4 SCIENCE FICTION STORIES aus Vergangenheit und Zukunft Zwei von der Mannschaft hatten das Dorf erkunden sollen, das ve...
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4 SCIENCE FICTION STORIES aus Vergangenheit und Zukunft Zwei von der Mannschaft hatten das Dorf erkunden sollen, das verlassen schien. Aber obwohl man sie deutlich neben ihrem Flugboot sitzen sah, reagierten sie nicht auf die Funksprüche vom Mutterschiff. BLINDE KUH von Eric Frank Russell Die Erde hatte schon so lange unter der Herrschaft der fremden Rasse aus dem All gelebt, daß sich die Menschen daran gewöhnt hatten. Bis in einem von ihnen ein entsetzlicher, nicht aussprechbarer Gedanke geboren wurde… REBELLION von John W. Campbell Sie waren mit ihren einsitzigen Maschinen in nie erforschte Höhen aufgestiegen. Einige waren nicht zurückgekommen oder unter mysteriösen Umständen abgestürzt. Ein zerfetztes Tagebuch gab Aufschluß über das Schicksal eines von ihnen… DER TÖDLICHE DSCHUNGEL DER LÜFTE von Arthur Conan Doyle Die Lebensbedingungen auf Jupiter waren mörderisch, und seine Atmosphäre barg ungeahnte Gefahren. Auf der ganzen Erde gab es nur einen, der dazu in der Lage war, einen Blick hinter die undurchdringlichen Schleier zu werfen und lebend zurückzukehren… TITANENKAMPF von Arthur C. Clarke
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 3096 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Leni Sobez, Walter Brumm und Rudolf Mühlstrasser Umschlagillustration: Fawcett Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1974 by by Verlag Ullstein GmbH Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck‐ und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03096 2
Science‐Fiction‐Stories 43 von Erik Frank Russell John W. Campbell Arthur Conan Coyle Arthur C. Clarke Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
INHALT
Eric Frank Russell
BLINDE KUH Ich hatte mit zwölf wohlverdienten Monaten inmitten der vertrauten Umgebung unserer alten Erde gerechnet, aber dies war wieder eine von jenen einfachen Rechnungen, die nicht aufgehen. Irgendein neugieriger Schnüffler in einem Observatorium hielt es für richtig, die Regierung davon zu überzeugen, daß es in der Region Kassiopeia eine möglicherweise lohnende Welt gebe, die der Erforschung harre. Worauf Telegramme an alle müden und vertrauensseligen Einfaltspinsel hinausgingen, die gleich mir auf eine ruhige Zeit gehofft hatten. Meins kam um drei Uhr an einem warmen, sanften Nachmittag, als ich auf der Veranda geschäftig den Schaukelstuhl bewegte. Ich kann sagen, daß dies weder der geeignete Ort noch die richtige Zeit ist, um mit freudiger Bereitwilligkeit auf eine Einladung zu reagieren, die nichts als eine versteckte Aufforderung ist, seine Arme und Beine wegzuwerfen. So las ich das Telegramm, zerriß es und schaukelte mit geschlossenen Augen weiter. Am nächsten Tag packte ich und reiste ab, um den Köder zu schlucken, und das nur, weil mir die Zivilcourage zur Ablehnung fehlte. Ich hatte nicht genug Mut, ein Feigling zu sein. So kam es, daß ich zum soundsovieltenmal an einem Bullauge stand und mißmutig beobachtete, wie eine neue Welt in Sicht schwamm. Trotz meines mangelnden Enthusiasmus wurde der Anblick so faszinierend, daß die Landungsmanöver mich beinahe unvorbereitet überrascht hätten. Meine Station war die Waffenkammer, und dort blieb ich, während auf der Brücke diejenigen ausgewählt wurden, deren Hinterteile ausersehen waren, als erste die etwaigen Tritte fremder Wesen zu empfangen. Nach den bisherigen Erfahrungen war die Begeisterung auch der anderen gedämpft, und niemand brannte darauf, leichtsinnig und ohne Waffen oder Erlaubnis das Schiff zu verlassen. Der Blick aus der nächsten Luke zeigte massenhaften Pflanzenwuchs jeder Art und Form. Eine ungewöhnliche Eigenschaft fiel mir sofort auf: Nichts wucherte durcheinander oder schlang sich an etwas empor. Groß
oder niedrig, schlank oder weit ausgreifend, jede Pflanze hatte ihren eigenen Platz und ließ ein schmales Sonnengesprenkel zwischen sich und ihren Nachbarn bis zum Boden dringen. Ein Dschungel, der keiner war. Man konnte mühelos und ohne Schwierigkeit in jede beliebige Richtung gehen – wenigstens theoretisch. Die vorherrschende Farbe war grün, stellenweise untermischt mit gelb oder braun. Der Prozeß der Photosynthese scheint der Vegetation in den meisten Teilen des Kosmos gemeinsam zu sein. Die Sonne schien golden durch Büsche und Bäume und verlieh dem Ganzen etwas Friedliches und Idyllisches. Diese Sonne ähnelte der unsrigen, doch war sie näher und darum ein wenig heißer. Mit leichtem Unbehagen studierte ich die Szene. Diese merkwürdige Ordnung des Pflanzenlebens, dieses Leben und Lebenlassen, das alles hatte etwas Künstliches. Was die verschiedenen Arten der Gewächse anging, so konnte ich keine organisierte Planmäßigkeit entdecken, keine ordentlichen Reihen ein und derselben Gattung. Trotzdem hatte ich den Eindruck, daß sie von jemandem kultiviert wurden, der von den unseren radikal verschiedene Ansichten über Land- und Forstwirtschaft hatte. Es sah aus, als wäre da einmal ein fremder Landwirt mit einem Sack voll der unterschiedlichsten Samen herumgegangen und hätte sie wahllos, aber in regelmäßigen Abständen verstreut, wie es dem Raumbedürfnis jeder einzelnen Pflanze entsprach, sei es eine Eiche oder ein Radieschen. Brennand kam vorbei und bemerkte: »Es scheint ein allen anderen Welten gemeinsames betrügerisches Gesetz zu geben, nach dem sie völlig harmlos auszusehen haben, auch wenn sie dich im nächsten Moment beißen.« »Du glaubst, daß diese Welt hier irgend was im Schilde führt?« »Ich weiß es nicht. Aber ich gehe jede Wette ein, daß es kein Garten Eden ist.« »Würdest du nicht wenigstens wetten, daß es ein Garten ist?« Er beäugte mich verwundert. »Wie meinst du das?« Ich zeigte hinaus. »Wo ist da der übliche Kampf um den Lebensraum?«
Er warf einen Blick aus der Luke. »Das ist leicht zu beantworten. Der Boden hier ist arm. Die Fruchtbarkeit fehlt ihm. Darum ist der Bewuchs spärlich.« »So was nennst du spärlich?« Ich deutete auf ein haariges, kaktusähnliches Gewächs von der halben Größe unserer Marathon. »Überhaupt wächst das Zeug zu willkürlich durcheinander«, wich er aus. »Man pflanzt doch keine Karotte neben einen Stachelbeerbusch.« »Wir nicht, aber vielleicht andere.« »Warum?« »Ach, zum Teufel«, sagte ich gereizt. »Frag mich einfachere Dinge. Frag mich, warum ich hier bin, wenn ich es zu Hause behaglich und schön haben kann.« »Darauf weiß ich die Antwort«, sagte er. »Auf der Marathon kommt morgens kein Postbote.« »Na und?« »Die Post bringt Rechnungen, Steuerbescheide…« »Ah!« Ich faßte ihn aufmerksam ins Auge. »Du schließt von dir selbst auf andere, wie? Ich habe mich schon oft gefragt, warum du bei jeder Gelegenheit von der Erde flüchtest. Wie einer, der sich aus Versehen ins alte Bad gesetzt hat. Man ist also hinter dir her?« »Wir reden überhaupt nicht von mir«, erklärte er. »Wir unterhalten uns über dich und deine möglichen Motive. Meine sind einfach – ich verdiene gern schweres Geld. Diese Reisen bringen es.« Eine treffende Antwort darauf lag mir auf der Zunge, aber sie wurde nicht ausgesprochen. Zwei Ingenieure namens Ambrose und McFarlane kamen zur Waffenkammer und verlangten ihre Ausrüstungen. »Wo sind die anderen?« fragte ich. »Es gibt keine anderen.« »Soll das heißen, daß McNulty nur euch zwei ausschicken will?« »Genau. Zwei können ein Rettungsboot bedienen.« »Der Alte ist vorsichtig«, bemerkte Brennand. »Bei jeder Reise wird er nervöser.«
»Wollt ihr Raumanzüge?« »Nein«, sagte Ambrose. »Der Luftdruck beträgt sechs Kilopond, und es riecht ein bißchen nach altem Ziegenbock, aber man kann ohne Gefahr atmen.« »Das ist es also, was ich die ganze Zeit rieche.« Ich zeigte mit dem Daumen auf Brennand. »Ich dachte, es ist er.« »Du dachtest, es sei er«, sagte Brennand. »Wo bleibt deine Grammatik?« McFarlane, ein magerer, drahtiger, rothaariger Mann, schnallte seine Strahlpistole um, reckte seine Arme und stapfte brummend hinaus. Ein paar Minuten später schoß das Rettungsboot westwärts davon und verlor sich in der Weite des Himmels. Ich machte mich auf, um Steve Gregory zu besuchen und fand ihn in seinem Senderaum. Er lag hingegossen in seinem Sessel und hatte ein Magazin vor der Nase. »Tut sich was, Steve?« Er ließ einen mißmutigen Blick über seine Instrumente gehen. »Ich bekomme nur dieses Brutzeln herein.« Dann machte er eine Kopfbewegung zu einem dicken Buch, das aufgeschlagen neben ihm lag. »Nach dieser Radiobibel ist es die charakteristische Entladung einer Sonne mit Namen Zem 27. Das dürfte die sein, die da draußen scheint.« »Sonst nichts?« »Nichts.« Ächzend beugte er sich vor, drehte einen Schalter und sprach in einen Kasten. »Rettungsboot, bitte melden. Bitte melden.« Eine quiekende Stimme, die ich nicht identifizieren konnte, antwortete: »Vierundvierzig West, Höhe eintausend.« »Habt ihr schon was gesehen?« »Nichts von Bedeutung.« »In Ordnung. Ende.« Er lehnte sich zurück. »Ich hatte in der Illusion gelebt, meine letzte Reise sei wirklich meine letzte. Ich war ganz darauf eingestellt, es mir zu Hause gemütlich zu machen und eine ruhige Kugel zu schieben.« »Ich auch«, sagte ich. »Vielleicht liegt ein Fluch auf mir.«
Zwischen seinen Skalen klingelte etwas. Er drehte den Schalter, und eine Stimme sagte etwas deutlicher als zuvor: »Hier Rettungsboot. Siebzig West, Höhe siebenhundert. Wir kreisen über einem großen See. Am Ufer ist etwas, das wie eine Siedlung aussieht.« »Moment.« Steve bediente einen anderen Schalter und sagte in sein Mikrofon: »Kapitän, ich habe Ambrose hier. Er hat Zeichen fremden Lebens gesehen. Soll ich ihn durchstellen?« »Ja.« Steve stellte die Verbindung her. Wir konnten die Unterhaltung über die Bordsprechanlage mithören. »Was haben Sie gesehen, Ambrose?« »Ein Lager oder eine Siedlung am Ufer eines Sees.« »Ah! Wer oder was bewohnt sie?« »Niemand.« »Niemand? Sie meinen, die Siedlung ist verlassen?« »Ich möchte das nicht behaupten, aber von hier oben sieht es so aus. Da sind etwa hundert kleine, pyramidenförmige Hütten in vier konzentrischen Kreisen angeordnet. Zwischen ihnen ist keine Bewegung auszumachen.« Eine kurze Pause folgte. »Wie wäre es, wenn wir landeten und uns die Sache genauer ansehen würden, Kapitän?« McNulty hielt nichts davon. Sein langes Schweigen war ein Indiz, daß er über den Vorschlag unschlüssig nachdachte. Zweifellos versuchte er sich eine Methode auszudenken, die eine eingehendere Erforschung erlaubte, ohne daß sie eine Landung erforderlich machte. Schließlich erklang seine Stimme wieder, etwas gedämpft diesmal, wie wenn er den Kopf zur Seite drehte. »Die wollen landen. Was halten Sie davon, Jay?« »Nichts gewagt, nichts gewonnen«, antwortete Jay Score. »Ja, ja, das mag sein, aber…« Wieder folgte eine Pause, dann kam des Skippers Stimme laut durch. »Hören Sie, Ambrose, ist dort genug Platz, daß die Marathon landen kann?« »Nicht ohne fünf Hektar Busch zu verbrennen oder die Hälfte der Hütten plattzudrücken.«
»Hmm. Ich will Ihnen was sagen: Überfliegen Sie die Hütten zweioder dreimal im Tiefflug. Das wird die Bewohner aus den Löchern locken.« »In Ordnung, Kapitän«, seufzte Ambrose. »Wir werden es versuchen. Aber ich glaube nicht, daß jemand da ist, den wir herauslocken könnten.« Es blieb minutenlang still, dann meldete Ambrose sich mit: »Nichts, Kapitän.« »Sie sind nicht herausgekommen?« »Nein. Wir hätten beinahe die Dächer mitgenommen und unsere Druckwelle hat die ganze Siedlung erschüttert. Sie ist leer.« »Sehr gut. Nun – dann machen Sie Ihre Landung, und sehen Sie zu, was Sie entdecken können. Aber seien Sie vorsichtig.« Seine Stimme schwächte sich wieder ab, als er hinzufügte: »Ich sage Ihnen, Jay, nach dieser Reise kann ein anderer Kapitän…« Steve schaltete diskret ab. »Er hat die gleichen Schwierigkeiten wie du und ich. Er sehnt sich nach der Upskadaska und der regulären Venusroute. Da hatten wir ein angenehmes Leben.« »Jemand muß den Helden spielen«, sagte ich. »Ich weiß. Aber der Ruhm sollte ein bißchen gleichmäßiger verteilt werden.« Er blickte finster auf seine Skalen, streckte die Hand aus und schaltete sich in die Bordsprechanlage des Rettungsbootes ein. Zuerst hörte man nur ein dumpfes Dröhnen, dann Ambroses Stimme: »Langsam, Mac. Paß doch auf, Mensch! Nicht so weit nach Steuerbord! Das ist besser; wir könnten es gerade schaffen. Nun abbremsen, schnell! Da!« Das Dröhnen hörte auf. Eine längere Konversation begann, aber die beiden standen ungünstig zum Mikrofon und wir konnten sie erst verfolgen, als sie anfingen, einander anzuschreien. Anscheinend stritten sie, wer hinausgehen und wer an Bord bleiben solle. McFarlane wollte die Streitfrage durch eine Münze entscheiden, und Ambrose bestand darauf, das Geldstück erst zu prüfen, das der andere zu werfen beabsichtigte.
Steve lief langsam rot an, dann drückte er einen Knopf, der an Bord des Rettungsbootes eine Klingel schrillen ließ und die Aufmerksamkeit der fernen Streithähne erregte. »Hört zu, ihr zwei Kretins«, sagte er grob. »Jeder von euch reißt dem anderen ein Haar aus. Wer das längere erwischt, geht von Bord. Der mit dem kurzen bleibt.« Dies erzeugte eine längere Stille, die vom Geräusch einer geöffneten und wieder geschlossenen Luftschleuse beendet wurde. Nach einer Weile fragte Steve ungeduldig: »Nun, wer hat gewonnen?« »McFarlene«, sagte Ambrose mürrisch. Er verließ das Mikrofon und ließ die Verbindung offen. Eine Zeitlang hörten wir seine Stiefel rastlos im kleinen Boot hin und her trampeln. Wahrscheinlich beobachtete er die Umgebung durch die Bullaugen und sah neidisch zu, wie McFarlane im Sonnenschein herumschlenderte und die Landschaft betrachtete. Nach einer Weile gab er ein ärgerliches Grunzen von sich, murmelte etwas Unverständliches. Das Trampeln seiner schweren Stiefel entfernte sich weiter. Die Luftschleuse wurde geöffnet, und wir hörten seine ferne Stimme hinausbrüllen: »Ja! Was willst du, Holzkopf?« Die Antwort von draußen blieb unhörbar, und so wußten wir nicht, was McFarlane sagte. Unsere angespannt lauschenden Ohren vernahmen ein sehr schwaches dumpfes Geräusch, wie von jemandem, der aus einer Luftschleuse in tiefes Gras springt. Dann wurde alles still. Die Minuten krochen vorbei, jede wie eine Stunde. Steve fing an zu fummeln und mit seinen Einstellknöpfen zu spielen. Seine Augenbrauen begannen nervös zu oszillieren. Als auch seine großen Ohren zu zucken anfingen, hielt ich es nicht mehr aus. »Hör zu«, sagte ich. »Wir wollen doch nicht gleich verrückt spielen. Sag was zu Ambrose, und wenn es nur ein dummer Witz ist.« Er gab mir einen bösen Blick und drückte wieder auf seinen Signalknopf. Der ferne Empfänger klingelte zehn-, zwölfmal, und Steve kroch fast in den Lautsprecher hinein, um etwas zu hören. Ambrose antwortete nicht. Das Boot blieb still wie ein Grab, obwohl ein leises Summen anzeigte, daß die Bordanlage arbeitete und den Kanal freihielt.
Steve riß sein Mikrofon heran und brüllte: »Rettungsboot! Bitte melden! Wir rufen! Bitte antworten, Rettungsboot!« Stille. »Ambrose!« heulte er ins Mikrofon. »AMBROSE! Bist du da?« Keine Antwort. »Vielleicht macht er einen Besuch«, sagte ich unruhig. »Wozu?« fragte Steve, sich dumm stellend. »Um seinen Schnurrbart zu bürsten, was weiß ich? Man macht solche Besuche, nicht wahr? Dafür ist der kleine Raum da.« »Nicht in einem solchen Augenblick.« »Was hat das damit zu tun? Wer verrichtet seine Geschäfte schon nach der Uhr?« »Er könnte eine bessere Zeit als diese wählen«, beharrte Steve. Dann ließ er die Augenbrauen tanzen und ergänzte: »Also, zehn Minuten gebe ich ihm noch.« Nach Ablauf dieser Frist klingelte und brüllte er abwechselnd, bis er heiser war. Das Rettungsboot gab sein leises Summen zurück und sonst nichts. Wir mußten natürlich McNulty verständigen. Er kochte und tobte und diskutierte die Sache mit Jay. Sie kamen zu dem Schluß, daß man noch nicht als sicher ansehen dürfe, am anderen Ende sei etwas Unvorhergesehenes passiert. Vielleicht, so meinte Jay, habe Ambroses Neugier über seine Vorsicht gesiegt, und er habe das Boot verlassen, um etwas anzusehen, was sein Partner gefunden habe. Oder vielleicht sei er hinausgegangen, um etwas an Bord zu schaffen, für das die Kraft eines Mannes nicht reichte. Aber er hätte es zuvor melden müssen. Er hätte seine Absichten und die Gründe dafür vor dem Verlassen des Bootes angeben müssen. Man dürfe diese Unterlassung nach Rückkehr der beiden nicht auf sich beruhen lassen. Einstweilen sollten wir stillhalten und warten. Wäre in einer Stunde noch keine Meldung eingegangen, müßten weitere Maßnahmen erwogen werden. So oder ähnlich tönte es aus der Bordsprechanlage. Ich ließ
Steve allein sitzen und lauschen, ging in die Kombüse und verhalf mir zu einer Mahlzeit. Wilson war da und goß Kaffee in sich hinein. »Was macht das Boot?« forschte er. »Das ist gegenwärtig Geheimnis Nummer eins«, erklärte ich kauend. »Was soll das heißen?« »Es soll heißen, daß es in einem Dorf gelandet und stumm geworden ist. Steve kann keinen Piepser herausholen.« »In einem Dorf? Was für Lebewesen bewohnen es?« »Gar keine. Es ist leer. Ambrose und McFarlane sind hineingegangen, und nun scheint es noch leerer zu sein.« »Sie sind verschwunden?« »Das würde ich nicht sagen.« »Und was unternimmt McNulty?« fragte er begierig. »Vorläufig nichts.« »Was? Aber diese beiden werden vielleicht gekocht und gegessen, während wir hier herumhängen und uns ausruhen!« »Oder vielleicht kochen und essen sie etwas Leckeres, während wir dieses Hundefutter zu schlucken versuchen.« Ich schob den letzten Bissen in den Mund, spülte ihn mit schwarzem Kaffee hinunter und stand auf. »Bis später, vielleicht in jemandes Bratrohr.« Den Rest der Wartezeit verbrachte ich in der Waffenkammer, dann ließ ich die Arbeit liegen, auf die ich mich ohnehin nicht konzentrieren konnte. Ich mußte wissen, was vorging. Ich eilte zurück zu Steve. »Ist was…« »Sch-h-ht!« Warnend hielt er den Zeigefinger an die Lippen. »Bis jetzt noch kein Ton, aber es kommt gerade etwas durch.« Er drehte den Lautstärkenregler auf. Wir hörten das charakteristische Geräusch einer zuschlagenden Luftschleuse, dann etwas wie Schritte und Füßescharren im hinteren Teil des Rettungsbootes. Steve drückte den Knopf. Die Glocke des Bootsempfängers klingelte laut. Unmittelbar danach kam ein sonderbares Geräusch aus dem hinteren Teil des Bootes. Eine Art Zischen oder Spucken. Ich hatte den
unheimlichen Eindruck, daß die Klingel irgendein nichtmenschliches Wesen erschreckt hatte. Das Stiefelgetrampel blieb aus; niemand kam nach vorn, um den Anruf zu beantworten, wie wir erwartet hatten. Nur dieses scharfe Zischen und Stille. Stirnrunzelnd läutete Steve noch einmal. Keine Antwort. Doch es war jemand im Boot, daran zweifelten wir nicht. Steve läutete ein halbes dutzendmal in rascher Folge, daß es dringend und zornig klang. Es nützte nichts. »Was, zum Teufel, ist über sie gekommen?« fragte er hilflos. »Ich würde es mit Beleidigungen versuchen«, sagte ich. »Den Bordlautsprecher hören sie vom Bug bis zum Heck.« Er nahm das Mikrofon und bellte: »He, ihr Idioten!« Die Antwort war ein lautes Zischen, wie von einer Dampf ablassenden Lokomotive. Darauf folgten rasche Schritte und das Zufallen der Luftschleuse. Dann nichts. Wer immer im Boot gewesen war, hatte es Hals über Kopf verlassen. Steve sah mich mit offenem Mund an. »Was sagst du dazu?« »Es gefällt mir nicht.« »Mir auch nicht.« Er starrte zweifelnd auf sein Mikrofon. »Hältst du es für möglich, daß sie sich taub stellen, weil sie noch nicht zurückbeordert werden wollen?« »Könnte sein«, sagte ich zögernd. »Nichts ist unmöglich. Zwar spricht alles dagegen, aber vielleicht sind sie auf eine kosmische Cocktailbar mit zwei üppigen Blondinen gestoßen. Doch wie dem auch sei, die Sache kommt mir faul vor.« »Mir auch. Ich werde McNulty Bescheid sagen.« Er schaltete um, bekam den Kapitän und sagte: »Jemand war eben im Rettungsboot und wollte nicht auf unsere Rufe antworten.« »Sind Sie dessen sicher, Steve?« »Ganz sicher, Kapitän. Ich konnte die Bewegungen deutlich hören.« »Es war nicht Ambrose oder McFarlane?« fragte McNulty.
Steve zögerte einen Moment. »Wenn es einer von ihnen war, Kapitän, dann ist er taub geworden. Sie antworteten nicht auf die Signalklingel. Und als ich ›He!‹ rief, sind sie weggelaufen.« »Das ist ominös«, meinte McNulty. »Wir müssen sofort…« Er brach ab, als der Lautsprecher in Steves Zentrale plötzlich quäkte: »He!« Dann fragte der Skipper erschrocken: »Was war das?« »Das – das Rettungsboot!« Steve befummelte fieberhaft seine Einstellknöpfe. »Ich stelle zu Ihnen durch.« »Hören Sie mal, Ambrose«, begann McNulty pompös und indigniert. »Was soll das eigentlich heißen?« »Hören Sie mal, Ambrose«, höhnte das Rettungsboot mit seltsam gestelzter Stimme. »Was soll das eigentlich heißen?« »Hier spricht Kapitän McNulty!« brüllte der Skipper, dessen Blutdruck bedrohlich anzusteigen begann. »Hier spricht Kapitän McNulty!« quietschte das Rettungsboot in erregter Imitation. McNulty atmete schwer, dann fragte er mit leiser, unerträglich sanfter Stimme: »Steve, wollen Sie mich zum besten haben?« »Nein, Sir«, sagte Steve, schockiert über die Unterhaltung. Der andere bellte wieder los: »Ambrose, ich befehle Ihnen, sofort zurückzukehren, und bei Gott…!« Er verschluckte den Rest. In der folgenden Pause wiederholte das Rettungsboot den Satz in schrillem Spott. Dann schaltete sich eine neue Stimme ein. »Wer ist da?« fragte Jay Score ruhig und selbstbewußt. »Wer ist da?« fragte das Rettungsboot. »Unterbrechen Sie den Kontakt, Steve«, entschied Jay mit einer Stimme, die keine Widerrede zuließ. »Wir lassen die Pinasse starten. Der Sache müssen wir auf den Grund gehen.« Steve gehorchte und sagte zu mir: »Ich glaube, Ambrose hat sich einen Papagei gekauft.«
Acht von uns bestiegen die Pinasse. Jay Score ging nicht mit, was im Hinblick auf die besonderen Umstände bedauerlich war. Er hätte uns in einer Weise nützen können, die wir noch begreifen sollten. Bannister war unser Pilot. Er zog die Pinasse nach dem Start steil bis auf dreitausend Meter hoch. Ich sah die spärlich bewaldete Landschaft tief unter mir, hier und dort von Flüssen und kleineren Wasserläufen durchzogen und bis auf eine Hügelkette am Horizont fast eben. Nichts deutete auf das Vorhandensein intelligenten Lebens hin, wenigstens nicht in dieser Gegend. Neben mir saß Wilson und hätschelte eine Kamera, die unter Zusatzgeräten fast verschwand und einen Grünfilter vor der Linse hatte. Er starrte abwechselnd aus dem Fenster und zur Sonne und leckte sich nervös die Lippen. Vorn, neben Bannister, saß ein bulliger Ingenieur namens Veitch, ein Mann mit einem blauschwarzen Kinn und finsteren Augen, er sprach durch ein Kehlkopfmikrofon mit Steve. Die Pinasse jagte ziemlich lange dahin, bevor sie einen weiten Bogen nach steuerbord beschrieb und an Höhe verlor. Bannister und Veitch spähten durch die Frontscheibe hinunter, und bald sahen auch wir den See und die weite Lichtung mit den konzentrisch angelegten Hütten neben der Mündung eines Flusses. Das Rettungsboot lag in der Nähe. Kreisend gingen wir tiefer, und nun sahen wir, daß der Raum für eine Landung nicht ausreichte, ohne etwas zu zerstören. Das gelandete Rettungsboot nahm den einzigen geeigneten Platz ein. Bannister ging noch weiter herunter und überflog die Siedlung in nicht mehr als hundert Metern Höhe. Wir sahen Ambrose und McFarlane neben dem Boot im Gras liegen und zu uns heraufblicken. Sie blickten so gelassen und lagen so träge da, daß ich es kaum glauben wollte. Wir sahen sie nur etwa zwei Sekunden lang, und weil Wilson eine Aufnahme von ihnen machte, konnte ich die beiden nicht gut beobachten, aber ich gewann den Eindruck, daß sie unverletzt und völlig ruhig waren. Auch glaubte ich zu sehen, daß Ambrose etwas wie einen Korb mit Früchten auf dem Schoß hielt. Es ärgerte mich nicht wenig. Ich vermutete, daß die beiden spazierengegangen waren und sich die Bäuche vollgeschlagen hatten, während wir an Bord der Marathon von Panik ergriffen worden waren und die Pinasse ausgebracht hatten. Solange sie sich die Bäuche
vollschlagen konnten, schien sie das wenig zu kümmern. Aber sie würden dafür büßen; McNulty würde ihnen die Haut abziehen, soviel war gewiß. Wir beschrieben eine Schleife und kamen zurück. Bannister machte hinter der Frontscheibe drohende Gesten zu ihnen hinunter. McFarlane winkte nachlässig zurück, wie wenn er ein Ausflügler wäre. Wilson gelang ein Schnappschuß von der Gebärde. Veitch sagte in sein Mikrofon: »Es fehlt ihnen nichts. Anscheinend hat ihr Radio eine Störung, die für den Unsinn verantwortlich ist, den ihr gehört habt.« Ich weiß nicht, was die Marathon darauf antwortete, aber Veitch sagte: »In Ordnung. Wir werfen eine Botschaft ab und kommen zurück.« Er kritzelte etwas auf ein Blatt Papier steckte es in eine kleine Messinghülse, an der ein langes buntes Band befestigt war und warf die Botschaft beim nächsten Anflug durch die Bodenklappe. Ich sah das lange bunte Band hinunterflattern und die beiden Faulenzer nur um etwa dreißig Meter verfehlten. Dann waren wir vorbei und donnerten zurück zum Mutterschiff. Ich war unterwegs zur Waffenkammer, als Steve mich hereinrief. Er beobachtete mich, als versuchte er zu entscheiden, ob ich betrunken oder nüchtern sei. »Bist du sicher, daß den beiden Herumtreibern nichts fehlt?« »Ich sah sie mit meinen eigenen Augen. Warum?« »Nun – weil ich noch nie von einem Radiodefekt gehört habe, der ein Gerät dazu bringt, Botschaften Wort für Wort zurückzusenden wie sie gesprochen wurden.« »Jetzt hast du es gehört«, sagte ich. »Es gibt immer ein erstesmal.« »Es widerspricht jeder Theorie«, beharrte er. »So ist es auch mit meiner Tante Martha. Sie hat zehn Zehen.« »Die hat jeder«, sagte er. »Ja, aber nicht zwei an einem Fuß und acht am andern.«
Er warf mir einen bösen Blick zu. »An Zirkusabnormitäten bin ich nicht interessiert. Ich sage dir, es gibt keinen Fehler, der Echos produziert.« »Wie erklärst du dir das Phänomen?« »Ich kann es nicht.« Er seufzte tief. »Das ist es eben. Ich habe gehört, was ich gehört habe, und mit meinen Ohren ist alles in Ordnung, und ein Radiodefekt kann es nicht gewesen sein. Ich behaupte, daß jemand uns da auf den Arm genommen hat, und ich finde es gar nicht witzig.« »Ambrose würde sich nicht so kindisch benehmen«, sagte ich. »Und McFarlane erst recht nicht.« »Vielleicht nicht«, stimmte er zu. »Wer sonst könnte es gewesen sein?« »Ah – hör schon auf. Ich glaube nicht an Gespenster.« Ich verließ die Funkzentrale. Ich fühlte mich verstört und von neuen Zweifeln geplagt. Steve verstand sich auf sein Handwerk wie kein zweiter. Er war der Funkexperte, und er war in dieser Sache so verdammt selbstsicher. Jemand hatte McNultys Worte nachgeäfft Ambrose und McFarlane waren es nicht. Andere konnten es nicht gewesen sein. Je länger wir uns über dieses Phänomen die Köpfe zerbrachen, desto unerklärlicher wurde es. Beruhigt von der Meldung der Pinasse, gestattete McNulti einigen von uns, sich draußen die Beine zu vertreten. Nicht mehr als zehn auf einmal durften das Schiff verlassen, und sie hatten strikten Befehl, ihre Waffen nicht aus der Hand zu lassen und sich nicht weiter als fünfhundert Meter vom Schiff zu entfernen. Die zehn Glücklichen wurden durch Los bestimmt, und diesmal war ich nicht unter ihnen. Sie kamen ihre Waffen holen. Einer von ihnen war Jepson, der letztesmal vom klebrigen Blatt gefangen worden war. »Worauf läßt du dich diesmal ein?« fragte ich trocken. »Auf nichts, wenn es nach mir geht«, versicherte er. Molders, der lange Schwede, lachte kurz auf. »Trotzdem, mich siehst du nicht in deiner Nähe. Ich habe genug vom Zusammenkleben.«
Sie gingen hinaus. Der Himmel zeigte an, daß ihnen nicht viel Zeit zum Herumstromern bleiben würde, denn die Sonne stand bereits tief und warf lange Schatten. Kaum war eine halbe Stunde vergangen, da bekam McNulty es wieder mit der Angst zu tun. Vier der Spaziergänger waren schon aus freien Stücken an Bord zurückgekehrt, weil sie draußen nichts gefunden hatten, das sie hätte festhalten können. Die Schiffssirene stieß ein schreckliches Heulen aus und rief die anderen zurück. Am Bugende herrschte einige Aufregung, und ich sah, daß die Geschützmannschaft ihre doppelläufige Kanone untersuchte. Irgend etwas braute sich zusammen, und Steve war der Mann, der die Gründe am ehesten kennen mußte. Ich ging zu ihm. »Was ist los?« »Die Pinasse hat für die beiden vom Rettungsboot eine Botschaft abgeworfen, nicht?« »Das ist richtig. Ich habe es selbst gesehen.« »Nun, sie haben sich nicht darum gekümmert.« Er wies mit dem Daumen aus dem Bullauge, wo die Nacht das Land einhüllte. »Sonnenuntergang ist längst vorbei, und sie haben sich immer noch nicht gerührt. Auch antworten sie nicht auf meine Radiorufe. Ich habe geklingelt, bis mich der Daumen schmerzte. Ich habe mich heiser gebrüllt. Der Generator vom Rettungsboot läuft, und der Kanal bleibt offen, aber das ist auch alles.« »Das verstehe ich nicht.« Ich war verblüfft. »Ich habe selber gesehen, wie sie vor der Luftschleuse lagen und sich einen schönen Tag machten. Keinem der beiden fehlte was. Und das Boot war unbeschädigt.« »Ich habe dir schon gesagt«, beharrte er, »daß etwas an dieser Sache faul ist, und ich sage es noch einmal.« Dem war nichts hinzuzufügen, und so verzog ich mich in mein Quartier, warf mich in die Koje und versuchte zu lesen, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Das Gefühl, daß man uns in irgendeiner Weise hereingelegt hatte, wurde stärker und stärker, und je länger ich darüber nachdachte, desto nervöser wurde ich. Aber ich wußte keine befriedigende Erklärung für dieses mysteriöse Geschehen, und selbst
wenn es um mein Leben gegangen wäre, hätte ich keine ausdenken können. Draußen war es inzwischen vollständig dunkel geworden. Das schwache Sternenlicht reichte gerade aus, um die Formen von Büschen und Bäumen zu markieren. Ich knobelte immer noch an dem Problem und versuchte mir auszudenken, was die beiden entgegen allen Befehlen zum Bleiben veranlaßt haben mochte als an die Tür geklopft wurde und Wilson hereinkam. Er machte ein Gesicht, daß ich mich sofort aufsetzte. Sein Aussehen war das eines Mannes, der unwissentlich einem Gespenst die Hand gedrückt hat. »Was hast du?« wollte ich wissen. »Ist dir nicht gut? Wenn du dich übergeben willst, dann nicht bei mir!« »Ich weiß nicht, was mit mir ist.« Er setzte sich auf die Stuhlkante und versuchte sich in den Griff zu bekommen, doch es gelang ihm nicht sehr gut. »Ich will gerade mit McNulty darüber reden. Aber zuerst wollte ich mich bei dir vergewissern, daß ich nicht übergeschnappt bin.« »Vergewissern? Wozu?« »Hier.« Er warf mir drei Negative mit den entwickelten Abzügen auf den Schoß. Ich sah sie flüchtig an und bemerkte, daß es die Aufnahmen waren, die er aus dem Fenster der Pinasse gemacht hatte. Angesichts der ungünstigen Verhältnisse waren sie recht gut ausgefallen. Er mußte sie mit einer tausendstel Sekunde und offener Blende geschossen haben. Keine Verzerrungen deuteten die rasende Geschwindigkeit der Pinasse zum Zeitpunkt der Aufnahmen an. Alle Einzelheiten kamen klar und scharf heraus, wie bei einem Standfoto. »Nicht übel«, sagte ich. »Du weißt mit deiner Kamera umzugehen.« Er starrte mich ungläubig an. »Wie wäre es, wenn du sie dir genauer ansehen würdest«, sagte er dann. »Schau doch mal, ob du den Reißverschluß an McFarlanes Anzug ausmachen kannst.« Gehorsam beugte ich mich von neuem über die Aufnahmen. Dann schoß ich wie von der Tarantel gestochen aus der Koje, schaltete meine starke Schreibtischlampe ein und betrachtete die Bilder noch einmal.
Etwas wie ein Eiszapfen strich von oben nach unten über mein Rückgrat. Da war kein Ambrose. Da war kein McFarlane. Genau an der Stelle, wo sie vor der Luftschleuse im Gras gefaulenzt hatten, waren zwei abstoßende Gebilde zu sehen, die an unordentliche Haufen dicker, schwarzer, fettiger Seile erinnerten. »Nun?« fragte Wilson, der mich beobachtete. Ich drücke ihm Fotos und Negative in die Hand. »Zeig sie McNulty. Ich mache inzwischen die Ausrüstung fertig – wir werden sie bald brauchen!« Zehn Minuten später heulte die Sirene Alarm. Ich hatte es erwartet und rannte nach vorn in den Aufenthaltsraum. Die Leute versammelten sich nach und nach schweigend und erwartungsvoll. McNulty schritt herein, gefolgt von Jay Score. McNulty sagte mit einer Spur von Bitterkeit: »Wir haben vor mehreren Stunden Kontakt mit der am höchsten entwickelten Lebensform dieses Planeten aufgenommen, ohne es zu merken. Diese Wesen sind feindselig, und sie haben einen Vorteil errungen. Der erste Verlust ist auf unserer Seite. Es fehlen uns bereits vier Männer.« »Vier?« rief ich. Seine Augen gaben mir einen flüchtigen Blick. »Zehn Mann erhielten Erlaubnis, von Bord zu gehen. Nur acht sind zurückgekommen. Jepson und Painter haben auf die Sirenen nicht reagiert. Ambrose und McFarlane antworteten nicht auf meine Befehle. Das läßt mir keine andere Wahl, als die vier für vermißt zu erklären. Die wahre Natur unseres Gegners ist noch nicht völlig klar, aber wir können als sicher voraussetzen, daß er starke übersinnliche Kräfte besitzt. Vermutlich wurde Ambrose durch hypnotische Einwirkung aus dem Boot gelockt, etwa in der Form, daß er glaubte, McFarlane habe ihn gerufen. Dies wird Ihnen allen eine Vorstellung davon geben, womit wir es hier zu tun haben.« Brennand, der nicht die Hälfte von dem verstand, was vorging, fragte unschuldig: »Wie meinen Sie das mit der hypnotischen Kraft, Kapitän?«
»Wir werden das noch im einzelnen zu entdecken haben«, erwiderte McNulty. »Wir wissen einstweilen nur, daß sie Sinnestäuschungen hervorrufen können. Sie können uns dazu verleiten, daß wir zu sehen glauben, was sie uns sehen machen wollen – und vielleicht können sie noch mehr als das! Wir sehen uns einer geistigen Waffe von beträchtlicher Gefährlichkeit gegenüber, und wir müssen äußerst vorsichtig vorgehen!« »Gilt das auch für Jay?« fragte Brennand. »Kann er auch getäuscht werden?« Das war eine gute Frage. Diese brillanten Augenlinsen funktionierten nicht organisch wie unsere. Ihre Sehnerven waren dünne Silberfäden, und das Gehirn dahinter war eine kompakte elektronische Einheit. Wilsons Kamera hatte sich nicht täuschen lassen, und aus dem gleichen Grund glaubte ich das auch von Jay. Aber Jay sagte bloß: »Das kann ich erst nach einem Test beantworten.« »Das gilt auch für uns«, zirpte Kli Yang selbstbewußt. Seine Untertassenaugen blickten zugleich in fast entgegengesetzte Richtungen. Es überrieselte mich jedesmal, wenn ich diesen Anblick sah. »Bekanntlich sind unsere Sehwerkzeuge den irdischen Organen überlegen.« McNulty winkte ungeduldig ab. »Wir müssen versuchen, das Schicksal unserer Vermißten in Erfahrung zu bringen und sie zu retten, sofern sie noch am Leben sein sollten. Die Marathon wird hierbleiben, während eine Suchmannschaft unter Jay Score nach Jepson und Painter fahndet. Gleichzeitig werden zehn Mann und einer unserer Marsleute die Pinasse zum Rettungsboot steuern, in der Nähe einen geeigneten Landeplatz freibrennen und die Suche nach Ambrose und McFarlane aufnehmen. Für beide Suchtrupps bitte ich um freiwillige Meldungen.« Zehn Mann und ein Marsbewohner würden die Pinasse bedrohlich überladen. Aber es war keine weite Reise, und je stärker die Suchmannschaft war, desto besser sahen die Erfolgsaussichten aus. Ich meldete mich freiwillig für die Pinasse, zusammen mit Bannister, Molders, Wilson, Kli Yang, Brennand, Kelly und drei anderen. Während Jay seine Leute um sich sammelte, gab McNulty uns Verhaltensmaßregeln.
