ULLSTEIN 2000
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 28 von Robert A. Heinlein Alfred Coppel Philip K. Dick Arthur C. Clarke Amelia R. Long Edmond Hamilton
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2980 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heinz Nagel und Walter Ernsting
Umschlagillustration: Fawcett Copyright © 1965 by A. A. Wynn für THE END OF THE WORLD, edited by Donald. A. Wollheim Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1973 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1973 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02980 9
Als die Welt verrückt zu spielen begann, war Potiphar Breen einer der wenigen, der die Zeichen an der Wand richtig zu deuten verstand. DAS VERRÜCKTE JAHR von Robert A. Heinlein Nur wenige würden diese Nacht auf der Erde überleben. Tom Henderson wußte, daß er nicht dazu gehörte, aber für zwei ihm sehr nahestehende Menschen wollte er Schicksal spielen. DIE LETZTE SOMMERNACHT von Alfred Coppel Die Zeitbombe tickte, auf Alpha Centauri wartete man auf den Lichtblitz, der das Ende des Planeten Erde ankündigte… DER INFILTRANT von Philip K. Dick Sie waren gekommen, um einen kleinen Teil der Menschheit vor dem Untergang zu retten. Aber sie fanden nur die Spuren einer verlassenen Welt… DIE RETTER von Arthur C. Clarke Ein gewagtes Experiment sollte den Beweis er bringen: wie weit reicht die Zukunft? Aber die Entwicklung ist ein in sich geschlossener Kreis; er beginnt bei Alpha und endet bei OMEGA von Amelia Raynolds Long
Robert A. Heinlein DAS VERRÜCKTE JAHR
1 Anfangs sah Potiphar Breen das Mädchen gar nicht. Es stand an einer Bushaltestelle, kaum drei Meter entfernt. Er saß an einem Tisch in einem Drugstore unmittelbar neben der Bushaltestelle. Trotzdem blickte er nicht auf, als sie sich auszuziehen begann. Vor ihm auf dem Tisch, an die Kaffeekanne gelehnt, stand die Los Angeles Times, daneben, noch ungeöffnet, lagen der Herald-Express und die Daily News. Er las die Zeitung sehr aufmerksam. Aber die Berichte mit den fetten Schlagzeilen würdigte er kaum eines Blickes. Ihn interessierten die Maximal- und Minimaltemperaturen in Brownsville, Texas. Er trug sie in ein kleines sauberes Notizbuch ein. Daneben schrieb er die letzten Kursnotierungen der New Yorker Börse auf und vermerkte die an diesem Tage dort getätigten Abschlüsse. Dann überflog er eilig einige unbedeutend erscheinende Berichte und machte wieder Aufzeichnungen in sein kleines Büchlein. Die Ereignisse, die er aufzeichnete, schienen keinerlei Verbindung miteinander zu haben – so zum Beispiel eine Annonce, in der »Miss Käsewoche« ankündigte, daß sie die Absicht habe, den Mann zu heiraten und zwölf Kinder von ihm zu bekommen, der beweisen könne, daß er sein Leben lang
Vegetarier gewesen war, ein sehr ins Detail gehender, aber höchst unwahrscheinlicher Bericht über fliegende Untertassen sowie ein Aufruf für Gebete um Regen für Südkalifornien. Potiphar hatte soeben Namen und Adressen von drei Einwohnern aus Watts, Kalifornien, notiert, die von Billy Bottomley, dem achtjährigen Evangelisten, bei einer Versammlung seiner Anhänger auf wunderbare Weise geheilt worden waren. Jetzt schickte er sich an, den Herald-Express aufzuschlagen. Bei dieser Gelegenheit warf er einen kurzen Blick über seine Brille und erblickte die junge Dame draußen auf der Straße. Er stand auf, schob seine Brille ins Etui, faltete die Zeitungen zusammen und steckte sie sorgfältig in seine rechte Jackentasche, legte den genauen Betrag seiner Zeche auf den Tisch und fügte dann fünfzehn Prozent für die Bedienung hinzu. Anschließend nahm er seinen Regenmantel vom Haken, legte ihn über den Arm und ging hinaus. Potiphar Breen empfand ihren Anblick durchaus als angenehm. Dennoch schien sie kein besonderes Aufsehen erregt zu haben. Der Zeitungsjunge an der Ecke hatte aufgehört, Schlagzeilen zu brüllen, und grinste breit, und ein Paar in mittleren Jahren, das offensichtlich auf den Bus wartete, glotzte nur das Mädchen an. Bei genauem Hinsehen machte das Paar einen recht seltsamen Eindruck. Der Mann trug eine mit Spitzen verzierte Damenbluse und dazu einen recht konservativ anmutenden schottischen Kilt. Seine Begleiterin war mit einem Straßenanzug und einem Homburg angetan. Besonders sie schien sich für das Mädchen zu interessieren. Während Breen nähertrat, hängte das junge Mädchen gerade ihre Nylons über die Wartebank und griff nach den Schuhen. Ein schwitzender Polizeibeamter kam über die Straße auf sie zu.
»Okay«, sagte er müde, »das genügt, Miss. Ziehen Sie Ihre Klamotten wieder an und verschwinden Sie.« Die Dame im Straßenanzug nahm eine Zigarre aus dem Mund. »Und was geht Sie das an, Wachtmeister?« fragte sie. Der Polizist drehte sich zu ihr um. »Halten Sie sich gefälligst heraus!« Er musterte sie und ihren Begleiter. »Eigentlich gehört ihr zwei auch ins Kittchen.« Die Frau hob die Brauen. »Dann verhaften Sie uns doch, weil wir angezogen sind, und die, weil sie es nicht ist. Aber ich lasse nicht so mit mir umspringen.« Sie wandte sich an das Mädchen, das immer noch dastand und kein Wort sagte, als wisse es selbst nicht, was mit ihm geschehen war. »Ich bin Rechtsanwältin, meine Liebe.« Sie holte eine Geschäftskarte aus der Westentasche. »Wenn dieser Neandertaler in Uniform Sie weiterhin belästigt, wird es mir ein Vergnügen sein, ihn in seine Schranken zu weisen.« Der Mann mit dem Schottenrock sagte: »Grace! Bitte!« Sie schüttelte ihn ab. »Ruhig, Norman. Dem armen Ding muß geholfen werden.« Sie wandte sich wieder dem Polizisten zu. »Nun? Rufen Sie doch die Grüne Minna. Meine Klientin macht jedenfalls keine Aussage.« Der Beamte blickte so unglücklich drein, als wollte er jeden Augenblick zu weinen anfangen, und sein Gesicht rötete sich gefährlich. Breen trat ruhig vor und legte dem Mädchen seinen Regenmantel über die Schultern. Sie sah ihn verblüfft an und sagte: »Äh – danke.« Sie hüllte sich in den Mantel. Die Anwältin sah zuerst Breen und dann den Polizisten an. »Nun, Wachtmeister? Wie steht’s mit der Verhaftung?« Er schob das Kinn vor. »Den Gefallen tu ich Ihnen nicht!« Dann seufzte er und fügte hinzu: »Vielen Dank, Mr. Breen. Kennen Sie die Dame?«
»Ich werde mich um sie kümmern. Lassen Sie nur, Kawonski.« »In Ordnung. Aber sehen Sie zu, daß sie hier verschwindet, Mr. Breen – bitte!« »Einen Augenblick!« Das war die Anwältin. »Lassen Sie meine Klientin in Ruhe.« »Sie halten den Mund!« herrschte Kawonski sie an. »Sie haben Mr. Breen gehört – sie gehört zu ihm. Stimmt’s, Mr. Breen?« »Nun – ja. Ich kümmere mich schon um sie.« Die Frau in Männerkleidung schien immer noch nicht zufrieden. »Von ihr habe ich das aber noch nicht gehört.« »Grace!« Das war ihr Begleiter. »Hier kommt unser Bus.« »Sie hat auch nicht gesagt, daß sie Ihre Klientin ist«, versetzte der Polizist. »Sie sehen wie eine – « In diesem Augenblick bremste der Bus quietschend, so daß man nicht hören konnte, wie der Polizist sie betitelte – »und außerdem, wenn Sie jetzt nicht schleunigst in den Bus einsteigen und verschwinden, dann… dann…« »Dann was?« »Grace! Wir verpassen noch unseren Bus.« »Einen Augenblick noch, Norman. Meine Liebe, ist dieser Mann wirklich ein Freund von Ihnen?« Das Mädchen sah Breen unsicher an und sagte dann mit leiser Stimme: »Ja. Doch, das ist er.« »Nun…« Der Begleiter der Anwältin zerrte an ihrem Arm. Sie streckte auch Breen ihre Karte hin und stieg ein. Der Bus fuhr ab. Breen steckte die Karte in die Tasche. Kawonski wischte sich über die Stirn. »Warum haben Sie das getan, Miss?« fragte er unsicher. Das Mädchen schien verblüfft. »Ich – ich weiß nicht.«
»Haben Sie das gehört, Mr. Breen? Das sagen sie alle. Und wenn man sie verhaftet, dann gibt’s am nächsten Tag sechs von der gleichen Sorte. Der Chef hat gesagt…« Er seufzte. »Der Chef hat gesagt – nun, wenn ich sie verhaftet hätte, wie diese Winkeladvokatin es wollte, dann würde ich mir morgen wahrscheinlich meine Pensionierung herbeiwünschen. Also, schaffen Sie sie hier weg, ja?« »Aber…« sagte das Mädchen. »Kein aber, Miss. Seien Sie froh, daß ein anständiger Mann wie Mr. Breen Ihnen helfen will.« Er hob ihre Kleider auf und hielt sie ihr hin. Als sie danach griff, drohte der Mantel von ihren Schultern zu gleiten. Kawonski streckte hastig das Bündel Breen hin, der es in seinen Jackettaschen verstaute. Sie ließ sich von Breen zu seinem Wagen führen, stieg ein und hüllte sich wieder in den Regenmantel. Sie sah ihn an. Sie erblickte einen etwa mittelgroßen, recht alltäglich aussehenden Mann, der vielleicht fünfunddreißig Jahre alt sein mochte, aber entschieden älter aussah. Seine Augen hatten den Ausdruck eines Menschen, der gewöhnt ist, eine Brille zu tragen, sie im Augenblick in der Tasche stecken hat. Sein Haar war an den Schläfen ergraut und oben schon ziemlich gelichtet. Sein konservativ gemusterter Anzug, die schwarzen Schuhe, das weiße Hemd und die unauffällige Krawatte paßten eher an die Ostküste der USA als nach Kalifornien. Er wiederum sah ein Gesicht, das er als hübsch und sympathisch einstufte. Nicht als schön und faszinierend. Eine dichte Mähne dunkelblonden Haares umrahmte es. Er schätzte sie auf fünfundzwanzig, vielleicht ein Jahr darüber oder darunter. Er lächelte sanft, setzte sich hinter das Steuer, ohne ein Wort zu sagen, und ließ den Wagen an. Er fuhr den Doheny Drive hinauf, der östlich des Sunset Boulevard lag. In der Nähe von La Cienega bremste er. »Ist Ihnen jetzt besser?«
»Äh – – ich denke schon, Mr. Breen.« »Sie können mich Potiphar nennen. Wie heißen Sie? Aber Sie brauchen es mir nicht zu sagen, wenn Sie nicht wollen.« »Ich? Ich – heiße Meade Barstow.« »Danke, Meade. Und wo wollen Sie hin? Nach Hause?« »Ich denke schon. Oh – nein. So kann ich nicht nach Hause gehen.« Sie zog den Mantel enger um sich. »Eltern?« »Nein. Meine Wirtin. Sie würde zu Tode erschrecken.« »Wohin dann?« Sie überlegte. »Vielleicht könnten wir an einer Tankstelle anhalten, und ich könnte mich in die Damentoilette schleichen.« »Vielleicht. Sehen Sie, Meade – mein Haus ist sechs Straßen von hier und hat einen Eingang durch die Garage. Sie könnten hineingehen, ohne daß man Sie sieht.« Sie blickte ihn starr an. »Nun, Sie sehen gerade nicht wie ein Mann aus, der junge Mädchen…« »Oh, da irren Sie sich.« Er stieß einen melodischen Pfiff aus. »Aber keine Sorge, heute habe ich meinen ruhigen Tag.« Sie lächelte. »Nun, ich will es riskieren. Fahren wir.«
Er fuhr eine kleine Anhöhe hinauf. Seine Junggesellenbehausung war eines der vielen kleinen Holzhäuser, die sich wie Unkraut an die braunen Hänge der Santa-Monica-Berge schmiegten. Die Garage war an den Hang gebaut und diente dem Haus als Fundament. Er fuhr hinein, stellte die Zündung ab und brachte sie über eine wacklige Treppe ins Wohnzimmer hinauf. »Dort drinnen«, sagte er und deutete hinein. »Fühlen Sie sich wie zu Hause.« Er zog ihre Kleider aus den Taschen und überreichte sie ihr.
Sie wurde rot, nahm sie in Empfang und verschwand in seinem Schlafzimmer. Er hörte, wie sie den Schlüssel im Schloß umdrehte. Dann setzte er sich in seinen Lehnstuhl, nahm sein Notizbuch heraus und machte sich über den HeraldExpress her. Er war gerade mit der Daily News fertig geworden und hatte seiner Sammlung einige weitere Notizen hinzugefügt, als sie herauskam. Ihr Haar war jetzt ordentlich gekämmt, sie hatte sich gewaschen und die Falten aus ihrem Rock gebürstet. Ihr Pullover war weder zu eng noch zu weit. Ihre Erscheinung erinnerte ihn an Quellwasser und frische Luft. Er nahm seinen Regenmantel, hängte ihn an einen Haken und sagte: »Setzen Sie sich, Meade.« »Ich gehe jetzt wohl besser«, meinte sie. »Wenn Sie unbedingt wollen – – aber ich hatte gehofft, wir können uns noch ein Weilchen unterhalten.« »Nun…« Sie setzte sich auf den äußersten Rand seiner Couch und sah sich um. Der Raum war klein, aber sorgfältig aufgeräumt. Der Kamin war ausgefegt, der Boden fleckenlos sauber und glänzend. An jedem erdenklichen Platz standen Bücherregale. In einer Ecke stand ein älterer Schreibtisch, und die Papiere, die darauf lagen, machten einen geordneten Eindruck. Daneben, auf einem kleinen Aktenregal, stand eine elektrische Rechenmaschine. Rechts von ihr gaben zwei breite Fensterflügel den Blick auf eine winzige Terrasse über der Garage frei. Dahinter konnte sie die Stadt sehen, wo soeben die ersten Lichter angingen. »Das ist ein hübsches Zimmer – Potiphar«, meinte sie. »Es paßt zu Ihnen.« »Ich fasse das als Kompliment auf. Danke.« Sie gab keine Antwort, und er fuhr fort: »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Oh, ja.« Sie schüttelte sich. »Ich glaube, das würde mir jetzt guttun.« Er stand auf. »Kein Wunder. Und was darf es sein?« Sie nahm Scotch und Wasser, kein Eis; er zog Bourbon mit Gingerale vor. Sie trank ihren Whisky schweigend, stellte das Glas ab, richtete sich auf und fragte: »Potiphar?« »Ja, Meade?« »Also, wenn Sie mich mitgenommen haben, um mir einen Antrag zu machen, dann, bitte, tun Sie es. Nicht, daß ich darauf eingehen würde, aber es macht mich nervös, darauf zu warten.« Er sagte gar nichts, und auch sein Ausdruck änderte sich nicht. Sie fuhr etwas unsicher fort. »Nicht, daß ich es Ihnen übelnehmen würde – ich meine, nach allem was war. Und ich bin Ihnen wirklich dankbar. Aber ich habe jedenfalls meine Grundsätze…« Er trat neben sie und nahm ihre Hand. »Ich habe nicht die leiseste Absicht, Ihnen einen Antrag zu machen. Sie brauchen mir auch nicht dankbar zu sein. Ich habe mich einfach eingemischt, weil mich Ihr Fall interessierte.« »Mein Fall? Sind Sie Arzt? Psychiater?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin Mathematiker. Statistiker, um genau zu sein.« »Was? Das verstehe ich nicht.« »Keine Sorge. Aber ich würde Sie gern einiges fragen. Darf ich?« »Oh, natürlich! Natürlich! Das ist das mindeste, was ich Ihnen schulde.« »Sie schulden mir gar nichts. Soll ich den nächsten Drink etwas süßer machen?«
Sie leerte ihr Glas und gab es ihm. Dann folgte sie ihm in die Küche. Er maß die Zutaten genau ab und reichte ihr das gefüllte Glas. »Und jetzt sagen Sie mir, warum Sie sich ausgezogen haben«, bat er. Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Bestimmt. Ich glaube, ich bin einfach verrückt geworden.« Dann setzte sie mit großen runden Augen hinzu: »Aber ich komme mir gar nicht verrückt vor. Kann man überschnappen, ohne es überhaupt zu wissen?« »Sie sind nicht verrückt – jedenfalls nicht verrückter als wir anderen«, korrigierte er sich. »Sagen Sie, wo haben Sie das gesehen?« »Was? Das habe ich nie gesehen.« »Wo haben Sie darüber gelesen?« »Aber ich habe auch nichts darüber gelesen. Warten Sie – diese Leute droben in Kanada. Dooka – oder so ähnlich.« »Doukhobors. Und sonst nichts? Kein Nacktbaden? Kein Ausziehpoker?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie werden das vielleicht nicht glauben, aber ich bin ein Mädchen, das sich immer unter seinem Nachthemd auszieht.« Sie wurde rot und fügte hinzu: »Das tue ich auch heute noch – nur manchmal kommt es mir verrückt vor.« »Das glaube ich schon. Und in der Zeitung haben Sie auch nichts gelesen?« »Nein. Ja, doch! Vielleicht vor zwei Wochen. Ein Mädchen in einem Theater – im Zuschauerraum, meine ich. Aber ich dachte, das war nur Propaganda. Sie wissen schon, was hier manchmal los ist.« Er schüttelte den Kopf. »Das war keine Propaganda. Am dritten Februar, im Alhambra-Theater, eine Mrs. Alvin Copley. Die Anzeige gegen sie wurde niedergeschlagen.«
»Woher wissen Sie das?« »Entschuldigen Sie.« Er trat an seinen Schreibtisch und wählte die Lokalredaktion. »Alf? Hier spricht Pot Breen. Sitzen die Burschen immer noch auf der Geschichte…? Ja, die Sache mit dem Mädchen, meine ich. Irgend etwas Neues heute?« Er wartete. Meade glaubte, es im Hörer fluchen zu hören. »Ruhig Blut, Alf – diese Hitze kann ja nicht ewig dauern. Neun, sagst du? Nun, du kannst noch eine dazunehmen – Santa Monica Boulevard, heute nachmittag. Nicht verhaftet.« Er lauschte und fügte dann hinzu: »Nein, niemand hat ihren Namen notiert. Eine ältere Dame mit einer krummen Nase. Ich habe es zufällig gesehen… wie, ich? Was sollte ich mir Scherereien machen? Aber die Sache rundet sich zu einem interessanten Bild.« Er legte den Hörer auf die Gabel. »Mit einer krummen Nase!« sagte Meade empört. »Soll ich zurückrufen und ihm Ihren Namen nennen?« »O nein!« »Sehr gut. Also, Meade, ich glaube, wir haben den Ansteckungsherd in Ihrem Fall gefunden: Mrs. Copley. Was ich jetzt wissen möchte, ist, wie Sie sich fühlten und was Sie dachten, als Sie es taten.« Sie runzelte die Stirn. »Einen Augenblick, Potiphar. Soll das heißen, daß neun andere Mädchen die gleiche Schau aufgezogen haben wie ich?« »O nein, heute waren es neun. Sie sind…« er warf einen Blick in sein Notizbuch… »der dreihundertneunzehnte Fall in Los Angeles seit dem ersten Januar dieses Jahres. Für den Rest des Landes habe ich keine Zahlen, aber der Vorschlag, nichts davon in die Presse sickern zu lassen, kam von der Ostküste, als die Agenturen hier die ersten Fälle meldeten. Das ist
Beweis genug, daß es sich anderswo auch zu einem Problem auswächst.« »Sie wollen allen Ernstes sagen, daß die Frauen im ganzen Land sich öffentlich die Kleider vom Leib reißen? Aber das ist doch beschämend!« Er sagte gar nichts. Sie wurde wieder rot und beharrte auf ihrer Meinung. »Nun, es ist wirklich empörend, selbst wenn es dieses Mal ich selbst war.« »Nein, Meade. Ein Fall ist empörend; über dreihundert sind ein wissenschaftliches Problem. Und deshalb möchte ich wissen, wie Sie sich fühlten. Sagen Sie es mir.« »Aber – na schön, ich will es versuchen. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich nicht weiß, weshalb ich es getan habe. Ich weiß es immer noch nicht. Ich…« »Sie erinnern sich daran?« »O ja! Ich erinnere mich, wie ich den Rock aufmachte. Ich erinnere mich, daß ich gedacht habe, jetzt muß ich mich beeilen, denn ich sah meinen Bus schon kommen. Ich erinnere mich auch noch, wie wohl mir war, als ich schließlich…« Sie hielt inne und sah ihn verwirrt an. »Aber ich weiß immer noch nicht, warum.« »Woran haben Sie gedacht – ich meine unmittelbar bevor Sie auf die Bank stiegen?« »Daran erinnere ich mich nicht.« »Stellen Sie sich die Straße vor. Was haben Sie gesehen? Wo hatten Sie Ihre Hände? Hatten Sie die Beine übereinandergeschlagen? War jemand in Ihrer Nähe? Woran haben Sie gedacht?« »Ich saß allein auf der Bank. Ich hatte die Hände in den Schoß gelegt. Diese beiden komischen Typen standen in der Nähe, aber ich achtete nicht auf sie. Ich dachte überhaupt nicht viel, nur daß meine Füße wehtaten und daß ich nach Hause wollte – und wie unerträglich heiß und drückend das Wetter
war. Dann – « ihre Augen bekamen plötzlich einen ganz fernen Blick – »wußte ich plötzlich, was ich tun mußte. Es drängte mich förmlich, es zu tun. So stand ich auf und ich – und ich…« Ihre Stimme wurde plötzlich schrill. »Reißen Sie sich zusammen!« herrschte er sie an. »Tun Sie es nicht noch einmal.« »Was? Aber Mr. Breen! So etwas würde ich nie tun.« »Natürlich nicht. Und was geschah dann, nachdem Sie sich ausgezogen hatten?« »Nun, Sie haben Ihren Regenmantel um mich gelegt, und das übrige wissen Sie ja.« Sie sah ihn an. »Sagen Sie, Potiphar, weshalb hatten Sie eigentlich den Regenmantel bei sich? Es hat doch seit Wochen nicht geregnet. Das ist der trockenste, heißeste Sommer seit Jahren.« »Seit achtundsechzig Jahren, um genau zu sein.« »Achtund…« »Ich habe trotzdem meinen Regenmantel. Das ist so eine Marotte von mir, aber ich habe das Gefühl, daß, wenn es einmal regnet, es furchtbar stark regnen würde.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Vierzig Tage und vierzig Nächte vielleicht.« Sie sah ihn zweifelnd an und entschied dann, daß er Spaß machte. Sie lachte. Dann fuhr er fort: »Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie auf die Idee kamen, sich auszuziehen?« Sie drehte ihr Glas und überlegte. »Das weiß ich nicht.« Er nickte. »Das habe ich erwartet.« »Das verstehe ich einfach nicht – es sei denn, Sie halten mich für verrückt. Tun Sie das?« »Nein. Ich glaube, daß Sie es tun mußten und gar keine andere Wahl hatten und auch nicht wußten, weshalb Sie es tun mußten.« »Aber Sie wissen es.« Das klang beinahe wie eine Anklage.
»Vielleicht. Jedenfalls habe ich einige Zahlen. Haben Sie sich je für Statistik interessiert, Meade?« Sie schüttelte den Kopf. »Zahlen verwirren mich. Aber zum Teufel mit der Statistik: Ich will wissen, warum ich das getan habe!« Er sah sie sehr ernst an. »Ich glaube, wir sind Lemminge, Meade.« Sie sah ihn zuerst verwirrt, dann erschreckt an. »Sie meinen diese kleinen mausartigen Pelztierchen? Die…« »Ja. Die Tiere, die periodisch einen Todesmarsch antreten, bis Millionen, Hunderte von Millionen von ihnen sich im Meer ertränkt haben. Fragen Sie einen Lemming, warum er das tut. Wenn Sie ihn dazu bringen könnten, seinen Todesmarsch zu unterbrechen, dann möchte ich wetten, daß er irgendeine Antwort wüßte. Aber in Wirklichkeit tut er es, weil er muß – und wir müssen auch.« »Das ist eine grauenhafte Vorstellung, Potiphar.« »Vielleicht. Kommen Sie her, Meade. Ich werde Ihnen Zahlen zeigen, die auch mir Kopfzerbrechen bereiten.« Er trat an seinen Schreibtisch, zog eine Schublade auf und nahm ein Bündel Karten heraus. »Hier zum Beispiel. Vor zwei Wochen klagt ein Mann gegen das höchste Gericht seines Landes, weil es ihm seine Frau entfremdet haben soll – und der Richter läßt zu, daß der Fall verhandelt wird. Oder das hier: Eine Patentanmeldung für eine Vorrichtung, um die Erdkugel zu kippen und die arktischen Gebiete zu erwärmen. Der Patentanspruch wurde zwar abgewiesen, aber der Erfinder hat mehr als dreihunderttausend Dollar an Anzahlungen auf Grundstücke am Nordpol angenommen, ehe die Behörden sich einmischten. Jetzt klagt er vor dem Verfassungsgericht, und es würde mich nicht wundern, wenn er recht bekäme. Und das da: Ein Antrag im Parlament von Alabama, um die Gesetze der Atomenergie aufzuheben. Nicht die behördlichen Regelungen
wohlgemerkt, sondern die Naturgesetze der Kernphysik. Das geht ganz deutlich aus dem Antrag hervor.« Er zuckte die Achseln. »Gibt es Grenzen, wie verrückt man sein kann?« »Ja, verrückt, das ist es.« »Nein, Meade, ich muß widersprechen. Ein einziger solcher Fall – das könnte Verrücktheit sein. Aber so viele auf einmal – das ist wie der Todesmarsch der Lemminge. Nein, widersprechen Sie nicht – ich habe eine statistische Kurve gezeichnet. Das letzte Mal, als wir so etwas hatten – – das war die Ära des sogenannten blühenden Unsinns. Aber diesmal kommt es viel schlimmer.« Er wühlte in einer unteren Schublade und brachte eine grafische Darstellung zum Vorschein. »Die Häufigkeit ist mehr als doppelt so groß, und wir haben den Höhepunkt noch nicht erreicht. Wie der Höhepunkt sein wird, wage ich nicht einmal zu vermuten – drei unabhängige Rhythmen, die sich verstärken.« Sie sah die Kurven an. »Sie meinen, daß der Bursche mit den Grundstücken am Nordpol irgendwie auf dieser Linie ist?« »Er gehört auch dazu. Und hier unten auf der letzten Kurve sind die Mastsitzer und die Goldfischschlucker und die Marathontänzer und der Mann, der mit der Nase eine Erdnuß den Pikes Peak hinauf geschoben hat. Sie sind auf der nächsten Kurve – oder Sie werden es sein, nachdem ich Sie eingetragen habe.« Sie schnitt eine Grimasse. »Das gefällt mir gar nicht.« »Mir auch nicht. Aber das ist so klar wie ein Bankauszug. Das ist das Jahr, in dem die menschliche Rasse kollektiv gesehen jeder Vernunft ein Schnippchen schlägt oder ihr eine lange Nase dreht, wenn Sie wollen, und verrückt spielt.« Sie schauderte. »Meinen Sie, ich könnte noch einen Schluck haben? Dann gehe ich.« »Ich habe eine bessere Idee. Ich werde Sie zum Abendessen einladen, weil Sie mir so nett auf meine Fragen geantwortet
haben. Nennen Sie ein Lokal, und dann trinken wir vorher noch einen Cocktail.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe. »Sie schulden mir gar nichts. Und ich würde mich auch gar nicht wohlfühlen, wenn wir in ein Restaurant gingen. Es könnte leicht sein, daß ich – daß ich…« »Nein, das würden Sie nicht«, sagte er scharf. »Zweimal passiert es nicht.« »Sind Sie sicher? Jedenfalls will ich keine Leute sehen.« Sie sah auf die Küchentür. »Haben Sie irgend etwas zu essen im Kühlschrank? Ich kann kochen.« »Äh – etwas fürs Frühstück. Und ein Pfund Hackfleisch liegt, glaube ich, auch drin. Und ein paar Brötchen. Ich mache mir manchmal Hamburger, wenn ich nicht ausgehen will.« Sie steuerte auf die Küche zu. »Betrunken oder nüchtern, angezogen oder – oder nackt, kochen kann ich jedenfalls. Sie werden ja sehen.« Und er sah. Aufgeschnittene Brötchen mit appetitlichem Belag, ein Salat aus der Büchse, knusprige Pommes frites, und alles nett angerichtet. Sie saßen auf dem kleinen Balkon und tranken kühles Bier zum Essen. Er seufzte und wischte sich über den Mund. »Ja, Meade, Sie können kochen.« »Eines Tages komme ich mit den richtigen Zutaten und revanchiere mich. Dann werde ich es beweisen.« »Sie haben es schon bewiesen. Trotzdem, ich würde mich freuen. Aber, jetzt sage ich Ihnen zum hundertsten Male, daß Sie mir nichts schulden.« »Wirklich nicht? Wären Sie nicht gewesen, dann säße ich jetzt im Kittchen.« Breen schüttelte den Kopf. »Die Polizei hat Anweisung, dafür zu sorgen, daß die Sache nicht um sich greift. Das haben
Sie ja gesehen. Und, meine Liebe, zu dem Zeitpunkt waren Sie für mich keine Person. Ich habe nicht einmal Ihr Gesicht gesehen.« »Aber sonst eine ganze Menge!« »Ehrlich, ich habe nicht hingesehen. Sie waren nur eine – eine statistische Zahl.« Sie spielte mit ihrem Messer und sagte verwirrt: »Ich weiß nicht recht, aber ich glaube, das war jetzt eine Beleidigung. In all den fünfundzwanzig Jahren, in denen ich mich mehr oder weniger erfolgreich gegen die Nachstellungen von Männern gewehrt habe, hat man mich eine ganze Menge Dinge genannt – aber eine statistische Zahl? Nun, ich glaube, ich sollte Ihren Rechenschieber nehmen und Ihnen den Schädel damit einschlagen.« »Meine liebe junge Dame…« »Ich bin keine Dame. Das steht fest. Aber eine statistische Zahl bin ich auch nicht – aber sagen Sie, Potty, glauben Sie wirklich, daß das ganze Land verrückt spielt?« Er wurde sofort wieder ernst. »Viel schlimmer.« »Was?« »Kommen Sie herein. Ich zeige es Ihnen.« Sie stellte die Teller zusammen und spülte sie im Ausguß, während Breen redete. »Als Kind haben mich Zahlen fasziniert. Zahlen sind etwas Reizvolles, und man kann so viel mit ihnen aussagen. Ich habe natürlich Mathematik studiert, und meine erste Stellung war die eines Versicherungsmathematikers bei der Midwestern Mutual. Das machte wirklich Spaß. Es gibt natürlich auf der ganzen Welt keine Methode, um zu sagen, wann ein bestimmter Mensch sterben wird, dafür aber auch eine absolute Gewißheit, daß eine genau festgelegte Zahl von Menschen einer bestimmten Altersgruppe an einem bestimmten Termin sterben werden. Die Kurven waren so hübsch – und sie
stimmten immer. Wirklich immer. Man brauchte nicht zu wissen weshalb; man konnte mit hundertprozentiger Sicherheit voraussagen, was geschehen würde, ohne zu wissen, warum es so war. Die Gleichungen stimmten, die Kurven waren richtig. Ich interessierte mich auch für Astronomie – das war die einzige Wissenschaft, wo einzelne Zahlen mit absoluter Genauigkeit bis auf die letzte Dezimalstelle, die die Instrumente hergaben, zu einem Ergebnis führten. Verglichen mit der Astronomie waren die anderen Wissenschaften ungenau. Ich stellte fest, daß es in der Astronomie gewisse Lücken und Ecken gab, wo individuelle Zahlen nicht ausreichen, wo man mit statistischen Mitteln arbeiten muß, und dadurch wuchs mein Interesse noch mehr. Vielleicht hätte ich sogar den Astronomenberuf ergriffen, statt des Berufs, den ich jetzt innehabe – Geschäftsberatung – wenn ich nicht begonnen hätte, mich für etwas anderes zu interessieren.« »Geschäftsberatung?« wiederholte Meade. »Steuerberatung und so etwas?« »O nein. Das ist viel zu elementar. Ich bin der Zahlenmanipulator für eine Industriefirma. Ich kann einem Farmer genau sagen, wie viele von seinen HerefordStierkälbern steril sein werden. Ich kann auch einem Filmproduzenten sagen, wie hoch er sich gegen Regen versichern soll. Oder vielleicht wie groß eine Firma in einer bestimmten Branche sein muß, um ihr eigenes Risiko an Unfällen tragen zu können. Und ich habe recht. Ich habe immer recht.« »Augenblick mal. Mir scheint doch, daß eine große Firma einfach versichert sein muß.« »Im Gegenteil. Eine wirklich große Firma beginnt einem statistischen Universum zu gleichen.« »Was?«
»Lassen Sie nur. Ich begann mich für etwas anderes zu interessieren: für Zyklen. Zyklen sind alles, Meade. Und überall. Die Zeit. Die Jahreszeiten. Sogar die Liebe. Jedermann weiß, daß im Frühling die jungen Männer anfangen, an das zu denken, was die jungen Mädchen nie vergessen; aber wußten Sie auch, daß das Ganze in einem Achtzehn-Jahre-Zyklus verläuft? Und daß ein Mädchen, das im falschen Abschnitt der Kurve geboren wurde, bei weitem keine so gute Heiratschance hat wie ihre ältere oder jüngere Schwester?« »Ist das der Grund, weshalb ich immer noch eine alter Jungfer bin?« »Sie sind fünfundzwanzig?« Er überlegte. »Vielleicht. Aber Ihre Chancen sind wieder auf dem ansteigenden Ast. Die Kurve bewegt sich nach oben. Jedenfalls, bedenken Sie immer, daß Sie nur eine statistische Zahl sind; die Kurve gilt für die ganze Gruppe. Jedes Jahr heiraten Mädchen.« »Sie sollen mich nicht als statistische Zahl bezeichnen«, wiederholte sie. »Tut mir leid. Und die Zahl der Eheschließungen hängt mit den Weizenbauziffern zusammen. Man könnte beinahe sagen, daß eins vom andern abhängt.« »Das klingt albern.« »Das ist es auch. Die ganze Vorstellung von Ursache und Wirkung ist wahrscheinlich nichts als Aberglaube. Aber der gleiche Zyklus zeigt auch, daß kurz nach dem Höhepunkt der Heiratskurve ein Höhepunkt in der Baukonjunktur eintritt.« »Das wäre eher verständlich.« »Wirklich? Wie viele Jungverheiratete Paare kennen Sie, die es sich gleich leisten können, ein Haus zu bauen? Das könnte ebensogut vom Weizenanbau abhängen. Wir wissen einfach nicht, weshalb es so ist. Es ist einfach so.« »Sonnenflecken vielleicht?«
»Das spielt auch mit. Aber ich möchte Ihnen zeigen, weshalb ich mir Sorgen mache.« Er ging ins Schlafzimmer und kam mit einer großen Rolle Millimeterpapier zurück. »Legen wir es auf den Boden. Hier sind sie, alle zusammen. Der Vierundfünfzig-Jahre-Zyklus – sehen Sie den Bürgerkrieg dort? Sehen Sie, wie er hineinpaßt? Der Achtzehnein-DrittelJahre-Zyklus, der Neuner-Zyklus, die drei SonnenfleckenRhythmen – – alles, alle in einer großen Tabelle vereint. Die Überschwemmungen des Mississippi, der Pelzfang in Kanada, Aktienkurse, Heiraten, Epidemien, Heuschreckenplagen, Scheidungen, Kriege, Regen, Erdmagnetismus, Patentanmeldungen, Morde – nennen Sie was Sie wollen – ich habe es hier.« Sie blickte starr auf das verwirrende Durcheinander von Wellenlinien. »Aber Potty, was hat das alles zu bedeuten?« »Es hat zu bedeuten, daß alle Dinge in einem regelmäßigen Rhythmus ablaufen, ob es uns nun paßt oder nicht. Es hat zu bedeuten, daß, wenn die Zeit für kürzere Röcke gekommen ist, alle Modepäpste in Paris und Rom zusammengenommen sie nicht länger machen können. Es hat zu bedeuten, daß, wenn die Preise fallen sollen, alle Bemühungen der Regierungen, alle Stützungskäufe nichts ausrichten.« Er deutete auf eine Kurve. »Sehen Sie sich die Statistik der Anzeigen für Lebensmittel an. Dann lesen Sie den Wirtschaftsteil der Zeitungen und stellen fest, wie die Herren Politiker sich herausreden wollen. Das hier hat zu bedeuten, daß, wenn eine Epidemie ausbrechen muß, sie kommt, trotz aller gegenteiligen Bemühungen der Gesundheitsämter. Das heißt, daß wir Lemminge sind.« Sie biß sich auf die Lippen. »Das gefällt mir nicht. Ich habe doch einen freien Willen, Potty. Ich weiß, daß ich ihn habe – ich fühle es.«
»Ich glaube, daß jedes kleine Neutron in einer Atombombe das gleiche Gefühl hat. Es kann losschießen, oder es kann sitzenbleiben, wie es ihm gefällt. Aber die statistischen Gesetze gelten trotzdem, und die Bombe geht los – und darauf will ich hinaus. Sehen Sie etwas Seltsames hier, Meade?« Sie studierte die Kurven, bemüht, sich nicht von den einzelnen Wellenlinien ablenken zu lassen. »Alles läuft hier oben auf der rechten Seite zusammen.« »Darauf können Sie Gift nehmen! Sehen Sie diese gepunktete senkrechte Linie? Das ist heute – heute ist es schon schlimm genug. Aber sehen Sie sich diese durchgezogene senkrechte Linie an; das ist etwa in sechs Monaten – und dann kriegen wir es. Sehen Sie sich die Zyklen an – die langen, die kurzen, alle. Jeder einzelne Zyklus hat an dieser Stelle entweder einen Höhepunkt oder einen Tiefpunkt.« »Ist das schlimm?« »Was meinen Sie denn? Drei von den Großen hatten 1929 einen Tiefpunkt, und damals hätte uns die Depression beinahe umgebracht… obwohl der große Vierundfünfzig-Jahre-Zyklus die Dinge aufgehalten hat. Und jetzt hat der Große auch einen Tiefpunkt – und die paar Höhepunkte helfen uns auch nichts. Meade, wenn die Statistik auch nur den geringsten Wert hat, dann hat dieser müde alte Planet noch keinen Trend wie diesen erlebt, seit Eva mit dem Apfelhandel anfing. Ich habe Angst.« Sie sah ihn an. »Potty, Sie machen sich doch nicht etwa über mich lustig.« »Ich wollte, das wäre es. Nein, Meade, ich spaße nicht, wenn es um Zahlen geht, das kann ich gar nicht. Es ist ernst. Das Jahr, das jetzt kommt, ist das verrückte Jahr!«
Als er sie nach Hause fuhr, war Meade sehr schweigsam. Als sie sich dem Westen von Los Angeles näherten, sagte sie: »Potty?« »Ja, Meade?« »Und was können wir tun?« »Was tut man, wenn ein Wirbelsturm kommt? Man legt die Ohren an. Was kann man tun, wenn eine Atombombe fällt? Man versucht, nicht dort zu sein, wo sie explodiert. Was kann man sonst tun?« »Oh.« Ein paar Augenblicke schwieg sie, dann fügte sie hinzu: »Potty, wollen Sie mir sagen, wo es nicht stattfinden wird?« »Was? Oh, natürlich! Sobald ich es herausbekomme.« Er führte sie zur Tür des Hauses und drehte sich um. »Potty!« Er sah sie an. »Ja, Meade?« Sie packte ihn an den Ohren und schüttelte ihn – dann küßte sie ihn auf den Mund. »Bin ich wirklich nur eine statistische Zahl?« »Äh – nein.« »Das möchte ich mir auch ausgebeten haben«, sagte sie. »Potty, ich glaube, an deiner Kurve wird sich einiges ändern müssen.«
2 Russen weisen UNO-Resolution zurück Missouri Flutschäden überschreiten den Rekord von 1932 Britisch-chinesische Verhandlungen immer noch ergebnislos Taifun verwüstet Manila Eheschließung auf dem Grund des Hudson River
New York, 13. Juli – In einem speziell angefertigten Taucheranzug für zwei wurden heute Merydith Smithe, ein Jungstarlet aus dem New Yorker Jet Set, und Prinz Augie Schleswig von Bischof Dalton getraut. Die Zeremonie wurde mit Hilfe einer neuen Fernsehanlage der Marine… Das verrückte Jahr nahm seinen Lauf. Breen fand einen melancholischen Gefallen daran, seinen Berechnungen immer neue Daten hinzuzufügen, die bewiesen, daß die Kurve einem Tiefstand entgegenging, wie er es vorausgesagt hatte. Der kalte Krieg flackerte an einem halben Dutzend Stellen rund um den gequälten Globus auf. Breen machte darüber keine Aufzeichnungen, die Schlagzeilen konnte jedermann lesen. Er konzentrierte sich auf die kleinen Dinge, die auf den Innenseiten der Zeitungen zu finden waren, Fakten, die, allein betrachtet, nichts bedeuteten, aber zusammengenommen einen katastrophalen Trend verrieten. Er registrierte Börsenkurse, Niederschlagsmengen, Weizenanbau, aber es waren hauptsächlich die Berichte aus der sogenannten Saure-Gurken-Zeit, die ihn wirklich faszinierten. Freilich, es gab immer Leute, die Verrücktes taten – aber wann in der Geschichte war diese Verrücktheit zum Idol der Menschen geworden? Wann zum Beispiel waren schon einmal marionettenhafte Mannequins die Ideale der amerikanischen Frauenwelt gewesen? War es wirklich dasselbe, Krebsverhütungswochen und Wochen zur Verhütung von Schweißfüßen abzuhalten? Zum Beispiel dieser Unfug mit den Kleidern. Männliche und weibliche Kleidung waren natürlich willkürlich gewählt, aber sie schienen tief in der Kultur verwurzelt. Wann hatte der Zusammenbruch begonnen? Mit Marlene Dietrichs Schneideranzügen? In den vierziger Jahren gab es schon kein typisch männliches Kleidungsstück mehr, das eine Frau nicht in der Öffentlichkeit tragen konnte – aber wann hatten die
Männer begonnen, die Grenzen zu überschreiten? Begann das Ganze vielleicht mit einem ganz normalen Mann, der ein Kostümfest besuchte und dabei feststellte, daß ein Damenrock viel bequemer zu tragen war als eine Hose? Oder begann das Ganze mit einem Wiederaufleben des schottischen Nationalismus, der dazu führte, daß viele Amerikaner schottischer Herkunft plötzlich anfingen, Kilts zu tragen? Aber man frage einen Lemming nach seinen Motiven! Vor Breen lag das Ergebnis – ein Bericht in einer Zeitung. In Chicago war eine Gruppe junger Männer, die sich in Frauenkleidern dem Militärdienst entziehen wollten, vor Gericht gestellt worden – worauf ihr Verteidiger selbst in einem Röckchen erschienen war und den Richter höhnisch grinsend aufgefordert hatte, doch vor den Geschworenen den Beweis anzutreten, welchem Geschlecht er angehörte. Der Richter erlitt einen Schlaganfall und starb, worauf die Verhandlung vertagt wurde – nach Breens Meinung für immer. Oder zum Beispiel die Gesetze zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit. Hier stand ein Bericht, daß der Pfarrer von Springfield in Illinois seine Gottesdienste mit der Unterstützung einer Nackttänzerin abhielt. Der Mann behauptete, daß diese Zeremonie identisch mit dem »Tanz der Hohepriesterin« im alten Tempel von Karnak sei. Vielleicht, Breen hatte jedenfalls erfahren, daß die »Priesterin« vorher in einem Variete aufgetreten war. Jedenfalls unternahm niemand etwas gegen den Pfarrer. Zwei Wochen später boten einhundertneun Kirchen in dreiunddreißig Staaten ähnliche Attraktionen an. Breen trug die Zahlen in seine Kurven ein. Alle Statistiken schienen auf die eine Tatsache hinzudeuten, daß in den Vereinigten Staaten eine neue Epoche der Religiosität ausbrach – wenn auch mit anderen Vorzeichen. Er zog eine Parallele zu dem Zug der Heiligen der letzten Tage.
