ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 18 von Poul Anderson Ray Bradbury Leigh Brackett
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 18 von Poul Anderson Ray Bradbury Leigh Brackett
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2916 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Birgit Reß-Bohusch und Otto Kühn
Umschlagillustration: Davis Meltzer/ACE Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02916 7
Sie hatten den UN-Mensch in eine Falle gelockt. Als sie ihn einem brutalen Verhör unterzogen, tötete er sich selbst. Der Weg schien frei, die Macht auf der Erde an sich zu reißen. Aber da tauchte der UNMensch wieder auf, dieser verhaßte Agent der Vereinten Nationen, der an vielen Stellen zugleich sein konnte und doch nur eine Identität hatte. Die Drahtzieher der Verschwörung lösten eine weltweite Hexenjagd aus, um alle UN-Leute zur Strecke zu bringen. DER UN-MENSCH von Poul Anderson Hugh Starke war auf der Flucht. Der Diebstahl der Million Credits war sein größter und letzter Coup, denn diesmal waren die Verfolger schneller als er. Sie Schossen sein Raumschiff über den Venus-Sümpfen ab. Als er erwachte, befand sich sein Geist in einem anderen Körper, während Hugh Starkes Leiche zwischen den Trümmern seines Schiffes lag. Die Menschen, in deren Mitte er sich jetzt befand, nannten ihn Conan und einen gemeinen Verräter, der sein eigenes Volk an den verhaßten Feind verraten hatte. Und während er sich über die neue Situation Klarheit zu verschaffen versuchte, merkte Hugh Starke, daß sein Geist beherrscht wurde von den magischen Kräften der zauberhaft schönen, aber abgrundbösen Rann, die ihn benützte, um den Untergang von Conans Volk zu vollenden. DIE VENUS-HEXE von Ray Bradbury und Leigh Brackett
Poul Anderson DER UN-MENSCH
Endlich waren sie gegangen. Ihr Boot zischte durch die Luft, mit sechs Personen an Bord. Donner hatte sie von seinem Balkon aus beobachtet. Er hatte diese Wohnung sorgfältig ausgewählt, so daß er sie sehen konnte, als sie auf die Landerampe hinausgetreten und in das kleine Fahrzeug geklettert waren. Nun lagen die Räume verlassen, und die Zeit des Handelns war gekommen. Einen Augenblick zauderte er. Viele Tage hatte er auf diese Gelegenheit gewartet, aber wer begibt sich schon freiwillig in eine Falle? Seine Blicke wanderten zu dem Bilderrahmen auf seinem Schreibtisch. Die dunkelhaarige schöne junge Frau mit dem Kind auf dem Arm schien ihn anzusehen; ihre Lippen waren leicht geöffnet, so, als wolle sie ihm etwas sagen. Er wollte auf den Knopf drücken, der den Filmstreifen in Bewegung setzte, aber er wagte es nicht. Sanft strich er mit dem Finger über das Glas. »Jeanne«, flüsterte er. »Jeanne, mein Liebling.« Dann machte er sich an die Arbeit. Er legte den bunten Hausanzug ab und zog eine graue Montur an, die sich von der Gebäudewand nicht abheben würde. Dazu eine ganz gewöhnliche glatte Maske mit stumpfer Oberfläche, die keine Lichtstrahlen reflektierte und sein Gesicht verdeckte. An seinem Gürtel befestigte er einen flachen Werkzeugbehälter, und seine Fingerkuppen tauchte er in Kollodium ein. Nachdem
er noch ein aufgewickeltes dünnes Seil ergriffen hatte, ging er wieder auf den Balkon hinaus. Hier, zweihundertvierunddreißig Stockwerke über dem Erdboden, bot sich ihm ein weiter Ausblick über die Ebenen von Illinois. So weit er sehen konnte, war die leicht hügelige Ebene bis zum Horizont mit grünem Getreide bewachsen, über dem sich die riesige Glocke des Himmels wölbte. Hier und da hatte man kleine Baumgruppen angepflanzt, und das weiße Band einer alten und längst nicht mehr benutzten Fernstraße durchzog die Felder. Sonst unterbrach nichts diese riesige Anbaufläche. Das Gelände der »Midwest Agricultural« reichte weiter, als das Auge sehen konnte. Links und rechts ragten die senkrechten Wände des Wohnblocks aus den Bäumen und Gärten des Parks heraus. Das Gebäude war drei Kilometer lang und eine Stadt für sich, ein Berg aus Wänden und Fenstern. Der Wohnblock beherrschte die Ebene, reckte sich mit kühner Arroganz himmelwärts und endete Sechsundsechzig Stockwerke über Donners Wohnung. Über das Wehen des sanften Präriewindes, der leicht an Donners Kleidung zupfte, konnte er ein unterdrücktes, nie verstummendes Summen hören, das leise Dröhnen der Maschinen und die undefinierbaren Geräusche menschlichen Regens und Schaffens – es war die Stimme des Mammutgebäudes, so als sei es ein Lebewesen von ungeahnten Ausmaßen. Donner sah keine anderen Bewohner. Die Balkone hatten Verkleidungen, so daß man von den Seiten nicht in die Nachbarbalkone hineinsehen konnte. Und wollte jemand vom Park heraufsehen, hinderte ihn das dichte Laub der Bäume daran. Die paar glänzenden Lichtpunkte am Himmel waren Flugzeuge, aber die störten ihn nicht. Donner befestigte die Seilrolle am Balkongeländer und ergriff das Ende der Schnur. Einen Augenblick stand er so da
im strahlenden Sonnenlicht und im sanften Wind, blickte noch einmal über die schier endlosen Ebenen und zum weißbewölkten Himmel empor. Er war groß, hatte breite Schultern und einen mächtigen Brustkorb. Sein naturblondes Haar war braun gefärbt, und Kontaktlinsen machten seine ursprünglich blauen Augen braun. Abgesehen davon war sein Gesicht nur wenig verändert worden – die breite Stirn, die hohen Backenknochen, das feste, kantige Kinn und die kräftige Nase waren dieselben geblieben. Er lächelte, holte tief Luft und schwang sich über das Balkongeländer. Geräuschlos wickelte sich das Seil von der Rolle ab. Er sank tiefer, vorbei an den Stockwerken. Dieses Unternehmen war bei Tageslicht nicht ganz risikolos; denn leicht konnte jemand um die Seitenwand des Balkons blicken und ihn entdecken. Auch das ungeschriebene Gesetz, sich in die Angelegenheiten anderer nicht einzumischen, würde niemand davon abhalten, die Hauspolizei zu alarmieren. Die Außenwand huschte vorbei. Eins, zwei, drei – er zählte die Stockwerke ab, während er vorüberschwebte – und nachdem er acht Stockwerke tief gefallen war, gab er mit der freien Hand dem Seil einen Ruck, und die Rolle bremste den Fall ab. Er hing außen an der Wand zwischen Himmel und Erde. Unendlich tief ging es hinunter bis zum Erdboden. Donner grinste und begann, am Seil hängend, hin und her zu pendeln. Mit jedem Schwung vergrößerte er den Bogen, bis seine Schuhe die Hauswand berührten. Er stieß sich kräftig ab, schwang von der Hauswand weg. Mit der freien Hand griff er um die Kante oder Verkleidung, bekam das Balkongeländer zu fassen und hielt sich daran fest. Mit einem schmerzhaften Ruck kam sein Körper zur Ruhe.
Dann zog er sich mit der anderen Hand um die Ecke der Balkonwand, schwang beide Beine über das Geländer und stand schließlich auf dem Balkon. Unter der grauen Montur und der schweißnassen Haut fühlten sich seine Sehnen an, als müßten sie jeden Augenblick zerreißen. Erleichtert fühlte er den festen Boden unter den Füßen, band das Seil ans Balkongeländer und nahm den Werkzeugbehälter vom Gürtel. Die Nadel seines Elektronen-Detektors zuckte. Die Balkontür, die ins Innere der Wohnung führte, war also mit einer Warnanlage versehen. Vorsichtig suchte Donner den Balkon ab, entdeckte den Draht und zerschnitt ihn. Dann holte er einen kleinen Schneidbrenner aus dem Werkzeugbehälter und trat an die Tür. Hinter der durchsichtigen Kunststoffscheibe lagen die Räume verlassen. Die Wohnung war normal möbliert. Donner konnte nichts Besonderes entdecken – und doch schien es ihm, als lauere etwas auf ihn. Einbildung, dachte Donner ungeduldig, dann schnitt er das Schloß aus der Tür heraus. Als er eintrat, reagierte die automatische Reinigungsanlage, und die Staubansaugdüsen schlossen sich. Donner brach das Schloß zum Schreibtisch auf und durchwühlte den Inhalt. Einige codierte Schriftstücke steckte er in die Tasche, die anderen interessierten ihn nicht. Aber es muß noch mehr Material vorhanden sein, überlegte er. Schließlich befand er sich hier in ihrem Bezirkshauptquartier! Mit seinem Metalldetektor untersuchte er die Wohnung nach verborgenen Safes. Als er ein größeres Metallstück in einer Wand festgestellt hatte, schnitt er die Wandverkleidung mit dem Brenner weg. Die Bande würde ohnehin merken, daß man in ihr Versteck eingebrochen war, und sofort ausziehen. Durch die angekohlte und geschmolzene Öffnung in der Wand schimmerte es metallisch. Es war ein guter Safe, und Donner hatte keine Zeit, sich mit dem Öffnungsmechanismus
zu beschäftigen. Er schloß einen Elektrobohrer an, und der Diamantbohrkopf schnitt ein kleines Loch in das Schloß. Mit einer Injektionsspritze führte er einige Kubikzentimeter Levinit ein und zündete es mit einem Ultrakurzwellen-Signal. Das Schloß zerriß, und Donner öffnete die Tür des Safes. Es blieb ihm gerade noch Zeit, die Stet-Pistole im Safeinnern zu erkennen und diese schreckliche Tatsache zu begreifen. Dann schoß die Pistole drei Nadeln in seine Brust, und Finsternis umfing Donner. Ein-, zweimal hatte er aufwachen, hatte er sich zum Bewußtsein durchkämpfen wollen, aber jedesmal hatte ihn eine Injektion zurückgeworfen. Jetzt, als sich sein Bewußtsein einstellte und die Finsternis wich, ließen sie ihn in Ruhe. Und das war noch schlimmer. Donner versuchte sich zu bewegen. Sein Körper hing in den Riemen, die ihn auf einen Stuhl fesselten. Die sechs, die vor ihm standen, kamen ihm wie körperlose Gestalten eines Fiebertraumes vor einem Hintergrund aus Schatten und Schemen vor. »Er kommt zu sich«, sagte der dürre Mann. Der gedrungene, grauhaarige Mann in dem konservativen blauen Anzug warf einen Blick auf seine Uhr. »Ziemlich schnell«, bemerkte er, »wenn man bedenkt, wie stark die Dosis war, die er bekommen hatte. Ein gesunder, kräftiger Typ.« Donner brachte murmelnde, unverständliche Laute hervor. Ein säuerlich-bitterer Geschmack lag ihm auf der Zunge. »Gib ihm Wasser«, sagte ein bärtiger Mann. Das Gesicht des Dürren war wie ein weißer Fleck gegen den unruhigen, undeutlichen, dunklen Hintergrund des Raumes. Aber in seinen Augen brannte fiebriger Glanz. »Er verdient es nicht, daß man ihm Wasser gibt – dieser UNMensch!« fauchte er.