»Sechs Mann unter Kli Yangs Führung werden die Suchaktion durchführen«, befahl er. »Dieser Trupp bleibt beisammen. Keiner darf sich auf eigene Faust entfernen, auch nicht für eine Minute. Die vier anderen bleiben in der Pinasse und verlassen sie unter keinen Umständen.« Er blickte hart von einem zum anderen. »Ich möchte das ganz eindeutig klarstellen. Die vier Mann an Bord der Pinasse gehen nicht hinaus, selbst wenn der Suchtrupp zurückkommt und sie auf Knien bittet – denn inzwischen könnte der Suchtrupp nicht mehr das sein, was er zu sein scheint!« »Sollen wir sie denn einlassen, wenn sie kommen?« fragte Kelly, in dessen tätowierter Rechter der Schraubenschlüssel baumelte. McNulty sah das Werkzeug und bemerkte beißend: »Den Gegenstand können Sie dalassen; eine Strahlpistole wird nützlicher sein.« Er schnüffelte mißbilligend, entsann sich der Frage Kellys und öffnete und schloß seinen Mund wie ein Karpfen. Sein Gesicht färbte sich rosa, dann rot, und mit unsicheren, nur halb ausgeführten Handbewegungen stammelte er: »Was nun Ihre Frage angeht, so – äh – ah – so – ich meine… die einfachste Lösung wäre, eine Parole auszugeben, für jeden Mann eine andere. Wer sie beim Wiederbetreten der Pinasse nicht geben kann oder will, wird auf der Stelle erschossen. Das ist hart für jemanden, der ein schlechtes Gedächtnis hat, aber wir können uns auf nichts einlassen.« Wir hielten nicht allzuviel von der Idee. Wenn diese fremden Geschöpfe uns visuell täuschen konnten, bestand auch die Möglichkeit, daß sie es mit Lauten tun konnten, indem sie uns die Vorstellung eingaben, wir hörten die richtigen Worte. Aber keinem von uns wollte eine bessere Lösung einfallen. Blutproben wären die ideale Kontrolle gewesen, aber man kann keine Blutproben entnehmen und sie mikroskopisch untersuchen, wenn die zu Untersuchenden womöglich sechs Sprünge vor dem nachdrängenden Feind an Bord zu flüchten versuchen. Während McNulty die Suchmannschaft der Marathon instruierte, machten wir uns mit Feuereifer daran, alle überflüssigen Gegenstände zur Gewichtseinsparung aus der Pinasse zu holen und andere Dinge an Bord zu schaffen, die nötiger gebraucht würden. Als eine Art dreifach
vergrößertes Rettungsboot schleppt die Pinasse gewöhnlich eine Tonne Notverpflegung, Wasser für zwei Monate, Sauerstofflaschen, Raumanzüge, einen Himmelskompaß, einen Radiosender und andere Dinge mit. Das alles zerrten wir heraus, installierten ein Schnellfeuergeschütz und Reservemunition, einen Gaswerfer, eine Kiste Bomben und noch andere unfreundliche Gaben für Eingeborene. Ich wankte unter der Last mehrerer umgehängter Munitionsgurte an der Luftschleuse vorbei, als ich sah, daß einer der diensttuenden Mechaniker die Türwinde in Betrieb gesetzt hatte und daß die Tür sich auf ihrem Schneckengewinde nach innen schob. Sein Kollege lehnte an der Rückwand, stocherte in seinen Zähnen und betrachtete den Mechanismus mit träumerischen Augen. Gewöhnlich kümmere ich mich um meine eigenen Angelegenheiten, weil es die einzige Art und Weise ist, mit anderen Leuten zurechtzukommen, besonders wenn man mit diesen in einer Flasche eingeschlossen ist. Vielleicht hatten die jüngsten Ereignisse eine gewisse Empfindlichkeit aufkommen lassen, denn diesmal blieb ich mit klappernden Munitionsgurten stehen. »Wer hat euch Befehl zum Öffnen gegeben?« »Niemand«, informierte mich der Zahnstocherer. »Painter ist zurückgekommen und will ’rein.« »Woher wißt ihr das?« »Weil wir ihn draußen stehen sehen.« Er bedachte mich mit einem Was-geht-das-dich-an-Blick und fügte hinzu: »Er hat gegen die Tür geballert. Vielleicht ist. Jepson was passiert, und er will Hilfe holen.« »Vielleicht«, sagte ich, warf meine Munitionsgurte ab und langte nach meinem Strahler. »Vielleicht auch nicht!« Während der Mann mich angaffte, als ob ich den Verstand verloren hätte, schwang die Tür zur Seite und gab eine große schwarze Öffnung frei. Painter kletterte wie von tausend Teufeln gejagt herein, richtete sich auf und kam mit schnellen Schritten durch die Luftschleuse. Ich sagte laut: »Bleib stehen, wo du bist!«
Er nahm nicht im mindesten von mir Notiz. Er kannte mich gut genug, um mir irgendeine dumme Antwort zu geben. Hätte er es getan, wäre er damit durchgekommen. Aber er sagte kein Wort. Ich beobachtete ihn einen Moment, und ich wußte, daß ich meinen eigenen Augen nicht trauen durfte. Daß er Painter war, sah ich ihm an, von den abgelatschten Stiefeln bis zu den Geheimratsecken in seinem schwarzen Haar. Alles stimmte, bis ins letzte Detail, Kleidung und alles. Die Täuschung war so perfekt, daß ich eine furchtbare Angst hatte, ich könnte kaltblütig einen Kameraden ermorden. Ich drückte ab. Der Strahl traf ihn voll in den Bauch, bevor er noch einen Schritt näher kommen konnte. Was nun geschah, sträubte mir die Nackenhaare. Etwas schien hinter meinen Augen zu schnappen, und Painters Gestalt verschwand. An ihrer Stelle war eine heftig zuckende und sich windende Masse schwarzen Seils, das sich in tausend Knoten zu verschlingen suchte. Enden und Schleifen ragten aus dem Knäuel, vibrierten und zitterten. Es gab weder Nase, Ohren, Augen noch andere erkennbare Organe; nichts als diese klumpige Verschlingung wie von einem Dutzend ineinander verbissener Schlangen. Der Knäuel rollte rückwärts, wurde von einem zweiten Strahl getroffen und fiel aus der Öffnung. »Schnell!« bellte ich. »Die Luke zu!« Der Schweiß rann mir übers Gesicht. Sie gehorchten mit ungeschickten, langsamen Bewegungen, wie im Traum. Ich blieb stehen, bis die Tür eingerastet war. Jay Score kam vorbei, als ich die Munitionsgurte aufhob und auf meine Schultern lud. Er sah sofort, daß es etwas gegeben hatte. »Was geht hier vor?« fragte er scharf. »Painter kam zurück«, sagte ich. »Nur war er es nicht.« »Und ihr habt ihn eingelassen?« »Ja. Es war Painter, da gab es keinen Zweifel. Ich kenne ihn besser als meine eigene Mutter.« »Und?«
»Aber er konnte oder wollte nicht sprechen, er gab keine Antwort. Also riskierte ich es. Ich verpaßte ihm einen Strahl, und er verwandelte sich in einen widerlichen Klumpen, wie etwas aus einem Alptraum.« »Hmm! Schade, daß ich nicht selbst dabei war. Das wäre eine Gelegenheit gewesen, auszuprobieren, ob ich der gleichen Augentäuschung unterliege.« Er dachte nach. »Anscheinend können sie weder sprechen noch uns glauben machen, daß sie sprechen können. Das macht die Sache ein wenig einfacher. Wir wissen jetzt auch, daß sie Painter und vermutlich Jepson erwischt haben, sonst wären sie nicht in der Lage, uns Painters Bild vorzuspiegeln.« Er richtete seinen Blick auf die beiden Mechaniker. »Die Tür wird nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis vom Skipper geöffnet. Klar?« Sie nickten betreten. Jay und ich gingen unserer Wege. Nach einer Stunde war die Pinasse fertig. Wir zwängten uns hinein. Es war so eng, daß Kli Yang seine langen Tentakel über uns breiten mußte. Ein Tentakelende ruhte auf meinem Knie; halb umgedreht entblößte es einen Saugnapf von der Größe eines Frühstückstellers. Ich verspürte ein verrücktes Verlangen, hineinzuspucken, und das nur, weil ich sicher war, daß es ihn ärgern würde. Die Pinasse donnerte in die Nacht hinaus. Trotz tiefer Dunkelheit war es nicht schwierig, das Rettungsboot wiederzufinden. Wir hatten einen starken Suchscheinwerfer und eine komplette Blindflugausrüstung an Bord. Schon nach kurzem Flug kamen wir über die fremde Siedlung. Der zylindrische Körper des Rettungsbootes glänzte silbrig im Scheinwerferlicht. Bannister warf eine Reihe Feuerbomben ab. Sie schlugen in einer vieroder fünfhundert Meter langen Linie knapp außerhalb der Siedlung auf und hüllten die Strecke in Flammen und Rauch. Wir donnerten weiter und ließen dem Feuer Zeit, eine Landebahn freizubrennen, dann kehrten wir in einem weiten Bogen über Hügel und einen Teil des Sees zurück. Das Feuer war inzwischen fast ausgebrannt, und Bannister ging herunter, überflog die Hütten in fünfzehn Metern Höhe und setzte die Pinasse in einer Bauchlandung auf die Aschenpiste. Kli Yang wählte vier von uns aus, die an Bord zu bleiben hatten. Diese vier notierten sich unsere Losungsworte. Meins war Nanifani, was auf
der Venus als ein sehr unanständiges Wort gilt. Weil ich nur ein gewöhnlicher Raumfahrer bin und kein Intellektueller, lerne ich immer zuerst die rüden Worte und behalte sie auch am längsten. Aber ich hätte nie geglaubt, daß der Tag kommen würde, wo ein vulgäres Wort zum Überlebensfaktor werden würde. Jeder steckte eine Wurfbombe ein, dann öffnete Brennand die Luftschleuse und sprang hinaus, gefolgt von Molders, Kelly, mir, Kli Yang und Wilson. Die Dunkelheit schien undurchdringlich. Man konnte kaum die Büsche und Bäume am Rand der verbrannten Fläche sehen. Wir hatten Taschenlampen bei uns, fürchteten aber, daß ihr Gebrauch uns zu Zielen unbekannter Waffen machen könnte. Immerhin wußten wir, wo die Siedlung lag; wir brauchten der Aschenbahn bloß zu ihrem Anfang zu folgen. Wenn wir Ambrose und McFarlane – oder ihre Leichen – finden wollten, waren die Hütten der erste und logischerweise geeignetste Ort. So machten wir uns im Gänsemarsch auf den Weg dorthin. Am Ende der Aschenbahn und zwanzig Schritte vom Rand des Lagers entfernt gab es Ärger. Vor uns standen ein paar Büsche und Bäume, die der ersten Reihe der Hütte im schwachen Sternenlicht. Brennand arbeitete sich vorsichtig zwischen den Bäumen durch, Molders ein paar Schritte hinter ihm. Im nächsten Moment hörten wir einen dumpfen Schlag und einen erschrockenen Ausruf Molders. Der lange Schwede blieb einen Moment stehen und versuchte Brennand auszumachen, der plötzlich verschwunden schien. Dann tat er drei, vier zögernde Schritte vorwärts, und wir hörten einen zweiten Schlag. Der dritte in der Reihe war Kelly. Er blieb stehen und flüsterte heiser vor Erregung. »Hier ist was faul. Ich werde Licht machen.« Wir drängten uns hinter ihm zusammen. Seine Taschenlampe leuchtete auf. Brennand und Molders lagen hingestreckt wie schlafende Kinder im Gras. Wer oder was sie niedergeschlagen hatte, war uns schleierhaft. Wir sahen kein fremdes Lebewesen, hörten keine verdächtigen Geräusche im Dunkeln. Als wir so dastanden und ratlos umherblickten, setzte Molders sich auf und befühlte seinen Kopf mit behutsam tastenden Fingerspitzen. Brennand zuckte mit den Beinen und machte ein blubberndes Geräusch.
Molders blinzelte in die Taschenlampe und klagte: »Jemand hat mir eins übergebraten!« Er krabbelte auf die Beine, blickte umher und wurde plötzlich von Wut gepackt. »Ich glaube, es war der Baum da!« Mit diesen Worten feuerte er auf ein harmlos aussehendes Bäumchen von kaum zwei Meter Höhe. Ich dachte, er habe vom Schlag einen Knacks davongetragen aber eine Sekunde später mußte ich mich fragen, ob ich selbst noch alle meine Sinne beisammen habe. Das Bäumchen stand da, ein unscheinbares Ding mit langen, glänzenden Blättern. Molders Feuerstrahl traf seinen dünnen Stamm, und auf einmal war er weg, hatte sich aufgelöst wie ein Traumgebilde. An seinem Platz lag einer von diesen gräßlich verknoteten, zuckenden Knäueln. Direkt hinter Molders stand ein anderes, ähnliches Gewächs. Obwohl ich mich ganz auf das Geschehen konzentrierte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie dieses Objekt zu zittern begann, als ob es etwas unternehmen wolle. Ich riß die Strahlenpistole heraus und feuerte, und auch dieser Baum verschwand und wurde zu einem ekligen Knäuel verrückt zuckender schwarzer Seile. Ich feuerte weiter, von Ekel geschüttelt, und Molders tat das gleiche. Diese sich windenden Knäuel fremdartigen Lebens wiesen zwei Eigenheiten auf, die mir das kalte Grausen gaben. Zum einen steckten sie die Feuerstrahlen in völliger Stille ein, ohne auch nur zu wimmern. Zum anderen schnellten und sprangen die abgetrennten Enden wie von eigenem, unabhängigen Leben erfüllt weiter hierhin und dorthin. Wir zerschnitten sie in Hunderte von Stücken, die wie Teile eines schwarzen Riesenwurms herumbuckelten. Niemand versuchte unserem Tun Einhalt zu gebieten, und andere baumartige Gewächse standen unbewegt und passiv in der Nähe. Vielleicht waren es echte Bäume. Brennand war inzwischen zu sich gekommen und befingerte eine Beule auf seinem Schädel. Er vermochte der Situation keine humorvolle Seite abzugewinnen. »Du hast diese Dinger gesehen«, beschuldigte er Kli Yang mit einem sauren Blick. »Warum hast du nichts gesagt?« »Ich muß zu meinem Bedauern gestehen, daß sie wie Bäume aussahen«, sagte Kli Yang etwas kleinlaut. Man sah ihm an, daß es ihm
unangenehm war, genauso wie gewöhnliche Erdenbewohner getäuscht worden zu sein. »Das zeigt wieder mal die funktionelle Überlegenheit eurer Kugelaugen, nicht wahr?« kommentierte Brennand ätzend. Mißmutig befühlte er von neuem seinen Kopf. »Kommt mit.« Wir erreichten die erste Hütte und drängten uns alle zusammen hinein. Das Bauwerk war etwa doppelt so groß wie ein normales Zimmer. Es war nicht unterteilt und nach fremdländischen Vorstellungen eingerichtet. Wände und Dach bestanden aus überaus kompliziertem Flechtwerk, das einigermaßen wind- und wasserdicht zu sein schien. Das Ganze wurde von einem Gerüst fester Stangen gehalten, die unserem Bambus nicht unähnlich waren. Der Erdboden war mit dicken, durchwebten Grasmatten belegt, und an einer Seite standen vier fußhohe, kreisrunde Tische. Ich nenne sie Tische, aber es konnten ebensogut Stühle oder Betten sein. Von den Dachbalken hing eine Anzahl seltsamer Utensilien herab, einige aus massivem Holz geschnitzt, andere aus stumpfem, bleifarbenem Metall. Viele dieser Gegenstände hatten am oberen Ende eine Art Schnabel mit einem winzigen Loch, das man mit einer gewöhnlichen Stecknadel hätte verschließen können. Ich hatte den Eindruck, daß die Geschöpfe, die diese Dinge benützten, mit Mündern von der Größe eines Westenknopfes daran saugten. Was aber unser aller Aufmerksamkeit sofort auf sich zog, als Brennands Taschenlampe es anstrahlte, war ein Instrument an der dem Eingang gegenüberstehenden Wand. Es hatte eine runde Scheibe, deren Rand mit zweiundvierzig Punkten versehen war. Auf ihr war eine zweite Scheibe mit nur einem Punkt angebracht, und während wir das Instrument betrachteten, drehte sich die zweite Scheibe mit kaum wahrnehmbarer Langsamkeit, bis ihr Punkt genau unter einem anderen Punkt des äußeren Kreises stand. Offenbar eine Uhr, obschon wir weder ein Ticken noch sonst das leiseste Geräusch hörten. Immerhin bewies sie uns eins: daß wir es mit Wesen zu tun hatten, die höher als einfache Wilde standen; mit Wesen, die ein gewisses Maß an Einfallsreichtum und manueller Geschicklichkeit besaßen.
Niemand war in der Hütte. Sie war leer, während die fremdartige Uhr an der Wand lautlos fremde Stunden maß. Unsere Lichtkegel wanderten durch den ganzen Raum und ließen keinen Winkel aus und die Hütte war augenscheinlich leer. Dafür hätte ich jeden Eid auf mich genommen – obschon ich einen schwachen Ziegengeruch wahrnahm, den ich der abgestandenen Luft in der Hütte oder den Ausdünstungen der geflohenen Bewohner zuschrieb. Die nächste Hütte erwies sich als gänzlich ähnlich. Auch sie war leer. Sie war etwas reicher möbliert und die fünf runden Tische oder Betten standen anders. Wir sahen zwei Uhren. Unsere sechs Augenpaare untersuchten den Raum von oben bis unten, aber auch hier fehlten die Bewohner. Kein lebendes Wesen war in Sicht. Als wir sämtliche dreißig Hütten des äußeren Kreises durchsucht hatten, erschien uns so gut wie sicher, daß die Dorfbewohner sich in den Busch davongemacht hatten als die Pinasse zuerst über ihre Siedlung gebraust war, daß sie aber ein paar Wachen zurückgelassen hatten, um unsere Fähigkeiten zu testen. Nun, wir hatten es ihnen gezeigt. Trotzdem fühlte ich mich bei unserem friedlichen Spaziergang durch fremde Wohnungen nicht allzu wohl. Geschöpfe, die Metallgegenstände und Uhren herstellen konnten, mußten auch imstande sein, weit unangenehmere Waffen als Pfeile und Bogen zu verfertigen. Warum dieses Zögern uns in den Hintern zu treten? Wie ich so darüber nachdachte, fiel mir ein, daß es auf der Erde viele Dörfer gab, die weder einen Soldaten noch eine Waffe aufzuweisen hatten. Vielleicht waren wir bei einfachen Landleuten gelandet, die fortgerannt waren, um von irgendwoher Hilfe zu holen. In diesem Fall stünde uns der Tanz noch bevor. Hier irrte ich. Wir wurden bereits barbiert und wußten es nicht. Brennand kam mißgelaunt aus der dreißigsten Hütte und sagte: »Ich glaube, wir verschwenden hier nur unsere Zeit.« »Du nimmst mir die Worte aus dem Mund«, pflichtete Wilson bei. »Genau, was ich eben dachte«, ergänzte Molders. Ich sagte nichts. Es war nicht nötig, weil sie meine Gefühle zum Ausdruck brachten. Ich trat hinter Kelly aus der Hütte, gähnte in die
Dunkelheit und war überzeugt, daß diese ganze Herumsucherei vergebens war und daß wir gut daran täten, zur Pinasse zu gehen und zurückzufliegen. »Was ist mit dem Rettungsboot?« fragte Kli Yang. »Lassen wir liegen«, gab Brennand gleichgültig zurück. »Und was ist mit Ambrose und McFarlane?« beharrte Kli Yang und musterte zwei von ihnen gleichzeitig mit seinen Telleraugen. »Zwei Stecknadeln in einem planetarischen Heuhaufen«, erklärte Brennand. »Da könnten wir suchen, bis wir meterlange weiße Bärte haben. Hauen wir ab!« Kli Yang sagte: »Und was sollen wir McNulty sagen?« »Daß wir sie nicht gefunden haben, weil sie nicht da sind.« »Das wissen wir nicht.« »Ich weiß es!« sagte Brennand überzeugt. »Wirklich?« Kli Yang legte eine Pause ein, um es zu überdenken. Dann fragte er die anderen: »Denkt ihr genauso?« Wir nickten alle. Ja, auch ich – Trottel der ich bin. »Das ist komisch«, bemerkte Kli Yang bedächtig. »Ich nämlich nicht.« »Na und?« sagte Kelly wegwerfend. Kli Yang beobachtete ihn. »Mein Gott ist anders als der eure. Meine Augen mögen sich täuschen lassen – aber nicht mein Verstand!« »Hör mal, was willst du damit sagen?« fragte Brennand aufsässig. Die Strahlpistole in einem Tentakel, die Taschenlampe in einem anderen, blickte Kli wachsam und mißtrauisch in die Runde. »Wir sind einzig und allein hier, um Ambrose und McFarlane zu suchen«, erklärte er. »Nun sagt ihr plötzlich, zum Teufel damit. Ihr seid alle einer Meinung. Eine bemerkenswerte Koinzidenz, findet ihr nicht? Ich glaube, daß der Wunsch, die Suche aufzugeben, euch von außen eingegeben wird – was bedeutet, daß jemand hier ist!« Das schockte uns alle. Sekundenlang wirbelten meine Gedanken konfus durcheinander, während ich mich bemühte, die beiden gegensätzlichen Ansichten irgendwie unter einen Hut zu bringen. Ich sah die anderen Gesichter nur undeutlich, aber Wilson stand nahe genug, um
mir das Bild eines von innerem Zwiespalt gelähmten Mannes vorzuführen. Die weitere Suche war sinnlos: Das war meine feste Überzeugung. Unser Verstand wurde manipuliert, daß er an die Sinnlosigkeit der Suche glaubte: Ich wußte auch das mit der gleichen Sicherheit. Dann siegte der klare Verstand über die Einbildung. Es war, wie wenn in meinem Gehirn etwas schnappte, und genau das mußte den anderen im selben Augenblick widerfahren sein, denn Molders stieß einen ihm selbst zugedachten Fluch aus, und Brennand erklärte grimmig: »Wir werden jede Hütte in diesem Nest durchkämmen!« So machten wir uns ohne weitere Verzögerung daran, den nächsten, inneren Kreis der Anlage zu durchforschen. Hätte jeder von uns sich eine Hütte vorgenommen, wäre es schneller gegangen, aber wir hatten strikten Befehl, beisammenzubleiben. Einige Male war ich nahe daran, vorzuschlagen, daß wir unsere Kräfte aufteilen sollten, aber jedesmal schluckte ich die Worte hinunter, weil die Idee möglicherweise nicht meine eigene war. Solange ich es verhindern konnte, wollte ich keine Befehle von verknäulten Monstrositäten annehmen, die ringsum in der Dunkelheit lauerten. Wir erreichten die zwölfte Hütte des inneren Kreises, und Brennand ging zuerst hinein, mit der Taschenlampe vorausleuchtend und vorsichtig bestrebt, in Reichweite Kli Yangs zu bleiben, der ihm folgte. Inzwischen waren wir schon auf den Anblick leerer Hütten vorbereitet und erledigten die Durchsuchungen in routiniertem Zusammenwirken. Ich war der letzte unserer Patrouille und wollte Wilson gerade in die Hütte folgen, als ich in der Dunkelheit rechts von mir ein schwaches Geräusch hörte. Sofort fuhr ich herum und schwenkte den Lichtkegel meiner Lampe in die Richtung. Vor der übernächsten Hütte in der Reihe stand Ambrose hell angestrahlt im Licht. Er winkte mir zu, obwohl er unmöglich sehen konnte, wer die Taschenlampe hielt. Er sah weder verletzt noch irgendwie angeschlagen aus und stand da in einer Pose, als ob er die Tochter eines Häuptlings geheiratet und beschlossen habe, Eingeborener zu werden.
Ich stieß einen aufgeregten Schrei aus und rief in die Hütte: »Schnell, einer von ihnen ist hier draußen!« Sie kamen aus dem Eingang geschossen und starrten. Als erster hatte sich Brennand gefaßt. »Hallo, Ammy!« rief er und ging ein paar Schritte auf den anderen zu. »Hallo!« sagte Ambrose klar und vernehmlich, dann drehte er sich um und ging in seine Hütte. Unnötig zu sagen, daß wir wie die Wilden zu diesem Bauwerk stürzten. Wir drängten uns um den Eingang, und unsere sechs Lampen tauchten das Innere der Hütte in helles Licht. Niemand war da. Niemand! Die Wände waren stabil und unbeschädigt, ohne einen zweiten Ausgang. Wir hatten die Tür ständig beleuchtet, und niemand konnte die Hütte in der kurzen Zwischenzeit verlassen haben. Wir durchforschten das Innere ziemlich gründlich; keine Ratte hätte sich vor uns verstecken können. Wir standen geschlagen da, als Molders von einem Geistesblitz getroffen wurde. »Warum wurden wir ausgerechnet in diese Hütte gelockt? Antwort: Damit wir die beiden letzten übergehen!« »Natürlich!« sagte Brennand und war mit zwei Sätzen an der Tür. »Befehl hin, Befehl her, wir bilden zwei Dreiergruppen und nehmen uns beide Hütten gleichzeitig vor.« Molders, Kelly und ich stürzten erwartungsvoll in Hütte Nummer dreizehn. Leer. Möbliert wie alle anderen, aber leer. Die beiden Kameraden verschwendeten keine weitere Zeit. Überzeugt, daß sie die falsche Hütte gewählt hatten, rannten sie hinaus, um sich Kli Yangs Gruppe anzuschließen. Ich wollte ihnen folgen als ich hinter mir ein würgendes Geräusch hörte. Ich drehte mich um, ließ den Lichtstrahl meiner Lampe durch den Raum gehen und konnte nichts sehen, was das Geräusch verursacht haben könnte. Aber noch während ich lauschte, kam es wieder, gefolgt von einer Serie dumpfer Laute, wie wenn jemand auf eine dicke Grasmatte schlägt.
Wieder Illusionen, dachte ich. Obwohl sie normalerweise stumm zu sein schienen, wußte ich, daß wenigstens einige der talentierten Fremden imstande waren, unsere Ohren zu täuschen. Ich hätte schwören mögen, daß Ambrose ›hallo‹ gesagt hatte. Dann fiel mir ein, daß es unter diesen schwarzen Knäulen welche geben mußte, die unsere Sprache regelrecht imitieren konnten, denn jemand hatte McNultys Worte im Radio nachgeäfft, und das konnte keine Halluzination gewesen sein. Es hatte sich um eine richtige Stimme gehandelt. Einfältig rief ich: »Wer ist da?« und hielt mich bereit, den Ausgangspunkt eines etwaigen Echos mit einem Feuerstrahl zu durchbohren. Kein Wort kam zurück, aber die würgenden und klopfenden Geräusche wiederholten sich, und sie waren kräftiger als zuvor. Die Neugier zog mich in die Hütte, die Vorsicht mahnte zum Verlassen. Und dann kam Kelly und erlöste mich aus meiner Unschlüssigkeit. Er wollte wissen, was mich zurückhielt. »Eine Sekunde«, sagte ich. »Du bleibst hier stehen und gibst mir Feuerschutz – da ist etwas. Komisches.« Damit ging ich vorsichtig in die Hütte, die Taschenlampe in der einen Hand, den Strahler in der anderen, und folgte den merkwürdigen Geräuschen zum hinteren Teil des Raumes. Als ich näherkam, wurden sie lauter, als ob sie mir sagen wollten, daß ich in diesem Blindekuhspiel eine warme Stelle erreicht hätte. Ich kam mir vor Kelly einigermaßen lächerlich vor, aber ich richtete den Lichtkegel auf den Boden, kniete nieder und fühlte herum. Meine Hand stieß an einen Stiefel. Im nächsten Moment hörte ich Kelly schreien, und sein Feuerstrahl zischte zehn Zentimeter über meinen Kopf. Die Hitze sengte meine Haare an. Hinter mir bewegte sich etwas heftig, ein paar Metallutensilien fielen durcheinander, und ein halblanges Stück schwarzen Seils zuckte und buckelte vor meinen Knien herum. Im gleichen Moment wurde Ambrose unter meiner ausgestreckten Hand sichtbar. Er hätte aus dem Nichts kommen können, aus dem Taschentuch eines Supermagiers. Plötzlich war er da, flach auf dem Rücken liegend, gefesselt und geknebelt. In meiner Gemütsverfassung war ich so wenig
bereit, dem Augenschein zu trauen, daß ich ihm den Knebel herauszog, meinen Strahler auf ihn richtete und sagte: »Vielleicht bist du Ambrose, vielleicht auch nicht. Also plappere mir nicht nach und sage ein paar Worte, aber schnell!« Er ließ sich das nicht zweimal sagen. Was er von sich gab, machte Kelly und mich stumm vor Bewunderung. Es kam schnell und fließend und mit beträchtlicher Leidenschaft. Gewöhnlich war er ein ziemlich ruhiger Typ, und niemand hätte geglaubt, daß er das Zeug in sich hatte, den allgemein zugänglichen Bestand an Schimpfworten und Schmähungen derart zu bereichern. Zufrieden mit dieser Art von Identitätsnachweis, löste ich seine Fesseln, die aus einem sehr zähen geflochtenen Gras bestanden. Fettige schwarze Kabelstücke krochen ziellos umher. Vom Eingang starrten inzwischen fünf Gesichter zu mir herein. Ambrose erhob sich ächzend, befühlte seinen Körper und sagte zu den fünf Gaffern: »Habt ihr Mac gefunden?« »Noch nicht«, antwortete Wilson. »Zehn zu eins, daß er nebenan ist«, sagte Ambrose. »Die Wette hast du verloren«, erklärte Wilson. »Wir haben gerade nachgesehen, und er ist nicht drin.« »Wie habt ihr nachgesehen«, fragte ich. »Habt ihr den ganzen Boden abgefühlt?« Wilson sah mich an, als ob ich übergeschnappt wäre. »Du hast wohl nicht alle beisammen? Warum sollten wir das tun?« »Das wäre eine gute Idee«, meldete sich Kelly. »Hört zu«, sagte ich. »Ihr seht, was man euch sehen läßt. Und wenn man euch nichts sehen läßt…« »Ich will euch was sagen«, unterbrach Ambrose. »Diese klumpigen Schlangen können euch vormachen, was sie wollen. Reden wir nicht lange, sehen wir uns die Hütte genau an.« Wir trabten zurück. Sechs Taschenlampen erhellten den Raum vom Boden bis zum Dach. Verlassen. Leer. Verdammt, man konnte sehen, daß niemand hier war.
Ambrose ging in die Mitte des Raumes und rief: »Mac, kannst du ein Geräusch machen, irgendein Geräusch?« Keine Antwort. Es sah idiotisch aus, wie er dastand und jemanden rief, der unsichtbarer war als ein Geist. Ich versuchte mir McFarlane vorzustellen, wie er, ganz in der Nähe liegend, sich mächtig gegen seine Fesseln stemmte und eine hörbare Antwort zu geben versuchte, während er unseren kurzgeschlossenen Augennerven verborgen blieb. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, fuhr Ambrose fort: »In Ordnung, Mac, wenn du nicht quietschen kannst, kannst du dich vielleicht wälzen. Ich bleibe hier stehen. Sieh zu, ob du dich an meine Beine heranwälzen kannst.« Wieder wartete er eine Weile, dann gab er auf, blickte umher und begegnete meinem fragenden Blick. »Ich werde den Boden hier abfühlen, immer an der Wand entlang. Du machst das gleiche auf der anderen Seite. Und ihr anderen trampelt inzwischen in der Mitte herum. Wenn ihr einen Widerstand fühlt, packt schnell zu!« Er ließ sich auf alle viere nieder und begann die Wand entlangzukriechen, wobei er mit der Rechten voraustastete. Ich folgte seinem Beispiel. Da ich Ambrose bereits auf ähnliche Art und Weise gefunden hatte, kam mir die Sache nicht mehr so unheimlich vor, aber ein leichtes Gruseln blieb. Es ist bestürzend, nicht wirklich blind zu sein und doch zu wissen, daß man sich auf seine Augen nicht verlassen kann. Während die anderen in der Mitte zwischen Kli Yangs gestreckten und vorsichtig herumtastenden Tentakeln ihren Eiertanz vollführten, fummelte ich mich mit halbkreisförmigen Schnitterbewegungen weiter die Wand entlang, und – whaaa! – plötzlich berührte ich etwas Unsichtbares, faßte zu und hatte einen kalten, schleimigen Gummischlauch in der Hand. Ich konnte nicht loslassen. Der Schreck lähmte mich so, daß ich nicht einmal schreien konnte. Das Ding wand sich mächtig, um wegzukommen, zerrte mich heftig vorwärts, und ich fiel lang auf den Bauch. Kelly schaltete schnell. Weil er die Vorstellung nebenan miterlebt hatte, war er den anderen gegenüber im Vorteil. Als er mein sonderbares
Verhalten sah, zielte er einen halben Meter vor meine ausgestreckte Faust und drückte ab. Ein wilder Aufruhr brach los. Ich hing mit einer Hand an einem wie toll sich verknäuelnden Gewirr dicker schwarzer Seile, das mich mit aller Macht zur Tür zu zerren trachtete, während Kelly Stücke davon abbrannte und Brennand wie besessen dazwischenfunkte. Ambrose brüllte, jemand solle ihm ein Messer geben, damit er McFarlanes Fesseln zertrennen könne. Wilson hüpfte in der Raummitte herum und gab schlechtgezielte Feuerstöße ab, von denen einer höchstens einen Zentimeter unter Kellys dickem Hinterteil durchschoß und ein anderer unmittelbar an meinem Gesicht vorbeizischte und ein suppentellergroßes Loch in die Wand brannte. Ich weiß nicht, wie ihm das alles gelang, ohne ein Gemetzel anzurichten; sein Feuerstrahl muß sich entgegen allen bekannten Gesetzen der Physik gebogen haben. Ich ließ los, was ich in der Hand hielt, und es ließ einen grauen, stark riechenden Schleim zurück. Das Ding war mittlerweile in kleine Stücke zerschnitten, aber so klein sie auch waren, sie hüpften und buckelten immer noch herum, die Schnittflächen schwarz und feucht, mit kleinen weißen Fäden darin. Auf der anderen Seite des Raumes stand McFarlane auf unsicheren Beinen und befreite sich von den Resten der geflochtenen Grasstricke, mit denen man ihn gebunden hatte. Sein Gesichtsausdruck war sauer. »Warum bist du nicht im Boot geblieben und hast um Hilfe gerufen?« sagte er zu Ambrose. »Weil dein Zwillingsbruder auftauchte und mich herauswinkte, als ob es sehr eilig wäre«, erwiderte Ambrose. »Und weil ich noch nicht wußte, was ich jetzt weiß. Ich habe meine Lektion gelernt. Nächstesmal bleibe ich sitzen, während sie dir den Hals umdrehen.« »Danke«, sagte McFarlane. »Was ist, wollen wir die ganze Nacht hier herumstehen?« »Du bist derjenige, der die ganze Zeit redet«, sagte Brennand. Er ging zur Tür. »Wir bringen euch zwei zum Rettungsboot. Seht zu, daß ihr schnell zur Marathon kommt. Dort könnt ihr streiten und euch die Köpfe…«
Er brach ab. Sein Lichtkegel, der in die Nacht gerichtet war, begann heftig zu zittern. Dann riß er etwas von seinem Gürtel und schrie: »Da kommen sie! Hunderte! Volle Deckung!« Er warf etwas, während ich mein Gesicht zum zweitenmal in die Grasmatte drückte. Ein Blitz zuckte auf. Der Boden unter mir wankte, und die langen Gerüststangen der Hütte neigten sich wie Bäume in einem Orkan. Sekunden später regnete es Steine, Pflanzenteile und zuckende schwarze Seilstücke. Wenn sie auch Metallgegenstände und Instrumente machen konnten, schienen die Geschöpfe dieser Welt nichts entwickelt zu haben, was wir als Waffen bezeichnen. Vielleicht hatten sie diese für uns so überaus naheliegende Form des Fortschritts übersehen und statt dessen ihre Fähigkeit der angewandten Sinnestäuschung vervollkommnet. Wie dem auch sein mochte, unsere Waffen mußten ihnen genauso fremd und bestürzend ungewohnt sein wie die ihren uns. Diese letzte Demonstration unserer Macht nahm ihnen wahrscheinlich den Kampfgeist. Wir nützten den Schock der Bombenexplosion aus und stürzten aus der Hütte, vorbei an abgedeckten und eingestürzten Behausungen. Kein Feind versperrte uns den Fluchtweg, keine Herde imaginärer Dinosaurier stampfte uns entgegen. Wir ließen die Siedlung hinter uns und kamen in eine Gegend, wo das Rettungsboot liegen mußte. Angesichts der Dunkelheit und der ringförmigen Anordnung der Hütten war es nicht leicht, die Himmelsrichtungen zu unterscheiden. Ich hatte mich damit zufrieden gegeben, den anderen wie ein Schaf nachzutrotten, und Brennand hatte diese Richtung ohne zu zögern eingeschlagen und schien zu wissen, wohin er ging, aber nun fing ich an zu überlegen, ob er uns nicht in die Irre führte. Unser Schritt wurde langsamer, wir spähten suchend umher. So weit draußen konnte das Rettungsboot kaum liegen. Dann traf Brennands Licht das metallisch reflektierende Bootsheck. Wir hatten es also nur um fünfzig Meter verfehlt. Ambrose ging zur Leiter, drehte sich um und blinzelte in unsere Lampen. »Danke, Kumpels. Bis später.«
Damit faßte er nach der Leiter, machte ein paar komische Beinbewegungen wie einer, der ein nichtexistentes Fahrrad in Bewegung setzten will, und fiel auf die Nase. Mir kam es lächerlich vor. Dann wurde ich gewahr, daß das Rettungsboot verschwunden war. Ambrose hatte eine Leiter erklettern wollen, die gar nicht da war. Kli Yang ließ seinen Lichtkegel hin und her wandern, um die Kreatur auszumachen, die uns dieses Trugbild vorgegaukelt hatte. Daß eine oder sogar mehrere in geistiger Reichweite waren, lag auf der Hand – aber was war ihre geistige Reichweite? Zehn Schritte oder tausend? Wir sahen nichts als Büsche und Bäume oder Objekte, die Büschen und Bäumen zum Verwechseln ähnlich waren. McFarlane half Ambrose auf die Beine und bemerkte mit einem Anflug von Bosheit: »Mußt du denn jedesmal auf ihre faulen Tricks hereinfallen?« »Halt’s Maul, bevor ich dir eine klebe!« versetzte Ambrose gereizt. Es hätte eine Keilerei gegeben, wäre Brennand nicht eingeschritten. »Ihr könnt euch später die Schädel einschlagen«, knurrte er. »Jetzt haben wir andere Sorgen. Wo ist das Boot?« »Weit kann es nicht sein«, meinte ich. »Vielleicht haben wir die Richtung verfehlt.« »Dann schlagen wir von hier aus einen Kreis«, sagte Brennand, unschlüssig erst in die eine, dann in die andere Richtung blickend. »Versuchen wir es links«, schlug Kelly vor. »Ich stehe schon in der Richtung.« Wir gingen nach links und orientierten uns am äußeren Kreis der Hütten, die gerade noch im Bereich des Lichtscheins lagen, wenn wir sie anleuchteten. Es kam mir nicht in den Sinn, daß die Hütten inzwischen genauso illusionär sein mochten wie es das Rettungsboot gewesen war, und daß die echten Hütten unbemerkt anderswo standen. Vermutlich hätten wir uns die nächsten hundert Jahre im Kreis herum oder sogar in einer geraden Linie in den Busch hinausführen lassen. Aber vielleicht hatte die Bombe den scharfsinnigsten unserer Gegner den Garaus gemacht und nur die Einfältigeren übriggelassen, so daß sie ihre Chance verpaßten, denn die Hütten waren echt, und nach
vierhundert Metern fanden wir das Rettungsboot. Diesmal befühlte Ambrose die Leiter, erkletterte sie vorsichtig und klopfte mißtrauisch an den Rumpf. »Nun, wie ich vorhin schon sagte, danke, Kumpels!« Er sperrte die Tür auf und stieg durch die enge Luftschleuse ein, gefolgt von McFarlane. Das zeigte wieder einmal, wie dumm selbst die Schlauesten manchmal sein können, denn wir anderen standen da und dachten an nichts, als daß wir zur Pinasse gehen würden, sobald sie die Tür geschlossen hätten. McFarlane schloß sie auch, öffnete sie aber sofort wieder und gab uns den überlegenen Blick eines Mannes, der gelegentlich sein Gehirn gebraucht. »Will vielleicht einer von euch mitgenommen werden?« Brennand schlug sich vor die Stirn und sprach aus, woran jeder von uns hätte denken müssen: »Jesus, wir müssen ja gar nicht die Pinasse nehmen, wenn wir zurückwollen!« Damit stürmte er zum Boot und die Leiter hinauf. Wir drängten ihm nach, ich als vorletzter, mit Wilson hinter mir. Ich mußte auf der Leiter warten, bis Kli Yang seinen Körper hineingewuchtet und die schmale Tür freigemacht hatte. Dann stieg ich in die Schleusenkammer und hörte Wilson übereifrig die Leiter heraufhasten und über ein paar Sprossen zurückgleiten. Es waren dünne Metallsprossen und nicht für unachtsame Benutzung gemacht. Ich wandte den Kopf und sah seine Taschenlampe wild im Dunkeln herumschwenken und verlöschen. Er machte einen zweiten Versuch, während ich oben wartete, den Finger am Schließmechanismus der Tür. »Du kletterst wie eine Giraffe«, sagte ich, als er oben ankam und in die Schleuse stieg. Er verzichtete auf eine Entgegnung, was ziemlich ungewöhnlich war. Als ich die Leiter einziehen wollte, ging er mit verkniffenem Gesichtsausdruck an mir vorbei. Eine starke Ausdünstung von grauem Schleim schlug mir entgegen. Es gibt Momente, wo das Handeln vor dem Denken kommen muß. So versetzte ich ihm einen Fußtritt in das, was sein Unterleib gewesen sein müßte.
Im nächsten Augenblick hatte ich einen wirren Knäuel vor mir, der in sechs verschiedenen Richtungen auf einmal sprang, meine Hände mit Schlingen zu fassen suchte und lose Enden um meine Knöchel schlang, um mich zu Fall zu bringen. Die wilde Energie in diesem Monstrum hätte wochenlang einen Dynamo antreiben können. Seine Schlüpfrigkeit und die Heftigkeit seiner Bewegungen machten es mir unmöglich, das Ding festzuhalten; auch beschäftigte es mich so, daß ich meinen Strahler nicht ziehen konnte. Gerade war ich zu der grimmigen Erkenntnis gelangt, daß ich bei diesem Handgemenge den kürzeren ziehen würde, da schob Kli Yang einen Tentakel in die Luftschleuse, packte meinen Gegner mit festem Griff und schlug ihn drei, vier Male auf den Metallboden. Dann warf er ihn durch die Öffnung ins Freie. Ich riß die Taschenlampe und Strahlenpistole heraus und jagte die Leiter hinunter. Drei oder vier Meter weiter wälzte sich Wilson mit zwei schwarzen Seilknäulen am Boden herum. Offenbar versuchten seine Fänger ihre Aufmerksamkeit auf zwei Dinge zugleich zu richten, was ihnen nicht recht gelang. Sie trachteten Wilson festzuhalten und zur gleichen Zeit etwaige Helfer zu täuschen. Wilson aber zappelte wie ein großer Fisch an der Leine und wollte sich nicht so schnell unterkriegen lassen. Das Resultat war sonderbar. Das Bild des Kampfes kam und verging in kurzen Intervallen, wie bei einem aussetzenden Filmprojektor. Ein paar Sekunden lang konnte ich sie sehen, dann waren sie weg. Dann waren sie wieder klar vor meinen Augen. Während eines solchen momentanen Erscheinens feuerte ich einen gutgezielten Strahl auf eins der schwarzen Dinger, dann fiel Kli Yang von der Leiter, stieß mich beiseite und stürzte sich in den Kampf. Er war für eine solche Situation besonders gut ausgestattet. Ohne sich um das visuelle Versteckspiel zu kümmern, umfaßte er das gesamte Kampfgebiet mit seinen langen Tentakeln und nahm alle miteinander auf. Anschließend sortierte er sie aus, wobei er Wilson unabsichtlich eine blutende Nase verpaßte. Mit einem Tentakel lud er Wilson auf halber Höhe der Leiter ab, während er mit mehreren anderen die schwarzen Knäuel auf den Boden schlug. Zuletzt hielt er sie in die Luft und knallte sie zusammen, bevor er sie weit in die Büsche schleuderte.