Hmm, ja, das könnte stimmen. Und auch diese Kurve strebte einem Höhepunkt entgegen. Der Colorado hatte einen Rekordtiefstand erreicht, und die Türme im Lake Mead ragten weit aus dem Wasser. Aber die Einwohner von Los Angeles trieben weiterhin volkswirtschaftlichen Selbstmord, indem sie ihren Rasen wässerten. Die Direktoren der städtischen Wasserwerke versuchten diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Aber die Beamten von fünfzig souveränen Stadtbezirken duldeten keine Einmischung in ihre Kompetenzen. Die Wasserhähne blieben offen, und das Herzblut des Paradieses in der Wüste verrann im Gras. Am 18. Juni brach der Krakatau aus. Das gab den Anlaß zur ersten bedeutenden transpazifischen Fernsehübertragung. Die Auswirkungen der Eruption auf die Sonnenflecken, auf die Sonnenkonstante, auf die Durchschnittstemperatur und auf die Regenfälle würden sich erst später im Jahr übersehen lassen. Der Mont Pelee und der Ätna brachen aus. Mauna Loa. In jedem Bundesstaat schienen fliegende Untertassen zu landen. Niemand hatte bisher eine auf dem Boden gesehen – oder unterdrückte vielleicht das Verteidigungsministerium entsprechende Nachrichten? Breen war mit den halbamtlichen Berichten, die er sich hatte verschaffen können, unzufrieden; manche waren unter ziemlichem Alkoholeinfluß entstanden. Aber die Seeschlange am Strand von Ventura war eine Realität, er hatte sie gesehen. Was die Höhlenbewohner in Tennessee anging, war er sich nicht so sicher. Einunddreißig Zusammenstöße in der Luft in der letzten JuliWoche…War das Sabotage, oder war es eine Kurve auf einem Millimeterblatt, die einem Tiefpunkt entgegenging? Und diese Neopolio-Epidemie, die von Seattle auf New York übergegriffen hatte? Die richtige Zeit für eine große Epidemie? Breens Aufzeichnungen bejahten die Frage. Aber wie stand es
mit Bakterienkrieg? Konnte man aus einem Kurvenblatt lesen, ob nicht vielleicht ein sowjetischer Biochemiker ein entsprechendes Virus entdeckt hatte und es im richtigen Augenblick anwendete? Unsinn! Aber die Kurven, wenn sie überhaupt etwas zu sagen hatten, schlossen »den freien Willen« ein – und ergaben trotzdem eine glatte Funktion. Jeden Morgen fluteten 3 Millionen Menschen aus freiem Willen in die Metropole von New York, jeden Abend flossen sie wieder hinaus – alle aus freiem Willen und auf einer glatten und leicht vorherzusehenden Kurve. Man frage einen Lemming! Man frage alle Lemminge, seien sie nun tot oder lebendig. Man lasse darüber abstimmen!
Breen schob sein Notizbuch zur Seite und rief Meade an: »Ist dort meine liebste statistische Zahl?« »Potty! Ich habe an dich gedacht.« »Natürlich. Du hast ja heute abend frei.« »Ja, aber auch aus einem anderen Grund. Potiphar, hast du dir je die Cheopspyramide angesehen?« »Ich war noch nicht einmal an den Niagara-Fällen. Ich warte auf eine reiche Frau, daß ich mir Reisen leisten kann.« »Ich lasse es dich wissen, wenn ich meine erste Million zusammen habe, aber…« »Das ist das erste Mal in dieser Woche, daß du mir einen Antrag machst.« »Halt den Mund. Hast du dir schon einmal die Prophezeiungen angesehen, die sie in der Pyramide gefunden haben?« »Hör mal, Meade, das liegt in der gleichen Kategorie wie Astrologie – nur für die Dummen. Werde doch endlich erwachsen.«
»Ja, natürlich. Aber Potty, ich dachte immer, du interessiertest dich für alles Seltsame. Und das ist seltsam.« »Oh, tut mir leid. Was gibt es denn?« »Schön. Soll ich heute abend für dich kochen?« »Heute ist Mittwoch, nicht?« »Wann kannst du hier sein?« Er sah auf seine Uhr. »Ich hole dich in elf Minuten ab.« Er rieb sich übers Kinn. »Nein, zwölfeinhalb.« »Gut, ich warte. Mrs. Megeath sagt, du wirst mich bestimmt heiraten, nachdem wir uns so regelmäßig treffen.« »Laß dir von ihr keine Flausen in den Kopf setzen. Sie ist nur eine statistische Zahl, ich nicht.« »Schön, ich habe jedenfalls schon zweihundertsiebenundvierzig Dollar von der ersten Million. Tschüs!« Was Meade ihm zu zeigen hatte, war die übliche Broschüre der Rosenkreuzler, ein Privatdruck mit einer Fotografie der vielbesprochenen Darstellung an der Wand, aus deren Verlauf man angeblich die Zukunft lesen konnte. In dieser Angabe war die Zeitskala höchst ungewöhnlich, aber die wichtigen Ereignisse waren alle angegeben – der Fall von Rom, die Normanneninvasion in England, die Entdeckung Amerikas, Napoleon, die Weltkriege. Das, was sie besonders interessant machte, war die Tatsache, daß sie plötzlich abbrach – im Jahre 1973. »Was meinst du, Potty?« »Ich denke, daß der Steinmetz einfach müde geworden ist. Oder vielleicht hat man ihn auch hinausgeworfen. Kann auch sein, daß sie einen neuen Chefpriester mit neuen Ideen angestellt haben.« Er schob das Buch in seinen Schreibtisch. »Danke. Ich werde es mir überlegen, wie ich es eintrage.« Aber dann holte er es doch noch einmal heraus und hantierte mit einem Steckzirkel und einem Vergrößerungsglas.
»Hieraus geht hervor«, stellte er fest, »daß das Ende im Laufe des August kommt – wenn sich hier nicht eine Fliege verewigt hat.« »Früh oder abends? Das muß ich wissen – damit ich weiß, was ich anziehen muß.« »Auf alle Fälle Schuhe.« Er legte das Buch weg. Sie schwieg einen Augenblick und meinte dann: »Potty, wird es nicht Zeit zum Abspringen?« »Was? Mädchen, laß dich nicht verrückt machen. Das ist Unsinn!« »Ja. Aber sieh dir doch deine statistischen Kurven an.«
Trotzdem nahm er sich den nächsten Nachmittag frei und verbrachte ihn im Leseraum der städtischen Bibliothek, wo er seine Meinung über Wahrsager bestätigt fand. Nostradamus war ausgesprochen albern. Mutter Shippey war noch schlimmer. Man konnte überall das finden, was man suchte. Eine Zeile im Nostradamus fand er, die ihm gefiel. »Und der Orientale wird von seinem Sitz steigen. Er wird über den Himmel ziehen, durch die Wasser und den Schnee, und er wird jeden mit seiner Waffe schlagen.« Das klang genau wie das, womit das Verteidigungsministerium immer rechnete. Aber gleichzeitig war es eine Beschreibung einer jeden Invasion in der Geschichte der Menschheit, die aus dem »Herzland« gekommen war. Unsinn! Als er nach Hause zurückkehrte, ertappte er sich dabei, wie er die Bibel seines Vaters aus dem Schrank holte und dort das Buch der Prophezeiungen nachlas. Er fand nichts, was er verstehen konnte, war aber von dem immer wiederkehrenden Gebrauch präziser Zahlen fasziniert.
Sein Blick blieb an einer Zeile hängen: »Brüste dich nicht um dessetwillen, was morgen sein wird; denn du wissest nicht, was ein Tag bringen mag.« Er legte das Buch beiseite und fühlte sich ganz klein.
Am nächsten Morgen setzte der Regen ein. Die Installateure wählten ihre »Miss Installation 1973« am gleichen Tag, an dem die Bestattungsinstitute eben dasselbe Mädchen zur »Dame, die ich am liebsten begraben würde« kürten, worauf Hollywood ihr den Filmvertrag kündigte. Der Kongreß bewilligte die Zahlung von 1,37 Dollar an Thomas Jefferson Meeks für Verluste, die dieser im Jahre 1936 auf Grund eines Buchungsirrtums der Post erlitten hatte, bestätigte die Ernennung von fünf Vier-Sterne-Generalen und eines Gesandten und vertagte sich nach weniger als acht Minuten. Die Feuerlöscher in einem Waisenhaus im Mittelwesten erwiesen sich im Bedarfsfall mit nichts anderem als mit Luft gefüllt. Der Präsident eines führenden Fußballverbandes leitete eine Aktion ein, um Friedensbotschaften und Vitamine an das Politbüro im Kreml zu senden. Die Aktienkurse fielen um neunzehn Punkte zurück, und die Fernschreiber arbeiteten bis spät in die Nacht hinein. Wichita in Kansas blieb weiter überflutet, während Phoenix in Arizona den außerhalb der Stadtgrenze liegenden Gemeinden das Wasser sperrte. Und Potiphar Breen stellte fest, daß er seinen Regenmantel in Meade Barstows Zimmer vergessen hatte. Er rief ihre Wirtin an, und Mrs. Megeath verband ihn mit Meade. »Was hast du an einem Freitag zu Hause zu tun?« fragte er.
»Der Direktor hat mir gekündigt. Jetzt wirst du mich heiraten müssen.« »Das kannst du dir nie leisten. Meade – aber im Ernst, Liebes, was ist passiert?« »Ich hatte ohnehin die Nase von dem Laden voll. In den letzten sechs Wochen hat das Kino nur von den Erdnußautomaten gelebt. Heute hab’ ich mir die Lana Turner Story zweimal angesehen. Es gab einfach nichts zu tun.« »Ich komme hinüber.« »Elf Minuten?« »Es regnet. Zwanzig – wenn ich Glück habe.« Es wurden eher sechzig. Der Santa Monica Boulevard ähnelte einem schiffbaren Strom; der Sunset Boulevard war verstopft. Als er schließlich den Fluß gefunden hatte, der zu Mrs. Megeaths Haus führte, stellte er fest, daß es gar nicht so leicht war, bei einem so starken Regen einen Reifen zu wechseln. »Potty!« rief sie, als er triefend naß eintrat. »Du siehst aus wie eine ersäufte Ratte.« Er fand sich plötzlich in einen Bademantel eingehüllt, der dem verstorbenen Mr. Megeath gehört hatte, und trank heißen Kakao, während Mrs. Megeath seine Sachen in der Küche trocknete. »Meade, ich bin auch stellungslos.« »Was? Hast du deine Stellung aufgegeben?« »Nicht gerade das. Der alte Wiley und ich haben schon seit Monaten Meinungsverschiedenheiten wegen der Antworten, die ich ihm geliefert habe; in den Zahlen, die ich ihm gegeben habe, steckten zu viele Lotteriefaktoren, als daß er sie seinen Klienten weitergeben könnte. Ich würde sie so nicht bezeichnen, er aber hatte das Gefühl, daß ich zu pessimistisch sei.« »Aber du hattest doch recht!«
»Seit wann ist es denn von Vorteil, wenn man seinem Chef gegenüber recht behält? Aber das ist nicht der Grund, weshalb er mich entlassen hat. Das war nur der Vorwand. Er möchte einen Mann haben, der mit pseudo-wissenschaftlichem Geschwätz ihm nach dem Mund redet, und da habe ich nicht mitgemacht.« Er trat ans Fenster. »Es regnet immer stärker. Jetzt steht das Wasser schon bis zum Rinnstein.« »Dann bleibst du am besten über Nacht hier.« »Hmm… aber ich lasse den Wagen nicht gern die ganze Nacht draußen stehen, Meade?« »Ja, Potty?« »Wir sind beide stellungslos. Was würdest du davon halten, wenn wir nach Norden in die Mojave Wüste führen und uns dort eine trockene Stelle suchten?« »Gern. Aber sieh mal, Potty, soll das ein Heiratsantrag sein oder nur – – sonst ein Antrag?« »Komm mir nicht mit dem Zeug. Das ist nur ein Vorschlag für einen Urlaub. Du kannst ja einen Anstandswauwau mitnehmen.« »Nein.« »Dann packe deinen Koffer.« »Sofort. Aber womit soll ich ihn packen? Willst du damit andeuten, daß es jetzt Zeit zum Abspringen ist?« Er sah zuerst sie an und blickte dann wieder aus dem Fenster hinaus. »Ich weiß nicht«, sagte er langsam, »aber dieser Regen könnte eine Weile so weitergehen. Nimm nichts mit, was du nicht unbedingt haben mußt – aber lasse auch nichts zurück, was du brauchst.« Er nahm seinen Anzug von Mrs. Megeath in Empfang, während Meade in ihrem Zimmer packte. Als sie herunterkam, trug sie Hosen und schleppte zwei schwere Koffer. Unter
einem Arm klemmte ein abgewetzter und zerknautschter Teddybär. »Das ist Winnie«, sagte sie. »Ich dachte Pu, der Bär?« »Nein, Winnie Churchill. Wenn ich niedergeschlagen bin, verspricht er mir Blut, Schweiß und Tränen, dann fühle ich mich wieder besser. Du hast doch gesagt, ich sollte alles mitbringen, auf das ich nicht verzichten kann, nicht wahr?« Sie sah ihn ängstlich an. »Richtig.« Er nahm die Koffer. Mrs. Megeath hatte sich mit seiner Erklärung zufrieden gegeben, daß sie seine – imaginäre – Tante in Bakersfield besuchen wollten, ehe sie sich nach einer neuen Stellung umsahen. Trotzdem war es ihm ziemlich peinlich, daß sie ihn zum Abschied auf die Wange küßte und ihn aufforderte, gut auf ihre kleine Untermieterin aufzupassen.
Der Santa Monica Boulevard war verstopft. Während sie in Beverly Hills in einer Autoschlange festsaßen, schaltete er das Autoradio ein und empfing eine kleine Station in der Nähe: »… genau genommen«, sagte eine hohe, erregt klingende Stimme, »hat der Kreml uns bis Abend Zeit gegeben, sein Ultimatum anzunehmen. Hier spricht Ihr Reporter aus New York, und es ist meine Meinung, daß in einer Zeit wie dieser jeder Amerikaner sein Pulver trocken halten sollte. Und jetzt noch ein Wort…« Breen schaltete ab und sah sie an. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »So reden sie schon seit Jahren.« »Du meinst, das ist ein Bluff?« »Das habe ich nicht behauptet. Ich habe nur gesagt, ›mach dir keine Sorgen‹.«
Aber als er dann in seinem kleinen Haus mit ihrer Hilfe packte, stellte er doch so etwas wie eine eiserne Ration zusammen: Lebensmittelkonserven, warme Kleidung, eine Sehrotflinte, die er seit mehr als zwei Jahren nicht mehr benutzt hatte, eine Reiseapotheke und der Inhalt seines Medizinschränkchens. Er warf die Unterlagen aus seinem Schreibtisch in einen Karton, stellte diesen neben Büchsen, Büchern und Mänteln auf den Rücksitz und deckte alles mit sämtlichen im Haus verfügbaren Decken zu. Dann stiegen sie ein letztes Mal die Treppe in die Wohnung hinauf. »Potty, wo ist deine statistische Karte?« »Zusammengerollt hinter dem Rücksitz. Ich glaube, das ist alles – äh, Augenblick mal!« Er trat an ein Regal hinter seinem Schreibtisch und begann einen Stoß kleiner Magazine herunterzunehmen. »Jetzt hätte ich beinahe meine astronomischen Zeitschriften liegengelassen.« »Warum willst du sie mitnehmen?« »Ich glaube, ich bin mit dem Lesen etwa ein Jahr im Rückstand. Jetzt werde ich vielleicht Zeit dafür haben.« »Hmm… Potty, ich habe mir unseren Urlaub ein wenig anders vorgestellt, als dir beim Lesen von Fachzeitschriften zuzusehen.« »Ruhe, Weib! Du hast deinen Winnie mitgenommen, ich nehme die Zeitschriften.« Sie schwieg und war ihm behilflich. Er warf einen begehrlichen Blick auf seine elektrische Rechenmaschine, verzichtete aber dann. Er hatte ja immerhin seinen Rechenschieber. Als der Wagen mit schäumender Bugwelle auf die Straße hinausfuhr, meinte sie: »Potty, wie steht’s bei dir mit dem Geld?« »Was? Nicht schlecht, denke ich.«
»Ich meine, weil wir hier wegfahren, während die Banken geschlossen sind.« Sie hielt ihre Handtasche hoch. »Hier ist jedenfalls meine Bank. Nicht viel drin, aber wir können es gebrauchen.« Er lächelte und tätschelte ihr Knie. »Braves Mädchen! Ich sitze auf meiner Bank, ich habe schon zu Anfang des Jahres alles, was ich hatte, in Bargeld verwandelt.« »Ich habe mein Bankkonto aufgelöst, kurz nachdem ich dich kennenlernte.« »Das hast du getan? Du mußt mein Geschwätz aber ernst genommen haben.« »Ich nehme dich immer ernst.«
Der Mint Canyon war ein Alptraum. Sie schafften höchstens zehn Kilometer in der Stunde. Ihr Sichtbereich war auf die Schlußlichter des vor ihnen fahrenden Lastwagens beschränkt. Als sie nach etwa der Hälfte des Weges eine Kaffeepause einlegten, wurde ihnen im Radio bestätigt, was sie sich eigentlich hätten selbst denken können: der Cajon Paß war abgesperrt, und der Fernverkehr auf der Route 66 wurde umgeleitet. Sie erreichten endlich die Ausfahrt von Victorville, wo der Verkehr etwas dünner wurde. Das war ein Glück, denn der Scheibenwischer auf seiner Seite hatte aufgehört zu funktionieren, und er mußte sich von Meade leiten lassen. Kurz vor Lancaster sagte sie plötzlich: »Potty, hat diese Karre einen Schnorchel?« »Nein.« »Dann halten wir besser an. Ich sehe hier neben der Straße ein Licht.« Das Licht war die Leuchtreklame eines Motels. Meade machte kurzen Prozeß und unterschrieb die Anmeldung selbst.
Sie bekamen gemeinsam ein Zimmer. Er sah, daß ein Doppelbett darin stand und ließ es dabei bewenden. Meade ging mit ihrem Teddybär zu Bett, ohne ihn um einen Gutenacht-Kuß zu bitten. Draußen war alles grau in grau. Spät am Nachmittag standen sie auf und beschlossen, noch eine Nacht zu bleiben und dann nach Norden in Richtung Bakersfield zu fahren. Es hieß, daß eine Hochdruckzone sich nach Süden bewege und den Regen, der Südkalifornien zu überschwemmen drohe, vor sich hertreibe. Sie wollten in dieses Hochdruckgebiet hineinfahren. Breen ließ den Scheibenwischer reparieren und kaufte zwei neue Reifen, außerdem einige Campingartikel und für Meade eine 32er Pistole. »Wozu das?« fragte sie. »Nun, du hast eine ganze Menge Geld bei dir.« »Oh, ich dachte, ich sollte dich damit bremsen, falls du zu aufdringlich würdest.« »Meade!« »Laß nur. Danke, Potty.« Sie waren gerade mit dem Abendessen fertig und luden ihre Einkäufe in den Wagen, als das Erdbeben begann. Dreizehn Zentimeter Niederschlag in vierundzwanzig Stunden, mehr als 3 Milliarden Tonnen zusätzliches Gewicht auf schon vorher geologisch labilem Boden reichten aus, um die ganze Misere plötzlich losbrechen zu lassen. Meade saß plötzlich auf dem feuchten Erdboden. Breen brachte es fertig, stehenzubleiben, indem er einen beinahe akrobatischen Tanz aufführte. Als der Boden sich dann nach etwa dreißig Sekunden wieder beruhigte, half er ihr beim Aufstehen. »Alles in Ordnung?«
»Meine Hosen sind naß.« Dann fügte sie hinzu: »Aber Potty, bei Regen gibt es doch nie ein Erdbeben. Niemals, das hast du doch selbst gesagt.« »Sei ruhig, ja?« Er schloß die Wagentür auf und schaltete das Radio ein. »… unmöglich, den Umfang der Katastrophe zu übersehen. Der Aquädukt über den Colorado ist zerstört, vom Umfang des Schadens ist nichts bekannt, und man weiß auch nicht, wie lange es dauern wird, ihn zu beheben. Soweit uns bekannt ist, könnte der Aquädukt über den Owens noch intakt sein, aber alle Einwohner des Gebietes um Los Angeles werden hiermit aufgefordert, Wasser zu sparen. Mein persönlicher Rat ist, daß Sie Ihre Badewannen ins Freie stellen und Regenwasser auffangen. Ich lese Ihnen jetzt eine Stelle aus den Katastrophengesetzen vor. Ich zitiere: Wasser abkochen. Bleiben Sie in Ihren Wohnungen und verhalten Sie sich ruhig. Halten Sie sich von den Highways fern. Unterstützen Sie die Arbeit der Polizei und… Joe! Geh ans Telefon!… helfen Sie, wo es nötig ist. Benutzen Sie das Telefon nicht, es sei denn… Blitzmeldung! Auf Grund eines unbestätigten Berichts aus Long Beach sollen der Strand von Wilmington und San Pedro eineinhalb Meter unter Wasser stehen. Ich wiederhole, das ist eine unbestätigte Mitteilung. Hier kommt eine Durchsage der Militärbehörden: Alle Angehörigen der Streitkräfte melden sich…« Breen schaltete ab, »Steig ein.« Er hielt in der Stadt noch zweimal an und kaufte sechs Zwanzig-Liter-Kanister und einen Reservetank für einen Jeep. Er ließ alle Behälter an einer Tankstelle mit Benzin füllen und packte sie unter Decken auf den Rücksitz. Anschließend legte er ein Dutzend Büchsen mit Motoröl dazu. Dann fuhren sie los. »Was tun wir jetzt, Potiphar?« »Ich möchte von der Talstraße aus weiter nach Westen.«
»Denkst du an einen bestimmten Ort?« »Ich glaube schon. Aber wir werden sehen. Kümmere du dich um das Radio, aber paß auch mit auf die Straße auf. Das Benzin dort hinten macht mich unruhig.«
Er fuhr durch die Stadt Mojave, dann auf der Bundesstraße 466 nordwestlich in die Tehachapi Mountains. Der Empfang auf dem Paß war schlecht, aber was Meade im Radio hereinbekam, bestätigte den ersten Eindruck – es war schlimmer als das Erdbeben von 1906, schlimmer als San Francisco, Managua und Long Beach zusammengenommen. Als sie aus den Bergen wieder herunterkamen, klarte sich das Wetter auf; ein paar Sterne erschienen am Himmel. Breen bog links von der Highway ab und fuhr auf einer Landstraße südlich von Bakersfield weiter, bis er den Super Highway 99 südlich von Greenfield erreichte. Wie er befürchtet hatte, war die Autobahn bereits mit Flüchtlingen verstopft. Er mußte ein paar Kilometer mit dem Strom fahren, bis es ihm gelang, westlich von Greenfield nach Taft abzubiegen. Sie hielten am westlichen Rand des Städtchens an und aßen in einer Raststätte zu Abend. Sie waren gerade im Begriff, wieder in ihren Wagen zu steigen, als plötzlich im Süden »die Sonne aufging«. Das rosige Licht kam schlagartig, füllte den ganzen Himmel aus und verblaßte. Dann türmte sich eine rote und purpurne Säule zu pilzförmiger Form auf. Breen starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Richtung, blickte auf seine Uhr und fuhr Meade an: »Steig ein!« »Potty! Das war…« »Das war einmal Los Angeles. Steig ein!« Er fuhr schweigend ein paar Minuten lang. Meade schien sich in einer Art Schockzustand zu befinden und unfähig zu sein,
auch nur ein Wort zu sprechen. Als die Schallwelle sie erreichte, blickte er wieder auf die Uhr. »Sechs Minuten und neunzehn Sekunden. Das könnte etwa stimmen.« »Potty, wir hätten Mrs. Megeath mitnehmen sollen.« »Woher hätte ich das wissen sollen?« fragte er gereizt. »Und außerdem kann man einen alten Baum nicht versetzen. Sie hat gar nichts gespürt.« »Hoffentlich!« »Wir werden genug zu tun haben, um selbst durchzukommen. Nimm die Taschenlampe und sieh dir die Karte an. Ich möchte nördlich von Taft zur Küste abbiegen.« »Ja, Potiphar.« Sie beruhigte sich und tat, wie er sie geheißen hatte. Das Radio blieb stumm. Nicht einmal die Station von Riverside meldete sich. Über dem ganzen Wellenbereich lag ein seltsames Störgeräusch, wie Regen, der gegen eine Fensterscheibe trommelt. Er fuhr langsamer, als sie sich Taft näherten, ließ sich von ihr die Auffahrt zur Staatsstraße angeben und bog ein. Beinahe im gleichen Augenblick sprang vor ihnen eine Gestalt auf die Straße und fuchtelte aufgeregt mit den Armen. Breen trat auf die Bremse. Der Mann kam von links an den Wagen heran und klopfte an die Scheibe. Breen kurbelte sie herunter. Dann blickte er mit geweiteten Augen auf den Revolver, den der Mann in der Hand hielt. »Aussteigen«, befahl der Fremde. »Ich brauche den Wagen.« Meade schob die Hand an Breen vorbei, hielt dem Mann ihre Pistole beinahe unmittelbar zwischen die Augen und drückte sofort ab. Breen spürte die Hitze verbrannten Pulvers im Gesicht; hörte aber nichts. Die Augen des Mannes wurden glasig – dann fiel er langsam zu Boden.