»Gib ihm Wasser!« befahl jetzt der Grauhaarige mit ruhiger Stimme. Der ausgemergelte jüngere Mann ging widerwillig zu einem schmutzigen Waschbecken, das Risse und Sprünge aufwies. Er ließ ein Glas voll Wasser laufen. Donner trank es gierig, um den Brand der Trockenheit in seiner Kehle zu löschen. Der Bärtige näherte sich mit einer Injektionsnadel. »Ein Stimulans«, erklärte er. »Damit kommen Sie rascher zu sich.« Die Nadel drang in Donners Arm, und er spürte, wie sein Herzschlag schneller wurde. Sein Kopf schwamm nach wie vor in stechenden Schmerzen, aber sein Blick wurde klarer, und er erkannte mit wachsender Deutlichkeit, was um ihn herum vorging. »Wir waren doch nicht so sorglos, wie Sie vielleicht gedacht haben«, sagte der gedrungene, grauhaarige Mann. »Diese StetPistole war so eingestellt, daß sie jeden niedernadelte, der den Safe öffnete, ohne vorher auf den richtigen Knopf gedrückt zu haben. Und es wurde natürlich ein Funksignal ausgelöst, das uns auf schnellstem Wege zurückbrachte. Wir haben Sie bis jetzt bewußtlos gehalten.« Donner blickte sich um. Der Raum war kahl. Der Staub und die Spinngewebe vieler Jahre zeigten, daß er lange Zeit nicht benützt worden war. Ein paar längst aus der Mode gekommene Möbelstücke aus Holz duckten sich wie häßliche Tiere gegen die schmutzigen Wände, deren Verputz Risse aufwies und stellenweise herabgefallen war. Eine Scheibe des einzigen Fensters war zerbrochen und mit Lumpen zugestopft. Der Schmutz lag so dick auf den Scheiben, daß Donner nicht hätte sagen können, ob es draußen Tag oder Nacht war. Aber wahrscheinlich war es draußen schon dunkel. Das einzige Licht im Raum spendete eine Fluoro-Lampe auf dem Tisch.
Er mußte sich im alten Chicago befinden, überlegte Donner, und wieder überkam ihn Übelkeit. In einem der verfallenen Gebiete, die die noch bewohnten Stadtteile umschlossen. Diese verlassenen Gegenden waren es nicht wert, daß man sie abriß, und bildeten Schlupfwinkel für Ratten und anderes Ungeziefer. Eines Tages, früher oder später, würde eine der großen AgrarGesellschaften das Gelände von der Regierung erwerben und alles niederreißen. Aber so weit war es noch nicht, und die leeren Slums – auf Geheiß der Regierung geräumt – boten prächtige Verstecke für jedermann. Donner mußte an die unzähligen baufälligen Gebäude denken, eingehüllt in Nacht und Finsternis. Er mußte an die ausgehöhlten Ruinen denken, die sich in den Nachthimmel reckten, an die gedämpften Echos zwischen den Häuserwänden, die das Geräusch der Schritte auf aufgebrochenen, grasüberwucherten Straßen zurückwarfen, an das müde Ächzen von Balken, an das Rascheln winziger Füße im Schutt, an das Funkeln kleiner Knopfaugen aus der undurchdringlichen Dunkelheit, an die Bedrohung und Einsamkeit, die weiterreichte, als er laufen konnte. Verlassen, allein. Hier war er einsamer als draußen in den Fernen des Weltalls – allein in der Finsternis, umringt von seinen Todfeinden, während das Verderben schon im Schatten hinter ihnen lauerte. Sie würden ihn töten. Er wußte mit mitleidloser Klarheit, daß er sterben würde, und die Erkenntnis war unerträglich. Jeanne, Jeanne, mein Liebling. »Sie werden in der Wohnanlage unter dem Namen Bart Roberts geführt«, sagte die Frau mit völlig nüchterner, gefühlloser Stimme. Sie war mager, fast so dürr wie der junge Mann neben ihr. Ihr Gesicht war scharf, der Ausdruck sauer. Sie trug kurzgeschnittenes Haar, und ihre Stimme klang fanatisch. »Aber Ihre Tätowierung ist gefälscht. Sie besteht nur
aus Farbe, die sich unter Säure auflöst. Wir haben Ihnen den Daumenabdruck abgenommen, zusammen mit Ihrer Nummer auf einen Scheck übertragen und die Bankzentrale angerufen, um festzustellen, ob diese Angaben echt seien. Die automatische Registratur bestätigte, daß Sie Bart Roberts seien und mit Ihrem Konto alles in Ordnung ginge.« Sie beugte sich vor. Ihr blasses Gesicht wirkte wie ein körperloser weißer Fleck in der Düsternis des Raumes. Sie zischte Donner an: »Wer sind Sie wirklich? Nur ein Mann vom Geheimdienst kann Täuschungen erfolgreich aufrechterhalten. In wessen Diensten stehen Sie?« »Das ist doch ganz klar. Oder?« brauste der Dürre auf. »Er ist nicht vom amerikanischen Sicherheitsdienst. Schließlich wissen wir das ganz genau. Folglich muß er ein Mann der UN sein.« Seine Stimme hatte haßerfüllten, unmenschlichen Klang angenommen. »Der UN-Mensch!« wiederholte er. »Unser größter Feind«, bemerkte der Gedrungene nachdenklich. »Der UN-Mensch – nicht etwa ein gewöhnlicher Agent mit den Möglichkeiten und Grenzen eines Menschen, sondern der unbezwingbare, geheimnisumwitterte Agent, der uns schon laufend Schwierigkeiten bereitet hat.« Er reckte seinen grauhaarigen Kopf vor und starrte Donner ins Gesicht. »Es stimmt mit den Beschreibungen, über die wir verfügen, überein«, fuhr er fort. »Aber auf der anderen Seite können die Leute von der UN eine ganze Menge durch Gesichtsoperationen und kosmetische Behandlung erreichen. Nicht wahr? Und der UN-Mensch ist bereits mehrfach ums Leben gekommen. Erst vergangenen Monat haben unsere Leute einen Agenten in Hongkong erwischt und berichtet, daß es niemand anders als unser Erzfeind gewesen sein mußte, denn nur er hätte ihnen so lange entgehen können.« Das mußte höchstwahrscheinlich Weinberger gewesen sein, überlegte Donner. Er wurde müde. Sie waren so wenige, und
einer nach dem anderen versank in der Finsternis – wurde gejagt, gestellt und getötet. Er war als nächster an der Reihe, und nach ihm – »Ich verstehe eines nicht«, sagte der fünfte der Gruppe. Donner erkannte in ihm Colonel Samsey vom American Corps. »Wenn der Geheimdienst der UN schon über einen Kader von – Supermenschen verfügt, warum macht man sich dann die Mühe, sie so zu verkleiden, daß sie alle gleich aussehen? Sollen wir etwa glauben, wir hätten es mit einem Unsterblichen zu tun?« Er lachte grimmig. »Sicherlich wissen sie, daß wir uns dadurch nicht einschüchtern lassen.« »Es sind keine Supermenschen«, warf der Grauhaarige ein. »Es sind ungemein fähige Männer, das ist richtig, aber der UNMensch ist nicht unfehlbar – wie dieser hier deutlich demonstriert.« Er stellte sich breitbeinig vor Donner hin und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Wie wär’s, wenn Sie uns jetzt etwas erzählten? Fangen Sie damit an, uns etwas über sich zu sagen.« »Ich könnte Ihnen etwas über Sie sagen«, antwortete Donner. Seine Zunge fühlte sich dick, trocken und geschwollen an, aber er hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. »Sie sind Robert Wade, Direktor der Firma Brain Tools, Incorporated, und ein prominenter Förderer der Amerikanisten-Partei.« Donner wandte sich an die Frau: »Sie sind Marta Jennings, Parteimitglied und hauptamtlich für Ihre Organisation tätig.« Sein Blick ging zu dem dürren jungen Mann. »Ihr Sekretär, Mr. Wade, heißt Rodney Borrow. Er ist das Ergebnis eines Experimentes, künstliches Leben zu erzeugen. Seine ExogenNummer lautet…« »Wagen Sie nicht, mich so zu nennen!« kreischte der Dürre und stürzte sich auf Donner. Er hatte seine Hände gekrümmt und kratzte wie ein hysterisches Weib. Nachdem Samsey und
der Bärtige ihn von Donner weggezerrt hatten, war sein Gesicht von einer tödlichen Blässe. »Und das Experiment war ein Fehlschlag«, fuhr Donner mit gnadenloser Herausforderung fort. »Genug!« Wade versetzte dem hilflosen Gefangenen mit der offenen Hand eine schallende Ohrfeige. »Wir wollen Neuigkeiten, und wir haben nicht mehr viel Zeit. Sie sind natürlich immun gegen Wahrheitsdrogen – Dr. Lewins Versuche während Ihrer Bewußtlosigkeit haben es bereits gezeigt –, aber ich nehme an, daß Sie gegen Schmerzen nicht unempfindlich sind.« Nach einer kurzen Pause fügte er ruhig hinzu: »Wir sind keine Teufel. Sie wissen, was wir sind – Patrioten.« Die mit den Nationalisten in einem Dutzend anderer Länder zusammenarbeiten! dachte Donner. »Wir wollen nicht unnötig quälen oder töten«, fuhr Wade fort. »Als erstes wollen wir wissen«, sagte der Bärtige, der Dr. Lewin sein mußte, »wer Sie wirklich sind. Dann interessiert uns Ihre Vergangenheit und woher Sie Ihre Informationen über uns haben, was Ihr Vorgesetzter für die Zukunft plant und so weiter. Es wird, fürs erste, schon genügen, wenn Sie uns einige Fragen über sich selbst beantworten, wo Sie wohnen und dergleichen.« Aber natürlich, dachte Donner, und die Müdigkeit und Erschöpfung drückten wie ein Riesengewicht auf seine Seele. Das wird fürs erste genügen. Denn dann holen sie Jeanne und Bobby und bringen sie hierher, und dann… Lewin schob ein fahrbares Gestell heran, auf dem ein Lügendetektor stand. »Allerdings möchten wir vermeiden, daß Sie uns irreführen«, sagte er. »Sie verschwenden nur Ihre Zeit«, entgegnete Donner ruhig. »Ich werde Ihnen nämlich gar nichts sagen.«
Lewin nickte. Er war über die Antwort des Gefangenen in keiner Weise überrascht und holte eine weitere Apparatur herbei. »Dieses Gerät erzeugt Niederfrequenz-Schwingungen«, bemerkte er. »Im höchsten Grade schmerzhaft. Ich glaube nicht, daß sich Ihr Wille allzu lange widersetzen kann. Falls doch, können wir es immer noch mit einem Gehirneingriff versuchen. Sie werden dann alles erzählen. Aber erst wollen wir es mit der Niederfrequenz probieren.« Er befestigte die Elektroden an Donners Haut. Donner versuchte zu lächeln, aber seine Lippen schienen taub zu sein. Der sechste Mann, der irgendwie fremdländisch aussah, drehte sich um und verließ den Raum. In Donners Schädel war auf operativen Wegen ein kleiner Empfänger angebracht worden. Er konnte nur Mitteilungen empfangen, die auf einer bestimmten Wellenlänge gesendet wurden, aber dieser Gegenstand erfüllte auch einen anderen Zweck. Er ersetzte sozusagen die Giftkapsel im hohlen Zahn. Donner dachte an Jeanne, an seinen Sohn Bobby und an seine Kameraden. Er wünschte, die Luft, in der er seine letzten Atemzüge machte, wäre nicht so muffig und staubig. Mit einer Schockwelle durchlief der erste Energiestoß des Instruments seinen Körper. Seine Muskeln rissen ungewollt an den Riemen, und er stieß einen Schrei aus. Dann explodierte die Empfängerkapsel in seinem Gehirn. Das Bild, das Donner mit in den Tod nahm, war ein Lächeln von Jeanne, die ihn zu Hause willkommen hieß.
