine medizinische, gesunde Form übergeführt. Aber Sie verstehen jetzt, wie es ist ... Man kann Sie beide nicht gehen lassen!« Wie zur Salzsäule erstarrt blieb Artel plötzlich stehen. »Weiter. Weiter!« sagte ich zu ihm. »Du mußt weiter.« Ich war neben ihm stehengeblieben, blickte aber unverwandt geradeaus. Was immer wir taten, wir mußten es zusammen tun. »Wenn du jetzt nicht weitergehst, ist alles aus.« Wir gingen weiter. An der Kreuzung standen jetzt etwa fünfzehn bis zwanzig Leute, lauter Männer. Sie standen an der Ekke vor dem Hotel. Wir verließen den Gehsteig und gingen über die Straße auf sie zu. Tully war auf der linken Seite und hüpfte und grinste. Er schien viel Energie und Drive zu haben. Auf ihn mußten wir aufpassen. Um die historische Persönlichkeit zu werden, die er war, mußte er in der Lage gewesen sein, mit lockeren Zähnen in einem Mund voller Wunden heißes, rohes Fleisch aus einem lebenden Körper gerissen zu haben. Daß jemand zu allem fähig ist, selbst wenn die Lage wirklich verzweifelt ist, findet man selten. Der Mann, der ihm zunächst stand, hielt einen gewissen Abstand von ihm. Wie die anderen beobachtete er Artel und mich, spähte aber aus den Augenwinkeln auch zu Tully hinüber. Wir gingen auf Koning zu, der ausdruckslos dreinzusehen versuchte, statt dessen aber nur überaus angespannt wirkte. Ich sah nur ihn an, blickte ihm direkt in die Augen. Ich mußte ihn erwischen, bevor er irgend etwas sagen oder tun konnte. Beiläufig bemerkte ich: »Na, das ging genauso, wie Sie es wollten.
Sherman hat uns alles erzählt. Sie haben es also nicht getan – haben nichts damit zu schaffen.« Koning runzelte die Stirn. »Was wollen Sie damit sagen?« »Hören Sie, Mr. Koning«, sagte Artel mit Geduld in der Stimme. »Wenn Sie die Sache wirklich nicht hätten loswerden wollen, dann hätten Sie hin und wieder Heilmittel bestellt. Ob Sie nun damit die armen Kranken draußen beraubt hätten oder nicht.« »Jetzt können Sie wieder schlicht und einfach Bürgermeister sein«, sagte ich. »Das macht doch alles viel leichter, oder?« »Und nun haben wir noch etwas zu tun, Mr. Koning«, sagte Artel. »Gehen wir, Ed. Das Haus auf der rechten Seite, vier Querstraßen weiter.« Sherman hatte während der letzten paar Sätze den Atem angehalten. Er sagte: »Ich habe in keiner Weise ...« Ich reagierte mit einer Art Lächeln. »Wir wissen auch, wo das Rettungsboot ist, Dr. Sherman.« Ich deutete zu den schönen Häusern jenseits des Hotels hinüber. »Nun, Sie sehen, daß wir dieses alte Kasino öffnen müssen, Mr. Koning. Wollen Sie mitkommen?« Konings Mund ging ein paarmal auf und zu. Er sah sich um, und sobald er das tat, hatte er natürlich verloren. Er holte tief Atem. Dann fügte er mit einem Blick auf die Menge hastig hinzu: »Gut ... Gut.« Artel und ich gingen los. Wir blieben auf der Mitte der Straße, und Koning hielt sich neben uns. Er hatte Schwierigkeiten, sich zwischen lockerem Schlendern und raschem Schritt zu entscheiden, bis er sich
schließlich entschloß, mit uns Tritt zu halten. Auch Doc Sherman kam mit. Zwei oder drei Leute schickten sich an, uns zu folgen, und dann auch der Rest von ihnen, und mit der Gruppe, die uns langsam von Shermans Haus nachgekommen war, bildeten sie eine ansehnliche Menge. Tully war auf dem Gehsteig geblieben. Er hielt mit uns Schritt, so gut er konnte. Er versuchte, die Aufmerksamkeit der Leute, die an ihm vorbeikamen, auf sich zu ziehen. Ich konnte hören, wie er sagte: »Wo wollt ihr denn hin, ihr Trottel?« Er sagte es zu allen, welchen Geschlechts oder Alters sie auch waren. »Wo wollt ihr denn hin?« Ich konnte es als ersterbendes Gemurmel im Hintergrund hören. Die Leute sahen ihn an und schauten dann weg. Sie wichen ihm zur Straßenmitte hin aus. Außer ihm sagte niemand ein Wort.
10 Jetzt, bei Tageslicht, sahen wir, daß das Gebäude grün gestrichen war. Die Farbe war nicht neu – sie stammte von früher. Artel und ich gingen die Treppe hinauf. Koning überholte uns und sperrte die Tür auf. Die Menge wartete draußen auf der Straße. Die Halle war dunkel und modrig. Der Boden war in einem Schachbrettmuster mit roten und braunen Kunststoffplatten belegt, über die ein schwarzer Gummiläufer ging. Zu beiden Seiten gab es Türen, aber Koning ging nach links zu einer Treppe voraus. »Irgendwo muß hier 'ne Lampe sein«, sagte er. »Brauchen wir nicht«, sagte Artel und holte die Taschenlampe aus seiner Windjacke. Er setzte den Dy-
namo in Gang, und wir stiegen die Treppe hinauf. Droben war eine weitere Doppeltür. Koning sperrte sie auf. Der Geruch wurde stärker. Durch ein Fenster unweit von uns drang Licht herein. Die anderen Fenster waren von innen zugemauert. Von hier bis zur Rückseite war der ganze erste Stock ein einziger großer Raum, und das offene Fenster war diesseits der Gitter, mit denen sie den Raum von Wand zu Wand unterteilt hatten. Artel leuchtete durch die Gitterstäbe. Wir konnten sechs eiserne Pritschen mit Matratzen darauf erkennen. Auf zweien davon lagen zwei Klarri. Auf drei von den Pritschen waren die Matratzen zusammengerollt. Auf der Kante der verbleibenden saß noch ein Klarr. Er schien das zu tragen, was von seinem Bordanzug noch übriggeblieben war. »So, und jetzt sperren Sie da auf«, sagte ich zu Koning und deutete auf die vom Fußboden bis zur Decke reichende, mit zusätzlichem Maschendraht versehene Gittertür. Auch einen geschickten Handwerker mußte sie ein schönes Stück Arbeit gekostet haben. Koning nickte, ging hin und schob zitternd den Schlüssel ins Schloß. Er drückte gegen die Tür, und sie öffnete sich. Dann wandte er sich zu uns um und sah Artel und mich erwartungsvoll an. »Viel wird Ihnen wohl nicht passieren, Koning«, sagte ich. »Wir mischen uns nicht in die Angelegenheiten von Gemeinden ein, wenn es sich vermeiden läßt. Wir alle haben eine schwere Zeit durchgemacht und haben uns auf die eine oder andere Weise schuldig gemacht.« Koning nickte. »Wir sind nicht auf das gekommen, was Sie her-
ausgefunden haben. Das muß man Ihnen zugute halten.« »Aber das war nur Glück«, sagte Artel, vor jedem Satz tief Atem holend. »Nur unser Glück. Statt uns hätte es auch jemand anderer haben können, irgendwo anders.« Koning schüttelte den Kopf. »Hören Sie ... dieser Tully ...« »Ich bin sicher, Artel versteht«, sagte ich. »Tully konnten Sie jedenfalls nichts tun.« »Der Halunke erinnerte uns fortwährend auf höhnische Art daran«, sagte Koning bitter. »Er fragte uns dauernd, ob uns vielleicht die Arme weh taten von Docs Spritzen.« »Ich wollte, Sie würden jetzt gehen«, sagte Artel zu ihm. Koning nickte wieder und ging um uns herum zurück zur Treppe. Rasch stieg er die Stufen hinunter, und dann hörten wir, wie er die Halle durchquerte und durch die Doppeltür ins Freie trat. Er war kein schlechter Mensch. Nicht von der Art, die das Fleisch eines Klarri essen würde, ganz gleich, wie ausgehungert er sein mochte. Nur einer, der einem Klarr sein Blut nahm, um Medizin daraus zu bereiten. Und dann wieder nahm. Und wieder. Als alles wieder ruhig geworden war, begann Artel zu zittern wie Espenlaub. Er packte mich an der Schulter und hielt mich fest. »O Ed.« »Ruhig, ganz ruhig.« Der Klarr, der auf seiner Pritsche saß, gesessen hatte, war aufgestanden. Mit starrem Blick schlurfte er auf uns zu. »Artel, ich sehe keinen Grund, warum es nicht auch andersherum funktionieren sollte. Vielleicht irre
ich mich. Aber warum sollte Klarr-infiziertes Menschenblut nicht bei euch die gleiche Wirkung haben?« »Das haben sie aber nicht ausprobiert, oder?« sagte Artel mit geschlossenen Augen. »Weil sie nicht konnten«, sagte ich. »Die Klarri mußten infiziert bleiben.« Artel nickte. »Das verstehe ich.« Die anderen beiden Klarri hatten bemerkt, daß sich irgend etwas verändert hatte, und hatten sich auf ihren Pritschen herumgedreht. Ich spreche ziemlich verständliches Klarr. »He«, sagte ich zu ihnen. »Wir sind von der Polizei. Ihr könnt jetzt herauskommen.« »Was machen wir denn mit ihnen, Ed?« fragte Artel. »Wir bringen sie in eines der Häuser. Ich bleibe bei ihnen, bis du einen Wagen hergeschickt hast, um sie mitzunehmen. Wenn du mit dem Rad die Camdener Route nimmst, kannst du noch heute beim Alten Herrn sein, spätestens morgen früh.« Artel nickte. »Gut.« Wieder packte er mich an der Schulter, als der weißhaarige Klarr näher kam, zur Gittertür trat, sich an beiden Seiten festhielt und uns ansah. »Ich bin Eredin Mek, dritter Navigationsoffizier. Meine Gefährten hier sind sehr schwach und wohl auch verängstigt. Könnte einer von Ihnen hereinkommen und mit ihnen sprechen, bitte?« Er kam näher. »Geh rein, Artel«, sagte ich, und er trat in die Zelle. »Kann man hinaus?« fragte mich Eredin. »Sicher«, sagte ich. »Ich möchte gern.« Wir gingen gemeinsam zur Treppe. Dann, die eine
Hand am Geländer, die andere Hand über meine Schulter gelegt, stieg er mit mir die Treppe hinunter und trat in die Halle. Draußen drängten sich die Menschen, und einen Augenblick lang glaubte ich, daß es wieder kritisch werden könnte. Aber sie standen mit dem Rücken zu den gläsernen Türen. Dann gingen wir durch diese Türen hinaus und standen am Kopfende der Treppe. Tully war auf der anderen Straßenseite. Und sagte irgend etwas zu den Leuten. Die zogen die Köpfe ein. Tully sah Eredin und mich. Er zeigte zu uns herüber. »He da!« Die anderen hoben wieder den Kopf. Als sie sich umwandten und sahen, wie Eredin an mir lehnte, wurde ein Seufzer hörbar. Sherman und Koning standen bleich mitten unter ihnen. Sie alle verstanden, was das bedeutete: Der Klarr dort droben auf der Treppe mit mir – stinkend und krank, aber außerhalb dieser Mauern. Nur Tully begriff nicht, was das für ihn bedeutete. Er glaubte immer noch, obenauf zu sein. Er lachte. »He da, Freund! Ich glaube, du bist noch klappriger als ich. Was ist los – haben wir dich nicht gut gefüttert?« Er blickte sich beifallheischend um. »Wer ist dieser Mann?« murmelte Eredin, ohne recht zu begreifen, wie jemand, der schwach und senil ist und sich nicht mehr zurechtfindet in der Welt. »Was sagt er da?« Ich antwortete, so gut ich konnte, auf Klarr: »Er ist der Retter Ihres Stammes.« »Ja!« schrie Tully. »Ja, ihr Armabwischer und Spritzenfixer ...« »O Gott!« stöhnte Sherman auf und arbeitete sich durch die Menge hindurch auf Tully zu. Dann sah es
aus, als seien sie alle Marionetten. Sie drängten sich plötzlich um den knochigen Mann mit dem grünen Augenschirm. Ich konnte Konings Gesicht sehen. Die Adern standen hervor; sein Mund war weit aufgerissen, und er stieß unartikulierte Laute aus. Die weiter entfernt Stehenden drängten sich hinzu. Dann stürzten sie alle am Fuß einer Hecke hin. Blinzelnd und mit wäßrigen Augen sah Eredin zu mir auf. Es mußte viele Dinge geben, deren Grund er nicht kannte. »Sie ... Sie nahmen uns unser Blut«, beklagte er sich. »Ich weiß«, sagte ich und klopfte ihm auf die Schulter.
Originaltitel: BE MERRY Copyright © 1966 by Galaxy Publishing Corp.
Fritz Leiber LEBEN ZWISCHEN STERNEN Als die Flea aus dem Mondschatten in das Sonnenlicht trat, begann sie unter der plötzlichen Hitze zu ächzen wie ein altes Aluminiumhaus am Morgen. Nach der Stille des freien Falls war dies für die drei Männer an Bord der Flea ein willkommenes Geräusch, obgleich seit Brennschluß nur fünf Minuten verstrichen waren. Ein unheimlicher Sprung stand ihnen bevor. Durch das große, gekrümmte Raumfenster sahen die Sterne aus wie Spinnenaugen in einem riesigen schwarzen Netz. Natürlich hätten Pyne oder Allison oder Ness summen oder sprechen oder ein paar Münzen oder Curio-Nuggets vom Mond in der Hand schütteln können. Aber im Raum gibt es Momente, wo solche absichtlichen Geräusche die Stille nur noch betonen wie Flüstern in einem Geisterhaus. Die gewaltige Ionenstrahlung der Sonne traf die Flea von hinten und war durch das Sichtfenster kaum zu bemerken. Nur da, wo das Fenster mit Staub bedeckt zu sein schien, sah man ein paar schwache, milchige Flecken. Vielleicht waren es nur diese falschen Nebel, die Ness zu seiner Bemerkung veranlaßten, nun, da das Schiff selbst sich geräuspert hatte wie ein altgedienter Kreuzfahrerkapitän, der das Zeichen zum Beginn der Unterhaltung gibt. Ness war sich selbst nicht klar darüber, was ihn auf den Gedanken gebracht hatte. »Ich frage mich, ob es vor dem Leben schon Leben
gab«, sagte er. »Ich meine in der Suppe irgendeines Stern-Planetensystems, das sich aus dem Urwirbel bildete. Alle erforderlichen Elemente müssen doch im Staub vorhanden gewesen sein. Und wenn dann die Hitze eines älteren Sterns – eines eng zusammenstehenden Doppelsterns – oder einer vorzeitigen Atomexplosion in der Hauptmasse die Elemente zum Leben erweckt hätte ... das könnte doch hier passiert sein. Pluto könnte die Asche eines weißen Zwerges sein.« Allison schüttelte den Kopf, aber sein Blick ging zu dem großen Nebel neben dem Schwert des Orion. »Die richtigen ökosphärischen Bedingungen würden niemals eintreten«, antwortete er säuerlich, »und auch keine hinreichenden Materiekonzentrationen.« »Und wenn doch«, meinte Pyne mit seiner volltönenden Stimme. »Was dann, Ness? Worauf wollen Sie hinaus?« »Nun, es würde sich eine Lebensform ergeben, die anders ist als die unsere«, erwiderte Ness stockend und fragte sich selbst, worauf er hinauswollte und warum. »Irgendwo zwischen der Erde und dem Weltraum geboren, könnte man sagen. In einem unwirtlichen Raummorast. Nicht planetengebunden. Eine Urform von Leben. Das Alte Leben, wenn wir das Neue sind. Ein andersartiges Leben mit anderen Fähigkeiten.« »Die alte Leier: Gibt es Leben im leeren Weltraum?« lachte Pyne laut, aber ohne Spott. »Auf dem Mond haben wir keines gefunden, obwohl wir wirklich tief gruben. Jedenfalls keines, das wir nicht selbst mitgebracht haben könnten.« »Ostwald nahm an, daß das Leben von anderswo-
her auf die Erde kam, nicht wahr?« fragte Ness. »Ein paar von den alten Knaben hatten ganz schlaue Ideen.« »Er dachte an vom Lichtdruck beförderte Bakteriensporen«, erklärte Allison. »Daran glaubt jetzt niemand mehr.« Er hielt inne. »Natürlich gibt es virales Leben in der Stratosphäre der Venus.« »Ich dachte eigentlich an etwas Größeres«, sagte Ness. »Ein Raum-Oktopus mit Tungsten-Gedärmen und einer besonderen Vorliebe für monoatomischen Wasserstoff? Ein lebendes Raumschiff von einem Phylum, das Linnaeus nur aus Alpträumen kannte?« lachte Pyne. »Sie sind am Yukon aufgewachsen, Ness. Manchmal, an einem Wintermorgen, sahen Sie von dem Blockhaus am nächsten Berg keinen Rauch aufsteigen, und fragten sich, ob ihre Nachbarn und ihre kleine Tochter von Wölfen gefressen worden seien. Jetzt reißt der Funkkontakt der Outward Bound mit der Mondzentrale ab, wir bekommen den Auftrag, der Sache nachzugehen, und nun haben Sie dasselbe Gefühl. Sie sind ein sensibler Bursche, Ness. Das erinnert mich an etwas in Ihren Akten.« »Irreguläre ESP«, sagte Ness angewidert. »Die Psycher fanden Zusammenhänge, wo ich keine sehe. Ein großer Gag.« Er kniff die Lippen zusammen. »Natürlich, natürlich«, stimmte Pyne wie beiläufig zu. Er sah Ness noch einen Moment lang an und warf dann stirnrunzelnd einen Blick auf die Sterne. Das Schiff war jetzt wieder ganz ruhig, sein Temperaturwechsel beendet. Ein paar Stäubchen tanzten in seiner sonnenbeschienenen Nase über den drei jetzt freien Sitzen. Die beiden kleinen Goldfische um-
kreisten einander unruhig in ihren grünlichen Kugeln im hinteren Teil des Schiffes, wo die Männer sich zu entspannen versuchten. Die Atmosphäre einer lange verlassenen Kirche war jetzt wieder eingekehrt. Die Sterne in ihren Zweier- und Vierergruppen direkt vor ihnen wirkten noch immer wie Spinnenaugen. Natürlich hat Pyne recht, dachte Ness. Er kennt meine Geschichte. Die Vorstellungskraft des Einsamen. Welche Idiotie der Psycher, die mich sogar daran zweifeln ließen, daß meine Gedanken mein Eigentum sind. Idiotische Pseudo-Sensibilität. Ich würde überhaupt nichts Unheimliches finden an diesem Sprung von einer toten Welt zu einem ungeborenen Schiff, das sie umkreist. Die Outward Bound, unser erstes Sternschiff, wird einfach deswegen in einer Umlaufbahn um den Mond gebaut, weil jetzt die Bergwerke, Eisenhütten und Walzwerke auf dem Mond arbeiten und es deswegen wesentlich billiger ist, Material von Luna zu holen statt von der Erde. Und nicht, um einen Schauereffekt zu erzielen. Dies ist das fünfte Mal, daß die Outward Bound nicht den vorgesehenen Funkkontakt herstellte. Dreimal waren Sonnenstürme der Grund gewesen. Und einmal zur Belustigung aller, ein schlichtes Versehen. Jedesmal, wenn wir nachschauten, waren die Leute vom Bauteam so munter in ihrer Kuppel wie Fische im Wasser. Wir hatten einen Überraschungsschlag der Russen oder des Kongo befürchtet, sicherlich aber ohne Grund. Die falschen Nebel und die Staubteilchen verschwanden. Die Flea war aus dem Licht der Sonne in den Erdschatten gefallen. Wieder begann sie, sich zu räuspern. Und erneut zog der simple Stimulus in Ness' Geist einen Vorhang zur Seite. »Ihre Vakuum-Oktopusse gefallen mir, Pyne«, sagte er nachdenklich. »Ich glaube sogar, daß leben-
de, in jungem Sternstaub geborene Wesen den interstellaren Raum überwinden könnten. Da sie bei schwacher Gravitation oder gar keiner existieren, würden sie länger leben als Wassertiere. Ihr Gewebe wäre so beschaffen, daß es Luftleere und Kälte aushielte. Die Lebewesen der Tiefsee sind so gebaut, daß sie positivem Druck standhalten; diese würden negativem Druck widerstehen. Ihr Mund und die anderen Körperöffnungen wären doppelt, wie Luftschleusen. Und wenn sie sich einmal in der interstellaren Dunkelheit auf ihrer Bahn befänden, würden sie überwintern oder komplett tiefgefroren werden. Tausend Jahre, eine Million, was würde das ausmachen? Die Zeit würde für sie stillstehen, bis ihr Zielstern sie wieder erwärmen würde.« Allison starrte ihn an. »Denken Sie ernsthaft an ein Lebewesen, das die Geschwindigkeit einer Rakete erreicht?« Jemand tut das, dachte Ness. Er sagte: »Sie wären so eine Art Tintenfisch. Pynes Idee. Wie eine Düse würden sie die Staubpartikel des Raumes, den sie durchrasen, aufnehmen und ausstoßen. Vielleicht könnten sie zusammenhelfen, um einem von ihnen die höchstmögliche Geschwindigkeit zu verleihen. Wie mehrstufige Raketen.« »Wie Akrobaten«, murmelte Pyne. »OktopusPyramiden.« »Lebende Segmente würden sich am unteren Ende ablösen«, stimmte Ness zu. »Aber sie würden gar keine so überaus hohen Geschwindigkeiten benötigen. Sie hätten ja Zeit. In Hohman'schen Minimalenergiebahnen würden sie sich von Stern zu Stern bewegen. Sie würden in der Bewegungsrichtung ihres
eigenen Sternsystems starten und sich dann an einen anderen Stern anhängen, der sich in der gleichen Richtung bewegt. Auf uns bezogen, würde das heißen, daß fremde Lebewesen – oder irgendein langsames Sternschiff – immer aus der Richtung von Lepus auf unsere Sonne zukommen würden.« »Aus dieser windigen Konstellation unterhalb von Orion? Warum ausgerechnet von dort?« fragte Pyne. »Weil das das entgegengesetzte Ende der Sternfelder des Herkules ist, der Konstellation, der sich Sol mit etwa zwanzig Kilometern pro Sekunde nähert. Alles, was sich langsam an Sol anhängt, würde von Lepus kommen. Wenn es mit etwa fünfzig Sekundenkilometern ankommt – durchschnittliche Sterne bringen es auf etwa dreißig – und sich in dem Augenblick an die Erde anhängt, wo die Erde auf ihrer Bahn an der Sonne vorbeizieht, würden sich die dreißig Sekundenkilometer der Erde und die zwanzig der Sonne zu den fünfzig des Neuankömmlings addieren. Er könnte in eine Kreisbahn um die Erde oder den Mond einschwenken, ohne überhaupt bremsen zu müssen.« »Aber bei einer Geschwindigkeit von fünfzig Sekundenkilometern würden interstellare Fahrten ja ewig dauern«, wandte Pyne ein. Ness schüttelte den Kopf. »Nur fünfundzwanzigtausend Jahre zu Alpha Centauri und eine und eine Drittel Million zu den Pleiaden. Solche Zeiträume wären aber Kleinigkeiten für die Lebewesen, die ich mir vorstelle.« »Die Zeiten können Sie wegen der verwickelten Bahnverläufe ruhig verdoppeln oder verdreifachen«, beharrte Pyne.