»Fahr weiter!« sagte Meade mit schriller Stimme. Breen hielt den Atem an. »Aber du…« »Fahr weiter! Fahr endlich!« Sie folgten der Staatsstraße durch den Los Padres National Forest und hielten nur einmal an, um den Tank aus ihren Reservekanistern zu füllen. Sie kamen auf einen schmalen Feldweg. Meade drehte immer noch am Radio, bekam auch einmal San Francisco herein, aber die Störungen machten es unmöglich, etwas zu verstehen. Dann empfing sie Salt Lake City schwach, aber deutlich: »… auf unseren Radarschirmen keinerlei Flugobjekte sichtbar waren, ist anzunehmen, daß die Bombe in Kansas Gity an Ort und Stelle durch Zeitzünder gezündet wurde. Das ist natürlich nur eine Theorie, aber…« Sie kamen in einen Hohlweg und hörten den Rest nicht mehr. Als der Empfang dann wieder besser wurde, hörten sie eine befehlsgewohnte Stimme: »Luftverteidigungskommando. Das Gerücht, daß Los Angeles von einer Atombombe getroffen ist, ist völlig unbegründet. Es stimmt, daß die Metropole von einem schweren Erdbeben erschüttert wurde, aber das ist alles. Regierungsbeamte und das Rote Kreuz sind bereits an Ort und Stelle, um sich der Opfer anzunehmen, aber – und ich wiederhole – das war keine Atombombe. Verhalten Sie sich also ruhig und bleiben Sie in Ihren Häusern. Derartige wilde Gerüchte können den Vereinigten Staaten ebensoviel Schaden zufügen wie feindliche Bomben. Halten Sie sich von den Straßen fern…« Breen schaltete ab. »Potiphar«, sagte Meade. »Das war aber doch eine Atombombe, nicht wahr?« »Natürlich. Und jetzt wissen wir nicht einmal, ob es nur Los Angeles getroffen hat – und Kansas City – oder jede andere
Großstadt im ganzen Land. Wir wissen nur, daß man uns anlügt.« Dann konzentrierte er sich wieder auf die Straße. Ihr Zustand war wirklich sehr schlecht.
Als es hell zu werden begann, meinte sie: »Potty, weißt du, wohin wir fahren? Weichen wir den Städten aus?« »Ich glaube schon. Wenn wir uns nicht verfahren haben.« Er blickte sich um. »Nein, es stimmt schon. Siehst du den Berg da vorn mit den drei Felszinnen?« »Ja.« »Das ist eine gute Markierung. Ich suche jetzt eine bestimmte Privatstraße. Sie führt zu einer Jagdhütte, die zwei von meinen Freunden gehört – es ist eigentlich eine alte Ranch, aber als Ranch hat sie sich nicht rentiert.« »Und sie werden nichts dagegen haben, wenn wir sie benutzen?« Er zuckte die Achseln. »Wenn sie auftauchen, fragen wir sie. Sofern sie überhaupt auftauchen. Sie haben in Los Angeles gelebt.« Die Privatstraße war einmal ein selten benutzter Feldweg gewesen – jetzt war sie beinahe unpassierbar. Aber als sie eine kleine Kuppe überwunden hatten, von der aus sie beinahe den Pazifik sehen konnten, erblickten sie unter sich ein kleines Tal, wo die Hütte stand. »Aussteigen, Mädchen. Endstation.« Meade seufzte. »Das sieht himmlisch aus.« »Meinst du, daß du uns Frühstück machen kannst, während ich auspacke? Im Schuppen ist wahrscheinlich trockenes Holz. Das heißt – kommst du mit einem Holz- und Kohleherd zurecht?« »Du wirst schön sehen.«
Zwei Stunden später stand Breen auf der Kuppe, rauchte eine Zigarette und starrte nach Westen. Er fragte sich, ob das eine pilzförmige Wolke war, die dort über San Francisco stand. Wahrscheinlich bildete er sich das nur ein. Im Süden war nichts mehr zu sehen. Meade kam aus der Hütte. »Potty!« »Hier oben.« Sie stellte sich neben ihn, griff nach seiner Hand und lächelte. Dann schnappte sie ihm die Zigarette weg und zog daran. Sie inhalierte tief und sagte dann: »Ich weiß, es ist eigentlich furchtbar schlimm, das zu sagen, aber ich fühle mich ausgeglichener, als ich mich seit Monaten fühlte.« »Ich weiß.« »Hast du die Konserven in der Speisekammer gesehen? Hier könnten wir einen ganzen Winter überstehen.« »Vielleicht müssen wir das auch.« »Ich denke schon. Ich wünschte, wir hätten eine Kuh.« »Was würdest du mit einer Kuh anfangen?« »Ich habe einmal jeden Morgen vier Kühe gemolken, ehe ich zur Schule fuhr. Ich kann auch ein Schwein schlachten.« »Ich werde sehen, ob ich ein Schwein für dich finde.« »Wenn du das tust, dann mache ich Räucherschinken.« Sie gähnte. »Ich bin plötzlich furchtbar müde.« »Ich auch. Kein Wunder.« »Gehen wir zu Bett.« »Äh – ja. Meade?« »Ja, Potiphar?« »Es kann sein, daß wir hier eine ganze Weile bleiben müssen. Das weißt du doch, nicht wahr?« »Ja, Potty.« »Vielleicht müssen wir sogar hierbleiben, bis alle meine statistischen Kurven wieder nach oben weisen. Das müssen sie, weißt du.«
»Ja, so hatte ich mir das auch vorgestellt.« Er zögerte und fuhr dann fort: »Meade, willst du meine Frau werden?« »Ja.« Sie drückte sich an ihn. Nach einer Weile schob er sie sanft von sich und sagte: »Meine Liebe, wir könnten in die nächste Stadt fahren und uns einen Pfarrer suchen.« Sie sah ihn an. »Das wäre nicht besonders klug, nicht wahr? Ich meine, niemand weiß, daß wir hier sind, und so wollen wir es doch haben. Außerdem könnte der Wagen es vielleicht beim zweiten Anlauf nicht mehr schaffen.« »Nein, das wäre nicht sehr klug. Aber ich glaube, es geht auch so.« »Natürlich, Potty.« »Amtliche Durchsage. Regierungserlaß Nummer 9: Die vorher durchgegebenen Straßenverkehrsvorschriften sind in zahlreichen Fällen mißachtet worden, Sämtliche Patrouillen haben Anweisung, ohne vorherige Warnung von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Die Gemeindeverwaltungen erhalten hiermit den Auftrag; unberechtigten Besitz von Benzin mit der Todesstrafe zu ahnden. Die vorher bekanntgegebenen Anweisungen für den Fall des biologischen Krieges und der Strahlungsquarantäne sind strikt einzuhalten. Gezeichnet: Harley J. Neal, General und amtierender Regierungschef. Hier spricht Radio Freies Amerika. Gouverneur Brandley wurde soeben vom Obersten Richter Roberts als Präsident vereidigt. Der Präsident hat Thomas Devey zum Staatssekretär und Paul Douglas zum Verteidigungsminister ernannt. Seine zweite offizielle Handlung war, den Usurpator Neal zu degradieren und seine Verhaftung anzuordnen! Weitere Berichte folgen.
Hallo, CQ, CQ, CQ. Hier spricht W5KMR Freeport. Kann mich jemand empfangen? Irgend jemand? Wir sterben hier unten wie die Fliegen. Was ist passiert? Es beginnt mit Fieber, dann bekommt man Durst. Aber man kann nicht schlucken. Wir brauchen Hilfe. Kann mich jemand empfangen? Hallo CQ75, CQ75. Ich rufe CQ75. Die ersten Symptome sind kleine rote Flecken unter den Achseln. Sie jucken. Die Patienten müssen sofort zu Bett gebracht werden und warm zugedeckt werden. Äußerste Reinlichkeit ist dringend erforderlich. Am besten tragen Sie einen Mundschutz. Wir wissen noch nicht, wie die Infektion verbreitet wird. Bitte weitergeben. Weitere Landungen auf diesem Kontinent wurden nicht gemeldet. Die wenigen Fallschirmspringer, die unseren Truppen entkommen sind, dürften sich in die Poconos zurückgezogen haben. Wir melden uns morgen mittag wieder…« Die statistischen Kurven zeigten steigende Tendenz. Daran zweifelte Breen nicht mehr länger. Vielleicht würde es nicht einmal mehr notwendig sein, hier in den Sierra Madres den ganzen Winter zu verbringen, wenn er auch beinahe der Ansicht war, daß sie es trotzdem tun würden. Es wäre schließlich unsinnig, als letzte Opfer einer abklingenden Epidemie hingerafft oder von einem nervösen Wachtposten erschossen zu werden. Zumal vielleicht schon in ein paar Monaten alles wieder normal sein könnte. Er ging gerade zur Anhöhe hinauf, um den Sonnenuntergang abzuwarten und eine Stunde zu lesen. Er warf einen Blick auf seinen Wagen, als er daran vorbeiging, und überlegte, daß er ganz gern mal wieder Radio hören würde. Er unterdrückte den
Wunsch. Zwei Drittel seines Benzinvorrats waren schon aufgebraucht, weil er die Batterie hatte aufladen müssen – und es war erst Dezember. Er sollte das Radiohören wirklich auf zweimal in der Woche beschränken. Und trotzdem drängte es ihn, die Mittagsnachrichten von Radio Freies Amerika zu hören und dann ein paar Minuten an der Skala zu drehen, um irgendeinen anderen Sender zu empfangen. Aber während der letzten drei Tage war Radio Freies Amerika nicht zu hören gewesen – vielleicht statische Störungen oder vielleicht auch nur ein Energieausfall. Aber dieses Gerücht, daß Präsident Brandley ermordet worden sei – es war nicht über Radio Freies Amerika verbreitet und auch nicht dementiert worden, und das war ein gutes Zeichen. Trotzdem machte er sich Sorgen. Und diese andere Geschichte, daß das alte Atlantis während des Erdbebens wieder aufgetaucht war, und daß die Azoren jetzt ein kleiner Kontinent waren – das war zweifellos eine Zeitungsente – jedenfalls wäre es interessant zu hören, wie sich alles weiterentwickelt hatte. Er stieg zur Anhöhe hinauf, setzte sich auf die Bank, die er dort hinaufgeschleppt hatte, und seufzte. Er hatte gut gegessen; nur Zigaretten fehlten ihm, um völlig zufrieden zu sein. Die Farben der Wolken waren am Abend besonders schon, und das Wetter war für Dezember sehr mild. Beides, so überlegte er, war wahrscheinlich auf den Vulkanstaub zurückzuführen. Vielleicht trugen auch die Atombomben eine gewisse Schuld daran. Wirklich erstaunlich, wie schnell alles in Stücke ging, wenn es erst einmal angefangen hatte. Aber auch erstaunlich, wie schnell sich alles wieder beruhigte, wenn man den Zeichen trauen durfte. Eine Kurve erreicht ihren Tiefpunkt und steigt dann wieder an.
Der dritte Weltkrieg war der kürzeste große Krieg der Geschichte gewesen – vierzig Städte vernichtet, Moskau und die anderen großen Städte des Ostens ebenso eingerechnet wie die amerikanischen – und dann war keine der beiden Seiten mehr in der Lage gewesen, den Krieg fortzuführen. Natürlich, die Tatsache, daß beide Seiten ihre Fernlenkwaffen über den Nordpol geschickt hatten und dort in das verrückteste arktische Wetter hineingeraten waren, das es je gegeben hatte, hatte vielleicht größeren Schaden verhütet. Es war überhaupt erstaunlich, daß russische Fallschirmtruppen durchgekommen waren. Breen seufzte und nahm die November-Ausgabe des Western Astronomer aus der Tasche. Wo stand es denn? Hier: Notizen über die Stabilität von Sternen des Spektraltypus G, mit besonderem Bezug auf die Sonne, von Dynkowski, LeninInstitut, übersetzt von Heinrich Ley, F. R. A. S. Tüchtiger Mann, dieser Dynkowski – ein verläßlicher Mathematiker. Breen suchte die Stelle, wo er zu lesen aufgehört hatte. Dabei entdeckte er eine Fußnote, die ihm bisher entgangen war. »Dieser Aufsatz wurde von der Prawda als reaktionärer Unsinn kurz nach dem Erscheinen getadelt. Seitdem hat man von Professor Dynkowski nichts mehr gehört, und man muß annehmen, daß er liquidiert worden ist.« Der arme Kerl! Nun, inzwischen wäre er ja auf alle Fälle zu Atomstaub geworden. Er fragte sich, ob die Armee tatsächlich alle russischen Fallschirmsoldaten erwischt hatte. Er selbst hatte einen der Invasoren getötet. Wenn er die Hirschkuh nicht einen halben Kilometer von der Hütte entfernt geschossen hätte und sofort zurückgekommen wäre, hätte Meade eine böse Überraschung erlebt. Er hatte den Mann in Notwehr erschossen und ihn hinter dem Holzstoß begraben.
Dann begann er zu lesen. Dynkowskis Aufsatz war wirklich interessant. Natürlich war es bereits bekannt, daß ein Stern des Spektraltyps G, wie zum Beispiel die Sonne, in den äußeren Schichten instabil war; ein Stern der Spektralklasse G konnte explodieren und zu einem weißen Zwerg werden. Aber niemand vor Dynkowski hatte die genauen Bedingungen für eine solche Katastrophe definiert, noch hatte sonst jemand mathematische Formeln gefunden, um den Grad der Instabilität festzustellen und die Fortschritte, die sie machte, zu beschreiben. Er blickte auf und sah, daß die Sonne von einer dünnen Wolke verhüllt war – einer dieser seltenen Fälle, wo der Filtereffekt gerade ausreicht, um eine Beobachtung der Sonne mit bloßem Auge zu gestatten. Wahrscheinlich Vulkanstaub in der Luft, überlegte er, der beinahe wie Rauchglas wirkt. Er sah noch einmal hin. Entweder tanzten Punkte vor seinen Augen, oder das war ein riesiger Sonnenfleck. Er hatte schon davon gehört, daß man sie mit bloßem Auge bei Sonnenuntergang sehen konnte, aber ihm selbst war das noch nie geglückt. Er wünschte, er hätte ein Teleskop.
Er wandte sich wieder seinem Artikel zu, bestrebt, ihn zu Ende zu lesen, bevor es dunkel wurde. Zuerst empfand er nichts anderes als rein intellektuelles Vergnügen an den klugen mathematischen Analysen des Mannes. Eine dreiprozentige Ungenauigkeit in der Solarkonstante – ja, das war ganz klar. Wenn das geschah, würde aus der Sonne eine Nova werden. Aber Dynkowski ging noch weiter. Mit Hilfe einer neuen mathematischen Methode präzisierte er die Periode in der Geschichte eines Sterns, wo das eintreten konnte, und errechnete daraus die Zeit mit der höchsten Wahrscheinlichkeit.
Wunderbar! Dynkowski gab sogar Daten an, wie es sich für einen guten Statistiker gehörte. Aber als Breen den Artikel dann ein zweites Mal durchlas, tat er das mit wachsender Besorgnis. Dynkowski sprach nicht von irgendeinem Stern. Am Ende seines Aufsatzes meinte er die alte Sonne selbst, Breens persönliche Sonne – die große Kugel am Himmel mit dem riesigen Fleck im Gesicht. Das war wirklich ein ungeheuer großer Fleck! Ein Loch, in das man den Jupiter stecken konnte, ohne daß es auffiel. Er konnte ihn jetzt ganz deutlich erkennen. Viele Leute reden seit vielen Jahren vom Altern der Sterne und vom Erlöschen der Sonne, aber das ist ein unpersönlicher Begriff, ganz anders, als wenn man von seinem eigenen Tod spricht. Breen begann sehr intensiv darüber nachzudenken. Wie lange würde es dauern, angefangen von dem Augenblick, in dem die Nova-Entwicklung einsetzt, bis die Folgen des Ausbruchs auf der Erde spürbar werden? Das ließ sich ohne große Rechenkünste feststellen. Eine halbe Stunde, schätzte er, bis die Erde in Flammen verging. Tiefe Melancholie überkam ihn. Nicht mehr? Nie wieder? Der Colorado an einem kühlen Morgen. Oder Bucks County in der Farbenpracht des Herbstes. Der feuchte Dunst vom Fulton Fischmarkt in San Francisco – nein, den gab es schon nicht mehr. Die Abenddämmerung im Südpazifik – wie hatte der alte Kahn doch geheißen –, aber das war schon lange her; die S. S. Mary Brewster. Und auch kein Mond mehr, wenn es keine Erde mehr gab. Sterne, aber niemand, der zu ihnen aufblickte. Plötzlich verspürte er den Wunsch, bei Meade zu sein, und stand auf.
Sie kam gerade aus der Hütte, ihm entgegen. »Hallo, Potty! Du kannst jetzt kommen – ich bin mit dem Geschirr fertig.« »Ich hätte dir helfen sollen.« »Tu du die Männerarbeit, ich erledige die Frauenarbeit. Das ist eine vernünftige Arbeitsteilung.« Sie hielt die Hand über die Augen. »Was für ein Sonnenuntergang! Eigentlich sollten jedes Jahr Vulkane ausbrechen.« »Setz dich neben mich, dann sehen wir zu.« Sie setzte sich neben ihn. »Siehst du den Sonnenfleck? Du kannst ihn mit bloßem Auge erkennen.« Sie blickte hinauf. »Ist das ein Sonnenfleck? Das sieht ja beinahe aus, als hätte jemand ein Stück von der Sonne herausgebrochen.« Er blinzelte. Der Teufel sollte ihn holen; der Fleck war noch größer geworden! Meade schauderte. »Mich friert. Leg deinen Arm um mich.« Er war tatsächlich größer. Der Fleck wuchs. Was ist die menschliche Rasse schon wert? Affen, dachte er. Affen mit einem Hauch Poesie, die einen zweitklassigen Planeten einer drittklassigen Sonne bewohnen. Aber wenigstens verstehen manche von ihnen, mit Anstand zu sterben. Sie kuschelte sich an ihn. »Du mußt mich wärmen.« »Es wird bald wärmer werden – ich meine, ich wärme dich schon.« »Lieber Potty«, sie blickte auf, »der Sonnenuntergang ist heute so komisch.« »Ja, Liebling – das liegt an der Sonne.« Er warf einen Blick auf die Zeitschrift, die noch offen neben ihm lag. 1739 und 2207. Er brauchte die beiden Zahlen nicht zu addieren und durch zwei zu teilen, um die Antwort zu
bekommen. Statt dessen drückte er ihre Hand fester und wußte, daß 1973 das bewußte Jahr war… …das ENDE.
Originaltitel: THE YEAR OF THE JACKPOT Copyright © 1952 by World Editions, Inc. Aus GALAXY SCIENCE FICTION Übersetzt von Heinz Nagel
Alfred Coppel DIE LETZTE SOMMERNACHT
In der Stadt brannten Feuer. Da es im Haus dunkel war – das Elektrizitätswerk war schon verlassen – konnte Tom Henderson die Feuer ganz deutlich sehen. Er saß im Dunkeln, rauchte und hörte der Stimme des Ansagers zu, die aus seinem Transistorempfänger kam. »… Durchschnittstemperaturen steigen in der ganzen Welt auf abnorme Höhen. Paris meldete gestern einen Rekord von dreißig Grad… Neapel zweiunddreißig… die Astronomen prophezeien… die Regierung verlangt, daß die Zivilbevölkerung ruhig bleibt. In Los Angeles ist der Notstand ausgerufen worden…« Die Stimme war schwach. Die Sendeleistung der Station ließ nach. Wir können machen, was wir wollen, dachte Henderson, das ist das Ende. Wir haben nicht einmal den Mut, uns damit abzufinden. Eigentlich war alles so einfach. Kein Weltkrieg, kein Zusammenstoß mit einem anderen Himmelskörper. Einfach ein leichter Temperaturanstieg der Sonne. Nur das. Die Astronomen hatten es natürlich als erste entdeckt. In der Presse waren beschwichtigende Artikel erschienen. Der Temperaturanstieg würde nur gering sein. Zehn Prozent. Sie sprachen von Oberflächenspannungen, Pulsations-Variablen und benutzen zahllose Fachausdrücke, die höchstens zwei unter zwei Millionen verstehen konnten. Und was sie der Welt mitgeteilt hatten, war in dürren Worten die Voraussage, daß sie in der letzten Sommernacht untergehen würde.
Es würde zuerst langsam gehen. Die Temperaturen waren schon den ganzen Sommer über hoch gewesen. Dann, am 22. September, würde von dem vertrauten roten Ball am Himmel eine plötzliche Hitzewelle ausgehen. Die Oberflächentemperatur der Erde würde für die Dauer von siebzehn Stunden zweihundert Grad Celsius betragen. Dann würde alles wieder ganz normal sein. Henderson grinste humorlos. Alles wieder ganz normal. Das Wasser der Meere, das bis dahin verdampft sein würde, würde sich kondensieren und einen Monat lang oder länger als heißer Regen niedergehen und das Land überfluten und alle Spuren des Menschen hinwegwaschen – Spuren, die nicht schon verbrannt waren. Und nach zwei Monaten würden die Temperaturen wieder so weit gesunken sein, daß ein Mensch sich ohne Schutzkleidung im Freien aufhalten konnte. Nur würde es dann nicht mehr viele Menschen geben. Nur die wenigen Glücklichen, die einen Talisman besaßen, jene Metallscheiben, die den Zutritt zu den unterirdischen Bunkern erlaubten. Von einer Bevölkerung von drei Milliarden würde weniger als eine Million überleben. Die Stimme des Ansagers klang müde. Kein Wunder, dachte Henderson. Er spricht jetzt ohne Ablösung seit beinahe zehn Stunden. Wir alle tun, was wir können. Aber es ist nicht viel. »… werden keine weiteren Anträge für das Betreten der Bunker angenommen…« Klar, dachte Henderson. Es war so wenig Zeit gewesen. Drei Monate. Daß sie es überhaupt geschafft hatten, die zehn Bunker zu vollenden, war schon ein Wunder. Aber dabei hatte Geld natürlich keine Rolle mehr gespielt, nicht wahr? Er mußte sich immer wieder daran erinnern, daß die alten Werte nicht mehr galten; weder Geld noch materielle Güter, nicht einmal Arbeit – diese drei Grundfesten der Wirtschaft. Nur Zeit war von Bedeutung. Und es war viel zuwenig Zeit gewesen.
»… Bevölkerung von Las Vegas in Bergwerke evakuiert…« Man konnte es ja versuchen, aber es würde nichts helfen, dachte Henderson. Wenn die Hitze sie nicht tötete, würde es die Überfüllung besorgen. Wenn es das nicht war, dann die Flut, und Erdbeben würden natürlich auch nicht ausbleiben. Wir können uns mit einer Katastrophe dieser Größenordnung einfach nicht abfinden, sagte er zu sich. Wir sind geistig ebensowenig darauf eingestellt wie physisch. Das einzige, was ein Mensch versteht, sind seine eigenen Probleme. Und diese letzte Sommernacht ließ sie recht unbedeutend, recht klein erscheinen, als sähe man sie durch ein umgedrehtes Fernrohr. Die Mädchen tun mir leid, dachte er. Lorrie und Pam. Sie hätten eine Chance zum Überleben verdient. Er spürte, wie sich seine Kehle zusammenschnürte, als er an seine Töchter dachte. Acht und zehn Jahre alt. Ein schlimmes Alter, um schon sterben zu müssen. Aber er hatte früher auch nicht an sie gedacht, und warum sollte das Ende der Welt da einen Unterschied machen? Er hatte sie verlassen, und Laura auch. Wofür? Um Kays willen und wegen ihres Geldes und für ein Leben, das mit einem Aufstrahlen der Sonne enden würde, wenn die Dämmerung kam. Sie alle tanzten jetzt ihren Todestanz am Rande der Welt, während er ohne jedes Gefühl und ohne jeden Zweck hier saß und sie wie durch ein umgedrehtes Fernrohr betrachtete. Er fragte sich, wo Kay nun wohl sein mochte. Überall in der Stadt wurde gefeiert. Morgen war alles vorbei! Nichts war verboten. Nichts wurde versagt. Die letzte Nacht der Welt! Kay hatte sich angezogen und war um sieben weggegangen. »Ich will nicht hier hockenbleiben und einfach warten!« hatte sie erklärt. Er erinnerte sich, wie hysterisch ihre Stimme geklungen hatte und wie glasig ihre Augen gewesen waren. Und dann Tina und jene anderen, die hereingekommen waren, teils betrunken, teils vom Entsetzen betäubt. Tina in ihrem
Nerz, wie sie im Zimmer herumgetanzt war und mit schriller Stimme gesungen hatte. Und das andere Mädchen, nackt bis auf ihre Juwelen – Henderson konnte sich nicht an ihren Namen erinnern –, aber er würde sie nie mehr vergessen, da sie ihn gebeten hatte, sie zu nehmen. Es war ein Alptraum. Aber es war die Wirklichkeit. Die rote Sonne, die im Pazifik versank, war echt. Die Feuer und die Plünderungen in der Stadt waren kein Traum. Das war die Art und Weise, wie die Welt untergehen würde. Orgien und Mord auf den Straßen! Draußen kreischten Reifen. Dann ein Knall und das Klirren zerbrechenden Glases. Darauf war es wieder ruhig. Ein Schuß hallte von der Straße herauf. Er hörte einen Schrei, der halb Gelächter und halb Angstruf war. Ich weiß nicht, was ich tun soll, dachte Henderson. Ich sitze hier und warte – warte auf nichts. Und die Stimme im Radio wurde immer leiser. »… in den Bunkern werden überleben… in den Bergwerken und Höhlen… die Geologen sagen voraus, daß vierzig Prozent überleben werden… hinter dem Eisernen Vorhang…« Hinter dem Eisernen Vorhang bestimmt nicht. Oder vielleicht würde es ganz plötzlich kommen, nicht allmählich mit der Dämmerung über die ganze Erde hinwegstreichen. Natürlich würde es plötzlich sein. Die Sonne würde anschwellen – ganz leicht – und acht Minuten später würden Ströme, Seen, Flüsse, die Meere – alles Feuchte verdampfen…
Auf der Straße heulte etwas auf, schrill, aber keine Frau. Ein Mann. Er brannte. Eine Bande von Halbwüchsigen hatte ihn mit Benzin übergossen und ihn angezündet. Sie rannten hinter ihm her und brüllten und johlten. Ein Vorgeschmack auf das, was kommen würde. Henderson sah ihm durch das Fenster
nach, als er wie eine lebende Fackel davonrannte. Er verschwand um die nächste Ecke, dicht gefolgt von seinen Peinigern. Ich hoffe, daß die Mädchen und Laura in Sicherheit sind, dachte Henderson. Und dann hätte er beinahe laut gelacht. In Sicherheit. Was bedeutete denn jetzt noch Sicherheit? Vielleicht, dachte er, hätte ich mit Kay gehen sollen. Gab es noch etwas, das er tun wollte und das er nie getan hatte? Morden? Rauben? Vergewaltigen? Genüsse, die er sich noch nie geleistet hatte? Die Nacht zuvor bei Gilmans, eine schwarze Messe, voll von schrecklichen Dingen und blankem Unsinn: Wie die hübsche Louise Gilman sich ihren Gästen einem nach dem anderen an den Hals geworfen hatte, während ihr Mann im Morphiumrausch halbtot auf dem Boden lag. Jemand polterte an die Tür, kratzte daran, schrie. Er saß ganz still. »Tom – Tom – ich bin’s, Kay! Um Himmels willen, laß mich herein!« Vielleicht war es Kay. Vielleicht war sie es, und er sollte sie draußen stehenlassen. Ich sollte mir den Rest meiner Würde bewahren, dachte er, und wenigstens allein sterben. Wie wäre es gewesen, dem Ende gemeinsam mit Laura entgegenzusehen? Wäre es anders gewesen? Oder hatte er überhaupt eine Wahl? Ich habe Laura geheiratet, dachte er. Und ich habe Kay auch geheiratet. Es war leicht. Wenn ein Mann sich alle zwei Jahre, sagen wir, scheiden lassen konnte und fünfundsechzig wurde, sagen wir – wie viele Frauen konnte er dann heiraten? Und wenn man annahm, daß es eineinhalb Milliarden Frauen auf der Welt gab, welchen Prozentsatz würde das ergeben? »Laß mich ein, Tom, verdammt! Ich weiß, daß du da bist!«
Acht und zehn Jahre, das ist kein Alter, dachte er. Nicht sehr alt, wirklich nicht. Seine Töchter hätten herrliche Frauen werden können. »Tom…!« Er schüttelte den Kopf und schaltete das Radio aus. Die Feuer in der Stadt waren heller und größer geworden. Er stand auf und ging an die Tür. Er öffnete. Kay taumelte herein. Sie schluchzte. »Mach die Tür zu, mein Gott, mach doch die Tür zu!« Er sah ihr zerfetztes Kleid – und ihre Hände. Sie waren von Blut gerötet. Er empfand kein Entsetzen, keine Neugierde. Er empfand gar nichts, nur ein Gefühl des Verlustes. Ich habe sie nie geliebt, dachte er plötzlich. Sie stank nach Alkohol, und ihr Gesicht war über und über mit Lippenstift beschmiert. »Dieser abscheuliche Kerl – hat sich mit mir eingelassen und ist dann in seinen Bunker zurückgekehrt…« Plötzlich lachte sie. »Schau Tom – schau!« Sie streckte ihm eine blutbesudelte Hand hin. Zwei Metallscheiben glitzerten auf ihrer Handfläche. »Wir sind gerettet, gerettet!« Sie sah fasziniert auf die Scheiben. Henderson stand unter der Tür und begriff nur langsam, was sich vor seinen Augen abspielte. Kay hatte einen Mann um dieser beiden Berechtigungsplaketten für die Bunker getötet. »Gib sie her«, sagte er. Sie riß sie ihm weg. »Nein.« »Ich will sie haben, Kay.« »Nein, nein, nein, nein!« Sie schob sich in den zerfetzten Ausschnitt ihres Kleides. »Ich bin doch zurückgekommen. Ich bin zurückgekommen, um dich zu holen. Das stimmt doch, nicht wahr?« »Ja«, sagte Henderson. Und es stimmte aber auch, daß sie allein keine Aussichten hatte, den Bunker zu erreichen. Sie
brauchte einen Wagen und einen Mann mit einer Waffe, der sie beschützte. »Ich verstehe, Kay«, sagte er leise. »Wenn ich sie dir gäbe, würdest du Laura mitnehmen«, sagte sie. »Würdest du das nicht tun? Würdest du das nicht tun? Oh, ich kenne dich, Tom, ich kenne dich gut. Du hast dich nie von ihr oder diesen beiden Gören lösen können…« Er schlug ihr klatschend die Hand ins Gesicht, überrascht, daß ihn die Wut so heftig packen konnte. »Tu das nicht noch einmal!« Sie funkelte ihn haßerfüllt an. »Jetzt brauche ich dich, aber du brauchst mich noch mehr. Du weißt nicht, wo der Bunker ist. Ich weiß es aber.« Das stimmte natürlich. Die Eingänge zu den Bunkern mußten geheim sein. Nur die durften sie kennen, die auserwählt waren, zu überleben. Der Mob würde sonst die Bunker stürmen. Und Kay hatte es von dem Mann erfahren – der Mann, der mit seinem Leben dafür gebüßt hatte, weil er vergessen hatte, daß es jetzt nur potentielle Überlebende gab und Bestien in Menschengestalt. »Also gut, Kay«, sagte Henderson. »Ich schließe einen Handel mit dir.« »Was für einen Handel?« fragte sie argwöhnisch. »Das sag ich dir im Wagen. Mach dich fertig. Nimm leichte Sachen mit.« Er ging ins Schlafzimmer und holte seine Armeepistole aus dem Nachtkästchen. Kay war damit beschäftigt, ihren Schmuck in eine Handtasche zu stecken. »Komm«, sagte er. »Das genügt. Wir haben nicht viel Zeit.« Sie gingen in die Garage hinunter und stiegen in den Wagen. »Kurble die Fenster hoch«, sagte er. »Und sperr die Türen ab.« »Okay.« Er ließ den Motor an und fuhr rückwärts auf die Straße hinaus. »Was für einen Handel willst du mit mir machen?« fragte Kay.