Das getan, folgte er mir die Leiter hinauf, zwängte sich in die Luftschleuse und schloß die Tür. Ich ging nach vorn, um Ambrose zu sagen, daß er starten könne. Er und McFarlane saßen in der engen Pilotenkanzel und sprachen über Radio mit der Pinasse. »Was soll das heißen, ihr schießt uns ab, wenn wir zuerst starten?« fragte McFarlane aufgebracht. Die Stimme von der Pinasse sagte: »Wenn ihr zur Marathon zurückkehrt, müssen wir vor euch dort sein.« »Warum?« »Weil wir die Liste der Losungsworte haben, und die müssen aufgesagt werden. Woher sollen wir wissen, wer ihr seid?« McFarlane ballte die Fäuste. »Ja, ja, das ist zu verstehen, aber man kann es auch andersherum sehen.« »Wie meinst du das?« »Ihr Faulenzer habt keine Losungsworte. Woher sollen die an Bord der Marathon wissen, wer ihr seid?« »Wir haben die Pinasse nicht verlassen«, sagte die Stimme indigniert. »Ha!« höhnte McFarlane. »Dafür haben wir nur euer Wort!« »Diese sechs Herumtreiber haben versprochen, hierher zurückzukommen. Das haben sie nicht getan. Du sagst, sie seien bei euch an Bord – aber dafür haben wir nur euer Wort!« Der andere wurde – man merkte es seiner Stimme deutlich an – allmählich hitzig. McFarlane warf einen Blick über die Schulter und knurrte: »Sprich du mit diesen Knallköpfen. Sag ihnen, daß du hier bist, komplett mit Hosenboden und allem.« Man hörte ihn an Bord der Pinasse, denn die Stimme sagte scharf: »Bist du das, Sarge? Wie lautet dein Losungswort?« »Wer ist sonst noch dort?« »Wir alle.« »Keine Verluste?« »Nein.« »Gut, wir starten jetzt. Ihr folgt uns. Landet nach uns.«
Weil ihm Instruktionen von einem niedrigeren Dienstgrad gegen den Strich gingen, plusterte McFarlane sich auf: »Hört zu, von euch lasse ich mir keine Befehle geben!« »Doch, das wirst du«, erklärte der andere ungerührt, »denn dieses Boot ist bewaffnet, und das eure nicht. Macht Dummheiten, und wir pusten euch auseinander. Der Skipper wird uns dafür umarmen!« Von der Wahrheit dieser letzten Bemerkung geschlagen, schaltete McFarlane wütend das Gerät aus und saß finster in die Nacht starrend da. Eine halbe Minute später zerriß ein orangegelber Glutstrahl die Dunkelheit. Wir sahen die Pinasse auf ihrem feurigen Schweif hochschießen, und als sie auf etwa tausend Meter gestiegen war, zündete Ambrose die Treibsätze und zog das Boot steil in die Höhe. Entgegen unseren Erwartungen löste unsere Ankunft keine Panik aus. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie uns einer Serie von Tests mit Blutproben, Fingerabdrücken und allem anderen unterzogen hätten, um unsere Echtheit zu prüfen. Aber sie hatten eine viel einfachere Methode entwickelt. Wir brauchten bloß nacheinander in die Luftschleuse zu treten und dort stehenzubleiben, während Jay Score uns kurz musterte. An Bord der Marathon angelangt, sahen unsere geübten Augen sofort, daß das Schiff startfertig gemacht worden war. Ich zog mich in den Waschraum zurück und hatte viel Mühe, den grauen, inzwischen getrockneten Schleim von meinen Händen zu schrubben; er schmierte und stank und neutralisierte den Seifenschaum. Anschließend überprüfte ich kurz meine Waffenkammer und fand alles in Ordnung. Wenn wir in Kürze starteten, würde es eine Weile geschäftig zugehen, und so war jetzt die letzte Gelegenheit zum Austausch von Neuigkeiten. Im Korridor stieß ich auf Jepson und lachte schadenfroh. »Wie ich sehe, haben sie dich nicht behalten wollen; ein Jammer. Was war mit dir?« »Ich wurde geschnappt«, sagte er freudlos. »Daran solltest du dich inzwischen gewöhnt haben.« Er rümpfte die Nase. »Ich hätte mehr Hoffnung auf Gewöhnung, wenn es jedesmal gleich wäre. Was mich schafft, ist die Verschiedenartigkeit der Methoden.«
»Wie kam es diesmal?« »Ich ging mit Painter durch den Wald. Wir hatten uns von den anderen getrennt, waren aber nicht weit vom Schiff. Painter glaubte einen Metallknopf oder was am Boden liegen zu sehen und blieb ein paar Schritte zurück. Als er das Ding aufheben wollte, war es plötzlich nicht mehr da. So sagte er.« »Und dann?« »Jemand verpaßte ihm einen Schlag über den Kopf, als er sich bückte. Ich hörte ihn fallen, drehte mich um. Ich schwöre, daß ich ihn dastehen und seinen Fund in der Hand halten sah. Ich ging zu ihm und – bäng!« »Wie bei ihm.« »Genau. Painter sagt, ein Baum habe es getan, aber ich weiß nicht. Ich kam zu mir und fand mich an den Händen und Füßen gebunden, mit einem Grasknebel im Mund. Dann schleiften mich ein paar schleimige Nachtmahre mit dem Kopf voran durch den Busch. Man muß sie gesehen haben, um es zu glauben.« »Ich habe sie gesehen.« »Sie luden mich ab, gingen fort und brachten Painter. Dann kehrten sie zum Schiff zurück, wahrscheinlich, um neue Kunden abzuholen. Dann sahen wir Scheinwerfer und Feuerstrahlen, und es gab einen Mordslärm, und schließlich fand uns der Suchtrupp. Die Jungs sagten, sie hätten ein halbes Dutzend Bäume zerstört, die sie für Bäume gehalten hätten, aber nicht Jay Score. Jay ging herum und suchte die Bäume für sie aus.« »Die Kamera-Augen, was?« Jepson nickte. »Ein Glück, daß wir ihn an Bord haben. Ohne ihn würde die Suchmannschaft immer noch umhertappen.« Ich fand Steve in seiner Kabine, wo er an einem Hundekuchen knabberte, und fragte: »Was hat der Skipper vor? Du mußt es doch wissen; wenn einer an Bord Bescheid weiß, dann bist du es.« »Weißt du es noch nicht?« versetzte er. »Natürlich weißt du es nicht. Du weißt nie was, Spatzenhirn.« »Also, wie du meinst.« Ich lehnte mich an den Türrahmen. »Nachdem die formelle Einleitung vorüber ist, wie ist die neue Parole?«
»Wir starten, sobald alle an Bord sind und McNulty ihre Meldungen durchgesehen hat.« »So bald? Wir sind kaum einen Tag hier.« Seine Brauen gingen hoch. »Willst du vielleicht bleiben?« »Gott bewahre, nein!« »Ich auch nicht. Je eher ich zurückkomme, desto eher fühle ich die Scheine in meiner Brieftasche knistern.« »Sehr viel haben wir nicht herausgebracht«, sagte ich. »Der Skipper meint, wir hätten so viel erfahren, wie man von uns erwartet«, meinte er achselzuckend. Er legte seine Füße auf die Kante seines Funktisches, machte es sich bequem und fuhr fort: »Gewisse Schlauberger auf der Erde suchen einen Planeten aus, indem sie die Augen schließen und einen Wurfpfeil auf eine Sternkarte jagen. Dann sagen sie, dort gebe es höheres Leben, und wir sollten es uns mal ansehen. Wir brauchen bloß festzustellen, ob der Wurfpfeil einen Treffer gebracht hat und wie das höhere Leben aussieht. Das wissen wir jetzt – also gehen wir nach Hause, bevor Köpfe abgerissen und Eingeweide herausgezerrt werden.« »Mir soll es recht sein«, erwiderte ich. »Ich habe nur noch zwei Worte hinzuzufügen, nämlich: Nie wieder.« »Ha! Das hast du letztesmal auch gesagt.« »Kann sein, aber…« Das Schiff heulte, ich unterbrach das Gespräch, raste in die Waffenkammer und schnallte mich an. So gelang es mir mit knapper Not, den Start zu überleben. Wir waren einige zwanzig Millionen Kilometer draußen, als Bannister seinen Kopf in die Waffenkammer steckte und fragte: »Was war eigentlich mit Mac los, daß er sich in seinem Rettungsboot so aufgeregt hat? Er tat, als ob ich nicht das Recht hätte, mit ihm zu sprechen.« Ich hob die Schultern. »Er war wohl noch ein bißchen durcheinander und gereizt, was weiß ich? Am liebsten hätte er sich mit Ambrose geprügelt, aber er war eben zu zivilisiert und schluckte es hinunter.« »Hm! Daran hatte ich nicht gedacht.« Er kratzte sich den Kopf, machte ein beeindrucktes Gesicht. »Erfinderische Burschen, diese schwarzen Dinger, findest du nicht?«
»Zu erfinderisch für meinen Geschmack.« Er rollte die Augen. »Ein unangenehmer Gedanke, daß welche von ihnen an Bord sein könnten. Stell dir vor, du sitzt mit Menschen oder Nichtmenschen oder Vielleicht-Menschen eingesperrt in so einer Flasche und kannst sie nicht voneinander unterscheiden.« »Der Gedanke läßt sich weiterentwickeln«, sagte ich, weil ich derartige Überlegungen bereits angestellt hatte. »Das heißt, wenn man sich gern selber Angst macht.« Er bedachte mich mit einem halb schlauen, halb besorgten Grinsen. »Wenn ich mir Angst machen will, brauche ich mir bloß diese intelligenten Kraken in ihrem Quartier anzusehen.« Damit ging er und überließ mich meinen verschiedenen Arbeiten. Nun, da er sie erwähnt hatte, beschäftigten meine Gedanken sich mit den Marsleuten, einer Lebensform, die uns genauso fremd war wie jede andere, der wir begegnet waren. Aber wir hatten uns gründlich an sie gewöhnt, so sehr, daß wir sie vermissen würden, wenn sie nicht mehr bei uns wären. Ja, die Marsbewohner waren gute Kerle. Jeder mochte sie, und niemand hatte vor ihnen Angst. Aber warum dann Bannisters seltsame Bemerkung? Und warum sein schiefes, unbehagliches Schmunzeln? Es schien fast so, als wollte er meine Aufmerksamkeit auf irgendwelche illegalen Streiche lenken, die gerade im Quartier der Marsleute stattfanden. Die Idee setzte sich in mir fest und machte mich nervös, bis ich meine Arbeit liegenlassen und hingehen mußte, um zu sehen, was es dort zu sehen gab. Was ich sah, als ich mein Auge ans Schlüsselloch schob, sträubte mir die Nackenhaare. Unsere Freunde vom roten Planeten drängten sich wie üblich um ein Schachbrett, alle bis auf Sug Farn, der in einer Ecke schnarchte. Auf der einen Seite des Brettes war Kli Yang, seine Untertassenaugen wie mit unsichtbaren Fäden an die Figuren gefesselt. Ich bemerkte, daß er Weiß spielte. Ihm gegenüber hockte ein dicker Ball aus schwarzfettigem Tauwerk, streckte ein Ende aus und berührte einen schwarzen Springer, bewegte ihn aber nicht. Die Umstehenden holten tief Atem, als wäre tatsächlich etwas geschehen.
Mehr brauchte ich nicht zu sehen. Ich rannte so schnell zur Brücke, daß meine Absätze beim Umrunden der Ecken Funken aus den Bodenplatten schlugen. Ich nahm die letzte Ecke und prallte mit dem entgegenkommenden Jay Score zusammen. Es war, wie wenn ich gegen einen Felsen gerannt wäre. Er hielt mich fest und glühte mich mit seinen starren Augen an. »Ist was passiert, Sarge?« »Das kann man wohl sagen!« schnaufte ich. »Sie sind an Bord.« »Wer ist an Bord?« »Diese fettigen Hypnotiseure, diese schwarzen Knäuel. Einer von ihnen, jedenfalls. Er hält die Marsleute zum Narren.« »Wie?« »Er prellt sie beim Schachspielen.« »Das bezweifle ich«, sagte er gelassen. »Er hatte noch nicht genug Zeit, das Spiel zu lernen.« »Was soll das heißen?« Ich gaffte ihn an. »Weiß der Skipper…« »Natürlich. Ich habe das Ding selbst gefangen. Dann hat Kli Morg es sich ausgeliehen. Er sagte, aus ihrer doppelt verschlossenen Niederdruckkammer könne es nicht entkommen. Das ist richtig, obwohl es nicht sein eigentlicher Grund war.« »Nein?« Ich begann mir lächerlich vorzukommen. »Was war sein eigentlicher Grund?« »Das dürfte nicht schwer sein, wenn man unsere Freunde kennt. Sie dachten, es würde die Spannung beim Schach erhöhen, wenn sie gegen ein Ding spielten, das sichtbar eine Figur bewegt, in Wirklichkeit aber eine andere verschiebt.« Er dachte nach, dann fügte er sinnend hinzu: »Das bedeutet, sie müssen jeden offenen Zug mit Mißtrauen betrachten und identifizieren. Das bringt zweifelsohne ein neues Element ins Spiel und verleiht ihm eine gewisse zusätzliche Faszination.« »Ist das dein Ernst, Jay?« »Ganz gewiß.« Ich gab auf. Waren die Marsleute von einer verrückten Besessenheit erfüllt, so teilte er sie bis zu einem Maß, wo er sie nicht nur verstand,
sondern sich selbst aktiv daran beteiligte. Eines Tages würde er noch eine grellfarbige Vase von abstoßenden Formen als Siegestrophäe gewinnen, wie ich sie nicht mal als Spucknapf neben meinen Schaukelstuhl stellen würde. Raumeroberer, bah! Verrückt sind sie, alle miteinander, gerade so wie du und ich! Originaltitel: MESMERICA Aus MEN, MARTIANS AND MACHINES Übersetzt von Walter Brumm
John W. Campbell
REBELLION 1 Langsam sah BAR-73-R32 von dem Bericht auf, den er eben las. Nachdenklich zog er die Lider über seinen scharfen grauen Augen zusammen. »Das war also der Grund für die Absetzung des Typs R 31. Zu heftige Initiative seitens Hol-57.« BAR-73-R32 überlegte sorgfältig. »Genau dieselbe Art von Plan, wie ich sie im Sinne hatte – vor fast fünfzig Jahren, ehe mein Typ gestartet wurde.« Nahezu eine Stunde lang saß BAR bewegungslos da und schaute, ohne etwas zu sehen, auf die silbergraue Metallwand seines Labor-Büros, oder starrte wie blind auf das hoch aufragende Gebäude des Eugenik-Amts und die Tharoo-Kontrollbüros am anderen Ende des parkähnlichen Innenhofs. Und nach Ablauf dieser Stunde erfand BAR etwas, was den glänzendsten Ideen gleichzusetzen war, die je ein Menschengehirn entwickelt hatte; er erdachte etwas, was den menschlichen Wesen, welche die Tharoo-Herren seit beinahe hundert Generationen durch Auslese herangezüchtet hatten, überaus fremd war. BAR-73-R32 erfand – Geheimhaltung. Dreitausend Jahre vorher waren die Tharoo auf der Erde gelandet und hatten dort eine halbwilde, sorglose, friedliebende Menschenrasse vorgefunden, deren Bedürfnisse die Fauna um sie herum mühelos befriedigen konnte. Seit die Maschinen die Erde zum Paradies gemacht hatten, war es eine geistig dekadente Rasse, die Krankheit oder andere Gefahren nicht kannte und dreieinhalb Jahrtausende so gelebt hatte, bevor die Tharoos landeten. Die Tharoo-Eugeniker hatten sich vor dem schwierigen Problem gesehen, diese einstmals so große Rasse wieder zu ihrem früheren Intelligenzniveau zurückzuführen. Von hohen Idealen getragen,
versuchte die erste Tharoo-Generation, der Menschheit durch intelligente Gattenauswahl wieder zu Intelligenz zu verhelfen. Nachhaltig an dem Problem interessiert, führte die zweite TharooGeneration das Werk fort. Mit der zehnten Tharoo-Generation – der zwanzigsten bei den Menschen – war eine Welt Wirklichkeit geworden, die sich von dem, was die Tharoo-Kolonisatoren ursprünglich im Sinne gehabt hatten, erheblich unterschied. Zwangsläufig hatten die Tharoos den Menschentyp gezüchtet, der ihnen nützlich war. Die Tharoo wünschten keinerlei höhere Intelligenz bei den Menschen. Sie waren auch so sehr gut zu gebrauchen. Mit wissenschaftlicher Genauigkeit hatte man Aufrührerund Verschwörertum, Geheimnistuerei und Ungehorsam ausgemerzt. Jedoch – man hatte aus Gründen der Arbeitsersparnis menschliche Wissenschaftler und Forscher benötigt, und da man sie brauchte und diese Aufgaben einen Grad von Intelligenz und Initiative erforderten… BAR-73 war der größte Erfinder, den die menschliche Rasse in zweimal dreitausend Jahren hervorgebracht hatte. Er war Superintendent für Eugenik, unter dem Tharoo-Präsidenten der menschliche Direktor der großen Heime, wo dreitausend Jahre lang mit wissenschaftlicher Genauigkeit Menschen gezüchtet worden waren – weit länger als menschliche Erinnerung reichte, denn selbst die Aufzeichnungen der Tharoo gingen nicht weiter zurück, und die Initiative war kein bei den Mauns erwünschtes Charakteristikum gewesen, so sehr sich die verschiedenen Konzeptionen der Menschenzüchtung auch unterscheiden mochten. BAR-73 fand die Idee erregend. Nur seine gesunden, unempfindlichen Nerven – ein Ergebnis dreitausendjähriger Selektion – erlaubten ihm, seine Ruhe zu bewahren. Sogleich erkannte er die Konsequenzen, und sogleich wurde ihm klar, daß noch etwas nötig sein würde. Nicht nur Geheimhaltung – auch Unwahrheit! Erfindung. Jedes Wort mußte eine Erfindung sein. Jede Handlung würde eine Lüge sein, und damit etwas für Menschen Unerhörtes. Doch das, so erkannte er plötzlich, würde ihm helfen. Die Tharoo würden ihm voll vertrauen.
In der Praxis war BAR der uneingeschränkte Herr des Eugenik-Amtes. Seine Anordnungen wurden widerspruchslos befolgt; nur Berichte von ihm gelangten an die Tharoo-Führung. Man würde auf keinerlei Unstimmigkeiten stoßen. Einem Menschen früherer Epochen wäre die Sache unvorstellbar einfach erschienen. Aber für BAR – jedes Wort, jede Gebärde, jeder Gedanke mußte ausgeklügelt und genau geplant sein. Und das – Jahre hindurch! Die Vorstellung ließ BAR erbleichen. Langsam erhob er sich und ging zu den großen genealogischen Tafeln, die jeden Typ der menschlichen Rasse und seine charakteristischen Eigenschaften enthielten. »HOL-57 sah es vor fünfzig Jahren. Nur vier Erfindungen von irgendwelcher Bedeutung sind dieses Jahr gemacht worden. Die Tharoo befassen sich weniger mit Wissenschaft«, murmelte er. Schon hatte der Mensch seine Tharoo-Herren überflügelt. BAR-73 hatte an diesem Tag zwei große Erfindungen gemacht. Typ R-l und Typ S-14 – gekreuzt müßten sie einen Forschertyp, einen Wissenschaftler ergeben – mit der Initiative, dem Ehrgeiz und der größeren Intelligenz, die HOL-57 gewollt hatte und welche die Tharoo-Führung nicht für erforderlich hielt. BAR hielt nachdenklich inne. Wenn die Sache funktioniert – und sie muß – dann ergibt das einen Maun-Typ, der den Tharoo an Intelligenz überlegen ist! Einen Augenblick lang wägte BAR das Für und Wider ab. Dann war sein fester Entschluß gefaßt. Langsam wandte er sich von den Tafeln ab, blätterte in einem Verzeichnis nach, rechnete einiges durch und schrieb schließlich sorgfältig zwei Befehlsformulare aus, dann noch zwei weitere. Entschlossen drückte er einen Signalknopf. Draußen erweckte ein harmonischer Summton das Echo von leisen Schritten. GAR-247-G-12 kam herein. G-12 war ein Typ für anspruchsvolle Arbeit, auch für schwierige Handarbeiten, jedenfalls für Verrichtungen, die einen gewissen Intelligenzgrad erforderten. Seine tiefliegenden Augen standen weit auseinander in dem wohlgeformten, massiv wirkenden Kopf. Er war über sieben Fuß groß und gut dreihundert Pfund schwer. Stark wie ein Herkules, war er doch der respektvolle Diener des nur sechs Fuß großen BAR.
»GAR, hier sind vier Befehle, vier Paarungs-Anweisungen. Wollen Sie bitte für die Ausführung sorgen.« GAR salutierte und nahm die Befehle entgegen. BAR-73 setzte sich langsam nieder, etwas bleich im Gesicht. In einem anderen Teil des Gebäudes musterte ein junges Mädchen von dem als R-l bekannten Typ in nervöser Erwartung das Formular, das GAR-247 ihr mit freundlichem Lächeln überreichte. »Es scheint, Ihr Gatte ist endlich gefunden, WAN«, sagte er freundlich. »Mögen Sie glücklich mit ihm sein. Ihr Leben ist noch lang, und die Ungewißheit ist jetzt vorbei. Er wird Ihnen gehören und Sie ihm.« GAR247 setzte seinen Weg fort, um die drei anderen Anweisungen zu übergeben. Der nächste Adressat war ein junger Mann namens JAN-94S-14. Dann kam ein Mädchen, Tos-63-S-14 und ein Mann Bar-12-R-l. Irgendwo in den Akten des Maun-Superintendenten gab es Duplikate dieser vier Anweisungen, doch Bar-73 sorgte dafür, daß sie verlorengingen – niemand überwachte das – und bestimmte andere an ihre Stelle traten. Niemand würde den geringsten Verdacht hegen, denn welcher Maun konnte auch nur daran denken, Dokumente zu fälschen? Fast ein Monat verging, bevor Bar das junge Paar Van und Jan in sein Büro bat und mehrere Stunden lang mit ihnen sprach. Sie waren zwei der höchstentwickelten Typen, welche die Tharoo erlaubt hatten, beide intelligent, scharfsinnig und verständig. Sie hörten ihn an, und ihre Jugend – sie waren kaum zwanzig – ließ sich bereitwillig die Vorschläge des Maun-Superintendenten annehmen, die ihrer Abenteuerlust entgegenkamen. Die volle, ungeheure Bedeutung des Projektes verstanden sie keineswegs. Bar-73 erkannte das nicht. Dennoch sah er die Möglichkeit, den Tharoo – den Herren – den erfinderischen Typ zu geben, den er für nötig hielt. Als die beiden gingen, kam das andere Paar, und auch dieses verließ ihn lächelnd, etwas verwundert, doch glücklich miteinander. Es konnte ihnen nicht entgehen, daß etwas Ungewöhnliches an ihrer Paarung war, doch wußten sie nichts von den damit zusammenhängenden Akten und Verfahren. Sie wußten nur, daß sie zufrieden waren und tun mußten, was Bar-73 angeordnet hatte.
2 Bar-73 brachte es fertig, bei der Geburt zugegen zu sein. In den offiziellen Akten war er Rod-4-R-4. In Bars Akten war er Rod-4, ohne Typenbezeichnung. Doch in dem Bett, wo er jetzt lag, war er sehr klein, sehr rot und ziemlich laut. Van-14 lächelte nervös zu Bar hinauf, und Jan grinste breit aus Rod-4 hinunter. »Er hat einen kräftigen Brustkasten«, sagte Jan glücklich. In Wirklichkeit ließen um sich schlagende Arme, strampelnde Beine und eine zur Erzielung größerer Lautstärke weit geöffneter Unterkiefer kaum etwas von einem Brustkasten sehen. »Stimmt«, pflichtete Bar-73 kopfnickend bei. »Sein Kopf ist breit – ungewöhnlich breit.« Kurze Zeit später war das nicht mehr so ungewöhnlich. Einem anderen Paar wurde ein überaus ähnliches Kind geboren, wiederum offiziell ein bestimmter Typ, und im Geheimen etwas ganz anderes. Bar-73 zögerte, bevor er vier weitere, den ersten entsprechende Anordnungen ausschrieb, denn er begann jetzt klarer zu erkennen, daß ein Scheitern nicht nur den Tod für ihn selbst bedeuten würde, was ihm nicht übermäßig viel ausgemacht hätte, sondern auch schreckliches Unglück für acht unschuldige menschliche Wesen. Zum ersten Mal erkannte Bar-73, daß sein großes Werk mehr bedeutete als eine bloße Verlagerung der Kräfte der Natur. Denn hier wirkten Kräfte, gewaltigere Kräfte als er jemals ahnen würde. Immerhin hatte er Jan und Bar-12 und Van und Tos intimer kennengelernt als jemals ein anderes Paar, das seine Anweisungen zusammengeführt hatten. Doch nun hatte er erkannt, daß eine zweite Generation folgen mußte. Er schrieb also die nächsten Anordnungen aus und besprach sich mit weiteren vier jungen, glücklichen, hoffnungsvollen Leuten. Und er verfolgte das Heranwachsen von Rod-4 und Ket-3. Später wurde er ihr Lehrer, noch später gab es vier, die er unterrichtete.
Bar-73 war ein alter Mann, als er starb, und auf seine Empfehlung bestellte die Tharoo-Leitung Rod-4-R-4 zu seinem Nachfolger, einen jungen Mann von außergewöhnlich scharfem Intellekt. Von wie scharfer Intelligenz, ahnte die Tharoo-Führung nicht. Von Anfang an hatte Rod-4 einen gewaltigen Vorteil. Er brauchte weder Irreführung noch Heimlichkeiten zu erfinden – er kannte sie bereits. Und Bar-73 hatte eine gute Wahl getroffen. Rod-4 war nicht nur weit intelligenter als jedes menschliche Wesen, das in den letzten sechstausend Jahren gelebt hatte. Er war auch unendlich erfinderischer. Bar-73 war alt gewesen, als Rod-4 ein junger Mann war. Als Rod eigenständig zu denken begann, war Bar schon sehr alt, und so vertraute ihm Rod nicht alle seine neuen Ideen an. Bar hatte keine besondere Sorgfalt darauf verwendet, die Rückzüchtung aufrührerischer Veranlagungen im Menschen zu vermeiden. Fünfzig Jahre vorher, als jener Tharoo-Führer sein Veto gegen den Plan von Hol-57 Plan eingelegt hatte, hatte er Hol nicht alle seine Einwände erklärt. Die vorgesehenen Charaktereigenschaften hätten aufrührerischen Geist ergeben, etwas, das weder Hol noch Bar verstehen konnten. Rod dagegen verstand. Rod erfand aufrührerisches Denken, eine nicht weniger schöpferische Idee als die als Bars Erfindung der Heimlichkeit. Bars Wunsch war es gewesen, einen erfinderischen Typ zu erzeugen, damit die ihm bekannte Zivilisation, die Zivilisation der Tharoo-Herren und menschlichen Sklaven, stetige Fortschritte machen würde. Rod sah einen weit besseren Gebrauch für erfinderische Talente, und nachdem er Eugeniker war, wie natürlich auch Bar, erkannte er, daß seine Ausbildung ihm und seiner Erfindungskraft Grenzen setzte. Jedoch – nicht zu enge. Er konnte eine Menge soziologischer Ideen haben. Rod-4 paarte sich mit Ket-3, und er sorgte dafür, daß die anderen Vertreter seines Typs ihre Gatten untereinander wählten und daß sie in einem Stadtteil untergebracht wurden, der Forschern und Technikern vorbehalten war. Bald verband ihn eine enge Freundschaft mit einer Gruppe von Physikern und Atomwissenschaftlern. Die anderen Angehörigen seiner Gruppe wurden Nachbarn von Chemikern oder Elektronik-Fachleuten und freundeten sich mit ihnen
an, und als Kinder geboren wurden – sie waren überdurchschnittlich intelligent –, schlug Rod-4 vor, sie sollten sich Kenntnisse aneignen, welche über die ihrer Eltern etwas hinausgingen – vielleicht etwas vom Wissen ihrer Nachbarn… Kahm-1 war gut sechs Fuß groß und von herkulischem Bau. Die tiefschwarzen Augen standen tief und breit in seinem kantigen Schädel. Sein Kopf wirkte groß, selbst auf seinem kräftigen Körper. Und sein Blick besaß eine eigentümliche Intensität, die vielen beunruhigend und fast allen lästig vorkam. Ein Dutzend vielleicht mochte seine Gesellschaft und fand nichts Störendes an seinem Blick. Aber vielleicht war es deshalb, weil auch sie eine seltsame Intensität des Blicks besaßen. Sahr-1, Pol-72, Bar-11 und die anderen, so ähnlich im Bau, Haltung, Größe und Teint, schienen beinahe Brüder zu sein. Und San-4, Reea-1 und bestimmte andere Mädchen waren schlank, geschmeidig, unvermutet stark; ihre klar geschnittenen, fast klassischen Gesichter waren vielleicht etwas zu breit; mit fast sechs Fuß waren sie möglicherweise ein wenig groß. Doch unter dem kurzgelockten brünetten Haar wohnte bei jeder dieselbe Art von überaus klarem Verstand und starkem Ehrgeiz, das höchste Intelligenzniveau, das die menschliche Rasse in ihrer Geschichte jemals erreicht hatte, Kahm-1 hatte begonnen, seine Andersartigkeit und – durch seinen Vater, Rod-4 – seine Mission zu verstehen, bevor er zehn war. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich jeder vermeintlich möglichen Maun-Intelligenz als so überlegen erwiesen, daß selbst die unschöpferischen Fachidioten von Technikern, die seine Nachbarn waren und von denen er den größten Teil seines Wissens bezog, sich verwundert Gedanken machten. Wie die anderen Vertreter seines seltsamen Typs war Kahm nach außen hin von geradezu bemerkenswerter Durchschnittlichkeit. Allerdings war er ein ausgezeichneter Zuhörer, und bei der Ausübung seines Berufes als Atomingenieur fluchte und schimpfte er über seinen Konstruktionen, halb zu sich selbst sprechend und halb zu dem stillen, schlitzäugigen Kind Kahm, das lauschte und zusah – und nichts vergaß. Sein Gedächtnis war nicht das eines normalen Menschen, es war wie Photographie und Phonografie. Mit einem Blick prägte es sich jede
Einzelheit einer Konstruktion ein; jedes einmal gehörte Wort war für immer hinter seinen seltsam zusammengezogenen, seltsam aufmerksamen tief schwarzen Augen gespeichert. Mit fünfzehn trat Kahm eine Lehrstelle bei einem ElektronikTechniker an. Er war ein eigentümlich begriffstutziger Lehrling, dem man jede Einzelheit, jede Bewegung und den Grund jeglichen Vorgehens genau erklären mußte. Mit fünfzehn bekam San einen Posten im Generalarchiv. Viel schien sie nicht zu leisten. Ständig blätterte sie langsam, ja träge, wie es schien, verstaubte Akten durch, überflog oberflächlich die eng beschriebenen Seiten und blätterte dann weiter. Sahr wurde Lehrling bei einem Atom-Ingenieur, einem Mann, den eine enge Freundschaft mit seinem Vater verband. Außerhalb ihrer eigenen Gruppe hatten sie wenige Freunde, dieses zweifache Dutzend seltsamer junger Mauns. In dieser großen Stadt aus hochaufgetürmtem salzweißem Stein, aus golden, grün und silbrig schimmerndem Metall, diamantglänzendem Glas und ausgedehnten Parks, wo Hunderttausende von Tharoos und Millionen von Mauns lebten, bedeuteten sie wenig. Niemand bemerkte die paar Handvoll junger Lehrlinge, niemand kümmerte sich um sie. Zwanzig unter Millionen bedeuteten ja so wenig. Einer von ihnen beherrschte den Planeten. Zwanzig von ihnen drehten in der Zivilisation, die diese Städte aus Stein und Metall und Glas gebaut hatten, das Unterste zuoberst und warfen es fort.
3 »Ich zitiere«, sagte San lächelnd, »es ist also nicht meine Schuld, wenn die Logik fehlerhaft ist.
›Bericht über die früheren Werke von Shar Nonlu. Jahr 137 nach der Landung: Sorgfältig dokumentierte Schätzungen haben nunmehr ergeben, daß zwischen dem Niedergang der früheren Zivilisation des Planeten Ardt und der Landung der Tharoo mindestens dreihunderttausendvierhundert und höchstens dreihunderttausendsiebenhundert Jahre vergangen sind. Wie lange zuvor die Maun-Rasse gelebt und ihre Zivilisation entwickelt hatte, kann nicht genau gesagt werden. Allerdings weisen einige ihrer eigenen Forschungen auf eine Periode zivilisierten Lebens von mindestens sechstausend Jahren vor ihrem Niedergang hin. Es ist offensichtlich, daß die Maun-Rasse eine eingeborene ist. Sie entstand aus einer niedrigeren Form des Lebens, die zu einer früheren Zeit auf diesem Planeten existierte, jetzt aber ausgestorben ist. Bis zu einer Epoche zweihundert Jahre vor ihrem Niedergang war ihre Entwicklung langsam, aber stetig. Dann fand rapider wissenschaftlicher Fortschritt statt, bei jeder Rasse typisch für den Eintritt in das Zeitalter des Wissens. Dann, in einem noch weiter fortgeschrittenen Stadium, erscheinen Hinweise auf »die Maschine«. Zur Erklärung sei hinzugefügt, daß die Maun-Sprache mit den Symbolen »ein, eine« und »der, die, das« verschiedene Grade der Bestimmtheit ausdrückt, wenngleich die TharooSprache das gleiche Symbol verwendet. Das Symbol »der, die, das« ist höchst selektiv und hebt ein besonderes Einzelnes aus einer Gruppe heraus. Dieser Maschine wurde also irgendwie besondere Bedeutung beigemessen. Aus irgendeinem Grunde wurde sie zunächst mit großem Argwohn betrachtet und »die Maschine von jenseits« genannt. Wer sie erfand, ist nicht bekannt. Jedenfalls konnte sie denken. Aus irgendeinem Grunde, der so unbekannt ist wie so vieles andere bezüglich dieser großen alten Rasse, versagte die Maschine oder wurde zerstört. Fest steht, daß sie nicht mehr funktionierte, und da diese Zivilisation fast völlig auf ihr beruhte, mußte sie untergehen.‹ Er nennt das seine Vorbemerkung«, erklärte San. »Der eigentliche Bericht ist viele Seiten lang. Willst du ihn auch noch hören? Ich habe alles gelesen.«
»Nein«, sagte Kahm. »Das genügt. Zusammen mit dem, was du mir sonst noch erzählt hast, gibt das bereits ein Bild. Offensichtlich kam die Maschine von außerhalb der Erde; es war eine mit Verstand begabte Maschine, die eine Zeitlang den Menschen half und sie dann wieder verließ. Bis jetzt weiß ich nicht, warum. Wie dem auch sei, fest steht, daß die Tharoo ihre Heimat nicht auf dieser Erde haben wie wir und daß wir früher einmal ganz unabhängig von den Tharoo eine große Zivilisation entwickelt haben, wenn sie auch zweifellos vor ihrer Ankunft zusammenbrach. Ich glaube«, sagte er schlicht und ganz ruhig, »wir werden sie wieder aufbauen. Zuerst werden wir die Tharoo von unseren Fähigkeiten überzeugen müssen. Pol-72, du bist im Eugenik-Amt. Könntest du einige Arbeiter vom Typ M veranlassen, uns zu helfen, und auch ein paar Forscher vom Typ R?« Pol-72 lächelte sanft. »Ich denke schon. Ruf deinen Diener herein, Kahm. Ich werde dir etwas zeigen, was ich aus bestimmten Psychologiebüchern gelernt habe. Sie wurden vor dem Niedergang unserer Zivilisation in Menschensprache geschrieben und sind von den Tharoo nicht übersetzt worden.« Kahm drückte einen Signalknopf, und ein Hausdiener vom N-Typ trat leise ein. Mit etwas über fünf Fuß war er ein kleiner Mann, dessen Geistesgaben nicht über das hinausgingen, was er für seine einfachen Dienste benötigte. »Er ist das beste verfügbare Material«, sagte Pol. Pol tat etwas sehr Seltsames. Seine zehn Finger streckten sich dem vor ihm stehenden Diener entgegen, seine grauen Augen verengten sich zu Schlitzen, er stellte sich breitbeinig in Positur und seufzte tief. Seine Gesichtsfarbe wurde bleich unter dem dunklen Teint, ein seltsames, weiches, violett flimmerndes Licht umspielte kaum sichtbar seine ausgestreckten Fingerspitzen, und etwas wie zuckende Flämmchen schien von seinen Augen und seiner Nasenspitze auszugehen. Dreizehn kaum wahrnehmbare Ströme fließenden Lichts vermischten sich, wuchsen und zuckten gedankenschnell dem kleinen Mann entgegen, der sich plötzlich fahl im Gesicht und mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen zur Flucht wandte. Die flimmernden Lichthände berührten ihn leicht und umspielten seinen Kopf. Er sank sehr sanft zu
Boden und seufzte einmal tief auf. Vielleicht eine zehntel Sekunde lang kräuselten sich die flimmernden Lichtbänder wie violette Flammen um seinen Kopf und verschwanden dann. Erschöpft und schwer atmend sank Pol-72 auf seinen Stuhl. »Es ist – schwierig«, sagte er. Kahm kniete still neben der schlafenden Gestalt auf dem Boden. »Er ist tot«, erklärte er und bedeutete Bar-11, ihn zu untersuchen. Pol-72 lächelte ein wenig, und langsam kehrte eine gesunde Färbung in seine bleichen Wangen zurück. Aus seiner Tasche zog Bar-11, Fachmann für Leben bei der Hospital-Behörde, eine kleine Scheibe, ein dünnes Kabel und ein winziges Gehäuse. Er legte die Scheibe auf die Brust der schlaffen Gestalt und schloß das Kabel an das Gehäuse an. Sie lauschten gespannt. Nicht die Spur eines Geräusches. »Er ist tot«, sagte Bar-11 leise. »Er lebt«, sagte Pol-72 ruhig. »Gebt mir etwas Zeit – ich habe wenig geübt, und die Anstrengung dabei ist sehr groß. Ich werde euch die Sache erklären. In diesem alten Buch fand ich einen Bericht über Forschungen auf dem Gebiet der Ausstrahlungen lebender Wesen. Sogar Pflanzen strahlen auf diese Weise. Die Strahlung der bescheidenen Zwiebel wurde zuerst entdeckt. Später entdeckte jemand, daß er durch die Ausstrahlungen seines eigenen Nervensystems Hefepilze abtöten konnte. Sie geht von den Enden der Nervenbahnen aus und ist meistens konstant. Wie ihr wißt, weichen die meisten Angehörigen unserer Rasse uns aus. Das ist der Grund. Unsere Ausstrahlungen sind sehr stark; sie sind anders, und somit gewissermaßen feindlich gegenüber anderen Typen. Die Ausstrahlung ist kontrollierbar. Die Bücher – die alten Bücher unserer Rasse – wußten nichts davon. Indessen ist es so. Jeder von uns hat gelernt, diese Strahlung zu vermindern, sie zu kontrollieren, damit wir nicht Gegenstand unwillkommener Aufmerksamkeit werden. Ich lernte, sie auszusenden, wie die gespeicherte Ladung gewisser Fische, die ihre Opfer durch elektrische Schläge betäuben. Damit hat es eine entfernte Ähnlichkeit. Im wesentlichen handelt es sich um eine gesteuerte Erzeugung von Strahlung.
Es bedarf einer starken Anspannung. Jedenfalls kann ich diese Strahlung nach Belieben durch das Ende jeder Nervenbahn meines Körpers aussenden. Diese Enden sind besonders zahlreich in der Nase, in den Augen und den Fingerspitzen. Somit sind dort die stärksten Strahlungsquellen. Die alten Wissenschaftler erkannten das. Sogar die Luft kann durch diese Strahlung erregt werden. Bei einem Maun von niedrigerem Typus kann sie Besinnungslosigkeit oder Koma, vermutlich sogar den Tod herbeiführen. Aber er ist nicht tot.« Pol-72 streckte eine Hand aus, die Finger wie parallele Strahler auf die liegende Gestalt gerichtet. Einen Augenblick lang flackerte dünnes, kaum sichtbares Licht. Die schlaffe Gestalt erzitterte plötzlich und fuhr in die Höhe. »Bleib stehen«, sagte Pol-72. Bei seinen leisen, unvorstellbar angespannt klingenden Worten erstarrte der Mann zur Regungslosigkeit. »Du wirst vergessen. Du wirst in dein Zimmer zurückkehren und schlafen. In fünf Minuten wirst du aufwachen und alles vergessen haben. Geh.« Mit automatenhaften Bewegungen entfernte sich der Mann. »Wenn du bereit bist, Kahm, werde ich dafür sorgen, daß ›sterben‹ wird, von wem immer du das wünschst. Bar-11 wird ihre Körper zur Analyse der Todesursache erhalten.« Sekundenlang herrschte Schweigen im Raum. »Kannst du uns das beibringen, Pol?« fragte Kahm. Pol nickte langsam. »Ich werde gewisse Dinge unverzüglich in die Wege leiten«, fuhr Kahm fort. »Und San, du bist im Archiv. Hast du irgendeine alte Schrift über dieses Geheimnis gelesen?« San lächelte zögernd Kahm zu. Sie schüttelte den Kopf, als sie antwortete: »Niemals, Kahm, das weißt du. Sonst hätte ich es dir gesagt. Ich habe im Archiv alles bis aufs Jota durchgelesen, mehr als jeder Tharoo, glaube ich. Du weißt, daß ein Blick auf eine Seite die Kenntnis jedes Wortes und jedes Buchstabens auf ihr bedeutet, und die Kenntnis jedes Gedankens, den sie enthält. Das Geheimnis der Gravitation ist nie schriftlich niedergelegt worden. Die Tharoo hätten nicht viele, viele
hundert Jahre vergeblich danach gesucht, wenn man es irgendwo hätte finden können. Den Grund vermag ich nicht zu ahnen. Es wurde nicht niedergeschrieben.« »Vielleicht«, sagte Kahm ruhig, »brachte es die Maschine, vielleicht wußte es nur die Maschine. Bevor wir wenigen es ohne Waffen mit der etablierten Macht der Tharoo aufnehmen können, müssen wir viel Neues lernen. Hier, scheint mir, ist etwas davon. Einmal haben die Tharoo eine Rebellion niedergeschlagen. Sie haben das nicht vergessen. San hat darüber gelesen, und sie weiß, wie sie es machten. Mit großen Schiffen, den Atom-Raketen-Schiffen. Sie haben auch Waffen, wiewohl man sie nicht sieht. Die Atomexplosion. Du, Sahr, kennst sie in anderem Zusammenhang. Erzähl uns davon.« »Es ist ein freier Atomgeneratorstoß. Die wilde Kraft einer Rakete ist die gezähmte, für den praktischen Gebrauch modifizierte Form des Explosionsstoßes. Die tausend Fuß langen Ultraflammen-Strahlen, die ganze Gebirge wegschmelzen, um irgendein unter ihnen begrabenes Erz freizugeben, das sind gelenkte und für nutzbringende Anwendung verminderte nukleare Explosionsstöße. Es gibt nahezu hundert Schiffe, die mit Atomstrahl-Kanonen ausgerüstet sind. Jedes Schiff hat davon fünfzehn. Das stärkste zur Freilegung von Bodenschätzen verwendete Kaliber ist ein Zehntausendstel-Zoll. Größere Strahlkanonen werden nicht verwendet, denn bereits bei einem Kaliber von einem Fünftel Zoll könnten sich die Flammen völlig durch die dünne Erdkruste fressen. Ihre Reichweite auf der Erde ist nur durch die Krümmung des Planeten begrenzt. Operationen von außerhalb der Stratosphäre, einer für die Schiffe ohne weiteres erreichbaren Höhe, sind unmöglich – das verhindert das einzige, was der Atomstrahlung wirklich widerstehen kann – das Magnetfeld des Planeten selbst in Verbindung mit der ionisierten Schicht.« Ruhig ergriff Kahm wieder das Wort. »Bis jetzt sind wir schnell vorangekommen, weil wir den Tharoo keine Unannehmlichkeiten bereitet haben. Würden sie auch nur ahnen, daß wir dazu in der Lage sein könnten – was jeden Augenblick eintreten kann – so würden sie selbstverständlich auch nicht den Bruchteil einer Sekunde zögern, uns
und unsere Familien zu vernichten. Die Lebensdauer eines Atoms in einer Nuklearexplosion beträgt ungefähr den zweihundertmillionsten Teil einer Sekunde. Es wird spät. Wir haben unsere Arbeit. Morgen muß ich einige Kleinexplosionen auslösen – zu nützlichen Forschungszwecken.« Still gingen die zwanzig hinaus, den metallenen Korridor entlang, die einhundertsiebzehn Stockwerke zur Straße hinunter, dann auf den laufenden Transportbändern der Stadt nach Hause. Zweimal neigte Pol72 sein massiges Haupt und kreuzte, Tharoo-Herrscher begrüßend, seine Arme. Zweimal lief ein herausforderndes Lächeln über seine schmalen, festen Lippen. Pol-72 wußte genau, daß Strahlung einer Stärke, die einen Maun vom N-Typ nur betäubte, für die fremden Tharoo sofort tödlich sein würde. Sorgfältig überwachte er seine normale Strahlung, so daß der Tharoo seine Anwesenheit kaum bemerkte. Warum sollte er auch – einer unter Millionen?
4 Am folgenden Tag lernte Kahm etwas von Pol-72, was ebenfalls von Bedeutung war. Die Speicherung der normalerweise durch das Nervensystem ausgesandten Strahlung erzeugte eine seltsame vibrierende Energie, die sich als beständiges Kraftpotential erwies. Kahm bemerkte, daß er fast drei Stunden weniger Schlaf brauchte. Seine Arbeit war so bemessen, daß sie die gesamte Zeit eines normalen Mannes erforderte, und für gewöhnlich erfüllte Kahm, wenngleich er sich jeder Hast enthielt, seine Aufgaben in der normalen Zeit – und sammelte dabei noch eine reichliche Menge weiterer Daten. Bei Anspannung aller seiner Kräfte jedoch erfüllte Kahm sein Pensum in weniger als der Hälfte der vorgesehenen Zeit; seine Mitarbeiter jedoch, lediglich an ihrer eigenen Arbeit interessiert, achteten kaum darauf, denn Kahm war sichtlich den ganzen Tag beschäftigt.
Ihre Aufgabe war die Reparatur und Instandhaltung der verschiedenen elektronischen Anlagen der Stadt, der Televisor-Apparate des inner- und zwischenstädtischen Kommunikationssystems, der automatischen Ventilations- und Klimaanlagen der großen Gebäude, die der Bequemlichkeit ihrer Einwohner dienten, und der vielen Tausende kleiner Dinge, die der Überwachung bedurften. Niemand bemerkte Kahms Arbeit, die er langsam und mit fast schmerzlicher Konzentration vorantrieb. Er war daran, etwas vollkommen Neues zu schaffen. Jahrhunderte bevor sie Thar, ihren Heimatplaneten verließen, hatten die Tharoo die Kernspaltung entdeckt. Atomkraft hatte sie mit der Energie für die Raumfahrt versorgt und ihre Städte hier gebaut. Kleine Kernkraftanlagen zu errichten hatten sie sich jedoch nie veranlaßt gesehen. Ein eigenes Laboratorium war Kahms sehnlichster Wunsch. Doch war eine Privatsphäre für Mauns in den Plänen der Tharoo nicht vorgesehen. Es gab nur einen Weg – hinunter in den harten Fels tief unter der Stadt. Wenn ein Tharoo-Ingenieur einen Tunnel brauchte, benützte er eine Atomkanone im Gewicht von mehreren hundert Tonnen, deren Feuerstrahl Tausende von Kubikmetern Fels in einer Sekunde vernichten konnte. Als der Tag seinem Ende zuging, hatte Kahm einen Plan für seine neue Anlage ausgearbeitet. Am Ende des zweiten Tages hatte er einen kubischen Kasten von etwa zwei Fuß Seitenlänge gebaut, und der dritte Tag sah die Fertigstellung des eiförmigen Ellipsoid-Projektors. Seine schmutzig graue glatte Oberfläche war nur an vier Stellen unterbrochen: Einmal durch den Pistolen-Handgriff, einmal durch den fünfzehnpoligen Anschlußstecker, einmal durch einen winzigen Diamanten, der als Signalgeber diente – und an einem Ende des seltsamen Apparates befand sich ein nadelspitzenfeines, mikroskopisch kleines Loch. Insgesamt wog der Apparat etwa zehn Pfund. Kahm verpackte ihn in eine Kiste und nahm ihn an jenem Abend mit sich. Vier der Rebellen stellten sich an jenem Abend in seiner Wohnung ein, speisten mit ihm und stiegen mit ihm hinab zu den tiefsten Gründen des Gebäudes, wo der tickende, summende Mechanismus dieser Stadt unter einem einzigen Dach zum Begleitgesang eines Atomgenerators leise zu vernehmen war.