»Das wären vielleicht Geschöpfe!« knurrte Allison. »Und nach dem Motto ›je unwahrscheinlicher, desto besser‹ werden sie wohl ihren Kurs von Stern zu Stern mit Hilfe von Zauberei finden.« »Nicht mit Zauberei«, erwiderte Ness leise. »Wesen mit solcher Lebenszeit, deren Gedächtnis sich addiert, würden die Bewegung der Sterne wahrnehmen – wie die Goldfische da in ihrem Glas die langsame Bewegung von im Wasser schwebenden Fasern wahrnehmen. Ihr Auge wäre wie ein großes, weitwinkeliges astronomisches Teleskop. Sie würden es auf ihren Zielstern einrichten – unter Berücksichtigung des entsprechenden Vorhaltewinkels – und, zum absoluten Nullpunkt gefroren, ihren Weg dahin buchstäblich verschlafen.« »Ohne jede Kurskorrektur in einer Million Jahren?« Pynes Stimme war nicht spöttisch, sondern nur neugierig. Ness runzelte die Stirn, und er blinzelte ein wenig, als sei er müde. »Ein kleiner Teil ihres Auges würde vielleicht am Leben bleiben, gewärmt durch die Sonne, auf die es gerichtet ist. Die Retina und ein paar Nervenbahnen. Drei von ihren tintenfischartigen Düsen ...« »Was würde solche Wesen denn motivieren?« fragte Allison. »Neugierde, Abenteuerlust, Bedürfnis nach Wärme, wenn ihr eigener Stern erlöschen will«, erwiderte Ness und fügte dann noch hinzu: »Hunger.« Von der Pilotenkonsole ertönte ein Warnsignal. »Die Outward Bound ist nur noch eine halbe Stunde entfernt«, sagte Pyne. »Wir legen jetzt die Anzüge an, und Sie beide werden das Schiff armieren. Raum-
Raum-Raketen, Jet-Granaten mit Bordsteuerung – Sie wissen ja Bescheid.« Allison sagte: »Sie glauben doch nicht ...« sprach den Satz aber nicht zu Ende. »Ich glaube an die Gefahr«, sagte Pyne, »und vielleicht glaube ich auch Ness' Psychern ein wenig.« »Ich nicht«, protestierte Ness. »Dann hätten Sie uns nicht Ihre Träume erzählen sollen«, sagte Pyne. Sein Mund lachte, aber nicht seine Augen, als er nach seinem Raumanzug griff und hinaus zu den spinnenäugigen Sternen blickte. Eine kurze Verzögerungszündung, eine längere, eine Kurskorrektur, und die Flea hing neben der Outward Bound. Die drei Männer saßen jetzt angeschnallt, nebeneinander in der Steuerkanzel. Pyne auf dem Pilotensitz, Allison links von ihm an der Feuerleitstelle und Ness zu seiner Rechten mit dem heißen Mikrofon zur Mondzentrale. In der Bremsphase hatte die Flea sich umgedreht, so daß sie jetzt wieder dem Mond zugewandt waren. Kraterübersät war er jetzt auf der rechten Seite des Fensters zu sehen; die ihnen zugewandte Seite lag fast völlig im Sonnenlicht. Auf der anderen Seite hing die dunkle, sehr langsam rotierende Kugel, die außerhalb der Arbeitsstunden das Bauteam beherbergte. Die schwarzen Schleusen sahen fast unheimlich aus. Dazwischen erstreckte sich das riesig lange leere Skelett des Sternschiffes, das zu drei Vierteln bereits beplankt war. Weder die achtarmigen, »Spinnen« genannten Montagefahrzeuge noch irgendwelche Gestalten in Raumanzügen waren zu sehen. Ein Teil der Beplan-
kung schien nur lose befestigt zu sein und blitzte im Mondlicht. Das ganze wirkte nicht wie ein Bauprojekt, auf dem mit Hochdruck gearbeitet wurde und das noch vor einem viertel Tag mit der Mondzentrale Kontakt gehabt hatte. Die Stätte sah aus, als sei sie schon vor Jahrtausenden verlassen worden. Und dann kam rechts ein sanft schlingernder, runder Gegenstand in Sicht, der schließlich an das Sichtfenster stieß. Ein menschlicher Schädel. Die drei Männer bemerkten ihn gleichzeitig und starrten einen Augenblick lang wie vom Donner gerührt auf das elfenbeinfarbene, unterkieferlose Ding mit seinen großen schwarzen Augenlöchern und der dreieckigen Nasenöffnung. Das grausigste waren die Bewegungen, die er ausführte. Entweder war die Flea so dicht daran zum Halten gekommen, daß er sofort durch die winzige Gravitation des Mondschiffes angezogen worden war. Oder der Schädel hatte sich von selbst langsam auf das Mondschiff zubewegt. In beiden Fällen mußte er bereits langsam rotiert haben; anders war die Art, wie er jetzt vor dem Sichtfenster herumschlingerte, nicht zu erklären. Immer wieder stießen die Backenknochen gegen den Sichtschirm und verkehrten die Bewegungen in ihre Gegenrichtung, als schüttle der Kopf sich langsam oder als starrte er abwechselnd mit dem einen, dann mit dem anderen Augenloch, durch das von Zeit zu Zeit ein Stern funkelte, in die Kabine. Dadurch bemerkten sie die großen Löcher, die sich in der Ober- und Rückseite des Schädels befanden. In geringem Abstand dahinter trieb ein menschlicher Oberschenkelknochen.
Er drückt sich die Nase an der Scheibe platt, dachte Ness. Nein, er macht eine Schlingerbewegung wie der Mond. Warum sollte ein Schädel so viel menschlicher, fühlender aussehen als ein Gesicht? Unser gemeinsamer Nenner? Mineral mit Leben vermählt. Intelligenz in Stein geformt. Die erste aller Skulpturen. Berge und Hügel ... und der Mond. Das ist doch völlig unmöglich, dachte Allison, es sei denn, der Arzt des Bauteams hatte ein Skelett dabei. Im Weltraum verschwindet totes Fleisch nicht, ob der Mensch nun durch einen Unfall oder Krankheit ums Leben kommt. Nur auf der Erde findet man solche Knochen, wo sie durch Tiere aller Art vom Fleisch befreit, von Maden und Käfern gesäubert und von Mikroben und Wasser gebleicht werden. Im Weltraum verwest nichts, sicher vor Sauerstoff, Säuren und allem bis auf die winzigen Hämmerchen der Strahlung und ein paar verirrten Ionen und Staubteilchen. Dennoch ist dieser Schädel auch nicht die Spur rosa. Nur purer Knochen. Vielleicht ein Gefahrenzeichen, überlegte Pyne und dachte nicht mehr daran. Er versuchte, sich rasch einen Überblick zu verschaffen. In dem teilweise beplankten Schiff konnte sich etwas verstecken, aber er sah nichts. Er sah nur Knochen, dann einen weiteren Schädel, klein wie ein Zahn auf die Entfernung. Niemand schien hier mehr am Leben zu sein. Doch was er dann sah, ließ ihm das Blut in den Adern erstarren. Er schwenkte das Schiff nach links. Die Seite der dunklen Basiskugel, die sich ihnen jetzt langsam zukehrte, war deformiert. Sie war nach innen gedrückt, als hätte ein gewaltiger Karateschlag sie getroffen. Eine längliche Öffnung war in den
Äquator der Kugel gerissen. Drinnen nur Dunkel ... Nein. Im Mondlicht wurde etwas Langes, Gerades, Fahles sichtbar, in Sektionen aufgeteilt wie ein ausgezogenes Bandmaß, nur länger und wesentlich breiter. Das fahle Band weitete und verengte sich rhythmisch. Und jetzt erschien ein Stück über der Mitte des Bandes und hinter ihm in der Dunkelheit der zerschmetterten Kugel ein bleicher Kreis mit einem dunklen Zentrum, so groß wie der Brustkorb eines Mannes. Er wurde heller. Und dann, als dieses Auge – denn Pyne war plötzlich sicher, daß es ein einzelnes großes Auge war – als dieses Auge am hellsten war und direkt die Flea anstarrte, begann es, sich auf sie zuzubewegen, langsam zunächst, dann immer schneller, begleitet von dem weißen Band. Als das Ganze aus der Basiskugel herauskam, sah er, daß es ein rundes, flaches Objekt von etwa acht Meter Durchmesser und einem Meter Dicke war, mit einem einzigen Auge und einem Wall weißer Zähne an der Vorder- und einem Dutzend Düsen an der Hinterseite. Pyne hätte gar nicht sehen können, daß es kreisförmig war, wenn seine Finger nicht automatisch die Düsen der Flea betätigt und so das kleine Schiff veranlaßt hätten, dem verderbenbringenden Schlag auszuweichen. Das stumpfgraue Fleisch des Wesens fuhr jetzt unter der Flea hindurch – genau in das Feuer ihrer Düsen hinein – als zwei graue, gefurchte Arme neben dem großen Auge ausschlugen wie aus großer Spannung entlassene stählerne Kabel. Sie schlangen sich um die Flea, schnitten sich ein in ihre doppelte Hülle. Eine starke Vibration ging durch das Schiff, die
Raumanzüge, die Männer. Dann kippte die Flea vornüber, so daß alle drei direkt auf die Kreatur hinunterstarrten. In diesem Moment schrie Allison: »Maske!« und feuerte sämtliche Bugraketen ab. Die Explosion, kaum zehn Meter entfernt, erschütterte die Flea und blendete fast die drei Männer, trotz der Polarisierung ihrer Visiere. Dennoch, die Detonation zerriß die Fangarme nicht, schüttelte sie nicht ab, und als die Männer wieder zu sehen vermochten, erblickten sie eine Kreatur mit vier klaffenden, metergroßen Löchern darin, die sich immer noch mitten im Feuerstrom der Düsen der Flea befand. Und dann zog sich die Kreatur durch die gelben Flammen nach oben und umfaßte die Flea. Allison feuerte die noch verbliebenen Düsengranaten ab. Die Haut des Schiffes warf Blasen nach innen. Die Wände der schlingernden, taumelnden Flea drohten einzuknicken. Allison zündete, was er noch hatte, Pyne stellte die Düsen auf volle Kraft – und plötzlich waren die Konvulsionen vorüber. Was noch am Sichtfenster hing, waren Teile der Vorderseite der Kreatur, die Hautfetzen dick wie Panzerplatten die inneren Gefäße wie riesige Rohre. Da waren die Stummel der Fangarme und das große weiße Maul darunter – ein Maul, das, wie sie jetzt sahen, doppelt war mit je einer Zahnreihe vorn und hinten. Die vordere Reihe ging noch schwach auf und zu und kratzte ein wenig an der Scheibe. Ness mußte an den schlingernden Schädel denken. Und da war das Auge. Hornhaut und Linse hatte die Explosion weggerissen, so daß die schwarze Netzhaut offenlag. Auf ihr waren weiße Spuren zu
sehen, deren Muster sie jetzt langsam erkannten: Das Sternbild des Hercules, und darum herum der Drache, Corona Borealis, ein Teil von Ophiuchus und die Leier mit der Großen Vega. In der Mitte war ein weißer Kreis, großer als alle anderen – ein Stern, der nicht dazu paßte, außer es war die Sonne, von der Saturnbahn aus gesehen. Dort mußte die Kreatur erwacht sein, schloß Pyne. Die weißen Spuren waren nichts anderes als eine Art Vernarbung – Spuren von Licht, das sich Äonen lang hier eingebrannt hatte. Die meisten der Lichtnarben waren jedoch keine Punkte, sondern Linien. Die Sternbewegung der letzten Viertelmillion Jahre hatte sich eingezeichnet. »Das war wirklich Ihr fremdes Wesen, Ness«, mußte er einräumen. Ness nickte. »Eines von ihnen«, sagte er leise.
Originaltitel: CYCLOPS Copyright © 1965 by Galaxy Publishing Corp.
Brian W. Aldiss EIN FAIBLE FÜR DOSTOJEWSKI Er war jetzt fast beim Raumschiff, war die Kraterwand hinuntergerutscht und stolperte nun über die paar Meter Felsgestein, hinter denen es Sicherheit gab. Er bewegte sich unbeholfen wie jemand, der sich mit geringer Gravitation abmühen muß, die behandschuhten Hände vor sich ausgestreckt. Ungeschickt stieg er über die Felszacken und stürzte zu Boden. Das Kniegelenk seines Raumanzugs schlug auf den Felsen und platzte auf. Immer noch taumelnd, griff sich der Mann ans Knie und versuchte verzweifelt, die Sauerstoff-StickstoffVerbindung am Entweichen zu hindern. Aber Rettung war nahe. Vom Schiff aus hatte man seinen Weg verfolgt. Die Schleuse öffnete sich. Zwei Männer in Raumanzügen ließen sich auf die Mondoberfläche herab und eilten zu dem Gestürzten. Sie packten ihn und zogen ihn ins Schiff zurück. Die Schleuse ging wieder zu. Die Zuschauer applaudierten heftig; sie mochten die alte Platte. Im Schiff löste sich die Spannung der beiden Retter; sie ließen sich auf Sesseln nieder und steckten sich Meskahales an. Eddie Moore lag keuchend auf dem Boden. Dieses Mal war es knapp gewesen. Er hatte schon geglaubt, sie würden überhaupt nicht mehr kommen. Ganz langsam setzte er sich auf und nahm seinen Helm ab. Die anderen hatten inzwischen bereits die Kabine verlassen; nur noch ein paar Techniker waren hinter der Bühne und räumten auf.
Immer noch schwer atmend, kam Moore auf die Beine und machte sich auf den Weg zur Garderobe. Die geringe Gravitation des Mondes störte ihn nicht – er lebte hier, seit seine Mutter vor drei Jahren gestorben war. Als er sich umgezogen und seinen Alltags-Overall angelegt hatte, machte er sich auf zum SchauspielerAusgang. Auf halbem Wege änderte er seine Absicht und kletterte durch die Luftschleuse des Raketenschiffs hinunter – es war eine Imitation eines Baumusters aus dem 20. Jahrhundert. Die große Halle hatte sich jetzt fast geleert; nur noch ein paar Zuschauer befanden sich auf der Galerie am gegenüberliegenden Ende und bewunderten die geschickt angelegte Mondlandschaft. Eddie arbeitete sich durch den falschen Bimsstein, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen. Seltsam: Erst mußte die ganze Mondoberfläche bebaut und mit künstlicher Atmosphäre versehen sein, daß sich die Menschen des großartigen ästhetischen Vergnügens erinnerten, das ihnen die ursprüngliche Landschaft des Mondes bereitet hatte. Jetzt hatten sie sie hier mit künstlichen Materialien nachbauen müssen. So ging es in der Welt. Das Publikum schätzte seine allabendliche Vorstellung als sterbender Raumfahrer gar nicht richtig: Er schlüpfte so sehr in seine Rolle, daß er wußte, er würde eines Tages, Sauerstoff atmend, an Sauerstoffmangel sterben. Und dann gab es noch Leute mit mehr Urteilsvermögen, die den Namen Eddie Moore im Gedächtnis behalten und wissen würden, daß sie einmal einem großen Künstler begegnet waren. Als er wieder aufschaute, sah er eine einsame Ge-
stalt auf einem Felsrücken stehen und gedankenverloren in den falschen Himmel starren. Er erkannte Cat Vindaloo, den pakistanischen Direktor ihrer Schau, und rief ihm einen Gruß zu. Cat nickte säuerlich und veränderte seine Position ein wenig, ohne indessen einen Schritt auf Moore zuzugehen. »Heute abend ist es gut angekommen«, sagte Moore. »Es ist ihnen immer noch das Geld wert«, sagte Cat. »Ihr Problem ist, daß Sie von der Idee besessen sind, ein Versager zu sein, Cat. Das müssen Sie wirklich vergessen. Wenn irgend etwas bei der Schau nicht stimmt, dann das, daß sie zu realistisch ist. Ich persönlich hätte lieber ein etwas weniger ergreifendes Ende – vielleicht ein großes Finale, wo die ganze Mannschaft vor dem Schiff antritt und sich verbeugt. So wie man es Ende des letzten Jahrhunderts tat.« Als holte jemand die Worte mit Gewalt aus ihm heraus, sagte Cat: »Sie fangen schon wieder an, zu chargieren, Eddie.« Moore begriff, daß der Regisseur nicht zufällig hier stand. Er wußte, daß Moore es oft vorzog, nach der Vorstellung den schwierigen Weg nach Hause zu nehmen. »Ich muß Ihnen sagen, daß ich der einzige von der ganzen verdammten Truppe bin, der sich immer noch richtig in seine Rolle reinschmeißt. Sie haben gar keine Vorstellung, was für eine Art Leben ich führe, Cat! Ich bin ... ja, ich bin ein Besessener wie eine Figur von Dostojewski. Ich liebe meine Rollen. Mein Leben besteht nur aus Rollen. Manchmal weiß ich wirklich kaum, wer ich eigentlich bin ...« Er bemerkte, daß
Cats Miene einen abwesenden Ausdruck anzunehmen begann, und packte ihn an der Kleidung, um sich seine Aufmerksamkeit wieder zurückzuholen. »Ich weiß, ich erzähle Ihnen das nicht das erste Mal. Aber es ist wahr! Hören Sie, manchmal wird es so schlimm – manchmal bin ich Sie – ich meine, manchmal schlüpfe ich irgendwie in Ihre Rolle, weil ich mir so viele Gedanken über Sie mache. Im Grunde habe ich vielleicht Angst – ich weiß, daß das albern ist – habe ich Angst, daß Sie mich aus der Besetzungsliste streichen. Ich muß Ihnen das sagen, obwohl es natürlich unangenehm für uns beide ist. Ich ... spüren Sie nicht manchmal daß ich Sie bin?« Cat wirkte nicht sonderlich unangenehm berührt, was Moore ein wenig aus der Fassung brachte. »Natürlich habe ich bemerkt daß Sie aus dem Gleichgewicht geraten waren, Eddie. Wir stecken alle in dieser Mühle, und warum sollte ich Ihnen nicht eingestehen – da Sie ja jedes Wort vergessen müssen, daß ich Ihnen sage –, daß es meine Besonderheit ist, jede Art von Beleidigung die man auf mir abzuladen beliebt, hinzunehmen. Vermutlich errege ich deswegen Ihre Aufmerksamkeit; das ist mein Schicksal. Aber ich verstehe in keiner Weise, wieso Sie glauben, ich zu sein.« »Wenn Sie das nicht verstehen, dann hat es auch keinen Sinn, es zu erklären. Was ich sagen wollte, war dies. Obwohl ich von beiden Elternteilen her Engländer bin, glaube ich manchmal tagelang, ein Inder zu sein wie Sie!« »Wie ich Ihnen schon oft erklärt habe, Eddie, bin ich Pakistani. Das ist wieder Ihre besondere Art, mich zu beleidigen nicht wahr. Sie nutzen den Umstand
aus, daß ich dieses fundamentale Bedürfnis habe, mich beleidigen zu lassen. Wie können Sie hier wie ein Inder leben? Und überhaupt, was geht das mich an? Es ist ja Ihr Leben, und wenn Sie wollen, können Sie auch einen Narren aus sich machen!« »Gerade dies würde ich bestreiten, wenn Sie imstande wären, richtig zu argumentieren. Inwieweit gehört unser Leben denn uns? Wo leben wir? Wer lebt uns? Wer sind wir? Aber ausgerechnet Ihnen derlei philosophische Fragen zu stellen ... pah, das ist wirklich lächerlich! Ich muß von Sinnen sein!« »Das wahrste Wort, das ich seit Monaten von Ihnen gehört habe! Sie sind verrückt!« »Nennen Sie mich nicht verrückt!« Die beiden winzigen Gestalten standen sich in der ausgedehnten künstlichen Landschaft gegenüber. Plötzlich warf sich einer von ihnen auf den anderen. Einen Augenblick lang rangen sie miteinander und stürzten dann zu Boden, rollten übereinander und packten sich gegenseitig an der Gurgel. Sie wurden ruhiger. Endlich stand einer von ihnen auf. Zunehmend die Kontrolle über seine Bewegungen wiedergewinnend, stolperte er auf den Ausgang zu und rannte dann plötzlich los, um den Schauplatz des Kampfes so schnell wie möglich zu verlassen. In seinem Appartement ging er sofort in den kleinen Waschraum hinter dem Praxiszimmer und ließ sich Wasser über Gesicht und Hände laufen. Lange Zeit stand er so da, über das Becken gebeugt, seine Wangen mit kaltem Wasser benetzend. So unsinnig war das Leben, daß es um so schwieriger war, es ernst zu nehmen, je ernster es wurde.
Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr belustigte ihn die Vorstellung. Als er sich mit einem flauschigen weißen Handtuch abtrocknete, lachte er laut. Der Mond, ja! Das 22. Jahrhundert! So komisch das alles war, diesem Unsinn mußte ein für alle Male ein Ende gesetzt werden. Ganz klar, er mußte jetzt Stephane sehen. Er rollte die Hemdsärmel wieder hinunter, ging durch den Praxisraum und den Korridor zur Wohnungstür. Durch die beiden Rillenglasscheiben hindurch konnte er erkennen, daß draußen ein schöner Sommerabend war. Es war schon neunzehnfünfzehn vorbei, aber die Sonne schien noch hell und stand ziemlich hoch am Himmel. Er hielt inne. Draußen vor der Tür würde er das Messingschild sehen, auf dem stand, daß hier ein Zahnarzt praktiziere. Und wie würde der Name darauf sein – Vindaloo oder Morré? Er zögerte. Morré, hoffte er. Er öffnete die Tür. Auf dem Messingschild, das der Hausmeister am Morgen poliert hatte, stand sein Name: Morré. Erleichtert atmete er auf. Neben dem Schild klebte eine Karte mit seinen Sprechstunden. Außerdem wurden seine Patienten auf Französisch und Flämisch daran erinnert, ihre Krankenscheine mitzubringen. Er schlenderte die Seitenstraße hinunter zur Hauptstraße, wo es mit der Ruhe sofort vorbei war. Auf dieser belebten Straße gab es viel Durchgangsverkehr, häufig internationalen Verkehr von Frankreich nach Holland oder Deutschland. Durch eine Unterführung erreichte Morré die andere Straßenseite und war bald bei dem Haus, wo Stephane wohnte. Unterwegs kaufte er ihr in einem kleinen Blumenla-
den einen Strauß blauer Kornblumen; sie würden die Wirkung dessen, was er zu sagen hatte, abschwächen. Stephane wohnte über einem Taschenbuch- und Zeitschriftenladen in einer Wohnung, die sie mit zwei weiteren jungen Belgierinnen teilte – beide waren glücklicherweise gerade auf Urlaub gefahren. Von ihrem kleinen Wohnzimmer aus hatte man einen hübschen Blick über die niedrigen Dünen vor einer breiten Bucht. »Du kommst sehr spät heute abend, Eddie«, sagte sie lächelnd, als sie ihn einließ. »Vielleicht, aber warum machst du mir deswegen Vorwürfe? Ich bin ja der Leidtragende, nicht wahr – jedenfalls hätte ich das gedacht, wenn du mich auf liebenswürdigere Art begrüßt hättest.« »Eddie, sei doch nicht so! Ich hab dir doch keine Vorwürfe gemacht, Liebling!« Sie stand auf den Zehenspitzen, wie er es schon oft bei ihr bemerkt hatte. Sie war klein und gut gewachsen und trug ein hübsches blaues Kleid, das gut zu den Kornblumen paßte. Sie sah sehr sexy aus, wenn sie so dastand. »Bitte stell dich nicht so auf die Zehenspitzen«, sagte er. »Du möchtest mich doch nur drankriegen.« »Bestimmt nicht, Liebling – und ich habe gar nicht bemerkt, daß ich auf den Zehenspitzen stand, das schwör ich dir. Macht es dir etwas aus, wenn ich auf den Zehenspitzen stehe? Eigentlich gilt das nicht als unschickliche Stellung; aber wenn dir das nicht gefällt, verspreche ich dir, es nicht mehr zu tun.« »Und jetzt möchtest du mir schöntun! Du weißt, daß mir nichts so unangenehm ist, wie wenn mir jemand um den Bart streicht! Warum kannst du nicht mit mir reden wie mit einem Menschen?«
Sie ließ sich dekorativ in einen breiten Lehnstuhl sinken. »Ach, glaube mir, wenn du ein vernünftiges menschliches Wesen wärst, dann würde ich mich wirklich bemühen, entsprechend mit dir zu reden. Aber du bist absolut beknackt, nicht wahr, Eddie?« Er hatte eine brillante Idee. Das würde sie umschmeißen. »Ja, du hast mein Geheimnis entdeckt: Ich bin beknackt.« Ohne unangebrachte Hast nahm er die Kornblumen, die vor ihm auf dem Tischchen standen, und aß sie eine nach der anderen auf. Dann wischte er sich die Hände an seinem Taschentuch ab. »Ich bin beknackt, und darüber wollte ich mit dir heute abend reden.« »Ich muß jetzt gleich weg, Eddie ...« Sie sah aus, als sei sie der Ohnmacht nahe. Als er sich neben sie auf den brokatbezogenen Lehnstuhl setzte, der ein Erbstück von ihrer flämischen Großmutter war, wurde ihr Gesichtsausdruck einigermaßen starr, und sie sagte nichts mehr. »Was ich dir sagen wollte, Stephane, und weswegen ich eigens herübergekommen bin: Ich fürchte, daß wir unsere Verlobung auflösen müssen. Es ist nicht so sehr, daß wir nicht zusammenpassen, obwohl das auch ein Gesichtspunkt ist. Vielmehr scheine ich überhaupt nicht zu wissen, in welchem Jahrhundert ich lebe – woraus wohl folgert, daß ich nicht einmal weiß, in welchem Land ich lebe – was wiederum bedeutet, daß ich nicht weiß, welche Sprache ich spreche oder welcher mein Name ist. Tatsache ist, daß ich nicht einmal weiß, auf welchem Planeten ich mich befinde – ob auf dem Mond, der Erde oder dem Mars.« Durch das Fenster deutete Stephanie zur Küste
hinunter, wo zwei Jachten langsam dahinsegelten. »Aber du siehst doch selbst: Sieht das wie auf dem Mars aus? Du bist an dieser Küste geboren. Und du erkennst die Nordsee, wenn du sie siehst, nicht wahr?« »Unterbrich mich nicht! Natürlich sehe ich, daß das die verdammte Nordsee ist ...« »Also, dann red doch nicht so dumm daher! Wirklich, Eddie, allmählich habe ich genug von dem Blödsinn! Jeden Samstag abend kommst du hierher und löst unsere Verlobung auf ...« »Aber nein! Noch niemals habe ich sie aufgelöst, obwohl ich schon oft drauf und dran war!« »Doch tust du das! Oder du weißt nicht mehr, was du tust! Glaubst du vielleicht, daß mir das gefällt? Ich habe auch meinen Stolz! Wenn ich auch gefühlvolle Szenen genauso gut vertrage wie jedes andere Mädchen ... Manchmal glaube ich sogar, sie gefallen mir auf irgendeine komische Weise. Vielleicht bin ich selber schon komisch ...« Er fuhr mit der Faust unter ihrer Nase hin und her. »Keine Selbstanalyse, bitte, jedenfalls nicht, solange ich spreche! Interessierst du dich überhaupt für mich oder nicht? Und wer bin ich? Wer bin ich denn? Die ewige Frage des Menschen nach seiner Identität ... Nur traurig, daß mir beim Versuch ihrer Beantwortung nur solche Partner helfen wie du.« »Wenn du beleidigend werden willst, kannst du gehen, Eddie Morré! Ich weiß ganz genau, was mit dir nicht stimmt; du brauchst nicht zu glauben, daß ich kein Mitgefühl habe, nur weil ich es nicht so zeige. Du hast dir diese nette kleine Zahnarztpraxis aufgebaut, damit du genügend Geld hast, um mich an-
ständig ernähren zu können, wenn wir verheiratet sind. Aber die viele Arbeit hat deinem Hirn geschadet. Armer Eddie! Was du jetzt brauchst, ist ein wenig Ruhe. Die Phantastereien vom Mars oder dem Mond sind nur Fluchtträume deines überhitzten Cerebellums, die dich daran erinnern, wie notwendig du Entspannung und Erholung brauchst. Du weißt doch, wie verdammt ruhig es auf dem Mars ist.« Tränen traten in seine Augen. Sie schien wirklich mit ihm zu fühlen. Vielleicht war ihre Erklärung richtig. Gerührt legte er seine Arme um sie und versuchte, sie zu küssen. »Bitte! Dein Atem stinkt nach Kornblumen!« Die beiden Gestalten in dem winzigen Raum starrten sich an. Von göttlichem Zorn erfüllt, packte er sie noch fester. Sie versuchte, sich ihm zu entwinden. Der Stuhl kippte um, sie rollten auf den Boden, einander den Hals umfassend. Nach einer Weile wurden beide still. Dann stand eine der Gestalten auf und eilte aus dem Appartement, die Tür hastig hinter sich zuschlagend. Unzweifelhaft bedurfte er jetzt irgendeiner Form der Reinigung. Als es dunkel geworden war, zog er sauberes Zeug an und machte sich auf den Weg zur Leichenverbrennungsstätte der Hindus. Wie gewöhnlich stand und lag eine Anzahl Bettler am Tempeleingang; er spendete ihnen großzügiger als sonst. Die Luft im Tempel war stickig, obwohl eine kühle Brise über den Boden wehte und die winzigen Lichter der Gläubigen zum Flackern brachte. Es waren nicht viele an diesem Abend, so daß sie in der gewaltigen, düsteren heiligen Halle wie ein kleiner Insekten-
schwarm wirkten. E. V. Morilal warf sich zu Boden und blieb geraume Zeit so liegen, die Stirn gegen den Stein gepreßt. Er erlaubte seinen Sinnen, fortzuschweifen durch Generationen hindurch, die mit feierlichen Gebärden der Ehrerbietung Füße und Stirnen gegen diesen Stein gepreßt hatten. Schließlich erhob er sich wieder und ging durch den Tempel hin zur Verbrennungsstätte. Die undefinierbar durch den Tempel wehenden Gerüche waren jetzt deutlich zu unterscheiden: Holzrauch, brennende Spezereien und der faulige Ganges, der in trägem Fluß seine uralte Bürde von Heiligkeit, Krankheit und Schmutz vorbeitrug. Wie immer waren ein paar Menschen anwesend, Männer und Frauen, die von den Stufen aus in ihren Kleidern badeten und ihre Götter anriefen, wenn sie in die braune Flut hineintauchten. Morilal ging zum Ufer, schöpfte eine Hand voll Wasser daraus, schüttete es sich über seinen rasierten Schädel. Als es in seine Kleider hinunterrann, hatte er ein angenehmes Gefühl. Es war eine lärmende Szene. Boote fuhren auf dem Fluß dahin, und von der Brücke her hörte man Rufe und Schreie von Kindern und jungen Leuten. Manche von ihnen hatten Transistorradios. Hallo! Zurück im 20. Jahrhundert! dachte Morilal scharf. Unruhig ging er zwischen den Holzstößen hin und her, von denen einige erst um Mitternacht angezündet werden würden. Andere waren schon niedergebrannt, und von ihrer menschlichen Fracht war nichts mehr übrig geblieben als ein wenig im Luftzug treibende Asche oder ein widerspenstiges Stück Schen-
kelknochen. Trauernde kauerten bei den meisten Feuerstätten, die einen schweigend, die anderen laut wehklagend. Er suchte weiter nach seiner Mutter. Vor drei Jahren war sie gestorben; sie mußte schon lange eingeäschert worden sein. Sein alter Freund, Professor Chundaprassi, ging, auf einen Stock gestützt, langsam auf und ab. Er nickte Morilal zu. »Es wäre mir eine Ehre und ein Vergnügen, mich Ihnen anschließen zu dürfen, Professor – wenn ich nicht gerade eine Meditationskette unterbreche.« »Sie unterbrechen nichts, mein Freund. Tatsächlich wollte ich Sie gerade fragen, ob Sie mir das Vergnügen Ihrer Gesellschaft machen würden, doch fürchtete ich, Sie könnten gerade im Begriffe sein, ein wenig zu trauern.« »Nein, nein, wenn ich jemand zu betrauern habe, dann nur mich selbst. Sie wissen vielleicht, daß ich eine Weile verreist war?« »Ich bitte um Vergebung, aber dessen wurde ich nicht gewahr. Sie erinnern sich, daß ich Sie noch gestern im Bahnhof grüßte. Waren Sie inzwischen verreist?« An Chundaprassis Seite schritt Morilal jetzt langsam durch Pfützen und nasse Asche. Plötzlich blieb er verwirrt stehen und starrte in das von tausend Falten durchzogene Gesicht des anderen. »Professor – Sie sind doch ein Professor, und deshalb verstehen Sie vieles, was oberhalb des Begriffsvermögens normaler Menschen wie mir liegt – wenngleich ich im selben Moment, da ich ›normaler Menschen wie mir‹ sage, mir meiner eigenen Außerordentlichkeit bewußt bin. Ich bin ein einzigartiges We-
sen ...« »Natürlich, natürlich, und man kann das wirklich gar nicht genug betonen. Keine zwei Menschen sind gleich! Es gibt tausenderlei Eigenschaften, wie ich seit jeher sage ...« »Ganz recht, aber ich spreche gar nicht von Eigenschaften, wenn Sie mir die ungehörige Weise verzeihen wollen, in der ich Sie unterbreche, wo Sie doch gerade im Begriffe sind, hochinteressante, wenn auch etwas weitschweifige Ausführungen zur Psychologie des Menschen zu machen. Verzeihen Sie bitte auch, wenn ich wie eine Dostojewskische Romanfigur zu sprechen scheine – ich bin nur in jüngster Zeit geradezu besessen von ...« »Dostojewski? Dostojewski?« Der Professor kratzte sich den Kopf. »Natürlich kenne ich die Hauptwerke des russischen Romanciers. Aber im Augenblick will mir nicht einfallen, welcher seiner Romane in Benares spielt, und sei es nur teilweise.« »Sie verstehen mich falsch – unbeabsichtigt, des bin ich sicher, da Ihnen Sarkasmus zweifellos fernliegt. Aber ich sitze nun einmal in der Klemme, Professor, und wenn Sie nicht helfen können, dann hol Sie der Teufel! Mein Problem liegt darin, daß mein Ego, oder mein Bewußtsein oder irgendso etwas, nicht in Raum oder Zeit fixiert ist. Können Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich noch vor ein paar Stunden ein belgischer Zahnarzt in einem Seebad war?« »Erlauben Sie mir, Ihnen gute Nacht zu wünschen, mein Herr!« Der Professor wollte schon weggehen, als Morilal ihn am Arm packte. »Professor Chundaprassi! Bitte sagen Sie mir, warum Sie so plötzlich fortwollen!«
»Sie glauben, Sie seien ein Weißer! Ein weißer Belgier! Unzweifelhaft sind Sie das Opfer einer schrecklichen Halluzination als Folge dessen, daß Sie zuviel in der Zeitung über Rassenschranken gelesen haben. Als nächstes werden Sie womöglich ein Neger sein! Gute Nacht!« Er riß sich von Morilal los und ging eiligen Schrittes davon. »Ich werde ein Neger sein, falls es mir paßt, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen!« rief Morilal laut. »Ich beglückwünsche Sie, mein Herr! Sie haben völlig recht, wenn Sie in solchen Angelegenheiten nach Wunsch und Belieben verfahren!« Einer der Badenden war es, der sprach, ein fetter Mann, der jetzt kräftig seine schwabbelige glänzende Brust einölte. Morilal hatte bemerkt, daß er seinem Gespräch mit dem Professor aufmerksam zugehört hatte, und hatte den Mann gleich unsympathisch gefunden. »Was halten denn Sie davon?« fragte er. »Mehr, als Sie vielleicht vermuten! Es gibt viele Menschen wie Sie, mein Herr, die von einer Persönlichkeit in die andere übergehen können, so wie ein Schmetterling von einer Blume zur anderen flattert. Ich selbst war erst gestern noch eine schöne junge Japanerin von nur zwanzig Jahren mit einem kleinen, überaus wohlproportionierten Körper, und ein Liebhaber von zweiundzwanzig mit bemerkenswertem Feuer.« »Welche schmutzige Phantasie Sie haben, Sie fetter alter Bengale!« Mit diesen Worten sprang er auf ihn los, aber der Mann stellte ihm geschickt ein Bein, wich allerdings nicht rechtzeitig zurück, so daß Morilal ihn im Fallen mitriß. Sich gegenseitig an der
Gurgel packend, rollten sie zusammen die glitschigen Stufen hinunter in den Ganges. Er arbeitete sich ans Ufer. Eine Weile lag er da mit pochendem Schädel und glaubte, er hätte erneut einen epileptischen Anfall gehabt. Ein paar Bruchstükke der Vergangenheit fielen ihm wieder ein. Er lag unter einer steinernen Brücke am Ufer eines seichten Flüßchens. Als er sich aufgerappelt hatte, sah er, daß der Wasserlauf ein Städtchen durchschnitt. Der Ort schien verlassen zu sein, so leer und so still, daß er fast künstlich wirkte. Langsam ging er die gewundene Straße entlang und starrte auf die kleinen, steinernen Häuser mit ihren sauberen Gärten. Ohne jemanden gesehen zu haben, erreichte er das andere Ende der Straße, wo die Gebäude aufhörten und das freie Gelände wieder anfing. Das einzige, was sich geregt hatte, war eine alte Katze gewesen, die verdrießlich durch einen Garten geschlichen war. Als er den Weg, den er gekommen war, zurückschaute, sah er, daß er gerade an einem unauffälligen Gebäude mit der Aufschrift POLIZEIWACHE vorbeigegangen war. Minutenlang starrte er es an, schritt dann rasch darauf zu, öffnete die Tür und ging hinein. Ein stattlicher Mann mit hängendem grauen Schnauzbart saß zeitunglesend hinter einem Schalter. Er trug eine grüne Uniform. Als sich die Tür öffnete, sah er auf, nickte höflich und legte seine Zeitung weg. »Was kann ich für Sie tun?« »Ich möchte einen Mord melden. Eigentlich drei Morde.« »Drei Morde! Sind Sie sicher?«
»Nicht direkt. Ich weiß nicht, ob ich die betreffenden Personen umgebracht habe oder nicht, aber die Sache bedarf der Überprüfung. Einer war ein Freund von mir, ein Produzent; außerdem war es meine Verlobte und ein armer schwarzer Mann in Indien. Ich kann Ihnen ihre Namen nennen. Zumindest glaube ich, daß ich sie noch weiß. Außerdem wären da noch Ort und Zeit ...« Seine Stimme erstarb. Er sah, daß es schwierig sein würde. Sein Gedanke war gewesen, Hilfe zu suchen; vielleicht war es kein weiser Gedanke gewesen. Und war er irgendwann einmal jemand anderer gewesen, oder war alles nur die Ausgeburt eines Fiebers? Der Polizist kam langsam um den Schalter herum und ordnete seine Gesichtszüge, bis sie vollkommen ausdruckslos waren. »Sie haben sehr interessante Ideen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Ihnen einige Fragen stelle, bevor Sie fortfahren? Gut. Sie wissen nicht, so sagen Sie, ob Sie diese unbekannten Personen getötet haben oder nicht?« »Ich ... ich habe Bewußtseinslücken. Ich bin niemals ich selbst. Ich scheine mich in eine Menge verschiedener Persönlichkeiten zu transformieren. Gehen Sie ruhig davon aus, daß ich sie wirklich getötet habe.« »Wie Sie meinen. Was mich zur nächsten Frage bringt. Was meinten Sie mit einem ›schwarzen Mann in Indien‹?« »Es war, wie ich sagte. Er war sehr schwarz. Es soll keine Beleidigung sein – so war einfach die Tatsache. Ein recht amüsanter Mann, wenn ich's mir jetzt überlege, aber schwarz.«
»Seine Kleider waren schwarz?« »Seine Kleider waren weiß. Er war schwarz. Seine Haut. Großer Gott, Mann, Sie starren mich an ... Sie wissen doch wohl, daß die Leute in Indien ziemlich dunkel sind?« Tatsächlich starrte ihn der Polizist mit ratloser Verblüffung an. »Ihre Haut ist dunkel, sagen Sie?« »Beleidige ich Sie denn damit in irgendeiner Weise? Es ist ja nicht meine Idee, vergessen Sie das nicht. So wie es dem lieben Gott gefiel, Sie und mich in diesen ziemlich unattraktiven rosa-weiß-grauen Ton zu fassen, machte er die Inder mehr oder weniger braun und die Neger mehr oder weniger schwarz. Sie wissen doch wohl, daß Neger schwarz sind?« Der Polizist schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie sind verrückt! Bei Gott, Sie sind völlig verrückt! Neger sind genauso weiß wie Sie.« »Sie meinen die Neger in Afrika?« »Die Neger überall! Hat man schon einmal von einem schwarzen Neger gehört?« »Das Wort selbst bedeutet doch schwarz. Es kommt aus dem Lateinischen oder so.« »Es ist griechischen Ursprungs und bedeutet ›groß‹!« »Sie lügen!« »Sie Einfaltspinsel!« Der Polizist packte seine Zeitung und glättete sie verärgert mit der Faust. »Passen Sie auf, ich lasse Sie etwas lesen! Das wird Ihnen Ihre Stupidität beweisen! Kommt hier herein und macht seine witzlosen Scherze mit mir! Sie wollen wohl ein Intellektueller sein, wie?« Er blätterte die Zeitung durch. Moore sah kurz das Titelblatt mit der Aufschrift The Alabama Star und
starrte dann ungläubig den Polizisten an. Zum erstenmal bemerkte er, daß die Gesichtszüge des Mannes eindeutig negroid waren, obgleich seine Haut weiß und sein Haar blond und glatt war. Er stöhnte erschrocken auf. »Sind Sie ein Neger?« »Natürlich. Und jetzt sehen Sie sich diese Meldung an: Brand in Neger-Universität. Dann das Bild hier. Sehen Sie auch nur einen einzigen Neger mit schwarzer Hautfarbe? Was ist denn überhaupt in Sie gefahren?« »Berechtigte Frage. Vielleicht könnten Sie aufhören, mich so am Hemd zu packen – mir scheint, Sie haben da etwas Brusthaar erwischt. Danke. Ich versuche durchaus nicht, mich über Sie lustig zu machen. Ich muß in einem ... ja, ich muß in einem anderen Universum oder so etwas sein. He, vielleicht machen Sie sich über mich lustig! Wollen Sie wirklich behaupten, daß die Leute in Afrika und Indien und so weiter dieselbe Hautfarbe haben wie wir?« »Wieso sollten sie eine andere Hautfarbe haben? Können Sie mir das sagen?« »Wo ich herkomme, hatten sie eine andere.« »Aber das ist doch einfach nicht möglich! Wie sollte das möglich sein?« »Ich weiß es auch nicht! Ich glaube, es hat irgendwie mit Geschichte zu tun. Die eine Rasse ist weiß, die andere gelb, eine andere braun, eine andere schwarz.« »Tolle Idee! Und Sie sagen, daß diese Differenzierung im Lauf der Geschichte passierte. Wann?« »Das habe ich nicht gesagt! Sie geschah vor sehr langer Zeit ... also, ich weiß nicht, wann.«
»Dann haben sich Ihre Menschen wohl aus verschiedenfarbigen Affen entwickelt, was?« »Nein, das hat sich, glaube ich, später entwickelt ... In der Steinzeit vielleicht ... Also ehrlich gesagt: Jetzt, da sie mir diese Frage stellen, muß ich zugeben, daß ich nicht genau weiß, wann diese Differenzierung erfolgte oder wie. Das ganze klingt in der Tat ein wenig unwahrscheinlich, nicht?« »Daß jemand auf die Idee kommt, Menschen könnten Farben haben ... Mann, Sie sind wohl völlig bescheuert! Oder ist das so ... allegorisch – die Guten sind weiß und die Schlechten schwarz?« »Nein, nein, ganz und gar nicht – obwohl ich zugeben muß, daß es manche Weiße so darstellen. Oder habe ich das alles erfunden, die ganze Farbenfrage? Vielleicht kommt das nur aus den Tiefen meines Bewußtseins, wo ich die Morde beging. Die können auch keinerlei subjektive Realität besitzen. Warten Sie! Ich erinnere mich! Beinahe habe ich es! Fjodor Dostojewski, ich komme!« Unversehens versetzte er dem Polizisten einen Faustschlag gegen die Brust und wartete dann darauf, daß der zurückschlagen würde ... Er stapfte durch den Sand, der selbst auf der Hauptstraße dieser heruntergekommenen Stadt knöcheltief war. In den Seitenstraßen erreichte der Sand fast die Dachrinnen der baufälligen hölzernen Häuser. Unter den Häusern waren Gebäude, die er nach einem Moment des Nachdenkens als Moscheen identifizierte; sie waren nicht mehr als Hütten mit hölzernen Minaretts. Tartaren in Lederkostümen gingen herum. Manche führten zweihöckrige Kamele hinter sich her.