Barney Rosenberg folgte der schwachen, furchigen Wegspur, die zur Böschung hinaufführte. Auf der anderen Seite lag Drygulch, die Siedlung, die sein Ziel war. Aber Barney hatte es nicht eilig. Als er näher heran kam, nahm er das Gas weg
und kuppelte aus, und das Motorengeräusch der Sandkatze wurde zu einem fast unhörbaren Schnurren. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und blickte durch die winzige Kunststoffkanzel auf die marsianische Landschaft hinaus. Er wollte es noch immer nicht begreifen, er konnte es nicht verstehen, daß er sie nie mehr wiedersehen würde. Selbst hier, keine zehn Kilometer von der Ansiedlung entfernt, gab es außer ihm, seinem Fahrzeug und dem nur schlecht sichtbaren Weg durch Sand und Gebüsch kein Anzeichen, das auf Menschen auf dem Mars hindeutete. Der Mensch war auf Feuerschwingen auf den Mars gekommen, hatte die Städte aus dem Boden gestampft, hatte Stollen in die Berge getrieben und Hochöfen gebaut, hatte damit begonnen, Farmen anzulegen, war mit Sandkatzen und in Luftanzügen von den Sümpfen in den Polargegenden in die Busch- und Krüppelholzwälder der Äquatorialgebiete vorgestoßen – und trotz aller Betriebsamkeit hatte der Mensch noch keinen sichtbaren Eindruck auf der Oberfläche des einsamen Planeten hinterlassen. Noch nicht, denn es war noch zu früh. Zwar lag hier und da eine leere Blechbüchse, ein zerbrochenes Werkzeug, eine mumifizierte Leiche in den Fetzen eines geplatzten Luftzeltes – aber Sand und Einsamkeit deckten sie zu. Nacht, Kälte und Vergessenheit hüllten sie ein. Mars war viel zu alt und fremdartig, als daß dreißig Jahre menschlicher Besiedlung etwas an ihm verändert hätten. Links von Rosenbergs erstreckte sich die endlose Wüste, die sich in steil abfallenden Sanddünen von den nackten, schroffen, vielfarbigen Felshängen herabwälzte. Sie erstreckte sich bis zu einem deutlich gekrümmten und scharf von der Erde getrennten Horizont: eine eisenhaltige Einöde, rot, braun und schmutziggelb, voller messerscharfer Schatten. Und über allem lag unheimliches, bösartig blasses Sonnenlicht. Hier und da reckte sich ein Felszahn aus dem Boden, grell von
Mineralien gefärbt und durch die Jahrhunderte hindurch vom ewig nagenden Wind zu Zerrgebilden einer irren Phantasie verformt. Einige Kilometer entfernt zog ein Sandsturm über die Wüste, eine dahinfliegende Staubwolke, die kratzend über die Felsen strich und in den trockenen Ästen der graugrünen Büsche vielstimmig murmelte und heulte. Zu seiner Rechten ragten Hügel auf, nackt und steil, durchzogen von blauen und grünen Streifen, die auf Kupfererz hindeuteten. Sie waren zerklüftet und abgeschliffen und erfüllt vom leisen Murmeln des Windes. Barney sah Anzeichen von Leben: die staubigen Dornbüsche und die hohen, dürren Kaktoide, eine huschende Bewegung, als ein kleiner Sandhüpfer die Flucht ergriff. In einer der steilen Felswände führten verwitterte Stufen zu den Ruinen einer Höhlensiedlung hinauf, die vor langer Zeit verlassen worden war. Wie lange mochte das schon her sein? Über allem erstreckte sich ein gewaltiger Himmel, eine sich nach allen Seiten ausdehnende Unendlichkeiten von Dunkelgrün und Blauviolett, unglaublich hoch, weit entfernt und kalt. Schwach glitzerten die Sterne. Der rasch dahinziehende Punkt eines der Marsmonde leuchtete nur schwach. Eine kleine Sonne schwebte im königlichen Glanz der Korona und des Zodiakallichtes über dem Planeten. Nahe beim Horizont reflektierte eine dünne Schicht Eiskristalle den Lichtschein mit kaltem Glitzern. Draußen wehte der Wind, das wußte Rosenberg, ein wimmernder Wind. Durch das dicke Kunstglas konnte er ihn aber nicht hören, und das machte die Abgeschlossenheit noch intensiver. Es war eine grausame Welt, dieser Mars. Eine Welt der Kälte, der Vernichtung und der Einsamkeit, eine Welt, die den Mut der Menschen brach und ihnen das Leben aus dem Leib saugte. Es war eine Welt, in der es keinen Regen gab, keine
Meere, keine Wärme – eine unfreundliche, ungastliche Welt. Das große Rad der Sterne drehte sich über einer jahrtausendealten Wüste, über die tagsüber der Wind heulte und die nachts unter dem beißenden Frost ächzte und stöhnte. Es war eine Welt der Leere und des Geheimnisses, eine kümmerliche Welt, wo der Mensch hungerte und Durst hatte und schließlich in Dunkelheit unterging. Die Menschen quälten sich über endlose Kilometer dahin, durch Mühe, Einsamkeit und aufsteigende Furcht, schwitzten und keuchten, verfluchten den Planeten, weinten um ihre Toten und klammerten sich an die Wärme und ans Leben, die ihnen die grauen, freudlosen Städte der Kolonie boten. Es ist nicht weiter schlimm, wenn man merkt, daß man sich mit den Sandkäfern unterhält – aber wenn sie einem Antwort geben, ist es höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Und doch – und doch. Die große, graue Fläche der Sümpfe an den Polen, der schwache, dünne Hauch des Windes, Sonnenlicht, von den Eiskappen der Pole zu Millionen kleiner Diamanten verwandelt; die riesige, zerklüftete RasmussenSchlucht, eine Wildnis phantastischer Märchengestalten aus Stein, ungezählte Farbschattierungen unglaublicher Zusammensetzungen und Tönungen, huschende Schatten; die hohe kalte Nacht der Sterne, unglaublich strahlende Sternbilder, die über einen kristallklaren Himmel zogen; eine Stille, so überwältigend, daß man glaubte, Gottes Stimme aus den Tiefen des Universums vernehmen zu müssen; die zarten Blumen in den Wäldern der Syrte, die nur einen Tag blühten und in den Nächten erfroren, Schönheit und Lieblichkeit, die mit dem Sonnenaufgang erblühte und in der kurzen Abenddämmerung starb; das Reisen und Suchen, seltene Erfolge und niederschlagende Mißerfolge, aber immer das Streben und Suchen – und eine selbstlose Kameradschaft. Ja, Mars war eine Welt, die hart und grausam war zu denen, die
sie liebten, die ihnen aber auch eine seltsame Schönheit schenkte, die sie nicht vergessen würden, solange sie lebten. Vielleicht war Stef der glücklichere von uns beiden, dachte Rosenberg. Er ist hier gestorben. Er lenkte die Sandkatze über einen scharfen Felsgrat. Wieder verweilte er kurz und blickte in das breitgezogene Tal hinab. Seit zwei Jahren war er schon nicht mehr in Drygulch gewesen. Das entsprach der Dauer von fast vier Erdenjahren, fiel ihm ein. Äußerlich hatte sich die Stadt, die unter einem riesigen Kuppeldach halb unterirdisch lag, nicht verändert, aber die Plantagen hatten ihre Fläche verdoppelt. Die Bio-Ingenieure hatten gute Arbeit geleistet, indem sie irdische Nährpflanzen den Bedingungen auf dem Mars anpaßten und umgekehrt die Pflanzen des Mars den Bedürfnissen der Menschen. Was die lebensnotwendigsten Dinge betraf, waren die Marskolonien bereits unabhängig von der Erde, da die hohen Transportkosten von der Erde zum Mars schwer ins Gewicht fielen. Aber noch immer war es nicht gelungen, ein Fleischtier zu züchten, das sich den Gegebenheiten auf dem Mars anpaßte. Fleisch, oder vielmehr ein Fleischersatz, kam also aus den Gerstekulturen in den Städten, und niemand auf dem Mars hatte bisher ein echtes Beefsteak gesehen. Aber die Zeit wird kommen, da haben wir auch das. Eine ausgelaugte Welt, eine strenge, bittere, mißgünstige Welt, aber sie wurde gezähmt. Schon wuchs eine neue Generation heran. In diesen Tagen kamen nur wenige Einwanderer von der Erde, aber der Mensch hatte Wurzeln geschlagen, er würde hier bleiben. Eines Tages würde es gelingen, die Marsatmosphäre und das Wetter so zu verändern, daß es den Menschen möglich sein würde, unbeschwert und ohne Schutzkleidung über die rostroten Hügel zu gehen – aber das würde erst nach seinem Tod der Fall sein, dachte