Tal war der Konstruktionsingenieur der Gruppe. Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis er das Gewirr von Leitungen und Trägern durchschaut hatte, die kreuz und quer unter dem Boden dieses Tiefgeschosses liefen. Dann war Kahm bereit. Er stellte den schwarzen Würfel auf den Boden und schloß mit dem zehn Meter langen Kabel seinen acht Zoll Ellipsoid-Projektor an. Dann berührte er kurz einen Schalter, und der Edelstein auf dem Projektor glühte auf, und aus der mikroskopisch kleinen Öffnung der Miniaturkanone schoß ein Strahl – weiches und doch intensives, in allen Regenbogenfarben schimmerndes Licht, funkelnde Blitze eines Miniaturgewitters. Der Beton der Mauer verzog sich unter dem Strahl, begann langsam zu kochen, formte rasch sich drehende Wirbel und verschwand in lautlosem Sprühen. Dünne blaue Wasserstoffflammen züngelten einmal auf, unheimlich kalt, da der Projektor ihre Hitze aufsaugte, um die Zerstörung zu fördern, und brannten dann ruhig und beständig. »Es geht langsam, Kahm«, sagte Tal nach kurzer Zeit. »Es ist geräuschlos«, erwiderte Kahm mit der Andeutung eines Lächelns. »Ich könnte damit einen zwei Fuß breiten Einschnitt herstellen, bei einer Geschwindigkeit von einem Fuß pro Sekunde. Später werde ich das auch tun. Doch dann gibt es statt dieses beinahe unhörbaren Geräuschs ein unüberhörbares Dröhnen und statische Entladungen, die stark genug sind, einen zehn Zoll starken Stahlträger durchzuschmelzen, und der Wasserstoff brennt mit heißer anstatt kalter Flamme. Marn, du solltest verfolgen, wohin der Aufzug fährt, sollte jemand tiefer als zum Untergeschoß E fahren wollen, dann stoppe ihn und sage den Leuten in der Kabine, daß hier unten die Techniker arbeiten.« Marn ging zu einem kleinen Schaltpult hinüber und verfolgte für kurze Zeit das abwechselnde Aufleuchten der Lampen. Dann wandte er sich wieder den Arbeitenden zu; nur ein kleiner Teil seiner Aufmerksamkeit war nötig, um die Bewegungen des Aufzugs zu verfolgen. Die Silhouetten der Männer hoben sich schwarz vor einem Hintergrund fahlblauen kalten Lichtes ab. Das Loch im Boden wurde rasch größer. Zwanzig Minuten später war an der niedrigen, von Kabeln überzogenen Decke dieses untersten Tiefgeschosses ein quadratischer,
blaßblauer Lichtfleck zu sehen, in dem sich Schatten bewegten. Marn war mit den Aufzugreglern allein. Zwischen glasigen, in allen Farben schimmernden Wänden führte ein Schacht senkrecht nach unten. Von den anderen waren nur noch die Köpfe zu sehen, die dann langsam in dem quadratischen Schacht von drei Meter Seitenlänge verschwanden. Für einen Augenblick erlosch das blaue, flimmernde Licht, und Kahms Stimme ertönte. »Marn – Marn – rufe Doon in seiner Wohnung. Wir werden bald seine Hilfe brauchen.« Marn ging zum Kommunikationszentrum und stellte sorgfältig einige Regler ein. Sogleich leuchtete auf einem kleinen Bildschirm das Bild von Doon-4 auf. »Doon-4, wenn dein Werk vollendet ist, kann Kahm es hier gebrauchen. Sein Schacht ist bereits über zwei Meter tief.« »Ich komme sofort«, sagte Doon. Eine Stunde verging, bis er und sieben von den anderen erschienen. Von Kahm war jetzt nichts zu sehen; sogar das blaue Licht an der Decke war verschwunden, und nur das dunkle, glasige Loch war geblieben. Doch auf Marns Ruf hin erschien er sogleich. Sie berieten mit leiser Stimme, und dann schnitt der auf den kleinstmöglichen Strahl eingestellte Projektor Rillen und Löcher in die Schachtwände. Aus den mitgebrachten kleinen Kisten holten Doon und seine Freunde dünne, überaus starke Metallstäbe und -bügel, ein zusammenlegbares Gitterwerk zähesten Stahls, und schnell trocknenden Zement. Eine weitere Stunde, und eine Falltür mit Gegengewicht war eingerichtet. Dann war niemand mehr im untersten Tiefgeschoß. Sieben Meter ging der Schacht in steilen, glasharten, von der Wirkung der Strahlung leicht aufgerauhten Stufen nach unten. Dann ging es in flacherem Winkel weiter, immer tiefer. Die Falltür war schalldicht, und unter ihr erhob sich nun ein dumpfes Dröhnen. Als ein letzter Rebellentrupp sich einstellte und noch mehr Dinge brachte, wurde ein zweites Kabel an den kleinen schwarzen Generatorwürfel angeschlossen. In einer schnurgeraden Bohrung mit glasigen Wänden, die direkt zum Hauptventilationsschacht des Gebäudes führte, begann ein Ventilator zu flüstern. Ein halbes Dutzend weißer Glimmlichter an den Wänden ließen
den Projektorstrahl und die ellenlangen, krachenden Blitze weniger grell erscheinen. Am Morgen hatten sie den Schacht fast eine halbe Meile nach unten getrieben. Kahm ging an diesem Tag nicht zur Arbeit; Bar-11 entschuldigte ihn wegen einer infizierten Verletzung. Als die anderen an diesem Abend mit weiteren Apparaten zurückkamen, fanden sie einen fast drei Kilometer langen Gang mit glattem, gefährlich rutschigem Boden vor. Am folgenden Morgen mußten sie einen sechseinhalb Kilometer langen Aufstieg zurücklegen, einen Höhenunterschied von eintausendfünfhundert Meter bis zum untersten Tiefgeschoß. Jetzt war der Endpunkt erreicht. In der folgenden Nacht arbeitete Tal, während Kahm schlief. Als Kahm zurückkehrte, war ein kleiner Wagen gebaut worden, der, von dem schwarzen Würfel mit Energie versorgt, auf dem glasigen, glatten Boden eine Geschwindigkeit von fast hundert Kilometer erreichte. Der Endpunkt des Schachtes war auf fünf Räume erweitert worden; sie waren beleuchtet, gekühlt, und von einem größeren Generator versorgt, wobei ein stärkerer Ventilator Luft aus dem gewaltigen Service-System der Stadt heranschaffte. In dieser Nacht ruhten sich die Männer aus. Die Frauen arbeiteten. Bücher, Dokumente, Vorräte, empfindliche Instrumente und Chemikalien waren ihr Beitrag. Und am folgenden Tage starb Kahm. Am Mittag kam Pol – unbeobachtet, denn wer ihn sah, fühlte plötzlich die Wirkung einer seltsamen Kraft, und vergaß ihn. Um ein Uhr erschien Bar-11, untersuchte Kahms Körper und transportierte ihn zur Feststellung der Todesursache ab. Innerhalb von zwölf Stunden starb ein halbes Dutzend Männer und Frauen vom S- und R-Typ auf unerklärliche Weise, und Bar-11 suchte bei allen nach der Todesursache. Einige Stunden später erwachten sie unter dem seltsamen Glühen von Pols Fingern in Räumen mit glasigen, schillernden Wänden. Säe sahen in die seltsamen, schrecklichen Augen des Rebellen, und sie vergaßen alles andere und taten, was er ihnen befahl. Später kamen noch mehr hinzu, und jede Nacht gab es mehr Raum, in dem sie arbeiten konnten, und jeden Tag arbeiteten sie mit dem
Ellipsoid-Projektor, dessen Strahlung den Fels mit fahlblauen, kalten Flammen wegschmolz. Und manchmal schmolz Fels in den herbeigeschafften Transmutern und wurde zu Metall oder Elementen, welche für die unter den schnellen Händen und Maschinen der Rebellen rasch entstehenden Anlagen zur Erzeugung von Nahrungsmitteln nötig waren. Nach einem Monat war ihre Stellung fest und sicher. Dann starben die Rebellen einer nach dem andern, außer den drei oder vier, die oben blieben, um das, was benötigt wurde, herbeizuschaffen – Informationen vor allem. Doch trafen sie sich jede Nacht.
5 »Nachdem die Mathematik offensichtlich der direkteste Weg zu physikalischem Fortschritt ist, halte ich dies für einen guten Plan«, sagte Kahm. »Diese Maschine ähnelt stark denen, die in der alten Zeit für mathematische Zwecke entwickelt wurden, wobei uns Verbesserungen möglich sind. Die Alten hatten Atomenergie und Antigravitation. Wir wissen, daß das Geheimnis ihrer Atomenergie das gleiche wie unseres war. Es ist also möglich, diese Energie in gleicher Weise zu verwenden.« »Noch nicht.« San lächelte. »Du hast es noch nicht getan. Was kann es nützen, wenn es dir gelingt?« »Ich weiß es nicht. Mit jeder Veränderung der Umstände müssen sich auch unsere Pläne ändern. Du weißt – ich kann nicht sagen, ob diese unsere Revolution menschenmöglich ist. Es gibt keinen bekannten Schutz gegen die Atomstrahlung. Nichts, was wir kennen, vermag ihr zu widerstehen. Wie können wir dann kämpfen? Müssen wir alles Leben auf dem Planeten vernichten, um die Tharoo zu vernichten? Soll ein toter Planet unser erstrebtes Ziel sein?« »Wie willst du Anti-Gravitation dabei einsetzen?« fragte Pol-72.
»Indem ich meine physikalischen Kenntnisse erweitere. Je mehr ich weiß, desto mehr Wege öffnen sich für meine Forschungen. Es ist ein Geheimnis, das die Tharoo niemals gemeistert haben. Erst wenn wir das besitzen, was sie nicht haben, sind wir entscheidend im Vorteil.« »Ist das wirklich die Mühe wert?« »Viel Mühe wird nötig sein, ja, und viel Zeit. Da stimme ich zu. Wir haben beides. Wir sind eine Gesellschaft von Toten. Uns gibt es nicht mehr, außer dir, San, und dir, Pol-72, und Reea und Bar-11. Ihr vier könnt uns ohne Schwierigkeiten hier erreichen. Wir anderen aber existieren nicht mehr, und die Tharoo haben jedes Interesse und jede Erinnerung an uns verloren. Für die Toten ist die Unendlichkeit nicht zu weit. Wir haben Zeit. Aber es fehlt uns an Wissen.« Die hier versammelt waren, waren keine normalen menschlichen Wesen, doch selbst ihre übermenschliche Geduld und Entschlossenheit mußte in der Zeit, die sie mehr als fünfzehnhundert Meter unter der Erdoberfläche verbracht hatten, nachgelassen haben. Es war keine Frage von Tagen oder Wochen oder Monaten. Das Wissen eines Jahrtausends kann durch die Versuche eines Tages nicht wiedergewonnen werden. In Medizin, Eugenik, Chemie, Atomwissenschaft, Elektronik und Organisationslehre waren sie ausgebildet. Einige Mitglieder der Gesellschaft widmeten sich der Ausarbeitung von Plänen – sorgfältig durchdachten Plänen für die Aktionen, die nötig sein würden, wenn die Zeit gekommen war – andere, Organisatoren und Psychologen, bereiteten eine Erziehungskampagne vor, welche die Mauns oben verstehen würden, sobald die Zeit gekommen war, und die sicherstellen würde, daß sie sich unverzüglich den Rebellen anschlossen. Umsichtig und sorgfältig bereiten die Rebellen ihr Programm vor. Die Menschheit sollte eine letzte große Lektion lernen. Es war die Lehre von Aufruhr und Freiheit. Zur Zeit jener Maschine hatte der Mensch einen fortgeschrittenen Kurs in Vermessenheit genommen, und die unter solchen Umständen in der Geschichte stets folgende Auflösung hatte sich eingestellt. Als die Maschine den Menschen eine vollkommene Welt geschaffen hatte, die frei von Gefahr und Arbeit war, hatte der Mensch sein Meisterstück in der Kunst grenzenloser Faulheit gemacht.
Dann kamen die Tharoo, und die Menschheit lernte eine Lektion in Fleiß, Arbeit und Produktivität, wie sie der Rasse niemals zuvor erteilt worden war. Sogar Mutter Natur hatte es in der rauhen Welt der Evolution den Bemühungen der Tharoo niemals gleichtun können. Es war ein hervorragender Unterricht. Der Mensch lernte mit einer Gründlichkeit zu arbeiten, die niemals zuvor erreicht worden war. Er lernte es nicht nur; die Fähigkeit wurde genetisch immer weiter verstärkt. Durch das Bedürfnis des Menschen nach Ruhe und Nahrung hatte die Natur Fortschritt bewirkt. Das waren die Hebel, mit denen sie eine ständige Weiterentwicklung bewerkstelligte. Der Mensch arbeitete härter, um sich durch die Ansammlung von genügend Nahrung Ruhepausen zu ermöglichen – und dann überlistete ihn die Natur, indem sie Fäulnisbakterien ansetzte, so daß sein Überschuß vernichtet und seine Ruhe unmöglich wurden. Die Tharoo machten es besser. Sie ließen ganz einfach durch Züchtung das Bedürfnis nach Untätigkeit übermächtig werden. Es war ein hervorragender Unterricht, den sie gaben. Aber sie machten zwei Fehler. Ihr Unterricht war zu gut. Er war so gut, daß der Schüler den Lehrer übertraf. Und sie züchteten nicht ganz den Ehrgeiz weg. Was wahrscheinlich der schlimmste Fehler war. Denn nun war eine neue Klasse von Lehrern entstanden, die nicht nur im Begriffe war zu lehren, sondern sich dessen auch bewußt war, und beinahe vier lange Jahre lang planten und durchdachten die Rebellen sorgfältig ihre Maßnahmen. Sie arbeiteten ihre Pläne aus und übten ihre Fertigkeiten und berechneten die psychologische Kraft ihrer Lehren. Und die Wissenschaftler eigneten sich nach und nach jene wenigen winzigen Bruchstücke des Wissens an, welche Mutter Natur durch ihr Informationsbüro ausgab, das man manchmal Glück und manchmal Wahrscheinlichkeit nennt. Caesar sagte: »Gallien besteht aus drei Teilen«, und benannte seine Einwohner. Die Natur bewahrt ihre Geheimnisse in vielen kleinen Kammern auf, und alles Wissen besteht aus Teilen. Unglücklicherweise gibt es mehr denn drei, doch wenn einmal der Schlüssel zu einer der Kammern gefunden ist – dann ist ein großes Wissensgebiet entdeckt und öffnet sich sogleich rascher Erforschung. Die Entdeckung des
Zusammenhangs von magnetischem und elektrischem Feld war einer der Schlüssel. In einem Zeitraum von zehn Jahren wurde gewaltiger Fortschritt erzielt, die Entdeckung des Elektrons war der Schlüssel, der die Kammer der Atomwissenschaft aufschloß. Kahm fand den Schlüssel zu einer neuen Kammer. Sie hieß »Gravitische Felder«. Es dauerte vier Jahre, drei Monate und elf Tage, bis er ihn fand. Zweihundertsiebenundvierzig Jahre waren seit jenem Tage vergangen. Garnalts kürzliche Experimente erreichten gerade, was man die untere, linke, hintere Ecke dieser besonderen Kammer nennen möchte. Sie schien außergewöhnlich groß zu sein. Tern-3 arbeitete mit einigen neuen chemischen Kombinationen der Tharoo-Medikamente. Tern hatte eine Idee, welche die Tharoo ungemein interessiert haben würde. Sie betraf die Tatsache, daß die Tharoo trotz ihres langen Verweilens auf dem Planeten keine irdische Rasse waren und eine andere Konstitution hatten als die Menschen. Tern-3 hatte eine Flüssigkeit mit hohem Siedepunkt entwickelt, deren Eigenschaften, wie er glaubte, für die Tharoo sehr unangenehm sein mußten, für Menschen hingegen harmlos – wenn sie nicht direkt in die Flüssigkeit eintauchten. Terns Arbeit ging gut voran; er war gerade dabei, genau 245, 8 Kubikzentimeter Dinitrotrichlortoluen in seine schwachgrüne Basislösung zu gießen – als die schwachgrüne Basislösung langsam die Seitenwände des Gefäßes hinaufzuwandern begann. Tern-3 empfand eine leichte Übelkeit. Gleich darauf begann die Lösung, die er gerade eingoß, langsam davonzuschweben, quer durch den Raum, auf die rechte Wand zu. Leise murmelnd griff Tern-3 nach dem nächsten fest verankerten Gegenstand. Einmal losgelassen, schwebte sein Gefäß langsam zum Boden nieder, blieb kurz stehen und begann dann, sich wieder nach oben zu bewegen. Überall in seinem Laboratorium fingen Gegenstände an, von ihrem Platz auf den Tischen hochzuschweben. Angstvolles Wimmern und Stöhnen seiner Mitarbeiter wurde laut. Tern schloß seine Augen und hielt sich noch stärker fest, als seine Füße den Kontakt mit dem Boden verloren. Er spürte wie er fiel, schneller und schneller – der
Aufschlag würde entsetzlich sein. Er mußte nun mindestens tausend Meter tief gefallen sein. Minute für Minute ging es weiter. Plötzlich nahm er ein leises Rumpeln wahr, dann ein dumpfes Stoßen in dem silbrig schimmernden Metallgestell, an das er sich klammerte. »Kahm!« rief er. Nicht sehr laut, denn er wollte seinen Mund nicht weit öffnen. Er fürchtete, dadurch die Bestandteile der chemischen Experimente zu ruinieren, die an ihm vorüberschwebten. »Kahm – wenn du das tust – ich hoffe, du bist es – der Fels wird in kurzer Zeit nachgeben.« Dumpf und unglücklich war Kahms Stimme zu vernehmen. »Ich habe das getan. Jetzt nicht mehr. Es ist die Maschine. Sie baut das Feld auf. Ich vergaß, mich festzuhalten, so fesselte mich das Experiment; jetzt bin ich an der Decke und kann die Schalter nicht mehr erreichen. Das Feld ist hier zu stark.« »Du hast einige meiner Mixturen ruiniert«, sagte Tern protestierend. »Ich bin am nächsten dran, glaube ich. Ich versuche, dich zu erreichen.« Tern ließ los. Mit ziemlich nachdrücklichem Aufprall schlug er an die Decke. Die Kraft, die ihn jetzt hochhob, verstärkte sich offenbar zeitweise. Der größte Teil seiner Mischungen ruhte nun an der Decke, und eine Reihe von sprudelnden, spritzenden Reaktionen fand statt. Tern schritt rasch an der Decke dahin, hüpfte vielmehr dahin, schwang sich nach unten durch die Tür und schloß sie zur Sicherheit hinter sich; der Fels ächzte hörbar. Er tauchte quer durch den Korridor in Kahms Laboratorium. Klay-5 kam gleichzeitig aus der entgegengesetzten Richtung zu Hilfe. Je näher Tern dem Laboratorium kam, desto schwerer fühlte er sich – nur in umgekehrter Richtung. Die Leute aus den weiter entfernt liegenden Laboratorien erschienen nun am Ende des Ganges, halb schwebend. Es gab eine klare Trennungslinie, bis zu der das Feld tatsächlich stark genug war, um die Gravitation umzukehren und Personen gegen die Decke zu pressen. In seinem Laboratorium war Kahm jetzt auf Händen und Knien und drückte sich mit ungeheuerer Anstrengung von der Decke ab. Die Schalter waren über drei Meter unter ihm.
»Unmöglich«, sagte Tern leise. »Rufe Gar-173-G-8«, sagte Kahm. Terns Stimme ertönte. »Ja, Herr«, antwortete laut die Stimme des G-8-Mannes, als er am anderen Ende des Korridors erschien. Er stand aufrecht, siebeneinhalb Fuß groß sein kolossaler, muskelbepackter Körper gestählt für die schwersten Arbeiten. »Komm sofort hierher – so schnell du kannst«, rief Kahm. »Der Schalter«, sagte er, seinen Kopf Tern zuwendend, »wird in etwa dreißig Sekunden eine weitere Stufe nach oben gehen, und die Zuwachsrate wird sich verdoppeln.« Gar-173 schnellte sich in weitem Sprung nach vorn, wurde auf groteske Weise in die Luft getragen und endete nach einem seltsamen Überschlag mit den Füßen an der Decke. Bleich, zu Tode erschreckt, kam er herbei. Mit pfeifendem Atem sagte er, als er Tern erreichte: »Es – es ist ganz falsch. Was muß ich tun?« Kahm sprach zu ihm. Gar durchquerte den Türrahmen und kam in den seltsamen, umgekehrten Raum. Der Riese arbeitete sich weiter; seine schweren Knochen preßten sich unter der gewaltigen Belastung in den Gelenken zusammen. »Ich weiß nicht, ob ich die Schalter erreichen kann, Herr«, sagte er zweifelnd. Er bemühte sich, auf der Decke stehen zu bleiben, als er bei Kahm angelangt war. Seine enormen Arm- und Schultermuskeln ballten sich, als er versuchte, seine Hand hoch über seinen Kopf zu heben. Schließlich erreichte er den Schalter. Sofort drückte er ihn mit aller Anstrengung, deren er fähig war, nach unten. Null-Stellung. Das sonderbare, sanfte Singen der Atome verstummte. Keuchend schob der Riese den Schalter einige Markierungsstriche weiter. Das seufzende Geräusch schwoll an, während die Atome die Umkehrung des Kraftfeldes einleiteten. »Das ist gut«, seufzte Kahm. Gar-173 sank auf die Decke nieder, sein gewaltiger Arm fiel schwer auf seine Seite. Langsam ließ die Wirkung des Kraftfeldes auf die Männer nach. Doch das tiefe Poltern des Felses ging weiter und nahm sogar zu, während die normale Gravitation zurückkehrte.
»Die Tharoo werden gewarnt sein«, seufzte Kahm. »Das war dumm von mir. Wir müssen sehr schnell zu Werke gehen.« Nach einer halben Stunde hatten Tern und seine Helfer das chemische Laboratorium wieder benutzbar gemacht. Nach einer Stunde waren sie wieder an der Arbeit. Etwa zwanzig Minuten später kam San den Tunnel herunter, dann Pol-72, und schließlich die beiden anderen. »Die Tharoo sind heller Aufregung«, sagte Pol-72 mild. »Sie wissen nicht recht, wie sie an dich herankommen sollen, aber sie haben dich sehr genau geortet. Sie glauben, es sei ein sonderbares Naturereignis. Sie beginnen bereits, mit Strahlkanonen zu bohren – sie benützen das kleinste Kaliber, um nicht die Ursache des Phänomens zu zerstören.« »Das wird sich schnell genug ändern«, sagte Tal, der Ingenieur, »wenn sie mit ihren Ultraschall-Echoloten die Höhle entdecken.« »Ich habe noch etwas Interessantes gefunden«, sagte Kahm, auf seine Instrumente blickend. »Sie tun, was sie nicht lassen können. Ich fürchte, wir sitzen in der Klemme. Wenn wir eine große Strahl-Bohrung machen, werden sie das sofort bemerken und uns den Weg abschneiden. Wenn wir eine kleine machen, werden sie uns überholen. Wir können wirklich nicht viel tun. Tern und Pol-72 tragen unsere Hoffnungen. Ich muß arbeiten.«
6 Kahm besaß nun den Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur. In drei Stunden hatte er das genaue Ausmaß der Abweichung festgestellt, die er bei seiner ersten Ablesung der Instrumente entdeckt hatte. Bar-11 war zur Erdoberfläche zurückgekehrt und gab Berichte durch. Die Tharoo selbst waren dabei, eine Bohrung niederzubringen, machten jedoch noch keine Echolotmessungen, denn ihr Ziel lag immer noch tausend Meter unter ihnen.
»Das Feld hat sich wohl zu schnell aufgebaut«, sagte Kahm leise. Fünf Laboratoriumstechniker der Typen S und R arbeiteten mit ihm und bauten einen neuen Apparat zusammen. Er war größer als der übliche tragbare Atomgenerator, sonst aber offensichtlich vom gleichen Typ – mit einem einzigen Unterschied. Und der Projektor, an dem Kahm selber mit so unendlicher Sorgfalt arbeitete, war anders als die sonst für Bohrungen benützten Projektoren, obwohl auch er ellipsoid war. Kahm ließ gewisse Teile des Apparats für andere Zwecke umbauen – für ein völlig neues Experiment. In sechs Stunden war die Arbeit getan. Bar-11 berichtete fast zur gleichen Zeit, daß die Tharoo sich in einem Zustand außerordentlicher Erregung befanden. Echolotmessungen hatten auf eine eigenartige Höhle unterhalb der Stadt schließen lassen, die vorher nicht dagewesen war. »Und – sie sagen, daß neuere Felsverschiebungen offenbar zu einer großen, schrägen Verwerfungslinie geführt hätten, die sich von der Erdoberfläche ungefähr zu den Untergeschossen des Gebäudes RF-23 verlaufe. Ihre Berichte stimmen – wenn sie auch falsch interpretiert sind.« Bar-11 begab sich in das Tiefgeschoß des mit RF-23 bezeichneten Gebäudes und fuhr mit dem kleinen Transportwagen nach unten – etwa zehn Minuten bevor der erste Tharoo die Falltür entdeckte. Eine Abteilung von zwanzig G-4 Männern wurde unverzüglich hinabgeschickt. Sie waren mit den Todesrohren ausgerüstet, die nur in besonderen Notfällen verwendet wurden. Pol-72 und Bar-11 trafen am unteren Ende des Tunnels mit ihnen zusammen. Weich schimmerndes Licht strahlte aus den zwanzig Fingern der beiden Männer; Strahlenzungen flimmerten der Gruppe riesiger Wachmänner entgegen. Sanft und leise brachen die zwanzig Riesen auf dem glatten Boden des Korridors zusammen. Zehn Minuten später stiegen sie wieder durch den Korridor nach oben, zwei Mauns vom S-Typ der Organisationsgruppe mit sich führend. Am oberen Ende des Korridors begrüßte sie eine Gruppe von etwa dreißig Tharoo und einem Dutzend intelligenter Arbeiter vom M-Typ. Sich an die Brust greifend, stürzten die dreißig Tharoo zu Boden, als die Todesröhren kurz aufglühten. Ungläubig verfolgten die Mauns vom
M-Typ den Vorgang, und auf einen Wink des Kommandeurs der Wachleute, eines Mannes vom Typ G-14, gingen sie den Wächtern auf ihrem Weg den Tunnel hinunter voraus; ihr ganzes Leben lang hatte man sie gelehrt, daß Mauns aller Typen und Klassen Angehörigen des G-Typs unbedingten Gehorsam schuldig seien. Es dauerte fast eine Stunde, bis eine Gruppe von Tharoo und Wächtern die toten Tharoo am Schachteingang entdeckte. Sofort strahlten aus dem Tiefgeschoß von RF-23 viele hundert Botschaften nach oben. Eine Abteilung von dreißig G-4 Wächtern unter zwei G-14 Offizieren wurde sofort den Schacht hinunter gesandt. Eine halbe Stunde verging. Mit zehn Mauns vom S- und R-Typ und ein paar M-Typen kam die Abteilung langsam wieder zum Tunnelausgang. Neugierig eilten die Tharoo auf sie zu, um ihnen Fragen zu stellen. Zweiunddreißig Todesröhren erhoben sich gleichzeitig, und ohne einen Laut fielen die Tharoo tot zu Boden. Fünf MaunWissenschaftler vom Typ R waren bei ihnen gewesen; halb protestierend, halb den Sinn der Worte der R-Typ-Männer erfassend, die mit den Wächtern heraufgekommen waren, begleiteten sie die Wachmänner nach unten. Die Tharoo jener Tage wußten nicht, was Rebellion ist – mit dem Gedanken waren sie nie konfrontiert gewesen. Sie konnten nicht ahnen, was der Grund für das seltsame Verschwinden und den Tod ihrer Leute war. Eine dritte Abteilung wurde eilends zum Schauplatz beordert. Man stellte wilde Vermutungen an. Rebellion war nicht vorstellbar. Es mußte irgendeine eigentümliche Naturgewalt sein, mit der die kürzliche Felsverwerfung im Zusammenhang stand, oder eine sonderbare Anti-Gravitationskraft. Vielleicht war es ein furchtbares Gas, das tief unten im Boden entsprang und in ein bis zwei Stunden Mauns spurlos auflösen konnte, wegen der andersartigen Struktur der Tharoo jedoch lediglich deren Körpereiweiß zum Gerinnen brachte, wie das auch die Todesröhren taten. Die nächste Abteilung trug Gasmasken und blieb mehrere Stockwerke über dem tiefsten Geschoß, um von dort die G-4-Wächter und das RMaun-Forschungspersonal per Fernsehen zu beobachten. Man sah, wie die Wachleute den Tunnel betraten. Die R-Mauns blieben am Eingang.
Die G-4-Leute waren jetzt eine halbe Stunde unten – eine Stunde – zwei Stunden. Es geschah immer noch nichts. Eine größere Gruppe von G-4-Wächtern ging hinunter, begleitet von mehreren R-Mauns. Nichts geschah. Noch zwei Stunden – sie kehrten nicht zurück. Verzweifelt schickten die Tharoo eine weitere Gruppe los, die mit einem kleinen Fahrzeug ausgerüstet war, das eine komplette TV-Ausstattung trug. Doch plötzlich, als sie etwa fünftausend Meter hinabgestiegen waren, funktionierte die Fernsehapparatur nicht mehr richtig; Interferenzen entstanden in den nachgeschleppten Kabeln, und den Männern unten zugedachte Signale erreichten sie überhaupt nicht. Zuletzt meldeten sich einige couragierte Tharoo freiwillig zum Einstieg in die große Röhre. Sie waren mit tragbaren Atomkanonen ausgerüstet und kamen nur langsam voran, denn sie bedienten sich auf jedem Zoll ihres Weges der Strahler und erweiterten so den Tunnel und zerstörten gleichzeitig jede nur mögliche Form von Leben oder Gas, die sich dort finden mochte. Einen – zwei – drei – fünf Kilometer legten sie zurück; ihre Strahler folgten dem gekrümmten Verlauf des Tunnels, erweiterten ihn und machten ihn gerader. Nach fünfeinhalb Kilometern hielten sie an, ließen ihre eingeschalteten Strahler liegen und traten zu Tode erschreckt den Rückzug an; nur eine Gruppe von R-Mauns blieb, um das Phänomen näher zu erkunden: Die Strahlung prallte wirkungslos ab – von einer unsichtbaren Fläche! Der fahle Strahl, die kleinen, züngelnden Blitze knisterten und sangen, fraßen sich zwitschernd in den Felsen und erweiterten rasch den Tunnel. Doch wie ein großer runder Stöpsel war da plötzlich eine Wand, welche die unvorstellbare Kraft der Atomstrahlung in sich aufsog und sie still und mühelos in absolute Finsternis verwandelte. Aus voll geöffneten Rohren kamen dröhnend die Strahlen, der Fels spritzte weg in gewaltigen Eruptionen brennenden Wasserstoffs, die Blitze wurden zu mächtigen Ausbrüchen, die den Fels bis ins Innerste erschütterten – und dann endlich war alles still, der Schrecken verflogen – außer wo diese seltsame, geheimnisvolle, entsetzliche Stille herrschte. Es gab keinen Laut, kein Licht, keine Entladung, nur diese unsichtbare Wand, die geräuschlos die Atomstrahlung in sich aufsog – und Stille.
Sie warteten auf Nachricht von dem Maun-Trupp, den sie zurückgelassen hatten, doch es kam keine; sinnlos arbeiten die Strahlkanonen Stunde für Stunde. Vorsichtig machten sich die Tharoo wieder auf den Weg nach unten. Da war noch dieselbe Stille. Der Mauntrupp war nicht mehr da. Dann gingen Tharoo-Wissenschaftler nach unten. Sie mußten. Nur – das tödliche, unerklärliche Verschwinden der Mauns und das lautlose, unerklärliche Sterben der Tharoo ging weiter. Am zweiten Tage begab sich eine weitere Tharoo-Gruppe nach unten, um zu sehen, was mit den Tharoo-Wissenschaftlern geschehen war. Sie lagen da – tot. Die Mauns waren wieder verschwunden, und die Tharoo waren diesmal nicht geronnen, sondern einfach tot, ohne erklärbaren Grund. Vitameter, empfindliche Apparate, mit denen sich auch die allergeringste Spur von Leben nachweisen ließ, zeigten nur an, daß jede einzelne Körperzelle tot war. Nicht wie bei einem gewöhnlichen Tod, wo Muskeln noch Stunden und Haarzellen Monate nach dem Tode weiterleben. Alles war tot. Television war hier nicht zu verwenden. Irgendwie schien die Stille das Funktionieren der Apparate zu verhindern. Jegliche Form elektrischer Abschirmung wurde versucht, und die Stille verschlang sie. Man brachte die größten bekannten Atomstrahler nach unten, und die Stille nahm sie in sich auf, und das Dröhnen und Knistern der Blitze erstarb. Es blieb nur eine Möglichkeit. Eine sich durch die ganze Länge des Korridors erstreckende Kette von Tharoo stellte sich auf. Was immer man ihnen nachsagen mochte, die Tharoo hatten Mut, und angesichts dieses so maßlos unerklärlichen Geheimnisses stellten sie sich und versuchten, die Lösung zu finden. Tiefer unten wurde es allmählich dunkler, und das weiße Licht der Leuchtröhren verfinsterte sich. Sie glaubten, die als erste ausgesandte Expedition habe diese Röhren angebracht, und niemand konnte sie eines Besseren belehren. Wenn sie die sphärische Mauer der Stille erreichten, erstarben die starken Lichtstrahlen im Dunkel. Mauns blieben als Beobachter. Die Tharoo zogen sich zurück, bis sie sie in dem gekrümmten Korridor gerade noch sehen konnten. Eine halbe Stunde lang warteten sie. Nichts geschah.
Dann – aus der Stille kamen seltsame, weiche Flammenzungen, violetter Nebel, der sich langsam um die Köpfe der plötzlich fliehenden Mauns wand. Die Mauns fielen. Hastig zogen sich die Tharoo weiter zurück. Vorsichtig streckte ein Maun-Beobachter seinen Kopf um die Ecke. Die Tharoo sahen nur den langsam in sich zusammensinkenden Körper, die erschlaffenden Glieder. Er stieß einen schrecklichen Schrei aus. Doch geräuschlos, wortlos gewann der Maun Herrschaft über seine Glieder wie ein wiederbelebter Leichnam und schritt mit der seltsamen Steifheit automatischer Bewegung um diese Ecke. Die Tharoo sahen ihn nicht, aber er sah sein Spiegelbild in der glasigen Wand des Korridors, als er sich zu der steif dastehenden Maungruppe gesellte und lautlos, wortlos mit ihnen in und durch die Stille schritt. Ein Tharoo – ein unheilbarer Krüppel, der den Tod als Erlösung suchte – wurde nun ausgesandt, um zu beobachten und, wenn möglich, zu berichten. Stunde’ für Stunde konnte er nichts anderes feststellen als Stille, und als er sie zu analysieren versuchte, brachte er es nur zu einem schwachen Seufzer. Ein Kabel zog seinen Körper zurück. Das Vitameter zeigte an, daß jede Körperzelle tot war, doch gab es nicht den geringsten Anlaß für seinen Tod. Die Zellen waren nicht verbrannt, er war nicht verletzt. Sie schienen so unversehrt wie eh und je zu sein – doch sie waren tot. An diesem Tag bewegte sich die Stille. Sie dehnte sich langsam aus; sie verschlang die Atomstrahler, dann die Ecke, an der die Tharoo beobachtend gestanden hatten. Sie hielt erst inne, so stellten die Tharoo gleich fest, als ihr Durchmesser so groß geworden war, daß ihre sphärische Oberfläche die Erdoberfläche senkrecht über ihrem Zentrum berührte. In panischem Schrecken drangen die Tharoo darauf ein. Sie attackierten die Sphäre mit ungeheuren Detonationen, mit gewaltigen Bomben, mit Atomkraft und Strahlenbündeln, die gigantische Flammenbogen hoch in die Luft sandten – und lautlos, lichtlos in der Stille verschwanden. Der Schrecken breitete sich aus. Er verbreitete sich langsam und gleichmäßig und verschlang nach und nach die Stadt. Mauns wie Tharoo ergriffen die Flucht.
7 Kahm sah mit leichtem Lächeln zur Stadt hinüber. Er stand am Eingang der neuen Bohrung, einer geraden, runden Röhre von fünfzehn Meter Durchmesser. Die Wände waren nicht glasig und hart, sondern glatter, kalter, grauer Granit. Der Zugang war in der Mitte des Landungsplatzes. Rechter Hand befand sich der »Tempel der Landung«. Das paßte gut. Die Rebellen waren auf der Erdoberfläche nur fünfzig Meter von der Stelle entfernt gelandet, wo die Tharoo gelandet waren. Hier befand sich ein halbkreisförmiger, im Augenblick unbelebter Platz. Jenseits lag in leichtem Schimmer die Stadt, aufgetürmt auf purpurnem, silbernem, goldenem und ebenholzschwarzem Metall. Am Stadtrand waren Mauns und Tharoo bei emsiger Tätigkeit zu sehen. Dutzende arbeiteten in einem von einer schwankenden, fast unsichtbaren Kuppel überspannten Kreis von vierhundert Meter Durchmesser, die großen, glasigen Narben und Löcher füllend und ausbessernd, wo die gewaltigen Atombomben ihre flammenden Energien in mohnrot flackernden Feuern entladen hatten, die mit den typischen violetten Funken zerspringender Atome durchsetzt waren. Das einzige Geräusch war ein schwaches Klirren, wie wenn Trinkgläser von Feen zerbrächen. Draußen, nahe der Mauer, war nun mehrfacher Donner hörbar. Hoch oben hingen drei große Atomkreuzer, deren gewaltige Feuerstöße wie Ausbrüche unvorstellbaren Titanenzorns durch den Äther dröhnten, bis sie still wie der Tod in dem schimmernden Vorhang verschwanden. Außen war dieser schimmernde Vorhang eine schwarze Kuppel, so dunkel wie Platinschwarz, da sie jegliches von außen auf sie auftreffendes Licht gänzlich absorbierte, für von innen kommendes Licht indessen völlig undurchlässig war. Kahm wandte sich lächelnd San zu. »Deine Organisationsabteilung hat sich zum Teil geirrt. Es ist ihr großartig gelungen, Zeit für uns zu gewinnen. Die psychologische Arbeit war perfekt – die Tharoo sind völlig verwirrt. Doch wir können die Kuppel
nicht in dieser Weise weiter vergrößern und dabei fortwährend jedermann von uns wegtreiben. Wir brauchen die Stadt. Die andern aber zerstören sie.« »Wenn du rascher vorgingst, würden die Tharoo nicht genug Zeit haben, die Mauns zu retten. Und auch nicht genug, um zu kämpfen. Gerade das brauchen wir. So lautet jedenfalls der neue Vorschlag der Organisatoren«, antwortete San. Kahm nickte langsam. »Das war auch mein Plan. Ich wollte jedoch wissen, ob du unabhängig von mir zum gleichen Ergebnis kommen würdest. Ich werde ans Werk gehen. Auch – glaube ich, daß ich diese Schiffe zerstören werde, denn das wird uns dabei helfen, die Stadt vor dem Untergang zu bewahren.« Kahm ging zum Eingang der großen Röhre zurück. Ein ständiger ruhiger, doch kräftiger Luftstrom wehte aus ihr heraus. Kahm nahm einen kleinen, würfelförmigen Kasten auf seine starken Schultern und schnallte ihn fest. Gleich darauf schoß er mit hoher Geschwindigkeit die Röhre hinunter. Gegen Ende des Tunnels verminderte er die Geschwindigkeit durch Umkehrung der Gravitationskraft. San bremste neben ihm ab und landete fast im gleichen Augenblick. Zusammen gingen sie zu dem Laboratorium, wo Kahm gearbeitet hatte. Eine gewaltige, komplizierte Apparatur war um einen golden, blau und schwarz schimmernden Würfel, das Herzstück ihrer Kraft, aufgebaut. Ein Rad in gleichmäßig langsamer Bewegung, ein Zeittriebwerk, schob unerbittlich die Mauer des Schweigens immer weiter hinaus. Kahm nahm eine Einstellung vor. Sogleich drehte sich das Rad mit dem Fünffachen seiner vorherigen Geschwindigkeit. In wenigen Minuten war Kahm zurück an der Oberfläche. Die Leute im Vorfeld des Vorhangs hatten von seiner beschleunigten Ausdehnung noch nichts bemerkt. Sie wußten nur, daß er sich ausdehnte. Kahm wandte seine Augen nach oben. Drei große Kreuzer hingen dort, bombenwerfend und strahlenspeiend. Kahm erhob den kleinen Ellipsoid-Projektor in seiner Hand, warf einen kurzen Blick darauf, visierte dann entlang der Oberseite angebrachten dünnen Metallrute, und drückte ruhig auf einen Knopf.
Die Tharoo sahen die schwarze Kuppel plötzlich an einem Punkt nach oben springen, auf einen tiefschwarzen Finger, der mit Lichtgeschwindigkeit auf einen der Kreuzer zuschnellte. Er berührte ihn kaum – und fuhr wieder zurück. Zehn Sekunden lang hing der Kreuzer da; die Nuklear-Feuerstöße blieben plötzlich aus, die Bomben fielen nicht mehr. Beinahe sah es aus, als sei nichts geschehen. Erst als der atomfreie Staub sich etwas gelichtet hatte, konnten sie aus dieser Entfernung sehen, daß das kein Kreuzer mehr war, sondern eine Staubwolke in der Form eines Kreuzers. Die Form blieb beinahe zwei Minuten erhalten. Die meisten von ihnen sahen jedoch zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr hin. Der zweite Kreuzer dehnte sich langsam aus, dann der dritte. Die Staubpartikel waren ultramikroskopisch klein und sogar in der Luft kolloidal. Sie senkten sich nicht. Höchstwahrscheinlich schweben sie heute noch um die Erde. Dann bemerkten sie die schnellere Ausdehnung des Vorhangs. Jetzt hatte sie sich noch mehr beschleunigt. Die Tharoo beschlagnahmten unverzüglich alle Transportmittel. Einige von ihnen waren zu langsam und verschwanden mit Zehntausenden von Mauns in dem Vorhang. Die Mauns wurden von denen begrüßt, die schon vor ihnen durch den Vorhang gegangen waren. Plötzlich in Sicherheit und dennoch zutiefst verwirrt und verloren, verstanden sie dann, daß es drinnen ruhig und licht und die Stadt unangetastet war. G-Männer, vertraute, Ordnung und Sicherheit versprechende Riesengestalten, nahmen sich ihrer an. In geordneten Gruppen nahmen sie ihre Plätze ein; viele kehrten zu ihren Häusern zurück, die nun innerhalb der Kuppel in Sicherheit waren. Mit vielen Tharoo-Herren war es anders. In panischem Entsetzen fliehend, wurden sie von der Kuppel eingeholt und waren durch den Vorhang in Licht und Freiheit gestoßen, an einen ordentlich aufgeräumten Ort, wo G-4 Männer arbeiteten, Hilfe leisteten und Anweisungen gaben. Ihr Mut kehrte zurück, sie verlangten Aufmerksamkeit. Unverzüglich wiesen die G-14 Wachoffiziere sie an, sich zu dem zentralen Platz zu begeben, als seien sie Mauns. Sie waren zornig. Daß diese Mauns sie nicht als Tharoo-Herren anredeten, fanden sie beleidigend. Doch sie waren verunsichert. Sie gingen.