»Später«, sagte er. Er schaltete die Automatik auf Fahrt und ließ den Wagen aus dem Wohnviertel rollen, fuhr langsam durch die vertraute, von Bäumen gesäumte Straße. In den Schatten rannten dunkle Gestalten herum. Ein Mann tauchte im Lichtkegel seiner Scheinwerfer auf, und Henderson raste an ihm vorbei. Er hörte Schüsse hinter sich. »Bück dich«, sagte er. »Wohin fahren wir? Das ist nicht der richtige Weg.« »Ich nehme die Kinder mit«, sagte er. »Sie werden sie nicht hineinlassen.« »Wir können es ja versuchen.« »Du Narr, Tom! Sie werden sie nicht hineinlassen, sage ich!« Er bremste und sah sie an. »Würdest du es lieber zu Fuß versuchen wollen?« Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse der Angst. Sie sah die Hoffnung auf ein Weiterleben schwinden. »Okay. Aber ich sage dir, sie werden sie nicht einlassen. Niemand kommt ohne eine Plakette in die Bunker.« »Wir können es versuchen.« Er fuhr schnell durch die mit Unrat übersäten Straßen zu Lauras Wohnung. An mehreren Stellen war die Straße von brennenden Gegenständen blockiert, und einmal wären sie von einer Bande Männer und Frauen beinahe aufgehalten worden. Sie warfen ihnen Steine und Unrat nach, als Henderson an der Gruppe vorbeiraste. »Du wirst uns beide noch in den Tod fahren«, sagte Kay. Henderson sah seine Frau an und machte sich Vorwürfe wegen der Jahre, die er mit ihr vergeudet hatte. »Keine Angst«, sagte er. Vor Lauras Haus hielt er an. Auf dem Bürgersteig lagen zwei umgekippte Autos. Er entriegelte die Tür und stieg aus, nicht
ohne den Zündschlüssel abzuziehen. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er. »Sag Laura einen schönen Gruß von mir«, sagte Kay, und ihre Augen glitzerten. »Ja«, sagte er. »Gern.« Ein Schatten tauchte aus der Dunkelheit auf. Ohne zu zögern hob Tom Henderson die Pistole und schoß. Der Mann fiel um und regte sich nicht mehr. Tom schloß die Haustür und rannte die Treppe hinauf, an die er sich so gut erinnerte. An Lauras Tür klopfte er. Drinnen regte sich etwas. Die Tür öffnete sich langsam. »Ich bin gekommen, um die Mädchen zu holen«, sagte er. Laura trat zurück. »Komm herein«, sagte sie. Ihr Parfüm weckte ferne Erinnerungen in ihm. Seine Augen wurden feucht. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte er. Lauras Hand legte sich in der Dunkelheit auf die seine. »Du kannst sie in einen Bunker bringen?« fragte sie ihn. Und dann leise: »Ich habe sie ins Bett gelegt. Ich wußte nicht, was ich sonst hätte tun sollen.« Er konnte sie nicht sehen, aber er konnte sich gut vorstellen, wie sie aussah: kurzgeschnittenes blondes Haar, die schokoladebraunen Augen, ihre schlanke Gestalt. Aber das alles hatte jetzt nichts zu sagen. Nichts hatte in dieser verrückten letzten Nacht der Welt noch etwas zu sagen. »Hol sie«, sagte er. »Schnell.« Sie gehorchte. Pam und Lorrie – er konnte hören, wie sie sich darüber beklagten, daß man sie mitten in der Nacht weckte. Dann kniete Laura sich nieder und drückte sie an sich. Und er wußte, daß sie jetzt tränenfeuchte Wangen hatte. Er dachte: sag Lebwohl und mach es schnell. Küsse deine Kinder und blicke ihnen nach, während du allein hier bleibst, in einer Nacht, die nie enden wird. Laura, Laura…
»Nimm sie, schnell, Tom«, sagte Laura. Dann drückte sie sich an ihn, nur für einen Augenblick. »Ich liebe dich, Tom. Ich habe dich immer geliebt.« Er nahm Pam auf den Arm und ergriff Lorries Hand. Er brachte es nicht fertig, ein Wort zu sagen. »Leb wohl, Tom«, sagte Laura und schloß die Tür. »Kommt Mami nicht mit?« fragte Pam schläfrig. »Ein anderes Mal, Kleines«, sagte Tom leise. Er führte sie zu dem parkenden Wagen hinaus. »Sie werden sie nicht hineinlassen«, sagte sie. »Du wirst schon sehen.« »Wo ist es denn, Kay?« Sie schwieg mürrisch, und Henderson spürte, wie seine Nerven vibrierten. »Kay…« sagte er scharf. »Also gut.« Sie beschrieb ihm unwillig den Weg, als haßte sie es, zusammen mit ihm zu überleben. Die Mädchen auf dem Rücksitz, die bereits wieder eingeschlafen waren, würdigte sie keines Blickes. Sie fuhren durch die Stadt, die geplünderte, geschändete Stadt, die brannte und in der die Menschen ihre letzte Orgie feierten, die Stadt, über der bereits der Hauch des Todes lag. Im Licht der Scheinwerfer tauchten Szenen aus einem Inferno des Wahnsinns auf, als der Wagen durch den Friedhof aus Blech und Beton raste, zu dem die Stadt geworden war. Psalmensänger knieten auf der Straße und rührten sich nicht, als ein schwerer Lastwagen durch die Gruppe fuhr. Und die Hymne übertönte das Kreischen der Sterbenden: Fels im Meer, gib mir Zuflucht… Die Todeszuckungen einer Welt, dachte Henderson. Das, was Feuer und Flut überlebt, wird besser sein müssen. Und dann hatten sie den Hügel erreicht, in dessen Hang der Eingang zu einem der Bunker lag, jener kilometertief in den Fels getriebenen Fluchtburgen mit Kühleinrichtungen. »Dort«,
sagte Kay. »Wo du das Licht siehst. Es wird ein Posten da sein.« Hinter ihnen brannte die Stadt. Die Nacht wurde heller. Ein aufgehender Mond, ein Mond, der zu rot war, zu groß, erleuchtete sie. Vielleicht noch vier Stunden, dachte Tom, oder weniger. »Du kannst sie nicht mitnehmen«, flüsterte Kay. »Wenn du es versuchst, lassen sie uns vielleicht nicht ein. Es ist humaner, sie hierzulassen – schlafend. Sie werden es nicht merken.« »Das stimmt«, nickte Tom. Kay stieg aus dem Wagen und eilte den grasbewachsenen Hang hinauf. »Dann komm!« Henderson konnte den langsam auf und ab schreitenden Posten sehen. Die Totenwache. »Einen Augenblick«, sagte er. »Was ist denn?« »Bist du auch sicher, daß wir hineinkommen?« »Natürlich. Wir brauchen nur die Plaketten. Sie können doch nicht jeden persönlich kennen, der hinein darf.« »Nein«, sagte Tom ruhig. »Natürlich nicht.« Er sah Kay im Licht des roten Mondes an. »Tom…« Er griff nach Kays Hand. »Wir waren beide nicht viel wert, nicht wahr, Kay?« Ihre Augen waren groß und geweitet. »Du hast doch nichts anderes erwartet, nicht wahr?« »Tom – Tom!« Die Pistole fühlte sich in seiner Hand sehr leicht an. »Ich bin deine Frau…« sagte sie heiser. »Nehmen wir an, du wärst es nicht. Nehmen wir an, das hier wäre eine Orgie.« »Bitte – nein, nein…« Die Pistole zuckte in seiner Hand. Kay sank ins Gras und blieb mit gebrochenen Augen liegen. Henderson riß ihr Kleid
auf und nahm die beiden Plaketten. Dann drückte er ihr die Augen zu. »Du hast nicht viel versäumt, Kay«, sagte er und blickte auf die Tote hinunter. Dann ging er zum Wagen zurück und weckte die Mädchen. »Wohin gehen wir jetzt, Papi?« fragte Pam. »Den Hang hinauf, Liebes. Dorthin, wo das Licht ist.« »Trägst du mich?« »Euch beide«, sagte er und ließ die Pistole ins Gras fallen. Er hob die Kinder auf und trug sie den Hügel hinauf, bis auf etwa dreißig Meter an den Bunkereingang heran. Dann stellte er sie auf den Boden und gab jedem Kind eine Plakette. »Geht zu dem Licht und gebt sie dem Mann dort«, sagte er und küßte sie beide. »Du kommst nicht mit?« »Nein, meine Lieben.« Lorrie sah ihn an, als würde sie jeden Augenblick zu weinen anfangen. »Ich hab Angst.« »Es geschieht nichts, wovor du Angst haben mußt«, sagte Tom. »Gar nichts«, sagte Pam. Tom sah ihnen nach. Er sah wie der Posten niederkniete und die beiden Kinder an sich drückte. Sie verschwanden im Bunkereingang, und der Posten richtete sich auf und hob grüßend die Hand. Henderson drehte sich um und schritt den Hügel hinunter. Er machte einen weiten Bogen um die Stelle, wo Kay lag, das Gesicht dem Himmel zugewandt. Ein warmer, trockener Wind fächelte sein Gesicht. Jetzt geht es schnell zu Ende, dachte er. Er stieg in den Wagen und fuhr in die Stadt zurück.
Diese letzte Sommernacht würde noch ein paar Stunden dauern, und Laura und er würden gemeinsam auf die rote, heiße Dämmerung warten…
Originaltitel: LAST NIGHT OF SUMMER Copyright © 1954 by Hanro Corp. Aus ORBIT. – Übersetzt von Heinz Nagel
Philip K. Dick DER INFILTRANT
»Eines Tages werde ich mir doch einmal freinehmen«, sagte Spence Olham beim Frühstück. Er blickte sich zu seiner Frau um. »Ich denke, ich habe mir etwas Ruhe verdient. Zehn Jahre sind eine lange Zeit.« »Und das Projekt?« »Man wird den Krieg auch ohne mich gewinnen. Der Planet Erde ist eigentlich gar nicht in Gefahr.« Olham setzte sich an den Tisch und zündete sich eine Zigarette an. »Die Zeitungsmaschinen fälschten die Berichte, damit es so scheint, als wären uns die Centaurier weit überlegen. Weißt du, was ich in meinem Urlaub gern tun möchte? Ich möchte einen Campingausflug in die Berge außerhalb der Stadt machen, wo wir damals waren. Erinnerst du dich? Du wärst damals beinahe auf eine Blindschleiche getreten.« »Sutton Wood meinst du?« Mary begann, das Geschirr abzuräumen. »Der Wald ist vor ein paar Wochen abgebrannt. Ich dachte, du wüßtest das.« Olhams Schultern sanken nach vorn. »Wahrscheinlich haben sie das Feuer gar nicht eingedämmt.« Er verzog die Lippen. »Kein Mensch interessiert sich mehr dafür. Sie denken an nichts anderes als an den Krieg.« Er biß die Zähne zusammen, und vor seinem geistigen Auge entstand wieder das ganze Bild: die Centaurier, der Krieg, die nadelspitzen Schiffe der Angreifer. »Wie können wir auch an etwas anderes denken?«
Olham nickte. Sie hatte natürlich recht. Die schwarzen kleinen Schiffe von Alpha Centauri waren den Kreuzern der Erde himmelweit überlegen. Die Gefechte waren immer sehr einseitig gewesen. Bis Westinghouse die Schutzkuppel demonstriert hatte. Über den größeren Städten der Erde aufgebaut, schließlich über dem ganzen Planeten selbst, war die Kuppel die erste nützliche Verteidigung, die erste echte Antwort auf die Angriffe der Centaurier. Aber den Krieg zu gewinnen, das war etwas anderes. Jedes Labor, jede Projektgruppe arbeitete Tag und Nacht, um eine Offensivwaffe zu finden. So auch seine eigene Projektgruppe. Olham stand auf und drückte seine Zigarette aus. »Wie das Schwert des Damokles. Es hängt immer über uns. Ich werde müde. Ich möchte einmal richtig ausruhen. Aber ich glaube, so denkt jeder.« Er holte sein Jackett aus dem Schrank und ging auf die Veranda hinaus. Der Käfer würde jeden Augenblick kommen – die kleine Flugmaschine, die ihn zum Labor bringen würde. »Ich hoffe, Nelson kommt nicht zu spät.« Er blickte auf die Uhr. »Es ist kurz vor sieben.« »Hier kommt der Käfer«, sagte Mary und spähte zwischen den Häuserreihen hindurch. Die Sonne glitzerte auf den Dächern und spiegelte sich in den Bleiplatten. Ruhe lag über der Siedlung, nur ein paar Leute waren schon wach. »Bis später. Und mach keine Überstunden, Spence.«
Olham klappte die Luke auf und setzte sich ins Innere des Käfers. Dann lehnte er sich seufzend in die Polster. In Nelsons Gesellschaft befand sich noch ein älterer Mann. »Nun?« fragte Olham, als der Käfer davonschoß. »Irgend etwas Neues?«
»Wie üblich«, sagte Nelson. »Ein paar Schiffe erwischt, und wieder ein Asteroid aus strategischen Gründen aufgegeben.« »Hoffentlich ist unser Projekt bald so weit. Vielleicht ist das nur die Propaganda aus den Zeitungsmaschinen, aber im letzten Monat hatte ich wirklich die Nase voll. Alles kommt einem so ernst und so wichtig vor, das Leben ist ganz farblos.« »Sie meinen also, daß der Krieg umsonst ist?« sagte der ältere Mann plötzlich. »Sie sind doch selbst ein wichtiger Faktor unserer Verteidigung.« »Das ist Major Peters«, erklärte Nelson. Olham und Peters gaben sich die Hand. Olham sah den älteren Mann an. »Was führt Sie zu uns?« sagte er. »Ich kann mich nicht daran erinnern, Sie vorher beim Projekt gesehen zu haben.« »Nein, ich gehöre nicht zum Projekt«, sagte Peters. »Aber ich verstehe etwas von Ihrer Arbeit. Meine eigene Arbeit liegt auf einem ganz anderen Sektor.« Er wechselte mit Nelson einen Blick. Olham bemerkte es und runzelte die Stirn. Die Geschwindigkeit des Käfers hatte zugenommen, und er schoß jetzt über den kahlen Boden dahin, auf die fernen Projektanlagen zu. »Was tun Sie denn?« fragte Olham. »Oder dürfen Sie nicht darüber sprechen?« »Ich arbeite für die Regierung«, sagte Peters. »Beim BSD, Bundessicherheitsdienst.« »Oh!« Olham hob die Brauen. »Hat man hier eine feindliche Infiltration festgestellt?« »Genau genommen bin ich hergekommen, um mit Ihnen zu sprechen, Mr. Olham.« Das verblüffte Olham. Er dachte über Peters’ Worte nach, aber konnte nichts aus ihnen machen. »Um mit mir zu sprechen? Warum?«
»Ich bin hier, um Sie als Spion der Centaurier zu verhaften. Deshalb bin ich heute so früh aufgestanden. Halten Sie ihn fest, Nelson…« Der Lauf der Pistole bohrte sich in Olhams Rücken. Nelsons Hände zitterten vor Erregung, sein Gesicht war bleich. Er atmete tief ein und richtete sich auf. »Sollen wir ihn jetzt töten?« flüsterte er Peters zu. »Ich glaube, wir sollten es tun. Wir können nicht warten.« Olham blickte in das Gesicht seines Freundes. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort hervor. Beide Männer blickten ihn starr an. Man sah in ihren Augen die Angst stehen. Olham fühlte sich benommen. Sein Kopf schmerzte. »Das verstehe ich nicht«, murmelte er. In diesem Augenblick raste der Käfer in die Höhe – schoß in den Weltraum hinaus. Das Projektgelände fiel hinter ihnen zurück, wurde immer kleiner und verschwand schließlich. Olham machte den Mund zu. »Wir können warten«, sagte Peters. »Ich möchte ihm zuerst ein paar Fragen stellen.«
Olham blickte starr vor sich hin, als der Käfer durch das All raste. »Verhaftung durchgeführt«, sagte Peters zur Bildsprechanlage hin. Auf dem Bildschirm tauchte das Gesicht des obersten Sicherheitsbeamten auf. »Das sollte für jeden eine Erleichterung sein.« »Irgendwelche Komplikationen?« »Keine. Er ist eingestiegen, ohne etwas zu argwöhnen. Anscheinend kam ihm meine Anwesenheit gar nicht ungewöhnlich vor.« »Wo sind Sie jetzt?«
»Unterwegs. Knapp außerhalb der Schutzkuppel. Wir fliegen mit Höchstgeschwindigkeit. Sie dürfen annehmen, daß die kritische Periode jetzt vorbei ist. Ich bin froh, daß die Startdüsen gut funktioniert haben. Wenn eine Panne passiert wäre…« »Ich will ihn sehen«, sagte der Sicherheitsbeamte. Er sah Olham an, der starr vor sich hinblickte. »Das ist der Mann also.« Er musterte Olham eine Weile. Olham sagte gar nichts. Schließlich nickte der Mann und sagte zu Peters: »Schön, das wär’s.« Ein Ausdruck des Hasses verzerrte sein Gesicht. »Ich habe genug gesehen. Sie haben etwas vollbracht, woran man sich noch lange erinnern wird. Man wird Ihnen beiden einen Orden verleihen.« »Das ist nicht nötig«, wehrte Peters ab. »Welche Gefahr besteht jetzt noch? Ist es möglich, daß…« »Eine gewisse Möglichkeit besteht schon, aber keine sehr große. Soviel ich weiß, braucht er ein Codewort. Wir werden es jedenfalls riskieren müssen.« »Ich werde die Mondbasis informieren, daß Sie kommen.« »Nein.« Peters schüttelte den Kopf. »Ich werde außerhalb der Basis landen. Ich möchte die Leute dort nicht gefährden.« »Wie Sie wollen.« Die Augen des Chefs flackerten, als er noch einmal Olham ansah. Dann verschwamm sein Bild. Der Bildschirm wurde dunkel. Olham blickte zum Fenster hinaus. Das kleine Flugboot hatte die Schutzkuppel bereits durchstoßen und raste mit zunehmender Geschwindigkeit dahin. Peters hatte es eilig. Er ließ die Düsen mit voller Energieleistung laufen. Sie hatten Angst vor ihm. Neben ihm auf dem Sitz rutschte Nelson unruhig hin und her. »Ich denke, wir sollten es jetzt tun«, sagte er. »Ich würde alles mögliche darum geben, wenn wir es bald hinter uns hätten.«
»Nur ruhig«, sagte Peters. »Ich möchte, daß Sie das Schiff eine zeitlang steuern, damit ich mit ihm sprechen kann.« Er setzte sich neben Olham und sah ihn an. Dann berührte er ihn leicht, zuerst am Arm und dann an der Wange. Olham sagte gar nichts. Wenn ich nur wenigstens Mary verständigen könnte, dachte er. Wenn ich – er sah sich im Schiff um. Aber wie? Über den Bildschirm? Nelson saß am Armaturenbrett und hielt die Waffe in der Hand. Er konnte gar nichts tun. Er war gefangen, saß in der Falle. Aber warum?
»Hören Sie«, sagte Peters, »ich möchte Sie etwas fragen. Sie wissen, wohin wir fliegen. Zum Mond. In einer Stunde landen wir auf der der Erde abgewandten Seite. Nach unserer Landung werden Sie sofort einer dort wartenden Gruppe von Männern übergeben. Ihr Körper wird zerstört werden. Verstehen Sie das?« Er blickte auf die Uhr. »Innerhalb von zwei Stunden wird Ihr Körper über den ganzen Mond verstreut sein. Es wird nichts von Ihnen übrigbleiben.« Olham riß sich gewaltsam aus seiner Apathie. »Aber können Sie mir denn nicht sagen…« »Natürlich, ich werde es Ihnen sagen«, nickte Peters. »Vor zwei Tagen erhielten wir einen Bericht, daß ein centaurisches Schiff die Schutzkuppel durchstoßen hätte. Das Schiff hat einen Spion in Gestalt eines humanoiden Roboters zurückgelassen. Der Roboter hatte den Auftrag, ein bestimmtes menschliches Wesen zu vernichten und seine Stelle einzunehmen.« Peters sah Olham ruhig an. »In dem Roboter befand sich eine U-Bombe. Unser Agent wußte nicht, wie die Bombe ausgelöst werden sollte, aber er nahm an, daß es durch einen bestimmten gesprochenen Satz,
eine bestimmte Folge von Wörtern geschehen würde. Der Roboter würde den Platz des Menschen einnehmen, den er getötet hatte, seinen Beruf, seine Stellung in der Familie übernehmen. Niemand würde den Unterschied merken.« Olhams Gesicht wurde kalkweiß. »Die Person, die der Roboter ersetzen sollte, war Spence Olham, ein führender Wissenschaftler und Leiter eines Projektes. Da dieses Projekt einer kritischen Phase entgegenging, war natürlich die Gegenwart einer lebenden Bombe…« Olham blickte starr auf seine Hände. »Aber ich bin doch Olham!« »Sobald der Roboter Olham gefunden und getötet hatte, war alles ganz einfach. Der Roboter wurde wahrscheinlich vor acht Tagen aus dem Schiff entlassen. Der Austausch geschah vermutlich ebenfalls vor etwa acht Tagen, als Olham einen kurzen Ausflug in die Berge machte.« »Aber ich bin Olham.« Er wandte sich an Nelson, der am Steuer saß. »Erkennst du mich denn nicht? Du kennst mich doch seit zwanzig Jahren. Erinnerst du dich nicht, wie wir gemeinsam auf die Oberschule gegangen sind?« Er stand auf. »Du und ich, wir waren auf der Universität. Wir hatten das gleiche Zimmer.« Er rückte auf Nelson zu. »Rühr mich nicht an!« schrie Nelson. »Hör zu. Erinnerst du dich an unser zweites Semester? Weißt du nicht mehr – dieses Mädchen? Wie hieß sie doch…« Olham rieb sich über die Stirn. »Das Mädchen mit den schwarzen Haaren. Wir haben sie bei Ted kennengelernt.« »Halt!« Nelson fuchtelte aufgeregt mit der Waffe. »Ich will nichts mehr hören. Du hast ihn getötet – du Roboter.« Olham sah Nelson an. »Du irrst. Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber jedenfalls hat der Roboter mich nicht erwischt. Vielleicht hat etwas nicht funktioniert. Vielleicht ist
das Schiff abgestürzt.« Er wandte sich zu Peters um. »Ich bin Olham. Ich weiß es. Ich bin derselbe, der ich immer war.« Er betastete sich selbst, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Man muß das doch irgendwie beweisen können. Bringt mich zur Erde zurück. Eine Röntgenuntersuchung, eine psychiatrische Behandlung, irgend etwas – das muß es doch beweisen. Oder vielleicht findet man das abgestürzte Schiff?« Weder Peters noch Nelson sprachen. »Ich bin Olham«, sagte er wieder. »Ich weiß, daß ich es bin. Aber ich kann es hier nicht beweisen.« »Der Roboter«, sagte Peters, »würde gar nicht wissen, daß er nicht der echte Spence Olham ist. Er würde geistig und körperlich Olham werden. Man hat ihm ein künstliches Gedächtnis gegeben, falsche Erinnerungen. Er würde wie er aussehen, das gleiche Gedächtnis haben, seine Gedanken und Interessen teilen und seine berufliche Stellung ausfüllen. Nur mit einem Unterschied. In dem Roboter steckt eine UBombe, bereit, auf eine bestimmte Wortfolge hin zu explodieren.« Peters rutschte etwas von ihm weg. »Das ist der einzige Unterschied. Aus diesem Grunde bringen wir Sie zum Mond. Wir werden Sie zerlegen und die Bombe entschärfen. Vielleicht ‘ wird sie explodieren, aber auf dem Mond macht das nichts aus.« Olham setzte sich langsam. »Wir sind bald dort«, sagte Nelson. Er lehnte sich zurück und dachte fieberhaft nach, als das Schiff sich langsam auf den Himmelskörper heruntersenkte. Unter ihnen lag die kraterzerklüftete Oberfläche des Mondes, dieses endlose Ruinenfeld. Was konnte er tun? Was würde ihn retten? »Fertigmachen«, sagte Peters. In ein paar Minuten würde er tot sein. Unten konnte er einen winzigen Punkt sehen, irgendein Gebäude. Dort waren Männer
in dem Gebäude, die Mannschaft, die darauf wartete, ihn in Stücke zu zerlegen. Sie würden ihn aufreißen, ihn zerbrechen. Wenn sie keine Bombe fanden, würden sie sich wundern; dann würden sie wissen, daß er keine Imitation war, aber dann würde es zu spät für ihn sein. Olham sah sich in der kleinen Kabine um. Nelson hielt die Waffe immer noch in der Hand. Er hatte keine Chance. Wenn er seinen Arzt erreichen, sich untersuchen lassen konnte – das war die einzige Möglichkeit. Mary konnte ihm helfen. »Nur ruhig«, sagte Peters. Das Schiff senkte sich langsam herunter und setzte sanft auf. Dann war es still. »Hören Sie«, sagte Olham mit rauher Stimme. »Ich kann beweisen, daß ich Spence Olham bin. Holen Sie einen Arzt. Bringen Sie ihn her…« »Da kommt die Mannschaft«, deutete Nelson. Er blickte nervös auf Olham. »Ich hoffe, daß nichts passiert.« »Wir werden weg sein, ehe sie mit der Arbeit beginnen«, sagte Peters. Er legte seinen Druckanzug an. Als er damit fertig war, nahm er die Waffe von Nelson. »Ich passe inzwischen auf ihn auf.« Nelson legte ebenfalls seinen Druckanzug an und beeilte sich dabei. »Und was ist mit ihm?« Er deutete auf Olham. »Wird er auch einen brauchen?« »Nein.« Peters schüttelte den Kopf. »Roboter brauchen keinen Sauerstoff.« Die Männer draußen hatten das Schiff beinahe erreicht. Sie blieben stehen und warteten, Peters gab ihnen ein Zeichen. »Kommen Sie!« Er winkte ihnen zu, und die Männer näherten sich vorsichtig – steife, groteske Gestalten in ihren plumpen Anzügen. »Wenn wir die Luke öffnen«, sagte Olham, »bedeutet das meinen Tod. Das ist Mord.«
»Machen Sie die Luke auf«, sagte Nelson. Er griff nach dem Sperrmechanismus. Olham beobachtete ihn. Er sah, wie die Hand des Mannes sich um den Metallgriff legte. Im nächsten Augenblick würde die Luke aufgleiten und die Luft im Schiff explosionsartig entweichen. Er würde sterben, und dann würden sie ihren Fehler einsehen. Vielleicht würden zu einer anderen Zeit – wenn kein Krieg war – Menschen nicht so vorschnell handeln, nicht einen anderen in den Tod treiben, weil sie Angst hatten. Jedermann hatte Angst, jedermann war bereit, um der Gruppe willen ein Individuum zu opfern. Er konnte es ihnen nicht übelnehmen. Aber er wollte leben. Sein Leben war zu wichtig, um geopfert zu werden. Olham dachte fieberhaft nach. Was konnte er tun? Gab es überhaupt eine Möglichkeit? Er sah sich um. »Also«, sagte Nelson. »Sie haben recht«, sagte Olham. Der Klang seiner eigenen Stimme überraschte ihn. Das war die Stärke der Verzweiflung. »Ich brauche keine Luft. Machen Sie die Luke auf.« Sie hielten inne und starrten ihn verblüfft an. »Nur zu, machen Sie auf, das schadet mir nicht.« Olhams Hand fuhr unter seine Jacke. »Ich frage mich nur, wie weit ihr beiden laufen könnt.« »Laufen?« »Sie haben noch fünfzehn Sekunden zu leben.« Unter seiner Jacke bewegten sich seine Finger, sein Arm war plötzlich ganz steif. Er entspannte sich, lächelte ein wenig. »Im Hinblick auf den Code-Satz haben Sie sich geirrt. In dieser Beziehung stimmt Ihre Meldung nicht. Jetzt sind es noch vierzehn Sekunden.« Zwei erschreckte Gesichter starrten ihn an. Dann rissen sie die Luke auf und rannten. Die Luft entwich pfeifend. Peters und Nelson drängten sich aus dem Schiff. Olham packte die
Luke und zog sie zu. Der automatische Druckausgleicher setzte zischend ein und füllte die Atmosphäre im Käfer wieder auf. Olham atmete schaudernd aus. Draußen hatten die beiden Männer sich der Gruppe angeschlossen. Die Gruppe verteilte sich, die Männer rannten nach allen Richtungen davon. Einer nach dem anderen warfen sie sich auf den Boden. Olham setzte sich ans Armaturenbrett. Er drückte auf die Startknöpfe. Als das Schiff abhob, standen die Männer auf und starrten ihm mit offenen Mündern durch die Sichtscheiben der Schutzhelme nach. »Tut mir leid«, murmelte Olham. »Aber ich muß zur Erde zurück.« Er steuerte das Schiff auf dem gleichen Kurs zurück, den sie gekommen waren.
Es war Nacht. Rings um das Schiff zirpten Grillen, brachen die Ruhe der Nacht. Olham beugte sich über den Bildschirm. Langsam formierte sich das Bild; der Anruf war ohne Schwierigkeiten durchgekommen. Er atmete erleichtert auf. »Mary«, sagte er. Die Frau starrte ihn an. Sie riß die Augen weit auf. »Spence! Wo bist du? Was ist geschehen?« »Das kann ich dir jetzt nicht sagen. Hör zu, ich muß schnell sprechen. Kann sein, daß sie die Verbindung jeden Augenblick unterbrechen. Geh zum Projekt und sprich mit Dr. Chamberlain. Wenn er nicht da ist, dann mit irgendeinem anderen Arzt. Bring ihn zum Haus. Er soll seine Apparate mitbringen, Röntgengeräte, Fluoroskope, alles.« »Aber…« »Tu, wie ich dir gesagt habe. Schnell. Er muß in einer Stunde fertig sein. Geht alles in Ordnung? Bist du allein?« »Allein?«
»Ist jemand bei dir? Hat Nelson oder irgend jemand dich angerufen?« »Nein, Spence. Ich verstehe gar nicht…« »Schon gut. Ich bin in einer Stunde zu Hause. Und sag niemanden etwas. Rufe Chamberlain unter irgendeinem Vorwand. Sag, du bist krank.« Er brach das Gespräch ab und blickte auf die Uhr. Einen Augenblick später verließ er das Schiff und trat in die Dunkelheit hinaus. Er hatte einen Kilometer zu gehen.
Licht schimmerte durch das Fenster – die Stehlampe. Er blickte hin und kauerte sich gegen den Zaun. Kein Geräusch war zu hören, keine Bewegung. Er hielt die Uhr hoch und las bei Sternenlicht die Zeit ab. Beinahe eine Stunde war vergangen. Auf der Straße raste ein Käfer vorbei. Olham blickte wieder zum Haus. Der Arzt müßte eigentlich schon gekommen sein. Er müßte drinnen sein und mit Mary auf ihn warten. Ein Gedanke kam ihm. Hatte sie das Haus überhaupt verlassen können? Vielleicht hatte man sie aufgehalten. Vielleicht tappte er in eine Falle. Aber was konnte er sonst tun? Wenn ein Arzt ihn untersuchte, hatte er vielleicht eine Chance. Eine Chance, den Beweis für seine Echtheit anzutreten. Wenn man ihn untersuchte, wenn er lange genug am Leben blieb, daß man ihn examinieren konnte… Auf diese Weise konnte er es beweisen. Vielleicht war das der einzige Weg. Seine einzige Hoffnung lag im Haus. Dr. Chamberlain war ein angesehener Mann. Er war der Stabsarzt des Projekts. Er würde es wissen; sein Wort würde Gehör finden. Er stand auf und näherte sich dem Haus. Er erreichte die Veranda. An der Tür blieb er stehen und lauschte. Immer
noch kein Geräusch vernehmbar, das Haus war absolut ruhig. Zu ruhig. Olham stand reglos auf der Veranda. Sie bemühten sich, ruhig zu sein. Warum? Es war ein kleines Haus. Nur ein paar Meter von ihm entfernt, auf der anderen Seite der Tür, müßten Mary und Dr. Chamberlain sein. Und doch konnte er nichts hören, keine Stimmen, gar nichts. Er sah die Tür an. Es war die Tür, die er tausendmal geöffnet und geschlossen hatte, jeden Morgen und jeden Abend. Er legte die Hand auf die Klinke. Und dann drückte er statt dessen auf den Klingelknopf. Die Klingel schlug irgendwo hinten im Haus an. Olham lächelte. Er konnte hören, wie sich etwas bewegte. Mary öffnete die Tür. Als er ihr Gesicht sah, wußte er es. Er rannte davon, warf sich in die Büsche. Ein Sicherheitsbeamter schob Mary aus dem Weg und schoß an ihr vorbei. Die Büsche gingen in Flammen auf. Olham rannte um das Haus herum in die Dunkelheit hinaus. Ein Scheinwerferstrahl flammte auf, zuckte an ihm vorbei. Er überquerte die Straße und sprang über einen Zaun. Dann rannte er über einen Hinterhof. Hinter ihm kamen Männer. Sicherheitsbeamte. Sie schrien einander zu, als sie näherkamen. Olham keuchte, seine Brust hob und senkte sich heftig.
Als er das Schiff erreichte, öffnete sich die Luke. Peters trat heraus. Das Licht im Innern des Schiffes umgab ihn wie ein Rahmen. In den Armen hielt er eine schwere BorisPistole. Olham erstarrte mitten in der Bewegung. »Ich weiß, daß Sie dort draußen sind – irgendwo«, sagte Peters. »Kommen Sie her, Olham. Hier sind überall Sicherheitsbeamte.«
Olham regte sich nicht. »Hören Sie mir zu. Wir kriegen Sie doch. Offensichtlich glauben Sie immer noch nicht, daß Sie ein Robot-Agent sind. Sie leben anscheinend immer noch mit der Illusion, die Ihr künstliches Gedächtnis erzeugt hat. Aber Sie sind tatsächlich der Roboter. Sie sind es, und in Ihnen steckt die Bombe. Jeden Augenblick kann jemand den Code-Satz sprechen, Sie oder jemand anderes. Und wenn das geschieht, dann wird die Bombe jeden im Umkreis von Kilometern vernichten. Das Projekt, die Frau, wir alle werden getötet werden. Verstehen Sie?« Olham sagte gar nichts. Er lauschte. Männer näherten sich ihm, er konnte es im Gebüsch hören. »Wenn Sie nicht herauskommen, holen wir Sie. Das ist nur eine Zeitfrage. Wir haben nicht länger die Absicht, Sie zum Mond zu bringen. Sie werden sofort vernichtet werden, und wir werden es riskieren müssen, daß die Bombe dabei detoniert. Ich habe jeden verfügbaren Sicherheitsbeamten hierher beordert. Das ganze Gelände wird Zoll für Zoll abgesucht. Sie können nirgends hingehen. Dieser Wald ist mit einem Ring von Bewaffneten umgeben. Sie haben im günstigsten Fall etwa sechs Stunden Zeit. Dann ist der Wald völlig durchgekämmt.« Olham schlich davon. Peters redete weiter; er hatte ihn überhaupt nicht gesehen. Es war zu dunkel, um jemand zu sehen. Aber Peters hatte recht. Er konnte nirgends hingehen. Eine Zeitlang konnte er sich verstecken, aber schließlich würden sie ihn erwischen. Alles eine Frage der Zeit. Olham schritt schweigend durch den Wald. Kilometer um Kilometer, jeder Fußbreit Erde wurde abgesucht. Der Ring schloß sich immer dichter.
Was blieb ihm noch? Er hatte den Käfer verloren, seine einzige Hoffnung auf Flucht. Sie waren in seinem Haus. Die Frau war bei ihnen und glaubte zweifellos, daß der echte Olham getötet worden war. Er ballte die Fäuste. Irgendwo lag ein abgestürztes Schiff der Centaurier und in ihm das Wrack des Roboters. Irgendwo in der Nähe war das Schiff abgestürzt. Eine schwache Hoffnung regte sich in ihm. Was wäre, wenn er das Wrack fände? Wenn er ihnen das Wrack zeigen konnte, die Überreste des Schiffs, des Roboters… Aber wo? Wo sollte er es suchen? Er ging weiter, tief in Gedanken versunken. Irgendwo in der Nähe wahrscheinlich. Das Schiff würde in der Nähe des Projekts gelandet sein. Der Roboter hatte wahrscheinlich den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen sollen. Er sah sich um. Gab es denn gar keinen Anhalt, nicht den geringsten Hinweis? Hatte er nichts gelesen, gehört? Plötzlich lächelte Olham. Abgestürzt und verbrannt – Sutton Wood – Waldbrand. Er schritt schneller aus.