Der gebeugte Mann mit dem weißen Backenbart ging ein paar Schritte vor ihm. Morowitsch holte ihn ein und sah ihn von der Seite an. Er erkannte die buschigen Brauen und den unruhigen Blick der tief in ihren Höhlen liegenden Augen. »Soldat Zweiter Klasse Dostojewski?« fragte er. Dostojewski starrte ihn an. »Ich habe Sie noch nicht in Semiplatinsk gesehen. Gehören Sie zum Siebten Sibirischen Bataillon?« »Die korrekte Antwort darauf ist nein. Ich ... ich müßte einen Augenblick mit Ihnen sprechen ... Es handelt sich darum ...« »Es ist keine Nachricht von Marya Dimitrievna, oder?« fragte Dostojewski ungeduldig und mit bleichem Gesicht. »Nein, nein, nichts derart Banales. Es verhält sich so: Ich bin aus der Zukunft gekommen, um mit Ihnen zu sprechen. Bitte, können wir nicht zu Ihnen nach Hause gehen?« Dostojewski ging wie betäubt voraus, den Kopf schüttelnd und vor sich hinmurmelnd. Er mußte immer noch als Verbannter in Sibirien leben, nicht mehr als Gefangener freilich, sondern als einfacher Soldat. Sein jetziges Heim, zu dem er Morowitsch führte, war überaus einfach: Ein ärmlicher Raum in einem der kleinen Holzhäuser, der wenig mehr enthielt als ein Bett, einen Tisch, einen einzigen Stuhl und einen kleinen Kanonenofen, der auch diesen winzigen Raum kaum erwärmen konnte, wenn der grausame Winter wieder hereinbrach. Bescheiden bot Dostojewski dem Eindringling seinen Stuhl an, setzte sich selbst auf die Bettkante und holte etwas Tabak aus der Rocktasche, damit er und
der Besucher sich Zigaretten drehen und zusammen rauchen konnten. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht – es war eine müde Gebärde. »Woher, sagten Sie, kommen Sie? Sie sind nicht etwa ... ein Dekabrist?« »Ich komme aus dem, was für Sie die Zukunft ist. In meinem Zeitalter erkennt meine Rasse Sie auf Grund Ihrer profunden Einsicht in das den menschlichen Sinn fortwährend bedrückende Schuldgefühl als einen der großen Romanschriftsteller der Welt an. Sie haben dem Leiden den vollendet künstlerischen Ausdruck gegeben.« »Zu meiner großen Betrübnis kann ich nicht mehr schreiben! Die alte Fähigkeit ist dahin!« »Aber, Sie müssen doch gerade Ihre Notizen sammeln für das Buch, das Sie Das Totenhaus nennen werden. Turgeniew wird sagen, daß die Badehausszene reinster Dante ist. Noch lange nach Ihrem Tode wird es gelesen und diskutiert werden, und in alle Weltsprachen wird man es übersetzen. Und noch größere Meisterwerke von Schuld und Leid werden folgen.« Dostojewski verbarg das Gesicht in den Händen. »Nichts mehr! Wenn Sie weiter so sprechen, werden Sie mich für immer verstummen lassen, ob ich nun glaube, was Sie sagen, oder nicht. Sie reden wie die Stimmen in mir, wenn mir ein neuer Anfall droht.« »Ich bin aus der fernen Zukunft über eine Reihe von epileptischen Wirten zu Ihnen gekommen. Andere Leute meiner Art reisen über andere Krankheiten – es kommt darauf an, worauf wir uns spezialisieren. Ich habe vor, durch die Generationen hindurch langsam den Weg zu Julius Cäsar zurückzulegen, und
noch weiter ... Aber Sie sind ein äußerst wichtiger Meilenstein auf meinem Weg, denn Sie haben zu der ganzen Philosophie meiner Rasse einen wesentlichen Beitrag geleistet, verehrter Meister! Man könnte sogar ohne Übertreibung sagen, Sie seien einer der Begründer unserer Philosophie.« Der Schriftsteller rieb sich unmutig das Genick und scharrte mit den groben Stiefeln am Boden, unfähig, Morowitsch ins Auge zu sehen. »Sie sagen ständig ›unsere Rasse‹ und ›unsere Art‹, aber was soll ich darunter verstehen? Sind Sie nicht Morowitsch?« »Ich habe mich in Morowitsch eingenistet. Wir sind Parasiten – ich verzerre sein Leben ein wenig, wie ich das Leben anderer verzerrt habe, in denen ich mich auf meinem Weg zurück zu Ihnen einnistete. Ah, die Gefühle, die ich aufgewühlt habe! Das würde Sie interessieren, Fjodor Michailowitsch. Ich war in allen Arten von Personen und Welten, selbst in solchen, die dem Wahrscheinlichkeitsspektrum der Erde sehr nahe kommen – in Welten, wo sich keine Nationen gebildet hatten, in einer, wo es nie zur Differenzierung verschiedenfarbiger Rassen gekommen war, in einer, wo er sich nie zum Herrscher über die anderen Lebewesen gemacht hatte. Und alle, alle diese Welten sind voller Leiden! Wenn Sie sie sehen können, Sie würden glauben, Sie hätten sie selbst geschaffen.« »Jetzt spotten Sie über mich! Ich kann nichts schaffen, außer ich hätte Sie geschaffen. Verzeihen Sie bitte, wenn das beleidigend klingen sollte. Aber mich hat heute ein Fieber befallen, das mir geraten erscheinen läßt, Ihre Realität ein wenig in Zweifel zu ziehen. Vielleicht sind Sie ein Teil meines Fiebers.« »Aber ich bin doch wirklich genug! Meine Rasse –
Sie sehen, daß ich das Wort schon wieder verwende, aber es würde mir schwerfallen, es Ihnen zu definieren. Sehen Sie, es liegen mehr Jahrmillionen vor Ihnen, als Sie begreifen könnten, und in diesem riesigen Zeitraum verändert sich der Mensch radikal. In meiner Zeit lebt der Mensch zuerst von einem MilchFleisch-Tier, welches er züchtet – von einer Art Superkuh – bis hin zum völligen Parasitismus. Im Laufe eines Jahrtausends erreichte er aber erstaunliche Freiheit und kann parasitär die Generationen vor ihm durchmessen und sich all ihre Leiden zu eigen machen – wie ein Silberfisch, der sich durch die Blätter eines dicken, modrigen Buches bohrt: Ein Silberfisch, der lesen kann, wenn Sie meinem Bild folgen. Sie sehen – ich habe Sie in das Geheimnis eingeweiht!« Dostojewski hustete und drückte seine grobgedrehte Zigarette aus. Beklommen saß er auf dem schmalen Bett, rutschte unruhig hin und her. »Sie wissen, daß ich nicht glauben kann, was Sie sagen ... Dennoch, offenbaren Sie mir keine Geheimnisse! Für einen Menschen weiß ich bereits genug; ich trage die Lasten eines Wissens, das mich oft die Frage nach dem Wozu stellen läßt. Und wenn es stimmt, daß ich Einsicht besitze in manche dunklen Tiefen des menschlichen Herzens, dann nur, weil ich gezwungen wurde, in die dunklen Tiefen meines eigenen Herzens zu schauen – selbst wenn ich selbst mich oft dazu zwang. Und ich habe die Wahrheit gesucht; Sie geben doch zu, nicht wahr, daß Sie das Leben verzerren, in dem Sie sich ... nun, wenn ich sage ›einnisten‹, dann ist das ja Ihr eigenes Wort.« »Aber es macht Spaß ... Vor ein paar Tagen veranlaßte ich einen belgischen Zahnarzt, seine Freundin
zu verlassen. Vielleicht hat er sie sogar ermordet! Wir leben von den dunklen Leidenschaften. Die menschliche Rasse hat stets einen morbiden Hang in dieser Richtung gehabt, das wissen Sie. Halten Sie uns also nicht für zu anomal. Ein großer Teil der Literatur delektiert sich nur an den Kümmernissen und Sünden von anderen – und Sie sind einer der bedeutendsten Vertreter dieser Richtung.« Ständig flogen kleine Fliegen herum und landeten auf den Händen und den Gesichtern der beiden Männer. Dostojewski hatte sich eine neue Zigarette gedreht und zog heftig daran – offenbar nicht so sehr, weil sie ihm schmeckte, als um die Fliegen zu verscheuchen. Er sprach stoßweise. »Das sehen Sie alles ganz falsch. Entschuldigen Sie meine Kritik, wenn ich sage, daß Ihre Einstellung mir pervertiert und gemein erscheint. Ich habe mich niemals an Leidenden delektiert, hoffe ich ...« Er schüttelte den Kopf. »Oder vielleicht doch, wer weiß? Aber Sie müssen jetzt gehen. Ich fühle mich plötzlich gar nicht mehr wohl. Und jedenfalls ist das, was Sie sagen, falsch.« Morowitsch lachte. »Wie können Jahrmillionen der Evolution irgendwie ›falsch‹ sein? Der Mensch ist, was er ist, und wird das, was er ist, durch das, was er war. Starke Gefühlsregungen sind ihm ein ständiges Bedürfnis.« Er stand auf. Dostojewski erhob sich aus Höflichkeit ebenfalls, so daß sie für einen Augenblick einander sehr nahe gegenüberstanden, sich gegenseitig in die Augen starrend. »Ich werde Sie morgen noch einmal aufsuchen«, sagte Morowitsch. »Und dann werde ich diesen ignoranten Gesellen verlassen und mich – und das wird von unserem Gesichtspunkt aus der größte Genuß für
den Kenner sein – in Ihnen einnisten und endlich neue Erkenntnisse darüber gewinnen, was Leiden ist. Mein erster Besuch diente nur dem Zweck, Sie näher kennenzulernen.« Dostojewski begann zu lachen, doch sein Lachen ging sofort in ein Husten über. »Ich sehe, daß Sie, wie Sie selbst sagen, eine Krankheit sind.« »Morgen schon werde ich ein Teil Ihrer Krankheit sein. Auf Wiedersehen, mein Herr, und vielen Dank für die freundliche Aufnahme und Ihre offensichtliche Ungläubigkeit – bis morgen!« Er wandte sich zur Tür, an die der Schriftsteller das schon recht mitgenommene Gemälde einer Frau gehängt hatte. Und Dostojewski bückte sich rasch und nahm den Schürhaken von seinem Platz neben dem Ofen. Mit wuchtigem Schlag ließ er ihn auf das ungeschützte Haupt des Mannes niedersausen, ganz in der Art, wie er eines Tages in Schuld und Sühne Raskolnikov beschreiben würde, der einer alten Dame die Axt auf den Kopf schlägt. Fast lautlos sank Morowitsch auf den Boden nieder. Sein linker Arm fiel quer über das zerknitterte Bett. Dostojewski legte den Schürhaken wieder an seinen Platz. Dann begann er zu zittern.
Originaltitel: A TASTE FOR DOSTOEVSKY Copyright © 1967 by John Carnell
James H. Schmitz NACHT DES SCHRECKENS Psi-Kräfte wurden spürbar. Dann kam die plötzliche lebhafte Empfindung von jemand, der sich auf panischer Flucht befindet vor einem Verfolger, vor dem es kein Entkommen mehr gibt ... Telzeys Atem stockte. Sofort hatte sich ein Psi-Feld um ihre Psyche gelegt, das Impulse von außen abschirmte. Das geistige Bild, die Empfindung der Flucht war schon geschwunden, hatte sie nur einen Moment lang berührt. Dennoch blieb sie sekundenlang bewegungslos und mit geschlossenen Augen stehen. Ihre Pulse hämmerten einen Wirbel urtümlicher Warnsignale. Während der letzten Stunde hatte sie unruhig vor sich hingedöst, der Sinnesspuren einer Vielfalt freien, ungezähmten Lebens in dem Parkland um sie herum undeutlich gewahr. Vielleicht war sie einfach eingeschlafen, hatte zu träumen begonnen ... Vielleicht, dachte sie – aber es war nicht sehr wahrscheinlich. Sie war entspannt genug gewesen, um an den Rand von Schlaf und Traum zu geraten. Wahrscheinlich hatte sie einen Augenblick lang die Reflektion eines wirklichen Ereignisses aufgefangen. Wahrscheinlich hatte jemand, nicht weit von hier, in jenem Moment einen grausigen Tod erlitten. Sie zögerte und verdünnte dann das Abschirmfeld, um für Signale aus diesem Gebiet wieder empfänglich zu werden. Gleichzeitig sandte sie einen schnellen Gedanken mit einem Gedächtnis-Gegenstück des
Musters aus, das sie empfangen hatte. Wenn er die Psyche dessen erreichte, der das Muster ausgesandt hatte, würde er vielleicht ein kurzes Echo mit Einzelheiten und weiteren Informationen bringen ... vorausgesetzt, daß diese Psyche noch am Leben war, noch antworten konnte. Aber sie würde wohl nicht mehr am Leben sein. Der Eindruck, den Telzey gehabt hatte, war, daß der Tod in Sekunden bevorstand. Die allgemeinen Sinnesgeräusche begannen wieder anzuwachsen, ein unregelmäßiges Pulsieren von Leben und Psi-Energien, die sich mit der Entfernung verringerten und von ihren Gefährten ausgingen und von Tieren in Berg und Tal, vermischt mit den schwächeren Emanationen von Pflanzen. Doch nichts, was mit der schockierenden Empfindung von vorhin zu tun hatte, erreichte sie jetzt. Telzey öffnete die Augen und sah sich unter den anderen um, die mit ihr an der Mündung der CilSchlucht um das Lagerfeuer saßen. Sie waren elf, Studenten des Pehanron-College, die die Herbstferien im Melna-Park verbringen wollten. Der Älteste war zweiundzwanzig; sie selbst war die Jüngste – Telzey Amberdon, fünfzehn Jahre alt. Ein riesiger, weißer Hund namens Chomir, der im Augenblick nicht zu sehen war, begleitete sie. Er gehörte einem ihrer Freunde, der es vorgezogen hatte, während der Ferienzeit mit seiner Freundin eine Raumfahrt zu machen. Chomir wäre da etwas im Wege gewesen; deswegen hatte ihn Telzey mitgenommen. Am Spätnachmittag hatten sie dort, wo die große Cil-Schlucht in die weite Ebene mündet, ihr Feuer gemacht. Zu beiden Seiten des Camps ragten die ge-
strüppbewachsenen Hänge des Canyons in die Höhe. Ein paar Dutzend Meter entfernt plätscherte der Cil River behende über eine Reihe von Felsstufen. Die Jungen hatten ein durchscheinendes grünes Zeltdach errichtet, unter dem ihre Schlafsäcke lagen. Aber Gikkes und zwei von den anderen Mädchen hatten bereits verkündet, daß sie, sobald es Schlafenszeit war, in einen der Aircars steigen und diese Nacht in Baumwipfelhöhe über der Erde verbringen würden. Die Park-Ranger hatten ihnen versichert, daß derartige Maßnahmen nötig waren. Der Melna-Park war voll von Orados wildlebender Fauna – für sie hatte man ihn schließlich auch errichtet – aber von keinem der Tiere stand irgendwie zu erwarten, daß es Besucher angreifen würde. Was menschliche Marodeure anbelangte, so war der Park sicherer als die Städte des Planeten. Ihn zu überfliegen war nicht gestattet; die Besucher kamen durch Kontrollpunkte in Bodenhöhe, wo die Maschinen ihrer Aircars so gedrosselt wurden, daß ihre Geschwindigkeit nicht mehr als fünfzehn Kilometer, die erreichbare Höhe nicht mehr als fünfzig Meter betrug. Nur die Aircars der Ranger unterlagen solchen Beschränkungen nicht, und nur die Ranger führten Waffen mit sich. So war der Melna-Park wie eine Oase ländlicher Ruhe. Aber als der Abend hereinbrach, strahlten die Sterne über Orado in unangenehmer Helligkeit. Manche von ihnen, wie Gikkes, waren das nicht gewöhnt. Sie hatten kaum jemals eine Nacht außerhalb der Städte verbracht, die gegen Ende des Tages in kontinuierlich zunehmendem Maße abgeschirmt wurden, um der alten Vorliebe der Rasse für eine dunkle Schlafenszeit Genüge zu tun.