Rosenberg, und aus einem unbestimmbaren Grunde war er froh darüber. Die Kompressoren der Sandkatze heulten auf und lieferten dem hungrigen Dieselmotor komprimierten Sauerstoff, vermischt mit dünner Marsluft, als Rosenberg das Fahrzeug über den gefährlich schmalen Weg steuerte. Sie war schrecklich dünn, diese Luft auf dem Mars, aber ihr Sauerstoffgehalt bestand zum größten Teil aus Ozon, und das war ein großer Vorteil. Rosenberg runzelte die Stirn, als er an einem ThoriumBergwerk vorüberfuhr. Die spaltbaren Metalle waren ursprünglich der Hauptgrund für die Besiedlung des Mars gewesen, aber diese Metalle sollten der Entwicklung des Planeten dienen und nicht zur Erde exportiert werden. Aber eigentlich bin ich gar kein Marsianer mehr. Bald werde ich wieder ein Erdenmensch sein. Man mußte auf dem Mars sterben wie Stef, seinen Körper dem Marsland zurückgeben, bevor man wirklich hierher gehörte. Der Weg, der vom Bergwerk in die Stadt führte, wurde breiter und besser, so daß man Straße dazu sagen konnte. Jetzt begegnete Rosenberg auch anderen Fahrzeugen, die aus allen Richtungen kamen – ein Erztransporter, ein Farmer, der mit einem Lastwagen seine Ernte in die Stadt fuhr, ein Landvermessungstrupp, der mit neuen Karten und Erz- und Gesteinsproben nach Hause kam. Rosenberg winkte den Fahrern zu. Sie gehörten vielen Nationalitäten an, aber bis auf die Pilgrims war das nicht ausschlaggebend. Hier auf dem Mars waren sie in erster Linie nur Mensch. Er hoffte, daß die UN bald darangehen würde, die Planeten zu internationalisieren. An einem hohen Mast vor der Stadt hing eine Fahne, die Stars and Stripes, die sich steif in einen fremdartigen Himmel reckte. Die Fahne bestand aus Metall – in dieser mörderischen,
korrosiven Atmosphäre mußte das so sein –, und Rosenberg konnte sich vorstellen, daß man sie oft neu streichen mußte. Er steuerte sein Fahrzeug daran vorbei, die lange Rampe hinunter, die unter der Kuppel hindurchführte. An der Luftschleuse mußte er warten, bis er an der Reihe war, und er fragte sich, wann endlich jemand eine bessere Methode entwickeln würde, Sauerstoff am Ausströmen zu hindern. Er ließ seine Katze in der unterirdischen Garage stehen und unterrichtete den Angestellten, daß jemand anders, der Käufer, das Fahrzeug später abholen würde. Seine Augen brannten, als er mit der Hand über die verschrammte Metallpanzerung des Kettenfahrzeuges strich. Mit dem Aufzug fuhr er hinauf und begab sich auf dem Rollweg zum Wohnungsvermittlungsbüro. Dort ließ er sich ein Zimmer zuweisen. Bis zum Abflug der Phobos blieben ihm nur noch zwei Tage Zeit. Eine Dusche und das Wechseln der Kleidung waren reiner Luxus, und er schwelgte in diesem ungewohnten Genuß. Er hatte wenig Lust, auszugehen, und rief Doc Fieri an. Das Gesicht des Arztes strahlte ihn vom Bildschirm herab an. »Barney, Sie alter Sandwühler! Wann sind Sie angekommen?« »Eben erst. Darf ich Sie besuchen?« »Klar, selbstverständlich. Nichts los im Büro – das heißt, ich habe zwar jemand da, aber der wird nicht lange bleiben. Kommen Sie gleich herüber.« Rosenberg kannte noch den Weg, den er durch Gänge und Aufzüge nehmen mußte; dann stand er vor der Tür, die er suchte. Er klopfte an – eine altmodische Methode, sich anzumelden, aber Drygulch brauchte wichtigere Maschinen dringender als Fernsehaugen in den Türen. »Herein!« ertönte eine laute Stimme. Rosenberg betrat den Raum. Fieri ergriff freudig seine Hand und schüttelte sie kräftig und lange. Im Hintergrund stand der
Gast Doktor Fieris steif aufgereckt, eine hagere, asketische Gestalt in Schwarz – ein Pilgrim. Rosenberg erstarrte. Er mochte diese Leute nicht, diese puritanischen Fanatiker, Überbleibsel aus den »Jahren des Wahnsinns«, eine der düstersten Epochen der Menschheit. Sie waren zum Mars gekommen und fühlten sich in der Freiheit und Freizügigkeit nicht wohl. Rosenberg war es gleichgültig, welcher Religionsgemeinschaft ein Mensch angehörte, aber auf dem Mars hatte niemand das Recht, sich so abzusondern und die Zusammenarbeit mit den anderen Niederlassungen so strikt abzulehnen, wie es Neu-Jerusalem tat. Dennoch schüttelte er höflich die Hand des Pilgrims, wobei er die schlechtverhohlene Abneigung des Mannes spürte. »Das ist Dr. Morton«, erklärte Fieri. »Er hörte von meinen Experimenten und kam hierher, um sich mit mir darüber zu unterhalten.« »Sehr interessante Ergebnisse«, bemerkte der Fremde. »Und sehr vielversprechend dazu. Sie werden für die Kolonisation des Mars von großer Bedeutung sein.« »Und für die Medizin und biologische Forschung auf allen besiedelten Planeten«, ergänzte Fieri. Stolz über seine Leistung sprach aus seiner Stimme. »Was ist es denn, Doktor?« fragte Rosenberg, wie man es von ihm erwartete. »Tiefschlaf«, sagte Fieri. »So-o-o?« »Ja. Sehen Sie, in meiner Freizeit habe ich mich ein bißchen mit marsianischer Biochemie beschäftigt. Faszinierendes Gebiet, und unirdisch in doppeltem Sinne. Wir kennen nichts dergleichen daheim auf der Erde – brauchen es gar nicht. Winterschlaf tritt ganz natürlich an seine Stelle.« »Hm – ja.« Rosenberg rieb sein Kinn. »Ich verstehe, was Sie sagen wollen. Viele Pflanzen und Tiere, die für ihren
Stoffwechsel Wärme brauchen, legen sich die Nächte hindurch oder den ganzen Winter schlafen.« »Und Sie sagen, Dr. Fieri, daß die Eingeborenen ebenfalls dazu in der Lage sind?« fragte Morton. »Ja. Selbst sie, mit einem hochentwickelten Nervensystem, können offensichtlich solche Perioden der Kälte oder Hungersnot schlafend überstehen. Ich mußte mich an die bruchstückhaften Berichte der Forscher halten – es gibt nur noch ganz wenige Eingeborene, und die sind äußerst scheu. Aber vergangenes Jahr ist es mir schließlich gelungen, einen zu sehen, der sich in diesem Zustand befand. Es war unglaublich – Atmung war fast nicht festzustellen, ebensowenig Herztätigkeit. Der Enzephalograph zeigte einen nur ganz langsamen Pulsschlag an. Aber ich nahm Blut- und Hautproben und konnte sie mit Proben anderer Lebewesen vergleichen, die ebenfalls im Tiefschlaf waren.« »Ich dachte, daß selbst das Blut der Marsianer in einer Winternacht gefrieren würde«, sagte Rosenberg. »Tut es auch. Sein Gefrierpunkt liegt aber unter dem des menschlichen Blutes. Doch so niedrig ist er nun auch nicht, daß das Blut gar nicht gefrieren könnte. Im Tiefschlaf werden jedoch eine ganze Anzahl von Enzymen frei. Die Art, die in den Blutkreislauf kommt, verändert die Eigenschaften des Plasmas. Wenn sich Eiskristalle bilden, sind sie, im Gegensatz zu dem, was wir normalerweise kennen, dichter als die Flüssigkeit, deshalb platzen die Zellwände nicht, und der Organismus überlebt. Darüber hinaus geht eine langsame Zirkulation von sauerstofftragenden Teilchen und Nährflüssigkeiten sogar durch das Eis vor sich, offensichtlich durch einen dem Ionenaustausch nicht unähnlichen Prozeß. Diese Zirkulation ist nur schwach, aber sie reicht aus, den Organismus am Leben zu erhalten und vor Schäden zu bewahren. Bei Wärme oder einer ausreichenden
Außentemperatur hören diese Ausscheidungen auf, und das Tier oder die Pflanze erwachen wieder zum Leben.« Fieri lachte auf und schlug auf einen Stoß Papiere auf seinem Schreibtisch. »Das hier sind meine Notizen. Noch ist die Arbeit nicht abgeschlossen. Ich will sie noch nicht veröffentlichen, aber jetzt ist es mehr oder weniger eine Angelegenheit von Einzelheiten.« Der Nobelpreis leuchtete schon in seinen Augen. Morton durchblätterte das Manuskript. »Höchst interessant«, murmelte er. Sein hagerer Kopf mit den kurzgeschnittenen Haaren beugte sich über eine Formel. »Der Wert dieses Materials auf dem Gebiet der physikalischen Chemie muß unheimlich sein.« »Er ist es, Morton, er ist es«, lächelte Fieri. »Hm – macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mir die Unterlagen ausleihe? Wie ich schon vorhin erwähnte, könnte mein Laboratorium in Neu-Jerusalem einige der Analysen für Sie herstellen.« »Ausgezeichnet. Passen Sie auf, ich mache Ihnen eine Zusammenfassung von diesem ganzen Durcheinander. Morgen habe ich sie fertig.« »Vielen Dank.« Morton lächelte, als bereite ihm diese Bewegung Schmerzen. »Das wird eine große Überraschung sein, glaube ich. Sie haben noch niemandem davon berichtet?« »Ach, ich habe es natürlich hier und da schon erwähnt, aber Sie sind der erste, der mich nach technischen Einzelheiten gefragt hat. Auf dem Mars ist jeder zu sehr mit seiner eigenen Arbeit beschäftigt. Aber daheim auf der Erde werden sie von den Stühlen fallen. Sie suchen nach so etwas schon seit – seit dem Märchen von Dornröschen, und hier ist der erste brauchbare Weg.« »Ich würde es auch gern lesen, Doc«, sagte Rosenberg. »Sind Sie Biochemiker?« fragte Morton.