Es war Morgen. Das Licht der Sonne drang gefiltert durch die abgebrochenen Bäume, schien auf den Mann herab, der sich am Rande der Lichtung duckte. Olham blickte hin und wieder auf. Er lauschte. Sie waren nicht mehr weit entfernt. Nur ein paar Minuten. Er lächelte. Unter ihm, über die Lichtung verstreut und über die verkohlten Stümpfe, die einmal Sutton Wood gewesen waren, lagen Metallteile. Es war gar nicht schwer gewesen, das Wrack zu finden. Sutton Wood war ein Ort, den er sehr gut kannte. Er war viele Male in seinem Leben, als er noch jünger gewesen war, hier gewesen. Er hatte gewußt, wo er das Wrack finden
würde. Da war eine Felsgruppe, die schroff aus dem Waldboden aufragte. Ein landendes Schiff, dessen Steuercomputer den Wald nicht kannte, würde daran zerschellen. Und jetzt saß er geduckt da oben und blickte auf das Schiff – oder besser seine Überreste – hinunter. Olham stand auf. Er konnte sie hören. Sie kamen immer näher und unterhielten sich leise. Er spannte alle Muskeln an. Alles hing davon ab, wer ihn zuerst sah. Wenn es Nelson war, hatte er keine Chance. Nelson würde sofort schießen. Er würde tot sein, ehe sie das Schiff sahen. Aber wenn er Zeit hatte, sie anzurufen, sie einen Augenblick aufzuhalten – das war alles, was er brauchte. Sobald sie das Schiff sahen, würde er in Sicherheit sein. Aber wenn sie zuerst schossen… Ein verkohlter Zweig knackte. Eine Gestalt tauchte auf, trat vorsichtig auf die Lichtung hinaus. Olham atmete tief ein. Nur ein paar Sekunden blieben, vielleicht die letzten Sekunden seines Lebens. Es war Peters. »Peters!« Olham fuchtelte mit den Armen. Peters hob die Waffe und zielte. »Nicht schießen!« Olhams Stimme zitterte. »Warten Sie. Dort auf der Lichtung…« »Ich habe ihn gefunden«, schrie Peters. Uniformierte Männer rannten aus dem Wald. »Nicht schießen. Dort. Das Schiff, das Nadelschiff. Das Raumschiff. Sehen Sie doch!« Peters zögerte. Er ließ die Waffe sinken. »Dort unten«, sagte Olham schnell. »Ich wußte, daß ich es hier finden würde. Der Waldbrand. Jetzt glauben Sie mir doch. Sie werden die Reste des Roboters in dem Schiff finden. Sehen Sie nach, bitte?«
»Dort unten ist etwas«, sagte einer der Männer nervös. »Schießt ihn nieder!« befahl eine andere Stimme. Das war Nelson. »Halt.« Peters drehte sich schnell um. »Ich habe hier das Kommando. Niemand schießt. Vielleicht sagt er die Wahrheit.« »Schießt ihn nieder«, sagte Nelson. »Er hat Olham getötet. Jeden Augenblick kann er uns alle umbringen. Wenn die Bombe losgeht…« »Mund halten«, Peters trat langsam an den Abhang heran. Er starrte hinunter. »Sehen Sie sich das an.« Er winkte zwei Männer heran. »Gehen Sie dort hinunter und sehen Sie nach, was das ist.« Die beiden Männer rannten den Hang hinunter, quer über die Lichtung. Sie beugten sich vor und stocherten zwischen den Wrackteilen des Schiffes herum. »Nun?« rief Peters hinunter. Olham hielt den Atem an. Er lächelte. Es mußte dort sein; er hatte nicht die Zeit gehabt, selbst nachzusehen, aber es mußte dort sein. Plötzlich überkamen ihn Zweifel. Wenn der Roboter lange genug funktioniert hatte, um sich von der Absturzstelle zu entfernen? Wie, wenn sein Körper völlig zerstört worden war, im Feuer zu Asche verbrannt war? Olham fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Nelson starrte ihn an, sein Gesicht war immer noch gerötet. Seine Brust hob und senkte sich. »Schießt ihn nieder«, sagte Nelson. »Ehe er uns umbringt.« Die beiden Männer richteten sich auf. »Was haben Sie gefunden?« rief Peters. Er hielt die Waffe wieder auf Olham gerichtet. »Ist dort etwas?« »Sieht so aus. Es ist ein Nadelschiff, das stimmt. Und noch etwas.« »Ich sehe selbst nach«, Peters ging an Olham vorbei.
Olham sah ihm nach. Die anderen folgten ihm, wollten es mit eigenen Augen sehen. »Das ist ein Körper«, sagte Peters. »Sehen Sie sich das an!« Olham folgte ihnen. Sie standen im Kreis darum herum und starrten es an. Auf dem Boden, verbogen und zerdrückt, lag eine groteske Gestalt. Sie wirkte menschlich, wenn man davon absah, daß sie seltsam verkrümmt war, wenn man davon absah, daß Arme und Beine nach allen Seiten abstanden. Der Mund war offen, die Augen blickten glasig. »Wie ein abgelaufenes Uhrwerk«, murmelte Peters. Olham lächelte schwach. »Nun?« fragte er. Peters sah ihn an. »Ich kann es nicht glauben. Sie haben die ganze Zeit die Wahrheit gesprochen.« »Der Roboter hat mich nicht erreicht«, sagte Olham. Er nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. »Er wurde zerstört, als das Schiff abstürzte. Sie waren alle viel zu sehr mit dem Krieg beschäftigt, um darüber nachzudenken, warum ein abgelegenes Wäldchen plötzlich abbrennen sollte. Jetzt wissen Sie es.« Er stand da, rauchte und sah die Männer an. Sie schleppten den grotesken Körper vom Schiff weg. Die Arme und Beine waren steif. »Jetzt werden Sie die Bombe finden«, sagte Olham. Die Männer legten die Robotgestalt auf den Boden. Peters beugte sich hinunter. »Ich glaube, ich sehe die Bombe.« Er berührte den Körper. Die Brust der »Leiche« war aufgerissen. In dem Riß glitzerte etwas metallisch. Die Männer starrten es wortlos an. »Das hätte uns alle vernichtet, wenn es funktioniert hätte«, meinte Peters. »Dieser Metallkasten.« Schweigen.
»Ich glaube, wir stehen alle in Ihrer Schuld«, sagte Peters, zu Olham gewandt. »Es muß für Sie wie ein Alptraum gewesen sein. Wenn Sie nicht entkommen wären, hätten wir Sie…« Er brach ab. Olham drückte seine Zigarette aus. »Ich wußte natürlich, daß der Roboter mich nicht erreicht hatte, aber ich konnte es nicht beweisen. Manchmal ist es einfach nicht möglich, etwas zu beweisen. Das war die ganze Schwierigkeit. Ich konnte einfach nicht demonstrieren, daß ich ich selbst war.« »Wie wäre es mit einem Urlaub?« fragte Peters. »Ich denke, das ließe sich machen. Vielleicht einen Monat. Sie könnten sich ausruhen, sich entspannen.« »Ich denke, daß ich jetzt nach Hause gehe«, sagte Olham. »Gut«, meinte Peters. »Wie Sie wollen.« Nelson hatte sich neben die »Leiche« gekauert. Er griff nach dem Metall in der Brust. »Nicht berühren«, sagte Olham. »Das überlassen wir besser den Fachleuten.« Nelson sagte nichts. Plötzlich griff er nach dem Metall, zerrte daran. »Was tust du da?« Nelson richtete sich auf. Er hielt den Metallgegenstand in der Hand. Seine Augen waren vor Schreck geweitet, sein Gesicht weiß. Es war ein Messer, ein Nadelmesser, wie es die Centaurier hatten. Es war mit Blut beschmiert. »Das hat ihn getötet«, flüsterte Nelson. »Mein Freund ist damit getötet worden.« Er sah Olham an. »Du hast ihn damit umgebracht und ihn zwischen den Wrackteilen liegenlassen.« Olham zitterte, seine Zähne klapperten. Er blickte auf das Messer, dann auf den Leichnam. »Das kann nicht Olham sein«, sagte er. Alles drehte sich um ihn. »Habe ich mich geirrt?« Er riß den Mund auf.
»Aber wenn das Olham ist, dann muß ich – « Er beendete den Satz nicht, nur die erste Hälfte. Der Atomblitz war bis Alpha Centauri zu sehen…
Originaltitel: IMPOSTOR Copyright © 1953 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Übersetzt von Heinz Nagel
Arthur C. Clarke DIE RETTER
Wen sollte man dafür verantwortlich machen? Alverons Gedanken kehrten immer wieder zu dieser einen Frage zurück, seit drei Tagen schon, aber er fand keine Antwort. Ein weniger zivilisiertes Lebewesen hätte sich wahrscheinlich nicht mit solchen unnützen Gedanken abgegeben, sondern wäre damit zufrieden gewesen, daß man gegen das Schicksal kaum etwas unternehmen konnte. Aber Alveron gehörte jenem Volk an, das seit Beginn der kosmischen Geschichte überhaupt die beherrschende Rasse des Universums war, seit jener Zeit, als die Zeitbarriere rund um das Weltall gelegt und mit einer unfaßbaren Kraft festgehalten wurde, die jenseits allen Begreifens lag. Das Schicksal hatte ihnen unbegrenztes Wissen gegeben – und damit eine genauso unbegrenzte Verantwortung. Alle Fehler und Irrtümer, die bei der Verwaltung der Galaxien vorkamen, fielen auf Alveron und sein Volk zurück. Und diesmal handelte es sich nicht nur um einen Fehler; es ging um die größte Tragödie des Kosmos selbst. Die Mannschaft ahnte nichts. Auch Rugon, Alverons engster Freund, wußte nicht mehr als die halbe Wahrheit, obwohl er der eigentliche Kommandant des Raumkreuzers war. Doch die vom Schicksal verurteilten Welten lagen nicht mehr weit vom Schiffsbug entfernt, und in wenigen Stunden würden sie auf dem dritten Planeten des Systems landen. Noch einmal las Alveron die Meldung durch, die er von der Zentrale erhalten hatte, dann drückte er mit einem der vielen
Saugarme – so schnell, daß kein menschliches Auge der Bewegung hätte folgen können – auf den Alarmknopf. Im Innern des mehr als anderthalb Kilometer langen galaktischen Überwachungsschiffes S 9000 unterbrach die Besatzung ihre Arbeit, um Alveron zuzuhören. »Ich weiß, daß ihr euch alle gewundert habt, warum wir so plötzlich unseren normalen Kurs wechselten und mit Überbeschleunigung in diese Regionen der Milchstraße vordrangen«, begann Alveron. »Ihr wißt, was diese Überbelastung der Aggregate bedeuten kann: Wir werden von Glück reden können, wenn wir mit eigener Kraft zur Ausgangsbasis zurückkommen. Wir nähern uns einer Sonne, die in Kürze zu einer Nova wird. Der Ausbruch erfolgt in etwa sieben Stunden mit einem Unsicherheitsfaktor von einer Stunde. Das gibt uns eine Frist von vier Stunden, jenen Planeten zu erforschen, auf dem wir landen werden. Zehn Planeten stehen vor ihrer Vernichtung – und der dritte ist die Heimat einer beachtlichen Zivilisation. Diese Tatsache wurde erst vor wenigen Tagen entdeckt, und es ist unsere Aufgabe, sehr schnell Kontakt mit den zum Tode Verurteilten aufzunehmen und zu versuchen, einige von ihnen vor dem Untergang zu retten. Ich weiß, es ist sehr wenig, was wir tun können, denn wir haben nur ein einziges Schiff zur Verfügung. Kein anderes könnte vor Entstehen der Nova hier sein.« Seinen Worten folgte eine lange Pause, und in dem gewaltigen Schiff, das geräuschlos und schweigend seinem Ziel entgegenstrebte, bewegte sich nichts. Alveron wußte genau, was seine Besatzung dachte, und er versuchte, die unausgesprochene Frage der Leute zu beantworten: »Ihr fragt euch, wieso ein solches Unglück – das größte, von dem unsere Geschichte zu berichten vermag – überhaupt
geschehen kann. Ich kann euch in einem Punkt beruhigen: Die Schuld liegt nicht bei dem galaktischen Überwachungsdienst. Ihr wißt, daß wir mit unseren 12000 Überwachungsschiffen in der Lage sind, jedes einzelne der 8 Milliarden Sonnensysteme zu besuchen, und zwar in einem Rhythmus von jeweils einer Million Jahren. In solch kurzen Zeiträumen verändert sich meist nur sehr wenig. Vor kaum 400000 Jahren besuchte Schiff S 5060 das System, das wir nun anfliegen. Intelligentes Leben wurde auf keinem der vorhandenen Planeten gefunden, obwohl der dritte Planet pflanzliches und auch tierisches Leben trug, während zwei weitere Planeten Reste einer ausgestorbenen Zivilisation aufwiesen. Die Meldung wurde zur Basis weitergegeben, und die nächste Untersuchung wäre in 600000 Jahren fällig gewesen. Nun ist der ungewöhnliche Fall eingetreten, daß sich in der kurzen Zeitspanne von nur 400000 Jahren intelligentes Leben auf einem Planeten dieses Systems entwickelt hat. Wir vermuteten es zum erstenmal, als fremdartige Funksignale auf dem Planeten Kulath im System X 2935, Y 3476, Z 2793 empfangen wurden. Man stellte durch Peilung fest, daß sie von dem vor uns liegenden System stammten. Kulath ist zweihundert Lichtjahre von hier entfernt, somit waren die Signale zweihundert Jahre unterwegs. Das ist also die mindeste Zeitspanne, die wir für das Existieren einer Zivilisation ansetzen müssen. Eine sofortige teleskopische Untersuchung des Systems wurde angesetzt. Sie ergab, daß die Sonne sich im typischen Vorstadium des Energieausbruches befand. Der Ausbruch stand kurz bevor und konnte sich ereignen, noch ehe die Lichtwellen unsere Position erreichten. Während der Einrichtung der Superlichtteleskope war eine Verzögerung entstanden. Wie man feststellte, stand der Nova-
Ausbruch unmittelbar bevor. Das bedeutet, wenn sich der Planet Kulath nur den Bruchteil eines Lichtjahres weiter von diesem System entfernt befunden hätte, hätten wir niemals von der Existenz jener Zivilisation erfahren. Der Koordinator auf Kulath verständigte sofort die Zentrale, und wir erhielten den Auftrag, das System unverzüglich anzufliegen. Es ist unsere Aufgabe, Angehörige dieses zum Untergang verurteilten Volkes zu retten – wenn es noch etwas zu retten gibt. Doch es ist anzunehmen, daß Lebewesen, die die Elektrizität entdeckt haben, auch Mittel und Wege kennen, sich gegen die sicherlich bereits beträchtlich angestiegene Temperatur der Sonne zu schützen. Das Schiff wird zusammen mit den beiden Beibooten auf dem. Planeten landen. Das Suchgebiet wird in noch zu bestimmende Sektoren aufgeteilt. Kommandant Torkalee übernimmt Boot 1, Orostron Boot 2. Jedes Boot hat vier Stunden Zeit. Nach Ablauf dieser Frist wird die S 9000 starten, auch dann, wenn die Boote noch nicht zurückgekehrt sind. Die beiden Kommandanten erhalten von mir weitere Informationen. Das ist alles. Wir dringen in etwa zwei Stunden in die oberste Schicht der Atmosphäre des dritten Planeten ein.« Auf dem Planeten, der einst den Namen Erde getragen hatte, brannten die letzten Feuer aus, denn es gab nichts mehr, das noch hätte brennen können. Die unermeßlichen Wälder, die einst gleich grünen Teppichen die Kontinente bedeckt hatten, waren nun nichts anderes mehr als verkohlte, rauchende Ödflächen. Doch das Schlimmste war noch nicht eingetreten: Noch war das Gestein der Berge fest. Es floß noch nicht in zähen Magmaströmen in die Ebenen hinab. Die Umrisse der Kontinente waren nur undeutlich unter der Dunstschicht zu erkennen. Sie bedeuteten den Ankommenden jedoch nicht viel, denn die beim ersten Besuch vor vielen
Millionen Jahren angefertigten Karten waren längst überholt. Eiszeiten und Überschwemmungen hatten das Angesicht des Planeten verändert. S 9000 passierte die Jupiterbahn, und Alveron stellte mit einem Blick fest, daß auf diesem Planeten kein Leben existieren konnte. Die Meere aus durch den ungeheuren Druck der Atmosphäre verflüssigtem Gas, und die wegen der daraus entstehenden Hitze ständig ausbrechenden Vulkane – alles trug dazu bei, daß diese Welt für immer unbewohnbar war. Die äußeren Planeten und auch der Mars lagen nicht auf der Flugbahn der S 9000. Alveron wußte, daß alle Planeten jenseits der Erde sich bereits in halbflüssigem Zustand befinden mußten. Und vielleicht war auch das Schicksal der Bevölkerung des dritten Planeten schon besiegelt; vielleicht kamen sie zu spät. Ganz tief in seinem Herzen dachte Alveron, daß es so wohl am besten wäre, denn das Schiff konnte nur wenige Hundert Überlebende mitnehmen. Das Problem der gerechten Auslese ließ ihm keine Ruhe. Rugon, der gleichzeitig Leiter der Nachrichtenzentrale des Schiffes war, betrat den Steuerraum. Er hatte die Aufgabe gehabt, den Raum bis zur Erde nach Strahlungen oder Funksendungen abzusuchen. »Wir kommen zu spät«, sagte er düster. »Der Raum schweigt. Das einzige, was ich auffangen konnte, waren Direktsendungen der Station und zweihundert Jahre alte Sendungen von Kulath. In diesem System gibt es keine Sendestationen mehr.« Er bewegte sich mit einem graziösen Gleiten auf den Bildschirm zu. Kein Mensch wäre je imstande gewesen, dieses Gleiten nachzuahmen – überhaupt kein anderer Zweifüßler. Alveron gab keine Antwort. Er hatte keine andere Mitteilung erwartet.
Der Bildschirm nahm eine ganze Wand ein. Er war ein schwarzes Rechteck von unendlicher Tiefe. Drei von Rugons Tastarmen, für schwere Arbeit nicht zu gebrauchen, dafür aber ungeheuer geschickt und reaktionsschnell, glitten mit spielerischer Leichtigkeit über die Einstellkontrollen – und der Bildschirm leuchtete auf. Das langsam vorbeiziehende Weltall war zu erkennen, dann kam die Sonne selbst in das Blickfeld, ein gewaltiger, flammender Feuerball. Kein Mensch hätte diese gasförmige Hölle für die gute alte Sonne gehalten. Sie strahlte nicht mehr weiß. Blau-violette Wolkenbänder bedeckten die gesamte Oberfläche, aus deren Rändern überdimensionale Flammenbündel ins All hinausschossen. Jede von diesen Protuberanzen reichte mehr als eine Million Kilometer in die Leere hinaus. »Ich nehme an«, bemerkte Rugon, »daß wir uns auf die Berechnungen unserer Astronomen verlassen können. Trotzdem fürchte ich…« »Keine Sorge, Freund«, gab Alveron zurück. »Wir befinden uns in völliger Sicherheit. Ich habe inzwischen mit dem Observatorium auf Kulath gesprochen, das dieses System ununterbrochen durch unsere Schiffsinstrumente beobachtet hat. Sie räumen uns einen Sicherheitsfaktor von einer Stunde ein.« Er warf einen kurzen Blick auf die Bordinstrumententafel. »Wir müßten uns bereits in der Atmosphäre befinden, wenn ich nicht irre. Hol’ den Planeten auf den Schirm. Die Beiboote müssen jeden Augenblick – ah! Sie haben das Schiff gerade verlassen.« Unten im Schiff war eine leichte Erschütterung zu bemerken. Quer über den Bildschirm huschten zwei schimmernde Pfeile, die auf die gewaltige Masse des Planeten hinabfielen. Eine Weile flogen sie parallel, dann trennten sie sich plötzlich. Ein Boot verschwand auf der Nachtseite des Planeten.
Langsamer folgte das tausendfach größere Mutterschiff und tauchte hinab in die um den Erdball tobenden Stürme, die die von den Menschen verlassenen Städte endgültig niederrissen.
Nacht lag über den Kontinenten, über die Orostron sein Erkundungsboot steuerte. Er hatte die gleiche Aufgabe wie Torkalee, die Oberfläche des Planeten zu fotografieren und ungewöhnliche Entdeckungen sofort dem Mutterschiff zu melden. Für eventuelle Überlebende war in dem Beiboot kein Platz. Sollten welche gefunden werden, würde S 9000 sofort kommen. Für Erklärungen war keine Zeit. Wenn es sein mußte, würde man die Rettung mit Gewalt vornehmen und erst später die Geretteten aufklären. Die verwüstete Landschaft unter dem Erkundungsboot war in ein rosiges Dämmerlicht getaucht, das unstet flackerte und ständig seine Intensität änderte. Doch auf dem Bildschirm entstand ein klares und deutliches Bild, denn die Aufnahmegeräte arbeiteten unabhängig von Tag oder Nacht. Das Bild zeigte eine steinige Wüste, die den Anschein erweckte, nie Leben getragen zu haben. Orostron erhöhte die Geschwindigkeit, soweit dies die dichte Atmosphäre zuließ. Vor dem Erkundungsboot ragte ein gewaltiges Gebirge auf, dessen höchste Gipfel sich in den Wolken verloren. Orostron zog das Boot hoch und überlegte, ob er einen anderen Kurs einschlagen sollte. Er wunderte sich, daß es auf einer solch unwirtlichen Welt eine Zivilisation gegeben haben sollte. Er änderte den Kurs nicht und wurde fünf Minuten später dafür belohnt. Hinter dem Gebirgsmassiv, auf einer Hochebene, stand ein gigantisches Metallgerüst. Maschinen und seltsame Kugelkörper hingen in diesem Gerüst wie in einem riesigen
Spinnennetz. Orostron verminderte die Geschwindigkeit des Bootes und ging in großen Spiralen tiefer hinab. Das leichte Flimmern des Dopplereffektes auf dem Bildschirm war verschwunden. Klar und deutlich stand das Bild vor Orostrons Augen. Er erkannte, daß die vorhin wahrgenommenen Kugelkörper gewaltige Hohlspiegel waren, die in einem Winkel von etwa 45 Grad zur Erdoberfläche hinaus ins All gerichtet waren. Im Brennpunkt der Hohlspiegel befand sich ein kompliziertes System ihm unverständlicher Instrumente. Die ganze Sache war beeindruckend, einmalig. Alle Spiegel wiesen in die gleiche Richtung des Raumes. Orostron wandte sich an seine Leute in dem Erkundungsboot. »Scheint eine Art Observatorium zu sein. Hat jemand von euch jemals etwas Ähnliches gesehen?« Klarten, ein vielarmiges Wesen auf drei Beinen – es stammte von einem Sternhaufen am Rande der Milchstraße – hatte eine andere Idee. »Das ist kein Observatorium«, sagte er. »Das ist eine Nachrichtenübermittlungsstation. Diese Hohlspiegel sind Richtstrahler für elektromagnetische Wellen. Ich habe die gleiche Art Einrichtung bereits auf anderen Welten gesehen. Vielleicht ist es sogar die Station, deren Funksignale man auf Kulath empfing. Allerdings ist das sehr unwahrscheinlich, denn die Wellen können sich nur auf einer schmalen Bandbreite bewegen, wenn man überlegt, daß die Antennen alle in dieselbe Richtung weisen.« »Das würde auch erklären, warum Rugon keine Sendungen empfangen hat«, meinte Hansur II, ein Zwillingswesen vom Planeten Thargon. »Da bin ich anderer Meinung«, widersprach Orostron. »Wenn das eine Funkstation sein soll, dann wurde sie für interplanetarischen Funkverkehr errichtet. Schon die Stellung der Spiegel beweist das. Ein Volk, das erst seit zwei
Jahrhunderten Elektrizität besitzt, kann die Raumfahrt noch nicht kennen. Mein Volk benötigte zu diesem Schritt mehr als 6000 Jahre.« »Wir benötigten nur 3000 Jahre«, informierte Hansur II seinen Kommandanten in ruhigem Ton, ehe sein Zwillingsbruder etwas einwenden konnte. Eine hitzige Debatte schien sich entspinnen zu wollen, und niemand außer Klarten hätte sie verhindern können, denn er hatte den automatischen Empfänger mit selbstregulierender Welleneinstellung eingeschaltet. Aus den Lautsprechern kamen Geräusche, die den ganzen Steuerraum erfüllten. Es war ein Summen, welches in regelmäßigen Abständen bis zu den höchsten Tönen anstieg, und dann wieder abfiel. Die vier galaktischen Forscher hörten schweigend zu, bis Orostron sagte: »Das ist niemals eine Sprache. Kein Wesen kann Laute in einer solchen Geschwindigkeit ausstoßen.« Hansur I kam zu einem ähnlichen Schluß. »Es könnte eine Fernsehsendung sein. Was meinst du, Klarten?« »Möglich. Und zwar sendet jeder Spiegel ein anderes Programm. Ich möchte nur wissen, wohin. Wenn ich mich nicht irre, müßte einer der anderen neun Planeten im Bereich des Wellenbandes liegen. Das läßt sich leicht nachprüfen.« Orostron rief das Mutterschiff und bat um entsprechende Messungen. Sowohl Rugon wie auch Alveron schienen überrascht, als sie von der Existenz des Mammutsenders erfuhren. Sie veranlaßten sofort, daß die notwendigen Messungen erfolgten. Das Ergebnis war enttäuschend. Keiner der anderen Planeten dieses Sonnensystems lag in der Nähe des Richtstrahls. Die gigantischen Spiegel schienen hinaus in die Leere des Alls gerichtet zu sein. Es bot sich nur eine Erklärung an – und Klarten gab sie:
»Sie haben die Möglichkeit interplanetarischer Funkverbindung besessen, aber die Station wurde verlassen. Die Spiegel sind anscheinend wahllos auf eine Stelle des Raumes gerichtet geblieben, die keine Bedeutung hat.« »Wir werden der Sache auf den Grund gehen«, sagte Orostron. »Wir landen.« Langsam senkte sich das kleine Boot an der Metallkonstruktion vorbei auf den Felsboden nieder und setzte fast ohne Erschütterung auf. Keine hundert Meter entfernt stand ein weißes Gebäude ohne Fenster. Es besaß jedoch einige Türen. Orostron sah zu, wie seine Gefährten die Schutzanzüge anlegten und die Helme schlossen. Zu gern wäre er mit ihnen gegangen, aber einer mußte im Boot bleiben und die Verbindung mit S 9000 aufrechterhalten. So lauteten Alverons Anweisungen, und sie entbehrten nicht einer logischen Grundlage. Man konnte nie wissen, was bei der Erforschung einer fremden Welt geschah, mit der noch niemals zuvor Kontakt aufgenommen worden war, besonders unter den gegebenen Umständen. Vorsichtig verließen die drei Forscher die Luftschleuse des Bootes und adjustierten ihre Gravitationsfelder. Dann bewegten sie sich auf das Gebäude zu. Die Hansur-Zwillinge führten, Klarten bildete den Abschluß. Er schien Schwierigkeiten mit seinem Gravitationsfeld zu haben, denn er strauchelte und fiel zu Boden, sehr zum Vergnügen der Zwillinge. Doch Minuten später erreichten sie die erste Tür, die nach innen aufschwang. Sekunden darauf waren sie im Gebäude verschwunden. Orostron wartete geduldig, während der Sturm heftiger und die Aurora heller wurde. Von Zeit zu Zeit tauschte er mit dem Mutterschiff Meldungen aus, und zu gerne hätte er gewußt, wie es inzwischen Torkalee im zweiten Boot erging. Aber die
gewaltigen elektromagnetischen Entladungen, hervorgerufen durch die zerstrahlende Sonne, verhinderten den Funkverkehr zwischen den schwächeren Sendeanlagen der Beiboote. Es dauerte nicht sehr lange, bis die beiden Hansurs und Klarten entdeckten, daß ihre Theorie im großen und ganzen stimmte. Das Gebäude gehörte zu einer Sendestation, und die Anlage war noch in Betrieb. Klarten war alles andere als beeindruckt. Seine Rasse kannte die Einrichtungen des Funkverkehrs seit mehr als einer Milliarde Jahren. Lebewesen, die den Funkverkehr erst seit zwei Jahrhunderten kannten, waren keine Konkurrenz für solche, die dieses Wissen schon besaßen, als noch kein Mensch auf der Erde existierte. Und doch blieb eine Frage offen. Die verlassene Station sendete, aber woher kam das Programm? Die Hauptsendeanlage war schnell gefunden, aber die unzähligen Kabel, die irgendwo in der Erde verschwanden, boten keinen Aufschluß. Im Mutterschiff versuchte man zwar, das empfangene Programm zu dechiffrieren, aber es war unmöglich, den Verlauf der Kabel zu verfolgen, die vielleicht quer durch die Kontinente hindurchführten. Sie hielten sich nicht lange bei der Station auf. Es war ihre Aufgabe, noch etwa vorhandene Lebewesen ausfindig zu machen, und sie hatten keine Zeit, primitive technische Anlagen zu untersuchen, von denen sie ohnehin nichts lernen konnten. Minuten später hob das Erkundungsboot ab. Sie hatten weniger als drei Stunden Zeit. Erst als die Richtantennen der Funkstation hinter dem Horizont verschwunden waren, durchzuckte Orostron ein plötzlicher Gedanke. Hatten sich die Richtstrahler vorhin, als er auf seine Leute wartete, nicht ein wenig bewegt, um die Eigendrehung des Planeten zu kompensieren? Ganz sicher war er sich nicht, denn er hatte vorher nicht darauf geachtet. Es
würde auch lediglich bedeuten, daß die Station eben in jeder Beziehung vollautomatisch arbeitete. Fünfzehn Minuten später entdeckten sie die Stadt. Sie lag an einem Flußlauf, von dem nichts übriggeblieben war außer einer breiten, häßlichen und verkrusteten Narbe, die sich zwischen Gebäuden und unter zahlreichen Brücken hinzog. Selbst von oben sah man, daß die Stadt verlassen und tot war. Orostron landete dicht neben dem größten Gebäude, das er entdecken konnte. Es war leicht möglich, daß einige der Geschöpfe, die hier lebten, sich in die Keller zurückgezogen hatten, wo sie es bis zum Beginn des letzten Aktes der Katastrophe aushalten konnten. Die tiefsten Höhlen dieser Welt, selbst das vielleicht erkaltete Herz, würden keinen Schutz bieten, wenn die Sonne explodierte. Ja selbst der äußerste Planet – falls man die Raumfahrt hier überhaupt gekannt hatte – wäre dann nicht sicher, denn nur Stunden später würde die Hitzewelle auch diesen Planeten erreichen und ihn schmelzen lassen. Orostron konnte natürlich nicht wissen, daß diese Stadt nicht erst seit Tagen oder Wochen verlassen worden war, sondern bereits länger als ein Jahrhundert verödet war. Die rapide fortschreitende Entwicklung des Luftverkehrs, der jeden Menschen in Stunden zu jedem beliebigen Ort der Welt bringen konnte, hatte die Menschheit aus den Städten getrieben, hinaus auf das Land. Die Städte waren geblieben, Andenken an eine Epoche der Entwicklung. Manche waren dem Erdboden gleichgemacht worden, andere hatte man stehenlassen. Sie waren stumme Zeugen eines Jahrhunderts, in dem die Menschheit in das technologische Zeitalter eingetreten war. Und während Orostron wieder im Boot wartete, eilten seine Gefährten durch endlose Gänge und verlassene Hallen, suchten nach den verschwundenen Erbauern dieser Gebäude und
wunderten sich über den oft fußtiefen Staub. Hätten sie nicht noch vor kurzem die automatisch arbeitende Sendestation gesehen, sie würden ohne Zögern angenommen haben, auf diesem Planeten habe es seit Jahrhunderten kein Leben mehr gegeben. Während der langen Warteminuten versuchte Orostron sich vorzustellen, wohin diese Rasse verschwunden sein mochte. Ob sie Selbstmord begangen hatte, als sie keinen Ausweg mehr sah? Oder hatten die Wesen in den Tiefen der Erde Schutz gesucht vor der unvermeidlichen Katastrophe und kauerten jetzt in diesem Augenblick Tausende von Metern unter seinen Füßen und warteten auf das Ende? Er begann zu fürchten, daß er niemals Antwort auf seine Fragen erhalten würde. Als die Zeit um war, gab er das Zeichen zur Rückkehr. Es war wie eine Erleichterung. Bald würde er wissen, ob Torkalee erfolgreicher gewesen war als er. Der kritische Zeitpunkt rückte näher und näher, und damit stieg auch die nervliche Belastung. Immer wieder regte sich in ihm der Gedanke, ob sich die Astronomen von Kulath nicht doch geirrt haben könnten. Erst im Mutterschiff würde er sich wieder sicher fühlen, und seine Ungeduld nahm zu. Er würde erst aufatmen, wenn sie wieder im All waren und diese sterbende Sonne weit hinter der S 9000 zu einer Nova erstrahlte. Sobald seine Gefährten das Boot betreten hatten, startete Orostron. Dann erst wandte er sich an die Zurückgekehrten. »Nun, was habt ihr gefunden?« fragte er. Klarten rollte ein Stück Leinwand auseinander, legte sie auf den Boden und hielt die Enden fest. »So sahen sie aus: Zweifüßler mit nur zwei Armen. Trotz dieser Behinderung scheinen sie sich gut entwickelt zu haben. Zwei Augen hatten sie nur, falls der Hinterkopf keine aufwies. Wir haben Glück gehabt, daß wir dieses Bild fanden. Es ist das einzige, das sie zurückließen.«
Das Gesicht auf dem alten Gemälde starrte die drei Forscher aus der Milchstraße gelassen und unbeweglich an. Als man damals die Stadt verließ, hatte man das Porträt von Alderman John Richards, 1909 – 1974, einfach vergessen. Mehr als ein Jahrhundert hatte er im Staub gelegen, während draußen eine neue Zivilisation entstand. »Unsere Suche war ein Mißerfolg«, fuhr Klarten fort. »Sie müssen sich versteckt haben – wenn es überhaupt noch lebende Wesen auf dieser Welt gibt. Wir werden sie nicht mehr finden.« Orostron mußte ihm beipflichten. »Hätten wir Wochen Zeit gehabt – statt nur Stunden –, wären wir vielleicht erfolgreicher gewesen.« Er warf einen Blick auf die Instrumente und korrigierte den Kurs. »In fünf Minuten erreichen wir das Schiff. Vielleicht hat Torkalee mehr Glück gehabt.«
Die S 9000 hing bewegungslos über der Küste eines verbrannten Kontinents. Der kritische Gefahrenpunkt lag nur noch eine halbe Stunde entfernt. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Orostron steuerte sein Boot in die Schleuse des Mutterschiffs, und bald darauf traten die Expeditionsmitglieder aus der Luke. Eine wahre Versammlung erwartete sie. Das war an sich nicht verwunderlich, aber Orostron fühlte sofort, daß nicht allein Neugier der Grund sein konnte. Seine Ahnung wurde bestätigt, denn man empfing ihn mit den Worten: »Torkalee ist noch nicht zurückgekehrt. Seine Leute haben das Beiboot nicht mehr erreicht. Wir werden versuchen, sie zu retten. Ihr werdet im Kontrollraum erwartet. Beeilt euch!«
Von Anfang an hatte Torkalee mehr Glück gehabt als Orostron. Er war auf die Nachtseite des Planeten geflogen und hatte ein Binnenmeer erreicht. Es war jedoch ein Meer ganz besonderer Art, ein Werk der zivilisierten Menschheit. Früher war dieses Meer eine große Wüste gewesen – und sehr bald würde es wieder eine sein, denn die Wassermassen begannen bereits zu kochen, und gewaltige Wolkenbänke standen über dem brodelnden Meer. Aber weder sie noch die Dunkelheit vermochten die weiße Stadt am Rande des Meeres vor Torkalees Instrumenten zu verbergen. Flugmaschinen standen noch auf dem Platz, auf dem Torkalee landete. Obwohl sie von primitiver Konstruktion waren, boten sie einen ästhetischen und schnittigen Anblick. Sie waren nach den Prinzipien der Aerodynamik entwickelt. Sie standen da, als wollten sie jeden Augenblick starten. Lichtschein, der aus den Fenstern der Gebäude fiel, erweckte den Eindruck, als müßten sich die Bewohner der Stadt in unmittelbarer Nähe aufhalten. Torkalees drei Gefährten verließen das Beiboot. Ihr Anführer, gleichzeitig der älteste, war T’sinadree, genau wie Alveron auf einem der alten Planeten der Zentralsonnen geboren. Ihm folgte Alarkane, der Angehörige einer ziemlich jungen Rasse und entsprechend eingebildet und stolz. Als letztes kam eins jener seltsamen Wesen des Systems Palador. Es besaß keinen eigenen Namen, denn es hatte auch keine eigene Identität. Es war nichts anderes als eine Zelle einer Rasse, die als solche ein Ganzes bildete und praktisch nur aus einem einzigen Wesen bestand. Obwohl sie über das ganze Universum verstreut waren, verband alle diese Einzelwesen ein geheimnisvolles Band stummer Verständigung, genauso wie jede Zelle des menschlichen Körpers mit der anderen in Verbindung steht.