Hier blieb es bei einem ungewissen Zwielicht, bis ein Wind durch den Canyon zu wehen begann und schwarze Gewitterwolken sich über Berge und Ebene schoben. Zwielicht und Dunkelheit wechselten rasch, und Augen begannen unruhig zu wandern. Das Rauschen des nahen Baches und des Windes erzeugte seltsame Geräusche im Canyon. In Büschen und Bäumen konnte man Knacken hören, vereinzelt auch Tierstimmen. »Man hat das Gefühl«, bemerkte Gikkes, die mit verrenktem Hals die Wände des Canyons hinaufstarrte, »als ob jeden Augenblick ein Lallbär oder irgendein Spook dort rauskommen könnte!« Ein paar von den anderen lachten unsicher. Valia sagte: »Sei nicht albern! So etwas hat es im MelnaPark seit fünfzig Jahren nicht mehr gegeben.« Sie sah zu der Gruppe um Telzey hinüber. »Stimmt's Pollard?« Pollard war der älteste der Jungen. Er studierte Biologie und war deswegen für Valia eine Autorität auf dem Gebiete von Lallbären und Spooks. Er nickte und sagte: »In den größeren Wildparks im Norden kann man sie heute noch finden. Aber in den öffentlichen Parks gibt es nichts, was Besucher zum Frühstück verspeist. Alles, was du hier antriffst, Gikkes, hat ebenso Angst vor dir wie umgekehrt.« »Und das will einiges heißen!« fügte Rish fröhlich hinzu. Die anderen lachten wieder, und Gikkes schaute verärgert drein. Telzey hatte dem Gespräch nur mit einem Ohr zugehört. Sie fühlte sich im Augenblick abgesondert von ihren Gefährten. In geringer Höhe dem hügeli-
gen, bewaldeten Gelände folgend, hatten sie den ganzen Nachmittag gebraucht, um in ihren drei Aircars hierher zu kommen. Dann, nach ihrer Ankunft am Eingang der Cil-Schlucht, wo sie zu bleiben beabsichtigten, hatten sie und Rish und Dunker, zwei Mitglieder ihres Fan-Klubs in Pehanron, eine Stunde damit verbracht, in dem kleinen Bach zu fischen, hier und weiter oben im Canyon. Sie hatten viel Spaß gehabt und genügend fürs Abendessen gefangen. Allerdings hatten sie mühsam über glitschige Felsen klettern und in kaltem, reißendem Wasser waten müssen, wobei Telzey ihr Armband-SprechfunkGerät zerschlagen hatte. Daß sie nach dieser Anstrengung jetzt müde war, war nicht verwunderlich. Erstaunlich war nur, daß sie sich trotz allem nicht richtig entspannen zu können schien. In aller Regel fühlte sie sich in jeder Art freier Landschaft sofort zu Hause. An diesem Ort aber schien irgend etwas Unangenehmes zu sein. Sie hatte es zunächst nicht bemerkt und wie die anderen Gikkes ausgelacht, als Gikkes ihrer Besorgnis Ausdruck verlieh. Aber als sie sich dann nach dem Abendessen niederließ, von einem angenehmen Gefühl der Müdigkeit überkommen, hatte sie ein vages Gefühl der Beunruhigung. Die Atmosphäre des Melna-Parks schien sich langsam zu wandeln. Eine Nuance von Grausamkeit, von Wildheit und verborgenem Schrecken war jetzt zu verspüren. Telzey war, als blickte sie innerlich über die Schulter hinüber zu den dunklen Stellen unter den Bäumen, als könnte dort tatsächlich so etwas wie ein Lallbär oder ein Spook lauern. Und dann, in diesem unruhigen, halbwachen Zu-
stand, hatte sie diese andere Wahrnehmung gehabt, diesen Traumblitz, in dem jemand verzweifelt vor einem Verfolger geflohen war. Dem entsetzten menschlichen Opfer erschien der Verfolger im Dämmerlicht als ein großer, sich rasch bewegender tierischer Umriß, dessen Einzelheiten jedoch nicht zu erkennen waren. Und dann war dieser Ausbruch von Psi-Energie gekommen ... Telzey bewegte sich unruhig, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Der Eindruck war von erschreckender Intensität gewesen. Aber wenn sich etwas Derartiges wirklich ereignet hatte, mußte das Opfer Sekunden später tot gewesen sein. Somit bestand kein Grund für sie, sofort eine rasche Entscheidung zu treffen. Außerdem, es konnte trotz allem ein Traum gewesen sein, ausgelöst durch die hier herrschende Stimmung. Sie bemerkte, daß ihr die Vorstellung, es sei ein Traum gewesen, angenehm war. Wenn es aber so war, wer oder was war dann für die hier herrschende Stimmung verantwortlich? Gikkes? Das war nicht auszuschließen. Vor längerer Zeit schon hatte Telzey beschlossen, daß persönliche Bekannte nicht Gegenstand telepathischer Erkenntnisse sein durften. Allerdings mußten sie bei regelmäßigem Kontakt doch Bruchstücke von Informationen erreichen. So wußte sie beispielsweise, daß auch Gikkes' telepathische Fähigkeiten höher entwikkelt waren als die der meisten anderen Menschen. Gikkes wußte das nicht, hätte ohnehin auch keinen Nutzen daraus ziehen können. Bei ihr war es eine instabile, unzuverlässige Fähigkeit, die sie in einen ziemlich verwirrten psychischen Zustand hätte ver-
setzen können, wäre sie ihr bewußt gewesen. Freilich, das allgemeine Unbehagen, das Telzey empfunden hatte, und dieser kurze Psi-Ausbruch – wenn es einer war – der dennoch der Träger eines vollständigen, schrecklichen Erlebnisses gewesen war, konnte von Gikkes ausgegangen und zu ihr gekommen sein. Selbst im Zustand völligen Wachseins schienen die meisten Leute fast ständig Träume zu haben, und zwar in einem Bereich ihrer Psyche, von dem sie nichts wußten. Und Gikkes schien an diesem Abend nervös genug zu sein, um unbewußt Alpträume zu haben und sie auch auszusenden. Allerdings – was machte Gikkes denn hier so nervös? Es konnte die fremde Umgebung oder die starre Schönheit der Sterne sein, die wie ein Flammenzelt über der Ebene hingen. Dennoch konnte die Störung auch eine andere Ursache haben. Sie konnte sich vergewissern, dachte Telzey, wenn sie ihre Perzeption wie eine Sonde in Gikkes' Psyche versenkte, um festzustellen, was in ihr vorging. Gikkes würde es nicht bemerken. Meistens allerdings dauerte es viele Stunden, bis ein ausreichender Kontakt hergestellt war, wenn die andere Psyche nicht ihrerseits ausreichende telepathische Potenz besaß. Gikkes war ein Grenzfall – telepathisch begabt, doch nur bis zu einem gewissen Grade –, und wenn Telzey ohne ausreichende Erfahrung in einer solch komplizierten Psyche herumzustöbern begann, konnte sie Gikkes vielleicht Schaden zufügen. Sie sah zu Gikkes hinüber. Gikkes' Blick traf den ihren, und sie sagte: »Solltest du dich nicht vielleicht doch um Gonwils Hund kümmern? Seit einer halben Stunde ist er nicht mehr zu sehen.«
»Mit Chomir ist alles in Ordnung«, sagte Telzey. »Er schnüffelt nur noch ein bißchen herum.« Tatsächlich war Chomir nur ein paar hundert Meter entfernt in der Schlucht. Sie hatte von Zeit zu Zeit einen kurzen Kontakt mit dem Hund hergestellt, um zu wissen, was er so trieb. Gikkes konnte das natürlich nicht wissen – niemand in dieser Gruppe ahnte etwas von Telzeys Psi-Talent. Indessen hatte sie mit Chomir schon viel experimentiert, und wenn sie wollte, konnte sie jetzt fast mit seinen Augen sehen, mit seiner Nase riechen und mit seinen Ohren hören. In diesem Augenblick beobachtete er gerade eine Gruppe von Tieren, die groß genug waren, um Gikkes einen gehörigen Schrecken einzujagen. Chomirs Interesse an der Tierwelt des Melna-Parks ging freilich über eine gelassene Neugierde nicht hinaus. Als Askanam-Hund gehörte er einer Rasse an, gezüchtet, um in Arenen Menschen oder Tiere zu bekämpfen. Er war zu groß und stark, um Angst vor anderen Kreaturen zu haben, und nicht geneigt, ohne Anlaß fremde Tiere zu jagen, wie kleinere Hunde das tun mochten. »Na«, sagte Gikkes, »wenn ich für jemandes anderen Hund verantwortlich wäre und ihn hierher gebracht hätte, dann würde ich aufpassen, daß er nicht wegrennt und sich verirrt ...« Telzey gab keine Antwort. Man brauchte nicht Gedanken lesen zu können, um zu bemerken, daß Gikkes verärgert war, weil Pollard sich nach dem Abendessen zu Telzeys Fan-Klub gesellt und sich neben ihr niedergelassen hatte. Gikkes hatte Pollard eingeladen, an der Tour teilzunehmen; er war Vorsitzender verschiedener Organisationen und eine wich-
tige Person im Pehanron-College. Gikkes, das Glamour Girl, mochte es gar nicht, daß er sich jetzt bei Telzeys Gruppe befand, und wenn Telzey auch keinerlei Absichten auf ihn hatte, so konnte sie das Gikkes doch nicht gut mitteilen, ohne sie noch zusätzlich zu verärgern. »Ich«, schloß Gikkes, »würde auf jeden Fall nach ihm suchen.« Pollard stand auf. »Wäre wirklich zu dumm, wenn er sich hier verliefe«, erklärte er. Er schenkte Telzey ein lässiges Lächeln. »Wollen wir uns nicht beide einmal nach ihm umsehen?« Das war freilich nicht unbedingt das, was Gikkes gewollt hatte. Rish und Dunker behagte es auch nicht. Sie standen schon auf und bedachten Pollard mit strengen Blicken. Telzey musterte sie und sah dann auf die Uhr, die ihr Dunker geliehen hatte, nachdem sie ihre mit dem Armband-Sprechgerät beim Fischen zertrümmert hatte. »Warten wir doch noch fünf Minuten«, schlug sie vor. »Wenn er dann noch nicht zurück ist, wollen wir nach ihm suchen.« Während sie sich wieder setzte, sandte sie einen »Komm her«-Gedanken zu Chomir aus. Sie wußte noch nicht, welche Schritte sie in der anderen Angelegenheit zu tun haben würde, wollte aber nicht noch zusätzliche Probleme mit Gikkes und den Jungen haben. Sie spürte Chomirs Reaktion. Er orientierte sich mit Nase, Ohren und – was er natürlich nicht wußte – auf Grund direkten psychischen Kontakts, sprang in den Bach und hüpfte laut platschend durch das seichte
Wasser. Er schlug einen Weg ein, den er für eine Abkürzung zum Lager hielt. In Wirklichkeit würde er sich jedoch zur anderen Seite des Canyons hin entfernen. »Nicht da hinüber, Dummkopf!« dachte Telzey, den Gedanken zur Verstärkung verbalisierend. »Dreh dich um – zurück!« Und dann, als sie spürte, daß der Hund verstanden hatte und stehenblieb, ließ sich in ihrem Inneren eine Stimme vernehmen, aus der Überraschung, vielleicht sogar Furcht klang: »Wer sind Sie? Wer hat das gesagt?« Seit sie sich ihrer Fähigkeiten bewußt geworden war, hatte sie schon des öfteren die Gedanken-Ausdrücke eines anderen Telepathen empfangen. Solche Kontakte zu entwickeln, hatte sie nicht versucht; sie fühlte keine Eile, Bekanntschaften auf Psi-Ebene zu machen. Hier handelte es sich um eine Welt mit eigenen Bedingungen und Gesetzen, die gründlich studiert werden mußte, wenn sie nicht Probleme für sich und andere schaffen wollte. Und im Augenblick hatte sie einfach nicht die Zeit für ein solch gründliches Studium. Selbst bei eher oberflächlichem Umgang mit diesen Phänomenen kam es zu Schwierigkeiten. Man durchschaute eine Situation, die andere nicht begriffen, und dann war es nicht immer möglich, die Situation zu ignorieren, so zu tun, als gäbe es sie gar nicht. Je nach den Umständen konnte es aber außerordentlich schwierig sein, wirksam zu helfen, besonders wenn man seine Psi-Eigenschaft nicht allgemein bekanntmachen wollte. Es hatte so ausgesehen, als würde das Geschehen
dieses Abends im Melna-Park solche Probleme schaffen. Dann sprach plötzlich diese Stimme zu ihr, die aus der Nacht kam, oder aus dem Nichts. Irgendwo war hier ein weiterer Telepath, für den eine solche Begegnung genauso unerwartet kam wie für sie. Es gab keine Möglichkeit, sogleich zu ergründen, ob er helfen konnte oder das Problem noch erschweren würde, aber Telzey verspürte jetzt keine Lust, sofort zu antworten. Wer immer der Fremde war – der Gedanke hatte eine stark männliche Färbung gehabt – die Tatsache, daß auch er psi-begabt war, machte ihn nicht notwendigerweise zu einem Bruder. Daß er ein Mensch war, wußte sie; andere Psychen hatten andere Gedankenstrukturen. Seine Fragen waren in klar verbalisierter Form gekommen; vielleicht hatte er sogar laut gesprochen, als er sich an sie wandte. Und noch etwas anderes war an diesen Gedanken, was sie bei früheren telepathischen Gedanken nicht bemerkt hatte – sie machten auf seltsame Weise den Eindruck, als hätte irgendein verzerrendes Medium sie gefiltert, bevor sie Telzey erreichten. Sie wartete, dachte darüber nach. Wenn dieser Fremde sie auch nicht sonderlich anzog, so spürte sie ihm gegenüber doch keine große Besorgnis. Er hatte ihre verbalisierten Anweisungen für Chomir empfangen und war erstaunt darüber gewesen, was heißen mußte, daß er nichts von dem, was sie vorher gedacht hatte, empfangen hatte. Sie zog den sie umgebenden Psi-Schleier ein wenig fester, genug, um die treibenden Ströme unbewußter Gedanken zu dämpfen, durch die sich eine unbewachte Psyche am schnellsten verriet. Noch mehr verdichtet, wie es ihr von einem Augenblick auf den anderen möglich war,
konnte sie sogar Experten, die es meisterhaft verstanden, auch noch die schwächsten Signale anderer Psychen aufzunehmen, scheitern lassen. Dieser Psi war kein Experte; ein Experte hätte erstaunte Fragen wie diese nicht ausgesandt. Gewöhnlich verbalisierte sie ihre Gedanken nicht und würde es auch jetzt vorerst nicht tun. Und sie würde sich nicht an ihn wenden. Sie fand, die Lage sei ausreichend unter Kontrolle. Das Schweigen zwischen ihnen zog sich in die Länge. Vielleicht war er jetzt ebenfalls vorsichtig geworden und bedauerte seinen kurzen Ausbruch. Telzey verdünnte das Abschirmfeld, sandte einen Suchgedanken zu Chromir aus, fühlte, wie er in seinem leichten, elastischen Lauf auf das Lager zukam, verstärkte das Feld wieder. Sie wartete ein paar Sekunden. Es gab kein Anzeichen eines Interesses von seiten des anderen Psi. Offenkundig konnte er, selbst wenn er ihr seine ganze Aufmerksamkeit zuwandte, nur ihre verbalisierten Gedanken empfangen. Das machte die Sache einfacher. Sie lockerte die Psi-Sperre wieder. »Wer sind Sie?« fragte sie. Die Antwort kam auf der Stelle. »Also habe ich wirklich nicht geträumt! Einen Augenblick lang dachte ich schon ... Sind dort zwei von Ihnen?« »Nein. Ich sprach nur mit meinem Hund.« An seinen Gedanken war tatsächlich etwas Seltsames. Vielleicht benützte er irgendeine Art Schild oder Schirm, der nicht von der gleichen Art war wie der ihre, aber möglicherweise ebenso wirksam. »Ihr Hund? Ich verstehe. Über ein Jahr ist es jetzt her«, sagte die Stimme, »daß ich mit anderen so gesprochen habe.« Eine Weile verstummte sie. »Sie sind
eine Frau ... jung ... ein Mädchen ...« Telzey hatte keinen Grund, ihm zu sagen, daß sie fünfzehn war. Was sie jetzt wissen wollte, war nur, ob auch er eine Störung im Melna-Park bemerkt hatte. Sie fragte: »Wo sind Sie?« Er zögerte nicht mit der Antwort. »Zu Hause. Zwanzig Kilometer südlich der Cil-Schlucht, jenseits der Ebene, am Rande des Waldes. Aus der Luft ist das Haus unschwer zu sehen.« Vielleicht gehörte er zum Personal des Parks. Unterwegs hatten sie ein solches Haus bemerkt und Vermutungen angestellt, wer darin wohnen mochte. Die Erlaubnis, in einem Föderationspark ein Haus zu bauen, war, wie man wußte, kaum zu bekommen. »Sagt Ihnen das etwas?« fuhr die Stimme fort. »Ja«, sagte Telzey. »Ich bin mit ein paar Freunden im Park. Ich glaube, ich habe Ihr Haus gesehen.« »Mein Name«, sagte die körperlose Stimme, »ist Robane. Sie sind sehr vorsichtig. Sicher haben Sie recht. Ein Psi zu sein bringt gewisse Gefahren mit sich, wie Sie vermutlich wissen. Wenn ich in einer Stadt wäre, würde ich mich nicht zu erkennen geben. Aber hier draußen ... Irgend jemand hat heute abend dort, wo das Flüßchen die Cil-Schlucht verläßt, Feuer gemacht. Ich bin ein Krüppel und verbringe einen großen Teil meiner Zeit damit, zu beobachten, was im Park vor sich geht. Ist das Ihr Feuer?« Telzey zögerte einen Moment. »Ja.« »Ihre Freunde«, fuhr Robanes Stimme fort, »... wissen Ihre Freunde, daß Sie und ich ... Wissen sie, daß Sie Telepathin sind?« »Nein.« »Könnten Sie mich besuchen, ohne die anderen wissen zu lassen, wohin Sie gehen?«
»Warum sollte ich das tun?« fragte Telzey. »Können Sie sich das nicht vorstellen? Gern würde ich wieder einmal mit einem Psi sprechen.« »Wir sprechen doch«, sagte sie. Einen Augenblick lang trat Schweigen ein. »Lassen Sie mich ein wenig über mich selbst erzählen«, sagte Robane dann. »Ich bin in den mittleren Jahren; von Ihrem Standpunkt aus gesehen könnte ich auch schon als ziemlich alt gelten. Ich lebe allein hier, abgesehen von einer gutwilligen, aber recht dummen Haushälterin namens Feddler. Von meinem Standpunkt aus gesehen ist die Feddler alt. Vor vier Jahren noch arbeitete ich als Wissenschaftler für die Föderation. Man hält mich ... hielt mich für einen der besten Experten auf meinem Gebiet. Die Arbeit war nicht sehr gefährlich, solange man sich an bestimmte Vorsichtsmaßregeln hielt. Doch eines Tages machte ein Narr einen Fehler. Für zwei meiner Kollegen bedeutete dieser Fehler den Tod. Mich brachte er nicht ganz um; aber seit jenem Tage bin ich von einer Maschine abhängig, die dafür verantwortlich ist, mich von Minute zu Minute am Leben zu erhalten. Würde ich von ihr abgeschnitten, ich würde fast auf der Stelle sterben. Arbeiten kann ich also nicht mehr. Und in einer Stadt möchte ich auch nicht mehr leben. In den Städten gibt es zu viele dumme Leute, die mich an diesen bereits erwähnten Narren erinnern, den ich lieber vergessen möchte. Angesichts meiner früheren Position und aufgrund der Arbeit, die ich geleistet habe, hat mir die Föderation erlaubt, mich im Melna-Park niederzulassen, wo ich allein sein kann ...« Die Stimme war plötzlich verstummt. Telzey hatte
den Eindruck, daß Robane noch weitersprach und nicht bemerkte, daß irgend etwas die Psi-Verbindung zwischen ihnen unterbrochen hatte. Sein eigener PsiSchild vielleicht? Sie wartete, aufmerksam, aber ruhig. Es konnte auch ein absichtlicher Eingriff sein, die Manifestation eines anderen aktiven Psi-Feldes in der Gegend – eines störenden, aggressiven Feldes. »... alles in allem gefällt es mir hier.« Robanes Stimme war plötzlich wieder da; die Unterbrechung hatte er offenbar nicht bemerkt. »Ein Psi braucht sich nie wirklich zu langweilen. Überdies habe ich Apparate installiert, welche die Nachteile der Körperbehinderung ausgleichen. Ich beobachte mit Sichtgeräten den Park und studiere die tierische Psyche ... Mögen Sie die Psyche von Tieren?« Das war keine beiläufige Frage, dachte Telzey. »Manchmal«, antwortete sie vorsichtig. »In bestimmten Fällen.« »Manchmal? In bestimmten Fällen? Ich frage mich ... Zuweilen scheint die Einsamkeit eine Tendenz zum Unheimlichen zu erzeugen. Mitunter bemerkt man Dinge, die nicht an ihrem richtigen Platz sind ... die einen beunruhigen. Haben Sie heute abend ... während der letzten Stunde etwa ... haben Sie Anzeichen bemerkt von Vorgängen ...« Er verstummte. »Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll.« »Ja, etwas war da«, sagte sie. »Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob ich nicht träumte.« »Sie meinen ... etwas Häßliches ...« »Ja.« »Angst«, sagte Robanes Stimme in ihrem Inneren. »Angst, Schmerz, Tod. Wild wütende Grausamkeit. Sie haben es also auch empfangen. Wirklich merk-
würdig! Vielleicht ein Echo aus der Vergangenheit, das uns in diesem Moment erreichte, ein Echo aus der Zeit, als es hier noch menschenfeindliche Wesen gab. Aber ... nun, dies ist einer der seltenen Augenblikke, wo ich mich hier einsam fühle. Und wenn man Kontakt mit einem anderen Psi bekommt ... Sie verstehen ... vielleicht fürchte ich mich sogar ein wenig davor, gerade jetzt in der Nacht allein zu sein. Ich möchte gern mit Ihnen sprechen. Allerdings nicht auf diese Art – so kann ich nichts sagen, was über Allgemeines hinausgeht. Man kann nie wissen, wer da noch zuhört ... Ich glaube, es gibt viele Dinge, die zwei Psi zu beiderseitigem Vorteil besprechen können.« Hier verstummte die Stimme wieder. Er hatte sich sehr vorsichtig ausgedrückt und erwartete offenbar keine unmittelbare Antwort auf seine Einladung. Telzey biß sich auf die Lippen. Chomir war jetzt wieder bei ihr und hatte sich neben ihr niedergelassen, nachdem er von ihr begrüßt worden war. Gikkes stieß lockende Laute aus und schnippte die Finger nach ihm. Chomir ignorierte ihre Avancen. Gewöhnlich behauptete Gikkes, er flöße ihr Angst ein. Hier aber, nachts im Melna-Park, schien sie der Vorstellung, den riesigen Hund bei sich zu haben, plötzlich einiges abgewinnen zu können ... Robane hatte also auch ungewöhnliche, unangenehme Empfindungen gehabt an diesem Abend ... Empfindungen von Ereignissen, über die er nicht offen reden wollte. Den Hinweis darauf, daß er sich fürchtete, brauchte sie wahrscheinlich nicht allzu ernst zu nehmen. Immerhin war er ja in seinem eigenen Haus; und ein so abseits gelegenes Haus würde
mit Schutzfeldern versehen sein. Das Haus eines behinderten, reichen Einsiedlers, der sich aus dem Getriebe der Welt hierher geflüchtet hatte, würde sehr wirkungsvolle Schutzfelder haben. Und wenn ihm wirklich irgend etwas gefährlich wurde, würde ein Anruf bei der nächsten Parkstation genügen, und innerhalb von Minuten würde ein bewaffneter RangerAircar über dem Dach seines Hauses erscheinen. Mit dem Hinweis hatte er nur bezweckt, ihr Mitgefühl mit einem einsamen Mit-Psi zu erwecken und sie zu seinem Haus hinüberzulocken. Aber er hatte etwas bemerkt. Nach seiner vorsichtigen Beschreibung zu schließen, mußte es dem, was sie selbst empfunden hatte, sehr ähnlich gewesen sein. Telzey sah Chomir an, der zwischen ihr und dem Feuer auf dem sandigen Boden ausgestreckt lag, musterte den großen, wölfischen Kopf und die kraftvollen Kiefer. Chomir war nicht gerade ein intellektueller Gigant, doch besaß er die ausgezeichneten sensorischen Fähigkeiten, die einer Rasse von Kampftieren zu eigen sind. Hätte es eine Störung dieser Art in der unmittelbaren Nachbarschaft gegeben, dann würde er es bemerkt haben. Und sie hätte es dann durch ihn erfahren. Allerdings konnte die Störung ihren Ursprung durchaus irgendwo auf der Zwanzig-KilometerStrecke haben, die zwischen dem Punkt, wo die CilSchlucht die Berge spaltete, und Robanes Haus jenseits der Ebene lagen. Robane schien sie als unangenehm nahe empfunden zu haben. Er hatte keine Anstalten gemacht, irgend etwas dagegen zu tun, und tatsächlich war das auch gar nicht so leicht. Robane hatte zweifellos genausowenig wie sie das Bedürfnis,
sich als Psi zu erkennen zu geben. Außerdem konnte man von der Parkleitung verständlicherweise nicht erwarten, daß sie auf vorgebliche telepathische Empfindungen hin eine Suche nach einem bösartigen, menschenfressenden Wesen einleitete, auf das es sonst keinen Hinweis gab – zumindest nicht, so lange niemand verletzt worden war. Einfach darauf zu warten, daß jemand zu Schaden kam, war wohl auch nicht die beste Idee. Zum einen, dachte Telzey, könnte der Killer noch vor dem Morgen bei ihnen selbst auftauchen ... Sie verzog das Gesicht und warf einen beunruhigten Blick auf die Gruppe. Sie hatte es sich nicht eingestehen wollen, doch war ihr bereits seit Minuten klar, daß sie sich auf die Suche nach der Kreatur machen mußte. In einem Aircar, dachte sie, selbst in einem Aircar, der auf fünfzehn Kilometer Höchstgeschwindigkeit und fünfzig Meter Gipfelhöhe gedrosselt war, konnte ihr von einem am Boden befindlichen Tier keine Gefahr drohen, wenn sie sich nicht selbst leichtfertig in Gefahr begab. Der Psi-Beigeschmack an der Sache gefiel ihr allerdings nicht. Es gab noch keine Erklärung dafür. Aber sie war selbst ein Psi und würde schon auf der Hut sein. Sie ging die einzelnen Möglichkeiten durch. Am besten war es wohl, wenn sie Kurs auf Robanes Haus nahm und mental das Gelände beiderseits dieser Route absuchte. Wenn sie Spuren des Killers fand, konnte sie seine Position feststellen, die Park-Ranger anrufen und ihnen die Sache so darstellen, daß sie sofort kommen würden. Sie würden sich dann um die Sache kümmern Fand sie nichts, dann konnte sie mit Robane die nächsten Schritte besprechen. Selbst wenn
er sich an der Suche nicht direkt beteiligen wollte, war er vielleicht bereit, ihr Hilfestellung zu leisten. Chomir würde als Wache im Lager bleiben. Sie würde ihm einen Anflug von Unruhe einpflanzen, gerade genug, um sicherzustellen, daß er während ihrer Abwesenheit äußerst wachsam sein würde. Beim ersten Anzeichen irgendeiner Gefahr würde sie über den Kommunikator des Aircars die anderen veranlassen, sich sofort in die beiden anderen Aircars zu begeben und aufzusteigen. Gikkes war in einer Verfassung, daß sie prompt reagieren würde, sollte sie wirklich Alarm geben müssen. Telzey zögerte noch einen Moment. Aber der Plan schien in Ordnung zu sein. Am besten, sie machte sich sofort an die Ausführung. Wenn sie noch länger wartete, konnte die Lage, wie immer sie war, durchaus eine Wendung zum Schlimmeren nehmen. Und je länger sie überlegte, desto unangenehmer würde der Gedanke an das, was sie tun mußte, werden. Sie sah auf Dunkers Uhr an ihrem Handgelenk. »Robane?« fragte sie lautlos. Die Antwort kam schnell. »Ja?« »Ich fahre jetzt los zu Ihrem Haus«, sagte Telzey. »Werden Sie nach meinem Aircar Ausschau halten? Wenn es da etwas gibt, was Menschen nicht mag, dann möchte ich nicht gern lange vor Ihrer Tür warten.« »Die Tür wird offen sein, sobald Sie kommen«, versicherte ihr Robane. »Bis dahin halte ich sie verschlossen. Ich habe die Sichtgeräte eingeschaltet und werde warten ...« Eine kurze Pause trat ein. »Haben Sie zusätzlichen Grund zu der Annahme ...« »Bis jetzt nicht«, sagte Telzey. »Aber es gibt doch
einiges, was ich mit Ihnen besprechen möchte – wenn ich dort bin ...« Sie hatte nicht wirklich die Absicht, Robanes Haus zu betreten, bevor sie mehr über ihn wußte. Für einen Höflichkeitsbesuch war die Lage zu ungewiß, besonders um diese Tageszeit. Aber er würde jetzt aufmerksam Ausschau halten und vielleicht Dinge bemerken, die ihr entgingen. Der Aircar gehörte ihr; es war ein schneller, kleiner »Cloudsplitter«. Niemand erhob einen Einwand, als sie ankündigte, sie wolle sich jetzt auf eine nächtliche Spazierfahrt begeben. Ihr Fan-Klub schaute bedauernd drein, war aber wohlerzogen, und Pollard hatte sich schließlich doch von Gikkes einfangen lassen. Gikkes hielt ganz offenkundig Telzeys Soloausflug für eine glänzende Idee ... Sie zog den »Cloudsplitter« in die Höhe. In fünfzig Meter Höhe schaltete sich die Drosselung der Maschine ein und die Aufwärtsbewegung des kleinen Aircars hörte automatisch auf. Telzey kurvte am bewaldeten Berghang entlang nach rechts und steuerte dann hinaus über die Ebene. Flog sie geradewegs zu Robanes Haus, dann würde der Flug etwa zwanzig Minuten dauern; und wenn nichts Unerwartetes eintrat, würde sie auf kürzestem Wege dorthin fliegen. Was die Landkarten als Ebene auswiesen, war eine Anzahl leicht schräger, durch niedrige Hügel unterbrochener Plateaus, die allmählich nach Süden zu abfielen. Überwiegend waren sie mit Gestrüpp bewachsen; dazwischen gab es Baumgruppen, die da und dort zu kleinen Wäldern zusammengewachsen waren. Die vereinzelten Tierherden zeigten kein Interesse an dem Aircar, der im hellen Sternenlicht über sie hinwegschwebte.