Sie fanden vier Mauns vor. Vier von einem Typ, wie sie ihn noch nicht gesehen hatten. Groß und kräftig, mit scharfen, intelligenten Gesichtern und grauen, seltsam durchdringend blickenden Augen. Granth Marld war der erste, der zu den vieren kam. »Mauns, was bedeutet dies? Wer ist dafür verantwortlich?« Kahm antwortete mit der Andeutung eines Lächelns. »Wir sind es, Tharoo. Wir holen uns unsere Welt zurück. Dies war unsere Welt. Sie wird wieder unsere Welt sein. Die Tharoo können zur Venus gehen; aus unseren Archiven geht hervor, daß sie bei ihrer Landung wußten, daß ein anderer Teil ihrer Rasse sich zur Venus begeben hatte. Im Wirbel der Ereignisse dachte man dann nicht mehr daran, und jetzt haben sie es völlig vergessen. Wir wollen nicht unnötig töten. Sie aber werden unseren Planeten verlassen.« Der Tharoo neigte sein Haupt und starrte mit allen drei Augen den unverfrorenen Menschen an. »Maun, was für ein Schwachsinn ist das? Mauns – Mauns wollen die Tharoos belehren!« Er zitterte – unfähig, die Abwegigkeit der grotesken Idee zu verstehen, rang er in tiefer Fassungslosigkeit die Hände. Kahm lächelte ruhig. »Sie werden zur Venus umziehen. Ich hoffe, daß dort noch keine andere Rasse ist und daß Ihre Tharoo-Rasse nicht versklavt wurde. In gewisser Weise haben Sie uns geholfen, und deswegen gehen wir nicht den einfachsten Weg – Sie einfach zu vernichten.« Unversehens schien sich der Tharoo zu beruhigen. Seine Aufregung ebbte ab. »Ich war natürlich erschreckt. Die Dunkelheit auf der anderen Seite ist unerklärlich und geheimnisvoll. Interessant. Sie widersteht Atomfeuer. Aber Sie – und Ihre wilden Ideen. Es liegt auf der Hand, daß Sie ein fehlerhafter Typ sind, mit nervöser Instabilität hundertsten Grades. Völlig jenseits aller Vernunft. Sie werden sich unverzüglich beim Tharoo-Chef melden. Gar« – er wandte sich zu dem riesigen G-14, der neben ihm stand – »führen Sie diesen Maun sofort zum Tharoo-Chef.«
Der Riese lächelte milde auf den Tharoo hinab. Dann blickte er, weiterhin lächelnd, zu Kahm empor. »Nein, Tharoo. Sie verstehen nicht. Die Maun-Rasse ist stärker. Die Tharoo sind am Ende. Sie müssen gehen«, sagte er langsam. Kahm ergriff das Wort: »Die Tharoo sind tatsächlich am Ende. Dies ist unsere Welt. Wir nehmen sie uns wieder. Sie hielten mich wohl für einen R- oder S-Typ? Das bin ich nicht. Mein Typ wurde von einem REugeniker geschaffen, damit die Mauns ihre Welt zurückgewinnen können. Mein Typ steht siebenunddreißig Grade höher, als es die Tharoo für möglich hielten, denn sie selbst rangieren nur bei fünfundneunzig Grad. Wir sind ein viel höherer Typ als die Tharoo.« Der Tharoo starrte ihn ungläubig an. Dann wandte er sich zu dem Wächter. »Erzeugt der Vorhang bei allen, die ihn durchqueren, diesen Wahn? Großer Mahrath – ein Maun-Typ höher als ein Tharoo! Maun, bleiben Sie hier«, sagte er dann in plötzlichem Entschluß. »Ich muß andere herbeiholen, die sich dieser Sache annehmen können.« Unverzüglich wandte er sich zum Gehen. »Tharoo!« rief Kahm ruhig. Eines der drei Augen des Tharoo richtete sich auf Kahm. »Bleiben Sie«, sagte Kahm sanft. Der ausgestreckte Finger seiner Hand glühte ganz, ganz schwach. Die Gestalt des Tharoo versteifte sich unvermittelt. Sein Auge drehte sich wild in seiner Höhle, die anderen beiden Augen richteten sich plötzlich auf Kahm. Kleine, fast unsichtbare Nebelfahnen hingen um Haupt und Schultern des Tharoo. Er blieb stehen. Langsam drehte er sich um und schaute zu Kahm hinauf. »Jawohl – Maun«, sagte er mit schwacher Stimme. Ganz langsam sank er in sich zusammen. Die Nebelbänder und -fahnen verschwanden, als Kahm seine Hand sinken ließ. Kahm wandte sich zu Pol-73. »Wir können ihn nicht wiedererwecken, unsere Strahlung wäre tödlich für ihn.« »Wird er von selbst wieder aufwachen?« fragte der Physiker. »Ich nehme es an. Aber – ich fürchte, er wird von Sinnen sein. Was er erlebt hat, wird ihn wahrscheinlich völlig um den Verstand gebracht haben.«
Eine halbe Stunde später erwachte er, wahnsinnig geworden, wie Pol es vorausgesagt hatte. Stärkere Strahlen eines seltsamen Leuchtens gingen von Pols Fingern aus, und er verlor auf ewig das Bewußtsein. Aber auch andere kamen, die nicht ganz so hartnäckig kämpften und unbeschädigt wieder erwachten. Sie sahen sich um, und da einer nach dem anderen von ihnen so unabwendbar fiel, als habe ihn der Tod ereilt, erfaßten sie allmählich, daß der Mensch sich über sie hinaus entwickelt hatte. Als schon der leichteste der flimmernden Nebel die Stärksten von ihnen zu Boden warf, und als in einem Fall ein Tharoo zum Angriff übergehen wollte, sahen sie vierzig ausgestreckte Finger, und von ihnen ging eine durchdringende, oszillierende Strahlung harten Lichtes aus, die den Tharoo sofort auf ewig zu Tode brachte. Es war eine harte Lektion. Nur die Jungen unter ihnen lernten sie, jene, die von S- und R-Maun-Typen versorgt und weitgehend erzogen worden waren und schon von ihnen gelernt hatten – sie lernten die Lektion und vergaßen sie nicht. Binnen einer Woche bedeckte die Kuppel die Landungsstadt.
8 »Sie haben also gelernt, wie Sie sich uns gegenüber verhalten müssen«, sagte Kahm ruhig. Zehn Tharoo aus den zehn größten der noch existierenden TharooStädten standen ihm gegenüber. Sie waren alle jung. Auch die alten Tharoo waren sich über die veränderten Verhältnisse im klaren. Sie konnten sich freilich nicht damit abfinden. »Jawohl, Maun«, sagte ein Tharoo-Vertreter ernst. »Wir müssen lernen, uns Ihren Absichten entsprechend zu verhalten.« »Aus Ihren Annalen geht hervor, daß das andere Schiff, welches das hier gelandete Schiff Ihrer Vorväter begleitet hatte, zur Venus weiterfuhr. Ihre beiden Linien haben sich nie getroffen oder gar
vereinigt. Ich würde Ihnen raten, dorthin zu gehen. Sie könnten dort willkommen sein. Sie sind frei und können alle Ihre Schiffe haben. Es ist Ihnen sicherlich klar, daß wir jeden Start eines Raumschiffes, der uns unerwünscht ist, verhindern können. Außerdem – Sie werden keinen Maun, ganz gleich welchen Typs oder welcher Klasse, welchen Alters oder Geschlechts, mit sich nehmen. Die Mauns sind eine freie Rasse. Haben Sie verstanden?« »Grundsätzlich ja. Aber wir müssen den Plan noch in allen Einzelheiten ausarbeiten.« »Das wird erst dann möglich sein, wenn eine Vorausexpedition zur Venus gesandt worden ist«, erwiderte Kahm gleichgültig. Es gab eine Feier, als das letzte Schiff mit der letzten Tharoo-Gruppe zur Venus startete. Die Räte und Repräsentanten blieben noch. Es gab heftige Feindschaft. Sie konnte jedoch nicht zum Ausbruch kommen, denn nur die Mauns waren in der Lage, zur Tat zu schreiten, und sie waren zufrieden. Die Mauns hatten nun einmal sowohl die unwiderstehliche Kraft wie auch das unverrückbare Objekt, und da sie eine eigenartige Rasse aus verschiedenen Typen waren, zufrieden mit der Arbeit, die sie zu tun hatten, ja genetisch sogar darauf angelegt, ergab sich kaum Anlaß für sie, sich gegeneinander zu wenden. Die Tharoo, nicht unwillkommen auf der Venus, wo ihre Rasse im Kampf mit einem wilden, unüberwindlichen Dschungel – ohne die Hilfe einer gefügigen Rasse – ihrer Wissenschaft und Zivilisation verlustig gegangen waren, bevorzugten nichtsdestoweniger bei weitem die Erde, wo sie nicht willkommen waren. Sie wurde ihnen noch teurer, als sie erkannten, was Arbeit wirklich bedeutet. Und doch – was konnte man gegen den Vorhang tun? Im Grund lief alles auf die Frage hinaus: »Was kann man gegen eine an Intelligenz überlegene Rasse tun?« Denn die Tharoo waren ausgezeichnete Lehrer gewesen. Originaltitel: REBELLION Copyright 1935 by John W. Campbell
Aus FUTURES UNLIMITED, edited by Alden Norton Copyright © 1969 by Alden Norton Übersetzt von Rudolf Mühlstrasser
Arthur Conan Doyle
DER TÖDLICHE DSCHUNGEL DER LÜFTE Die Idee, daß die ungewöhnliche Geschichte, die man das JoyceArmstrong-Fragment nennt, der ausgeklügelte Scherz eines mit pervertiertem schwarzem Humor geschlagenen Unbekannten ist, haben nunmehr alle, die sich mit der Sache befaßt haben, fallenlassen. Auch der phantasievollste und makaberste Erfindungsgeist würde zögern, sich in seinen morbiden Vorstellungen mit den unbezweifelbaren und tragischen Tatsachen auseinanderzusetzen, die diese Feststellung bekräftigen. Wenngleich die in ihr enthaltenen Behauptungen unglaubhaft und sogar monströs erscheinen, so drängt sich doch dem normalen Menschenverstand der Eindruck auf, daß sie wahr ist und daß wir unsere Vorstellungen der neuen Situation anpassen müssen. Diese unsere Welt scheint durch eine schmale, instabile Sicherheitszone von einer höchst einzigartigen und unerwarteten Gefahr abgeschirmt zu sein. In dieser Geschichte, welche das Originaldokument in seiner zwangsläufig etwas fragmentarischen Form wiedergibt, will ich versuchen, dem Leser alle bis heute bekannten Fakten vorzulegen; ich schicke voraus, daß, während die Erzählung von Joyce-Armstrong von manchen bezweifelt werden mag, die Tatsachen betreffend Leutnant Myrtle von der Royal Navy und Mr. Hay Connor, welche mit Sicherheit auf die beschriebene Weise zu Tode kamen, unzweifelhaft verbürgt sind. Das Joyce-Armstrong-Fragment wurde eine Meile westlich des Dorfes Withyham an der Grenze zwischen Kent und Sussex gefunden, und zwar auf einem Lower Haycock genannten Feld. Am fünfzehnten September letzten Jahres sah James Flynn, ein Landarbeiter in den Diensten von Mathew Dodd, Farmer auf der Chauntry Farm in Withyham, in der Nähe der Lower Haycock umgrenzenden Hecke eine Rosenholzpfeife liegen. Ein paar Schritte weiter stieß er auf eine zerbrochene Brille. Schließlich bemerkte er in einem Graben, zwischen Nesseln liegend, ein schmales, leinengebundenes Buch, das sich als Notizbuch mit Abreißblättern erwies, von denen einige, vom Winde gelöst, am Fuße der
Hecke lagen. Diese sammelte er auf; doch manche darunter die ersten, wurden niemals gefunden und lassen eine beklagenswerte Lücke in diesem so wichtigen Bericht zurück. Der Landarbeiter übergab das Notizbuch seinem Herrn, der es seinerseits Dr. J. H. Atherton in Hartfield zeigte. Dieser erkannte sofort die Notwendigkeit einer Untersuchung durch Experten, und das Manuskript wurde an den AeroClub in Londin weitergeleitet, wo es nunmehr liegt. Die ersten zwei Seiten des Manuskripts fehlen. Auch gegen Ende der Erzählung ist eine Seite verlorengegangen, doch beeinträchtigen alle diese nicht den allgemeinen Zusammenhang der Geschichte. Wie man vermutet, geht es bei dem fehlenden Anfang um Mr. Joyce-Armstrongs fliegerischen Werdegang, welcher aus anderen Quellen zu rekonstruieren ist. Sein Können als Pilot wird in England als unübertroffen anerkannt. Viele Jahre lang ragte er unter den Fliegern durch seine Kühnheit und seinen Intellekt hervor, seine Kombination, die ihn sowohl für die Erfindung als auch für die Erprobung neuer Instrumente prädestinierte, darunter das unter seinem Namen bekannte, heute allgemein benutzte Gyroskop. Der größte Teil des Manuskripts ist sauber mit Tinte geschrieben, die letzten paar Zeilen hingegen mit Bleistift und dazu so schlecht, daß sie fast nicht leserlich sind – genauso übrigens, wie man sie sich vorstellen würde, wären sie hastig auf dem Pilotensitz eines im Flugzeug befindlichen Aeroplanes hingekritzelt worden. Hinzuzufügen ist, daß sich auf der letzten Seite und der Innenseite des Umschlags mehrere Flecken finden, die nach dem Urteil von Sachverständigen des Innenministeriums von Blut herrühren – wahrscheinlich menschliches, sicherlich Säugetierblut. Der Umstand, daß die Analyse des Blutes sehr stärk auf Malaria hindeutende Bestandteile ergab, und daß Joyce-Armstrong bekanntermaßen an derartigen Fieberanfällen litt, ist ein bemerkenswertes Beispiel für die neuen Waffen, welche die moderne Wissenschaft in die Hände unserer Polizei gegeben hat. Und nun ein Wort zur Persönlichkeit des Autors dieses epochemachenden Berichtes. Nach Aussage der wenigen Freunde, die ihn wirklich kannten, war Joyce-Armstrong ebensosehr ein Dichter und Träumer wie ein Techniker und Erfinder. Einen nicht geringen Teil seines beträchtlichen Vermögens hatte er auf sein fliegerisches
Steckenpferd verwendet. In seinen Hangars bei Devizes standen vier Privatflugzeuge, und man sagt, er habe im letzten Jahr nicht weniger als einhundertsiebzig Starts unternommen. Er war ein introvertierter Mensch, der in Zeiten trüber Stimmung die Gesellschaft seiner Mitmenschen mied. Captain Dangerfield, der ihn besser als jeder andere kannte, sagt, daß sich seine Exzentrizität zeitweise zu etwas Ernstlicherem zu entwickeln drohte. Seine Gewohnheit, im Flugzeug ein Gewehr mit sich zu führen, war eine Ausprägung davon. Eine andere war die schreckliche Wirkung, welche Leutnant Myrtles Absturz auf ihn hatte. Myrtle stürzte bei einem Versuch, den Höhenrekord zu brechen, aus einer Höhe von über dreißigtausend Fuß ab. So entsetzlich es klingen mag: Sein Kopf wurde völlig vernichtet, wenngleich sein Körper und seine Glieder in ihrer ursprünglichen Form erhalten blieben. Bei jeder Zusammenkunft von Piloten, so Dangerfield, fragte Joyce-Armstrong mit rätselhaftem Lächeln: »Und wo, bitte, ist Myrtles Kopf?« Bei einer anderen Gelegenheit – es war in der Messe der Fliegerschule bei Salisbury – warf er die Frage auf, welche Gefahr dem Flieger wohl am beständigsten drohe. Nachdem verschiedene der Anwesenden ihren Standpunkt dargelegt und Probleme wie Konstruktionsfehler oder Überziehen des Flugzeugs genannt hatten, zuckte er nur die Schultern, weigerte sich aber, seine eigene Meinung zu äußern, wiewohl man den Eindruck hatte, daß er die Ansichten seiner Gesprächspartner keineswegs teilte. Es bedarf der Erwähnung, daß sich nach seinem völligen Verschwinden seine Privatangelegenheiten als mit solcher Sorgfalt geregelt erwiesen, daß der Schluß, er habe die starke Vorahnung einer Katastrophe gehabt, erlaubt erscheint. Nach diesen notwendigen Erklärungen gebe ich nun die Geschichte genauso wieder, wie sie gefunden wurde. Sie beginnt auf Seite drei des blutbefleckten Notizbuchs: Nichtsdestotrotz bemerkte ich, als ich in Reims mit Coselli und Gustave Raymond dinierte, daß keiner von beiden mit irgendeiner besonderen Gefahr in den höheren Schichten der Atmosphäre rechnete. Ich ging
nicht so weit, meine eigenen Vorstellungen präzise zu erläutern, doch war, was ich sagte, so unmißverständlich, daß es ihnen nicht hätte entgehen können, wären ihre Gedanken in die gleiche Richtung gegangen. Aber sie sind ja zwei leere, eitle Kerle, die nichts anderes im Sinn haben, als ihre albernen Namen in der Zeitung zu lesen. Interessant ist, daß keiner von beiden die Zwanzigtausend-Fuß-Grenze je wesentlich überschritten hat. Natürlich haben sowohl Ballonfahrer als auch Bergsteiger bereits größere Höhen erreicht. Der Beginn des Gefahrenbereichs muß um einiges über dieser Marke liegen – immer vorausgesetzt, daß meine Befürchtungen wirklich begründet sind. Seit mehr als zwanzig Jahren fliegen wir nun, und man kann durchaus fragen: Warum sollte diese Gefahr erst jetzt auftauchen? Die Antwort ist klar. Früher hatte man schwache Maschinen; die hundert PS einer Gnome oder Green hielt man für überreichlich, und der Flugbereich war sehr beschränkt. Nunmehr, da dreihundert Pferdestärken mehr die Regel als die Ausnahme sind, sind Aufstiege zu den oberen Schichten leichter und häufiger geworden. Manche von uns erinnern sich noch, wie Garros sich in unserer Jugendzeit durch die Erreichung von neunzehntausend Fuß Weltruhm erwarb, und eine Alpenüberquerung wurde als eine bemerkenswerte Leistung betrachtet. Heutzutage ist unser Standard ungleich höher, und die Zahl der Höhenflüge hat sich verzwanzigfacht. Viele von ihnen sind ohne Schaden überstanden worden. Zu wiederholten Malen hat man dreißigtausend Fuß erreicht, ohne größeren Beschwerden außer Kälte und Asthma ausgesetzt zu sein. Was beweist das? Tausendmal könnte ein Besucher auf diesem Planeten landen, ohne jemals einen Tiger zu sehen. Und doch gibt es Tiger, und wenn er zufällig in einen Dschungel geriete, könnte das sein Ende bedeuten. Es existieren Dschungel der oberen Luftschichten, und in ihnen gibt es Schlimmeres als Tiger. Ich glaube, daß man im Lauf der Zeit diese Dschungel genauer erforschen wird. Sogar im jetzigen Augenblick könnte ich zwei von ihnen nennen. Einer davon liegt über dem Gebiet von Pau-Biarritz in Frankreich. Der andere ist genau über mir, während ich dies in meinem Haus in Wiltshire schreibe. Ein dritter ist, wie mir scheint, im Gebiet von Homburg-Wiesbaden. Das Verschwinden von Fliegern war es, was mich nachdenklich werden ließ. Natürlich hieß es allgemein, sie seien ins Meer gefallen,
doch mich konnte diese Erklärung keineswegs zufriedenstellen. Zuerst war es Verrier in Frankreich; seine Maschine wurde bei Bayonne gefunden, niemals aber sein Körper. Dann gab es den Fall von Baxter, der ebenfalls verschwand, obgleich sein Motor und einige Maschinenteile in einem Wald in Leicestershire gefunden wurden. Dr. Middleton aus Amesbury, der den Flug mit einem Teleskop verfolgte, erklärt, daß die Maschine, bevor sie in enormer Höhe in den Wolken verschwand, plötzlich mehrmals – und auf eine Weise, die er für unmöglich gehalten hätte – senkrecht emporgerissen wurde. Das war das letzte, was man von Baxter sah. Zeitungen gingen dem Fall nach, doch ohne Ergebnis. Es gab noch einige andere ähnliche Fälle, und auch den Tod von Hay Connor. Welche Aufregung dieses ungelöste Geheimnis der Lüfte entfachte, welche Kommentare die Groschenblätter dazu gaben – und wie wenig man doch tat, um den Dingen auf den Grund zu kommen! In einem gewaltigen Gleitflug war er aus unbekannten Höhen heruntergekommen. Er verließ seine Maschine nicht mehr und starb im Pilotensitz. Starb woran? Herzversagen, sagten die Ärzte. Unsinn! Hay Connors Herz war so gesund wie meines. Was sagte Venables? Venables war der einzige Mann, der dabei war, als er starb. Er sagte, Connor habe gezittert und ausgesehen wie ein Mann in furchtbarer Angst; er starb vor Angst, sagte Venables, der sich nicht vorstellen konnte, was diese Furcht erzeugt haben mochte. Zu Venables sagte er nur ein Wort, welches wie »gräßlich« klang. Damit konnten sie bei der Untersuchung nichts anfangen. Ich aber konnte es. Gräßlich! Das war des armen Harry Hay Connors letztes Wort. Und er starb wirklich vor Angst, genau wie Venables dachte. Und dann war da Myrtles Kopf. Glauben Sie wirklich – glaubt irgend jemand wirklich –, daß der Kopf eines Mannes durch die Kraft eines solchen Aufschlags einfach in seinen Körper gerammt werden könnte? Nun, vielleicht ist es möglich; ich jedenfalls habe niemals geglaubt, daß es bei Myrtle so war. Und das schmierige Zeug auf seiner Kleidung – alles über und über voll Fett, sagte jemand bei der Untersuchung. Seltsam, daß niemand sich darüber Gedanken gemacht hat! Ich tat es – freilich hatte ich mir schon lange Zeit meine Gedanken gemacht. Dreimal stieg ich auf – wie neckte mich immer Dangerfield wegen meines Schießgewehres – doch niemals kam ich hoch genug. Jetzt
allerdings, mit dieser leichten Paul-Veroner-Maschine und ihrer einhundertfünfundsiebzig PS Robur müßte ich morgen die dreißigtausend leicht erreichen. Ich werde einen Rekordversuch unternehmen. Vielleicht werde ich auch noch etwas anderes versuchen. Natürlich ist es gefährlich. Wer Gefahren scheut, sollte das Fliegen sein lassen und bei Pantoffeln und Morgenrock bleiben. Ich aber werde morgen in den Dschungel der Lüfte eindringen – und wenn es dort ein Geheimnis gibt, werde ich es erfahren. Sollte ich zurückkehren, werde ich eine Berühmtheit sein. Andernfalls mag dies Notizbuch erläutern, was meine Absicht war, und weshalb ich mein Leben verlor. Was ich keinesfalls wünsche, ist Gefasel von Unfällen oder Geheimnissen. Für das Vorhaben wählte ich meinen Paul-Veroner-Eindecker. Nichts geht über einen Eindecker, wenn es harte Arbeit zu leisten gilt. Beaumont fand das schon früh heraus. Vor allem bereitet ihm Luftfeuchtigkeit keine Schwierigkeit – das Wetter sieht jetzt aus, als würde ich dauernd in Wolken sein. Es ist ein braves kleines Flugzeug, das dem Steuerknüppel gehorcht wie ein gut erzogenes Pferd. Die Maschine ist ein Zehn-Zylinder-Sternmotor mit einer Spitzenleistung von einhundertfünfundsiebzig PS. Das Flugzeug hat all die modernen Verbesserungen – vollverkleideten Rumpf, hochgezogene Landekufen, Kreiselstabilisatoren und verstellbare Tragflächenneigung. Ich nahm ein Gewehr und Schrotpatronen mit. Als ich ihn anwies, letzteres an Bord zu bringen, sollten Sie Perkins, meinem alten Mechaniker, mal ins Gesicht gesehen haben. Mit zwei Pullovern unter meinem Overall, dicken Socken in meinen gefütterten Stiefeln, einer Sturmmütze mit Ohrenklappen und einer gewaltigen Schutzbrille war ich eingekleidet wie ein Arktisforscher. Vor den Hangars bekam ich kaum noch Luft, doch mein Ziel war gleichsam der Gipfel des Himalaya, und ich mußte entsprechend ausgerüstet sein. Perkins wußte, daß ich Besonderes vorhatte, und bat mich inständig, ihn mitzunehmen. Mit einem Doppeldecker hätte ich es vielleicht getan; ein Eindecker aber ist nur für einen Mann – wenn man die Grenze seiner Steigfähigkeit erreichen will. Natürlich führte ich Sauerstoff mit; wer das bei einem Höhenrekordversuch nicht tut, wird entweder erfrieren oder ersticken – oder beides.
Bevor ich in meinen Sitz kletterte, inspizierte ich genauestens die Tragflächen sowie die Seiten- und Höhenruder. Soweit ich sehen konnte, war alles in Ordnung. Dann ließ ich den Motor an, und stellte fest, daß er wunderbar lief. Dann zog man die Bremsklötze weg, und die Maschine erhob sich bereits bei niedrigster Geschwindigkeit. Nur um sie warmlaufen zu lassen, umkreiste ich ein- oder zweimal den Flugplatz, winkte Perkins und den andern zu, stellte dann die Flügel flach und ging auf volle Touren. Wie eine Schwalbe schoß sie acht oder zehn Meilen vor dem Wind dahin, bis ich die Nase etwas hochzog und in großen Spiralen zu dem Wolkenfeld über mir aufzusteigen begann. Es ist von größter Wichtigkeit, langsam an Höhe zu gewinnen und sich dabei den veränderten Druckverhältnissen gut anzupassen. Für einen englischen September war es ein warmer, fast schwüler Tag, und Regen lag in der Luft. Von Zeit zu Zeit kamen Windböen aus dem Südwesten – eine davon so heftig und unerwartet, daß sie mich ruckartig erfaßte und für einen Moment völlig aus der Bahn brachte. Ich entsinne mich noch der Zeit, da Windstöße, Wirbel und Turbulenzen ernste Gefahren waren – bevor wir lernten, unsere Motoren übermächtige Kraft zu verleihen. Als ich eben die Wolkenbank erreichte – der Höhenmesser stand auf dreitausend – kam der Regen. Es goß wie aus Eimern, darauf gebe ich mein Wort. Der Regen trommelte auf meine Tragflächen, peitschte mir ins Gesicht und überschwemmte meine Brille so, daß ich kaum noch etwas sehen konnte. Ich verringerte die Geschwindigkeit, denn die Tropfen schmerzten im Gesicht. Noch etwas höher wurde Hagel daraus, und ich mußte sehr darauf achten, ihn nicht von vorn zu bekommen. Einer meiner Zylinder arbeitete nicht mehr – eine verschmutzte Kerze, wie ich vermutete; trotzdem gewann ich mit ausreichenden Kraftreserven weiter an Höhe. Nach kurzer Zeit jedoch erledigte sich das Problem, was immer es war, von selbst, und ich hörte das volle, sonore Dröhnen des Motors – die zehn Zylinder sangen wie einer. Unsere modernen Schalldämpfer spielen da eine große Rolle. Endlich können wir unsere Motoren an Hand ihres Klanges überwachen. Wie sie kreischen oder schluchzen, wenn etwas nicht in Ordnung ist! Früher, als jedes mechanische Geräusch der Maschine in ihrem gräßlichen Auspuffgeknatter unterging, verhallten all diese Hilferufe ungehört.
Welch ein Erlebnis müßte es für die früheren Flieger sein, die heutige Schönheit und Perfektion der Mechanik zu bestaunen, für deren Weiterentwicklung sie mit ihrem Leben bezahlt haben! Etwa um neun Uhr dreißig näherte ich mich den Wolken. Tief unter mir, von Regenschleiern verdeckt, lag die weite Ebene von Salisbury. Ein halbes Dutzend anderer Maschinen befand sich in tausend Fuß Höhe – vor dem grünen Hintergrund sahen sie aus wie kleine schwarze Schwalben. Mit Sicherheit fragten sich ihre Piloten, was ich dort oben in den Wolken wohl vorhatte. Plötzlich ging unter mir ein grauer Vorhang zu, und die nassen Falten des Dampfes wirbelten um mein Gesicht. Ich selbst war klamm vor Kälte und fühlte mich elend. Immerhin, ich war oberhalb des Hagelschlags, und das war schon etwas. Die Wolke war dick und dunkel wie Londoner Nebel. In meinem Bestreben, aus ihr herauszukommen, zog ich das Flugzeug hoch, bis die automatische Warnglocke läutete, und begann dann regelrecht rückwärts zu gleiten. Die durchweichten, triefenden Flügel machten die Maschine schwerer als erwartet; dennoch erreichte ich bald die höheren Wolkengebiete, und binnen kurzem hatte ich die erste Schicht durchstoßen. Freilich war noch eine zweite, flockige, hoch über mir, wie eine weiße Decke, und zwischen ihr und dem dunklen Boden unter mir arbeitete sich der Eindecker in Spiralen weiter nach oben. In diesen Wolken herrscht tödliche Einsamkeit. Einmal kam ein großer Schwarm kleiner Wasservögel an mir vorbei und flog sehr rasch nach Westen. Das schnelle Schwirren ihrer Flügel und ihr musikalischer Schrei klangen angenehm in mein Ohr. Vermutlich waren es Krickenten, doch ist Zoologie nicht meine Stärke. Nun, da wir Menschen zu Vögeln geworden sind, müssen wir wirklich lernen, unsere Brüder zu erkennen. In dem starken Wind unter mir wirbelten und türmten sich die Wolkenbänke. Einmal entstand ein starker Wirbel, und durch den Strudel sah ich wie durch einen Trichter eine weit entfernte Welt. Ein großer weißer Doppeldecker flog tief unter mir vorbei. Ich nehme an, daß es das Postflugzeug nach Bristol war. Dann schoben sich die Wolkenmassen wieder zusammen, und wieder umgab mich große Einsamkeit.
Etwas nach zehn Uhr erreichte ich den unteren Rand der oberen Wolkenschicht. Sie bestand aus feinem, durchscheinendem Dunst, der sich rasch in östlicher Richtung bewegte. Während der ganzen Zeit hatte der Wind sich ständig verstärkt und war nun zu einer steifen Brise geworden – mein Instrument zeigte achtundzwanzig Meilen pro Stunde an. Auch war es bereits sehr kalt, obgleich ich erst eine Höhe von neuntausend Fuß erreicht hatte. Der Motor arbeitete großartig, und ich setzte meinen gleichmäßigen Steigflug fort. Die Wolkenbank war dicker, als ich dachte, doch zum Schluß verdünnte sie sich zu goldenem Dunst, und einen Augenblick später schoß ich durch sie hindurch, und über mir war wolkenloser Himmel und strahlende Sonne – Blau und Gold hoch oben, leuchtendes Silber unter mir, eine weite, schimmernde Ebene, soweit mein Auge reichte. Es war viertel nach zehn. Die Nadel des Barographen zeigte zwölftausendachthundert. Höher stieg ich und höher, mit den Ohren ständig das tiefe Dröhnen des Motors verfolgend, die Blicke hingegen auf die Uhr, den Drehzahlmesser und den Kraftstoff- und Ölanzeiger gerichtet. Kein Wunder, daß man Flieger für furchtlos hält. Wenn man so viele Dinge aufmerksam verfolgen muß, hat man kaum Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Etwa in dieser Phase bemerkte ich, wie unzuverlässig der Kompaß wird, sobald man einmal eine gewisse Höhe erreicht hat. Bei fünfzehntausend Fuß zeigte der meine fast genau nach Osten. Die Sonne und auch der Wind lieferten mir die wirklichen Werte. Ich hatte gehofft, in diesen großen Höhen eine Region der ewigen Stille zu erreichen, doch wurde der Wind noch stärker, je weiter ich aufstieg. Meine Maschine heulte und schüttelte sich, wenn sie dagegen ankämpfte, und wurde wie ein Blatt Papier zur Seite geblasen, wenn es in eine Wende ging; in diesen Augenblicken erreichte ich wohl eine größere Fallgeschwindigkeit als irgendein Sterblicher zuvor. Dennoch mußte ich immer wieder wenden und mich dem Wind entgegenstemmen, denn ich hatte nicht nur einen Höhenrekord im Sinn. Auf Grund meiner Berechnungen mußte mein Luft-Dschungel etwa über Klein-Wiltshire liegen, und all meine Anstrengungen konnten vergebens sein, wenn ich die äußeren Schichten an einem zu entfernten Punkt erreichte. Als ich eine Höhe von neunzehntausend Fuß erreichte, was etwa um Mittag der Fall war, wurde der Wind so stark, daß ich die Verstrebungen
meiner Tragflächen mit einiger Sorge betrachtete, in der leisen Befürchtung, daß sie nachgeben oder gar brechen könnten. Ich schnallte sogar den mitgeführten Fallschirm an meinen ledernen Gürtel, um so für das Schlimmste gerüstet zu sein. Jetzt war die Zeit gekommen, wo ein klein wenig Schlamperei des Mechanikers das Leben des Piloten kosten kann. Doch die Maschine hielt sich tapfer. Jedes Drahtseil, jede Verstrebung summte und vibrierte wie eine Harfensaite; dennoch war es großartig, zu sehen, wie das Flugzeug trotz all der Stöße und Schläge sich als Eroberer der Natur und Beherrscher des Himmels erwies. Ohne jeden Zweifel ist etwas Göttliches im Menschen, das ihn befähigt, die Grenzen, die ihm die Schöpfung gesetzt hat, zu überschreiten – zuweilen in einer so selbstlosen, heroischen Hingabe, wie diese Eroberung des Luftraums es zeigt. Wer möchte da noch von einem Niedergang des Menschen sprechen! Wann sind jemals solche Kapitel in die Annalen unserer Art geschrieben worden? Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich mich weiter nach oben schraubte. Einmal peitschte mir der Wind ins Gesicht, dann wieder pfiff er mir aus allen möglichen Richtungen um die Ohren, und die Wolkenlandschaft unter mir war nun schon so weit entfernt, daß ihre silbrigen Falten und Hügel zu einer einzigen schimmernden Fläche verschwammen. Plötzlich jedoch ereignete sich etwas Unvorhergesehenes, Schreckliches. Schon öfter war ich mit meiner Maschine in das geraten, was unsere Nachbarn jenseits des Kanals einen Tourbillon nennen, niemals jedoch in einen von solcher Heftigkeit. Die schon erwähnte gewaltige Windströmung wies offenbar Wirbel von ebenso großer Heftigkeit auf. Abrupt, ganz ohne Vorwarnung, wurde ich ins Zentrum einer solchen Turbulenz gerissen. Ein bis zwei Minuten lang schleuderte es mich mit derartiger Vehemenz herum, daß ich fast das Bewußtsein verlor, und dann fiel ich plötzlich, mit dem linken Flügel voraus, in den fast luftleeren Raum in der Mitte des Wirbels. Wie ein Stein sauste ich in die Tiefe und verlor beinahe tausend Fuß. Meinem Anschnallgurt habe ich es zu verdanken, daß ich nicht aus meinem Sitz geschleudert wurde; durch den Schock und die Atemnot hing ich halb bewußtlos über den Rumpf hinaus. Mein großer Vorzug als
Pilot ist, daß ich entscheidenden Augenblicken einer fast übermenschlichen Kraftanstrengung fähig bin. Ich spürte, daß sich mein Fall verlangsamte. Der Wirbel war mehr konisch als trichterförmig, und ich hatte jetzt den Scheitelpunkt erreicht. Mein ganzes Gewicht auf eine Seite werfend, konnte ich die Maschine in eine waagrechte Lage bringen und dann ihre Nase aus dem Wind drehen. Einen Augenblick später war ich dem Wirbel entronnen und hatte den Vogel wieder in der Gewalt. Erschöpft und doch voller Siegesfreude zog ich das Höhenruder wieder an und begann von neuem, mich in Spiralen emporzuwinden. In weiter Kurve umflog ich die gefährliche Turbulenz, und hatte sie bald unter mir gelassen. Kurz nach ein Uhr war ich auf einundzwanzigtausend Fuß über dem Meeresspiegel. Zu meiner großen Freude flog ich nun über dem Sturm, und die Luft wurde um so ruhiger, je mehr ich an Höhe gewann. Andererseits war es überaus kalt, und das eigentümliche Übelkeitsgefühl, das einen in den dünneren Luftschichten befallen kann, machte sich bemerkbar. Zum erstenmal öffnete ich das Ventil meines Sauerstoffgerätes, und atmete dann von Zeit zu Zeit daraus ein. Das Gas wirkte auf mich wie ein Stärkungsmittel, und ich geriet in eine trunken-euphorische Stimmung. Singend und johlend stieg ich weiter hinauf in die kalte, unbekannte Welt über mir. Für mich gibt es keinen Zweifel, daß die Bewußtseinsstörungen, die Glaisher und in geringerem Maße auch Coxwell erlitten, als sie 1862 mit einem Ballon eine Höhe von dreißigtausend Fuß erreichten, der extremen Geschwindigkeit eines senkrechten Aufstiegs zuzuschreiben sind. Wenn man hingegen in flachem Winkel an Höhe gewinnt und sich nach und nach dem verringerten Luftdruck anpaßt, bleiben die schrecklichen Symptome aus. Als auch ich diese gewaltige Höhe erreicht hatte, stellte ich fest, daß auch ohne Zuhilfenahme des Sauerstoffgeräts noch eine beschwerdenfreie Atmung möglich war. Freilich war es jetzt bitterkalt; mein Thermometer zeigte null Grad Fahrenheit an. Um ein Uhr dreißig war ich schon auf fast sieben Meilen Höhe und stieg ständig weiter. Allerdings bemerkte ich, daß die dünne Luft meinen Flügeln jetzt fühlbar weniger Auftrieb verlieh und daß sich infolgedessen mein Steigungswinkel beträchtlich abgeflacht hatte. Es war bereits klar, daß trotz des geringen Gewichtes und der starken Motorleistung der Maschine bald der Punkt erreicht sein würde, wo ich nicht mehr an
Höhe gewinnen konnte. Unglücklicherweise war da auch noch eine Kerze, die Schwierigkeiten machte, was immer wieder zu Fehlzündungen führte. Die Angst vor dem Scheitern lastete schwer auf mir. Etwa zu diesem Zeitpunkt hatte ich ein höchst seltsames Erlebnis. Einen Rauchschweif hinterlassend, fauchte etwas an mir vorbei und explodierte dann mit lautem, zischendem Geräusch, wobei eine Dampfwolke freigesetzt wurde. Momentan konnte ich mir nicht vorstellen, was geschehen war. Dann fiel mir ein, daß die Erde einem Bombardement von Meteorsteinen ausgesetzt ist und kaum bewohnbar wäre, würden diese nicht in fast allen Fällen schon in den äußeren Schichten der Atmosphäre durch die Luftreibung verdampfen. Dies bedeutet eine zusätzliche Gefahr für den Höhenflieger; tatsächlich flogen zwei weitere an mir vorbei, als ich mich der Vierzigtausend-Fuß-Marke näherte. Es kann kein Zweifel bestehen, daß das Risiko im obersten Abschnitt der irdischen Lufthülle beträchtlich sein muß. Meine Barographennadel zeigte einundvierzigtausenddreihundert, als ich feststellte, daß ich nicht weiter an Höhe gewann. Für mich war die körperliche Anstrengung bis jetzt noch erträglich, meine Maschine jedoch hatte ihre Leistungsgrenze erreicht. Die dünne Luft trug die Flügel nicht so sicher wie gewohnt, und die geringste Seitenneigung führte zum Abschmieren, wobei das Flugzeug nur träge auf ausgleichende Ruderbewegungen reagierte. Hätte die Maschine volle Leistung gebracht, wären weitere tausend Fuß vielleicht möglich gewesen, doch es gab weiter Fehlzündungen, und zwei der zehn Zylinder schienen nicht zu arbeiten. Wenn ich die Zone, die ich suchte, noch nicht erreicht hatte, würde es mir auf diesem Flug auch nicht mehr gelingen. Aber hatte ich es nicht möglicherweise bereits geschafft? In vierzigtausend Fuß Höhe wie ein riesiger Habicht kreisend, überließ ich den Eindecker sich selbst und beobachtete durch mein Fernglas sorgfältig die Umgebung. Der Himmel war völlig klar; es gab kein Anzeichen für die Gefahren, die ich befürchtet hatte. Wie schon gesagt, bewegte ich mich in Kreisen. Plötzlich kam mir der Gedanke, daß es gut wäre, einen weiteren Bogen zu beschreiben, um einen anderen Luftbereich zu durchqueren. Auch auf der Erde mußte ein
Jäger so lange tiefer in den Dschungel vorstoßen, bis er sein Wild gefunden hatte. Meine Überlegungen hatten mich zu der Annahme geführt, daß der von mir vermutete Luft-Dschungel irgendwo über Wiltshire lag. Dies mußte südwestlich von meiner jetzigen Position sein. Ich orientierte mich nach dem Sonnenstand, nachdem der Kompaß ja unbrauchbar und auch von der Erde nichts zu sehen war – nichts als das ferne silbrige Wolkenfeld. Ich bestimmte also meine Richtung, so gut es ging, und hielt geradewegs auf mein Ziel zu. Mein Brennstoffvorrat würde für mich nicht ganz eine Stunde mehr reichen, doch konnte ich mir erlauben, ihn bis zum letzten Tropfen aufzubrauchen, da es mir jederzeit möglich war, im Gleitflug zur Erde zurückzukehren. Plötzlich war da irgend etwas Neues. Die Luft vor mir hatte ihre kristallene Klarheit verloren. Sie war voll von langen, unregelmäßig geformten Schwaden, die man nur mit feinem Zigarettenrauch vergleichen konnte. Sie hingen in Kringeln und Spiralen herum, die sich langsam im Sonnenlicht bewegten und ineinander verschlangen. Als der Eindecker durch sie hindurchschoß, gewahrte ich leichten Ölgeschmack auf meinen Lippen, und auf der Beplankung der Maschine setzte sich feiner, fettiger Schaum ab. Irgendeine unendlich dünne organische Materie schien in der Atmosphäre aufgelöst zu sein. Um Leben handelte es sich freilich nicht. Die diffuse Materie erstreckte sich über beträchtliche Entfernung und verlor sich dann im leeren Raum. Nein, es war kein Leben. Konnte es sich aber vielleicht um ein Überbleibsel von Leben handeln? Vor allem, konnte es nicht Nahrung für Leben sein, für ungeheures, gewaltiges Leben, so wie das bescheidene Plankton des Meeres Nahrung für den mächtigen Wal ist? Das waren meine Gedanken, als ich meine Augen nach oben wandte und das Schönste sah, was ein Menschenauge jemals erblickt hat. Kann ich hoffen, es Ihnen zu vermitteln, so wie ich es selbst letzten Donnerstag sah? Stellen Sie sich eine Qualle vor, wie sie bei uns im Meer schwimmen, glockenförmig und von enormer Größe – weitaus größer, möchte ich meinen, als die Kuppel der St. Pauls Kathedrale. Die Farbe war ein helles Rosa, von zarten grünen Linien unterbrochen, das ganz riesengroße Gewebe jedoch so dünn, daß es vor dem dunkelblauen Himmel nur wie ein leichter Schleier war. Es pulsierte in leichtem, regelmäßigem Rhythmus. Von ihm hingen zwei lange grüne Fühler herab, die langsam
nach hinten und vorne schwangen. Leicht und zerbrechlich wie eine Seifenblase zog das großartige Gebilde ruhig und unbeirrbar seine Bahn. Ich hatte eine Wende gemacht, um dem schönen Geschöpf länger nachschauen zu können, als ich mich plötzlich inmitten einer ganzen Flotte von ihnen befand; ihre Ausmaße waren unterschiedlich, doch erreichte keines davon die Größe des ersten. Einige waren sogar ziemlich klein, die Mehrzahl hingegen vom Format eines gewöhnlichen Ballons, dem sie auch im oberen Teil ihres Umrisses ähnelten. Die Zartheit ihrer Struktur und Farbe erinnerte mich an feinstes venezianisches Glas. Helle Nuancen von Rosa und Grün herrschten vor, alle zeigten ein liebliches Schillern, wenn immer die Sonne durch ihre anmutigen Formen hindurchschien. Einige Hundert von ihnen trieben an mir vorbei, ein feenhaft schöner Schwarm von seltsamen, unbekannten Himmelsschiffen, Geschöpfen, deren Form und Substanz so sehr der großen Höhe entsprach, daß man sich nichts von ähnlicher Zartheit im unmittelbaren Bereich des Erdballs vorstellen konnte. Bald jedoch galt meine Aufmerksamkeit einem neuen Phänomen – den Schlangen des äußeren Luftraums; es waren lange, dünne, phantastische Windungen dunstfeiner Substanz, die sich mit großer Geschwindigkeit drehten und wendeten und dabei so schnell umherflogen, daß das Auge ihnen kaum folgen konnte. Einige dieser geisterhaften Geschöpfe waren zwanzig oder dreißig Fuß lang, ihr Umfang freilich war schwer zu bestimmen, denn ihre Umrisse waren so hauchzart, daß sie mit der sie umgebenden Luft zu verschmelzen schienen. Diese Luftschlangen waren von hellem Grau oder rauchfarben und wiesen im Inneren dunklere Linien auf, die sie wie lebende Organismen wirken ließen. Eine von ihnen fuhr ganz nahe an meinem Gesicht vorbei, und ich hatte den Eindruck einer kalten, feuchten Berührung; freilich war ihre Konsistenz von so überaus geringer Dichte, daß sie mir keinerlei körperliche Angst einflößen konnten, genauso wenig wie die schönen glockenförmigen Geschöpfe, die ich vor ihnen gesehen hatte. Ihre Körper besaßen nicht mehr Festigkeit als der fliegende Gischt einer gebrochenen Woge. Doch ein weit schrecklicheres Erlebnis stand mir erst bevor. Aus großer Höhe senkte sich eine purpurne Wolke herab, klein noch in dem
Augenblick, da ich ihrer zuerst ansichtig wurde, dann aber rasch größer werdend, bis sie schließlich Hunderte von Quadratfuß an Ausdehnung erreichte. Obwohl aus einer durchsichtigen, gelatineartigen Substanz bestehend, wies sie doch klarere Umrisse auf und war von festerer Beschaffenheit als alles, was ich zuvor gesehen hatte. Auch eine größere Anzahl von Spuren eines physischen Organismus waren zu bemerken, besonders zwei große, dunklere, runde Flächen an beiden Seiten, die Augen sein mochten, und ein ungemein fest anmutender weißer Vorsprung zwischen ihnen, dessen gefährliches Aussehen das eines gekrümmten Geierschnabels war. Der ganze Anblick dieses Ungeheuers wirkte furchtbar und bedrohlich, besonders da seine Farbe ständig von einem sehr leichten Rosa in ein dunkles, zorniges Purpur wechselte, das dicht genug war, einen Schatten auf meinen Eindecker zu werfen, als es zwischen ihm und der Sonne hindurchtrieb. Auf der Oberseite seines riesigen Körpers waren drei große Vorsprünge, die ich nur als gewaltige Blasen bezeichnen kann, und nach genauerer Betrachtung war ich davon überzeugt, daß sie irgendein überaus leichtes Gas enthielten, welches die unförmige, halbfeste Masse in der dünnen Luft in der Schwebe hielt. Sich rasch von der Stelle bewegend, hielt das Geschöpf mühelos Schritt mit dem Eindecker, und für zwanzig oder noch mehr Meilen war es mein schrecklicher Begleiter, über mir schwebend wie ein Raubvogel, der jeden Augenblick herunterstoßen konnte. Es bewegte sich fort, indem es – so schnell, daß das Auge kaum folgen konnte – eine Art langen, feucht aussehenden Schleier nach vorne warf, der seinerseits den restlichen, sich windenden Körper hinter sich nachzog. Er war so gallertartig und elastisch, daß seine Form nie länger als zwei Minuten lang die gleiche war, und jede neue Veränderung schien sein Aussehen noch widerwärtiger und bedrohlicher zu machen. Ich wußte, daß mir Schlimmes bevorstand. Jede purpurne Farbwallung des scheußlichen Gebildes sagte es mir. Die leeren, glotzenden, stets auf mich gerichteten Augen waren kalt und gnadenlos in ihrem ekligen Haß. Ich drückte die Nase meines Eindeckers nach unten, um der Bedrohung zu entgehen. Im gleichen Augenblick schoß blitzschnell ein langer Fühler aus der Masse schwebenden Trans und fiel leicht und gewellt wie eine Peitschenschnur über das Vorderteil meiner Maschine. Es gab ein lautes