Wenn ein Wesen von Palador sprach, so sagte es niemals »ich«, sondern stets »wir«. Die erste Person Einzahl gab es in ihrem Wortschatz nicht und würde es auch nie geben können. Die gewaltigen Torflügel des Gebäudes ließen sich zunächst nicht öffnen. Doch nur für Sekunden war T’sinadree ratlos; dann befahl er den Einsatz des Energiestrahlers. Die Hitzewelle war so gewaltig, daß das Metall der Tore nicht nur zerschmolz, sondern gleich verdampfte. Die Steine der Mauern glühten noch, als die drei Forscher in das Dunkel der Gänge eindrangen. Die Strahlen der Scheinwerfer an den Helmen tasteten sich suchend voraus. Doch bald brauchten sie das Licht nicht mehr, denn sie betraten eine gigantische Halle, an deren Decke Leuchtröhren Tageshelle verbreiteten. Rechts und links mündete eine große Zahl von Gängen. An der Stirnseite der Halle führte eine breite Treppenflucht hinauf in die oberen Stockwerke. Für einen Augenblick zögerte T’sinadree, dann ging er seinen Leuten voraus in einen der Gänge hinein. Er traf die Wahl rein zufällig. Das Gefühl, sich etwas Lebendigem zu nähern, wurde immer stärker. Es schien, als solle man nun jeden Moment einem Wesen dieser Welt gegenüberstehen. Sollte es feindlich gesonnen sein – was man ihm kaum übelnehmen durfte – würden sie es mit ihren Schockpistolen vorübergehend lähmen. Die Spannung stieg, als sie den ersten Raum betraten, aber sie ließ genauso schnell wieder nach, als man in diesem Raum nur Maschinen fand. Ganze Reihen von Apparaten standen da, verstaubt und schweigend. Es war, als warteten sie. In den Wänden waren unzählige kleine Fächer, in denen einst Schrift-, Bild- oder Tonaufzeichnungen gelagert haben mochten. Sonst war in dem Raum nichts vorhanden. Alarkane, der schnellste von ihnen, hatte in den Fächern nachgesehen und fand einige, die noch etwas enthielten. Es
waren dünne, äußerst biegsame Metallscheiben, mit Reihen von Punkten und Strichen bedeckt, die fürs erste keinerlei Sinn ergaben. Der Paladoriner faltete eine der Metallscheiben zusammen und steckte sie ein. Dann verließen sie den Raum, um ihre Suche nach den Menschen fortzusetzen. Es war das letzte Mal, daß ein lebendes Wesen die Computeranlage sah und die Registratur der 5 Milliarden Karteikarten der gesamten Bevölkerung dieses Planeten. Es war deutlich erwiesen, daß das Gebäude noch vor kurzer Zeit benutzt worden war. Mit steigender Erregung eilten die Forscher in den nächsten Raum. Es war eine riesige Bibliothek mit Zehntausenden von Büchern. Keines der Wesen aus dem Weltall konnte auch nur ahnen, daß sie alle Gesetze enthielten, die die Menschen je erlassen hatten, und alle Reden, die vor den Parlamenten der Welt je gehalten worden waren. Alarkane stieß auf ein umgestürztes Regal, dessen Inhalt auf dem Boden lag. Es sah aus, als habe jemand in großer Eile etwas gesucht. Schleifspuren waren auf dem Boden zu erkennen. Die Anzeichen waren unmißverständlich, und Alarkane sprach die Vermutung aus, die auch seine Gefährten bewegte: »Diese Bücher müssen einen großen Wert besitzen, und man hat versucht, einige von ihnen zu retten. Das wiederum will heißen, daß sie einen Zufluchtsort gefunden haben, möglicherweise nicht weit von hier entfernt. Vielleicht finden wir noch weitere Hinweise, die uns zu ihnen führen.« T’sinadree stimmte zu; der Paladoriner war jedoch weniger optimistisch. »Schön möglich«, sagte er, »aber der Planet ist groß, und wir haben noch zwei Stunden Zeit. Wir müssen uns beeilen, wenn wir auch nur einen einzigen Bewohner dieser dem Untergang geweihten Welt retten wollen.«
Und sie gingen weiter, nachdem sie einige der Bücher eingesteckt hatten, obwohl kaum Aussicht bestand, daß man sie jemals entziffern würde. Sie stellten fest, daß das Gebäude in unzählige größere und kleinere Räume unterteilt war. Die meisten zeigten Spuren, daß sie noch vor kurzem bewohnt gewesen waren. Nur einmal fanden sie einen Raum – – vielleicht ein Büro –, dessen Einrichtung vollständig zertrümmert und durcheinandergeworfen worden war. Der Fußboden war mit Papier und zerschlagenen Möbeln bedeckt. Durch die zerbrochenen Fenster drangen dünne Rauchschleier herein. T’sinadree tastete nervös nach seiner Waffe. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein wildes Tier in diesen Raum gelangt sein konnte«, wunderte er sich. Alarkane reagierte mit einem entsetzlichen Geräusch, das bei seiner Rasse als »Gelächter« galt. Dann erklärte er: »Das war kein wildes Tier, nehme ich an. Stellt euch einmal vor, ihr hättet euer Leben lang in diesem Raum zugebracht und gearbeitet. Jahr für Jahr. Und plötzlich hätte man euch eröffnet, die Arbeit sei beendet, ihr brauchtet nie mehr wiederzukommen, und es gäbe auch keinen Nachfolger. Alles wäre zu Ende. Was hättest du dann getan, T’sinadree?« »Hm – ich nehme an, ich hätte alles ordentlich aufgeräumt und wäre gegangen, so wie es die Bewohner in den anderen Räumen auch getan haben.« Alarkane lachte abermals. »Du hättest das sicherlich getan. Aber es gibt Wesen mit einer anderen Mentalität. Ich glaube bestimmt, daß mir der einstige Bewohner dieses Raumes sehr sympathisch gewesen wäre.« Weiter sagte er nichts, und die anderen beiden sannen noch eine ganze Weile über die Bedeutung seiner Worte nach, ehe sie es aufgaben.
Der Befehl Torkalees zur Rückkehr kam überraschend. Zwar hatten sie manchen wertvollen Hinweis gefunden, aber keine Spur, die zu dem vermeintlichen Versteck der geflüchteten Rasse führen könnte. Das Problem schien unlösbar – und in vierzig Minuten würde die S 9000 in den Weltraum zurückfliegen. Sie hatten bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sie zum erstenmal die halbkreisförmigen Tunnelöffnungen bemerkten, die schräg in die Tiefe hinabführten. Der Neigungswinkel war äußerst verlockend für Wesen, die unzählige Treppen erstiegen hatten und mühevoll wieder hinuntergeklettert waren. Nur Zweifüßler konnten solche Treppen gebaut haben, die besonders T’sinadree stark zu schaffen gemacht hatten. Er benutzte gewöhnlich nur zwölf Füße für seine Fortbewegung, obwohl er deren zwanzig besaß. Aber nun, in größter Not, lief er mit allen zwanzig – und das hatte noch keiner seiner Gefährten erlebt. Die drei Forscher waren stehengeblieben und starrten hinab in die Tiefe; dort unten mochten sich die Wesen verborgen halten, die einst diese Welt bevölkert hatten. Vielleicht konnte man doch noch einige von ihnen finden – und die S 9000 würde schnell herbeigerufen sein. T’sinadree verständigte Torkalee, der mit dem Erkundungsboot genau über ihnen wartete. Im Notfall war er so in der Lage, innerhalb von Sekunden durch das Gebäude bis zu dem Tunneleingang vorzudringen, indem er einfach die oberen Stockwerke mit dem Energiestrahler verdampfte. Dann glitten sie in den schrägen Tunnel hinein und erreichten kaum dreißig Sekunden später sein Ende, einen länglichen Raum von zylindrischer Form, mit zwei Reihen gepolsterter Sitze. Einen zweiten Ausgang schien es nicht zu geben. Ganz langsam begriff Alarkane den Sinn und Zweck dieser Einrichtung, und er bedauerte, daß man keine Zeit mehr hatte,
sie zu erproben. Sein Gedankengang wurde von einem Aufschrei unterbrochen, der von T’sinadree kam. Alarkane wirbelte herum und sah, daß sich der Ausgang lautlos geschlossen hatte. Selbst in diesem Augenblick der ersten Panik vermochte Alarkane nicht, seine Bewunderung für die Erbauer dieser Automatik zu unterdrücken. Der Paladoriner fand als erster seine Sprache wieder: »Wir denken, es wird das beste sein, wenn wir Platz nehmen.« Das vielfache Gehirn des Kollektivwesens hatte bereits begriffen, was geschehen würde. Und es hatte sich nicht geirrt. Über ihren Köpfen drang aus einem Lautsprecher ein greller Pfiff, und dann sprach zum letztenmal auf dieser toten Welt eine menschliche Stimme, deren Worte zwar unverständlich blieben, aber deren Sinn deutlich genug war: »Bitte Platz nehmen und Zielstation wählen.« Gleichzeitig glühte an der Stirnwand des Raumes eine Tafel auf. Sie zeigte mehr als ein Dutzend Punkte, die durch Linien verbunden waren. Neben jedem Punkt befanden sich Schriftzeichen und zwei Knöpfe von verschiedener Farbe. »Nicht berühren«, warnte T’sinadree. »Vielleicht öffnet sich der Ausgang wieder, wenn wir kein Ziel wählen.« Doch er irrte sich. Die Ingenieure, die diese Bahn konstruiert hatten, hatten nicht damit gerechnet, daß jemand das Transportmittel mit der Absicht betrat, es an der gleichen Stelle wieder zu verlassen. Wenn ein Fahrgast keine Station wählte, konnte das Ziel eben nur die Endstation sein. Wieder entstand eine Pause, während verborgene Relais geräuschlos einrasteten. Hätten sie gewußt, wie man die Tür öffnen könnte, so hätten sie die Bahn noch verlassen können. Aber sie wußten es nicht. Die Beschleunigung war nicht sehr groß und die gepolsterten Sitze mehr eine Bequemlichkeit denn eine Notwendigkeit.
Doch die Schwingungen verrieten die steigende Geschwindigkeit, mit der das zylindrische Gefährt unter der Erdoberfläche dahinglitt, einem unbekannten Ziel entgegen. Die Dauer der Reise war nicht abzuschätzen – und in dreißig Minuten würde die S 9000 das Sonnensystem für immer verlassen. In dem Wagen herrschte drückendes Schweigen. T’sinadree und Alarkane dachten fieberhaft nach und suchten nach einem Ausweg. Der Paladoriner tat das gleiche, nur eben anders. Die Tatsache des persönlichen Todes war ihm unbekannt. Für das ganze Wesen war sein Tod nichts weiter als für einen Menschen der Verlust eines Stückes Fingernagel. Doch er wünschte, wenigstens seinen Gefährten helfen zu können, für die der Tod endgültig und damit etwas sehr Ernstes war. Alarkane hatte Funkverbindung mit Torkalee aufgenommen, und es schien, als würde der Empfang sehr schnell schwächer. Er erklärte hastig ihre augenblickliche Situation, und die Antwort kam laut und deutlich. Torkalee folgte ihrem Kurs und flog über ihnen mit. Beunruhigend war die Mitteilung, daß sich das Transportmittel mit einer Geschwindigkeit von über 1500 Kilometer in der Stunde dem kochenden Meer näherte. Solange sie sich noch unter der Erdoberfläche befanden, bestand eine schwache Hoffnung, daß sie das Fahrzeug anhalten und gerettet werden konnten. Aber unter dem Grund des Meeres würde sie auch das Mutterschiff nicht mehr herausholen können. T’sinadree studierte mit besonderer Sorgfalt den immer noch erleuchteten Streckenplan. Die Bedeutung war klar. Entlang der eingezeichneten Linie kroch ein Lichtpunkt vorwärts. Er hatte bereits die Hälfte des Weges bis zur ersten Station zurückgelegt.
»Ich werde einen der Knöpfe drücken«, sagte T’sinadree schließlich. »Viel kann uns nicht mehr passieren – aber vielleicht lernen wir etwas.« »Einverstanden«, nickte Alarkane. »Welchen drückst du?« »Auch das ist gleichgültig. Es gibt nur zwei Knöpfe. Einer wird die Bahn anhalten, der andere wird sie in Bewegung setzen.« Alarkane war weniger optimistisch. »Sie hat sich vorhin in Bewegung gesetzt, ohne daß ein Knopf gedrückt wurde«, gab er zu bedenken. »Ich schätze, sie ist vollautomatisch, und wir haben von hier aus keinerlei Einfluß auf ihre Bewegung.« »Nein! Diese Knöpfe haben zweifellos mit den eingezeichneten Stationen irgend etwas zu tun. Ihr Vorhandensein hat also einen Sinn. Es gibt nur eine Frage: Welcher Knopf ist der richtige?« Seine Vermutung traf zu. Die Bahn konnte an jeder Station mit Hilfe dieser Knöpfe angehalten werden. Sie waren jetzt zehn Minuten unterwegs, und wenn sie an der nächsten Station herauskamen, waren sie gerettet. Es war ein übler Streich des Schicksals, daß T’sinadree zuerst auf den falschen Knopf drückte. Der Lichtpunkt auf dem Streckenplan kroch mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, durch den Kreis hindurch, der die erste Station kennzeichnete. Und dann meldete Torkalee aus dem Erkundungsboot über ihnen: »Ihr seid jetzt unter einer Stadt hindurchgefahren und nähert euch der Küste des Meeres. Die nächste Station muß mindestens eintausendfünfhundert Kilometer entfernt sein.«
Alveron hatte alle Hoffnung aufgegeben, auf dieser Welt noch Leben vorzufinden. Die S 9000 hatte den halben Planeten überflogen und war dabei ziemlich tief gegangen, um eventuell
die Aufmerksamkeit noch vorhandener Bewohner auf sich zu ziehen. Doch auch das nutzte nichts; die Erde war verlassen. Sollte es noch Leben auf ihr geben, so mußte es sich tief unter der Oberfläche abspielen. Doch auch dort würde es als Folge der kosmischen Katastrophe ausgelöscht werden. Rugon brachte die Nachricht von dem Zwischenfall. Die S 9000 brach sofort die fruchtlose Suche ab und nahm Kurs auf die Position, die Torkalee angegeben hatte. Er folgte mit dem Erkundungsboot noch immer der unsichtbaren Spur des unter dem Meer dahinrasenden Fahrzeugs. Der Anblick des Meeres war furchterregend. Seit der Entstehung der Erde hatte es ein solches Phänomen nicht mehr gegeben. Das Wasser kochte, und gewaltige Dampfschwaden stiegen in die Stratosphäre empor. Ein gewaltiger Sturm raste über die aufgewühlten Wogen dahin, peitschte sie mit grausamer Macht. Selbst bis hierher, weit vom Festland entfernt, trug der Sturm Mauerreste und Metallteile, die er nur widerwillig dem schäumenden Meer überließ, in dem sie für immer versanken. Zum Glück hatte es noch keine heftigen Erdstöße gegeben. Tief unter dem Bett des Meeres arbeitete das Wunder der Technik immer noch ungestört und fehlerfrei, jenes Wunder, das einst die Privatbahn des Weltpräsidenten gewesen war. Es würde weiterarbeiten bis zur letzten Minute, die – falls sich die Astronomen der Galaxis nicht irrten – für die Erde in einer Viertelstunde anbrechen würde. Doch erst in einer Stunde würde die Bahn die nächste Küstenstation erreichen. Alveron handelte gegen seine Befehle, wenn er den Versuch einer Rettung unternahm. Wäre er ein Mensch gewesen, so wäre ihm der Entschluß, die Gefährten dem unentrinnbaren Geschick zu überlassen, schon verzweifelt schwergefallen. Aber er war kein Mensch, sondern gehörte einer Rasse an, die
weitaus sensibler war. Die Gerechtigkeit war ihr erster und ihr letzter Gedanke – und nur so war sie zur führenden Rasse des Universums emporgewachsen. Seine einzige Hoffnung war der Sicherheitsfaktor von einer Stunde. Über dem Meer standen T’sinadree und Alarkane ständig mit Torkalee in Verbindung. Fünfzehn Minuten sind eine kurze Zeit, um Abschiedsbotschaften zu diktieren. Sie würden kaum ausreichen, das Nötigste zu berichten – und was ist im Angesicht des Todes wichtiger als der Abschied? Der Paladoriner saß schweigend auf seinem Platz. Sie hatten nicht auf ihn geachtet und wunderten sich daher, als er plötzlich mit seiner etwas unpersönlichen Stimme sagte: »Wir stellen fest, daß ihr Vorbereitungen trefft, die sich auf euere Vernichtung beziehen. Das dürfte unnötig sein. Alveron hat die Möglichkeit, uns zu retten, sobald wir das Festland erreichen. Wir müssen die Bahn nur zum Halten bringen.« Sowohl T’sinadree wie auch Alarkane waren zu überrascht, um gleich zu antworten. Sie starrten den Paladoriner wortlos an, bis Alarkane endlich stammeln konnte: »Woher weißt du das?« Doch im gleichen Augenblick konnte er sich die Antwort selbst geben: An Bord der S 9000 befanden sich noch andere Paladoriner. Zwischen allen bestand die geheimnisvolle Gedankenverbindung – und somit wußte auch ihr eingeschlossener Gefährte, was in dem Mutterschiff vor sich ging. »Alveron kann das nicht tun, das Risiko wäre zu groß.« Der Paladoriner schüttelte den Kopf. »Es ist überhaupt kein Risiko, denn wir haben Alveron gesagt, was er tun soll. Es ist ganz einfach.« Alarkane und T’sinadree begannen nur allmählich zu begreifen. In Augenblicken der Gefahr verbanden sich die Gehirne der paladorinischen Rasse zu einem einzigen, wurden
somit zu einer unvorstellbaren geistigen Potenz. Normale Probleme konnten von einem oder auch hundert Gehirnen gelöst werden, schwierigere durch Tausende. Ganz selten benötigte man eine Million. Und es gab nur zwei überlieferte Gelegenheiten, an denen Palador die Milliarden Gehirnzellen seiner ganzen Rasse vereint eingesetzt hatte. Das Gehirn von Palador war das größte des Universums, und obwohl seine volle Kapazität nur selten gebraucht wurde, war das bloße Vorhandensein eine Beruhigung für alle galaktischen Rassen. Alarkane dachte geistesabwesend darüber nach, wie viele Gehirne wohl notwendig gewesen wären, ihr augenblickliches Problem zu lösen, und er wunderte sich gleichzeitig, wieso eigentlich die Nachricht von einem so unbedeutenden Ereignis bis Palador dringen und dort solche Beachtung finden konnte. Niemals erhielt er die Antwort auf diese Frage, obwohl er sie sich selbst hätte geben können. Denn vor vielen Jahren bereits hatte er ein Buch geschrieben und darin zu beweisen versucht, daß sich auch die individuellen Gehirne der galaktischen Rassen eines Tages zusammenschließen, gewissermaßen ein Zentralhirn bilden müßten. Er hatte die paladorinische Rasse als besonders fortschrittlich auf diesem Gebiet bezeichnet. Auf Palador hatte man das nicht vergessen. Aus ihren Empfangsgeräten kam die Stimme von Alveron selbst: »Hier spricht Alveron. Wir werden solange auf dieser Welt bleiben, bis die Druckwelle der explodierenden Sonne sie erreicht. Nur so ist es möglich, einiges zu euerer Rettung zu tun. Euer Ziel scheint eine Stadt an der anderen Küste zu sein, die ihr bei der augenblicklichen Geschwindigkeit in vierzig Minuten erreichen könnt. Falls es euch nicht gelingt, das Fahrzeug anzuhalten, werden wir den Tunnel vor und hinter euch zerschmelzen und die Energiezufuhr abschneiden. Mit Hilfe des großen Hitzeprojektors treiben wir einen Schacht zu euch hinab; der Chefingenieur bestätigt, daß dies innerhalb von
fünf Minuten möglich ist. In einer Stunde also seid ihr bestimmt in Sicherheit – falls die Sonne nicht vorher explodiert.« »Und wenn das geschieht, seid auch ihr verloren! Ihr dürft kein solches Risiko eingehen.« »Macht euch keine Sorgen, wir befinden uns in völliger Sicherheit. Wenn die Sonne explodiert, dauert es immer noch etliche Minuten, bis die Welle ihr Maximum erreicht. Abgesehen davon befinden wir uns auf der Nachtseite des Planeten, mit einem Schutzschild von mehr als 12500 km Fels und Gestein zwischen uns und der Sonne. Sobald die ersten Anzeichen der beginnenden Explosion sichtbar werden, verlassen wir mit zunehmender Beschleunigung das Sonnensystem, uns dabei so lange wie möglich im Schatten des Planeten haltend. Noch vor Austritt aus dem Kernschatten werden wir die Lichtgeschwindigkeit erreicht haben, und die Energiewelle der Sonne kann uns nicht mehr einholen.« T’sinadree wagte es immer noch nicht, wirklich zu hoffen. »Gut und schön. Aber wie wollt ihr auf der Nachtseite die Sonne beobachten? Ihr könnt sie nicht sehen.« »Dieser Planet besitzt einen Trabanten, der von unserer Hemisphäre aus sichtbar ist. Unsere Teleskope sind auf ihn gerichtet. Sobald wir auch nur die geringste Veränderung der Helligkeit bemerken, schaltet sich automatisch der Hauptantrieb ein, und wir verlassen das System.« Die Logik seiner Ausführungen bestach selbst den skeptischen T’sinadree. Alveron ging wirklich kein unnötiges Risiko ein. Bevor die das Mutterschiff schützende Erde verdampfte, würde die S 9000 längst mit Lichtgeschwindigkeit im All verschwunden sein.
Alarkane drückte auf den zweiten Knopf, als sie nur noch wenige Kilometer von der nächsten Station entfernt waren. Er machte sich nicht allzugroße Hoffnungen, daß etwas geschehen würde, und war daher leicht erstaunt, als sich das Vibrieren des Gefährts änderte und der Wagen mit einem sanften Ruck schließlich stehenblieb. Geräuschlos glitt die Tür auf. Sie war noch nicht ganz geöffnet, als die drei Forscher auch schon den Wagen verlassen hatten. Sie atmeten unwillkürlich auf und warfen dem unheimlichen Gefährt einen bösen Blick zu. Vor ihnen erstreckte sich ein endlos scheinender Tunnel, der sanft ansteigend in die Dunkelheit hineinführte. Sie begannen weiterzugehen, als Alveron sagte: »Bleibt, wo ihr seid. Wir holen euch heraus.« Sie spürten die Erschütterung unter ihren Füßen, und wenige Minuten darauf durchbrach hundert Meter vor ihnen im Tunnel eine Lichtflut die Dunkelheit. Ein kreisender Schacht führte nach oben und in die Tiefe… Sie eilten bis zum Rand des Schachtes, der mehr als dreihundert Meter im Durchmesser maß. Selbst mit den starken Lampen war unten kein Grund zu erkennen. Der Hitzeprojektor hatte die Materie restlos vernichtet. Sie blickten nach oben und sahen neben dem Schatten des Mutterschiffes die hell leuchtende Scheibe des Vollmondes. Kein Mensch der Erde hätte in dieser strahlenden Miniatursonne den irdischen Mond vermutet. Einzelne Wolkenfetzen trieben vor dem Sturm dahin. Der Rand des gewaltigen Schachtes war noch rotglühend. Von der Unterseite des Mutterschiffes löste sich ein Gegenstand und fiel in die Tiefe, zu ihnen herab. Torkalee kam, um sie zu holen. Und Minuten später standen sie im Steuerraum, wo Alveron sie begrüßte:
»Höchste Zeit. Das Ende ist gekommen.« Er zeigte auf den Hauptbildschirm. Der Kontinent unter dem rasend schnell steigenden Schiff versank unter den Wogen des anstürmenden Meeres. Das letzte, was ein lebendes Auge von der Erde sah, war eine grausilberne Fläche, die von einem unwahrscheinlich hellen Mond beleuchtet wurde. Nur vereinzelte Bergspitzen ragten noch als winzige Inseln aus der Flut. Das Wasser hatte endlich den Sieg über die Landmassen errungen, aber er würde nur von kurzer Dauer sein. Noch während die Angehörigen der verschiedenen Rassen der Milchstraße schweigend den Bildschirm betrachteten, kam das endgültige Unheil über die zum Tode verurteilte Welt. Es war, als ginge plötzlich die Sonne auf. Aber es war kein Sonnenaufgang, sondern der brennende Mond. Mehr als dreißig Sekunden stand er als zweite Sonne über dem Planeten, dann blinkten verschiedene Lämpchen im Steuerraum auf. Der Hauptantrieb wurde eingeschaltet und das Schiff verließ mit Lichtgeschwindigkeit das System. Als Alveron wieder auf den Schirm blickte, war die Erde nicht mehr da. Die überbeanspruchten Aggregate fielen aus, als das Schiff Persephone passierte. Aber das spielte nun auch keine Rolle mehr, denn die zerstrahlende Sonne konnte ihnen nichts mehr anhaben, und in wenigen Tagen würde ein Hilfsschiff eintreffen. Antriebslos rasten sie durch die Weite des interstellaren Raumes. Irgendwie fühlte auch Alveron die Ironie des Schicksals, das sie getroffen hatte. Noch vor einem Tag waren sie gekommen, um eine Rasse zu retten, die nun für immer vergangen war. Und heute waren sie es selbst, die Hilfe brauchten. Nicht zum erstenmal dachte er über diese Rasse vom Planeten Erde nach und versuchte sich vorzustellen, wie jene Welt vor der
Katastrophe ausgesehen haben mochte. Er dachte an große Städte und an belebte Straßen. Obwohl noch sehr rückständig und primitiv, hätten diese Wesen auch ihren Beitrag zum galaktischen Bund leisten können. Erneut mußte Alveron das aufsteigende Gefühl der Schuld unterdrücken. Sie waren zu spät gekommen. Für immer würde die untergegangene Zivilisation ihr Geheimnis bewahren. Alveron war froh, als sein Gedankengang durch Rugon unterbrochen wurde. Der Nachrichtenoffizier hatte sich seit ihrem Start eingehend mit den aufgefangenen Signalen beschäftigt, die von jener verlassenen Station auf dem Planeten ausgegangen waren. An sich war die Entschlüsselung nicht besonders schwierig, aber sie erforderte die Konstruktion einiger Spezialgeräte. »Nun, was hast du herausgefunden?« wollte Alveron wissen. »Eine ganze Menge«, gab sein Freund zurück. »Aber da ist etwas, das so merkwürdig und geheimnisvoll scheint, daß ich es nicht begreife. Von diesen automatischen Sendestationen gab es auf dem Planeten zwanzig Stück. Es waren Fernsehsender mit automatisch gesteuerten Kameras. Sie rotierten und nahmen alles in ihrer Umgebung auf. Das Bild wurde dann gesendet. Die Stationen befanden sich entweder in Städten oder auf besonders hoch gelegenen Erhebungen. Außer diesen Fernsehsendungen wurden auf verschiedenen Frequenzen andere Sendungen ausgestrahlt, die aber weder Ton noch Television zu sein scheinen. Ich kann es mir nicht erklären, aber vielleicht dienen sie lediglich der wissenschaftlichen Beobachtung. Alles muß aber einen Grund gehabt haben. Orostron ist nicht von der Meinung abzubringen, daß man einfach vergessen hat, die Stationen auszuschalten, als man die Oberfläche des Planeten verließ, um sich in das Innere zurückzuziehen. Das aber wiederum steht im Widerspruch zu der Tatsache, daß die
Stationen ganz bestimmte Programme senden, jedoch in den interstellaren Raum hinaus. Diese Rasse muß die Raumfahrt gekannt haben – davon bin ich überzeugt.« Alveron hörte interessiert zu. Er nickte. »Das wäre ein logischer Schluß. Aber es steht doch fest, daß die Richtstrahler jener Stationen in die Richtung keines anderen Planeten des Systems zeigten. Ich habe das selbst nachgeprüft.« »Ich weiß, ich weiß. Was mich aber interessiert, ist die Antwort auf eine einzige Frage: Warum baut man so gigantische interplanetarische Sendestationen, die Bilder einer untergehenden Welt übermitteln – Bilder, die für Wissenschaftler und besonders Astronomen von äußerster Wichtigkeit sind? Die Errichtung der Sender war ein gigantisches Unternehmen – und ich bin davon überzeugt, daß man einen Zweck damit verfolgte. Der Richtstrahl – bei allen Sendern gleich – hat ein bestimmtes Ziel.« Alveron betrachtete Rugon nachdenklich. »Du vermutest, es könnte noch einen äußeren Planeten geben, den wir vielleicht nicht entdeckt haben? Wenn ja, so muß ich dich enttäuschen. Der Strahl der Sendungen wies noch nicht einmal in die Richtung der Ebene der Planetenkreisbahnen. Und selbst dann, wenn es so wäre – bitte, überzeuge dich selbst.« Er schaltete den Bildschirm ein und regulierte die Vergrößerung. In der samtenen Schwärze des Alls hing eine weiß-blaue Sonne von unwahrscheinlicher Leuchtkraft. Obwohl die weite Entfernung jede Bewegung erstarren ließ, konnte man nur zu deutlich ahnen, daß diese Sonne sich ständig vergrößerte. In der Mitte befand sich ein winziger, aber blendend weißer Punkt – der weiße Zwerg. »Vielleicht machst du dir keine rechte Vorstellung davon, wie groß der glühende Gasball inzwischen geworden ist, Rugon. Ich will dir helfen. Paß genau auf!«
Er verstärkte die Vergrößerung, bis nur das Herz der Nova sichtbar war. Zwei etwas dunklere Punkte standen nahe der Mitte der Nova. »Das sind die beiden großen Planeten des Systems. Sie sind noch nicht in Energie verwandelt – und sie waren viele hundert Millionen Kilometer von ihrer ehemaligen Sonne entfernt. Die Nova vergrößert sich immer noch – und sie hat bereits zweimal den Durchmesser des ganzen ehemaligen Systems erlangt.« Rugon starrte schweigend auf das überwältigende Schauspiel. Endlich sagte er: »Du hast meine Theorie zwar widerlegt, mich jedoch immer noch nicht befriedigen können.« Er ging einige Male im Steuerraum hin und her, warf ab und zu einen Blick auf den Bildschirm und schien angestrengt nachzudenken. Alveron wartete ab. Er kannte seinen Freund. Und er wußte, daß gerade das logische Denken seine Stärke war. »Was hältst du von der Möglichkeit, daß wir diese Rasse völlig falsch eingeschätzt haben, daß wir sie unterschätzt haben? Orostron tat es bereits, indem er die These aufstellte, sie hätten die Raumfahrt nicht kennen können, da sie erst seit zwei Jahrhunderten die Elektrizität kannten. Nun, Orostron hat sich geirrt. Vielleicht irren wir uns alle. Klarten brachte mir einiges aus der Sendestation mit, ohne davon irgendwie beeindruckt zu sein. Aber für eine Entwicklung von nur zweihundert Jahren waren diese Leistungen bemerkenswert. Wir haben Tausende von Jahren benötigt, um den gleichen Stand der Entwicklung zu erreichen. Alveron, ist es möglich, der Richtung ihres Sendestrahls zu folgen?« Alberon schwieg mehr als eine Minute, ehe er antwortete. Er hatte diese Frage halb erwartet. Die Aggregate waren unbrauchbar geworden, aber es war noch Energie vorhanden. Und solange Energie da war, ließ sich schon etwas machen. Das Mutterschiff besaß eine gewaltige Trägheitsmasse, und es waren schwierige Manöver notwendig, die einmal
eingeschlagene Richtung zu beeinflussen. Aber es war möglich; und vielleicht würde der Mannschaft ein wenig Ablenkung nicht schaden. Der Fehlschlag ihrer Mission wirkte ohnehin bedrückend auf die Gemüter. Die Nachricht, daß ein Hilfsschiff sie erst in drei Wochen erreichen würde, hatte nicht zur Hebung der Stimmung beigetragen.