»Nun ja, ich kenne mich in Biologie und Chemie genügend aus, um es zu verstehen, und ich habe Zeit, mich hindurchzuarbeiten, bevor mein Schiff geht.« »Natürlich, Barney«, sagte Fieri. »Und tun Sie mir einen Gefallen, ja? Wenn Sie nach Hause kommen, berichten Sie dem alten Summers in Cambridge – das liegt in England – davon. Er ist dort der große Biochemiker, und er hat immer gesagt, ich sei einer seiner begabtesten Schüler und hätte nicht zur Medizin abwandern sollen. Unbescheiden bin ich gar nicht, nicht wahr? Aber kann man es jemand übelnehmen, stolz zu sein, wenn er so etwas Großes entdeckt hat wie das hier?« Morton blickte Rosenberg aus blassen Augen an. »Sie kehren also auf die Erde zurück?« fragte er. »Ja. Mit der Phobos.« Er fühlte, daß er dem Pilgrim eine Erklärung schuldig war, da er nicht den Eindruck aufkommen lassen wollte, er liefe davon. »Wissen Sie, mehr oder weniger auf Befehl des Arztes. Vergangenes Jahr zerschlug ich mir bei einem Sturz den Helm, und bevor ich ihn abdichten konnte, hatten mich schon die Krämpfe gepackt. Dazu kamen noch der niedrige Druck und die Kälte. Das hat meinen Lungen gar nicht gutgetan.« Rosenberg zuckte die Achseln und lächelte bitter. »Ich glaube, ich kann von Glück sprechen, daß ich überhaupt noch am Leben bin. Wenigstens habe ich mir genügend gespart, um mich zur Ruhe setzen zu können. Aber meine Gesundheit läßt es nicht zu, daß ich auf dem Mars weiter arbeite, und der Mars ist andererseits nicht der Ort, wo man untätig sein und zugleich seinen Verstand behalten kann.« »Verstehe. Schade. Wann werden Sie auf der Erde eintreffen?« »In zwei Monaten. Die Phobos legt den größten Teil der Fahrt auf der Kreisbahn zurück. Sehe ich so aus, als könnte ich mir eine Reise auf direktem Weg erlauben?«
Rosenberg wandte sich an Fieri. »Doc, gehen noch weitere alte Sandläufer mit der Phobos nach Hause zurück?« »Fürchte, nein. Sie wissen ja, es gibt nur wenige, die vom Mars zur Erde zurückkehren, um sich da zur Ruhe zu setzen – die meisten kommen vorher um. Sie sind einer der wenigen Glücklichen.« »Also eine einsame Reise, die mir bevorsteht«, meinte Rosenberg. »Nun, ich glaube, ich werde sie überstehen.« Morton entschuldigte sich und ging. Fieri blickte ihm nach, bis er verschwunden war. »Seltsamer Kauz. Aber auf der anderen Seite sind alle diese Pilgrims seltsame Käuze. Sie sind fast gegen alles. Aber er ist ein fähiger Kopf, und ich bin froh, daß er einige der Analysen für mich durchführen will.« Er schlug Rosenberg herzlich auf die Schulter. »Aber jetzt Schluß damit, alter Junge! Lassen Sie den Kopf nicht hängen, weil’s heim geht, und trinken Sie ein Bier mit mir. Wenn Sie erst einmal auf dem weißen Strand Floridas liegen, den blauen Himmel über sich, den blauen Atlantik zu Ihren Füßen und ringsumher hübsche Mädchen, ich garantiere Ihnen, da werden Sie dem Mars keine Träne nachweinen.« »Vielleicht nicht.« Rosenberg blickte unglücklich auf den Fußboden. »Seit Stef starb, ist alles anders geworden. Ich hatte gar nicht gewußt, wieviel er mir bedeutete, bis ich ihn begrub und allein weiterzog.« »Alle haben ihn gern gehabt, Barney. Er war einer dieser Menschen, die die Welt mit Leben zu erfüllen scheinen, wo immer sie auch sein mögen. Lassen Sie mich nachdenken – er war um die Sechzig, als er starb, nicht wahr? Ich habe ihn kurz vorher gesehen. Er konnte noch immer zwei ausgewachsene Männer unter den Tisch trinken, und die Mädchen bewunderten ihn wie eh und je.«
»Ja. Ich glaube, er war mein bester Freund. Fünfzehn Jahre lang sind wir zusammen über die Erde und die Planeten gezogen.« Rosenberg lächelte. »Komisch, so eine Freundschaft. Sie hat mit der Liebe einer Frau nichts zu tun – deshalb verstehen es die Frauen auch nicht. Stef und ich haben nie viel miteinander gesprochen. Es war gar nicht nötig. Aber die letzten fünf Jahre ohne ihn sind mir sehr leer und einsam vorgekommen.« »Er starb doch bei einem Stolleneinbruch, nicht wahr?« »Ja. Wir waren auf der Erzsuche droben in den SägezahnBergen, auf der Suche nach einer Uranader. Unser Stollen stürzte ein; er hielt niederbrechendes Erdreich mit dem Rücken auf und brüllte mir zu, ich solle den Stollen verlassen – aber bevor er sich in Sicherheit bringen konnte, zerschlugen die Steine seinen Helm. Ich begrub ihn auf einem Hügel, von dem man weit über die Wüste blicken kann. Er hat die Berge immer geliebt.« »Ja – nun, an Stefan Rostomily zu denken, hilft jetzt weder ihm noch uns. Kommen Sie, gehen wir ein Bier trinken.«
Das Schrillen in seinem Schädel riß Norbert Naysmith mit brutaler Gewalt in die Wirklichkeit zurück. Sein Arm zuckte und zog mit dem Pinsel einen gelben Strich quer über die Leinwand. »Naysmith!« Die Stimme klang blechern in seinem Kopf. »Melden Sie sich bei Prior im Büro Frisco. Es ist dringend. Martin Donner wird vermißt. Vermutlich tot. Sie übernehmen seinen Auftrag. Los, an die Arbeit, Mann.« Einen Augenblick lang sagte ihm der Name gar nichts. Dann – ja doch. Donner gehörte zur Gruppe. Und jetzt war er tot. Tot – Naysmith hatte Donner nie gesehen, aber er kannte den Mann mit einer Vertrautheit, wie es zwischen Menschen selten
war. Vor seinem geistigen Auge entstand mit verblüffender Deutlichkeit das Bild des Toten. Er lächelte das charakteristische träge Lächeln, lehnte mit einem Glas Scotch in der Hand im Entspanner. Scotch war ihr Lieblingsgetränk, dachte Naysmith. Und Donner hatte gern und gut Schach gespielt, viel gelesen und manchmal Shakespeare zitiert, hatte gern an Motoren herumgeschraubt und besaß wahrscheinlich eine kleine Waffensammlung. Tot. Sein Körper lag leblos irgendwo auf diesem Planeten; steif waren die Muskeln, erloschen das Gehirn, und die Zersetzung hatte bereits eingesetzt. Er hatte sich in die Nacht zurückgezogen und eine unersetzliche Lücke in der zusammengeschmolzenen Gruppe hinterlassen. »Hören Sie sich unterwegs die Nachrichten an«, sagte die Stimme in seinem Kopf. »Der Teufel ist los.« Naysmiths Blicke richteten sich wieder auf das Gemälde. Langsam ließ sich feststellen, daß es gut werden würde. Er hatte mit verschiedenen Techniken experimentiert, und die zuletzt angewendete fing den weitläufigen Sonnenglast des kalifornischen Strandes ein, die langgestreckten Rücken der heranrollenden Wogen, den heißen, wolkenlosen Himmel und das dürre, harte Gras sowie den sonnengebräunten Körper der Frau, die im Sand lag. Warum mußten sie ihn gerade jetzt rufen? »Okay, Sofie«, sagte er resignierend. »Das ist alles für heute. Ich muß heim.« Die braungebrannte Frau drehte sich herum, stützte sich auf einen Ellbogen und blickte ihn an. »Wie kommt denn das?« fragte sie. »Wir sind doch erst drei Stunden hier. Der Tag hat erst begonnen.« »Ich fürchte, für mich ist er schon zu Ende.« Naysmith räumte seine Pinsel weg. »Es geht zurück in die Zivilisation.«
»Ich will aber nicht!« »Na, wenn schon«, sagte er. Wenn man ihnen nicht alles sagt, was man weiß, kommen sie einem von selbst nachgelaufen. Diese modernen Frauen sind gar nicht so emanzipiert, wie sie glauben. Er klappte seine Staffelei zusammen. »Aber warum denn auf einmal?« rief sie, indem sie sich halb aufrichtete. »Ich habe heute nachmittag eine Verabredung.« Naysmith ging den Strand entlang auf den Weg zu. Nach einem Augenblick folgte Sofie. »Das hast du mir aber nicht gesagt«, protestierte sie. »Du hast mich nicht danach gefragt«, antwortete er. Er fügte ein »Tut mir leid« hinzu, das aber alles andere als eine Entschuldigung war. Außer ihnen befanden sich nur wenige Leute am Strand, und der Parkplatz war ziemlich leer. Naysmith legte die Handfläche gegen die Tür seines Luftbootes, die sich daraufhin öffnete. Mit summenden Düsen glitt die eiförmige Hülle in den Himmel. »Ich bringe dich nach Hause«, sagte Naysmith. »Ein andermal machen wir weiter, ja?« Sie schwieg und schmollte. Vor einer Woche hatten sie sich zufällig in einer Bar getroffen. Nach außen hin war Naysmith ein Kybernetiker auf Urlaub. Sofie war als Ingenieur am Pazifik-Kolonisations-Projekt beschäftigt und befand sich ebenfalls auf Urlaub. Es war ein angenehmes Zwischenspiel gewesen, und Naysmith bedauerte, daß es nun vorüber war. Aber die Erregung vertrieb die letzten Nebel seines künstlerischen Zeitvertreibs. Ein Leben beim Geheimdienst bedeutete Verzicht auf ein Privatleben. »Du bist eine Ratte, weißt du«, sagte Sofie.