Zischen, als es sich für einen Moment um den heißen Motor legte, während das riesige flache Gebilde sich wie in plötzlichem Schmerz zusammenzog. Ich ging in den Sturzflug über, doch wieder fiel ein Fangarm über den Eindecker und wurde von dem Propeller so leicht durchschlagen, als sei es ein Rauchkringel. Ein langer, klebriger, schlangenartiger Arm kam von hinten, umfaßte meinen Körper und zog mich fast von meinem Sitz. Meine Finger in die glatte, schleimige Oberfläche stoßend, zerrte ich daran und konnte mich für einen Augenblick befreien, nur um an Stiefel von einem anderen Tentakel erfaßt zu werden, der mich mit einem Ruck beinahe auf den Rücken warf. Während ich hintüber fiel, schoß ich beide Läufe meiner Schrotflinte ab. Genausogut hätte ich mit Erbsen auf einen Elefanten schießen können, so abwegig war die Idee, daß irgendeine menschliche Waffe diesem Gebilde etwas antun würde. Und doch hatte ich besser gezielt, als ich ahnte, denn eine der großen Blasen auf dem Rücken des Wesens zerplatzte, von Schrotkugeln getroffen. Es zeigte sich, daß meine Vermutung richtig gewesen war und daß diese gewaltigen, durchscheinenden Schwellungen ein auftriebverleihendes Gas enthielten; denn der riesige, wolkenartige Körper drehte sich sofort zur Seite und bemühte sich verzweifelt, wieder ins Gleichgewicht zu kommen, während der weiße Schnabel sich in schrecklicher Wut weit aufsperrte und dann wieder zuschnappte. Ich war indessen in den steilsten Sturzflug übergegangen, den ich mir zutraute, und der mit Höchstleistung drehende Motor und die Schwerkraft rissen mich nach unten wie einen Meteor. Weit hinter mir sah ich einen stumpf purpurnen Fleck, der schnell kleiner wurde und dann mit dem blauen Himmel dahinter verschmolz. Ich war dem tödlichen Dschungel der äußeren Atmosphäre entronnen. Sobald ich aus der Gefahrenzone war, nahm ich das Gas weg, denn nichts verschleißt einen Motor schneller als ein Sturzflug bei Überdrehzahl. In etwa acht Meilen Höhe ging ich in einen sanften Gleitflug über, passierte zuerst die silbern schimmernde Wolkenbank, dann die Gewitterwolken darunter, und sah dann bei strömendem Regen die Erdoberfläche wieder. Der Kanal von Bristol lag unter mir, als ich die Wolken durchstieß, doch flog ich mit dem Rest meines Brennstoffs noch
zwanzig Meilen landeinwärts, bevor ich eine halbe Meile von Ashcombe entfernt auf einem Felde niederging. Ein vorbeikommender Autofahrer überließ mir einige Liter Benzin, und nach einer Reise, die kein Sterblicher auf Erden je unternommen und überlebt hat, landete ich sanft auf meiner eigenen Wiese in Devizes. Ich habe die Schönheit und auch die Schrecken der Höhe gesehen – und größere Schönheit oder größeren Schrecken wird ein Mensch wohl niemals schauen. Und jetzt will ich nochmals dorthin, bevor ich meinen Bericht der Öffentlichkeit übergebe. Der Grund dafür ist, daß ich eines Beweises bedarf, wenn meine Geschichte geglaubt werden soll. Zwar werden mir in kurzer Zeit andere folgen und meine Darstellung bestätigen, und dennoch möchte ich, daß meine Darstellungen von Anfang an überzeugen. Die lieblich schillernden Luftblasen einzufangen, sollte nicht allzu schwierig sein. Sie treiben langsam dahin, und mit dem schnellen Eindecker ist es möglich, sich ihnen geschwinde zu nähern. Zwar ist anzunehmen, daß sie sich in den dichteren Luftschichten auflösen werden und daß ein kleines Häufchen gestaltloser Masse alles sein wird, was ich zur Erde zurückbringen werde. Und dennoch hätte ich dann etwas, was meine Geschichte beweisen würde. Ja, ich muß wieder hinauf, selbst wenn ich dabei ein Risiko laufe. Jene purpurnen Schreckgespenster schienen nicht allzu zahlreich zu sein. Wahrscheinlich ist, daß ich keinem davon begegnen werde. Sollte es trotzdem der Fall sein, werde ich sofort in den Sturzflug gehen. Schlimmstenfalls habe ich immer noch mein Gewehr und meine Kenntnis der… Unglücklicherweise fehlt hier ein Blatt des Manuskripts. Auf der folgenden Seite steht in großer, merkwürdig verzerrter Handschrift: Dreiundvierzigtausend Fuß. Ich werde die Erde nie wieder sehen. Drei von ihnen sind unter mir. Gott sei mir gnädig; es ist ein grauenhafter Tod! Das ist der Joyce-Armstrong-Bericht in voller Länge. Von dem Mann selbst wurde nie mehr etwas gesehen. Trümmer seines zerschmetterten Eindeckers sind an der Grenze. zwischen Kent und Sussex auf dem
Land von Mr. Budd-Lushington gefunden worden, einige Meilen von dem Punkt entfernt, wo man das Notizbuch entdeckte. Wenn des unglücklichen Fliegers Theorie zutrifft, daß dieser Luft-Dschungel, wie er ihn nannte, nur über dem Südwesten Englands existiert, dann ist anzunehmen, daß er mit Höchstgeschwindigkeit aus ihm entfliehen wollte, dann aber irgendwo oberhalb des Ortes, wo man die traurigen Überreste entdeckte, von diesen schrecklichen Kreaturen eingeholt und verschlungen wurde. Sicherlich wird es viele geben, welche die hier von mir vorgetragenen Tatsachen nicht ernst nehmen wollen – darüber mache ich mir keine Illusionen. Doch auch sie müssen zugeben, daß Joyce-Armstrong auf seltsame Weise verschwunden ist. Originaltitel: THE HORROR OF THE HEIGHTS Copyright 1947 by All Fiction Field, Inc. Aus FUTURES UNLIMITED, edited by Alden Norton Copyright © 1969 by Alden Norton Übersetzt von Rudolf Mühlstrasser
Arthur C. Clarke
TITANENKAMPF 1 Die Queen Elisabeth stand fast fünftausend Meter über dem Grand Canyon und zog mit gemütlichen dreihundert Stundenkilometern durch die Luft, als Howard Falcon die Kameraplattform bemerkte, die von rechts heranschwenkte. Das hatte er erwartet, denn nichts sonst durfte in dieser Höhe fliegen, aber sehr glücklich war er über diese Gesellschaft nicht. Das Interesse der Öffentlichkeit war ihm selbstverständlich willkommen, aber noch lieber wäre ihm ein völlig leerer Himmel gewesen. Schließlich war er der erste Mann der Geschichte, der ein Schiff navigierte, das fünfhundert Meter lang war. Bisher war sein erster Testflug gut verlaufen; es war eigentlich eine Ironie, daß die einzige Schwierigkeit von dem hundertjährigen Flugzeugträger Chairman Mao herrührte, den man sich für den Start vom Flottenmuseum in San Diego ausgeborgt hatte. Nur einer von Maos vier Atomreaktoren funktionierte nämlich, und die Höchstgeschwindigkeit des alten Kampfschiffes betrug kaum dreißig Knoten. Zum Glück war die Windgeschwindigkeit über See nur halb so groß wie die des Schiffes, und so war es nicht allzu schwierig gewesen, auf dem Flugdeck ruhige Luft zu bekommen. Ein paar besorgte Augenblicke hatte es zwar gegeben, als die Leinen losgeworfen wurden, aber das riesige lenkbare Luftschiff war dann glatt und geradewegs in den Himmel gestiegen, als werde es von einem unsichtbaren Lift in die Höhe gehoben. Wenn alles gut weiterginge, würde die Queen Elisabeth IV erst in einer Woche wieder über dem Chairman Mao aufkreuzen. Alles war unter Kontrolle. Die Testinstrumente zeigten normale Werte. Commander Falcon beschloß nach oben zu gehen und das Rendezvous zu beobachten. Er übergab also das Kommando an seinen Zweiten Offizier und ging hinaus in den transparenten Rohrgang, der durch das Herz des Schiffes führte. Hier war er, wie immer, überwältigt von dem
einmaligen Schauspiel des riesigsten Raumes, den der Mensch jemals in die Luft geschickt hatte. Die zehn kugelförmigen Gaszellen, von denen jede einen Durchmesser von mehr als dreißig Meter hatte, standen wie riesige Seifenblasen in einer Reihe hintereinander. Die ungeheuer zähe Kunststoffhaut war so klar, daß er durch die ganze Reihe schauen konnte. Alles um ihn herum wirkte wie ein dreidimensionaler Irrgarten; es waren der Rahmen und das Stützwerk des Schiffes. Die großen Längsträger liefen vom Bug bis zum Heck, und die fünfzehn Querstreifen waren die Rippen dieses Kolosses der Lüfte. Die sich zum Heck hin verjüngende Form des stromlinienförmigen Schiffes sah ungemein graziös aus. Bei geringerer Geschwindigkeit gab es wenig Lärm. Nur der Wind strich über die Hülle, und gelegentlich ächzte es metallisch, wenn sich irgendwo in der Konstruktion die Belastung verschob. Das schattenlose Licht von den Lampenreihen hoch oben tauchte die Szenerie in einen seltsamen Unterwasserschimmer; dieser Eindruck wurde für Falcon noch von den durchsichtigen Gasballonen unterstrichen. Einmal war er vor Australien einem Schwarm großer, aber harmloser Quallen begegnet, die über einem Unterwasser-Riff dahintrieben, und an diese Quallen erinnerten ihn die Gasballone der Queen Elisabeth oft, besonders dann, wenn sie infolge einer Druckveränderung die Oberflächenspannung veränderten und überallhin neue Muster reflektierten Lichtes warfen. Er schlenderte die Schiffsachse entlang, bis er zum vorderen Lift kam, der zwischen den Gaszellen 1 und 2 lag. Er fuhr zum Beobachtungsdeck hinauf, bemerkte, daß es ungemütlich heiß war, und diktierte in seinem Taschenbandgerät eine kurze Notiz. Die Queen Elisabeth bezog etwa ein Viertel ihrer Antriebsenergie von der fast unbegrenzten Abwärme der Kernkraftanlage. Auf dieser Fahrt ohne große Ladung waren nur sechs der zehn Gaszellen mit Helium gefüllt, die vier restlichen mit Luft. Trotzdem trug sie noch zweihundert Tonnen Wasserballast. Wenn jedoch die Zellen zu hohen Temperaturen ausgesetzt waren, gab es leicht Schwierigkeiten bei der Kühlung der Leitungen. Hier mußte also noch etwas geschehen. Als er dann auf das Aussichtsdeck hinaustrat, schlug ihm ein Schwall erfrischender Luft entgegen. Blendendes Sonnenlicht strömte durch das
Dach aus Plexiglas. Sechs Arbeiter mit einer gleichen Anzahl von Superchimps als Assistenten legten hier die Tanzfläche aus, während andere die Elektro- und Sanitärinstallationen besorgten; eine dritte Gruppe baute schon die Möbel zusammen. Es war eine Szene gesteuerten Durcheinanders, und Falcon konnte, wenn er dieses Chaos sah, nicht daran glauben, daß zur Jungfernfahrt in vier Wochen alles fertig sein sollte. Nun, sein Problem war das ja nicht, und er war froh darum. Er war nur der Kapitän, nicht der Direktor des Luftschiffes. Die menschlichen Arbeiter winkten ihm zu, und die Simps und Chimps fletschten das Gebiß, was als Lächeln zu gelten hatte, als er durch das Chaos zur bereits fertigen Himmelsdiele weiterging. Das war im ganzen Schiff sein Lieblingsplatz, und er wußte, daß er ihn niemals mehr für sich allein haben würde, war das Schiff erst einmal in Dienst gestellt. Jetzt wollte er nur fünf Minuten haben, um sich daran freuen zu können. Er rief die Brücke an und überzeugte sich, daß alles in Ordnung war, und dann ließ er sich in einen der gemütlichen Drehsessel fallen. Unter ihm lag die glatte Silberhaut der Schiffshülle. Er saß hier auf dem höchsten Punkt des Schiffes und überschaute von hier aus das riesigste Fortbewegungsmittel, das je von Menschenhand gebaut worden war. Und wenn er des Anblickes müde wurde, brauchte sein Blick nur zum Horizont zu schweifen, wo der Colorado River vor einer halben Jahrmilliarde diese phantastische Wildnis in den Fels gegraben hatte. Die Kameraplattform war nun ein wenig zurückgefallen und filmte mittschiffs, und so hatte er den ganzen Himmel für sich allein. Er war blau und leer und klar bis zum Horizont. In den Tagen seines Großvaters war er von Schmutz und Rauch verseucht und mit Streifen von Verbrennungsgasen durchzogen gewesen. Beides gab es nicht mehr. Der ganze Luftmüll aus Großvaters Zeiten war zusammen mit der primitiven Technologie, die diesen Müll erzeugt hatte, verschwunden, und die Ferntransporte der Gegenwart spielten sich so hoch über der Stratosphäre ab, daß sie von der Erde aus weder zu sehen noch zu hören waren. Nun gehörte die untere Atmosphäre wieder den Vögeln und den Wolken – und jetzt auch der Queen Elisabeth IV.
Die alten Flugpioniere hatten schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts festgestellt, daß dies die einzige Möglichkeit war, zu reisen – ohne Lärm, mit allem Luxus; man war nicht von der umgebenden Luft abgeschlossen, sondern man konnte sie atmen und war der Erdoberfläche nahe genug, um die Schönheiten von Land und Meer bewundern zu können. Die Überschall-Düsenmaschinen der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts waren mit Hunderten von Passagieren vollgestopft gewesen, die in Zehnerreihen nebeneinander saßen, und von diesem Flugzeugtyp zur Queen mit ihrer Behaglichkeit, die keine Raumenge kannte, war ein weiter Weg gewesen. Natürlich war die Queen keine absolut wirtschaftliche Angelegenheit, und selbst dann, wenn das geplante Schwesterschiff gebaut wurde, konnte sich nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung der Vorzüge einer solchen Reise erfreuen. Eine soziologisch stabile und wirtschaftlich blühende globale Völkergemeinschaft konnte sich jedoch solche Launen erlauben und brauchte sie sogar zur Unterhaltung und als reizvolle Neuheit. Mindestens eine Million Menschen gab es auf der Erde, deren geschätztes Einkommen tausend neue Dollar im Jahr überstieg, so daß also die Queen um Fahrgäste niemals verlegen sein würde. Falcons Taschensprechgerät piepte. Der Kopilot rief von der Brücke. »Alles okay zum Rendezvous, Captain? Wir haben alle Daten, die wir brauchen, und die TV-Leute werden allmählich ungeduldig.« Falcon blickte zur Kameraplattform hinüber, die nun in kurzem Abstand zur Queen mit gleicher Geschwindigkeit flog. »Okay«, erwiderte er. »Machen Sie alles so, wie geplant. Ich sehe von hier oben aus zu.« Er ging zurück über das Aussichtsdeck, um von mittschiffs einen besseren Überblick zu haben. Er spürte, wie sich unter seinen Füßen das Vibrieren veränderte. Als er am anderen Ende des Decks angelangt war, hing das Schiff bewegungslos in der Luft. Mit seinem Universalschlüssel öffnete er die Tür zu einer kleinen Außenplattform ganz am Ende des Decks. Hier konnten fünf oder sechs Leute stehen, und nur ein niederes Geländer trennte sie von der riesigen Hülle – und vom Erdboden. Es war ein faszinierender Aufenthaltsort und absolut sicher, auch wenn das Schiff mit großer Reisegeschwindigkeit unterwegs war. Diese winzige
Plattform befand sich nämlich im toten Winkel der Wölbung des Aussichtsdecks. Trotzdem dachte man nicht daran, sie den Passagieren jemals zugänglich zu machen. Die Aussicht war ein wenig zu schwindelerregend. Die mächtigen Flügel der vorderen Ladeluke waren bereits geöffnet, und die Kameraplattform bereitete sich darauf vor, auf Schiffshöhe herunterzugehen. Später sollten auf diese Weise Tausende von Passagieren und viele Tonnen an Fracht befördert werden. Nur bei seltenen Gelegenheiten würde die Queen auf Meeresspiegelhöhe herabgehen und am Schwimmdock festmachen. Ein plötzlicher Windstoß traf Falcon, und er griff ein wenig fester um den Handlauf des Geländers. Über dem Grand Canyon gab es immer viele Turbulenzen, obwohl er in dieser Höhe keine Störung von ihnen erwartete. Ohne wirklich besorgt zu sein, beobachtete er die sich allmählich herabsenkende Plattform, die nun ungefähr fünfzig Meter über dem Schiff schwebte. Er wußte, daß der Steuermann, der dieses ferngelenkte Fahrzeug leitete, dieses Manöver mindestens schon ein Dutzendmal durchgeführt hatte. Es war undenkbar, daß er diesmal Schwierigkeiten haben sollte. Und doch schien er ein wenig unbeholfen zu reagieren. Der letzte Windstoß hatte die Plattform fast an den Rand der offenen Luke getrieben. Das hätte der Steuermann ohne weiteres korrigieren können. Hatte es beim Abfangen des Windstoßes Probleme gegeben? Das erschien dem Captain unwahrscheinlich. Diese Fernsteuerung verfügte über mehrfache Sicherungen und automatische Steuerkorrekturen, so daß man von Unfällen mit diesem System bisher kaum etwas gehört hatte. Aber wieder scherte die Plattform nach links aus. War denn der Steuermann betrunken? Und mochte es auch noch so unwahrscheinlich sein, Falcon dachte doch einen Moment lang an diese Möglichkeit. Dann griff er nach dem Mikrophon. Wieder schlug ihm ein heftiger Windstoß ins Gesicht, ganz ohne Vorankündigung. Doch das spürte er kaum, denn sein entsetzter Blick hing an der Kameraplattform. Der Fernsteuermann kämpfte anscheinend darum, das Fahrzeug wieder in die Hand zu bekommen und
es mit dem Einsatz der Düsen zu stabilisieren. Aber damit machte er die Sache nur noch schlimmer. Die Schräglage verstärkte sich; zwanzig Grad, vierzig, sechzig, neunzig… »Auf Automatik schalten, Sie Idiot!« schrie Falcon ins Mikrophon, aber das nützte nichts, denn er hatte es noch nicht eingeschaltet. »Die Handsteuerung funktioniert nicht!« Die Plattform schlug um. Die Düsen trugen sie nun nicht mehr, sondern trieben sie mit rasender Schnelligkeit auf die Queen hinab. Sie waren plötzlich Verbündete der Schwerkraft geworden, die sie bis zu diesem Moment ausgeglichen hatten. Den Aufprall hörte Falcon nicht, aber er spürte ihn. Er war bereits auf dem Aussichtsdeck und rannte zum Lift, der ihn hinunter zur Brücke bringen sollte. Arbeiter riefen ihm besorgte Fragen zu, was denn geschehen sei. Es sollte viele Monate dauern, bis er die Antwort endlich hatte geben können. Als er den Lift betrat, überlegte er es sich anders. Was, wenn plötzlich der Strom ausfiele? Da war es sicherer, wenn er die Wendeltreppe zu Fuß hinabrannte, die sich um den Liftschacht wand, auch wenn es Zeit kostete. Er hatte etwa die Hälfte der Treppe hinter sich, als er stehen blieb, um den Schaden zu beurteilen. Die verdammte Plattform hatte tatsächlich ein Leck ins Schiff geschlagen und dabei zwei Gaszellen beschädigt. Die riesigen Kunststoffballons fielen langsam in sich zusammen. Solange noch acht Zellen dicht blieben, brauchte er sich um den Verlust an Auftrieb keine Sorgen zu machen; den konnte man mit Ablassen von Ballast leicht ausgleichen. Aber der Schaden an der Struktur war ernst zu nehmen. Schon jetzt hörte er, wie das riesige Gitterwerk um ihn herum ächzte und unter der ungewöhnlichen Belastung stöhnte. Es reichte nicht, wenn man genug Auftrieb hatte. War er nicht gleichmäßig verteilt, so konnte sich das Schiff das Rückgrat brechen. Er wollte grade die Wendeltreppe weiter hinablaufen, als ein Superchimp kreischend vor Angst mit unglaublicher Geschwindigkeit außen am Liftschacht herabkletterte, drüben auf der anderen Seite. Das arme Tier hatte sich in seiner grenzenlosen Verwirrung die Uniform
abgerissen, vielleicht in dem unbewußten Bestreben, die Freiheit seiner Vorfahren wiederzugewinnen. Falcon lief noch immer so schnell er konnte hinunter und sah mit größter Besorgnis zu dem Superchimp hinauf. Ein verstörter Simp war ein gefährliches, unglaublich starkes Tier, besonders dann, wenn von panischer Angst ergriffen. Der arme Kerl rief ihm eine ganze Reihe von Worten zu, die aber alle unverständlich waren, bis auf ein klagendes und häufig wiederholtes »Boss«. Selbst jetzt noch verlangte er nach menschlicher Anleitung. Dieses arme Wesen tat Falcon über alle Maßen leid, denn es konnte dieses von Menschen verursachte Unglück nicht begreifen und war dafür auch nicht verantwortlich. Und wenn es wollte, konnte es leicht durch das Gitterwerk des Aufzugschachtes kriechen, und nichts würde es davon abhalten. Falcon sah aus nächster Nähe in die verstörten Augen der Kreatur. Noch nie zuvor hatte er einen Simp aus so großer Nähe gesehen und sein Gesicht so genau studieren können. Seine Anwesenheit schien die Kreatur beruhigt zu haben. Falcon deutete den Schacht hinauf, zurück zum Aussichtsdeck, und sagte sehr klar und deutlich: »Boss… Boss… geh…« Zu seiner Erleichterung verstand es der Simp, schnitt eine Grimasse, die ein Lächeln sein konnte, und kletterte sofort den Weg zurück, den er gekommen war. Falcon hatte ihm den besten Rat gegeben, den er geben konnte. Wenn irgendeine Stelle an Bord der Queen sicher war, dann lag sie in jener Richtung. Seine Pflicht trieb ihn jedoch in die andere. Er hatte fast den Fuß der Treppe erreicht, als mit dem Geräusch nachgebenden Metalls das ganze Schiff mit dem Bug voran zu fallen anfing. Die Lichter gingen aus. Aber er konnte noch immer ganz gut sehen, weil durch die offenen Luken die Sonne hereinschien, und der Riß in der Hülle wurde ständig größer. Vor vielen Jahren hatte er einmal in einer großen Kathedrale gestanden und das Licht beobachtet, das durch die bunten Glasfenster fiel und auf den alten Steinplatten des Kirchenschiffes farbige Lichtflecke aufleuchten ließ. Daran mußte er jetzt denken, als er die Lichtstreifen sah, die durch die beschädigte Hülle fielen. Er war in einer Kathedrale aus Metall und Kunststoff, die vom Himmel auf die Erde stürzte.
Als er die Brücke erreichte, konnte er zum erstenmal ins Freie schauen. Er war entsetzt, als er sah, wie tief das Schiff schon gesunken war. Kaum tausend Meter unter ihm waren die malerischen, tödlichen Felszähne und die rote Schlammflut, die sich noch immer ihren Weg in die Vorgeschichte grub. Nirgendwo ließen sich flache Bodenstellen erkennen, die groß genug gewesen wären, um einem Schiff wie der Queen die Bruchlandung zu erlauben. Ein Blick auf die Navigationsskalen sagte ihm, daß der ganze Ballast abgelassen war. Da aber die Sinkgeschwindigkeit relativ gering war, rechnete er sich noch eine kleine Möglichkeit aus. Wortlos nahm Falcon den Pilotensitz ein und bediente die Instrumente, die noch ansprachen. Die Skalen gaben ihm alle Aufschlüsse, die er brauchte, und Worte waren überflüssig. Im Hintergrund hörte er den Nachrichtenoffizier über Funk einen Bericht geben. Sämtliche Fernsehstationen auf der ganzen Erde hatten auf Empfang geschaltet, und er konnte sich die grenzenlose Enttäuschung der Programmdirektoren vorstellen, daß die Kameras mit der Plattform abgestürzt waren. Da ereignete sich eines der spektakulärsten Unglücke in der ganzen Geschichte der Technik, und nicht eine Kamera war da, die es hätte aufzeichnen können. Die letzten Momente der Queen würden die Menschheit niemals in einen Zustand solchen Entsetzens versetzen, wie es damals bei der Zerstörung der Hindenburg der Fall gewesen war, die vor eineinhalb Jahrhunderten auf so schauerliche Art zugrunde gegangen war. Noch fünfhundert Meter bis zum Boden, der langsam entgegenkam. Die Aggregate leisteten zwar noch vollen Schub, aber Falcon wagte ihn nicht einzusetzen, da er fürchtete, die inzwischen allzu sehr geschwächte Konstruktion könnte vollends zusammenbrechen. Jetzt erkannte er, daß ihm gar keine Wahl blieb. Der Wind trieb das Schiff auf eine Stelle des Canyon zu, wo der Fluß durch einen Felsrücken geteilt wurde, und dieser Felsgrat ragte in die Höhe wie der versteinerte keilförmige Bug eines Schiffes aus grauer Vorzeit. Wurde der gegenwärtige Kurs beibehalten, dann würde die Queen unweigerlich darauf niedergehen, wobei ein Drittel ihrer Länge über den Felsrand hinausragen würde. Unter diesem Gewicht mußte sie auseinanderbrechen wie ein mürber Stock.
Wie aus weiter Ferne hörte Falcon das vertraute Heulen über dem Fauchen entweichenden Gases und dem Ächzen überbeanspruchten Metalls, als er die Steuerdüsen an den Seiten einschaltete. Das Schiff taumelte und schwankte nach achtern. Überall schien nun Metall zu reißen, und die Queen sank schneller. Gaszelle 5 war soeben geplatzt, wie die Instrumente anzeigten. Nun hing das Schiff noch wenige Meter über dem Boden. Er konnte noch immer nicht sagen, ob sein Manöver Erfolg gehabt hatte oder nicht. Er schaltete die Schubdüsen auf Senkrechtantrieb, um den Aufprall abzuschwächen. Trotzdem schien er ewig zu dauern. Er war nicht übermäßig heftig, aber unwiderstehlich und nahm kein Ende mehr. Das ganze Universum schien im Zeitlupentempo um das Schiff herum einzustürzen. Das Kreischen zerreißenden Metalls kam immer näher, als fresse sich ein riesiges Untier seinen Weg durch das sterbende Schiff. Dann schlossen sich Boden und Decke um ihn wie ein gewaltiges Haifischmaul.
2 »Warum willst du denn ausgerechnet zum Jupiter?« »›Weil er da ist‹, wie Springer sagte, als er zum Pluto flog.« »Vielen Dank. Nun, das ist jetzt geklärt, und nun möchte ich den wahren Grund wissen.« Howard Falcon lächelte, doch nur die, welche ihn sehr genau kannten, hätten die kaum angedeutete lederige Grimasse auch als Lächeln begriffen. Webster gehörte zu ihnen; seit mehr als zwanzig Jahren hatte ständig einer von ihnen mit den Projekten des anderen zu tun gehabt. Sie hatten Triumphe und Unglücke geteilt, auch das größte aller Unglücke. »Nun ja, Springers Spruch gilt ja noch immer. Wir sind auf allen erdähnlichen Planeten des Sonnensystems gelandet, aber noch auf
keinem der Gasgiganten, die sind die einzige noch verbliebene Herausforderung im Sonnensystem.« »Eine sehr teure dazu. Hast du dir schon einmal die Kosten ausgerechnet?« »So gut ich konnte. Hier sind die Schätzungen. Vergiß aber nicht, daß es ein Transportsystem ist, keine Wegwerfrakete. Ist es einmal erprobt, kann es immer wieder eingesetzt werden. Und es öffnet uns nicht nur den Jupiter, sondern alle Riesen.« Webster besah sich die Zahlen und pfiff leise. »Warum nicht mit einem leichteren Planeten anfangen? Uranus zum Beispiel. Nur die halbe Schwerkraft und weniger als die halbe Fliehgeschwindigkeit. Auch ruhigeres Wetter, wenn das das richtige Wort sein sollte.« Webster hatte ganz gewiß seine Hausaufgaben gelernt, aber das war ja schließlich auch der Grund, weshalb er Direktor der Abteilung Langzeitplanung war. »Eingespart kann da nicht viel werden, wenn man die größere Entfernung in Betracht zieht und die logistischen Probleme bedenkt. Für den Flug zum Jupiter haben wir die Einrichtungen auf Ganymed. Und jenseits des Saturn müssen wir eine neue Versorgungsbasis einrichten.« Logisch, dachte Webster, aber er war davon überzeugt, daß dies nicht der wesentliche Grund war. Jupiter war der Herr des Sonnensystems, und Falcon wäre wohl mit einer geringeren Herausforderung nicht zufrieden. »Und außerdem«, fuhr Falcon fort, »ist der Jupiter ein riesenhafter wissenschaftlicher Skandal. Vor mehr als hundert Jahren hat man die Radiostürme entdeckt, aber noch heute wissen wir nicht, was sie verursacht, und der Große Rote Fleck ist ein Rätsel wie eh und je. Und deshalb kann ich die Gelder beim Büro für Astronautik lockermachen. Weißt du, wieviele Sonden sie in die Atmosphäre gejagt haben?« »Ich glaube, ein paar hundert.« »Dreihundertundsechsundzwanzig allein in den letzten fünfzig Jahren, und etwa ein Viertel davon waren totale Versager. Natürlich haben sie
eine ganze Menge gelernt, aber der Planet ist noch nicht einmal angekratzt. Bist du dir darüber klar, wie riesig groß er ist?« »Mehr als zehnmal so groß wie die Erde.« »Ja, natürlich. Aber weißt du auch, was das heißt?« Falcon deutete auf den großen Globus in der Ecke von Websters Büro. »Schau dir mal Indien an. Wie klein es doch aussieht! Nun, wenn du die Schale der Erde ausbreitest und sie auf die Oberfläche des Jupiter legst, so ist sie etwa so groß wie Indien hier auf diesem Erdglobus.« Webster dachte lange über diesen Vergleich nach. Jupiter ist im Verhältnis zur Erde das, was der Planet Erde im Vergleich zum Subkontinent Indien ist. Falcon hatte – mit voller Absicht natürlich – das beste nur denkbare Beispiel gewählt. War es denn wirklich schon zehn Jahre her? Natürlich, die zehn Jahre mußten stimmen. Vor sieben Jahren war das große Unglück geschehen, dessen Datum in seine Erinnerung eingraviert war, und die ersten Tests hatten drei Jahre vorher stattgefunden; drei Jahre vor dem ersten und letzten Flug der Queen Elisabeth IV. Vor zehn Jahren hatte ihn der damalige Leutnant Falcon zu einem Dreitageflug über die nördlichen Regionen von Indien am Fuß des Himalaja eingeladen. »Vollkommen sicher«, hatte er versprochen. »Ich will dich nur vom Schreibtisch weglotsen und dir zeigen, worum es bei dieser Sache geht.« Webster war nicht enttäuscht gewesen. Neben seiner ersten Reise zum Mond war dies zum bemerkenswertesten Ereignis seines Lebens geworden, obwohl es absolut gefahrlos war, wie Falcon versprochen hatte und ohne jeden Zwischenfall verlaufen war. Kurz vor Einbruch der Morgendämmerung waren sie von Srinagar aufgebrochen, und die riesige Silberblase des Ballons fing bald die ersten Sonnenstrahlen ein. Den Aufstieg hatten sie schweigend zurückgelegt, und es gab ja auch nicht die lärmenden Propanbrenner, die in früheren Zeiten die Heißluft für den Ballon geliefert hatten. Die Wärmeenergie, die sie brauchten, wurde von einem kleinen Kernreaktor erzeugt, der nur hundertzwanzig Pfund wog und in der unteren Öffnung der Hülle hing. Während des Aufstiegs zuckte der Laser zehnmal pro Sekunde und
erzeugte mit dieser Zündung jeweils nur einen winzigen Hauch Deuteriumtreibstoffs. Als sie dann eine gewisse Höhe erreicht hatten, waren nur noch ein paar Zündungen pro Minute nötig, die jene Hitze ersetzen sollten, welche durch Wärmeabstrahlung aus dem riesigen Gasballon über ihnen verlorenging. Und so hörten sie in der Stille, die sie umgab, sogar noch in mehr als fünfzehnhundert Meter Höhe Hunde bellen, Leute rufen, Glocken läuten und ähnliche Geräusche. Es war herrlich, wie sich die sonnenüberstrahlte Landschaft unter ihnen öffnete. Zwei Stunden später hatten sie eine Höhe von fast fünftausend Meter erreicht und mußten ab und zu ein wenig Sauerstoff einatmen. Völlig entspannt konnten sie die Landschaft bewundern, denn die Arbeit an Bord wurde ganz und gar von den Instrumenten getan; sie sammelten alle Informationen, die von den Konstrukteuren für jenes Himmelsschiff benötigt wurden, das noch immer keinen Namen hatte. Es war ein unbeschreiblich schöner Tag gewesen. Der SüdwestMonsun war erst in einem Monat fällig, und kaum ein Wölkchen war am Himmel zu sehen. Die Zeit schien stillzustehen, sie bedauerten es nur, daß die stündliche Funkdurchsage ihre Träumerei unterbrach. Und von einem Horizont zum anderen erstreckte sich eine unendliche, geschichtsträchtige Landschaft, ein Fleckenteppich von Dörfern, Feldern, Tempeln, Seen, Bewässerungskanälen… Es kostete Webster einige Anstrengung, sich aus dem Bann dieser Zehnjahreserinnerung zu lösen. Diese Ballonfahrt hatte ihn bekehrt zum Flug leichter als Luft und ihm die enorme Größe Indiens vor Augen geführt, die selbst in einer Welt, die man in neunzig Minuten umrunden konnte, nichts an Eindruck einbüßte. Und, wiederholte er im stillen, der Jupiter ist im Verhältnis zur Erde das, was die Erde im Vergleich zu Indien ist… »Gut. Angenommen, die Mittel stehen zur Verfügung, dann mußt du mir doch noch eine Frage beantworten«, sagte er. »Warum solltest du mehr Erfolg haben als die dreihundertsechsundzwanzig Robotersonden, welche schon zum Jupiter geschickt wurden?«
»Ich bin viel besser qualifiziert als sie – als Beobachter und als Pilot. Besonders als Pilot. Vergiß nicht, ich habe viel mehr Erfahrung als Ballonfahrer als sonst jemand auf der Welt.« »Du könntest die Sonde ja fernsteuern und auf Ganymed wie in Abrahams Schoß sitzen.« »Aber das ist es ja! Das ist doch schon versucht worden! Hast du vergessen, was der Queen zum Verhängnis wurde?« Webster wußte es natürlich sehr genau, aber er bat ihn nur, weiterzusprechen. »Die zeitliche Verzögerung! Dieser Trottel von Plattformsteuermann glaubte, er arbeite auf einer normalen Frequenz. Aber der Funkkontakt lief zufällig oder dummerweise über einen Satelliten. Oh, vielleicht war das nicht sein Fehler, aber bemerken hätte er es müssen. Das ergibt eine Verzögerung von einer halben Sekunde. Es hätte nicht viel ausgemacht, wenn wir in ruhiger Luft geflogen wären, aber die Turbulenzen über dem Grand Canyon haben der Queen den Todesstoß versetzt. Als die Plattform kippte und er ihre Lage korrigieren wollte, war sie bereits umgeschlagen. Hast du je einen Wagen mit einer halben Sekunde Steuerverzögerung über eine holprige Straße gesteuert?« »Nein, und ich will es auch gar nicht versuchen. Aber vorstellen kann ich mir’s.« »Siehst du. Und Ganymed ist eine Million Kilometer vom Jupiter entfernt. Und das bedeutet eine Verzögerung von sechs Sekunden. Nein, du brauchst eine Steuermöglichkeit an Ort und Stelle, um im Ernstfall wirklich rechtzeitig reagieren zu können. Ich möchte dir etwas zeigen. Macht es dir was aus, wenn ich das hier benütze?« »Nein, nur zu.« Falcon nahm eine Postkarte, die auf Websters Schreibtisch lag. Auf der Erde gab es sie kaum mehr, aber auf dieser hier war eine Marslandschaft in 3 D zu sehen, und die Karte war mit exotischen und sehr teuren Marken frankiert. Er hielt sie so, daß sie senkrecht herabhing. »Es ist ein uralter Trick, aber er demonstriert, was ich meine. Umfasse sie mit Daumen und Zeigefinger links und rechts, aber nur so, daß du die
Flächen nicht berührst. Ja, so ist es richtig… Und jetzt versuch einmal, sie mit Daumen und Zeigefinger zu fangen.« Falcon wartet ein paar Sekunden und ließ dann die Karte los. Websters Daumen und Zeigefinger schlossen sich, aber die Karte war schon dazwischen durchgefallen. »Ich werde es noch einmal machen, damit du siehst, daß gar kein Trick dahintersteckt. Siehst du?« Wieder fiel die Karte zwischen Websters Fingerspitzen hindurch. »Und jetzt versuchst du es bei mir.« Webster nahm die Karte und ließ sie ohne Warnung fallen. Sie hatte sich kaum bewegt, als Falcon sie schon aufgefangen hatte. Webster glaubte ein Relais klicken zu hören, so blitzschnell war Falcons Reaktion. »Als sie mich nach dem Absturz wieder zusammenflickten, nahmen die Chirurgen ein paar Verbesserungen vor«, bemerkte Falcon mit ausdrucksloser Stimme. »Das ist eine davon, und andere gibt es auch noch. Und ich will das Beste aus ihnen machen. Jupiter ist genau der Ort, wo ich das tun kann.« Webster starrte lange die Karte an. Dann sagte er leise: »Ja, ich verstehe. Wie lange wird es deiner Meinung nach dauern?« »Mit deiner Hilfe, der deiner Abteilung und aller wissenschaftlichen Stiftungen, die wir schröpfen können – nun, etwa drei Jahre. Dann kommt noch ein Jahr für Versuche, denn wir müssen mindestens zwei Testmodelle ausschicken. Nun, mit etwas Glück fünf Jahre.« »So ungefähr dachte ich mir’s auch. Ich hoffe, du hast das Glück, das du brauchst, denn du hast es verdient. Eine Sache werde ich aber niemals mehr tun.« »Nämlich?« »Wenn du wieder auf Ballonfahrt gehst, kannst du nicht mehr mit mir rechnen.«
3
Der Fall vom Jupitermond zum Jupiter selbst dauert nur dreieinhalb Stunden. Nur wenige Männer hätten auf einer so spektakulären Reise schlafen können. Schlaf war eine Schwäche, die Howard Falcon haßte, und das Wenige, das er davon noch brauchte, brachte ihm nur Träume, die auch die Zeit nicht lindern oder bannen konnte. Aber in den drei vor ihm liegenden Tagen würde es keine Ruhepause geben, und so mußte er während des langen Falles zu einem Wolkenozean hinab, der fast hunderttausend Kilometer unter ihm lag, an Schlaf hereinholen, was irgend möglich war. Als die Kon-Tiki die Transfer-Umlaufbahn erreicht hatte und alle Computerdaten zufriedenstellend ausfielen, bereitete er sich auf den vielleicht allerletzten Schlaf vor. Er fand es der Situation durchaus angemessen, daß fast zur gleichen Zeit der Jupiter die winzige Sonne verfinsterte, als sich der gigantische Planet dazwischen schob. Ein paar Minuten lang hüllte goldenes Zwielicht das Schiff ein, dann wurde ein Viertel des Himmelsrund zu einem schwarzen Loch im Raum, während der Rest ein einziges Sternengefunkel war. Wie weit man auch im Sonnensystem reisen mochte, sie änderten sich niemals; die gleichen Konstellationen erschienen einem auf der Erde, Millionen Kilometer weit entfernt, genauso. Das einzige Neue hier waren die schmalen blassen Sicheln von Callisto und Ganymed; zweifellos gab es noch weitere Monde an diesem Himmel, aber sie waren wohl alle viel zu winzig und zu weit entfernt, als daß ein unbewaffnetes Auge sie hätte wahrnehmen können. »Für zwei Stunden Sendepause«, meldete er dem Mutterschiff, das etwa fünfzehnhundert Kilometer über der trostlosen Felslandschaft von Jupiter V im Schatten des winzigen Satelliten hing. Wenn er sonst keinen Zweck hatte, so war Jupiter V jedenfalls ein kosmischer Bulldozer, der die Strahlungsteilchen auffing, die in der Nähe des Jupiter gefährlich werden konnten. Sein »Kielwasser« war nahezu strahlungsfrei, so daß ein Schiff gefahrlos dort parken konnte, während rund herum der Tod lauerte. Falcon schaltete den Schlafbringer ein, und als die elektrischen Impulse sanft durch sein Gehirn zuckten, sank er sehr schnell in die Bewußtlosigkeit des Schlafes. Die Kon-Tiki fiel dem Jupiter weiter entgegen und wurde infolge des ungeheuren Schwerefeldes immer
schneller; er schlief tief und traumlos. Die Träume kamen immer erst dann, bevor er aufwachte. Und seine Nachtmahre hatte er von der Erde mitgebracht. Von dem Aufprall selbst träumte er jedoch nie, obwohl er sehr oft den vor Angst irren Superchimp vor sich sah, der ihm begegnet war, als er zwischen den zusammenfallenden Gasballons die Wendeltreppe hinabrannte. Keiner der Simps hatte überlebt; alle, die nicht sofort getötet wurden, waren so schwer verletzt, daß man sie schmerzlos euthanisiert hatte. Warum träumte er immer von dieser zum Tod verurteilten Kreatur, die er doch vorher noch nie gesehen hatte, und nicht von den Freunden und Kollegen, die er auf der Queen verloren hatte? Am meisten fürchtete er jene Träume, die mit dem Wiedereinsetzen seines Bewußtseins nach dem Absturz begannen. Körperliche Schmerzen hatte er kaum verspürt; besser gesagt: er hatte gar nichts gefühlt. Um ihn herum waren Stille und Dunkelheit, und er schien nicht einmal zu atmen. Am seltsamsten war jedoch, daß er nicht feststellen konnte, wo seine Beine waren. Er konnte weder Hände noch Füße bewegen, weil er nicht wußte, wo sie sich befanden. Zuerst löste sich das Schweigen; nach Stunden oder Tagen kam ihm ein schwaches Pochen zu Bewußtsein, und später, nach sehr langem Nachdenken, zog er den Schluß, daß dies das Schlagen seines eigenen Herzens sein müsse. Das war einer seiner vielen Irrtümer gewesen. Dann waren da die zahllosen winzigen Nadelstiche, fast Lichtimpulse, geisterhafte Schatten von Drücken auf seine noch immer empfindungslosen Gliedmaßen. Ein Sinn nach dem anderen kehrte zurück, und mit ihnen kam auch der Schmerz. Er mußte alles ganz von neuem lernen, angefangen bei Kindheit und Säuglingsalter. Sein Gedächtnis war unverletzt, und er konnte Worte verstehen, die man zu ihm sprach, aber es dauerte Monate, ehe er anders als mit einem Lidzucken antworten konnte. Er erinnerte sich der Momente des Triumphes, als er sein erstes Wort sprach, die Seite eines Buches umblätterte und endlich lernte, sich wieder aus eigener Kraft zu bewegen. Das war tatsächlich ein großer Sieg gewesen, und er hatte fast zwei Jahre gebraucht, bis es endlich soweit war. Hundertmal hatte er den
toten Superchimp beneidet, aber ihm war ja keine Wahl geblieben. Die Ärzte hatten ihre Entscheidungen getroffen, und jetzt, zwölf Jahre später, war er dort, wo noch kein menschliches Wesen vor ihm gereist war, und er bewegte sich schneller als je ein Mensch in der gesamten Menschheitsgeschichte. Die Kon-Tiki verließ eben den Schatten, und die Jupiterdämmerung schlug vor ihm eine titanische Lichtbrücke über den Himmel; da weckte das Surren des Alarms Falcon aus seinem Schlaf. Die unvermeidlichen Alpträume – er hatte gerade versucht, seine Pflegerin herbeizurufen, aber er war zu kraftlos gewesen, den Knopf zu drücken – verblaßten schnell in seinem Bewußtsein. Das größte und vielleicht letzte Abenteuer seines Lebens lag vor ihm. Er rief die Kontrollstation, die jetzt etwa hunderttausend Kilometer entfernt war und schnell hinter der Wölbung des Jupiter verschwand, und meldete, daß alles in Ordnung sei. Seine Geschwindigkeit lag jetzt bei fünfzig Kilometer pro Sekunde – das war der absolute Rekord –, und in einer halben Stunde würde die Kon-Tiki den äußeren Rand der JupiterAtmosphäre erreichen, und das war eines der schwierigsten Manöver im ganzen Sonnensystem. Verschiedene Sonden hatten diese Tests überstanden, da sie sehr derbe, stark geschützte Instrumententräger waren, die auch einige hundert G auszuhalten vermochten. Die Kon-Tiki mußte mit Spitzen von dreißig G und mit einem Durchschnitt von zehn rechnen, ehe sie in den oberen Schichten der Jupiteratmosphäre zur Ruhe kommen konnte. Falcon begann also mit größter Sorgfalt das ausgeklügelte Sicherungssystem anzulegen, das ihn an den Wänden der Kabine verankerte. Als er damit fertig war, schien er Teil der Schiffskonstruktion zu sein. Die Uhr zählte nun rückwärts; hundert Sekunden bis zum Wiedereintritt in die Atmosphäre. Ob gut oder schlecht – er war festgelegt. In eineinhalb Minuten würde er zum erstenmal die Jupiteratmosphäre ankratzen, und dann hatte der Gigant ihn unwiderruflich im Griff. Der Countdown verzögerte sich um drei Sekunden, aber das war gar nicht schlecht, wenn man die vielen Unbekannten in Erwägung zog. Von jenseits der Kapselwände hörte er ein geisterhaftes Seufzen, das
allmählich in ein schrilles, kreischendes Dröhnen überging. Dieser Lärm unterschied sich grundlegend von dem beim Wiedereintritt in die Erdoder Marsatmosphäre; in dieser dünnen Atmosphäre aus Wasserstoff und Helium wurden alle Geräusche ein paar Oktaven höher transponiert. Auf dem Jupiter mußte selbst rollender Donner im Falsetto grollen. Mit dem Kreischen kam auch das Gewicht. Innerhalb weniger Sekunden war er völlig bewegungsunfähig. Sein Gesichtsfeld verengte sich, bis es nur noch die Uhr und den Beschleunigungsmesser umfaßte. Fünfzehn G, und noch vierhundertundachtzig Sekunden Fall… Das Bewußtsein verlor er nicht. Aber damit hatte er auch gar nicht gerechnet. Die Bahn der Kon-Tiki durch die Jupiter-Atmosphäre mußte wirklich spektakulär sein, jetzt schon viele tausend Kilometer lang. Fünfhundert Sekunden nach dem Eintritt begann der Druck allmählich nachzulassen – zehn G, dann fünf, dann zwei… Und schließlich schien kaum mehr Gewicht da zu sein. Er war im freien Fall, und seine enorm hohe Umlaufgeschwindigkeit war abgebremst. Dann gab es einen ordentlichen Ruck, als die dürftigen Reste des Hitzeschildes abgeworfen wurden. Er hatte seine Arbeit getan und wurde nicht mehr gebraucht. Er löste alle Halteverschlüsse bis auf zwei und wartete darauf, daß der automatische Programmschalter die nächste, sehr kritische Reihe von Ereignissen einleitete. Er sah nicht, wie sich der erste Bremsfallschirm aufblähte, aber er spürte den plötzlichen Ruck, und sofort verlangsamte sich auch seine Fallgeschwindigkeit. Die Kon-Tiki hatte ihre Horizontalgeschwindigkeit verloren und fiel mit einem Tempo von etwa fünfzehnhundert Kilometer pro Stunde wie ein Stein senkrecht in die Tiefe. Alles hing nun davon ab, was in den nächsten sechzig Sekunden geschah. Der zweite Fallschirm wurde hinausgeschossen; er blickte durch die Dachluke und sah zu seiner grenzenlosen Erleichterung, daß sich Wolken aus glitzernder Folie wie Kissen über dem fallenden Schiff bauschten. Tausende von Kubikmetern an Atmosphäre umschloß der aufblühende Ballon. Die Fallgeschwindigkeit der Kon-Tiki wurde bis auf wenige Kilometer pro Stunde abgebremst und blieb konstant. Jetzt hatte er eine ganze Menge Zeit; es würde Tage dauern, bis er die Oberfläche des Jupiters erreichte.