Alles schien friedlich zu sein. Robane schwieg, wie sie es angeregt hatte. Der undurchdringliche PsiSchirm um Telzeys Psyche öffnete sich völlig. Ihre Sinne tasteten nach allen Seiten ... Killer, wo bist du? Etwa zehn Minuten vergingen, bis sie die erste Spur aufnahm. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie einen klaren, beständigen Schimmer orangen Lichts vor der dunklen Silhouette des Waldes erkennen. Das mußte Robanes Haus sein, noch neun oder zehn Kilometer entfernt. Robane hatte sich nicht mehr gemeldet. Mit einer Anzahl von Tierarten, die einander tödlich gefährden konnten, hatte sie Kontakt gehabt. Die menschenbedrohende Kreatur freilich mußte eine besondere Eigenschaft haben, etwas, was sie auf der Stelle empfinden würde. Plötzlich bemerkte sie es – es war ein Eindruck von gespannter Aggressivität, der fast sofort wieder verschwand. Wiewohl sie darauf vorbereitet war, durchfuhr sie ein Schrecken. Sie befeuchtete ihre Lippen und sagte sich noch einmal vor, daß sie in ihrem Aircar sicher sei. Zweifellos war die Kreatur nicht weit von ihr entfernt gewesen. Telzey versetzte sich einen Augenblick in Chomir. Der riesige Hund stand ein wenig außerhalb des Feuerscheins und spähte nach Süden. Er war unruhig, aber nicht mehr, als sie es beabsichtigt hatte. Seine Sinne hatten nichts Ungewöhnliches aufgenommen. Von dort kam keine Bedrohung. Sie mußte von hier kommen. Von vorn, von links oder rechts. Langsam flog Telzey weiter. Nach einer Weile stellte sich wieder dieselbe Empfindung ein,
verlor sich dann wieder ... Sie näherte sich Robanes Haus. Jetzt konnte sie es schon recht gut im Sternenlicht ausmachen. Es war ein ansehnliches Gebäude inmitten eines Gartens, der am Waldrand endete. Ein Teil des Gebäudes war zweistöckig und hatte um das obere Stockwerk herum einen Balkon. Das Licht kam von dort – dunkeloranges Licht durch zugezogene Vorhänge. Der zweite Impuls dieser böswilligen Ausstrahlung war etwa aus dieser Richtung gekommen, dessen war sie ganz sicher. Wenn sich die Kreatur in dem Wald hinter dem Hause befand und vielleicht von dort aus das Haus belauerte, war Robanes Besorgnis also trotz allem berechtigt gewesen. Etwa fünfhundert Meter nördlich des Hauses hatte sie den »Cloudsplitter« auf Schrittgeschwindigkeit gebracht. Jetzt zog sie ein wenig nach links, kurvte dann wieder auf den Wald zu und begann, das Haus zu umkreisen, auf weitere Hinweise wartend. Robane würde sie durch seine Sichtgeräte beobachten, und sie war dankbar dafür, das Schweigen nicht gebrochen zu haben. Vielleicht hatte er ihre Absicht verstanden. Lange Minuten hindurch verharrte sie jetzt, sämtliche Sinne angespannt auf jedes Lebenszeichen von unten gerichtet. Es war, als wäre die Ebene überall um sie herum zum Leben erwacht, ein ständig wechselndes Muster von funkelnden, glühenden Emanationen der Lebenskraft. Darin das spezielle Muster ausfindig zu machen, dessen Eindruck sie zweimal kurz empfangen hatte, würde nicht einfach sein. Doch innerhalb von Sekunden machte sie zwei bedeutsame Entdeckungen. Erneut hatte sie den »Cloudsplitter« fast zum Still-
stand gebracht. Sie befand sich jetzt links von Robanes Haus, nicht mehr als zweihundert Meter davon entfernt und nahe genug, um undeutlich einen Schwarm kleiner, vogelähnlicher Wesen im Gebüsch des Gartens umherflattern zu sehen. Der visuelle Eindruck schien sich wie eine Schablone mit ihrer inneren Disposition zu decken, und unter den unkomplizierten Emanationen von Kleintierleben im Garten war nun ein Zentrum mentaler Emanation von ungleich größerem Interesse. Es befand sich im Haus und gehörte zu einem Menschen. Telzey glaubte, daß es Robane sei, den sie wahrnahm. Das war merkwürdig, denn wenn seine Psyche so gut abgeschirmt war, wie sie angenommen hatte, dann durfte sie ihn eigentlich nicht so wahrnehmen, wie sie es jetzt tat. Aber vielleicht war das gar nicht der Fall. Sie hatte einfach geglaubt, daß er ähnliche Schutzmaßnahmen entwickelt haben würde wie sie selbst. Vermutlich war es Robane. Aber wo war dann diese ältere, etwas dümmliche Haushälterin namens Feddler, von der er ihr erzählt hatte? Da ihre Psyche zweifellos völlig unabgeschirmt war, hätte ihre Anwesenheit jetzt zumindest ebenso stark bemerkbar sein müssen. Noch während dieses Gedankens empfing sie ein zweites starkes Signal. Das war nicht die Psyche irgendeiner törichten alten Frau. Es war überhaupt nichts Menschliches. Immer noch war es verwischt – aber es war die Psyche, nach der sie gesucht hatte. Die Psyche eines unheildrohenden, intelligenten, tigerartigen Wesens. Dieses Wesen war überaus nahe. Noch einmal ortete sie die Quelle der Empfindung.
Dann wußte sie es. Das Wesen befand sich nicht drüben im Wald; es hatte sich auch nicht irgendwo auf der Ebene versteckt. Es befand sich in Robanes Haus. Einen Augenblick lang ließ der Schock sie erstarren. Dann zog sie den »Cloudsplitter« in weitem Bogen nach links und entfernte sich, dem Waldrand folgend, von Robanes Haus. »Wo wollen Sie hin?« fragte Robanes Stimme. Telzey antwortete nicht. Der Aircar hatte bereits so viel Fahrt aufgenommen, wie die Drosselung der Maschine es erlaubte. Mit dem Zeigefinger wählte sie auf dem Kommunikator die Rufnummer von Rishs Aircar im Camp. Man hatte ihr eine Falle gestellt. Was für eine Art Falle, wußte sie jetzt noch nicht. Sie war sich auch nicht darüber klar, ob sie der Gefahr aus eigener Kraft entgehen konnte. Im Augenblick jedenfalls konnte sie nichts anderes tun, als ihren Gefährten sofort zu melden, wo sie sich befand ... Eine ziehende, bleierne Schwere legte sich auf sie. Sie sah ihre Hand von den Kommunikatortasten gleiten, spürte, wie sie nach links kippte und ihr Kopf, das Gesicht halb nach unten gedreht, auf die Seitenpolsterung sank. Sie registrierte noch, daß der Antrieb des »Cloudsplitter« aussetzte. Die Falle war zugeschnappt. Der Aircar sank langsam; sein vorausgerichteter Schwung war verebbt. Telzey bemühte sich verzweifelt, sich wieder aufzurichten und ihre Hand zur Steuerung zu heben. Doch nichts geschah. Dann bemerkte sie, daß nichts hätte geschehen können, selbst
wenn sie die Steuerung erreicht hätte. Wären nicht die eingebauten Antigravitations-Einheiten gewesen, der »Cloudsplitter« wäre wie ein Stein zur Erde gefallen. So aber sank er nur langsam, ein wenig um die Längsachse schwankend. Sie beobachtete, wie der feurige Nachthimmel über ihr hin und her schwankte, von Grauen gepackt, bei der Vorstellung, mit dem Gefährt in den Tod stürzen zu müssen, und verzweifelt bemüht, den entsetzlichen Gedanken nicht weiter Raum greifen zu lassen ... »Gern würde ich wissen«, sagte Robanes Stimme, »was Sie im letzten Moment dazu veranlaßte, meine Einladung auszuschlagen und wieder abzudrehen.« Sie drängte ihre entsetzliche Angst zurück, klammerte sich gleichsam an Robanes Stimme. Blitzartig strömte ihr Bewußtsein in offene telepathische Kanäle. Einen Augenblick lang war sie in seiner Psyche. Dann brach die Verbindung zusammen. Ihr Bewußtsein verdunkelte sich, schwand für Momente. Es war fast zuviel für sie gewesen. Ihr kam es vor, als hätte sie eine fotografische Aufnahme eines Teils von Robanes Psyche gemacht – einer zugleich schrecklichen und elenden Psyche. Sie spürte, wie der Aircar den Boden berührte, zur Ruhe kam. Der leichte Stoß ließ sie noch weiter zur Seite sinken. Sie atmete; ihre Augenlider flatterten. Aber ihre bewußten Versuche bewegte nicht einen Muskel ihres Körpers. Dann löste sich die Benommenheit. Immer noch hatte sie ein bedrückendes Angstgefühl, war aber nicht mehr länger bereit, hinzunehmen, daß sie hier sterben sollte. Sie würde eine Chance gegen Robane
haben. Sie bemerkte, daß er jetzt wieder sprach, offensichtlich unberührt von allem, was soeben vorgegangen war. »Ich bin kein Psi«, sagte seine Stimme. »Aber ich experimentiere gern – meine hohe Intelligenz hilft mir dabei. Ich habe sie benützt, um mir Instrumente zu bauen, die mich bewachen und meinen Wünschen hier dienen. Manche davon verleihen mir Fähigkeiten, die denen eines Psi gleichkommen. Andere vermögen Kräfte zu neutralisieren oder im Umkreis von einem Kilometer um diesen Raum herum das willkürliche Muskelsystem des Menschen zu lähmen, wie Sie es eben so eindrucksvoll erlebt haben. Ihr vorsichtiges Zögern und Ihren Fluchtversuch fand ich recht amüsant. Denn ich hatte Sie schon in der Gewalt. Hätte ich Ihnen erlaubt, den Kommunikator zu benutzen, Sie hätten festgestellt, daß er nicht funktionierte. Ich schaltete ihn aus, sobald Ihr Aircar in meinem Bereich war ...« Robane kein Psi? Einen Augenblick lang gab es stummes, irres Lachen in Telzeys Kopf. In jenem Moment des vollen Kontaktes zwischen ihnen hatte sie ein telepathisches System bei ihnen festgestellt, das in jeder Hinsicht funktionsfähig war bis auf den Umstand, daß er nichts davon wußte. Wenn er sprach, knisterte Psi-Energie bei seinen Worten. Sie kam von einer der Maschinen, aber nur ein Telepath konnte so eine Maschine bedienen. Robane hatte diese Möglichkeit nie in Betracht gezogen. Hätten die Störgeräusche der Maschine nicht den Kontakt unterbrochen, bevor sie ihn hatte festigen können, dann wäre er jetzt in Unkenntnis der Tatsachen viel verwundbarer gewesen als ein ge-
wöhnlicher Mensch ohne Psi-Kraft. Als er sprach, hatte sie sich entlang den verbalisierten, auf sie gerichteten Gedankenformen wieder auf ihn einzustellen versucht. Aber die Worte wurden durch eine Maschine projiziert. Wenn sie sie zurückverfolgte, stieß sie auf die Maschine. Sie würde auf einen Moment warten müssen, wo die Maschinen ihn einen Augenblick lang nicht schützten. Dann konnte sie Zugang zu seiner Psyche finden. Jetzt schwieg er. Er hatte vor, sie zu töten, wie er andere vor ihr getötet hatte. Und vielleicht konnte er seine Absicht ausführen, bevor sie diesen Zugang zu seiner Psyche fand. Aber er würde den nächsten Schritt nicht tun, ehe er sicher war, daß sie nicht um Hilfe gerufen hatte auf eine Art, die seinen Maschinen entgangen war. Was er bis jetzt getan hatte, konnte er erklären – er hatte einen um sein Haus herumfliegenden Aircar zur Landung gezwungen, ohne der Insassin etwas zuleide zu tun. Für irgendwelche sonstigen Handlungen gab es keine Beweise, außer dem Beweis in Telzeys Gehirn – und von dem wußte Robane nichts. So hatte sie ein paar Minuten Zeit, um ohne Einflußnahme von seiner Seite zu handeln. »Was ist denn nur mit dem Hund los?« fragte Gikkes nervös. »Er führt sich auf ... wie wenn er glaubte, da sei irgend etwas.« Die Unterhaltung verstummte. Aller Augen wandten sich zu Chomir. Er stand auf einem etwas erhöhten Absatz der Bergwand und starrte mit leisem Knurren auf die Ebene hinaus. »Sei nicht albern«, sagte Valia. »Er weiß nur nicht, wohin Telzey verschwunden ist.« Sie sah Rish an.
»Wie lange ist sie schon weg?« »Siebenundzwanzig Minuten«, sagte Rish. »Na, das ist doch wohl noch kein Grund zur Besorgnis, oder?« Valia hielt plötzlich inne und fügte dann hinzu: »Nun seht euch das einmal an!« Chomir war mit ein paar Sätzen zu Rishs Aircar gesprungen, stand jetzt daneben und starrte sie mit gelben Augen an. Wieder knurrte er, diesmal noch lauter. Gikkes, die ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, sagte: »Vielleicht ist Telzey etwas zugestoßen.« »Red doch kein dummes Zeug«, sagte Valia. »Was sollte ihr denn zugestoßen sein?« Rish sprang als erster auf. »Jedenfalls kann es nicht schaden, wenn wir einmal nachsehen ...« Er grinste Valia an, um ihr zu zeigen, daß er nicht im geringsten besorgt war, ging zum Aircar und öffnete die Tür. Lautlos schlüpfte Chomir an ihm vorbei in den Aircar. Rish runzelte die Stirn, schaute zu Valia und Dunker, die jetzt auch herüberkamen, wollte etwas sagen, schüttelte den Kopf, stieg in den Aircar und schaltete den Kommunikator ein. »Weißt du ihre Nummer?« fragte Valia mit unsicherem Blick auf Chomir. »Mhm.« Sie sahen zu, wie er die Nummer wählte, und warteten. Valia räusperte sich nach einer Weile und sagte: »Wahrscheinlich ist sie ausgestiegen und spaziert gerade irgendwo rum.« »Natürlich spaziert sie gerade rum«, sagte Rish ein wenig gereizt. »Ruf trotzdem weiter«, sagte Dunker. »Tu ich ja.« Rish warf wieder einen Blick auf Cho-
mir. »Wenn sie in der Nähe ihres Aircars ist, wird sie gleich antworten ...« »Warum antworten Sie mir nicht?« fragte Robanes Stimme ungeduldig. »Es wäre sehr töricht von Ihnen, mich ärgern zu wollen.« Telzey reagierte nicht. Ihr Blick ging zum flammenden Sternenhimmel. Ihr Bewußtsein wartete gespannt und geduldig auf die geringste Spur unbewußter Gedanken oder Gefühle, die nicht durch die Maschinen blockiert waren und ihr noch einmal Zugang zu den telepathischen Ebenen von Robanes Psyche eröffnen konnte. Während der Minuten, in denen sie gelähmt auf dem Aircarsitz gelegen hatte, hatte sie ihre einzelnen Eindrücke zu einem Gesamtbild zusammengefügt. Sie verstand Robane jetzt ganz und gar. Der Instrumentenraum des Hauses war sein Lebensbereich. Es war ein großer Raum, dessen Zentrum eine Insel aus makellosen Präzisionsapparaten bildete. Robane entfernte sich selten von ihnen. Von Spiegelbildern, Reflexen auf metallenen Instrumenten und seinen Gedanken über sich selbst wußte sie, wie er aussah. Ein halber Mensch, von der Gürtellinie abwärts in eine schwebende, mobile Maschine ähnlich einem winzigen Aircar eingeschlossen, die ihn trug und am Leben erhielt. Die kleine Maschine arbeitete ausgezeichnet; der halbe Körper in ihr war stark und robust. In seiner Isolation widmete Robane seiner Erscheinung große Aufmerksamkeit. Das Jakkett, das seinen Oberkörper bis hinab zur Maschine bekleidete, war nach der letzten Mode von Orado City geschnitten, sein volles Haar sorgfältig frisiert.
Vor dem Unglücksfall, der ihn zum Gefangenen dieser Maschine machte, hatte er als Wissenschaftler, Sportler und Weltmann ein erfülltes Leben geführt. Den Mann, der für die Katastrophe verantwortlich war, für seinen Fehler büßen zu lassen, war all sein Sinnen und Trachten, und er machte seine Pläne mit all der Umsicht, deren er fähig war. Für die Föderation hatte er an der Weiterentwicklung von Vorrichtungen gearbeitet, die der direkten Übermittlung von Sinnesempfindungen von einem lebenden Gehirn zum anderen dienen und auch für andere verwandte Funktionen brauchbar sein sollten. In seinem Refugium im Melna-Park hatte Robane diese Instrumente geduldig weiter verfeinert, ohne freilich zu ahnen, daß der Erfolg seiner Arbeit zum Teil auf die eigenen latenten Psi-Fähigkeiten zurückzuführen war, die er durch seine Experimente stimuliert hatte. In der Zwischenzeit hatte er, für die verbleibenden Stadien seines Plans Vorkehrungen treffend, automatische Maschinen installiert, die den Platz einer Haushälterin einnahmen, und die alte Frau aus seinen Diensten entlassen. Ein Schmugglerring hatte ihm eines der wilden Raubtiere dieses Kontinents geliefert, für das er im Untergeschoß seines Hauses ein Quartier eingerichtet hatte. Robane schulte das Tier und sich selbst, sandte die konditionierte Bestie zu nächtlicher Jagd aus und ließ sie zurückkehren, nachdem er mental an ihren tödlichen Raubzügen teilgenommen hatte. Allein dies schon fand er erregender als alle Jagderlebnisse, die er vorher gehabt hatte. Noch größere Erregung verschaffte es ihm, in Fallen gefangene Tiere mit einer Droge zu behandeln, die ihre Gefühle seinen Instrumenten zugänglich
machte, wenn er sie freiließ, und dann die KillerBestie auf ihre Spur setzte. Abwechselnd, ja sogar gleichzeitig konnte er Jäger und Gejagter sein und jede Jagd bis hin zu dem Augenblick verfolgen, wo sie mit den letzten Pulsschlägen der erlegten Beute ihr grausiges Ende fand. Als e r den Eindruck hatte, daß e r nichts mehr dazulernen konnte, hatte er sich von der Unterwelt seinen Feind ausliefern lassen. Noch in derselben Nacht hatte er den Mann aus seiner Betäubung geweckt, ihm gesagt, was ihm bevorstand und ihn dann freigesetzt und um sein Leben laufen lassen. Eine Stunde später hatten Robane und sein blutrünstiger Helfer die menschliche Beute erlegt, und seine Instrumente hatten die Empfindungen des unter Drogen gesetzten Nervensystems seines Opfers empfangen und ihm getreulich sein Grauen und seine letzte Pein übermittelt. Robane hatte sich gerächt. Doch hatte er nicht die Absicht, fürderhin auf den Kitzel des neuen Sports zu verzichten, den dieser bei ihm auslöste. Die Sache nahm ihn fast völlig gefangen, kaum minder gefangen als das Tier, das er zu einem Ableger, einer Erweiterung seiner selbst gemacht hatte. Nacht für Nacht zogen sie aus, um zu lauern, Spuren zu verfolgen, zu jagen und zu töten. Sie wurden einander gleich an Gerissenheit, Ausdauer und wilder Kühnheit, und ihre Geschicklichkeit war so groß, daß sie die Tiere des Parks mit ihrem Sport nicht in Panik versetzten. Am Morgen waren sie in Robanes Haus zurückgekehrt, um den größten Teil des weiteren Tages schlafend zu verbringen. Unerwartete menschliche Besucher sahen keine Spur ihrer nächtlichen Raubzüge.