»Quiek«, machte Naysmith. Sein Gesicht – ein seltsam kräftig ausgeprägtes Antlitz mit geraden, hellen Augenbrauen, mit weit auseinanderstehenden blauen Augen, mit hohen Backenknochen und einem breiten Mund –, dieses Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, um sie an- und gleichzeitig auszulachen. Er sah älter aus als fünfundzwanzig. Und sie, dachte Sofie mit plötzlicher Müdigkeit, sah jünger aus als vierzig. Ihre Eltern hatten es gut gehabt, selbst während der Hungerjahre. Sie hatte sich die ganze Zeit die besten biomedizinischen Therapien leisten können und sah höchstens wie dreißig aus. Naysmith schraubte am Video. Gleich darauf drang eine Stimme aus dem Lautsprecher. Naysmith machte sich nicht die Mühe, das Bild dazu einzuschalten. »… und die gründliche Untersuchung, die Finanzminister Arnold Besser beantragte, wurde von Generalsekretär Lopez zugesagt. In einer Stellungnahme zu dem Vorfall äußerte sich der Generalsekretär wie folgt: ›Das Kabinett, wie auch ich selbst, neigen dazu, die Glaubwürdigkeit dieser Beschuldigungen anzuzweifeln. Wahrscheinlich ist die chinesische Regierung einem Irrtum unterlegen. Der Ernst der Lage jedoch…‹« »Lopez? Soso! Der Generalsekretär der UN persönlich«, murmelte Naysmith. »Das bedeutet also, daß die Anklage jetzt offiziell eingereicht worden ist.« »Welche Anklage?« fragte die Frau. »Seit einer Woche schon habe ich keine Nachrichten mehr gehört.« »Die chinesische Regierung wollte Anklage erheben, das Attentat auf Kwang-ti sei durch Geheimagenten der UN erfolgt«, erklärte Naysmith. »Aber das ist doch lächerlich!« stieß Sofie hervor. »Die UN?« Sie schüttelte ihre Locken. »Die haben doch gar nicht
das Recht – die UN-Agenten, meine ich. Kwang-ti stellte zwar eine Gefahr dar, aber ihn zu töten? Das glaube ich nicht.« »Überlege nur einmal, was die gegen die UN eingestellten Fraktionen überall im Sonnensystem, unsere eigenen Amerikanisten mit einbezogen, aus dieser Sache machen werden«, sagte Naysmith. »Auf die Anschuldigung der Korruption kommt gleich darauf eine wegen Mordes!« »Schalte das Ding aus«, sagte sie. »Das ist ja schrecklich.« »Wir leben in schrecklichen Zeiten, Sofie.« »Ich dachte, sie würden besser werden.« Sie schauderte. »Ich kann mich noch an die Zeit der Hungerjahre erinnern. Dann kamen die ›Jahre des Wahnsinns‹ und die Sozialistische Depression. Menschen in Lumpen gekleidet, halb verhungert, daß man ihre Rippen hätte zählen können – einmal erlebte ich einen Aufstand mit, dann die marschierenden Kolonnen und die riesigen Krater. – Nein! Die UN ist wie ein Damm gegen diese Hölle – er darf nicht brechen!« Naysmith schaltete das Boot auf automatische Steuerung und legte seinen Arm um Sofie. Wer so loyal zur UN hielt wie sie, verdiente es, daß man sich ein bißchen nett um ihn kümmerte. Ganz besonders im Hinblick darauf, daß die Anklage der Chinesen vermutlich auf Wahrheit beruhte. Er brachte die Frau zu einem kleinen Fertighaus in einer der neuen Siedlungen und versprach ihr, sie wieder zu besuchen. Dann schaltete er die Düsen auf Höchstleistung und jagte mit seinem Luftboot nach Norden, Richtung Frisco. In der Nähe der großen Gebäude verdichtete sich der Verkehr, und sein Autopilot hatte es nicht leicht, ihn an den Landeplatz zu steuern. Naysmith warf sich einen Umhang über und setzte eine der Halbmasken auf, wie sie zur Zeit Mode waren, letzteres weniger aus Höflichkeit als aus Gründen der Verkleidung. Er glaubte nicht, daß er beobachtet wurde, aber
man konnte nie wissen. Die American Security, der Sicherheitsdienst, war eine tüchtige Organisation. Wenn sich jemals Räder in Rädern gedreht hatten, so war die moderne amerikanische Politik ein glänzendes Beispiel dafür, überlegte er. Offiziell war es eine demokratische Regierung, zu den UN positiv eingestellt, die nach und nach durch ihre soziodynamistische Fraktion abgelöst wurde, die in noch stärkerem Maße eine Welt-Föderation befürwortete und anstrebte. Aber die Konservativen aller Schattierungen, von den gemäßigt sozialistischen Republikanern bis zu den radikalen Amerikanisten, besaßen genügend Sitze im Kongreß und hatten eine genügend große Macht, um einen bedeutenden Einfluß auf die Regierungsgeschäfte auszuüben. Unter anderem hatte die konservative Koalition die Abschaffung des Ministeriums für Staatssicherheit verhindert, und Hessling, der dieses Ressort leitete, war bekannt dafür, nach der Seite der radikalen Amerikanisten zu tendieren. Die Folge war, daß eine beachtliche Anzahl von S-Leuten ständig im Einsatz und auf der Suche nach Agenten einer ausländischen Macht waren, zu denen auch die UN-Leute gehörten. Natürlich hatte Fourre seine eigenen Leute auch in den Kadern des Sicherheitsdienstes. Ihren Bemühungen war es in erster Linie zuzuschreiben, daß die amerikanischen UN-Leute falsche Ausweispapiere besaßen und daß die Gruppenmitglieder sich nicht untereinander kannten. Aber eines Tages, dachte Naysmith, würde die Sache platzen – und dann würden Himmel und Erde einstürzen. Es war ein Tanz auf dem Vulkan, der jederzeit ausbrechen konnte. Auf allen Seiten drohten bodenloser Abgrund, Chaos und Untergang – die menschliche Gesellschaft war entwurzelt, die Menschheit selbst verrückt, ohne Sinn für Maß und Ordnung, und die wenigen, die blieben und die sich bemühten,
Ordnung und Stabilität wiederherzustellen, mußten gegen eine erdrückende Übermacht Andersgesinnter ankämpfen. Sofie hatte schon recht. Die UN ist ein Damm, der eine Sturmflut radioaktiven Blutes von der Menschheit abhält. Und ich, dachte Naysmith, komme mir vor wie der kleine Junge, der den Finger in das Loch im Deich gesteckt hat. Sein Boot landete auf der abwärts führenden Rampe und rollte in die hallende Großräumigkeit der Gemeinschaftsgarage. Er wollte es nicht riskieren, auf Priors Rampe zu landen. Ein Monteur übernahm Naysmiths Fahrzeug, gab Naysmith einen Empfangsschein und führte ihn zum Lift. Es war ein Expreßlift, der ihn in rasendem Tempo an den unteren Etagen vorbeiführte, die die Läden, Büros und Dienstleistungsbetriebe beherbergten, die Schulen und Vergnügungslokale, und ihn hinaufbrachte in die Stockwerke, die den Wohnungen vorbehalten waren. In dem riesigen Lift stand Naysmith in einer Menschenmenge – die meisten waren maskiert wie er – und wartete, bis das Stockwerk kam, wo er aussteigen wollte. Niemand sprach mit seinem Nachbarn. Man hätte es als Einbruch in die Persönlichkeitssphäre angesehen und als unziemlich empfunden. Wenn Naysmith auch die Gefahren dieser Entwicklung kannte, so war er jetzt froh darüber. In Priors Stockwerk angekommen, dem einhundertsiebenten, trat er auf den östlich führenden Rollweg, stieg an der zweiten Ecke auf einen in nördlicher Richtung rollenden um und fuhr auf ihm etwa achthundert Meter, bis er Priors Appartement erreichte. Als er auf den Klingelknopf drückte, meldete sich die Automatenstimme: »Bedaure sehr, Mr. Prior ist nicht zu Hause. Wollen Sie ihm eine Nachricht hinterlassen?« »Halt die Klappe und laß mich hinein!« sagte Naysmith.