Wenn er nichts dagegen unternähme, käme er auch wirklich zur Oberfläche, denn der Ballon über ihm war zunächst praktisch nichts anderes als ein Fallschirm; Auftrieb gab er nicht, weil das Gas innen wie außen dasselbe war. Mit einem häßlichen, wenn auch charakteristischen Krachen schaltete sich der Kernreaktor ein und sandte Hitzeströme in die Hülle über ihm. Innerhalb von fünf Minuten war die Fallgeschwindigkeit auf Null gesunken, eine Minute später stieg das Schiff sogar wieder. Der Radarhöhenmesser zeigte an, daß die Fallgeschwindigkeit Null in einer Höhe von etwa vierhundertunddreißig Kilometer über der JupiterOberfläche – was man dafür auch halten mochte erreicht worden war. In einer Wasserstoffatmosphäre, denn Wasserstoff ist das leichteste der Gase, ist der einzige wirklich arbeitsfähige Ballon ein mit heißem Wasserstoff gefüllter. Solange der Zündfunke der Kernanlage gleichmäßig arbeitete, konnte Falcon in der Atmosphäre bleiben und über eine Welt dahintreiben, auf der hundert Pazifische Ozeane Platz hätten. Die Kon-Tiki war fast fünfhundert Millionen Kilometer gereist und hatte also ihrem Namen alle Ehre gemacht. Sie war ein Luftschloß, das sich auf den Strömungen der Jupiteratmosphäre treiben ließ. Um ihn herum lag eine ganz neue Welt, aber es dauerte noch länger als eine Stunde, ehe er hinausblicken konnte. Erst mußte er ja alle Systeme der Kapsel überprüfen und ihre Reaktion auf die Kontrollen testen. Er mußte ausprobieren, wieviel Hitze nötig war, um den gewünschten Auftrieb zu erzielen, wieviel Gas er ablassen mußte, um wieder zu sinken. Am wichtigsten war aber die Frage der Stabilität. Er mußte die Länge der Kabel, mit denen der riesige, birnenförmige Ballon an der Kapsel befestigt war, so verändern, daß Schwingungen so gut wie möglich ausgeschaltet wurden, um eine ruhige Fahrt zu erreichen. Bis jetzt hatte er Glück gehabt; in dieser Höhe war der Wind gleichmäßig, und die Dopplermessung ergab eine Windgeschwindigkeit von dreihundertachtundvierzig Kilometer pro Stunde, bezogen auf die unsichtbare Jupiteroberfläche. Für den Jupiter war das eine bescheidene Zahl. Doch die Geschwindigkeit als solche war unerheblich. Die wirkliche Gefahr kam von den Turbulenzen. Wurde er von ihnen
überfallen, dann konnten ihn nur Erfahrung, Geschicklichkeit und blitzschnelle Reaktion retten, und ausgerechnet die konnte man nicht in einen Computer programmieren. Erst als er mit allen Tests zufrieden war und er das Gefühl hatte, mit seinem ungewöhnlichen Fahrzeug vertraut zu sein, antwortete er auf die dringenden Rufe der Kontrollstation. Dann fuhr er die Instrumente und die Testgeräte aus. Jetzt glich die Kapsel einem recht schlampig geputzten Christbaum, aber sie lag ruhig vor den Jupiterwinden, während sie die Meßergebnisse zur Kontrollstation funkte. Endlich konnte er sich umschauen. Der erste Eindruck war vielleicht ein wenig enttäuschend. Ebensogut hätte er nämlich auch über der irdischen Wolkendecke dahintreiben können. Der Horizont schien sich in normaler Entfernung zu befinden, und er hatte in keiner Beziehung das Gefühl, auf einer Welt zu sein, die einen elffachen Erddurchmesser hatte. Dann schaltete er das Infrarotradar ein und erforschte mit Echolot die Atmosphärenlagen unter der Kapsel, und da wußte er, wie sehr ihn seine Augen betrogen hatten. Die Wolkendecke, die etwa fünf Kilometer entfernt zu sein schien, lag in Wirklichkeit mehr als sechzig Kilometer unter ihm, und der Horizont, dessen Entfernung er auf zweihundert geschätzt hatte, war tatsächlich dreitausend Kilometer vom Schiff entfernt. Die kristalline Klarheit der Hydrohelium-Atmosphäre und die Rundung der Planetenoberfläche hatten ihn getrogen. Hier war das Schätzen von Entfernungen noch viel schwieriger als auf dem Mond; alles, was er sah, mußte er mit mindestens zehn multiplizieren. Eigentlich hätte er ja darauf gefaßt sein müssen. Irgendwie störte es ihn ganz gründlich. Es war nicht so, daß ihm der Jupiter so unendlich groß vorgekommen wäre, ihm war eher so, als sei er selbst zusammengeschrumpft auf ein Zehntel seiner normalen Größe. Vielleicht gewöhnte er sich mit der Zeit an die unmenschlichen Dimensionen dieser Welt; doch als er zum unglaublich weit entfernten Horizont hinüberstarrte, wehte ihm ein Wind, der kälter war als die ihn umgebende Atmosphäre, durch die Seele. All seinen Überlegungen zum Trotz würde dieser Planet vielleicht nie ein Ort für Menschen werden.
Es war durchaus möglich, daß dies der erste und der letzte Abstieg durch die Wolkendecke des Jupiter war. Der Himmel über ihm erschien fast schwarz, nur ein paar federige Ammoniakzirruswolken hingen etwa zwanzig Kilometer über ihm. Hier, am Rand zum Weltenraum, war es kalt, aber Druck und Temperatur nahmen sehr rasch zu, sobald er tiefer ging. In der gegenwärtigen Flughöhe der Kon-Tiki betrug der Druck fünf Atmosphären, die Temperatur minus fünfzig Grad C. Hundert Kilometer tiefer wäre es so heiß wie am irdischen Äquator, und der Druck gliche etwa dem auf dem Grund des Mittelmeeres. Ideale Lebensbedingungen… Ein Viertel des kurzen Jupitertages war bereits vergangen; die Sonne stand halbhoch am Himmel, aber das Licht auf der dichten Wolkendecke war merkwürdig gedämpft. Diese fast fünfhundert Millionen Kilometer zusätzlicher Entfernung hatte die Sonne all ihrer Leuchtkraft beraubt. Der Himmel war klar, aber Falcon hatte immer das Gefühl, es sei ein sehr trüber, düsterer Tag. Wenn dann die Nacht käme, würde es mit einem Schlag dunkel werden; jetzt war noch Morgen, aber in der Luft herrschte herbstliches Zwielicht. Herbst, das war natürlich etwas, was es auf Jupiter nicht gab. Hier gab es keine Jahreszeiten. Die Kon-Tiki war genau in der Äquatorialzone herabgekommen, und das war der eintönigste Teil des Planeten. Das Wolkenmeer, das von einem Horizont zum anderen reichte, war von blasser Lachsfarbe; das Gelb, Rosa und sogar Rot in verschiedenen Abstufungen, die den Jupiter in höheren Breitengraden wie ein Band umgaben, fehlten hier. Der Große Rote Fleck selbst, das auffallendste Kennzeichen des Planeten, lag viele tausend Kilometer weiter südlich. Natürlich war es eine Versuchung gewesen, dort herunterzugehen, aber die südlichen tropischen Turbulenzen waren zu gefährlich gewesen, denn die Luftströme erreichten Geschwindigkeiten von fast fünfzehnhundert Kilometer pro Stunde. Der Große Rote Fleck und seine Geheimnisse konnten auf künftige Expeditionen warten. Die Sonne bewegte sich mit doppelter Erdengeschwindigkeit über den Himmel; sie näherte sich nun dem Zenit; die riesige Silberblase des Ballons schob sich vor ihre Scheibe und verdunkelte sie ein wenig. Die Kon-Tiki trieb noch immer mit dreihundertachtundvierzig Kilometer
westwärts, aber diese Zahl ließ sich nur mit dem Radar bestimmen. War es hier denn immer so ruhig? Falcon ahnte es nicht. Die Wissenschaftler, die so gelehrt von den Kalmenzonen des Jupiter gesprochen und vorausgesagt hatten, daß die Äquatorialzone die ruhigste sei, schienen genau gewußt zu haben, wovon sie sprachen. Er war sehr skeptisch gewesen und hatte der Meinung eines bescheidenen Forschers zugestimmt, der ohne Umschweife erklärt hatte: »Jupiterexperten gibt es nicht.« Nun, am Ende dieses Tages würde es wenigstens einen geben. Das heißt, falls es ihm gelänge, so lange zu überleben.
4 An diesem ersten Tag lächelte ihm der Göttervater zu. Es war so ruhig und friedlich hier auf dem Jupiter wie damals vor Jahren, als er zusammen mit Webster über die Ebenen von Nordindien geflogen war. Falcon hatte ausreichend Zeit, seine neugewonnenen Fähigkeiten so gut zu schulen, bis die Kon-Tiki eine Erweiterung seines eigenen Körpers zu sein schien. Das war viel mehr Glück, als er zu hoffen gewagt hatte, und er begann schon zu überlegen, welchen Preis er wohl dafür werde zahlen müssen. Die fünf Stunden Tageslicht waren fast vorüber; die Wolken unten sahen wie eine solide Masse aus. Der Himmel verlor die Farben, und nur im Westen hielt sich ein Band immer dunkler werdenden Purpurs über dem Horizont. Über diesem Band stand die hauchdünne Sichel eines nahen Mondes, blaß und knochenweiß vor der tiefen Schwärze dahinter. Die Sonne sank so schnell hinter den Jupiterhorizont, daß das Auge ihr folgen konnte. Unzählige Sterne kamen heraus, und der schönste war der zauberhafte Abendstern Erde, der an der Grenze zum Zwielicht ihn daran erinnerte, wie weit er von zu Hause entfernt war. Bald folgte er der Sonne in den Westen hinab. Die erste Nacht des ersten Menschen auf dem Jupiter hatte begonnen.
Als die Dunkelheit hereinbrach, begann die Kon-Tiki zu sinken. Der Ballon wurde nicht mehr vom schwachen Sonnenlicht gewärmt und verlor einen Teil seines Auftriebs. Falcon tat nichts, um das zu korrigieren. Damit hatte er gerechnet, und er plante ja ohnehin, tiefer zu gehen. Die unsichtbare Wolkendecke lag noch etwa fünfzig Kilometer unter ihm. Gegen Mitternacht würde er sie erreichen. Auf dem InfrarotRadarschirm war sie deutlich zu erkennen; darauf war auch abzulesen, daß sie eine ganze Anzahl von sehr komplizierten Kohlenstoffverbindungen enthielt, außerdem Wasserstoff, Helium und Ammoniak; die Chemiker konnten es gar nicht mehr erwarten, Proben von diesem flaumigen, rosarötlichen Zeug zu bekommen. Hier gab es mehr als die Hälfte der Grundmoleküle des Lebens, und sie schwammen hoch über der Jupiteroberfläche. Und wo es Nahrung gab, konnte ja das Leben nicht fern sein. Aber das war die Frage, die man seit mehr als hundert Jahren stellte und die bisher niemand hatte beantworten können. Das Infrarot wurde bald von den Wolken blockiert, aber das Mikrowellenradar durchschnitt sie geradezu und zeigte eine Lage nach der anderen bis hinab zur verborgenen Oberfläche, die fast vierhundert Kilometer tiefer lag. Nicht einmal Robotsonden hatten sie je erreicht, denn die Drücke und Temperaturen waren enorm. In quälender Unzugänglichkeit lag sie auf dem unteren Rand des Radarschirms, war ein wenig verschwommen und wies eine eigenartige granuläre Struktur auf, die sich mit seinen Geräten nicht deuten ließ. Eine Stunde nach Sonnenuntergang schickte er seine erste Sonde aus. Sie fiel sehr schnell etwa fünfundneunzig Kilometer; dann trieb sie in der dichteren Atmosphäre und schickte einen ununterbrochenen Strom von Funksignalen zurück, die er der Kontrollzentrale zuleitete. Dann war bis Sonnenaufgang nichts mehr zu tun; er mußte nur darauf achten, daß die Abstiegsgeschwindigkeit sich nicht veränderte. Er hatte die Instrumente zu überwachen und gelegentliche Anfragen zu beantworten. Kurz vor Mitternacht übernahm eine Frau das Mikrophon in der Kontrollzentrale und stellte sich ihm mit den üblichen freundlichen Worten vor. Zehn Minuten später rief sie ihn wieder, und jetzt klang ihre Stimme erregt und ernst zugleich.
»Howard! Hören Sie sofort auf Kanal sechsundvierzig mit, starke Verstärkung.« Kanal sechsundvierzig? Es gab hier so viele telemetrische Stromkreise, daß er nur die Nummern der wichtigsten auswendig kannte. Aber als er den Schalter umlegte, erkannte er die Frequenz sofort. Es war die des Sondenmikrophons, die mehr als hundertdreißig Kilometer unter ihm schwamm, in einer Atmosphäre, die fast so dicht war wie Wasser. Erst war nur das leise Säuseln merkwürdiger Winde zu vernehmen, die sich irgendwo unten in der Dunkelheit einer unvorstellbaren Welt regten. Langsam bildete sich dann aus dem Hintergrundgeräusch ein dröhnendes Vibrieren heraus, das immer lauter wurde und schließlich wie eine Riesentrommel dröhnte. Er war so laut, daß man ihn ebenso fühlte wie hörte; die Schläge kamen schneller, aber die Tonhöhe blieb etwa dieselbe. Allmählich wurde es ein schnelles Rattern in Infraschall. Dann hörte es mitten in einem Schlag so abrupt auf, daß der Verstand die folgende Stille nicht sofort zu registrieren vermochte, und so fuhr das Gedächtnis fort, ein spukhaftes Echo in den tiefsten Höhlungen des Gehirns zu erzeugen. Es war das ungewöhnlichste Geräusch, das Falcon je gehört hatte, und nicht einmal in der Vielfalt irdischer Geräusche war es enthalten. Er konnte sich keine natürliche Erklärung dafür ausdenken; ein Tierschrei war es gewiß nicht, nicht einmal der des Riesenwales. Dann begann es wieder, genau im gleichen Rhythmus. Jetzt war er aber darauf vorbereitet und konnte die Länge der Sequenz abschätzen. Vom ersten leisen Vibrieren an bis zum Schlußcrescendo dauerte es ein wenig mehr als zehn Sekunden. Und diesmal vernahm er auch ein richtiges, wenn auch schwaches und weit entferntes Echo. Vielleicht kam es von einer der vielen reflektierenden Lagen dieser vielschichtigen Atmosphäre. Vielleicht war es aber auch eine andere, viel weiter entfernte und gleichartige Geräuschquelle. Falcon wartete auf ein zweites Echo, aber das kam nicht. Die Kontrollstation reagierte schnell und bat ihn, sofort eine zweite Sonde auszuschicken. Mit zwei Mikrophonen müßte es möglich sein, die ungefähre Lage dieser Geräuschquellen zu orten. Seltsam, daß keines der
Außenmikrophone der Kon-Tiki etwas anderes als Windgeräusche aufnahm. Das Dröhnen, was immer es auch war, mußte also zwischen sehr tiefliegenden Wolkendecken gefangen sein. Bald entdeckte man, daß die Geräusche aus einer Quelle stammte, die etwa zweitausend Kilometer entfernt war; besser gesagt, aus einer ganzen Ansammlung von Quellen. Die Entfernung ließ keine Schlüsse auf ihre Stärke zu. In irdischen Ozeanen pflanzten sich selbst leise Geräusche ungefähr ebensoweit fort. Aber daß sie von Tieren stammten oder sonst von lebenden Kreaturen, schloß der Exobiologe der Station sofort aus. »Ich wäre sehr enttäuscht, wenn es dort keine Mikroorganismen oder Pflanzen gäbe«, sagte Dr. Brenner. »Aber natürlich keinesfalls so etwas wie Tiere, denn freien Sauerstoff gibt es dort nicht. Alle biochemischen Reaktionen auf dem Jupiter müssen solche von niedriger Energie sein. Es gibt keine Möglichkeit für eine Kreatur, ausreichende Funktionskräfte zu entwickeln.« Falcon überlegte, ob dies wohl richtig sein könnte. Er hatte dieses Argument schon früher gehört und sich mit seinem eigenen Urteil zurückgehalten. »Auf jeden Fall sind einige dieser Schallwellen hundert Meter lang!« fuhr Brenner fort. »Selbst ein Tier von der Größe eines Wals könnte sie nicht erzeugen. Sie müssen also eine natürliche Ursache haben.« Ja, das hörte sich vernünftig an, und vielleicht konnten die Physiker mit einer Erklärung aufwarten. Was würde ein blinder Fremder tun, stünde er an einer stürmischen See, neben einem Geyser oder einem Vulkan oder auch nur neben einem Wasserfall? Er würde ganz sicher an ein riesiges Tier denken. Ungefähr eine Stunde vor Sonnenaufgang hörten die Geräusche aus der Tiefe allmählich auf, und Falcon traf seine Vorbereitungen für den zweiten Tag. Die Kon-Tiki trieb jetzt nur noch etwa fünf Kilometer über den nächsten Wolkendecken; der Außendruck betrug bis zu zehn Atmosphären, und die Temperatur lag bei dreißig Grad. Der Mensch brauchte hier also nichts als eine Atemmaske. »Wir haben gute Nachrichten für Sie«, berichtete die Kontrollzentrale kurz nach Einbruch der Dämmerung. »Die Wolkendecke bricht auf. In
einer Stunde wird es teilweise klar sein, aber Sie müssen auf Turbulenzen achten.« »Ich habe schon ein paar festgestellt«, antwortete Falcon. »Wie weit hinunter werde ich Sicht haben?« »Mindestens zwanzig Kilometer, bis zur zweiten Thermogrenze. Diese tiefer liegende Wolkendecke ist kompakt und reißt niemals auf.« Und sie liegt außerhalb meiner Reichweite, ergänzte Falcon in Gedanken. Die Temperatur da unten mußte mehr als hundert Grad betragen. Es war das erste Mal, daß ein Ballonfahrer sich nicht um die Temperatur über seinem Kopf, sondern um die unter seinen Füßen Sorgen machen mußte. Zehn Minuten später konnte er sehen, was die Kontrollzentrale von ihrem Beobachtungspunkt aus registriert hatte. In der Nähe des Horizonts war eine Farbveränderung zu bemerken, und die Wolkendecke wirkte zerklüftet und klumpig, als habe etwas sie aufgerissen. Er schaltete seinen kleinen Atomreaktor ein und ließ die Kon-Tiki fünf Kilometer höher steigen, damit er einen besseren Überblick bekam. Der Himmel unter ihm klarte sehr schnell und ziemlich gründlich auf. Vor seinen Augen öffnete sich ein Abgrund. Einen Moment später segelte er über den Rand einer Wolkenschlucht, die etwa zwanzig Kilometer tief und tausend Kilometer breit war. Eine neue Welt breitete sich unter ihm aus. Jupiter hatte einen seiner zahlreichen Schleier abgestreift. Die zweite Wolkenlage war in der Farbe viel dunkler als die erste, und sie lag unerreichbar tief unter ihm. Ihre Farbe war fast Lachsrosa und mit kleinen Inseln von Ziegelrot durchsetzt. Alle diese Flecken waren oval geformt; die Längsachsen waren ost-westlich ausgerichtet, und das war die derzeitige Windrichtung. Es waren viele hundert Flecken, alle von der gleichen Größe. Falcon fühlte sich an Schäfchenwolken auf der Erde erinnert. Er reduzierte den Auftrieb, und die Kon-Tiki begann in die sich auflösende Wolkenschlucht hinabzusinken. Und da bemerkte er den Schnee.
Weiße Flocken formten sich in der Luft und trieben langsam nach unten. Aber für Schnee war es doch eigentlich viel zu warm, und in dieser Höhe gab es ganz bestimmt kein Wasser. Außerdem glitzerten diese Flocken nicht, während sie in die Tiefe segelten. Später landeten dann einige auf einem Instrumentenmast vor dem Aussichtsfenster, und da sah er dann, daß sie von einem stumpfen, opaken Weiß und auf keinen Fall kristallartig waren. Sie hatten fast die Größe eines Handtellers und sahen wie Wachs aus. Falcon vermutete, daß sie genau das waren. In der Atmosphäre um ihn herum mußten einige chemische Reaktionen stattfinden, welche die in der Jupiteratmosphäre schwimmenden Kohlenwasserstoffe kondensieren ließen. Ungefähr hundert Kilometer vor ihm war in der unteren Wolkendecke eine Turbulenz zu erkennen. Die kleinen roten Ovale wurden kräftig durchgeschüttelt und formten allmählich eine Spirale – das vertraute Muster eines Zyklons, das die Meteorologen der Erde so gut kennen. Der Wirbel bildete sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit aus. Wenn das ein Sturm wurde, dann, so überlegte Falcon, mußte er mit Schwierigkeiten rechnen. Dann wurde seine Sorge zum Staunen – und zur Angst. Das, was sich hier entwickelte, war kein Sturm. Etwas Riesiges, etwas, das Kilometer breit sein mußte, stieg durch die Wolken empor. Der tröstliche Gedanke, daß dies vielleicht nur eine Gewitterwolke sein könnte, hielt sich nicht länger als ein paar Sekunden. Nein, das war eine feste Masse. Sie drängte sich durch die lachsrosa Wolkenmasse wie ein Eisberg, der aus den Tiefen des Meeres aufsteigt. Ein Eisberg, der auf Wasserstoff schwimmt? Unmöglich! Aber vielleicht war der Vergleich gar nicht so abwegig. Denn als Falcon sein Teleskop auf dieses Phänomen eingestellt hatte, sah er, daß es eine weiß kristalline Masse war, von rötlichen und bräunlichen Streifen durchzogen. Es mußte wohl dasselbe Material sein, aus dem die »Schneeflocken« bestanden, die um ihn herum fielen, ein ganzes Bergmassiv aus Wachs. Bald erkannte er, daß die Masse nicht so fest war, wie er gedacht hatte; an den Kanten bröckelte sie ständig ab und formte sich neu…
»Ich weiß, was es ist«, meldete er der Kontrollzentrale, die schon seit ein paar Minuten besorgte Fragen stellte. »Das ist eine ganze Menge Bläschen, so etwas wie Schaum. Kohlenwasserstoffschaum. Die Chemiker sollen sich mal darum kümmern… Moment noch…« »Was ist? Was ist?« rief die Plankontrolle. Dieses Drängen ignorierte er vorläufig und konzentrierte sich auf seine Beobachtungen mit dem Teleskop. Das wollte er nun mit Gewißheit wissen; wenn er einen Fehler machte, würde er das Gelächter des ganzen Sonnensystems herausfordern. Dann lehnte er sich entspannt zurück, schaute auf die Uhr und schaltete den Kontakt zur Kontrollstation ein. »Hallo, Kontrollzentrale«, sagte er dann sehr förmlich. »Hier spricht Howard Falcon an Bord der Kon-Tiki. Ephemeridenzeit neunzehn Uhr einundzwanzig Minuten fünfzehn Sekunden. Breite null Grad fünf Minuten Nord, Länge einhundertfünf Grad zweiundvierzig Minuten, System eins. Richten Sie Dr. Brenner aus, daß es auf dem Jupiter Leben gibt. Und es ist sehr groß…«
5 »Ich bin sehr froh, daß mir mein Irrtum nachgewiesen wurde«, antwortete Dr. Brenner vergnügt. »Die Natur hat immer noch ein As im Ärmel. Stellen Sie Ihre Kamera mit der längsten Brennweite auf das Ziel ein und schicken Sie uns die schärfsten Bilder, die Sie schießen können.« Die sich auf dem Wachsgebirge auf und ab bewegenden Gebilde waren noch viel zu weit entfernt, als daß Falcon Einzelheiten hätte feststellen können, und da sie auf so große Entfernung überhaupt sichtbar waren, mußten sie selbst auch sehr groß sein. Sie waren fast schwarz, wie Pfeilspitzen geformt, und bewegten sich, indem sie mit dem ganzen Körper Wellenbewegungen machten, so daß sie wie riesige Rochen in einem tropischen Meer wirkten.
Vielleicht waren das fliegende Rinderherden, welche die Wolkenweiden des Jupiter abgrasten, denn sie schienen an den rotbraunen Streifen zu äsen, die wie ausgetrocknete Flußbette am Fuß der schwimmenden Wolkenklippen aussahen. Ab und zu tauchte eines von ihnen kopfüber in einen Berg aus Schaum und verschwand völlig. Die Kon-Tiki bewegte sich in Relation zur unteren Wolkendecke sehr langsam. Es würde mindestens drei Stunden dauern, bis sie über diesen ephemeralen Bergmassiv war. Sie machte ein Wettrennen mit der Sonne. Falcon hatte gehofft, daß die Helligkeit so lange anhalten würde, bis er einen guten Blick auf diese Jupiter-Rochen getan hatte und auch die zerbrechliche Landschaft studieren konnte. Es waren lange drei Stunden. Während der ganzen Zeit ließ er die Außenmikrophone eingeschaltet und paßte genau auf, ob er vielleicht hier die Quelle des nächtlichen. Dröhnens entdecken konnte. Die Rochen wären sicherlich groß genug gewesen, sie erzeugen zu können. Als ihm dann die Feststellung genauerer Maße möglich wurde, entdeckte er, daß sie in der Breite fast hundert Meter maßen. Damit waren sie gut dreimal so groß wie der größte Wal, obwohl er daran zweifelte, daß sie mehr als ein paar Tonnen wiegen konnten. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang befand sich die Kon-Tiki fast genau über dem »Bergmassiv«. »Nein«, antwortete Falcon auf die wiederholte Frage der Kontrollzentrale wegen der Rochen, »sie zeigen mir gegenüber noch immer keine Reaktion. Ich glaube nicht, daß diese Tiere intelligent sind. Sie sehen eher wie harmlose Pflanzenfresser aus. Und selbst wenn sie versuchen sollten, mich zu jagen, dann bin ich davon überzeugt, daß sie mich in meiner Höhe nicht erreichen können.« Er war aber doch ziemlich enttäuscht, daß die Rochen keinerlei Interesse an ihm zeigten, als er hoch über ihrem Futterplatz dahinsegelte. Vielleicht hatten sie gar keine Möglichkeit, seine Anwesenheit festzustellen. Als er sie durch das Teleskop eine Weile beobachtet und dann fotografiert hatte, konnte er keine Sinnesorgane an ihnen feststellen. Die Kreaturen waren nichts anderes als riesige schwarze Dreiecke, die über Berge und Täler flatterten und in Wirklichkeit kaum mehr Substanz zu haben schienen als irdische Wolken. Sie sahen zwar
recht kompakt aus, aber Falcon wußte, daß jeder, der auf diese weißen Berge zu treten versuchte, durch sie hindurchbrechen würde, als bestünden sie aus Seidenpapier. Aus der Nähe konnte er Myriaden von Zellen oder Blasen erkennen, aus denen sie bestanden. Einige dieser Blasen waren sehr groß, mit etwa einem Meter Durchmesser, und Falcon überlegte schon, in welchem Hexenkessel aus Kohlenwasserstoffen sie zusammengebraut worden sein konnten. In der Atmosphäre des Jupiter mußte es eine Unmenge von Petrochemikalien geben, die ausreichen würde, die Bedürfnisse der Erde während der nächsten Jahrmillion zu decken. Der kurze Tag war schon fast vorüber, als er über den Grat dieses wächsernen Bergmassivs hinwegflog; das Licht verblaßte schnell auf den tiefergelegenen Hängen. An der Westseite befanden sich keine Rochen, denn aus irgendeinem Grund unterschied sich deren Topographie grundlegend von jener der anderen Seite. Der Schaum bildete hier lange, ebene Terrassen, etwa so wie im Innern eines Mondkraters. Fast konnte er sich vorstellen, daß sie Riesenstufen waren, die zur verborgenen Oberfläche des Planeten hinabführten. Und auf der noch sichtbaren untersten dieser Stufen, gerade oberhalb der wirbelnden Wolken, durch die der Berg gestoßen war, befand sich eine grob ovalförmige Masse, etwa zwei bis drei Kilometer lang. Sie war nicht sehr deutlich zu erkennen, denn sie war nur eine Spur dunkler als der grau-weiße Schaum, auf dem sie lag. Flacons erster Gedanke war der, daß er einen Wald bleicher Bäume vor sich haben müsse, die aber eher riesigen Pilzen glichen, welche noch nie die Sonne gesehen hatten. Es mußte tatsächlich so etwas wie ein Wald sein; er sah Hunderte von dünnen Stämmen, die aus dem wächsernen Schaum herausragten, mit dem sie anscheinend verwurzelt waren. Aber diese Bäume standen unglaublich dicht nebeneinander; zwischen ihnen gab es kaum Zwischenräume. Vielleicht war es gar kein Wald, sondern ein einziger riesiger Baum mit zahllosen Stämmen, ähnlich den vielstämmigen riesenhaften Banyans auf der Erde. In Java hatte er einmal einen gesehen, der sechshundert Meter Durchmesser gehabt hatte. Dieses Monstrum hier hatte mindestens die zehnfache Größe.
Das Licht war inzwischen fast verschwunden. Die Wolkenlandschaft war vom diffusen Sonnenlicht in purpurnen Schimmer getaucht, und in wenigen Sekunden würde auch der verschwunden sein. Im letzten Licht des zweiten Tages auf dem Jupiter sah Falcon – oder glaubte zu sehen – etwas, das in ihm die ernstesten Zweifel an seiner eigenen Erklärung für die weißen Ovale hervorrief. Wenn ihn das schwindende Licht nicht völlig getrogen hatte, dann schwankten diese Hunderte von dünnen Stämmen vor und zurück, völlig gleichmäßig, wie Tanginseln, die sich mit dem sanften Seegang eines ruhigen Meeres bewegten. Und der Baum war nicht mehr dort, wo er ihn zuerst gesehen hatte. »Tut uns sehr leid«, meldete die Kontrollzentrale kurz nach Sonnenuntergang, »aber wir glauben, Beta wird innerhalb der nächsten Stunde ausbrechen. Wahrscheinlichkeit siebzig Prozent.« Falcon warf einen raschen Blick auf die Karte. Beta, Jupiterbreite hundertvierzig Grad, war mehr als dreißigtausend Kilometer entfernt und lag weit unter dem Horizont. Selbst wenn ein großer Ausbruch bis zu zehn Megatonnen umfaßte, war er doch zu weit entfernt, als daß die Schockwelle eine ernstliche Gefahr hätte darstellen können. Anders war es natürlich mit dem von der Eruption ausgelösten Radiosturm. Die Dekameter-Eruptionen machten den Jupiter zur stärksten Radioquelle am ganzen Himmel; die Astronomen waren damals, das war etwa um 1950, als man sie entdeckt hatte, äußerst verwundert gewesen. Jetzt, mehr als ein Jahrhundert später, war ihre wirkliche Ursache noch immer ein Geheimnis. Nur die Symptome verstand man, die Erklärung dafür fehlte noch immer. Die Vulkan-Theorie hatte sich bisher am besten gehalten, obwohl sich niemand vorstellen konnte, daß ein Vulkan auf dem Jupiter dasselbe bedeutete wie auf der Erde. In ziemlich regelmäßigen Abständen, oft mehrmals am Tag, ereigneten sich in der tiefen Atmosphäre titanische Eruptionen, vielleicht sogar direkt auf der Oberfläche des Jupiter. Eine riesige Gassäule von mehr als tausend Kilometer Höhe schoß gewaltig brodelnd empor, als sei sie entschlossen, in den Weltenraum zu entweichen.
Aber sie hatte keine Chance gegen das mächtige Schwerefeld des Jupiter. Meistens gelangten Spuren davon, etwa einige Millionen Tonnen, in die Ionosphäre des Planeten, und in so einem Fall brach dann die Hölle los. Der den Jupiter umgebende Strahlengürtel läßt die Van Allen-Gürtel der Erde bedeutungslos erscheinen. Werden sie von einer hinaufschießenden Gassäule kurzgeschlossen, so ist das Ergebnis eine elektrische Entladung, die millionenmal mächtiger ist als die stärksten irdischen Blitze. Die Folge ist dann ein Donnerschlag von Radiofrequenzstrahlung, der sich über das gesamte Sonnensystem ausdehnt und bis zu den Sternen reicht. Man hatte entdeckt, daß diese Radiofrequenzstrahlung aus vier bestimmten Planetengebieten kamen. Vielleicht gestattete eine gewisse Oberflächenschwäche der glühenden Magma im Planeteninnern von Zeit zu Zeit einen Durchbruch. Die Wissenschaftler auf Ganymed, dem größten der Jupitermonde, waren nun der Meinung, daß sie solche Dekameterstürme vorhersagen konnten. Die Genauigkeit dieser Voraussage war etwa mit der der Wetterprognosen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vergleichbar. Falcon wußte nicht recht, sollte er nun diesen Radiosturm begrüßen oder fürchten. Sicher lieferte er der Mission wichtige Resultate – falls er ihn überlebte. Sein Kurs war so geplant worden, daß er sich so weit wie möglich von den Zentren der Turbulenzen fernhalten konnte, besonders von denen der aktivsten Radioquellen. Quelle Alpha war die stärkste, Beta war ihm nun am nähesten. Er hoffte, daß die Entfernung, die etwa drei Viertel des Erdumfanges betrug, zu seiner Sicherheit ausreichte. »Wahrscheinlichkeit neunzig Prozent«, meldete die Kontrollzentrale nun mit einem besorgten Unterton. »Und Ganymed sagt, der Sturm könnte jetzt jeden Moment losbrechen.« Das letzte Wort war noch nicht richtig gesprochen, als der Skalenzeiger des Magnetfeldmeters in die Höhe schoß. Ehe er praktisch über die Skala hinausschießen konnte, fiel er aber so schnell, wie er vorher gestiegen war. Weit entfernt und mehr als fünfzehnhundert Kilometer unter ihm hatte etwas dem zähflüssigen, geschmolzenen Planetenkern einen gewaltigen Stoß versetzt.
»Es geht los!« warnte die Kontrollzentrale. »Vielen Dank, das weiß ich bereits. Und wann wird der Sturm mich treffen?« »Sie können ihn in fünf Minuten erwarten. Spitze in zehn.« Weit hinter der Wölbung des Jupiter schoß eine Gassäule von der Grundfläche eines irdischen Ozeans mit einer Geschwindigkeit von Tausenden von Kilometern pro Stunde raumwärts. In ihrer Nähe würde die ganze Atmosphäre schon von heftigen Gewittern erschüttert werden, aber das war noch nichts im Vergleich zu dem Donnerschlag, der folgen würde, sobald die Gassäule die Strahlengürtel erreichte und die überschüssigen Elektronen auf den Planeten herunterprasselten. Falcon begann alle Instrumente, die außerhalb der Kapsel angebracht waren, einzufahren. Mehr an Vorsichtsmaßnahmen konnte er nicht ergreifen. Es würde vier Stunden dauern, bis die atmosphärische Schockwelle ihn erreichte, aber die Radiosturmwelle, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegte, mußte eine Zehntelsekunde nach der Entladung über ihn hereinbrechen. Der Radiomonitor raste das ganze Spektrum hinauf und herunter und konnte noch nichts Ungewöhnliches feststellen; überall herrschte nur das normale Durcheinander von Hintergrundgeräuschen und Statik. Dann bemerkte Falcon, daß der Lärmpegel allmählich stieg; die Explosion sammelte also ihre Kräfte. Er hätte nie damit gerechnet, auf solche Entfernung etwas sehen zu können. Aber plötzlich tanzte am östlichen Horizont eine flackernde Entladung, ein Hitzeblitz. Gleichzeitig schlug es fast sämtliche Überlastschalter des Hauptschaltpultes heraus, die Lichter gingen aus und alle Funkkanäle waren tot. Er versuchte sich zu bewegen, konnte es jedoch nicht. Die Lähmung, die ihn befallen hatte, war nicht nur psychologischer Natur; er schien keine Kontrolle mehr über seine Gliedmaßen zu haben, und am ganzen Körper verspürte er ein schmerzhaftes Prickeln. Es war unmöglich, daß das elektrische Feld in seine gut abgeschirmte Kabine hatte einbrechen können, aber über der Instrumentenkonsole flackerten Irrlichter, und er hörte das unmißverständliche Knattern und Knistern einer Büschelentladung.