Robane war sich kaum bewußt, wie sehr ihn dieses neue Leben gefangengenommen hatte. Gewöhnlich verschaffte ihm die Jagd auf Tiere Befriedigung. Allerdings befürchtete er jetzt kaum mehr, entdeckt zu werden, und manchmal erinnerte er sich an den besonderen Kitzel, den ihm die Todesqual seines Feindes verschafft hatte. Von da an ließ er sich von bezahlten Helfern Opfer ins Haus liefern, und er jagte von neuem menschliches Wild. Gesundes, junges Wild, das verzweifelt versuchte, sich zu retten, aber nie sehr weit kam. Das war etwas, was ihm die Menschheit schuldete. Eine Zeitlang hatte er eine gewisse Besorgnis. Während seiner Arbeit für die Regierung hatte er mehrere Male Kontakt mit einem Telepathen gehabt, der zu einer Anzahl von Experimenten hinzugezogen worden war. Robane hatte sich alle ihm zugänglichen Kenntnisse über diese Art von Menschen angeeignet und glaubte, daß seine Instrumente ihn davor schützen würden, von ihnen entdeckt zu werden. Ganz sicher war er sich dessen nicht. Aber in den zwei Jahren, während er im Melna-Park ungestört seinen blutrünstigen Vergnügungen hatte frönen können, hatten sich seine Zweifel in diesem Punkte fast völlig zerstreut. Unmittelbar nach seiner letzten Menschentötung Telzeys Stimme zu hören, hatte ihn sehr erschreckt. Als er aber erkannt hatte, daß dieser Kontakt unabsichtlich und zufällig gewesen war, war ihm der Gedanke gekommen, daß dies für ihn eine Gelegenheit sei, herauszufinden, ob ein Telepath ihm gefährlich werden konnte. Sie schien jung und unerfahren zu sein. Das bedeutete, daß er ohne großes Risiko für
sich selbst unter Verwendung seiner Instrumente mit ihr umgehen konnte. Rish und Dunker waren mit Chomir in Rishs Aircar, dachte Telzey, und eine dritte Person, die Valia zu sein schien, saß hinter ihnen. Der Aircar war in der Luft; sie hatten also begonnen, nach ihr zu suchen. Vielleicht war ihre Besorgnis so groß, daß sie auch die Park-Ranger nach ihr suchen lassen würden; doch das war nicht sehr wahrscheinlich. Chomir mußte sie jetzt mit großer Vorsicht behandeln. Hätte er Furcht bei ihr verspürt, er wäre sofort in der ungefähren Richtung auf sie zu losgerannt, um sie zu beschützen. Doch das hätte nicht das geringste genützt. Jetzt folgte er Anweisungen, von denen er nicht wußte, daß er sie bekam. Er hatte erkannt, welche Richtung der Aircar einschlagen sollte, und würde es Rish und den anderen sofort klarmachen, wenn sie von dieser Richtung abweichen sollten. Da sie selbst keinerlei Vorstellung hatten, in welcher Richtung sie nach Telzey suchen sollten, würden sie sich vermutlich auf Chomirs Intuition verlassen. Somit würden sie bald in ihrer Nähe sein. War sie zu diesem Zeitpunkt außerhalb der Ein-KilometerZone, in der Robanes Energie-Kompensatoren wirkten, dann konnten sie sie ohne Schwierigkeiten an Bord nehmen. Wenn nicht, würde sie sie durch Chomir wieder zum Abdrehen bringen müssen, wenn sie nicht mit ihr in dieselbe Gefahr geraten sollten. Robane würde nicht versuchen, ihnen etwas anzutun, wenn man ihn nicht dazu zwang. Telzeys Verschwinden in diesem Wildpark konnte noch als unerklärbarer Unfall abgetan werden; für ihn war kein
allzu großes Risiko damit verbunden. Wenn allerdings drei weitere Studenten des Pehanron-College gleichzeitig mit ihr verschwanden, würde zweifellos eine gründliche Untersuchung stattfinden. Und das konnte sich Robane nicht leisten. »Warum antworten Sie nicht?« Ein Unterton von frustrierter Wut war jetzt in Robanes Stimme. Das Paralyse-Feld, das sie lähmte, machte sie gleichzeitig unerreichbar für ihn. Es war, als sei sie durch eine Glaswand von ihm getrennt. Er hatte gesagt, er habe eine Waffe auf sie gerichtet, die sie augenblicklich töten könne. Und nach all dem, was Telzey in seiner Psyche gesehen hatte, wußte sie, daß es so war. Wahrscheinlich brauchte er das Paralyse-Feld nur ein wenig zu verändern, um ihren Herzschlag oder ihren Atem anzuhalten. Freilich würde das die Fragen, die er zu PsiFähigkeiten hatte, nicht beantworten. Sie hatte ihm Angst gemacht heute abend; und jetzt mußte er sie in den Tod jagen, entsetzt und hilflos wie seine anderen menschlichen Opfer, bevor er sich wieder sicher fühlen konnte. »Glauben Sie, ich fürchtete mich davor, Sie zu töten?« fragte er jetzt in fast kläglich verwirrtem Ton. »Glauben Sie mir, wenn ich auf den Abzug drücke, den mein Finger berührt, wird man mir wegen Ihres Verschwindens nicht einmal Fragen stellen. Unsere dankbare Regierung hat die Parkverwaltung angewiesen, mir in Anbetracht meiner unschätzbaren Leistungen für die Menschheit und meiner jetzigen Behinderung die allerzuvorkommendste Behandlung angedeihen zu lassen. Niemand würde auch nur daran denken, mich hier z u belästigen, weil irgendein dum-
mes Mädchen im Melna-Park verschwunden ist ...« Die Gedankenstimme fuhr fort. Ihre Wut und Frustration war durch eine Maschine gefiltert, wobei Telzey manchmal sogar den seltsamen Eindruck einer wütenden, frustrierten Maschine hatte. Hin und wieder schwand die Verbindung völlig, war dann Sekunden später wieder da. Telzey wandte ihre Gedanken von der Maschine ab. Sie mußte auf eine neue Brücke des Unbewußten zu Robanes Psyche warten und durfte sich nicht ablenken lassen. Ihn auf direkte Weise zu erreichen, durfte sie keineswegs versuchen. Robanes bewußte Sinnesvorgänge wurden durch die Maschine mechanisch kanalisiert, fokussiert und projiziert; das Resultat war eine stetig wechselnde, flakkernde, alptraumhafte Verzerrung von Emanationen. Der Versuch, auf diesem Wege zu ihm durchzudringen, hatte sie geblendet und fast betäubt, so daß sie ihn rasch wieder abgebrochen hatte. Jede Minute, die sie jetzt gewann, verbesserte ihre Entkommenschance, doch fürchtete sie, ihn nicht mehr allzu lange hinhalten zu können. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Ranger-Patrouille oder irgend jemand anderer zufällig gerade jetzt vorbeikommen, ihren »Cloudsplitter« am Boden sehen und der Sache nachgehen würde, war vermutlich gering, mußte aber Robane trotzdem zur Vorsicht mahnen. Wenn sie sich allzu widerspenstig verhielt, würde er sich eines schönen Momentes dafür entscheiden, ihr auf der Stelle den Garaus zu machen. Sie durfte also nicht allzu viel Widerstand leisten. Da sie ihm keine Antwort gab, würde er auf anderem Weg versuchen, herauszufinden, wie er sie kontrollieren konnte. Wenn er das tat, würde sie sich halb
wahnsinnig vor Angst gebärden – was sie in gewisser Weise tatsächlich war, wenn es auch jetzt ihre Denkfähigkeit nicht beeinflußte – und alles tun, was er ihr sagte. Mit einer Einschränkung. Nach Abschaltung des Paralyse-Feldes würde er sie anweisen, zum Haus zu kommen. Das durfte sie unter keinen Umständen tun. Hinter der Eingangstür befand sich eine Schleusenkammer. Sobald sie die betrat, schloß sich die Tür; und mit dem nächsten Atemzug würde sie eine volle Dosis einer Droge in sich aufgenommen haben, die Robanes Instrumenten den Zugriff auf ihre Psyche erlauben würde. Über die möglichen Folgen war sie sich nicht im klaren. Vielleicht würde sie nicht mehr in der Lage sein, ihre Psi-Abschirmung aufrechtzuerhalten, so daß ihre Gedanken Robane zugänglich wurden. Wußte er, was sie vorhatte, dann würde er sie auf der Stelle töten. Die Droge konnte aber auch ganz allgemein ihre telepathischen Fähigkeiten beeinträchtigen und ihre Hoffnung, ihn unter geistige Kontrolle zu bekommen, zunichte machen. »Ich überlege mir«, sagte Robanes Stimme, »daß Sie sich vielleicht nicht vorsätzlich weigern, mir zu antworten. Möglicherweise sind Sie gar nicht dazu in der Lage – entweder wegen der Wirkung des ParalyseFeldes, oder ganz einfach aus Furcht.« Telzey hatte sich schon gefragt, wann er auf diesen Gedanken kommen würde. Sie wartete mit wachsender Spannung. »In einem Augenblick werde ich Sie aus dem Spannungsfeld entlassen«, fuhr die Stimme fort. »Was dann geschieht, hängt ganz davon ab, wie Sie die Anweisungen ausführen, die Sie erhalten werden.
Versuchen Sie irgendwelche Tricks, kleines PsiMädchen, dann sind Sie tot. Ich weiß sehr wohl, daß Sie sich nach der Abschaltung des Feldes normal bewegen können. Machen Sie aber keine Bewegung, ohne dazu angewiesen worden zu sein. Verfahren Sie aufs Genaueste nach den Anweisungen, und tun Sie es ohne Zögern. Vergessen Sie diese beiden Dinge nicht. Ihr Leben hängt davon ab.« Er hielt inne und sagte dann: »Das Feld ist jetzt abgeschaltet ...« Telzey fühlte sich plötzlich stark und leicht. Ihr Herz begann wild zu pochen. Sorgfältig vermied sie jede Bewegung. Alsbald sagte Robanes Stimme: »Berühren Sie im Aircar nichts, was Sie nicht unbedingt berühren müssen. Ihre Hände müssen sichtbar bleiben. Steigen Sie aus, gehen Sie fünf Meter vom Aircar weg und bleiben Sie stehen. Dann drehen Sie sich zum Haus um.« Telzey kletterte aus dem Aircar. Sie konnte ein Zittern nicht unterdrücken; aber es war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Eigentlich war es gar nicht sehr schlimm. Sie ging fünf Meter vom Aircar weg, blieb stehen und wandte sich dann dem Haus mit den orange leuchtenden Fenstern zu. »Schauen Sie zu Ihrem Aircar hinüber«, befahl Robane. Sie gehorchte. Er hatte den Kraft-Neutralisator ausgeschaltet, und der Aircar bewegte sich. Er hob senkrecht vom Boden ab, begann in einer Höhe von zehn Metern vorwärts zu gleiten und flog auf den Wald hinter dem Haus zu. Zunehmend beschleunigend, verschwand er über den Bäumen. »Er wird seinen Kurs verändern, sobald er die Ber-
ge erreicht hat«, sagte Robanes Stimme. »Vielleicht fliegt er im Kreis herum und ist noch über dem Park, wenn man ihn findet. Größer ist jedoch die Wahrscheinlichkeit, daß er Hunderte von Kilometern weg sein wird. Für ihr Verschwinden aus einem fliegenden Aircar wird man verschiedene Erklärungen suchen, die uns jetzt nicht zu beschäftigen brauchen ... Strecken Sie die Arme waagrecht nach vorn, kleine Psi. Weiter auseinander. Bleiben Sie jetzt so stehen.« Telzey streckte die Arme aus und wartete. Einen Augenblick später zuckte sie überrascht zusammen. Ihre Hände und Arme, Dunkers Uhr, die Ränder ihrer kurzen Hemdsärmel – alles schien plötzlich weiß zu glühen. »Keine Bewegung!« sagte Robanes Stimme scharf. »Dies ist nur ein Suchlicht. Es tut nicht weh.« Sie erstarrte wieder, wandte den Blick nach unten. Was sie von sich, ihrer Kleidung und dem Stück Boden um ihre Füße herum sah, leuchtete alles in demselben kalt-weißen Schein wie fluoreszierender Kunststoff. Sie hatte das unheimliche Gefühl, durchsichtig zu sein. Als sie wieder auf ihre Hände schaute, sah sie, daß die feinen Knochen sich als Linien von etwas dichterem Weiß aus dem Schimmer abhoben. Sie spürte nichts, und der Strahl beeinträchtigte auch nicht ihre Sehfähigkeit. Aber er war ungemein wirkungsvoll. An verschiedenen Stellen begannen Funken wärmelosen Lichtes aus ihrer Kleidung zu sprühen. Innerhalb von Augenblicken hatte Robane ein halbes Dutzend kleinerer Gegenstände in ihren Taschen aufgespürt und ihr befohlen, sie einen nach dem anderen wegzuwerfen, dazu auch die Uhr. Er wollte verhindern, daß sie einen getarnten Kommu-
nikator einsetzte, und vermutete vielleicht sogar in dem einen oder dem anderen Gegenstand eine Waffe. Dann ging der Strahl wieder aus, und er wies sie an, die Arme zu senken. »Und jetzt vergessen Sie nichts«, fuhr seine Stimme fort. »Vielleicht sind Sie nicht in der Lage, mit mir zu sprechen. Vielleicht könnten Sie sprechen, halten es aber für klüger, in dieser Situation zu schweigen. Darauf kommt es nicht allzu sehr an. Aber ich will Ihnen etwas zeigen. Es soll Sie davon überzeugen, daß es in keiner Weise angebracht ist, mich irgendwie überlisten zu wollen ...« Zwischen Telzey und dem Hause, zwanzig Meter von ihr entfernt, begann plötzlich etwas Gestalt anzunehmen. Schrecken durchfuhr sie wie eine Mischung aus Feuer und Eis, ehe sie sah, daß es eine Bildprojektion war, die ein paar Zentimeter über dem Erdboden schwebte. Es war ein Bild von Robanes Killer – ein großes, massiges Geschöpf, das noch massiger wirkte durch das flauschige Fell, das wie ein Mantel den größten Teil seines Körpers bedeckte. Das Geschöpf schien hingekauert zu sein; ein Paar mächtige Vorderglieder ragten aus dem Mantel aus Fell. Ohren wie nach oben gerichtete Hörner befanden sich an der Seite des Kopfes, und große, runde, dunkle Augen, die Augen eines nächtlichen Räubers, saßen über dem hakenartig gekrümmten, sägezähnigen Schnabel. Nach ein paar Sekunden verschwand das Bild. Sie wußte, was für ein Geschöpf das war. Die Spooks waren einst auf diesem Kontinent die dominierende Lebensform gewesen. Die ersten menschlichen Ansiedler hatten sie wegen ihrer grenzenlosen Gier nach
Menschenfleisch gehaßt und gefürchtet und eine Legende aus ihnen gemacht, die noch lange, nachdem sie aus dem größten Teil des Territoriums vertrieben worden waren, in den Wäldern von Orado umging. Selbst wenn sie zwischen Kraftfeldern gefangengehalten wurden, beunruhigte ihr stechender Blick, ihre Größe und die Beweglichkeit eines gespenstisch anmutenden Körpers leicht zu beeindruckende Leute. »Mein Jagdpartner«, sagte Robanes Stimme. »Mein zweites Ich. Ja, es ist ganz und gar nicht angenehm, zu wissen, daß dieses Wesen einen nachts im MelnaPark verfolgt. Heute abend hatten Sie einen Vorgeschmack davon. Hüten Sie sich davor, mich von neuem zu reizen. Tun Sie auf der Stelle, was ich Ihnen sage. Kommen Sie jetzt zum Haus.« Telzey sah, wie die Tür im Gartenzaun zur Seite glitt. Ihr Herz begann heftig zu pochen. Sie machte keine Bewegung. »Kommen Sie zum Haus!« wiederholte Robane. Etwas begleitete die Worte, das Aufwallen einer gewaltigen, unterbewußten Erregung, das wilde Verlangen nach einer Droge ... Aber Robanes Droge war der Tod. Als sie sich auf diese Erregung konzentrieren wollte, verschwand sie. Das war es, worauf sie gewartet hatte: Eine Verbindung mit den ungeschützten Schichten seiner Psyche. Gelang diese Verbindung noch einmal, und konnte sie sie nur für Sekunden aufrechterhalten ... Doch gelang sie nicht wieder. Es gab eine lange Pause, ehe Robane sprach. »Merkwürdig«, sagte er langsam. »Sie weigern sich. Sie wissen, daß Sie hilflos sind. Sie wissen, was ich tun kann. Dennoch weigern Sie sich. Ich frage mich ...«
Er verstummte. Er war jetzt argwöhnisch, sehr argwöhnisch geworden. Einen Moment lang spürte sie fast, wie sein Finger den Abzug seiner Waffe berührte. Doch die Verlockung war da, in seiner Reichweite. Sein Verlangen, seine Sucht, boten ihr eine Angriffsfläche. Aber völlig exponieren würde er sich nicht ... »Also gut«, sagte die Stimme. »Sie langweilen mich. Ich wollte nur sehen, wie ein Psi sich in einer solchen Lage verhält. Das weiß ich jetzt. Sie haben so schreckliche Angst, daß Sie kaum denken können. Also laufen Sie. Laufen Sie, so schnell Sie können, kleine Psi. Denn bald schon folge ich Ihnen.« Telzey starrte zu den Fenstern hinauf. Es war gut, wenn er glaubte, daß sie vor Angst kaum denken konnte. »Laufen Sie!« Als habe ihr das Kommando einen elektrischen Schlag versetzt, fuhr sie herum und rannte weg von Robanes Haus, zurück zur Ebene im Norden. »Vor etwas warne ich Sie«, sagte Robanes Stimme, die von ihr gleichen Abstand zu halten schien. »Versuchen Sie nicht, auf einen Baum zu klettern. Wer das tut, den erwischen wir sofort. Wir können besser klettern als Sie. Wenn der Baum groß genug ist, klettern wir Ihnen nach. Ist er das nicht, oder wagen Sie sich auf zu dünne Äste hinaus, schütteln wir Sie einfach herunter. Also laufen Sie.« Sie blickte zurück, als sie die erste Baumgruppe erreichte. Die orangen Fenster des Hauses schienen ihr nachzustarren. Sie lief zwischen den Bäumen hindurch auf die andere Seite, und jetzt war das Haus
nicht länger zu sehen. »Seien Sie jetzt clever«, sagte Robanes Stimme. »Die Cleveren lieben wir. Die haben eine Chance. Vielleicht sieht Sie jemand, bevor wir Sie packen. Oder es könnte Ihnen auch gelingen, uns abzuschütteln. Vielleicht sind Sie die eine Glückliche, die davonkommt. Das würde uns allerdings sehr, sehr leid tun. Also geben Sie Ihr Bestes, kleine Psi. Geben Sie ihr Bestes. Dann wird es eine aufregende Jagd.« Sie sandte einen Such-Gedanken aus, berührte kurz Chomirs Psyche. Der Aircar war immer noch auf dem Weg zu ihr, aber doch zu weit entfernt, um von unmittelbarem Nutzen für Sie zu sein ... Sie rannte. Sie war in so guter Kondition, wie eine Fünfzehnjährige, die mehrere Sportarten ernsthaft b etrieb, nur sein konnte. Aber um aus dem Bereich von Robanes Waffen zu entkommen, mußte sie noch fünfhundert Meter zurücklegen, und auf diesem tückischunebenen Boden war das eine lange, lange Strecke. Wieviel Zeit würde er ihr geben? Manchen von seinen Opfern hatte er schon einen Vorsprung von einer halben Stunde oder noch mehr eingeräumt ... Sie begann, ihre Schritte zu zählen. Robane schwieg. Als sie glaubte, auf den letzten der fünfhundert Meter zu sein, sah sie wieder Bäume vor sich. Sie wußte noch, daß sie auf dem Weg zum Haus einen kleinen Bach mit einer unregelmäßigen Baumgruppe dahinter überquert hatte. Das mußte die Stelle sein. Und in diesem Fall war sie jenseits der kritischen tausend Meter-Grenze. Eine hungrige Erregung brandete gegen sie an und verebbte. Sie hatte versucht, diesem Gefühl einen Ge-
genschlag zu versetzen, aber vergeblich. Einen Augenblick später hörte sie Robanes Stimme. »Jetzt fangen wir an ...« So bald schon? Sie war geschockt. Er tat nicht einmal so, als räumte er ihr eine Chance ein, zu entkommen. Ein Gefühl der Schwäche legte sich lähmend auf sie, als sie in das Bachbett hinuntersprang. Auf der anderen Seite erhoben sich ein paar große Tiere aus dem Wasser, brachen durch das Gebüsch am Ufer und liefen davon. Telzey bemerkte sie kaum. Nach links, bachabwärts, dachte sie. Es war ein rasch fließender, kleiner Fluß. Der Spook mußte dem Geruch ihrer Fährte folgen, doch würde er sie im Wasser verlieren ... Aber die anderen Opfer hatten bestimmt denselben Gedanken gehabt. Wenn der Spook die Spur am anderen Ufer nicht wiederfand und auch im heranfließenden Wasser keinen menschlichen Geruch wahrnehmen konnte, brauchte er ihr nur stromabwärts zu folgen, bis er sie entweder im Wasser hörte oder die Stelle erreichte, wo sie es wieder verlassen hatte. Sie würden erwarten, sagte sie sich, daß sie den Fluß durchquerte, nicht aber, daß sie umkehren und wieder die Richtung einschlagen würde, in der Robanes Haus lag. Oder doch? Jedenfalls mußte sie es versuchen. Sie rannte stromabwärts, so schnell sie konnte, stolperte über glitschige Steine, des Geräusches nicht achtend. Verlor sie Zeit, dann war das gefährlicher, als wenn sie ein wenig Lärm machte. Nach hundert Metern ragten dicke Äste in geringer Höhe über das Wasser. Sie könnte sich an ihnen hochziehen, hinauf ins Geäst klettern.