Dieser als Losung dienende Satz löste den Schließmechanismus der Tür aus, die vor Naysmith aufschwang. Er betrat einen einfach möblierten Vorraum, während die Türglocke melodisch läutete. Priors Stimme kam über die Sprechanlage: »Naysmith?« »In Person.« »Dann komm herein. Wohnzimmer.« Naysmith hängte Maske und Umhang in die Garderobe, zog seine Sandalen aus und ging den Flurgang hinunter. Unter seinen bloßen Füßen fühlte sich der Fußboden warm und elastisch an. Hinter einer weiteren Tür, die lautlos vor Naysmith aufschwang, lag das Wohnzimmer. Es war einfach ausgestattet. Prior war von Natur aus ein einsamer Wolf, der keinem der vielen Klubs angehörte. Sein offizieller Beruf war Sprachforscher; dadurch hatte er eine Menge freier Zeit, die er den UN widmen konnte, außerdem eine glaubhafte Begründung, nach Belieben im Sonnensystem zu reisen. Naysmiths Blicke huschten über das Gesicht seines Mitarbeiters. Prior gehörte nicht zu dem engeren Kreis der Gruppe. Dann blieben seine Augen auf dem Mann haften, der in dem Entspanner lag, der neben Prior stand. »Sie hier, Chef?« Naysmith stieß einen leisen Pfiff der Überraschung aus. »Dann muß es sich um eine wichtige Sache handeln.« »Zieh dein Hemd aus und leg dich unter die Höhensonne«, lud Prior Naysmith ein und zeigte mit seiner unvermeidlichen Zigarette auf einen Entspanner. »Ich will versuchen, eine Flasche Scotch für dich aufzutreiben.« »Warum die Kameraden nur immer Scotch trinken müssen«, murrte Etienne Fourre. »Eure saftigen Spesenkonten schlucken die Hälfte meines Budgets. Um es deutlicher auszudrücken: Ihr versauft mein ganzes Geld!«
Fourre war ein gedrungener, untersetzter, kräftiger Mann und mit achtzig Jahren lebendiger und aktiver als mancher junge Springer. In einem Gesicht, das aus porösem, rissigem Stein gehauen zu sein schien, brannten kleine schwarze Augen; seine Stimme klang wie Donnergrollen aus der Tiefe seiner mächtigen Brust. Die Biomedizin war nur zum Teil für seine Vitalität verantwortlich. Als Fourre jung war, hatte es diese Wissenschaft noch nicht gegeben. Und er wird uns wahrscheinlich alle überleben, dachte Naysmith. In Etienne steckte ein Stück eines Fanatikers. Er war ein Kind des Krieges und hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, einen immerwährenden Kampf gegen den Krieg zu führen. Hand in Hand mit den Liberalen hatte er während der Jahre des Hungers gegen die Neofaschisten gekämpft, mit der Gendarmerie gegen die Atomisten in den ›Jahren des Wahnsinns‹ und mit den UN-Truppen im Nahen Osten, wo seine Spionage-Organisation maßgeblich daran beteiligt gewesen war, den Massenaufstand des Großen Dschihad zu verhindern. Nachdem auf der Konferenz von Rio die Charta der Vereinten Nationen ergänzt worden war, hatte er die Leitung des Geheimdienstes der UN-Aufsichtsbehörde übernommen und in aller Ruhe Vorbereitungen für den Coup getroffen, der schließlich im Sturz der den UN feindlich gegenüberstehenden Regierung Argentiniens gipfelte. Später hatten seine Leute die Scheinrevolution Kwang-tis in der Mongolischen Republik aufgedeckt und somit den Plan einer Revolution von innen heraus vereitelt; und letztlich war er der mutmaßlich Verantwortliche für den Untergang des chinesischen Diktators. Die Agenten waren seine Kinder und seine Werkzeuge. Ein lebendes Schwert, das den Krieg brauchte, um gegen ihn kämpfen zu können. Wir können Gott danken, daß er auf
unserer Seite steht! »Also, was gibt’s?« fragte der UN-Mann laut. »Wie lange ist es schon her, daß du deinen letzten Auftrag hattest?« stellte Fourre die Gegenfrage. »Ungefähr ein Jahr. Schumacher und ich stellten Ermittlungen über die neue Arbeiterpartei in Deutschland an – wenn Sie sich erinnern, waren damals alle unsere Leute mit der Sache in Österreich beschäftigt, und ich spreche Deutsch gut genug, um in Preußen als Rheinländer zu gelten.« »Ja, ich erinnere mich. Du hast die längste Zeit die ruhige Kugel geschoben, mein Freund.« Fourre ergriff das Glas Wein, das Prior ihm reichte, kostete und verzog das Gesicht. »Merde! Wann werdet ihr in Kalifornien endlich aufhören, Wein anzubauen? Das Zeug ist ja nicht zu trinken.« Er wandte sich wieder an Naysmith: »Ich rufe in dieser Sache alle Kameraden zusammen. Ich muß auf schnellstem Wege zurück nach Rio; da ist der Teufel los, seit die Chinesen ihre Anschuldigungen vorbringen, und ich kann von Glück reden, wenn es mir gelingt, unsere Hälse aus der Kollektivschlinge zu ziehen. Aber ich bin rasch nach Nordamerika heraufgekommen, um euch zusammenzurufen und euch eure Aufträge zuzuweisen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß das Gehirn unseres großen unbekannten Feindes unten bei uns in Rio ist – wahrscheinlich bei Besser, der zumindest in die Sache verwickelt ist, jedoch ausgezeichnete Vorkehrungen gegen eine mögliche Ermordung getroffen hat – obwohl es nichts nützen würde, ihn zu beseitigen, da ein anderer sofort an seine Stelle träte. Wie dem auch sei, nach wie vor liegt in den Vereinigten Staaten das Zentrum der Anti-UN-Bewegung, und die Tatsache, daß Donner vermißt wird und wahrscheinlich gefangengenommen wurde, bedeutet, daß unsere Sache hier oben rapid in die Brüche zu gehen scheint. Prior hier, Donners
Verbindungsmann, erzählte mir, daß Donner von allen Kameraden dem Ziel am nächsten war, das Hauptquartier des Feindes in Nordamerika ausfindig zu machen. Nachdem Donner nicht mehr bei uns ist, hat Prior vorgeschlagen, daß du Donners Auftrag übernimmst.« »Und der war welcher Art?« »Darauf komme ich noch zu sprechen. Donner war ausgebildeter Ingenieur. Du bist doch Kybernetiker, ja?« »Offiziell ja«, antwortete Naysmith. »Ich habe Diplome in Informationstheorie, und mein Beruf nach außen hin ist Grundlagenforscher. Eine Art Feuerwehr, wenn es darum geht, neue Ideen zu entwickeln.« Er lächelte. »Und wenn ich steckenbleibe, kann ich das Problem immer Prior in den Schoß legen.« »Aha. Folglich bist du auch mehr oder weniger Sprachforscher, wie? Gut. Versteh mich richtig, ich wähle dich nicht wegen deiner Spezialkenntnisse aus, sondern vielmehr, weil du weniger als die anderen spezialisiert bist. Du bist schon zu alt für ein synthetisches Training. Natürlich werden jetzt einige jüngere Kameraden nach dieser Methode ausgebildet. Wir haben einen Jungen in Mexiko, Peter Christian heißt er, dessen Rufnummer du dir am besten von Prior geben läßt, falls du seine Hilfe brauchst. Ein Sprachforscher ist das, was einem Sprachtheoretiker am nächsten kommt. Deine Kenntnisse in Sprachen, Psychologie und Geisteswissenschaften sollten dich dazu befähigen, alle deine Informationen zu einem größeren, umfassenderen Bild zusammenzufügen. Ein Bild, das ich bislang noch nicht kenne.« Fourre zündete eine Zigarre an und paffte Rauchwolken in die Luft. »Ich kann jederzeit anfangen. Ich habe mich auf unbestimmte Zeit beurlauben lassen«, sagte Naysmith. »Aber was ist nun
mit diesem Donner? Wie weit ist er gekommen, was ist mit ihm geschehen und so weiter?« »Ich kläre dich über die Vorgeschichte auf«, sagte Prior, »weil du sie brauchen wirst. Martin Donner stammt aus Kanada. Er erhielt sein Ingenieurdiplom im Maschinenbau. Vor etwa vier Jahren hatten wir Grund zu der Annahme, daß der Feind nahe daran war, Donners Maske zu durchschauen, so daß wir ihn in die Vereinigten Staaten holten, ihn mit amerikanischen Ausweispapieren ausstatteten und so weiter. In letzter Zeit sollte er Ermittlungen über die Tätigkeit der Amerikanisten anstellen. Die Möglichkeiten, die sich ihm boten, waren einfach. Er nahm eine Stelle bei der Brain Tools, Incorporated an, in der es von Parteigängern der Amerikanisten nur so wimmelt. Natürlich haben wir da auch unsere Leute, aber sie sind über die unteren Kader noch nicht hinausgelangt. Jedenfalls hat Donner sich umgesehen, Einzelheiten zusammengetragen und sich schließlich an einen bestimmten Mann herangemacht und ihn mit Wahrheitsserum behandelt. Auf diese Weise erfuhr er von dem Hauptquartier der Verschwörung im Mittelwesten der Vereinigten Staaten, und er begab sich dorthin. Es lag in einer der großen Wohnanlagen in Illinois. Er mietete eine Wohnung und – verschwand. Das ist nun schon fast zwei Wochen her.« Prior zuckte die Achseln. »Er ist inzwischen sicher tot. Falls sie ihn nicht getötet haben, wird er eine Möglichkeit gefunden haben, Selbstmord zu begehen.« »Und du kannst mir die Unterlagen über alles geben, was Donner erfahren hat?« fragte Naysmith. »Ja, natürlich, obgleich ich nicht glaube, daß es dir viel helfen wird.« Prior studierte nachdenklich sein Glas. »Du wirst fast völlig auf dich gestellt sein. Ich brauche nicht zu betonen, daß du in jeder Hinsicht freie Hand hast und tun und lassen kannst, was du für richtig hältst. Aber nachdem unsere