Die Ingenieure benahmen sich wie üblich. Zuerst machten sie skeptische Gesichter – und dann vollbrachten sie das schier Unmögliche in der halben Zeit, die man veranschlagt hatte. Ganz langsam änderte das riesige Schiff seinen Kurs, und die Sterne wanderten über die Schirme. Es beschrieb eine Kurve, deren Radius Millionen von Kilometern maß. Drei Tage dauerte es, ehe die S 9000 parallel zu dem Richtstrahl flog, der nicht viel schneller als das Schiff war. Hinter ihnen versank die Nova, die einst eine Sonne gewesen war, im Nichts des Universums. Ihr Ziel, das auch das Ziel der elektrischen Wellen war, lag im Unbekannten. Obwohl sie eine hohe Geschwindigkeit besaßen, standen sie praktisch still. Fast ununterbrochen saß Rugon an seinen Instrumenten und suchte den Raum vor dem Schiff ab. Mit Sicherheit konnte er feststellen, daß es keine Planeten in vielen Lichtjahren Entfernung gab. Und jedesmal, wenn Alveron sich bei ihm erkundigte, ob er etwas Bemerkenswertes entdeckt habe, erhielt er die gleiche Antwort: »Nichts!« Erst eine ganze Woche später begannen die Nadeln des Masseanzeigers leicht zu zittern, kaum merklich zwar, aber doch unzweifelhaft. Rugon schwieg und sagte selbst Alveron nichts davon. Er wartete, bis die Nadeln stärker ausschlugen und auch die kurzreichenden Wellen der Suchstrahler zu reagieren begannen, und sich die ersten Bilder auf dem Schirm abzeichneten. Und dann wartete er immer noch, so lange, bis
seine wildesten Vermutungen sich bestätigten und er ganz sicher war. Der Bildschirm zeigte das Universum mit seinen unzähligen Sternen. In der Mitte befand sich der feine Schleier eines interstellaren Nebels, fast genau in ihrer Flugrichtung. Rugon hatte Alveron und die anderen leitenden Offiziere des Expeditionsschiffes kommen lassen. Er änderte die Vergrößerung und näherte sie dem Maximum. Die Sterne glitten seitwärts aus dem Bild, und der Nebel wurde größer. Er wurde so groß, bis er kein Nebel mehr war. Ein erstickter Aufschrei kam von den Zuschauern. Dann hielten sie den Atem an. Vor ihnen im Raum stand ein dreidimensionaler Pfeil, Reihe neben Reihe, Kolonne auf Kolonne – wie eine exakt ausgerichtete Armee – eine unübersehbare Flotte matt schimmernder Objekte. Sie rasten mit beachtlicher Geschwindigkeit durch das All, und noch während die Expeditionsteilnehmer sprachlos auf das Bild schauten, wanderten sie seitwärts aus dem Blickfeld. Rugon holte sie wieder auf den Schirm und sagte nach einer langen, langen Pause: »Das sind die Wesen, die erst seit zwei Jahrhunderten die Elektrizität kennen. Es ist die Rasse, von der wir glaubten, sie sei beim Ausbruch der Nova im Innern ihres Planeten umgekommen. Ich habe sie seit Stunden beobachtet und festgestellt, daß vor uns die gewaltigste Raumflotte steht, die es in der Geschichte der Galaxis je gab. Jeder dieser winzigen leuchtenden Punkte ist ein Schiff, größer als das unsere. Der Antrieb ist primitiv. Die leuchtenden Punkte sind nichts anderes als die Triebstrahlen einfacher Raketenmotore – aber bedenkt: Sie haben den Mut, mit solchen Raketenmotoren die Kluft zwischen den Sternen zu überbrücken. Ihr wißt, was das bedeutet. Sie benötigen Jahrhunderte, um den nächsten Stern
zu erreichen. Eine ganze Rasse verließ ihre sterbende Welt, damit ihre Nachkommen, Generationen später, eine neue Heimat finden würden. Wir benötigten Jahrtausende, um den Weltraum zu erobern und noch viele weitere Jahrtausende, den nächsten Stern zu erreichen. Selbst dann, wenn unsere Heimatsonnen explodiert wären, hätten wir es in kürzerer Zeit geschafft? Denkt daran: Dies hier ist die jüngste Zivilisation der Milchstraße. Vor 400 000 Jahren existierte sie noch nicht einmal in primitivster Form. Wie mag sie in einer Million Jahren aussehen?«
Eine Stunde später verließ Orostron das Mutterschiff, um ersten Kontakt mit der irdischen Flotte aufzunehmen. Als der schlanke Torpedo des Beibootes zwischen den Sternen verschwand, wandte sich Alveron an seinen Freund und sagte etwas, das Rugon nie vergaß und an das er in den folgenden Jahren immer wieder denken mußte: »Ich bin gespannt, wie sie sind. Sind sie nur begabte Ingenieure oder auch Philosophen? Besitzen sie so etwas wie Kunst? Die Ankunft von Orostron wird vielleicht ihren Stolz verletzen. Es ist doch seltsam, daß isolierte Rassen im Universum immer von sich glauben, sie seien die einzige existierende Rasse. Sie schulden uns Dank, denn wir werden ihnen einige Jahrhunderte endlosen Raumflugs ersparen.« Alveron starrte gedankenvoll auf das silberne Band der Milchstraße, das sich quer über den Schirm zog. Mit einem Tentakel machte er eine Bewegung, die alle Sterne der Galaxis umfaßte, sowohl die Zentralsonnen wie auch die einsamen am Rand der Spiralarme. »Weißt du«, sagte er bedrückt zu Rugon, »ich beginne mich vor dieser Rasse zu fürchten. Was ist, wenn sie unsere Föderation nicht mögen?« Und noch einmal zeigte er auf das
schimmernde Band der Milchstraße, das im Licht seiner Millionen Sterne leuchtete. »Irgend etwas in meinem Innern sagt mir, daß es eine sehr entschlossene und von sich überzeugte Rasse ist. Es wird besser sein, wenn wir ihnen gegenüber ein wenig zuvorkommend sind. Schließlich sind wir ihnen zahlenmäßig nur um ein weniges überlegen, höchstens eine Milliarde zu eins.« Rugon lachte über den kleinen Scherz seines Freundes. Doch schon zwanzig Jahre später hatte diese Bemerkung ihre scherzhafte Bedeutung verloren.
Originaltitel: RESCUE PARTY Copyright © 1946 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Übersetzt von Walter Ernsting
Amelia Raynolds Long OMEGA
Ich, Dr. Michael Claybridge, habe im Jahre 1926 von den Lippen des Mannes, der es selbst gesehen hat, einen Bericht über das Ende der Welt gehört, von den Lippen des letzten Mannes der menschlichen Rasse. Daß das möglich ist, oder daß ich nicht den Verstand verloren habe, kann ich nicht beweisen, ich kann nur die Tatsachen so schildern, wie sie sind. Mein Freund, Professor Mortimer, hatte sich lange Zeit mit seiner Theorie der Mentalzeit beschäftigt; aber ich hatte nie etwas von seiner Theorie gewußt, bis ich ihn eines Tages auf seinen Wunsch hin in seinem Labor besuchte. Als ich zu ihm kam, beugte er sich gerade über einen jungen Medizinstudenten, den er in einen hypnotischen Trancezustand versetzt hatte. »Der Beweis meiner Theorie, Claybridge«, flüsterte er erregt, als ich eintrat. »Vor einem Augenblick habe ich Bennet hypnotisch befohlen, die Schlacht von Waterloo mitzuerleben. Und er hat mir – und zwar in französischer Sprache wohlgemerkt – den Ablauf der Schlacht geschildert, an der er teilgenommen hat.« »Teilgenommen!« rief ich aus. »Sie meinen, er sei eine Reinkarnation des…?« »Nein, nein«, unterbrach er mich ungeduldig. »Sie vergessen – oder besser, Sie wissen nicht –, daß die Zeit ein Kreis ist, und daß alle Zeitepochen gleichzeitig existieren. Ich habe durch hypnotischen Befehl seine materielle Linie so bewegt, bis sie
den Teil des Kreises berührte, der der Schlacht von Waterloo entspricht. Ob sich in der physikalischen Zeit die beiden je berührt haben, ist ohne Belang.« Ich verstand das natürlich nicht, aber ehe ich eine Erklärung verlangen konnte, hatte er sich wieder seinem Patienten zugewandt. »Die Goten überfallen Rom«, sagte er. »Sie sind dabei. Sagen Sie mir, was Sie sehen.« Einen Augenblick geschah gar nichts; dann schienen vor unseren Augen die Gesichtszüge des jungen Mannes einen Wechsel durchzumachen. Seine Nase krümmte sich, während seine Stirn plötzlich flacher wurde. Sein bleiches Gesicht rötete sich, und seine Augen wechselten von Braun nach Grün. Plötzlich warf er die Arme hoch, und dann drang ein Schwall von Lauten über seine Lippen, die weder Mortimer noch mir irgend etwas bedeuteten, davon abgesehen, daß sie den alten germanischen Sprachen stark ähnelten. Mortimer ließ ihn eine Weile gewähren, bis er den jungen Mann aus seiner Trance zurückrief. Zu meiner Überraschung war der junge Bennet nach dem Erwachen wieder ganz normal, ohne jegliche Spur fremder Gesichtszüge. Aber als er redete, klang seine Stimme müde. Als Mortimer und ich dann allein waren, fragte ich: »Würden Sie mir jetzt sagen, was das alles zu bedeuten hat?« Er lächelte. »Die Zeit«, begann er, »hat zwei Aspekte, den geistigen und den physischen. Von diesen beiden ist der geistige real, der physische nicht real; oder wir könnten auch sagen, das Instrument, an dem man den realen Aspekt messen kann. Und das Maß hängt von der Intensität, nicht von der Länge ab.« »Sie wollen sagen…?« fragte ich, nicht überzeugt, daß ich ihn richtig verstanden hatte.
»Daß die reale Zeit durch die Intensität gemessen wird, mit der wir sie erleben«, antwortete er. »Auf diese Weise kann eine Minute in geistiger Zeit nach den von Menschen entwickelten Begriffen drei Stunden tief sein, weil wir sie intensiv gelebt haben; während ein ganzes Äon geistiger Zeit aus dem umgekehrten Grund vielleicht physikalisch nur einen halben Tag umfassen mag.« »… und tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag!« murmelte ich das alte Bibelwort. »Genau das«, sagte er, »abgesehen davon, daß es in der geistigen Zeit weder Vergangenheit noch Zukunft gibt, sondern nur eine immerwährende Gegenwart. Die geistige Zeit ist, wie ich vor kurzem schon sagte, ein endloser Kreis, zu dem die materielle Zeit eine Tangente bildet. Der Berührungspunkt offenbart sie den physischen Sinnen und schafft das, was wir physikalische Zeit nennen. Da eine Linie einen Kreis nur an einem Punkt berühren kann, können wir auch nur ein Leben führen. Wenn es möglich wäre, wie es eines Tages leicht der Fall sein kann, mit dieser Linie den Kreis an zwei Punkten gleichzeitig zu berühren, würden wir auch gleichzeitig zwei Leben führen. Ich habe bewiesen, wie Sie im Falle Bennetts gerade gesehen haben, daß der Berührungspunkt zwischen dem Zeitkreis und der materiellen Linie durch hypnotischen Befehl verschoben werden kann. Sie werden zugeben müssen, daß das Experiment völlig zufriedenstellend verlaufen ist und dennoch«, seine Stimme klang plötzlich bedauernd, »beweist das, was die übrige Welt angeht, absolut nichts.« »Warum nicht?« fragte ich. »Könnten nicht andere eine solche Demonstration ebensogut mitansehen wie ich?« »Und sie als schlüssigen Beweis für die Reinkarnation betrachten«, meinte er und zuckte die Achseln. »Nein, Claybridge, so geht das nicht. Es gibt nur einen Beweis, den
die Welt anerkennen würde, nämlich wenn man das Bewußtsein eines Menschen in die Zukunft versetzen könnte.« »Und kann man das nicht tun?« erkundigte ich mich. »Ja«, sagte er. »Aber damit ist ein Gefahrenelement verbunden. Der geistige Zustand hat eine starke Auswirkung auf das physische Wesen, wie Sie ja daraus sehen konnten, daß Bennet das Aussehen eines gotischen Eroberers annahm. Hätte ich ihn zu lange in diesem hypnotischen Zustand belassen, wären die fremden Züge nicht mehr zurückgegangen. Welche Veränderungen eine Projektion in die Zukunft mit sich bringen würde, kann ich nicht sagen, und aus diesem Grunde hat Bennet natürlich keine Lust, daß ich in dieser Richtung an ihm Versuche unternehme.« Er schritt beim Reden in seinem Labor auf und ab. Den Kopf hatte er nach vorn auf die Brust gesenkt, als laste das Gewicht seiner Gedanken schwer auf ihm. »Dann ist ein zufriedenstellender Beweis unmöglich?« fragte ich. »Sie können nie hoffen, die Welt zu überzeugen?« Er blieb so plötzlich stehen, daß ich beinahe erschrak. Sein Kopf fuhr ruckartig hoch. »Nein!« rief er. »Ich habe nicht aufgegeben! Ich brauche nur eine bessere Versuchsperson, und ich werde auch eine finden.« Diese entschiedene Feststellung beeindruckte mich zu jener Zeit nicht besonders, noch beschäftigte mich seine Zeitentheorie sehr. An beide wurde ich jedoch eine Woche später erinnert, als ich Professor Mortimer wieder im Labor besuchte und er mir eine Zeitung in die Hand drückte und dabei auf eine Anzeige deutete. »Fünftausend Dollar für den Richtigen!« las ich. »Versuchsperson für hypnotisches Experiment gesucht. Bewerbungen an Professor Alex Mortimer, Mortimer-Labor.« »Sie meinen doch nicht, daß sich darauf jemand melden wird!« rief ich aus.
»Im Gegenteil«, lächelte er. »Ich habe schon ein Dutzend Bewerbungen bekommen. Ich habe denjenigen ausgesucht, der mir als beste Versuchsperson erschien, und er wird in ein paar Minuten hier sein, um die Dokumente zu unterschreiben, die mir jede Verantwortung abnehmen, sollte es zu einem Unfall kommen. Deshalb habe ich auch Sie um Ihr Kommen gebeten.« Ich konnte ihn nur starr ansehen. »Natürlich«, fuhr er fort, »habe ich ihm erklärt, daß ein gewisses persönliches Risiko damit verbunden ist, aber offensichtlich macht ihm das nichts aus. Im Gegenteil, er schien es fast zu begrüßen. Er…« Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn und einer seiner Assistenten blickte herein. »Mr. Williams ist hier, Herr Professor.« »Schicken Sie ihn herein, Gable.« Als der Assistent verschwand, wandte Mortimer sich wieder mir zu. »Meine Versuchsperson«, erklärte er. »Er ist sehr pünktlich.« Ein schlanker, etwas zu klein geratener Mann trat ein. Meine Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf seine Augen, die für sein Gesicht zu groß erschienen. »Mr. Williams, mein Freund Dr. Claybridge«, stellte Mortimer uns vor. »Der Doktor wird unsere Unterschriften beglaubigen.« Williams murmelte müde sein »sehr erfreut«, während Mortimer ihm einige Dokumente vorlegte. Williams warf nur einen Blick darauf und griff nach einem Schreiber. »Einen Augenblick!« Mortimer klingelte nach Gable. Der Assistent und ich beglaubigten die Unterschrift und unterschrieben selbst als Zeugen. »Wir können gleich anfangen, wenn Sie wollen«, meinte Williams, als Gable gegangen war.
Mortimer sah ihn eine Weile nachdenklich an. »Zuerst«, sagte er, »möchte ich Ihnen eine Frage stellen, Mr. Williams. Sie brauchen aber keine Antwort zu geben, wenn Sie nicht wollen. Warum drängen Sie sich so nach diesem Experiment, dessen Ergebnis nicht einmal ich vorhersehen kann?« »Wenn ich darauf antworte, werden Sie dann meine Antwort vertraulich behandeln?« fragte Williams und warf einen Seitenblick auf mich. »Aber selbstverständlich«, erwiderte Mortimer. »Damit spreche ich sowohl für mich als auch für Dr. Claybridge.« Ich nickte bestätigend. »Dann«, sagte Williams, »werde ich es Ihnen sagen. Ich beteilige mich an diesem Experiment, weil, wie Sie schon gestern erwähnten, die Möglichkeit besteht, daß es zu meinem Tode führt. Nein, Sie haben das nicht so deutlich gesagt, Professor Mortimer, aber das fürchten Sie doch, nicht wahr? Und warum sollte ich sterben wollen? Weil ich einen Mord begangen habe, meine Herren.« »Was?« Wir stießen das Wort beide gleichzeitig aus. Williams lächelte dünn. »Das ist eine etwas ungewöhnliche Feststellung, nicht wahr?« fragte er mit seiner müden Stimme. »Wen ich ermordet habe, ist nicht von Bedeutung. Die Polizei wird mich nie finden, denn ich habe es geschickt angestellt. Meine Schwester, an die diese fünftausend Dollar ausgezahlt werden sollen, Professor, braucht auch keine Sorge zu haben. Aber wenn ich auch den Behörden entkommen kann, so kann ich meinem eigenen Gewissen nicht entgehen. Das Wissen, daß ich vorsätzlich einen Menschen getötet habe – wenn er auch den Tod verdient hat –, ist zu viel für mich, und da meine Religion mir den Selbstmord verbietet, habe ich mich an Sie gewandt, weil Sie mir vielleicht einen Ausweg bieten. Ich denke, das ist alles.«
Wir starrten ihn schweigend an. Was Mortimer dachte, weiß ich nicht. Wahrscheinlich dachte er darüber nach, was für ein seltsames Wesen doch der Mensch ist. Was mich anbetrifft, so beschäftigte mich der Gedanke, was das wohl für eine Tragödie gewesen sein mochte. Mortimer fand als erster die Sprache wieder. Er tat so, als hätte Williams überhaupt nichts gesagt. »Da Sie bereit sind, Mr. Williams, werden wir sofort mit dem Experiment beginnen«, sagte er. »Ich habe ein besonderes Zimmer vorbereiten lassen, wo keine anderen Gedankenwellen oder sonstigen Einflüsse Sie ablenken können.« Er stand auf und war offenbar im Begriff, seine Versuchsperson in den Saal zu führen, als das Telefon klingelte. »Hallo«, rief er in den Hörer. »Dr. Claybridge? Ja, er ist hier. Augenblick.« Er hielt mir den Hörer hin. Meine Klinik war am Apparat. Nachdem ich das Gespräch entgegengenommen hatte, legte ich verärgert auf. »Eine Blinddarmoperation«, sagte ich. »Der arme Teufel tut mir zwar leid, aber er hat sich jedenfalls eine höchst ungünstige Zeit für seine Blinddarmentzündung ausgesucht.« »Ich teile Ihnen telefonisch mit, wie das Experiment gelaufen ist«, versprach Mortimer, als ich nach meinem Hut griff. »Vielleicht können Sie am nächsten teilnehmen.«
Getreu seinem Versprechen rief er mich am Abend an. »Ein großartiger Erfolg!« sagte er. »Bis jetzt habe ich nur im kleinen experimentiert, aber dabei ist meine Theorie bereits über allen Zweifel erhaben. Und dann war da noch etwas sehr Interessantes, Claybridge. Williams sagte mir, wie mein Experiment morgen nachmittag ausgehen würde.« »Und was wird das für ein Experiment sein?« fragte ich.
»Ich werde sein materielles Bewußtsein ans Ende der Welt versetzen«, war die verblüffende Antwort. »Herr im Himmel!« rief ich außer mir. »Und das wollen Sie tun?« »Ich habe doch gar keine andere Wahl«, erwiderte er. »Mortimer, Sie sind ein Fatalist!« »Nein, nein«, protestierte er. »Das ist nicht Fatalismus. Können Sie denn nicht verstehen, daß…« Ich unterbrach ihn ebenfalls. »Darf ich teilnehmen?« fragte ich. »Ja«, antwortete er. »Sie werden teilnehmen. Williams hat Sie gesehen.« Ich hatte gute Lust, nicht hinzugehen, um ihm die Unhaltbarkeit seiner Theorien zu beweisen, aber meine Neugierde war zu groß, und so kam ich wie verabredet. »Ich habe Williams bereits in Tiefschlaf versetzt«, sagte Mortimer, als ich eintrat. »Er ist in dem Spezialzimmer. Kommen Sie, ich zeige ihn Ihnen.« Er führte mich durch einen langen Gang zu einer Tür, die ursprünglich zu einem Lagerraum gehört hatte. Er schob einen Schlüssel ins Schloß, drehte ihn um und stieß die Tür auf. In dem Raum konnte ich Williams auf einem Drehstuhl sitzen sehen. Seine Augen waren geschlossen, und sein Körper war entspannt, als schliefe er. Aber es war nicht das, sondern der Raum selbst. Er war fensterlos und besaß nur eine Öffnung in der Decke, durch die Licht und Luft hereinkamen. Abgesehen von dem Stuhl, auf dem Williams saß, gab es kein Mobiliar, nur noch ein Instrument, das an einen übergroßen Telefonhörer erinnerte und von einem Kranarm etwa fünf Zentimeter vor dem Mund des hypnotisierten Mannes festgehalten wurde, sowie ein Paar Kopfhörer, die man ihm über die Ohren gestülpt hatte. Das seltsamste von allem aber war, daß die
Wände, der Boden und die Decke des Raumes mit einem weißlichen Metall verkleidet waren. »Weißes Blei«, sagte Mortimer, als er meinen Blick wahrnahm; »die Substanz, die Gedankenwellen am besten isoliert. Ich möchte, daß die Versuchsperson nach Möglichkeit keine fremden Gedankeneinflüsse empfängt. Williams soll wirklich nur seine eigenen Eindrücke berichten, wenn er über dieses Telefon hier spricht, das mit meinem Labor verbunden ist.« Er schloß die Tür ab, und wir gingen in das Labor zurück. In einer Ecke stand ein Gerät, das mich an einen Lautsprecher erinnerte, und in der Nähe hing ein Hörer, ähnlich dem, den ich schon in dem Zimmer bei Williams gesehen hatte. »Ich werde durch diesen Hörer mit Williams sprechen«, erklärte Mortimer, »und er wird mich durch seine Kopfhörer empfangen. Wenn er in sein Mikrophon spricht, werden wir ihn im Lautsprecher hören.« Er setzte sich vor das Gerät und sprach: »Williams, hören Sie mich?« »Ich höre Sie.« Die Antwort kam prompt, aber in der gequälten Stimme eines Mannes, der im Schlaf spricht. »Hören Sie zu. Sie erleben jetzt die letzten sechs Tage der Erde. Mit Tagen meine ich nicht Perioden von vierundzwanzig Stunden, sondern solche Zeitmaße, wie sie im ersten Kapitel der Genesis gemeint sind. Jetzt ist der erste Tag der sechs. Sagen Sie mir, was Sie sehen.« Nach einer kurzen Pause kam die Antwort. Seine Stimme klang sehr hoch. Er sprach zwar Englisch, aber seine Worte waren so eigenartig betont, daß es uns beiden am Anfang schwerfiel, sie zu verstehen. »Wir befinden uns im Jahre 46812«, sagte die Stimme, »oder nach moderner Zeitrechnung im Jahr 43930 n. I. V. Das heißt, nach der interplanetarischen Vereinigung. Um die Erde steht es
nicht gut. Die Poleiskappe reicht beinahe bis nach Neufundland herunter. Der Sommer dauert nur ein paar Wochen, und dann ist die Hitze erdrückend. Was man früher als die atlantischen Küstenebenen kannte, ist schon lange im Meer versunken. Die hohen Deiche müssen immer wieder verstärkt werden, um das Wasser von der Insel Manhattan fernzuhalten, wo die Weltregierung ihren Sitz hat. Ein großer Krieg ist soeben beendet worden. Es gibt viele Tote zu begraben.« »Sie sprechen von einer interplanetarischen Vereinigung«, sagte Mortimer. »Steht die Erde also in Verbindung mit den anderen Planeten des Systems?« »Im Jahre 2952«, kam die Antwort, »gelang es der Erde, mit dem Mars Verbindung aufzunehmen. Fernsehbilder wurden zwischen den beiden Planeten ausgetauscht, bis die Erdbewohner die Sprache des Mars und die Marsbewohner die Sprache der Erde gelernt hatten. Die Marsbewohner hatten schon lange versucht, Signale zur Erde zu senden – schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts, aber es war ihnen bis dahin nicht gelungen, ein Verständigungssystem zu schaffen, da die Erdmenschen wissenschaftlich nicht genügend weit fortgeschritten waren. Etwa tausend Jahre später wurde eine Meldung von der Venus empfangen, die jetzt den Entwicklungsstand der Erde erreicht hatte. Die Bewohner der Venus hatten seit beinahe fünfhundert Jahren Signale von der Erde und vom Mars empfangen, waren aber nicht in der Lage gewesen, zu antworten. Etwas mehr als fünftausend Jahre später wurden Signale empfangen, die von irgendeiner Stelle jenseits der Venus kamen. Venus und Mars hörten sie auch, waren aber ebenso wie wir nicht imstande, sie zu entschlüsseln. Alle drei Welten sandten ihre Fernsehbilder auf der Wellenlänge aus, auf der sie
die seltsamen Geräusche hörten, erhielten aber keine Antwort. Schließlich entwickelte man auf der Venus die Theorie, daß die Meldungen vom Merkur kamen, dessen Bewohner über keinen Gesichtssinn verfügen konnten, da sie ja stets auf der der Sonne abgewandten Seite ihrer Welt leben mußten. Kürzlich ist etwas Furchtbares auf dem Mars geschehen. Unsere letzten Botschaften, die wir von dort empfingen, berichteten von schrecklichen Kriegen und Seuchen, wie wir sie jetzt auch auf der Erde haben. Auch begannen die Wasservorräte zu versiegen, die zur Reinerhaltung der Atmosphäre gebraucht werden. Plötzlich, vor etwa fünfzig Jahren, verstummten alle Sendungen von dort.« Mortimer deckte die Sprechmuschel mit der Hand ab. »Das«, sagte er zu mir, »kann nur bedeuten, daß das intelligente Leben auf dem Mars ausgestorben ist. Die Erde hat also nur noch ein paar tausend Jahre zu leben.« Er befragte Williams noch beinahe eine Stunde lang über die Zustände im Jahre 46812. Alle Antworten, die er erhielt, verrieten, daß die Menschheit trotz der hohen wissenschaftlichen Entwicklung, die sie durchgemacht hatte, ihrem Ende entgegenging. Kriege hatten Millionen von Menschen getötet, während bisher unbekannte Seuchen täglich neue Opfer forderten. Und was das Schlimmste von allem war – die Geburtenzahlen gingen rapide zurück. »Hören Sie zu!« Mortimer hob die Stimme, als wollte er damit seine unsichtbare Versuchsperson von der Wichtigkeit dessen, was er zu sagen hatte, überzeugen. »Sie leben jetzt am zweiten Tag. Sagen Sie mir, was Sie sehen.« Einen Augenblick war Schweigen, dann sprach die Stimme – diesmal noch höher als beim erstenmal – wieder. »Ich sehe die Menschheit in ihren Todeszuckungen«, sagte sie. »Nur noch ein paar verstreute Stämme ziehen über die verlassenen Kontinente. Die Tiere beginnen auszusterben, und
es empfiehlt sich auch nicht, ihr Fleisch zu essen. Vor viertausend Jahren haben wir die künstliche Herstellung von Luft aufgenommen, wie es auch die Marsianer vor uns taten. Aber es ist kaum der Mühe wert, denn Kinder werden nicht mehr geboren. Wir werden die letzten unserer Rasse sein.« »Und Sie haben nichts mehr vom Mars gehört?« fragte Mortimer. »Nein. Vor zwei Jahren war der Mars plötzlich vom Himmel verschwunden. Was aus dem Planeten geworden ist, wissen wir nicht.« Ich schauderte und stellte fest, daß auch Mortimer bleich geworden war. »Die Poleiskappen gehen zurück«, fuhr die Stimme fort. »Jetzt sind es die Winter, die kurz sind. Tropische Pflanzen sind in den gemäßigten Zonen aufgetaucht. Die niedrigen Klassen der Lebewesen werden immer zahlreicher und haben jetzt angefangen, die Menschen zu bekämpfen, so wie die Menschen sie früher bekämpften. Die Tage der Menschen sind gezählt. Wir sind auf unserer eigenen Welt Fremde geworden.« »Hören Sie«, sagte Mortimer wieder. »Jetzt ist der dritte Tag. Beschreiben Sie ihn.« Wieder folgte das kurze Schweigen, dann kam die Stimme; sie klang diesmal ganz brüchig. »Warum«, schrie sie, »halten Sie mich hier fest, das letzte lebende menschliche Wesen auf einem sterbenden Planeten? Das ist eine Welt des Todes. Lassen Sie mich doch auch sterben.« »Mortimer«, unterbrach ich, »das ist furchtbar! Genügt Ihnen Ihr Experiment noch nicht?« Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ja«, sagte er, und seine Stimme klang gequält. »Wenigstens für den Augenblick. Kommen Sie, ich will Williams wecken.«
Ich folgte Mortimer den Korridor hinunter und stand unmittelbar hinter ihm, als er die Tür des mit Blei isolierten Raumes aufriß und eintrat. Wir schrien beide gleichzeitig erschreckt auf. Auf dem Stuhl, auf dem er Williams zurückgelassen hatte, saß dieser noch, aber physisch war er ein anderer Mensch. Er war vielleicht zehn Zentimeter kleiner geworden, während sein Kopf größer erschien. Die Stirn wölbte sich kugelförmig nach vorn. Seine Finger waren extrem lang und empfindlich, aber man hatte dennoch den Eindruck, als seien sie äußerst kräftig. Sein Körper war spindeldürr wie ein Skelett. »Herr im Himmel!« stöhnte ich. »Was ist geschehen?« »Das ist ein extremer Fall von geistigem Einfluß auf tote Materie«, antwortete Mortimer und beugte sich über den hypnotisierten Mann. »Sie erinnern sich doch, wie das Gesicht des jungen Bennet den Ausdruck eines Goten annahm? Das hier ist etwas Ähnliches, nur in wesentlich stärkerem Maße. Williams ist ein Mensch der Zukunft geworden – physisch ebenso wie geistig.« »Dann wecken Sie ihn doch sofort auf!« rief ich. »Das ist ja gräßlich.« »Um ehrlich zu sein«, sagte Mortimer langsam, »habe ich Angst, das zu tun. Er hat sich viel länger in diesem Zustand befunden, als ich vermutete. Ihn so plötzlich aufzuwecken, würde gefährlich sein. Das könnte zu seinem Tod führen.« Einen Augenblick schien er nachzudenken. Dann nahm er Williams die Kopfhörer ab und sprach ihn an. »Schlafen Sie«, befahl er. »Schlafen Sie tief und natürlich. Wenn Sie genügend ausgeruht sind, werden Sie erwachen und wieder Sie selbst sein.«
Kurz darauf verließ ich Mortimer und begab mich in mein Krankenhaus, obwohl eigentlich mein freier Tag gewesen wäre. Wie beruhigend kamen mir plötzlich – nach den fürchterlichen Dingen, deren Zeuge ich soeben geworden war – meine alltäglichen Fälle dort vor! Ich überraschte den Arzt vom Dienst damit, daß ich für den Rest des Tages mit einer Intensität und Hingabe arbeitete, wie sie mir bisher unvorstellbar erschienen waren. Am Ende ging ich, an Geist und Körper müde, nach Hause. Ich legte mich früh am Abend zu Bett und schlief unverzüglich ein. Das Schrillen des Telefons weckte mich. »Hallo«, rief ich schläfrig und griff nach dem Hörer. »Hier Claybridge.« »Claybridge, hier Mortimer«, kam seine fast hysterisch klingende Antwort. »Um Himmels willen, kommen Sie sofort herüber!« »Was ist los?« fragte ich und war unverzüglich hellwach. Es mußte schon etwas Außergewöhnliches geschehen sein, um den nüchternen Mortimer so zu erregen. »Es ist Williams«, antwortete er. »Ich kann ihn nicht zurückrufen. Er erwachte vor etwa einer Stunde und glaubt immer noch, daß er in der Zukunft lebt. Physisch ist er immer noch so, wie er war, als Sie ihn zuletzt sahen.« »Ich komme sofort«, rief ich und legte den Hörer auf. Als ich mich hastig anzog, warf ich einen Blick auf die Uhr. Zwei Uhr fünfzehn. In einer halben Stunde konnte ich im Labor sein. Was würde dort auf mich warten?