Aber andere mußten das auch versucht haben. Robane und seine Bestie kannten solche Stellen und würden sie alle überprüfen. Keuchend duckte sie sich unter den niedrig hängenden Ästen und rannte weiter. In einiger Entfernung hob sich eine dichtere Baumgruppe dunkel vom hellen Sternenhimmel ab. Ein kleiner Wald, der sich zu beiden Seiten des Wasserlaufes erstreckte. Vielleicht fand sie dort ein gutes Versteck. Andere, deren Beine wie die ihren allmählich schwach zu werden begannen, mußten denselben Gedanken gehabt haben. Sie hörte plötzlich Robanes Stimme. »Flußabwärts sind Sie also gelaufen. Sehr gute Idee ...« Die Stimme verstummte. Zum erstenmal fühlte sich Telzey von Panik gepackt. Vor ihr machte der Fluß eine starke Biegung. Das linke Ufer war steil und sicher nicht leicht zu erklimmen. Mit den Blicken folgte sie seinem Verlauf. Ein wenig weiter von ihr entfernt ragte Wurzelwerk aus der nackten Erde. Sie lief darauf zu, packte es, zog sich daran hoch und kletterte über die Uferböschung. Sie rappelte sich auf, lief zurück, dorthin, wo Robanes Haus sein mußte, stürzte im hohen Gras. Sie hob den Kopf und starrte zum Fluß zurück. Eine Lücke war im Gebüsch am anderen Ufer, durch die das Sternenlicht schien. So lautlos wie möglich atmend sah sie hinüber. Wenn der Wind in der falschen Richtung ging, fiel ihr jetzt ein, konnte der Spook ihre Witterung aufnehmen. Doch spürte sie keinen Wind. Etwa eine Minute verging – sicher nicht mehr. Dann huschte ein dunkler Umriß durch die Lücke im Gebüsch und eilte flußabwärts. Der Umriß war grö-
ßer, als sie ihn von der Projektion in Erinnerung hatte; und die mühelos-leichte Bewegung einer so riesigen Kreatur hatte allein schon etwas Erschreckendes. Einen Augenblick lang hatte Telzey den großen, runden Kopf mit den spitzen Ohren erkennen können. Spook schrien ihre Nerven. Ein Gefühl des Entsetzens durchflutete sie und schien ihr jegliche Kraft zu rauben. Auch die anderen hatten bei ihrer Flucht dieses Gefühl gehabt, wenn sie versuchten, sich zu verbergen, und wußten, daß es kein Entkommen gab vor diesem Verfolger ... Sie spannte alle ihre Kräfte an, zählte hundert Sekunden ab, sprang wieder auf und lief auf einen Punkt am Flußufer zu, der hundert Meter oberhalb der Stelle lag, wo sie herausgeklettert war. Wenn das Ungeheuer wieder auf dieser Seite des Wasserlaufes erschien und von neuem ihre Spur aufnahm, konnte es annehmen, daß sie versuchte, nun stromaufwärts zu entkommen. Geräuschlos ließ sie sich zum Fluß hinunter, wandte sich wieder stromabwärts und hatte alsbald erneut den Wald vor Augen, der ihr als Versteck so günstig erschienen war. Der Spook mußte sich jetzt zwischen diesen Bäumen befinden und nach ihr suchen. Sie folgte der Biegung, wo sie sich ans Ufer gezogen hatte, und watete weitere hundert Schritte weiter, jedes Geräusch so gut wie möglich vermeidend. Jeden Augenblick mußte sie damit rechnen, den Spook zu hören oder zu sehen. Schließlich kletterte sie aufs rechte Ufer hinauf, schlich sich vorsichtig durch das Gestrüpp auf der Böschung und rannte dann nach Norden, die leicht ansteigende, offene Ebene hinauf. Nach etwa hundert Metern begann die von unterdrückter Angst verursachte Schwäche in ihren Beinen
zu weichen. Ihr Atem ging regelmäßig. Der Aircar mit den Freunden war inzwischen noch näher gekommen, und in wenigen Minuten schon würde sie aus dem Gefahrenbereich sein. Sie sah nicht zurück. Wenn der Spook sich von hinten näherte, konnte sie ihm nicht durch Laufen entkommen, und wenn sie nach Schatten auf ihrer Spur Ausschau hielt und so ihrem Schrecken Nahrung verlieh, würde das wenig nützen. Gespannt lauschte sie jetzt auf Zeichen von Robane. Vielleicht war er jetzt, unruhig geworden, an seinen Sichtgeräten, um sie aufzuspüren und seine Kreatur auf sie zu hetzen. Dagegen konnte sie freilich nichts tun. Hin und wieder schien sie eine kurze Empfindung von ihm zu haben, doch war es zu keinem deutlichen Kontakt gekommen, seit er zuletzt gesprochen hatte. Sie erreichte ein Wäldchen, das sie durchquerte. Als sie auf der anderen Seite herauskam, scheuchte sie eine Herde anmutiger, rehähnlicher Tier auf, die schattenartig davonhuschten. Plötzlich fiel ihr ein, was sie einmal gehört hatte: Manchmal verwischten auf der Flucht befindliche Tiere ihre Spur, indem sie sich unter andersartige Tiere mischten ... Ein paar Minuten später war sie sich noch nicht sicher, ob das auch in diesem Falle etwas nützen würde. Andere Herden waren in ihrer Nähe. Manchmal sah sie schattenhafte Bewegungen zur Linken oder zur Rechten. Dann gab es Alarmsignale, das Stampfen von Hufen. Und sogleich waren sie verschwunden wie Rauch im Wind. Und ließen Telzey allein zurück. Dies waren Robanes Jagdgründe; die Tiere hier waren vielleicht mehr auf der Hut als die in anderen
Teilen des Parks. Und vielleicht spürten sie, dachte Telzey, daß sie heute nacht die Gejagte war und ihnen Gefahr brachte. Aus welchen Gründen auch immer – die Tiere flohen sofort aus ihrer Nähe. Indessen hörte sie mehrere Male, daß fliehende Herden hinter ihr vorbeistürmten, so daß sie vielleicht tatsächlich ihre Spur derart überdeckten, daß sie nicht mehr leicht zu verfolgen sein würde. Sie suchte den Himmel weiter nach dem grünen Blinklicht eines Aircars ab oder nach dem Strahl seiner Suchscheinwerfer. Allzu weit konnten sie nicht mehr sein. Ihr Schritt wurde langsamer. Ihre Kräfte waren noch nicht erschöpft, und sie war auch nicht außer Atem. Dennoch ging es jetzt an die letzten Kraftreserven, das wußte sie. Sie sandte einen Gedanken zu Chomirs Psyche, erreichte sie sofort und erblickte im selben Moment einen pulsierenden grünen Funken, der vor ihr in eine Senke hinuntertauchte und jenseits des bewaldeten Stückes verschwand. Hoffnung stieg in ihr hoch. Sie wandte sich nach rechts und lief auf die Stelle zu, wo der Aircar wieder erscheinen mußte. Sie waren gekommen. Sie mußte sie nur noch auf sich aufmerksam machen ... »Hier!« Sie sandte den Gedanken kurz in die Psyche des Hundes. Es bedeutete: »Hier bin ich! Haltet Ausschau nach mir. Da! Kommt zu mir!« Nicht mehr. Chomir war hinreichend konditioniert, ohne um die Gründe zu wissen. Diese Vorstellung einer konkreten Gefahrensituation, in der sie sich befand, würde ihn wild und für ihre Freunde gefährlich machen. Fast hörte sie das tiefe Knurren, mit dem er antwortete. So mußte es genügen. Chomir wußte jetzt,
daß sie irgendwo in der Nähe war, und Rish und die anderen würden es sofort an seinem Verhalten erkennen. Wenn der Aircar wieder erschien, würden seine Scheinwerfer den Boden nach ihr absuchen. Telzey sprang in eine kleine Vertiefung hinein. Erschreckt stellte sie fest, daß ihre Knie vor Müdigkeit einknickten, und kletterte zitternd auf der anderen Seite wieder heraus. Sie lief ein paar Schritte und erstarrte dann plötzlich. Robane! Sie spürte jetzt seine Nähe, seine dichte, widerliche Erregung. Dies schien der Augenblick zu sein, auf den sie gewartet hatte – seine Psyche war offen, nicht auf der Hut ... Sie sah sich vorsichtig um. Neben einem Gebüsch, zehn Meter vor ihr, lag etwas. Es schien ein vom Wind zusammengeblasener Blätterhaufen zu sein, doch bewegte sich die Oberfläche auf seltsam leichte Art. Dann roch Telzey einen Hauch scharfer, animalischer Ausdünstung, und sie fühlte die heiß-kalten Schauer des Entsetzens durch ihren Körper jagen. Langsam hob der Spook den Kopf aus der flauschigen, gefleckten Mähne und sah sie an. Dann veränderte sich seine Stellung ... Ein sanftes Gleiten gute fünf Meter nach rechts, so leicht, als spränge da ein großer Schaumgummiball. Der Ball erhob sich auf die Hinterbeine, wobei der langhaarige Pelz lose wie ein Mantel an ihm hing, und ließ ein fast zufrieden klingendes Knurren vernehmen. Um Telzey herum schien alles zu explodieren. Die Explosion erfolgte in ihrer Psyche. Zu lange, zu angestrengt zurückgehaltene Spannungen entluden sich jetzt in siedender Konfusion in einem Moment,
wo zu viel auf einmal zu tun war. Vor ihren Augen wurde es schwarz; Robanes Bestie und die im Sternenlicht liegende Ebene verschwanden. Sie stürzte taumelnd durch eine Reihe innerer Bilder und Empfindungen. Rishs Gesicht erschien mit weit aufgerissenen Augen und schreckverzerrt. Dann schwebte der Aircar fast in Bodenhöhe über den Rand einer grasbewachsenen Erhebung, dann über einem Wald, der plötzlich vor ihr war. »Jetzt!« dachte Telzey. Schreie folgten, und der Aircar stieg wieder hoch. Dann eine kurze, stoßende, rüttelnde Empfindung unter ihren Füßen ... Das war geschafft. Sie konzentrierte sich auf Robanes Erregung, schlüpfte durch sie in seine Psyche. Im selben Augenblick war ihr Bewußtsein durch ein Netz von unterbewußten Psi-Kanälen gedrungen, die ihr schon halb vertraut waren, als sie sie erreichte. Von Maschinen ausgehende Abwehr-Störungen machten sich bemerkbar, konnten sie aber nicht mehr aufhalten. Sie hatte ihr Ziel erreicht: Robane, der sie arglos durch die Augen seiner Kreatur hindurch ansah, die Hände um die Instrumente geklammert, durch die er lebte, Erlebnisse hatte, tötete. In Minuten, dachte Telzey, in Minuten, wenn sie dann noch am Leben war, würde sie diese Psyche – diese ungeschützte, keinen Widerstand leistende, für sie weit offene Psyche – unter Kontrolle haben. Aber sie war nicht sicher, ob sie durch Robane den Spook würde beeinflussen können. Denn Robane hatte niemals versucht, ihn Augenblicke vor dem tödlichen Schlag noch zurückzuhalten. Jetzt wurde ihre Sicht wieder klar. Sie stand auf der
Ebene, und starke Gedankenströme verbanden sie noch mit jedem wichtigen Teil von Robanes Psyche. Den Hakenschnabel aufgesperrt und das Maul aufgerissen, so daß man die dicke, sich windende Zunge darin erkennen konnte, starrte der Spook sie an. Immer noch aufrecht, begann er, sich zu bewegen, schien über den Boden hinweg auf sie zuzugleiten. Eines seiner Vorderglieder kam aus dem dicken Mantel aus Fell; die vierfingrige, mit eingezogenen Krallen bewehrte Pfote langte fast spielerisch nach ihr. Telzey wich langsam vor dem Ungeheuer zurück. Einen Augenblick lang glomm ein anderes Bild vor ihrem geistigen Auge auf ... Eine verwischte Bewegung. Sie achtete nicht darauf. Es gab nichts, was sie im Augenblick tun konnte. Das Ungeheuer duckte sich etwas. Telzey sah, daß es zum Sprung ansetzte, als sie sich umdrehte und zu rennen begann. Mit aller Anstrengung, deren sie fähig war, hastete sie davon. In einer anderen Welt, auf einer anderen Existenzebene bewegte sie sich rasch durch Robanes Psyche, spürte die Steuerströme auf, versuchte, sie unter Kontrolle zu bekommen. Aber ihre Gedanken begannen, vor Müdigkeit zu verschwimmen. Auf dem leicht ansteigenden Gelände vor ihr stand vereinzelt Gestrüpp. Sonst konnte sie nichts mehr erkennen. Der Spook überholte sie, als bliese ihn der Wind durch das Gras. Ein Dutzend Schritte vor ihr blieb er abrupt stehen. Und als sie sich nach rechts wandte, war er plötzlich wieder hinter ihr, dann bei ihr, an ihr vorbei. Am Unterschenkel verspürte sie einen stechenden Schmerz, als der Spook sie überholte – ein Kratzer wohl, wie sie sie sich bei ihrer Flucht durch
das dornige Gestrüpp schon eine Anzahl geholt hatte. Doch dies war kein Dorn gewesen. Sie wandte sich nach links, und der Spook folgte ihr, stellte sich ihr in den Weg. Sie wich nach rechts aus, und wieder huschte er an ihr vorbei. Wieder spürte sie einen Stich, als er sie berührte. Einen Augenblick später zog sich heißer, pochender Schmerz durch ihren ganzen Arm. Panische Angst schnürte ihr die Kehle zu, als die Bestie wieder von hinten an sie herankam. Telzey blieb stehen, wandte sich ihr entgegen. Weniger als ein Dutzend Schritte von ihr entfernt, hielt der Spook im selben Augenblick inne, richtete sich langsam zu voller Größe auf. Die dunklen Augen starrten sie an. Der Hakenschnabel öffnete sich wie in stummem Gelächter. Telzey wandte kein Auge davon, rang nach Atem. Streifen nebliger Dunkelheit schienen zwischen ihnen zu schweben. Robane war jetzt weit weg, schien ihr mehr und mehr zu entgleiten. Ein Schritt noch, dachte sie, und sie würde stolpern und fallen. Und dann würde das Ungeheuer sich auf sie stürzen. Der Kopf des Spooks fuhr herum, die HörnerOhren stellten sich auf. Der weiße Umriß, der jetzt lautlos auf sie zuraste, schien einen Augenblick lang unwirklich zu sein wie etwas, das ihrer Phantasie entsprang. Und doch wußte sie jetzt, daß Chomir sich näherte; daß er so nahe war, hatte sie nicht gedacht. Die Lichter des Aircars konnte sie vor dem Sternenhimmel nicht ausmachen, doch war vielleicht auch er in der Nähe. Wenn sie dem Hund gefolgt waren, nachdem dieser aus dem Aircar gesprungen war, wenn sie ihn nicht verloren hatten ...
Chomir konnte Robanes Bestie bedrohen, sie vielleicht minutenlang beschäftigen und von ihr ablenken. Sie sandte einen Befehl zu ihm aus – dann noch einen, rasch und besorgt, denn er hatte in keiner Weise auf sie reagiert. Sie versuchte verzweifelt, in seine Psyche zu dringen, und wußte plötzlich, daß sie den in stumm-verbissener Wut heranstürmenden Chomir durch nichts mehr aufhalten oder auch nur beeinflussen konnte. Wild brüllte das Monstrum auf, als das seltsame weiße Tier schon fast bei ihm war. Dann machte es mit seiner furchterregenden Leichtfüßigkeit einen Sprung zur Seite. Entsetzt sah Telzey, wie die gewaltige Vorderpranke blitzschnell aus dem dikken Pelz fuhr und Chomir mit gespreizten Krallen einen gewaltigen Schlag versetzte. Der Hieb warf Chomir seitüber, so daß er sich mehrmals überschlug. Sogleich sprang der Spook von neuem auf den unerschrockenen Angreifer los. Aber der Hund war schon auf den Beinen und rettete sich durch die Flucht. Es war Chomirs erster ernsthafter Kampf. Aber er war das Produkt einer langen Reihe von Vorfahren, die in den Arenen von Askanam gegeneinander, gegen andere Tiere und gegen bewaffnete Menschen gekämpft hatten. Ihr kämpferisches Geschick war in seine Gene geprägt. Indem er sich wild auf einen unbekannten Gegner stürzte, hatte er einen Fehler gemacht, der sein Verhängnis hätte bedeuten können. Doch innerhalb von Sekunden wurde jetzt klar, daß er weitere Fehler nicht machen würde. Telzey sah ihn in ihrer Erschöpfung wie durch wogende Schleier. So groß Chomir auch für einen Hund war – das Monstrum mußte mindestens fünfmal so schwer sein und sah mit seinem gesträubten Pelz ein
dutzendmal größer aus. Kreaturen dieser Art waren der Alptraum der ersten Siedler gewesen. Die Krallen ihrer Vorderpranken waren länger als Telzeys Hände, und der Hakenschnabel konnte wie ein Schwert durch Fleisch und Knochen fahren. Die unheimliche Schnelligkeit dieser Bestie ... Doch jetzt schien das Ungeheuer langsamer geworden zu sein. Als es im Sprung von neuem zuschlagen wollte, schien es plötzlich von einer weißlichen Aura umgeben. Telzey verstand jetzt. Der Spook war ein natürlicher Killer, von der Natur entwickelt, um wirkungsvoll mit seiner Beute umgehen zu können. Chomir und seine Rasse waren von Menschen gezüchtete Killer, die wirkungsvoll mit anderen Killern umgehen konnten. Auf des Ungeheuers Rücken schien Chomir einen Augenblick lang eine Einheit mit diesem zu bilden. Sie sah jetzt die breite, dunkle Wunde in seiner Seite, wo ihn die Pranke des Spooks getroffen hatte. Er schüttelte sich heftig. Es gab ein häßliches, knackendes Geräusch. Der Spook kreischte auf wie ein riesiger Vogel. Von neuem verbissen sich die beiden Tiere ineinander. Dann rollte das Monstrum über den Boden, und der weiße Umriß rollte mit ihm, glitt weg, huschte davon. Wieder ein Kreischen. Der Spook rollte in ein Gestrüpp. Chomir folgte ihm. Ein heller Lichtschein schwebte über den Büschen, bewegte sich auf sie zu. Sie blickte auf, sah Rishs Aircar herunterkommen, hörte Stimmen, die ihren Namen riefen ... Sie folgte ihren Kontaktgedanken zu Robanes Psyche, breitete sich in ihr aus, spürte sofort, wie seine Hände krampfhaft die Hebel seiner Instrumente um-
klammerten. Robane hatte jetzt nicht mehr viel Zeit. Er hatte versucht, seine Bestie von dem Hund hinwegzulenken und sie das menschliche Wesen zerstören zu lassen, das ihn verraten konnte. Aber es war ihm nicht gelungen. Er schwebte in schrecklicher Angst. Doch des Spooks konnte er sich nicht mehr als Werkzeug bedienen. Telzey empfand seinen plötzlichen Entschluß, seinen Psycho-Kontakt mit dem Tier zu unterbrechen, um das zu vermeiden, was er immer gefürchtet hatte – von einer anderen Psyche mitgerissen zu werden in die schaudernde Agonie des Todes. Seine rechte Hand ließ den Hebel los, den sie umklammerte, und langte nach einem Schalter. »Nein! Nein!« sagte Telzey leise zu seiner Hand. Sie fiel auf die Instrumentenkonsole. Einen Augenblick später krampfte sie sich zusammen, verdrehte sich, wollte sich wieder heben. »Nein.« Jetzt lag die Hand still. Telzey überlegte. Zeit hatte sie jetzt genug. Robane glaubte, mit seinem Spook sterben zu müssen, wenn er sich nicht rasch genug von ihm lösen konnte. Möglicherweise hatte er recht; wenn es dazu kam, durfte sie nicht mehr in seiner Psyche sein. Doch es gab Dinge, die sie noch von Robane erfahren mußte. Die Identität der Bande, die ihn mit menschlichen Opfern versorgt hatte, war eines davon, und es war etwas sehr Wichtiges. Dann mußte sie die telepathische Ebene seiner Psyche in allen Einzelheiten untersuchen, um festzustellen, was dort nicht stimmte, warum er sie nicht hatte benutzen können ... Eines Tages würde sie vielleicht auch mit
einem Halb-Psi wie Gikkes etwas anfangen können. Und die Psycho-Maschinen – wenn Robane in der Lage gewesen war, mit ihnen zu arbeiten, ohne richtig zu verstehen, was er da tat – dann mußte sie selbst ja die Apparate wesentlich wirkungsvoller einsetzen können. Ja, sie mußte seine Maschinen sorgfältig untersuchen ... Sie ließ Robanes Hand los. Die Hand zuckte zum Schalter, legte ihn um. Robane seufzte erleichtert auf. Einen Augenblick lang hatte Telzey sehr viel zu tun. Funken von Psi-Energie durchfuhren Kanäle, berührten dieses und jenes, schnitten ab, blockierten ... Dann war es geschafft. Die Hälfte von Robanes Psyche war ausgelöscht. Robane selbst bemerkte nichts davon. Mit leerem Lächeln glotzte er auf die Instrumentenkonsole vor ihm. Er würde hier weiterleben, völlig harmlos, von Maschinen versorgt, ein nichtsahnender Hüter anderer Maschinen und von Erinnerungen, die untersucht werden mußten – Hüter eines Talents, von dem er nie etwas gewußt hatte. »Ich komme wieder«, sagte Telzey zu dem lächelnden, dumpfen menschlichen Wesen und verließ es. Sie fand sich auf der Ebene wieder. Alles hatte doch nur sehr kurz gedauert. Dunker und Valia liefen auf sie zu. Einen Steinwurf von ihr entfernt, kletterte Rish gerade aus dem Aircar. Der Scheinwerfer des Fahrzeugs war auf das Dickicht gerichtet, wo Chomir, in den Nacken des Monstrums verbissen, mit ungebändigter Wildheit den letzten Lebensfunken in ihm erstickte. Originaltitel: GOBLIN NIGHT Copyright © 1965 by Conde-Nast Publications, Inc.