Mit einer Reihe scharfer Knalle schaltete sich das Notsystem ein, und die Überlastschalter rasteten wieder ein. Die Lichter gingen flackernd an, und Falcons Lähmung verschwand ebenso schnell, wie sie ihn befallen hatte. Als er sich davon überzeugt hatte, daß alle Stromkreise wieder normal arbeiteten, ging er schnell zu einem der Aussichtsfenster. Die Außenlampen brauchte er nicht einzuschalten, denn die Kabel, an denen die Kapsel hing, schienen förmlich zu brennen. Blaues Elektrofeuer stand grell vor der Dunkelheit und reichte bis zum Äquator des riesigen Ballons hinauf, und an den Trossen rollten Feuerkugeln entlang. Der Anblick war von so unglaublicher und merkwürdiger Schönheit, daß er darin keine Drohung sehen konnte. Falcon wußte, daß nur wenige Menschen Kugelblitze aus solcher Nähe gesehen hatten, und sicher war keiner von ihnen in einem wasserstoffgefüllten Ballon auf der Erde gewesen und hatte es überlebt. Er erinnerte sich des Flammentodes der Hindenburg, die im Jahr 1937 in Lakehurst von einem Blitz getroffen worden war. Er hatte darüber einen Film gesehen, an den er sich jetzt lebhaft erinnert fühlte. Das konnte hier allerdings nicht passieren, obwohl er mehr Wasserstoff über seinem Kopf hatte als der letzte der Zeppeline in seinem mächtigen Bauch. Es würde noch einige Millionen Jahre dauern, ehe etwas in der Atmosphäre des Jupiter ein Feuer entzünden konnte. Mit einem Geräusch, das dem Brutzeln von Speck in der Pfanne ähnelte, wurde das Sprechgerät wieder lebendig. »Hallo, Kon-Tiki, können Sie empfangen? Können Sie empfangen?« Die Worte klangen wie der Ton einer zu fest gestopften Trompete und sehr verzerrt, aber Falcon konnte sie noch verstehen. Ihm war jetzt schon wohler zumute, als der Kontakt mit der Welt der Menschen wieder funktionierte. »Ich kann Sie hören«, antwortete er. »Ein enormes elektrisches Schauspiel, aber bis jetzt keine Schäden.« »Danke. Wir fürchteten schon, Sie verloren zu haben. Bitte, testen Sie sofort alle telemetrischen Kanäle, besonders drei, sieben und
sechsundzwanzig. Auch Kamera zwei. Und wir können nicht ganz glauben, daß die Angaben der Ionisationssonden stimmen.« Ein wenig widerstrebend riß Falcon seinen Blick los von dem großartigen Feuerwerk um die Kon-Tiki, obwohl er immer zwischendurch einen Blick hinauswarf. Zuerst verschwanden die Kugelblitze. Sie dehnten sich langsam aus, bis sie die kritische Größe erreichten, dann gab es eine leise Explosion, und weg waren sie. Aber noch eine Stunde später gab es auf allen Metallteilen außerhalb der Kapsel kleine Irrlichter und winzige Kugelblitze, und die Radiostromkreise prasselten und knatterten bis lange nach Mitternacht. In den restlichen dunklen Stunden passierte rein gar nichts – bis kurz vor Einbruch der Dämmerung. Falcon glaubte, das schwache Licht sei die erste Andeutung des Sonnenaufgangs, weil es sich im Osten zeigte. Dann wurde ihm klar, daß es dafür zwanzig Minuten zu früh war, und überdies wanderte der Schimmer, der sich erst nur am Horizont entlangbewegt hatte, nun ihm entgegen. Er konnte zuschauen, so schnell ging das. Der Lichtbogen löste sich von der Kuppel der Sterne, und dann sah er, daß es ein relativ schmales, aber klar gezeichnetes Band war. Ein riesiger Leuchtturmstrahl schien unter den Wolken zu spielen. Etwa hundert Kilometer hinter dem ersten Lichtbalken folgte parallel zu ihm ein zweiter, der sich mit derselben Geschwindigkeit bewegte; dahinter kam ein dritter, ein weiterer und immer mehr, bis der ganze Himmel ein flackerndes Streifenmuster aus Licht und Dunkelheit war. Falcon hatte geglaubt, gegen Wunder immun zu sein, und er hielt es für ausgeschlossen, daß diese reine, lautlose Luminosität irgendeine Gefahr darstellen könnte. Aber sie war so erstaunlich und unerklärlich, daß ihm ein kalter Schauer den Rücken entlanglief und nackte Angst an seiner Beherrschung nagte. Kein Mensch konnte von einem solchen Anblick überfallen werden, ohne daß er sich wie ein hilfloser Pygmäe Kräften gegenüber fühlte, die sein Begriffsvermögen weit überstiegen. War es denn möglich, daß es auf dem Jupiter nicht nur Leben, sondern auch Intelligenz gab? Und vielleicht sogar eine Intelligenz, die auf die Anwesenheit einer fremden Kreatur zu reagieren begann?
»Ja, wir sehen es auch«, sagte die Kontrollstation mit einer Stimme, die deutlich Ehrfurcht ausdrückte. »Wir haben keine Ahnung, was das ist. Bleiben Sie dran. Wir rufen Ganymed.« Allmählich verebbte dieses großartige Phänomen; die Bänder verloren ihre Leuchtkraft, so als seien die Energien, die sie nährten, erschöpft. In fünf Minuten war alles vorüber, und dann zuckte noch einmal ein schwaches Licht über den westlichen Horizont. Falcon war unaussprechlich erleichtert. Der Anblick war so hypnotisierend und gleichzeitig so beängstigend gewesen, daß er den Seelenfrieden selbst des stärksten Mannes zu erschüttern vermochte, wenn er diesem Schauspiel ausgesetzt war. Er gab es nicht gern zu, daß er zutiefst erschüttert war. Den elektrischen Sturm konnte er verstehen, aber das hier war völlig unverständlich gewesen. Die Kontrollzentrale schwieg noch immer. Er wußte, daß die Datencomputer auf Ganymed nach Erklärungen für dieses Problem durchforscht wurden. Konnte dort keine Antwort gefunden werden, mußte man sich an die Erde wenden, und das bedeutete eine Verzögerung von einer Stunde. Die Möglichkeit, daß auch die Erde keine Erklärung bereit hatte, wagte Falcon gar nicht in Erwägung zu ziehen. Noch nie vorher war er so froh gewesen, die Stimme der Kontrollzentrale wieder zu vernehmen, als Dr. Brenner sich endlich einschaltete. Der Biologe schien ein wenig erleichtert, aber auch etwas gedämpfter Stimmung zu sein, als habe er eben eine intellektuelle Krise durchgemacht. »Hallo, Kon-Tiki! Wir haben Ihr Problem gelöst, aber wir können selbst noch nicht recht daran glauben. Was Sie sahen, war eine Biolumineszenz, sehr ähnlich jener, wie sie von Mikroorganismen in den tropischen Meeren der Erde erzeugt wird. Hier treten sie in der Atmosphäre statt im Wasser auf, aber im Prinzip ist es dasselbe.« »Aber dieses Muster«, protestierte Falcon. »Es war so regelmäßig, so künstlich. Und es hatte nach allen Seiten eine Ausdehnung von Hunderten von Kilometern!«
»Es war noch viel größer, als Sie glauben. Sie haben ja nur einen geringen Teil beobachten können. Das gesamte Muster war mehr als fünftausend Kilometer breit und sah aus wie ein sich drehendes Rad. Sie sahen nur die Speichen, die sich mit einer Geschwindigkeit von mehr als achthundert Meter pro Sekunde bewegten.« »In der Sekunde? Nein, Tiere können sich nicht so schnell bewegen!« wandte Falcon ein. »Nein, natürlich nicht. Ich möchte es Ihnen erklären. Was Sie sahen, war ausgelöst von der Schockwelle Beta, die sich mit Schallgeschwindigkeit fortbewegte.« »Aber das Muster?« »Das ist das Erstaunliche daran. Es ist ein sehr seltsames Phänomen, aber die gleichen Lichträder – nur sehr viel kleiner – wurden am Persischen Golf und am Indischen Ozean beobachtet. Hören Sie sich das an: ›Britisch-Indische Company Patna, Persischer Golf, Mai 1880, 11. 30 Uhr vormittags: Ein riesiges leuchtendes Rad wirbelte herum, dessen Speichen das Schiff zu streifen schienen. Diese Speichen waren 200 oder 300 Yards lang, und jedes Rad hatte etwa sechzehn Speichen… ‹ Und hier ein Bericht vom Golf von Omar vom 23. Mai 1906: ›Das sehr intensive Leuchten näherte sich uns außerordentlich schnell, schoß kurz nacheinander scharf abgesetzte Lichtstrahlen in den Westen, wie etwa das Suchlicht eines Kriegsschiffes… Links von uns formte sich ein riesiges Feuerrad mit Speichen, die so weit reichten, wie wir sehen konnten. Das ganze Rad drehte sich zwei oder drei Minuten lang im Kreis… ‹ Der Archivcomputer auf Ganymed hat etwa fünfhundert ähnliche Fälle ausgegraben, und wenn wir ihn nicht abgeschaltet hätten, wären wir von dem ausgedruckten Zeug begraben worden.« »Ich bin ja überzeugt, trotzdem aber sehr bestürzt.« »Das kann ich Ihnen nicht verdenken. Erst gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dafür eine Erklärung gefunden. Es scheint, daß diese Leuchträder die Ergebnisse von Unterwasserbeben sind und immer in seichten Gewässern vorkommen, wo die Schockwellen reflektiert werden und damit Wellenmuster erzeugen können. Manchmal sind es Streifen, dann wieder sich drehende Räder, und die wurden ›Räder des Poseidon‹ genannt. Diese Theorie wurde
bestätigt, als man Unterwasserexplosionen auslöste und die Ergebnisse von einem Satelliten aus filmte. Kein Wunder, daß die Seeleute so abergläubisch waren. Wer hätte schon an eine natürliche Erklärung für solche Dinge gedacht?« Das war es also. Als Beta sozusagen den Deckel abwarf, liefen Schockwellen in alle Richtungen durch die komprimierten Gase der tieferen Atmosphäre, selbst durch die Planetenmasse. Diese Wellen trafen aufeinander, kreuzten und überschnitten sich, wurden hier aufgehoben, dort verstärkt, und der ganze Planet hatte gedröhnt wie eine riesige Glocke. Doch diese Erklärung konnte das ehrfürchtige Staunen nicht mindern. Falcon würde niemals mehr die flackernden Lichtbänder vergessen, die durch die unerreichbaren Tiefen der Jupiteratmosphäre rasten. Er hatte das Gefühl, nicht nur auf einem fremden Planeten zu sein, sondern in einem magischen Zwischenreich zwischen Mythos und Wirklichkeit. Auf dieser Welt konnte praktisch alles passieren, und kein Mensch konnte auch nur annähernd vermuten, was die Zukunft noch bringen würde. Und er hatte noch einen vollen Tag vor sich…
6 Als dann endlich die Dämmerung anbrach, schlug das Wetter um. Die Kon-Tiki bewegte sich wie durch einen Blizzard; wächserne Schneeflocken fielen so dicht, daß die Sicht praktisch auf Null reduziert war. Falcon machte sich allmählich Sorgen um das Gewicht, das sich auf der Hülle ansammeln konnte. Dann bemerkte er, daß einige Flocken, die sich vor den Fenstern niedergelassen hatten, sich schnell auflösten. Die ununterbrochene Wärmeabstrahlung der Kon-Tiki verdampfte sie so schnell wie sie ankamen. Auf der Erde hätte er sich unter diesen Umständen große Sorgen wegen einer möglichen Kollision gemacht. Hier war das keine Gefahr.
Die Berge des Jupiters lagen etliche hundert Kilometer tiefer, und die schwimmenden Schauminseln, auf die er vielleicht treffen konnte, waren vermutlich nicht härter als kräftige Seifenblasen. Trotzdem schaltete er das Horizontalradar ein, das bis jetzt unbenützt geblieben war. Nur der Vertikalstrahl, der ihm die Entfernung von der Planetenoberfläche anzeigte, war von Wert gewesen und jetzt erlebte er eine neue Überraschung. Über den riesigen Himmelsausschnitt vor ihm waren starke, leuchtende Echos verteilt. Sie waren voneinander deutlich isoliert und hingen anscheinend frei im Raum. Falcon erinnerte sich eines Ausdrucks eines frühen Luftschiffers, der einmal gesagt hatte: ›Wolken, die mit Steinen ausgestopft sind‹. Das war eine treffende Beschreibung dessen, was nun auf dem Kurs der Kon-Tiki zu liegen schien. Es war ein recht niederschmetternder Anblick, obwohl sich Falcon immer wieder daran erinnerte, daß nichts wirklich Kompaktes in dieser Atmosphäre enthalten sein konnte. Vielleicht war es ein merkwürdiges meteorologisches Phänomen. Jedenfalls war das nächste Echo etwa zweihundert Kilometer weit weg. Er gab einen Bericht an die Kontrollzentrale durch, aber dort wußte man keine Erklärung. Nur sagte man ihm, und das war eine angenehme Nachricht, daß der Blizzard in dreißig Minuten vorüber sein müßte. Von dem heftigen Seitenwind, der die Kon-Tiki fast rechtwinkelig von ihrem Kurs abtrieb, erwähnten sie nichts. Falcon mußte seine ganze Geschicklichkeit zusammennehmen, um sein kleines Fahrzeug vor dem Umschlagen zu bewahren. Innerhalb weniger Minuten raste er mit fünfhundert Kilometer pro Stunde in nördlicher Richtung weiter. Dann hörte ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatte, die Turbulenz wieder auf. Seine Geschwindigkeit war noch immer sehr hoch, doch jetzt war die Luft wieder ruhig. Vielleicht war er in eine Strömung geraten, die den Jetströmen der Erde ähnelten. Dann hörte auch der »Schneesturm« auf, und er sah, was der Jupiter für ihn vorbereitet hatte. Die Kon-Tiki war in den Trichter eines gewaltigen Luftwirbels geraten, der einen Durchmesser von mindestens tausend Kilometer hatte. Der Ballon wurde an einer gekrümmten Wolkenwand entlanggewirbelt. Über
ihm schien die Sonne aus einem klaren Himmel; aber unter ihm bohrte sich dieses gigantische Loch in der Atmosphäre in unbekannte Tiefen, und seinen Boden bildete nebelhafte Schicht, wo ununterbrochen Blitze zuckten. Sein Fahrzeug wurde zwar so langsam hinabgezogen, daß keine unmittelbare Gefahr bestand, aber Falcon verstärkte trotzdem die Hitzeabgabe an den Ballon, bis sich die Kon-Tiki auf einer bestimmten Höhe halten konnte. Erst dann konnte er sich von dem großartigen Spektakel draußen losreißen und seine Aufmerksamkeit wieder dem Radar zuwenden. Das nächste Echo lag etwa vierzig Kilometer entfernt. Alle verteilten sich entlang der Trichterwand und bewegten sich mit ihr; sie schienen ebenso wie die Kon-Tiki selbst in den Strudel gezogen worden zu sein. Er richtete das Teleskop entlang des Radarimpulses aus und hatte nun im Blickfeld eine merkwürdige gefleckte Wolke. Sie war nur ein wenig dunkler als die wirbelnden Nebelmassen des Hintergrundes. Erst als er sie einige Minuten lang genau beobachtet hatte, wurde ihm klar, daß er sie schon einmal gesehen hatte. Beim erstenmal war sie über die treibenden Schaumberge gekrochen, und er hatte sie für einen riesigen, vielstämmigen Baum gehalten. Erst jetzt konnte er ihre richtige Größe besser erfassen und ihr auch einen passenderen Namen geben. Einem Baum glich sie auf gar keinen Fall, sondern eher einer Qualle, einer Meduse, die im warmen Golfstrom trieb. Diese Meduse war aber über fünfzehnhundert Meter breit, der nach unten hängende Magenstiel über hundert Meter lang. Sie schwebten gleichmäßig vor und zurück, fast als rudere diese Qualle langsam und gemächlich durch den Himmel. Die anderen Echos waren nichts anderes als weiter entfernte Medusen. Falcon stellte das Teleskop auf einige davon ein und erkannte keinen Unterschied zwischen ihnen in Größe oder Form. Alle schienen der gleichen Spezies anzugehören, und er wunderte sich darüber, daß sie so lässig in tausend Kilometer Höhe trieben. Vielleicht nährten sie sich von Luftplankton, das, der Wirbel ebenso eingesogen hatte wie die Kon-Tiki.
»Howard, sind Sie sich darüber klar, daß diese Qualle hunderttausendmal größer ist als ein Wal?« fragte Dr. Brenner, als er sich von seinem anfänglichen Staunen erholt hatte. »Und wenn es auch nichts anderes sein mag als eine Gasblase, so wiegt sie doch eine Million Tonnen! Seinen Stoffwechsel kann ich mir gar nicht vorstellen. Es muß Megawatts an Hitze erzeugen, um in der Atmosphäre treiben zu können.« »Aber wenn es nur eine Gasblase ist, warum ist es dann ein so ausgezeichneter Radarreflektor?« »Da habe ich keine Ahnung. Können Sie näher herangehen?« Brenners Frage war ernst gemeint. Wenn er die Flughöhe veränderte, um die verschiedenen Windgeschwindigkeiten ausnützen zu können, dann mußte sich Falcon auch der Meduse soweit nähern können, wie er wollte. Im Moment zog er es jedoch vor, seinen 40-Kilometer-Abstand beizubehalten, und das sagte er auch. »Ich verstehe, was Sie meinen«, antwortete Brenner ein wenig zögernd. »Dann bleiben wir im Augenblick auch dort, wo wir sind.« Dieses Wir amüsierte Falcon ein wenig. Hunderttausend Kilometer von seinem Standort entfernt sah man die Dinge natürlich in einem ganz anderen Licht. In den folgenden zwei Stunden trieb die Kon-Tiki im Trichter des riesigen Wirbels, ohne daß etwas passierte. Falcon experimentierte mit Filtern und Objektiven, um einen klaren Blick auf die Meduse zu erhalten. Vielleicht war die sich kaum abhebende Farbe eine Tarnung? Viele irdische Tiere paßten sich im Augenblick der Gefahr dem Hintergrund an. Das war ein Trick, dessen sich Jäger ebenso bedienten wie Gejagte. In welche Kategorie gehörte die Meduse? Diese Frage ließ sich in der kurzen ihm verbleibenden Zeit kaum beantworten. Aber dann kam kurz vor der Mittagszeit ohne jede Vorwarnung die Antwort… Fünf Rochen kamen wie eine Staffel Düsenjäger durch den Nebel, der den Trichter des Wirbels bildete. Sie flogen in V-Formation direkt auf die blaßgraue Blase der Meduse zu. Falcon zweifelte nicht im mindesten daran, daß sie anzugreifen gedachten. Er hatte sich also geirrt, wenn er geglaubt hatte, es seien harmlose Pflanzenfresser.
Doch alles spielte sich sehr lässig ab, fast so, als spule ein Film im Zeitlupentempo ab. Die Rochen näherten sich mit einer Geschwindigkeit von höchstens fünfzig Kilometer pro Stunde, und es dauerte unendlich lange, bis sie die Meduse erreichten, die sich absolut nicht stören ließ und wesentlich langsamer weitertrieb. Im Verhältnis zu diesem Ungeheuer, dem sie sich näherten, wirkten die Rochen winzig, und als sie sich dann auf ihrem Schirm niederließen, wirkten sie wie Vögel, die sich einem Wal auf den Rücken setzten. Ob die Meduse sich verteidigen konnte? Falcon war der Meinung, die angreifenden Rochen seien solange nicht in Gefahr, als. sie den riesigen, unbeholfen herabhängenden Tentakeln ausweichen konnten. Und vielleicht wußte ihr unfreiwilliger Gastgeber gar nichts von ihrer Anwesenheit. Sie konnten ebenso unbedeutende Parasiten sein wie Flöhe auf einem Hund. Aber bald ließ sich erkennen, daß die Meduse in Schwierigkeiten geraten war. Mit unendlicher Langsamkeit bekam sie Schräglage wie ein kenterndes Schiff. Nach zehn Minuten hatte sie sich etwa um fünfundvierzig Grad geneigt. Und an Höhe verlor sie ebenfalls. Unwillkürlich tat ihm das belagerte Untier leid, und außerdem löste der Vorgang bei Falcon auch bittere Erinnerungen aus. Auf groteske Art war der Untergang der Meduse fast eine Parodie auf die sterbende Queen. Doch er wußte, daß seine Sympathie der falschen Seite galt. Hohe Intelligenz entwickelte sich nur bei Räubern, nicht bei ungeschickt dahintreibenden Ungetümen der Meere oder der Luft. Die Rochen waren viel höher entwickelt als diese monströse Gasblase. Und außerdem – wer konnte schon wirklich mit einer Kreatur Mitgefühl haben, die hunderttausendmal größer war als ein Wal? Dann bemerkte er, daß die Taktik der Meduse doch einigen Erfolg zeitigte. Die Rochen schienen von dem langsamen Rollen etwas verstört zu sein und verließen zappelnd den Schirm der Qualle, etwa so wie Aasgeier, die bei ihrer Mahlzeit gestört wurden. Aber sie bewegten sich nicht weit weg und lauerten in unmittelbarer Nähe des sich noch langsam drehenden Ungeheuers. Plötzlich gab es einen grellen Blitz und gleichzeitig ein trommelfellzerreißendes statisches Krachen im Lautsprecher. Einer der
Rochen flatterte, überschlug sich und stürzte senkrecht in die Tiefe, eine schwarze Wolke hinter sich herziehend. Der Vergleich mit einem brennend abstürzenden Flugzeug war schon fast gespenstisch. Gleichzeitig flatterten die verbliebenen Rochen steil von der Meduse weg, verloren an Höhe, gewannen aber an Tempo. Innerhalb weniger Minuten waren sie wieder in die Wolkenwand eingetaucht, aus der sie gekommen waren. Die Meduse kenterte nun nicht weiter, sondern kehrte langsam wieder in die Horizontale zurück. Bald segelte sie wieder auf ebenem Kiel dahin, als sei gar nichts geschehen. »Wie schön!« rief Dr. Brenner nach einem Moment verblüfften Schweigens. »Es hat ein elektrisches Abwehrsystem entwickelt, fast so wie unsere Aale und Rochen. Nur müssen es hier mindestens eine Million Volt gewesen sein! Können Sie irgendwelche Organe erkennen, die eine solche Entladung bewirkt haben? Oder etwas, das vielleicht Elektroden ähnelt?« »Nein«, antwortete Falcon, nachdem er das Teleskop auf stärkste Vergrößerung eingestellt hatte. »Aber hier ist etwas recht Merkwürdiges. Sehen Sie dieses Muster? Vergleichen Sie es mit früheren Eindrücken. Ich bin sicher, es war bis eben noch nicht hier.« Ein breites, fleckiges Band war an der Seite der Meduse erschienen. Es wies ein erstaunlich regelmäßiges und klares Schachbrettmuster auf, und jedes Quadrat wies wiederum kurze Querlinien auf. Die Abstände zwischen diesen senkrechten Linien waren erstaunlich gleichmäßig; es war eine streng geometrische Anordnung. »Sie haben recht«, sagte Dr. Brenner fast ehrfürchtig. »Dieses Muster ist gerade erschienen. Und ich habe fast Angst, Ihnen zu sagen, was es ist.« »Nun, ich habe keine Reputation zu verlieren, wenigstens nicht als Biologe. Soll ich sagen, was ich glaube?« »Ja, bitte.« »Das ist die Frequenzskala eines altmodischen Radiogeräts, wie sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Benützung war.« »Ich fürchtete, daß Sie das sagen würden. Aber jetzt wissen wir, warum es ein so starkes Echo ausschickte.«
»Warum ist das Muster gerade erst erschienen?« »Vielleicht ist das eine Nachwirkung der kurz vorher erfolgten Entladung.« »Mir fiel eine andere Erklärung ein. Glauben Sie, es könnte uns zuhören?« »Auf dieser Frequenz? Das bezweifle ich. Das sind Meter- nein, Dekameterantennen, wenn man von der Größe ausgeht. Hm… eine Möglichkeit wäre das schon…« Dr. Brenner schien dann über etwas anderes nachzudenken. Nach einer Weile fuhr er fort: »Ich wette, diese Muster sind auf Radiostrahlungsausbrüche eingestellt. So etwas hat die Natur auf der Erde niemals zustandegebracht… Natürlich haben wir Tiere mit sonaren und sogar elektrischen Sinnen, aber einen Radiosinn hat noch keines entwickelt. Warum auch? Bei uns gibt es ja genug Licht. Hier ist das ganz anders. Der Jupiter ist geradezu gesättigt mit Radioenergie. Es zahlt sich aus, sich ihrer zu bedienen, sie anzuzapfen. Das Ding könnte ein schwimmendes E-Werk sein.« Eine neue Stimme schaltete sich ein. »Hier spricht der Kommandant der Kontrollstation. Das ist alles sehr interessant, aber wir haben eine noch viel wichtigere Frage zu klären. Ist es ein intelligentes Wesen? Wenn ja, müssen wir uns erste Kontaktmöglichkeiten überlegen.« »Bis ich hierher kam«, antwortete Dr. Brenner eine Spur verlegen, »hätte ich geschworen, daß alles, was eine Kurzwellenantenne erzeugen kann, unbedingt intelligent sein müsse. Jetzt bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher. Das hier könnte sich ganz natürlich entwickelt haben. Ich nehme sogar an, daß es keine viel anders geartete Entwicklung ist als das menschliche Auge.« »Dann müssen wir im Zweifelsfalle Intelligenz annehmen. Deshalb gilt von diesem Moment an für die Expedition die Anweisung Nummer eins.« Es herrscht langes Schweigen, weil alle erst die Konsequenzen dieser Mitteilung verdauen mußten. Zum erstenmal in der Geschichte der Raumfahrt sollten nun die Regeln angewandt werden, um die man sich
fast ein Jahrhundert lang gestritten hatte. Der Mensch hatte, so hoffte man wenigstens, aus den Fehlern auf der Erde gelernt. Man stellte nicht nur moralische Überlegungen an, sondern das eigene Interesse forderte, daß die irdischen Fehler nicht auf anderen Planeten wiederholt wurden. Es konnte sich verheerend auswirken, wenn eine überlegene Intelligenz so behandelt wurde, wie die Amerikaner einst die Indianer oder wie alle anderen die Afrikaner behandelt hatten… Die erste und wichtigste Regel lautete: Abstand halten. Keinen Annäherungsversuch unternehmen, keinen Verständigungsversuch, bis »die anderen« ausreichend Zeit gehabt hatten, den Neuankömmling zu studieren. Was man unter ausreichender Zeit verstand, hatte niemand definiert. Das mußte den Menschen an Ort und Stelle überlassen bleiben. Howard Falcon sah sich nun mit einer Verantwortung belastet, mit der er niemals gerechnet hatte. In den wenigen Stunden, die ihm noch auf dem Jupiter verblieben, konnte er zum ersten Botschafter der menschlichen Rasse im Weltall werden. Das war eine solche Ironie, daß er fast wünschte, die Chirurgen hätten ihm die Gabe schallenden Gelächters wiedergeschenkt…
7 Es wurde dunkler, aber Falcon bemerkte es kaum, während er im Teleskop die lebende Wolke studierte. Der Wind trieb die Kon-Tiki immer weiter herum im Trichter des gewaltigen Wirbels und hatte ihn nun dieser merkwürdigen Kreatur auf etwa zwanzig Kilometer genähert. Auf mehr als zehn Kilometer durfte er nicht herangehen, sondern mußte auszuweichen versuchen. Er war davon überzeugt, daß die Elektrowaffen der Meduse nicht weit reichten, aber ausprobieren wollte er es nicht. Damit sollten sich künftige Forscher befassen, und denen wünschte er dazu viel Glück.
In der Kapsel wurde es nun ganz dunkel. Das war merkwürdig, weil der Sonnenuntergang erst in einigen Stunden fällig war. Automatisch warf er einen Blick auf das Horizontal-Radarsuchgerät, wie er es alle paar Minuten tat. Außer der Meduse, die er ja eingehend studierte, befand sich kein anderes Objekt in einem Umkreis von hundert Kilometer in seiner Nähe. Plötzlich hörte er wieder jenen Laut, der in der Jupiternacht gedröhnt hatte, jenen Trommelwirbel, der immer schneller wurde, dann aber urplötzlich abbrach. Die ganze Kapsel vibrierte wie eine Erbse in einer Kesselpauke. Falcon bemerkte fast gleichzeitig zwei Dinge: Diesmal kam der Lärm nicht aus größerer Entfernung über Radiostrahlen. Er war in der Atmosphäre, die ihn unmittelbar umgab. Der zweite Gedanke war noch viel besorgniserregender. Er hatte vergessen – das war unentschuldbar –, daß fast der ganze Himmel über ihm von dem riesigen Gasballon, an dem die Kon-Tiki hing verdeckt war. Sie war leicht versilbert, um die Hitze besser zu speichern, und so war der riesige Ballon ein sehr wirksamer Schild gegen Strahlung, aber auch gegen Sicht. Das hatte er natürlich gewußt. Es war ein kleiner Nachteil seiner Kapselkonstruktion, den er in Kauf genommen hatte, weil er ihn nicht für wichtig gehalten hatte. Jetzt war er aber plötzlich sehr wichtig geworden, denn er sah ein Gitter aus riesigen Tentakeln, von denen jeder dicker war als ein dicker Baumstamm, um die Kapsel herum herabsinken. »Anweisung eins nicht vergessen!« hörte er Brenner schreien. »Nicht erschrecken!« Bevor er eine passende Antwort geben konnte, begann dieser betäubende Trommelwirbel erneut und ertränkte alle anderen Geräusche. Ein wirklich tüchtiger Testpilot beweist seine Fähigkeiten nicht in der Reaktion auf vorhersehbare Ereignisse, sondern dann, wenn etwas eintritt, womit niemand hat rechnen können. Falcon zögerte nicht länger als eine Sekunde, dann analysierte er die Lage. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog er die Reißleine. Nun ist dieses Wort ein Relikt aus den ersten Tagen der Wasserstoffballons; die Reißleine der Kon-Tiki riß die Gashülle nicht auf,
sondern betätigte eine Art Jalousie, die um die obere Wölbung der Hülle lief. Sofort strömte heißes Gas aus, und die Kon-Tiki begann sehr schnell zu fallen, da das Schwerefeld des Jupiter zweieinhalb mal so stark wie das der Erde ist. Falcon erspähte gerade noch die riesigen Tentakel, die nach oben verschwanden. Er hatte noch so viel Zeit, zu sehen, daß sie mit riesigen Blasen oder Säcken ausgestattet waren, mit denen sich die Medusa vielleicht in der Atmosphäre hielt, die also wie Schwebetanks wirkten. Sie endeten in zahlreichen dünnen Fühlern, die wie die Haarwurzeln von Pflanzen aussahen. Schon erwartet er einen grellen Blitz, doch es geschah nichts. Seine Fallgeschwindigkeit ließ nach, als die Atmosphäre dichter wurde. Nun wurde die halbleere Gashülle zum Fallschirm. Als die Kon-Tiki etwa dreitausend Meter gefallen war, hielt er es für sicher, die Jalousien wieder zu schließen. Bis er die Kapsel wieder völlig im Gleichgewicht hatte, war er weitere tausendfünfhundert Meter gefallen. Besorgt spähte er durch das Deckenfenster, obwohl er außer dem Ballon nichts zu sehen erwartete. Aber er war während des Fallens auch seitlich abgetrieben worden, und ein paar Kilometer über ihm war noch immer ein Teil der Meduse zu sehen. Sie war viel näher, als er geglaubt und gehofft hatte, und sie fiel mit einer Geschwindigkeit, die er nie für möglich gehalten hätte. Die Kontrollstation zeigte sich ungeheuer besorgt. Er rief zurück: »Mir fehlt nichts, aber das Vieh ist hinter mir her. Ich kann nicht mehr tiefer gehen.« Das stimmte nicht ganz, denn er konnte noch sehr viel tiefer gehen, noch etwa zweihundertneunzig Kilometer. Aber den größten Teil dieser Strecke hätte er als Toter zurückgelegt, und eine Rückfahrkarte hatte er auch nicht dabei. Dann bemerkte er zu seiner großen Erleichterung, daß die Meduse sich seitlich absetzte. Sie war nur noch anderthalb Kilometer über ihm und mußte wohl beschlossen haben, sich dem seltsamen Eindringling mit Vorsicht zu nähern. Oder vielleicht waren auch für sie die unteren Schichten der Atmosphäre ungemütlich warm. Jetzt schon las Falcon eine Temperatur von fünfzig Grad C. ab, und er machte sich Gedanken
darüber, wie lange das Versorgungssystem der Kapsel noch mitmachen würde. Dann meldete sich Dr. Brenner wieder, der sich noch immer mit Gedanken über die Anweisung eins herumschlug. »Vergessen Sie nicht, das Ding ist vielleicht nur neugierig!« rief er, wenn auch wenig überzeugt. »Erschrecken Sie es bloß nicht!« Falcon hielt diesen Rat für außerordentlich überflüssig. Ihm fiel eine TV-Diskussion ein zwischen einem Anwalt für Weltraumrecht und einem Astronauten. Nachdem die Konsequenzen der Anweisung eins lang und breit besprochen worden waren, hatte der Astronaut ausgerufen: ›Wenn es also keine Alternative gibt, dann muß ich mich wohl auffressen lassen?‹ Der Anwalt hatte nicht mit der Wimper gezuckt und völlig ernst geantwortet: ›Darauf läuft es wohl hinaus!‹ Damals hatte Falcon darüber gelächelt. Jetzt erschien es ihm nicht mehr so amüsant. Und nun entdeckte Falcon etwas, das noch größere Besorgnis in ihm auslöste. Die Meduse lauerte noch immer etwa fünfzehnhundert Meter über ihm, aber einer der Tentakel hatte sich unglaublich verlängert und streckte sich nach der Kon-Tiki aus; dabei wurde er immer dünner. Als Junge hatte er einmal über den Ebenen von Kansas einen Tornadotrichter gesehen, der aus einer Gewitterwolke herabkam. Daran erinnerte ihn jetzt dieser Tentakel. »Jetzt habe ich keine große Wahl mehr«, meldete er der Kontrollstation. »Entweder ich erschrecke das Biest, oder es kriegt gewaltige Magenschmerzen. Denn ich glaube nicht, daß es die Kon-Tiki besonders schmackhaft oder leichtverdaulich finden wird, falls es entsprechende Absichten haben sollte.« Er wartete auf Brenners Kommentar, aber der Biologe hüllte sich in Schweigen. »Na schön. Es ist noch siebenundzwanzig Minuten zu früh, aber ich stelle jetzt die Zündung ein. Ich hoffe noch genug Reserve zu haben, daß ich die Umlaufbahn später korrigieren kann.« Die Meduse sah er nicht mehr; vermutlich war sie genau über ihm. Aber er wußte, daß der verlängerte Tentakel dem Ballon immer näher
kam. Und es dauerte mindestens fünf Minuten, bis der Antriebsreaktor volle Energie lieferte… Die Zündung war erfolgt, und der Orbitcomputer hatte die Situation nicht als unmöglich zurückgewiesen. Die Ansaugdüsen waren geöffnet, um tonnenweise das Hydrohelium der Atmosphäre einsaugen zu können. Selbst unter optimalen Bedingungen wäre dies der Augenblick der Wahrheit gewesen – es hatte ja keine Möglichkeit gegeben, die nuklear angetriebenen Schubaggregate auf ihre Wirksamkeit in der Atmosphäre des Jupiter zu testen. Die Kon-Tiki schaukelte sanft hin und her. Falcon versuchte es zu übersehen. Die Zündung war zehn Kilometer höher vorgesehen gewesen, in einer Atmosphäre, die dreißig Grad kühler war und nur ein Viertel der jetzigen Dichte hatte. Schade. Wie konnte er am flachsten abkommen, damit die Düsen auch richtig arbeiteten? Und die Ansaugdüsen mußten auch in einem bestimmten Winkel stehen. Hoffentlich kam er rechtzeitig weg… Eine riesige Pranke berührte den Ballon. Die ganze Konstruktion hüpfte auf und ab, wie ein Ball an einem Gummifaden. Natürlich konnte Brenner recht haben. Vielleicht wollte das Ding nur freundlich sein. Sollte er vielleicht versuchen, sich über Funk mit ihm zu verständigen? Vielleicht so: Ach, bist du ein schönes Kätzchen! Oder: Setz dich, Hasso. Oder: Bring mich zu deinem Vorgesetzten. Das Verhältnis Tritium-Deuterium stimmte. Er war also bereit, seine Kerze mit einem Hundertmillionengrad-Zündholz anzuzünden. Die dünne Tentakelspitze glitt um die Ballonwölbung, kaum sechzig Meter entfernt. Sie hatte etwa das Format eines Elefantenrüssels, bewegte sich auch so ähnlich und schien ebenso empfindlich zu sein. Am Ende befanden sich mundförmige Tastorgane. Dr. Brenner wäre sicher fasziniert, wenn er das sehen könnte. Falcon schien die Zeit günstig zu sein. Mit einem Blick überschaute er das ganze Instrumentenbrett, begann den letzten Viersekunden-Countdown, brach das Siegel und drückte auf den Zündknopf.
Es gab eine scharfe Explosion und einen sofortigen Gewichtsverlust. Die Kon-Tiki befand sich mit der Nase voran im freien Fall. Über ihr hob sich der abgeworfene Ballon nach oben weg und zog den neugierigen Tentakel mit. Falcon hatte keine Zeit, um feststellen zu können, ob der Ballon die Meduse auch erwischte, denn in diesem Moment zündeten die Düsen, und jetzt hatte er an wichtigere Dinge zu denken. Aus den Reaktorrohren schoß eine Säule heißen Hydroheliums, die schnell Schub aufbaute, aber zum Jupiter hinab, nicht weg von der Oberfläche. Aber er konnte die Kapsel doch nicht in die Höhe ziehen, weil die Vektorensteuerung zu langsam reagierte. Erst mußte er in einen einwandfreien Horizontalflug übergehen; das mußte aber in den nächsten fünf Sekunden geschehen, weil er sonst zu tief in die Atmosphäre eintauchte, und dann wurde die Kapsel vernichtet. Diese fünf Sekunden dehnten sich zur Ewigkeit. Endlich gelang es ihm, die Flugbahn abzuflachen und die Nase nach oben zu ziehen. Nur einmal schaute er zurück und erspähte gerade noch die Meduse. Sie war schon viele Kilometer weit weg. Die abgeworfene Ballonhülle der KonTiki schien ihr entglitten zu sein, denn er konnte sie nirgends mehr sehen. Endlich trieb er nicht mehr hilflos vor den Jupiterwinden, sondern ritt auf einer gesteuerten Säule aus Atomfeuer zurück zu den Sternen. Er hatte volles Zutrauen zu den Düsen, die ihm den nötigen Auftrieb verliehen, um mit nahezu Orbitalgeschwindigkeit den Rand der Planetenatmosphäre zu erreichen. Dann bedurfte es nur noch einer kurzen Raketenzündung, um die Freiheit des Raumes zu gewinnen. Auf halbem Weg zur äußeren Umlaufbahn blickte er nach Süden und sah das Rätsel des Großen Roten Flecks, dieser schwimmenden Insel, die zweimal so groß war wie die ganze Erde; sie zog gerade über den Horizont herauf. Er schaute auf ihre geheimnisvolle Schönheit hinab, bis der Computer ihn warnte, daß in sechzig Sekunden die Steuerraketen zu zünden waren. Es fiel ihm schwer, sich von diesem Anblick loszureißen. »Ein andermal«, murmelte er. »Was sagten Sie?« erkundigte sich die Kontrollzentrale. »Bedeutungslos«, antwortete er.
8 »Jetzt bist du ein Held, Howard«, sagte Webster, »nicht nur eine Berühmtheit. Du hast ihnen etwas gegeben, worüber sie nachdenken müssen. Du hast ein wenig Aufregung in ihr Leben gebracht. Nicht einer in einer Million wird wirklich zu den äußeren Giganten reisen, aber die ganze Menschheit wird im Geist mit dabei sein. Und das ist es, was zählt.« »Ich freue mich, daß ich dir deinen Job ein wenig erleichtert habe.« Webster war ein zu alter Freund, als daß er die Ironie in diesen Worten übelgenommen hätte. Und es war nicht die erste Veränderung, die er an Howard seit seiner Rückkehr vom Jupiter bemerkt hatte. »Ich beklage mich nicht über meine Arbeit. Neue Erkenntnisse, neue Verfahren – oh, das ist alles in Ordnung. Aber der Mensch braucht ab und zu auch etwas Neuartiges und Erregendes. Die Raumfahrt ist schon zur Routine geworden. Du hast sie wieder zum Abenteuer werden lassen. Es wird sehr lange dauern, bis der Jupiter erforscht wird. Und vermutlich dauert es noch viel, viel länger, ehe wir diese Medusen verstehen. Ich glaube zumindest, eine von ihnen wußte, wo deine schwache Stelle war. Hast du dich schon entschieden, was du als nächstes tun willst? Saturn, Uranus, Neptun – du kannst dir’s aussuchen.« »Ich weiß nicht recht… Ich habe zwar an den Saturn gedacht, aber dort braucht man mich ja eigentlich nicht. Dort herrscht doch nur ein G, nicht zweieinhalb wie auf dem Jupiter. Damit wird jeder normale Mensch fertig.« Mensch, überlegte Webster. Er spricht dieses Wort so selten aus. Und wann habe ich ihn zuletzt wir sagen hören? Er verändert sich, entzieht sich uns immer mehr…
»Nun«, sagte er und stand auf, um sein Unbehagen zu verbergen, »wir wollen also mit der Konferenz beginnen. Die Kameras sind schon aufgestellt, und alle warten. Du wirst sehr viele alte Freunde treffen.« Die letzten Worte betonte er besonders, aber Howard schien sie nicht gehört zu haben. Die lederne Maske seines Gesichtes war immer schwerer zu deuten. Er rollte sich zurück vom Schreibtisch des Administrators, löste die Sperre seines Fahrgestells, so daß es keinen Stuhl mehr bildete, und erhob sich auf seiner Hydraulik zu seinen vollen zwei Metern und zehn. Es war ein ausgezeichneter Einfall der Chirurgen gewesen, ihm zusätzliche dreißig Zentimeter an Körpergröße zu geben, um ihn wenigstens zu einem geringen Teil für all das zu entschädigen, was er beim Absturz der Queen verloren hatte. Falcon wartete, bis Webster die Tür geöffnet hatte, dann drehte er sich geschickt auf seinen Ballonreifen und näherte sich ihr lautlos. Geschwindigkeit und Genauigkeit der Bewegung wurden nicht arrogant zur Schau gestellt; jede seiner exakten Bewegungen schien unbewußt zu sein. Howard Falcon, der einmal ein Mensch gewesen war und der, solange man nur seine Stimme hörte, auch noch als solcher gelten konnte, hatte das beruhigende Gefühl, etwas erreicht zu haben. Zum erstenmal seit Jahren hatte er so etwas wie Zufriedenheit des Geistes gefunden. Seit seiner Rückkehr vom Jupiter kamen keine Alpträume mehr. Er hatte die ihm entsprechende Rolle gefunden. Jetzt wußte er auch, weshalb er immer von diesem Superchimp an Bord der zum Untergang verdammten Queen Elisabeth geträumt hatte. Er war weder Mensch noch Tier gewesen; er hatte zwischen zwei Welten gelebt, so wie jetzt. Er allein konnte sich ungeschützt auf der Mondoberfläche bewegen. Das Lebenserhaltungssystem in der Metallkonstruktion, die seinen zerbrechlichen menschlichen Körper ersetzt hatte, funktionierte im Raum ebenso gut wie unter Wasser. Schwerefelder vom Zehnfachen der Erde waren zwar eine Unbequemlichkeit, aber auch nicht mehr. Und keine Schwerkraft war das schönste Gefühl überhaupt… Die menschliche Rasse wurde ihm immer fremder, die Bande der Verwandtschaft lösten sich. Vielleicht hatten diese Luftatmer, diese
strahlungsempfindlichen Bündel unstabiler Kohlenstoffverbindungen gar seinen Anspruch auf den Raum jenseits der Atmosphäre; sie sollten besser zu Hause bleiben, wo sie hingehörten, auf die Erde, Mond und Mars. Eines Tages würden Maschinen die wahren Herren des Raumes sein, nicht die Menschen, und er war weder das eine, noch das andere. Er kannte seine Bestimmung und fand eine düstere Befriedigung in seiner einmaligen Einsamkeit – der erste Unsterbliche in der Mitte zwischen zwei Gattungen der Schöpfung. Aber schließlich würde er nur ein Botschafter sein – zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen den Lebewesen aus natürlichen Zellen und den Kreaturen aus Metall, die ihn eines Tages überflügeln würden. Beide brauchten ihn aber in den sorgenvollen Jahrhunderten, die vor ihnen lagen. Originaltitel: A MEETING WITH MEDUSA Copyright © 1971 by Arthur C. Clarke Aus THE WIND FROM THE SUN übersetzt von Leni Sobez