Mortimer war mit Williams in dem bleiverkleideten Raum, als ich hinkam. »Claybridge«, sagte er, »ich brauche Ihre Meinung. Sehen Sie sich ihn an und sagen Sie, was Sie davon halten.«
Williams saß immer noch auf dem Stuhl mitten im Raum. Seine Augen waren weit geöffnet, aber er sah ganz offensichtlich weder Mortimer noch mich. Selbst als ich mich über ihn beugte und ihn berührte, war ihm nicht anzumerken, daß er meine Gegenwart wahrnahm. »Das sieht aus wie ein Fall von Katalepsie«, sagte ich, »und doch sind seine Temperatur und sein Puls beinahe normal. Ich möchte sagen, daß er sich immer noch unter Hypnose befindet.« »Dann ist es Selbsthypnose«, sagte Mortimer. »Unter meinem Einfluß steht er nicht mehr.« »Vielleicht haben Sie ihn unwiederbringlich in die Zukunft getrieben«, meinte ich. »Das«, erwiderte Mortimer, »ist genau das, was ich befürchte.« Ich starrte ihn an. »Der einzige Ausweg«, fuhr er fort, »ist, ihn wieder zu hypnotisieren und das Experiment zu Ende zu führen. Vielleicht findet er dann wieder in seinen gewöhnlichen Zustand zurück.« Ich wurde den Gedanken nicht los, daß es Dinge gibt, deren Wissen den Menschen verboten ist und daß Mortimer jetzt dafür bestraft wurde, daß er bewußt in ein solches Geheimnis eingedrungen war. Ich sah ihm zu, wie er sich um den armen Williams bemühte und seine ganze Energie aufbot, um ihn in hypnotischen Schlaf zu versenken. Endlich schlossen sich die glasigen Augen vor ihm, und die Versuchsperson schlief ein. Mit leicht zitternden Händen legte er ihm die Kopfhörer an, und wir gingen in das Labor zurück. »Williams«, rief Mortimer in die Sprechmuscheln, »hören Sie mich?« »Ich höre Sie«, erwiderte die vertraute Stimme. »Sie leben jetzt am vierten Tag. Was sehen Sie?«
»Ich sehe Reptilien, große Echsen, die auf ihren Hinterbeinen gehen, und Vögel mit winzigen Köpfen und Fledermausflügeln, die in den Ruinen der verlassenen Städte Nester bauen.« »Dinosaurier und Pterodaktylus!« stöhnte ich. »Ein zweites Zeitalter der Saurier.« »Die Polareiskappen haben sich zurückgezogen, und jetzt gibt es nur noch eine kleine Eisregion um die Pole«, fuhr die Stimme fort. »Jahreszeiten gibt es nicht mehr. Nur ewige Hitze. Die heißeste Zone ist sogar für die Reptilien unbewohnbar. Das Meer dort kocht. Riesige Ungeheuer werden in ihrem Todeskampf an die Oberfläche getrieben. Selbst die Gewässer im Norden beginnen sich zu erwärmen. Das ganze Land ist mit wuchernder Vegetation bedeckt, von der sich die Reptilien ernähren. Die Luft ist stickig.« Mortimer unterbrach ihn. »Beschreiben Sie den fünften Tag.« Nach der üblichen Pause meldete sich Williams wieder. Die Worte kamen zögernd, als machte ihm jedes einzelne Wort Beschwerden. »Die Reptilien sind verschwunden«, sagte er. »Ich lebe jetzt allein auf dieser sterbenden Welt. Selbst das Pflanzenleben ist verkümmert. Die Vulkane brechen dauernd aus. Die Berge glätten sich, und bald wird alles hier eine Ebene sein. Ein dicker, grüner Schleim sammelt sich über dem Meer, und es ist schwer zu sagen, wo das Land mit seiner verrotteten Vegetation endet und das Meer beginnt. Der Himmel ist safranfarben, wie eine erhitzte Bronzeplatte. In der Nacht schwimmt ein blutroter Mond über den schwarzen Himmel. Auch mit der Schwerkraft hat sich etwas verändert. Ich habe es schon lange vermutet. Heute habe ich es ausprobiert, indem ich einen Stein in die Luft warf. Die Anstrengung des Wurfes hat mich zwei Meter durch die Luft getragen. Es dauerte
beinahe zwanzig Minuten, bis der Stein wieder auf die Erde fiel. Er kam langsam und schräg herab!« »Und wie ist die Atmosphäre?« »Sehr dünn, aber die Luft reicht zum Atmen. Auch das kommt mir seltsam vor.« »Das«, sagte Mortimer zu mir gewandt, »liegt daran, daß sein Körper sich hier im zwanzigsten Jahrhundert befindet, wo es genug Luft gibt. Dort, wo sich sein Geist befindet, wäre die Luft viel zu dünn, um noch organisches Leben zu erhalten. Selbst jetzt ist der geistige Einfluß so stark, daß er meint, die Dichte der Atmosphäre würde abnehmen.« »Kürzlich«, fuhr Williams’ Stimme fort, »ist die Wega zu unserem Polarstern geworden. Viele von den vertrauten Sternbildern sind verschwunden, während neue ihre Stellen eingenommen haben. Ich habe den Verdacht, daß unser Sonnensystem jetzt einen anderen Kurs durch das Universum verfolgt.« »Hören Sie, Williams«, Mortimers Stimme klang trocken, und auf seiner Stirn standen dicke Schweißtropfen. »Jetzt ist der sechste Tag, der letzte Tag. Was sehen Sie?« »Ich sehe eine nackte Ebene grauen Felsens. Die Welt befindet sich in ewigem Zwielicht, weil die Nebel, die vom Meer aufsteigen, die Sonne verdunkeln. Die Deiche um Manhattan sind schon lange zerfallen, aber man würde sie nicht mehr brauchen, selbst wenn es noch Menschen gäbe, denn das Meer trocknet schnell aus. Die Atmosphäre wird dünner. Ich kann kaum noch atmen. Die Schwerkraft geht immer schneller zurück. Wenn ich mich aufrecht hinstelle, schwanke ich, als wäre ich betrunken. Letzte Nacht haben sich die Nebel einmal gelichtet, und ich sah, wie der Mond ins All hinaustrieb.
Blitze zucken über die Erde, aber es donnert nicht. Ringsum ist Schweigen. Ich spreche laut und bemühe mich, Geräusche zu machen, um etwas zu hören… Große Risse erscheinen im Boden, und Rauch und geschmolzene Lava steigen empor. Ich bin nach Manhattan geflohen, damit die Ruinen der hohen Gebäude dieses fürchterliche Schauspiel vor meinen Augen verbergen. Ich habe Angst zu gehen, denn jeder Schritt raubt mir das Gleichgewicht. Die Hitze ist unerträglich. Ich kann nicht atmen.« Dann kam eine kurze Pause. Die Spannung, in die das Experiment uns getrieben hatte, war unerträglich, und dennoch hätte ich mich einfach nicht davon losreißen können. Plötzlich schnitt seine Stimme wie ein Messer durch die Stille! »Die Gebäude!« kreischte sie. »Sie schwanken! Sie beugen sich aufeinander zu! Sie lösen sich auf, und die Trümmer fliegen nach oben, fallen nicht zu Boden! Rings um mich werden winzige Bruchstücke abgestoßen. Oh, diese Hitze! Keine Luft!« Ein gurgelndes Geräusch folgte, und dann: »Die Erde löst sich unter meinen Füßen auf! Das ist das Ende. Die Schöpfung löst sich wieder in Atome auf! O mein Gott!« Ein Schrei ertönte, der immer leiser wurde. Dann war es still. »Williams!« rief Mortimer. »Was ist geschehen?« Keine Antwort. »Williams! Williams!« Mortimer war aufgesprungen und brüllte in die Sprechmuschel. »Hören Sie mich?« Die einzige Reaktion war völliges Schweigen. Mortimer packte mich am Arm und zerrte mich mit sich aus dem Laboratorium den Korridor hinunter.
»Ist – ist er tot?« keuchte ich, während wir liefen. In unserer Hast stießen wir zusammen, als wir in den Raum rannten. Dann blieben wir beide stehen. Der Raum war leer! »Wo…« begann ich ungläubig. »Er kann doch nicht weggegangen sein! Oder?« »Nein«, antwortete Mortimer heiser. Wir drangen weiter in den Raum ein und spähten in jede Ecke. Von der Rückenlehne des Stuhls hingen die Kopfhörer am Kabel, während die zerfetzten und halb verkohlten Überreste eines Anzuges auf der Sitzfläche lagen. Bei diesem Anblick wurde Mortimers Gesicht kalkweiß. In seinen Augen breitete sich langsam der Ausdruck des Verstehens aus. »Was bedeutet das?« fragte ich. Statt einer Antwort deutete er nur. Während ich den Stuhl ansah, fiel der erste Strahl des Morgenlichts durch die Öffnung in der Decke. In dem goldenen Strahl, unmittelbar über dem Stuhl, in dem Williams gesessen hatte, tanzten Milliarden winziger Staubteilchen…
Originaltitel: OMEGA Copyright © 1932 by Teck Publishing Corporation Übersetzt von Heinz Nagel
Edmond Hamilton WELT IM DÄMMERLICHT
Die Stadt Zor reckte ihre Türme in den rötlichen Abendhimmel – spitze Türme, umgeben von einer hohen schwarzen Wand. Zwölf massive Bronzetore befanden sich in jener Wand, und draußen lag die weiße Salzwüste, die jetzt die ganze Erde bedeckte. Eine schimmernde Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte und deren Monotonie von keinem Berg, keinem Tal und keinem Meer unterbrochen wurde. Vor langer Zeit waren die letzten Meere ausgetrocknet, und Berge und Täler waren zu einer ebenen Fläche abgeschliffen. Als die Sonne tiefer sank, stach ein roter Lichtstrahl quer über die Stadt in das oberste Gemach des höchsten Turmes. Die purpurnen Strahlen badeten die sitzende Gestalt von Galos Gann in einem schwachen Lichtschein. Galos Gann spähte über die Wüste hinaus und sagte: »Wieder ein Tag. Das Ende naht.« Das Kinn auf die Faust gestützt, dachte er nach. Die Sonne sank, und die Schatten in der großen Halle wurden dichter und dunkler um ihn. Draußen funkelten vereinzelte Sterne am Himmel und spähten wie weiße Augen höhnisch auf ihn herab. Und dann schien es ihm, als hörte er ihre dünnen silbernen Stimmen einander spöttisch über den Himmel zurufen: »Das Ende naht für das Volk von Galos Gann.« Denn Galos Gann war der letzte aller Menschen. Wie er so in seiner Halle hoch oben in Zor saß, wußte er, daß nirgends auf dem ganzen Wüstenplaneten ein anderer Mensch sich regte oder eine andere menschliche Stimme erschallte. Er war
derjenige, um dessen Schicksal sich schon vor Äonen ein seltsamer Mythos gesponnen hatte – der letzte Überlebende. Er war einsam wie kein Mensch vor ihm einsam gewesen war, denn er war es, der über das Schicksal all der Millionen von Menschen nachdenken konnte, die vor ihm gelebt hatten. Er konnte über Millionen und Abermillionen von Jahren in die Jugend der Erde zurückblicken, als in ihren warmen Meeren das erste Leben erwacht war und schließlich im Laufe der Äonen seinen Höhepunkt in der Entwicklung des Menschen gefunden hatte. Er konnte sich vorstellen, wie der Mensch durch die ersten Jahrtausende der Wildheit zu einer Weltzivilisation emporgestiegen war, die schließlich den Menschen ungeahnte Kräfte verliehen und ihre Lebensspanne auf Jahrhunderte ausgedehnt hatte. Und er konnte auch ermessen, wie schließlich die grimmigen Gewalten der Natur den herrlichen Städten jenes goldenen Zeitalters das Ende gebracht hatten. Langsam, aber unaufhaltsam war im Laufe der Äonen die Hydrosphäre, die Wasserhülle, die die Erde größtenteils bedeckt hatte, verschwunden, und ihre Moleküle hatten sich eines nach dem anderen ins All verflüchtigt. Die Meere waren ausgetrocknet, während die Jahrmillionen dahinstrichen, und Salzwüsten hatten die Erde bedeckt. Und die Menschen hatten das Ende nahen sehen und hatten aufgehört, Kinder in die Welt zu setzen. So saß Galos Gann still da, und nur seine Augen lebten noch in ihm. Er erhob sich schließlich. Eingehüllt in seine wallenden Gewänder, schritt er auf den Balkon hinaus und blickte zu den Sternen empor. »Ihr glaubt, ihr blickt auf das Ende des Menschen herunter. Ihr glaubt, daß aller Ruhm meiner Rasse bald der Vergangenheit angehört. Ihr irrt. Ich bin Galos Gann, der Größte aller Menschen, die je auf der Erde gelebt haben. Und
es ist mein Wille, daß meine Rasse nicht sterben, sondern größerem Ruhm entgegengehen soll.« Die weißen Sterne schwiegen und zogen unverändert über die Wüste und über das nächtliche Zor dahin. Und Galos Gann hob die Hand zum Rigel, zum Canopus und zum Achernar in einer Geste voller Stolz und Majestät. »Irgendwo und irgendwann werde ich die Mittel finden, um die menschliche Rasse am Leben zu erhalten!« rief er ihnen zu. »Ja, und einst wird kommen der Tag, an dem die Meinen euch und alle eure Welten unterwerfen werden!« Dann ging Galos Gann in sein Labor, wo er lange an seinen Geräten arbeitete. Als er sein Werk vollendet hatte, schritt er durch die dunklen Straßen Zors. Klein und allein schien er, als er durch das matte Licht der Sterne schritt, und doch ging er mit hocherhobenem Kopf, denn in ihm flammte der unabänderliche Entschluß, dem Schicksal die Stirn zu bieten. Er erreichte das niedrige Bauwerk, das er gesucht hatte, und die Tür öffnete sich ächzend, als er darauf zuschritt. Er trat ein, und dort, in einem engen, dunklen Raum, war eine Treppe, die in die Tiefe führte. Er kam in eine große unterirdische Halle aus schwarzem Marmor, die ein schwaches blaues Licht erhellte, dessen Ursprung nicht erkenntlich war.
Galos Gann blickte um sich. An den Wänden hingen Hunderte von rechteckigen Platten, auf denen in Zierschrift die Geschichte der Menschheit aufgezeichnet war. Die erste jener Platten zeigte das ursprüngliche protoplasmatische Leben, von dem der Mensch abstammte, und die letzte der Platten zeigte eben diese unterirdische Kammer. In Grüften, die in den Boden dieser Halle eingelassen waren, lagen die Toten der Stadt, die die letzte Generation der Menschheit gebildet hatten.
Eine einzige Gruft stand noch leer und wartete auf Galos Gann, wartete, daß er sich hinlegte, um zu sterben – und da dies das letzte Kapitel der Geschichte der Menschheit sein würde, war es genauso auf der letzten Platte aufgezeichnet. Aber Galos Gann achtete nicht auf die Wände, sondern öffnete eine Gruft nach der anderen. So arbeitete er weiter, bis vor ihm Dutzende von toten Männern und Frauen lagen, alle so vollkommen erhalten, als wären sie nicht tot, sondern schliefen nur. Galos Gann sagte zu ihnen: »Ich glaube, daß ihr, die ihr da liegt, vielleicht dazu ausersehen seid, die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren. Es ist vielleicht nicht richtig, euch in der Ruhe eures Todes zu stören, aber nur im Tode kann ich die finden, die ich brauche, um die Menschheit am Leben zu erhalten.« Dann begann Galos Gann seine Arbeit an den Leibern der Toten, von dem einen Willen beseelt, bis ans Ende seiner Kräfte zu arbeiten. Er hatte auf synthetischem Weg Blut erzeugt, das er in die Adern der Toten füllte. Mittels machtvoller elektrischer Impulse regte er ihre Herzen erneut zum Schlagen an, und bald pochten sie regelmäßig. Und als ihr neues Blut durch ihre Adern flutete, erwachten die Toten langsam wieder zum Bewußtsein, richteten sich auf und sahen einander und dann den wartenden Galos Gann erwartungsvoll an. Galos Gann verspürte mächtigen Stolz, als er diese starken Männer und diese schönen Frauen ansah, die er dem Tode entrissen hatte. Er sagte zu ihnen: »Ich habe euch ins Leben zurückgerufen, weil ich will, daß unsere Rasse nicht stirbt und im Universum der Vergessenheit anheimfällt. Es ist mein Entschluß, daß die Menschheit weiterlebt, und durch euch werde ich diesen Entschluß in die Tat umsetzen.«
Die Kiefer eines der Wartenden mahlten, und eine heisere Stimme drang aus seinem Mund. »Welcher Wahnsinn verblendet dich, Galos Gann? Du hast uns einen Schein von Leben gegeben, aber wir sind immer noch tot, und wie können wir, die wir tot sind, das Leben der Menschen fortsetzen?« »Du bewegst dich, und du sprichst, folglich lebst du«, widersprach Galos Gann. »Ihr, die ihr hier liegt, sollt Kinder zeugen und die Ureltern eines neuen Menschengeschlechtes werden.« Der Tote sagte mit hohler Stimme: »Du kämpfst gegen das Unvermeidbare, wie ein Kind, das sich die Finger an einer Marmortür blutig kratzt. Es ist das Gesetz des Universums, daß alles, was existiert, eines Tages sein Ende nehmen muß. Die Planeten sterben und fallen in die Sonnen zurück, und die Sonnen brennen aus. Wie kannst du also hoffen, daß dieses kosmische Gesetz des Todes nur für die Menschheit nicht gelten soll? Wir haben viele Millionen Jahre gelebt, wir haben gekämpft, gesiegt und sind besiegt worden, haben in der Sonne gelacht und unter den Sternen geträumt und haben unsere Rolle in dem großen Drama der Ewigkeit gespielt. Jetzt ist die Zeit gekommen, daß unsere Rasse stirbt.« Die anderen murmelten zustimmend. »So sei es«, sagten sie, »die Zeit ist gekommen, daß die müden Söhne der Menschen den gesegneten Schlaf des Todes schlafen.« Aber die Augen von Galos Gann flammten, und sein unbeugsamer Wille gab sich nicht geschlagen. »Eure Worte sollen euch nichts nützen«, sagte er zu den Toten. »Trotz eurer feigen Resignation sollt ihr weiterleben und die blinden Gesetze des Kosmos zum Kampfe fordern. Deshalb sollt ihr mir gehorchen, denn ihr wißt, daß ich mit meinen Kräften und meinen Kenntnissen euch meinen Willen
aufzwingen kann. Ihr seid jetzt nicht tot, sondern ihr lebt, und ihr sollt die Stadt Zor wieder bevölkern.« Mit diesen Worten schritt Galos Gann die Wendeltreppe hinauf. Hilflos und niedergeschlagen folgten ihm die Toten.
Es war ein seltsames Schauspiel, als Galos Gann seine schweigende Schar in die sternenerhellten Straßen der Stadt hinausführte. Und von da an war Zor bei Tag und bei Nacht ein seltsamer Anblick, bevölkert von jenen, die die Stadt schon einmal bevölkert hatten, ehe sie gestorben waren. Galos Gann hatte entschieden, daß sie in den gleichen Häusern wohnen sollten, in denen sie schon einmal gelebt hatten, jene, die einst Mann und Frau gewesen waren, sollten wieder Mann und Frau sein, und in allen Dingen sollten sie sich so verhalten wie vor ihrem Tode. So schritten sie den ganzen Tag unter der glühenden Sonne in Zor umher und taten so, als lebten sie wirklich. Sie schritten steif durch die Straßen und grüßten einander mit heiseren Stimmen, und jene, die früher einem Beruf nachgegangen waren, taten das auch heute wieder, so daß die Stadt allem Anschein nach wirklich erneut zum Leben erwacht schien. In seinem Turmgemach sah Galos Gann ihnen zu. Seine Hoffnung ließ nicht nach, als die Monate einer nach dem anderen in der von den Toten bewohnten Stadt verstrichen. Er sagte zu* sich: »Diese Menschen leben nicht wirklich – irgend etwas fehlt, das meine Kräfte nicht bewirken konnten. Aber selbst so wie sie sind, werden sie der Menschheit zu einem neuen Beginn im Universum verhelfen können.« Die langen Monate gingen dahin, und endlich wurde einem der toten Paare in der Stadt ein Kind geboren. Heiß regte sich die Hoffnung in Galos Gann, als er das hörte. Groß war seine Erregung, als er durch die Stadt eilte, um sich mit eigenen
Augen von dem Wunder zu überzeugen. Aber als er das Kind sah, spürte er eine eisige Hand an seinem Herzen. Dieses Kind war ebenso wie die Eltern, denen es geboren worden war. Es lebte nicht so, wie ein Mensch lebte. Es bewegte sich und konnte sehen und gab Laute von sich, aber seine Bewegungen waren steif, und seine Schreie eigenartig, und in seinen Augen schien der Tod zu lauern. Doch noch immer gab Galos Gann seinen großen Plan nicht auf. Er wartete auf das nächste Kind. Aber auch das nächste Kind war so wie das erste. Und nun verließ auch ihn die Hoffnung. Er rief die toten Bürger von Zor zusammen und sprach zu ihnen: »Warum bringt ihr keine wirklich lebenden Kinder zur Welt, nachdem ihr nun doch gesehen habt, daß ihr selbst lebt? Tut ihr das, um meine Pläne zu durchkreuzen?« Einer der hohläugigen Toten gab ihm die Antwort. »Der Tod vermag ebensowenig Leben hervorzubringen, wie Licht aus der Dunkelheit entstehen kann. Trotz deiner Worte wissen wir, daß wir tot sind, und wir können nur den Tod hervorbringen. Glaube jetzt endlich, daß dein wahnsinniger Plan fruchtlos ist, und erlaube uns, in den Frieden des Todes zurückzukehren, damit die menschliche Rasse endlich dem ihr bestimmten Ende entgegengehen kann.« Galos Gann sagte mit düsterer Stimme: »So geht denn hin in das Nichts, das ihr euch ersehnt, da ihr meinen Zwecken nicht dienen könnt. Aber wisset, daß ich weder jetzt noch jemals meinen Plan aufgeben werde, die menschliche Rasse aufs neue zu erwecken.« Die Toten gaben keine Antwort, aber sie kehrten ihm die Rücken zu und trotteten schweigend durch die Straßen der Stadt auf jenes niedrige Gebäude zu, das sie kannten. Sie schritten wortlos die Wendeltreppe in die blau erleuchtete Kammer der Grüfte hinunter und legten sich dort erneut in die
ihnen gehörenden Särge. Und die beiden Frauen, die Kinder geboren hatten, legten sich mit ihren Säuglingen an der Brust zum Schlafe hin. Dann zog ein jeder den Steindeckel, der die Gruft schon einmal bedeckt hatte, über seine Krypta, bis alle wieder bedeckt waren. Und wieder herrschte in der Todeskammer von Zor feierliches Schweigen.
Von seinem Turmgemach aus hatte Galos Gann ihnen nachgesehen. Seit zwei Tagen war er nun wieder allein in der schweigenden Stadt. Dann sagte er zu sich: »Es scheint, daß meine Hoffnung vergeblich war, und daß die Menschheit in der Tat mit mir sterben soll, denn jene, die schon einmal tot waren, können nicht die Urväter einer neuen Rasse sein. Aber wo in aller Welt sind noch lebende Männer und Frauen, wie ich sie brauche, um meine Pläne durchzuführen?« So sprach er, und dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. Er murmelte zu sich: »Es gibt keine lebenden Männer und Frauen der heutigen Welt. Aber was ist mit den Trillionen von Männern und Frauen, die in der Vergangenheit auf der Erde gelebt haben? Jene Trillionen trennt nur der Abgrund der Zeit von uns. Und doch, wenn es mir irgendwie gelänge, diesen Abgrund zu überbrücken, könnte ich viele lebende Menschen aus der Vergangenheit in die heutige Zeit herüberziehen.« Dieser Gedanke ließ Galos Gann nicht mehr los. Und er, der größte Gelehrte, den die Erde je besessen hatte, begann in jener Nacht mit seinem gewagten Experiment, lebende Männer und Frauen über den Abgrund der Zeiten hinweg in seine Zeit zu ziehen, um sie zu Urvätern einer neuen Rasse zu machen. Tag für Tag, während die Sonne auf das schweigende Zor herunterglühte, und Nacht für Nacht, während die majestätischen Sterne vorüberzogen, plagte sich der alte
Gelehrte in seinem Labor. Und so entstand Stück für Stück der mächtige Apparat aus Bronze und Quarz, der die Zeitmauer durchstoßen sollte. Endlich war der Mechanismus fertiggestellt, und Galos Gann schickte sich an, sein Experiment zu beginnen. Trotz seines unbeugsamen Entschlusses zitterten seine Hände, als er die Schalter umlegte, die die mächtige Maschine zum Leben erweckten. Er wußte wohl, daß sein Versuch, über den undenkbaren Abgrund der Zeiten hinwegzugreifen, so ungeheuer war und die Grundfesten des Kosmos erschüttern konnte, daß leicht eine alles zerstörende Katastrophe daraus werden konnte. Und dennoch, getrieben vom mächtigen Stolz, legte Galos Gann den Schalter mit zitternden Fingern um. Ein Donnern von wahrhaft kosmischen Ausmaßen und ein Zischen von blendend weißer Energie erfüllte den Zylinder, und die ganze Stadt erbebte in ihren Grundfesten, als erschüttere sie ein mächtiger Windstoß. Galos Gann war sich wohl bewußt, daß die titanischen Kräfte, die er entfesselt hatte, im Inneren dieses Zylinders das Fundament von Raum und Zeit selbst angriffen und die bisher unangetasteten Dimensionen des Universums bedrohten. Die weiße Kraft flammte auf, der Donner rollte, und die Stadt bebte, bis er schließlich den Schalter wieder zurückschob. Dann erstarben der Donner, der Blitz und das Beben, und während Galos Gann in den Zylinder blickte, rief er triumphierend: »Ich habe gesiegt! Der Geist von Galos Gann hat über die Mächte der Zeit und des Schicksals triumphiert!« Denn dort im Zylinder standen ein lebender Mann und eine Frau, die die seltsame Tuchkleidung vergangener Epochen trugen. Er öffnete die Schleuse des Zylinders, und der Mann und die Frau traten langsam ins Freie. Galos Gann sagte:
»Ich habe euch über den Abgrund der Zeit herübergeholt, damit ihr die Eltern einer neuen Generation werdet. Fürchtet euch nicht! Ihr seid nur die ersten von vielen, die ich aus der Vergangenheit auf dem gleichen Weg herüberholen werde.« Der Mann und die Frau sahen Galos Gann an, und plötzlich begannen beide zu lachen. Ihr Gelächter war nicht ein Lachen der Freude, sondern ein hysterischer Schrei des Wahnsinns. Und Galos Gann sah, daß sie beide den Verstand verloren hatten. Dann begriff er. Mittels seiner übermenschlichen Wissenschaft war es ihm gelungen, ihre lebenden Leiber über den Abgrund der Zeitalter unversehrt herüberzuholen, aber dabei hatte er ihren Verstand zerstört. Niemand konnte ihren Geist über den Abgrund der Zeiten herüberholen, ohne ihn zu vernichten, denn der Geist besteht nicht aus Materie und gehorcht nicht den Gesetzen der Materie. Und doch war Galos Gann so von seinem ehrgeizigen Plan erfüllt, daß er sich auch jetzt noch weigerte, ihn aufzugeben. »Ich werde andere Leute holen«, sagte er zu sich, »und wahrlich, einer von ihnen wird auch mit unversehrtem Geist hindurchkommen.« So betätigte er in den Tagen und Nächten, die nun folgten, wieder und wieder jenen Mechanismus und raubte viele Dutzende Männer und Frauen aus ihrer eigenen Zeit und brachte sie über die Jahrhunderte nach Zor. Aber immer wieder – wenn er auch ihre Leiber unversehrt hinüberbrachte – konnte er ihren Geist nicht mitbringen, so daß nur Männer und Frauen, die der Wahnsinn erfaßt hatte, aus dem Zylinder traten. Diese Leute wohnten in Zor und tobten durch die Straßen. Ihre schrillen Schreie hallten von allen Ecken wider. Sie erkletterten die massiven Türme und schrien von ihnen auf die tote Stadt und die Wüste hinunter. Es schien, daß selbst die
nahezu ewige Stadt sich vor dieser Horde fürchtete, die nun in ihr hauste. Schließlich gab Galos Gann auch dieses Experiment auf, nachdem er sich eine Zeitlang ohne Erfolg bemüht hatte, ihren Geist wiederherzustellen. Doch das überstieg selbst seine Fähigkeiten. So ging er schließlich hin und zerstörte die Wahnsinnigen bis auf den letzten Mann und gewährte ihnen die Gnade des Todes. Und wieder zog das Schweigen in Zor ein, und der letzte Mensch auf Erden schritt langsam durch die Straßen.
Schließlich kam der Tag, an dem Galos Gann auf seinen Balkon hinaustrat und starr über die weite, leblose Wüste hinausblickte. Er sagte: »Ich suchte Menschen aus dem Reich des Todes zurückzurufen, dann aus der Vergangenheit, aber weder aus dem Tod noch aus der Vergangenheit scheint es, daß jene kommen können, die unsere Rasse zu neuem Leben erwecken können. Wie kann ich aber hoffen, in einem kurzen Augenblick Menschen zu schaffen, wo es doch Millionen und aber Millionen von Jahren dauerte, bis die Kräfte der Natur sie hervorbrachten? So werde ich die neue Rasse auf die gleiche Weise erzeugen, wie die erste gezeugt wurde. Ich werde das Antlitz der Erde verändern, auf daß ihr neues Leben entspringe, wie es schon einmal geschah, und einst wird es sich aus diesem Leben neues menschliches Leben entwickeln.« Von diesem Beschluß beseelt, machte sich Galos Gann, der letzte und größte Gelehrte der Erde, an eine atemberaubende Aufgabe, die zuvor noch keines Menschen Geist ersonnen hatte. Zuerst sammelte er all die Kräfte, die seine Rasse je gekannt hatte und von denen er selbst viele entdeckt hatte.
So bekam er die Mittel, einen Schacht in die Erde zu bohren. Durch Sandstein, Granit und Gneis bohrte er, bis er die Felskruste durchstoßen hatte und sich tief in dem mächtigen Kern aus Nickel-Eisen befand, der das Herz des Planeten darstellte. In jenem Kern erbaute er eine weite Kammer und füllte sie mit den Geräten und Mechanismen an, die er für die gigantische Aufgabe benötigen würde, die vor ihm lag. Als alles, was er brauchte, sich in jener tiefen Kammer befand, zog er sich selbst dorthin zurück und schloß den Schacht zur Oberfläche. Jetzt begann Galos Gann die Erde zu erschüttern. Aus seiner Kammer in der Tiefe löste er zu genau vorausberechneten Zeiten Impulse aus. Der Rhythmus dieser Impulse war genau abgestimmt. Zuerst hatten sie keine Wirkung auf den mächtigen Globus, aber nach und nach wuchs ihre Wirkung, wurde immer stärker, bis schließlich die ganze Felskruste zu erzittern begann. Ungeheurer Druck begann sich auszubreiten, und Hitzewellen im Innern der Felsen schmolzen sie zu Lava. Und diese geschmolzene Lava barst in feurigen Massen rings um den Globus zur Oberfläche, wie sie es schon einmal getan hatte, als die Erde noch jung gewesen war. Galos Gann beobachtete in seiner Kammer, was an der Erdoberfläche vorging, und sah die hochgeschobenen Massen geschmolzener Magma, die ihre Gase freigaben, wie sie es schon einmal getan hatten. Eben diese Gase waren es, aus denen sich eine neue Hydrosphäre bildete, die die Erdkugel in Wasserdämpfe hüllte. Die Erde machte noch einmal alle jene Veränderungen durch, die sie schon vor Äonen einmal erlebt hatte. Als ihre geschmolzene Oberfläche abzukühlen begann, fiel Regen aus
den Wolken und sammelte sich auf der zerfetzten Oberfläche der Welt zu neuen Meeren. Galos Gann wurde Zeuge, wie komplizierte Verbindungen sich an den Küsten der warmen Meere aus Kohlenstoff und Wasserstoff und Sauerstoff und anderen Elementen aufbauten. Unter der photosynthetischen Wirkung des Sonnenlichtes entwickelte sich aus diesen organischen Verbindungen aufs neue der Beginn des protoplasmatischen Lebens. »Der neue Zyklus des irdischen Lebens hat begonnen«, sagte Galos Gann zu sich. »Dieses Leben muß sich unter denselben Bedingungen und auf dieselbe Art und Weise weiterentwickeln, wie schon einmal, und eines Tages wird der Mensch entstehen und aufs neue die Erde bevölkern.« Er legte sich in seiner Kammer tief im Innern der Erde zum Schlaf. »Ich werde jetzt im künstlichen Kälteschlaf ruhen, bis die neue menschliche Rasse sich entwickelt haben wird«, sagte Galos Gann. »Wenn ich wieder erwache, wird die menschliche Rasse erneut die Erde bewohnen, und ich werde sie sehen und in Frieden sterben können, in dem Wissen, daß der Mensch lebt.« So sprach er, faltete seine Arme über der Brust, und der Kälteschlaf begann seine Wirkung auf ihn zu haben. Kaum hatte er seine Augen geschlossen, schien es ihm, daß er schon wieder erwachte, denn im Schlaf sind die Ewigkeiten und ein Augenblick dasselbe.
Eine kleine Weile konnte Galos Gann überhaupt nicht glauben, daß er die Äonen durchschlafen hatte, für die er die Wirkung des Mittels berechnet hatte. Aber seine Uhren, die auf dem Zerfall des Urans beruhten, zeigten ihm, daß er tatsächlich viele Millionen und Abermillionen von Jahren geschlafen hatte.
Und dann wußte er, daß er jetzt den Augenblick seines höchsten Triumphes erreicht hatte. In diesen langen Jahrtausenden mußte sich eine neue menschliche Rasse entwickelt haben, die jetzt die Oberfläche der Erde bewohnen würde. Seine Hände zitterten, als er sich anschickte, einen neuen Schacht zur Oberfläche zu bohren. »Der Tod ist mir nicht mehr fern«, sagte Galos Gann, »aber der erste Anblick, den diese Augen haben sollen, soll der der neuen Rasse sein, die ich selbst geschaffen habe, um das Werk der alten fortzusetzen.« Er trat ins Licht der Sonne hinaus. Er blickte sich nach allen Seiten um. Er befand sich inmitten einer weißen Salzwüste, die sich monoton bis zum Horizont erstreckte und nirgends von einem Berg oder von einem Tal unterbrochen wurde. Eine eisige Hand griff nach seinem Herzen, als er so im gleißenden Sonnenlicht der einsamen Wüste stand. »Ist es möglich«, fragte er sich, »daß die Kräfte der Natur die Erde erneut ausgetrocknet haben, wie sie es schon einmal taten? Und trotzdem, irgendwo auf der Erde müssen noch die neuen Menschen sein, die die Zeit hervorgebracht hat.« Endlich entdeckte er am Horizont die fernen Zinnen einer Stadt. Als er sich ihr näherte, begann er sich wieder zu sorgen. Es war eine Stadt mit vielen Türmen, die von einer hohen schwarzen Mauer umgeben war, und in vieler Hinsicht glich sie der Stadt Zor, die vor so langer Zeit vergangen war. Er erreichte eines der offenen Tore und trat in die Stadt. Wie ein Schlafwandler schritt er durch die Straßen und blickte sich nach allen Seiten um. Diese Stadt war ebenso leblos wie einst das alte Zor. Eine furchtbare Ahnung überkam ihn, als sein Weg ihn in den höchsten Turm führte und dort in ein düsteres Gemach.
Dort, am Ende eines langen Korridors, saß ein uralter Mann, eingehüllt in seine Gewänder. Ein Mann, der dem Tode sehr nahe schien. Galos Gann sprach ihn an: »Wer bist du, und wo sind die anderen?« Der Alte hob den Kopf und blickte Galos Gann aus stumpfen Augen an. »Es gibt keine anderen, denn ich bin der letzte Überlebende der menschlichen Rasse. Vor Millionen und aber Millionen von Jahren hat unser Leben im Protoplasma der warmen Meere unseres Planeten begonnen und sich durch viele Formen zum Menschen entwickelt, und die Zivilisation und die Macht des Menschen wurde groß. Aber dann trockneten die Meere aus, und die Erde verdorrte, und so auch unsere Rasse, bis ich allein in dieser toten Stadt übrigblieb. Und mein eigener Tod steht nahe bevor.« Mit diesen Worten fiel der alte Mann nach vorn, seufzte noch einmal und blieb leblos auf dem Boden liegen. Und Galos Gann, der letzte Mensch, blickte über seinen Leichnam hinweg auf die untergehende Sonne…
Originaltitel: IN THE WORLD’S DUSK Copyright © 1936 by Popular Fiction Publishing Company Übersetzt von Heinz Nagel