Organisation zur Zeit in einem schlechten Licht steht, wäre es besser, wenn du keine Spuren hinterließest. Du mußt jedoch erst an Donners Familie herantreten. Er war nämlich verheiratet und hat einen Jungen.« »Hm, das ist nicht gut, wie?« »Nein. UN-Agenten dürfen eigentlich nicht heiraten, ganz besonders der engere Kreis der Gruppe nicht. Wie dem auch sei – du erkennst doch die Schwierigkeiten, die in diesem Fall daraus entstehen können. Falls Donner noch am Leben sein sollte und die Bande auf Grund seiner Ausweispapiere Nachforschungen anstellt, wird sie unweigerlich auf seine Frau und seinen Jungen stoßen, und dann haben sie ihm gegenüber ein Druckmittel, alles zu verraten, was er weiß. Und er wird diesem Druckmittel nicht widerstehen können. Kein Mensch kann das.« »Schön. Ich nehme an, daß du Donner einen für den Mittelwesten gültigen Ausweis beschafft hast.« »Ja. Das heißt, er schlüpfte in die Hülle einer Person, die wir bereits für ihn vorbereitet hatten – mit Name, Fingerabdrücken, Kennummer und sämtlichen anderen Angaben, die in der Zentrale Mittelwesten registriert waren. Gott sei Dank, daß wir Freunde im Meldeamt sitzen haben! Aber der Fall Donner ist eine schwerwiegende Angelegenheit. Wenn wir früher einen Mann verloren, konnten wir stets die Leiche sicherstellen oder wenigstens dafür sorgen, daß sie den Feinden nicht in die Hände fiel. Nun aber besitzt der Feind die Leiche eines Agenten und kann sie in aller Ruhe untersuchen. Sie werden die typischen Erkennungsmerkmale wie Fingerabdrücke und so weiter mit sämtlichen Unterlagen in allen Meldeämtern des Landes vergleichen, wo ja alle unsere Leute unter anderen Namen und Erkennungsnummern gemeldet sind. Und wenn sie dann mehrere Namen und Nummern finden, deren körperliche Erkennungsmerkmale untereinander und mit denen Donners
haargenau übereinstimmen – dann kannst du dir vorstellen, daß der Teufel los sein wird.« »Diese Nachforschungen werden natürlich Zeit brauchen«, warf Fourre ein. »So etwas geht nicht von heute auf morgen. Wir haben dafür gesorgt, daß die betreffenden Namen auch mit anderen Erkennungsmerkmalen registriert sind; das wird sie verwirren und ihnen zusätzliche Arbeit machen. Trotzdem wird wahrscheinlich in jedem Land der Erde und auch auf dem Mond und den Planeten eine Untersuchung vorgenommen werden. Die Kameraden werden untertauchen müssen, zumindest in Amerika. Und das ausgerechnet jetzt, wo ich in Rio um den Fortbestand meiner Organisation zu kämpfen habe!« Sie rücken immer weiter vor. Wir stehen ohnmächtig da, während die siegreichen Mächte ihren Ring immer enger schließen. Wir wußten schon immer tief in unserem Herzen, daß dieser Tag des Unterganges einst kommen würde, und nun ist es so weit. »Selbst wenn wir annehmen, daß Donner tot ist, was ziemlich wahrscheinlich ist«, fuhr Prior fort, »würde seine Witwe für die Bande eine Gefangene von unschätzbarem Wert sein. Sie weiß vermutlich nur sehr wenig über die Tätigkeit ihres Mannes, aber zweifellos ist in ihrem Unterbewußtsein ein riesiger Schatz von Informationen verborgen – Gesichter, Bruchstücke von Unterhaltungen, die sie aufgeschnappt hat, oder vielleicht nur die genauen Daten, wann Donner nicht zu Hause, sondern in unserem Auftrag unterwegs war. Du weißt ja, ein Fachmann kann das alles aus ihr herausholen und auf diese Weise den Feindagenten eine beachtlich große Anzahl von Anhaltspunkten liefern, die zum Teil direkt zu unseren bisher streng gehüteten Geheimnissen hinführen würden.« »Habt ihr nicht versucht, sie untertauchen zu lassen?« fragte Naysmith.
»Sie will nicht untertauchen«, sagte Prior. »Wir schickten einen Agenten, um sie zu warnen. Sie weigerte sich, unterzutauchen. Wie soll man schließlich auch wissen, ob derjenige, der da ins Haus kommt, nicht eine Kreatur des Feindes ist? Außerdem hat sie einige sehr kluge Vorkehrungen getroffen. So ist sie zum Beispiel zur Polizei gegangen und hat auf deren Rat hin einen Brief in einem Bankschließfach hinterlassen, der geöffnet werden soll, falls sie ohne vorherige Mitteilung plötzlich verschwindet. Dadurch ist es uns tatsächlich unmöglich gemacht worden, sie gegen ihren Willen wegzuholen und in Sicherheit zu bringen. Abgesehen von allen anderen Schwierigkeiten, könnten wir keinesfalls so viel Staub aufwirbeln. Wir haben getan, was wir tun konnten. Zwei unserer Leute bewachen sie. Der eine von ihnen wurde vor kurzem von der Polizei festgenommen, und wir hatten unsere liebe Not, ihn wieder frei zu bekommen.« »Die Frau hat Rückgrat«, bemerkte Naysmith. »Zuviel«, entgegnete Prior. »Also, du kennst deinen ersten Auftrag. Sieh zu, daß sie freiwillig mit dir geht. Verstecke sie und den Jungen irgendwo und tauche danach selbst unter. Was dann kommt, ist mehr oder weniger in deine Hände gegeben, Junge.« »Aber wie soll ich sie dazu bringen, daß…« »Liegt das denn nicht auf der Hand?« fragte Fourre. »Ihr UNMenschen seht doch einer wie der andere aus.« Ja, es lag auf der Hand. Naysmith verzog das Gesicht. »Genügt es denn nicht, daß ich für euch stehle und morde? Muß ich nun auch noch einer Frau vorgaukeln, ich sei ihr Mann?« Er erhielt keine Antwort. Brigham City im Staate Utah war keine Kolonie, wie die neuen, nach modernsten Erkenntnissen angelegten Wohngebiete bezeichnet wurden. Die Stadt hatte schon lange
vor dem Krieg bestanden, aber sie war schon immer eine freundliche Stadt gewesen, die sich fast völlig dem neuen Stil in Planung und Architektur angepaßt hatte. Naysmith war noch nie zuvor hiergewesen, aber er fühlte, wie er sich für dieses Städtchen erwärmte – wie Donner es getan haben mußte, der jetzt tot war. Er öffnete die Drosselklappen der Düsen und heulte mit üblicher Geschwindigkeit in geringer Höhe über die verlassene Straße dahin. Grüne Hügel und Obstgärten lagen vor ihm unter einem hohen, klaren Himmel, eine große Oase, die Menschenhand der Öde und Unfruchtbarkeit des Landes abgerungen hatte. Als er einen Funkleitstrahl schnitt, übernahm die örtliche Verkehrs-Fernkontrolle die Steuerung seines Bootes. Er machte es sich bequem und rauchte eine Zigarette, während ihn der Autopilot in die Stadt steuerte. Als das Boot in einer Seitenstraße aufsetzte, zog er eine Maske über den Kopf, die sein Gesicht völlig verbarg, übernahm selbst wieder die Steuerung und fuhr weiter. Hinter Rasenflächen, Büschen und Bäumen duckten sich die Häuser. Es waren die einstöckigen, halb unterirdisch liegenden Einfamilienhäuser, wie sie zur Zeit üblich waren. Männer und Frauen, einige von ihnen in Arbeitskleidung, bevölkerten die Rollwege, und Naysmith sah mehr Kinder, die lachend und rufend umhersprangen, als er von anderen Städten her gewöhnt war. Die meisten Obstplantagen befanden sich noch in Privatbesitz, hatten sich aber zu Genossenschaften zusammengeschlossen, um mit den riesigen staatseigenen Agrar-Kombinaten konkurrenzfähig zu bleiben. Aber dennoch war eine beachtliche Anzahl Männer und Frauen außerhalb der Stadt beschäftigt. Sie fuhren mit dem Luftbus zu ihren Arbeitsplätzen.
In Gedanken überflog er noch einmal Priors Unterlagen über Donner und ließ die spärlichen Anhaltspunkte vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. Die Kameraden waren immer einsatzbereit, aber in ihrem bürgerlichen Leben waren sie ebenso eifersüchtig auf die Wahrung ihrer Intimsphäre bedacht wie alle anderen Menschen. Es stand jedoch fest, daß Jeanne Donner zu Hause als Sprachlehrerin für Fernkurse arbeitete, Manuskripte aller Art korrigierte, sich sonst ausnahmslos ihrer Familie, ihrem Mann und ihrem Jungen widmete. Naysmith fühlte sich innerlich kalt. Er war am Ziel. Lautlos brachte er sein Boot zum Stehen und schritt den Weg hinauf, der zum Haus führte. Seine strengen, modernen Linien wurden durch einen Überzug blühender Kletterpflanzen gemildert. Es lag im Schatten großer Bäume, und dahinter erstreckte sich der Garten. Das war zweifellos Jeannes Werk – Donner war kein Freund von Gartenarbeit gewesen. Instinktiv blickte sich Naysmith nach dem Posten um, den Prior geschickt hatte. Er entdeckte keine Spur von ihm, aber das mußte man von einem fähigen Agenten auch erwarten. Vielleicht war es der alte Mann, der auf dem Rollweg vorüberkam; oder der Botenjunge, der auf seinem Zweirad die Straße entlangfegte; oder auch das kleine Mädchen, das auf der anderen Straßenseite Hüpfseil spielte. Vielleicht war sie gar nicht, was sie zu sein schien. Die biologischen Laboratorien vollbrachten erstaunliche Leistungen, und Fourre hatte im Geheimen seine eigenen Labors eingerichtet. Vor ihm lag die Tür des Hauses, davor ein kleines Vordach, an dessen Pfosten sich Kletterpflanzen emporrankten. Er drückte auf den Klingelknopf, und eine mechanische Stimme teilte ihm mit, daß niemand zu Hause sei. Das war zweifellos eine Lüge, aber eine verständliche. Armes Mädchen, arme kleine Frau, ganz allein mit ihrer Angst, bedrängt von der
namenlosen Nacht, die ihren Mann verschlungen hat – wartet auf seine Rückkehr, auf die Rückkehr eines Toten. Naysmith schüttelte den Kopf und schluckte die Bitterkeit hinunter, die ihn in der Kehle würgte. Dann sprach er in die Sprechanlage: »Hallo, Liebling. Ich hatte mit einem etwas freundlicherem Empfang gerechnet.« Sie mußte die Aufnahme sofort abgespielt haben, denn es dauerte nur eine Minute, bis die Tür aufflog. Naysmith nahm sie in die Arme, als er den Flur betrat. »Marty, Marty, Marty!« Sie schluchzte und lachte gleichzeitig, preßte sich gegen ihn und zog sein Gesicht zu sich herab. Ihr langes, schwarzes Haar nahm ihm die Sicht; seine Augen hinter der Maske brannten. »Oh, Marty, nimm die Maske ab, es ist schon so lange…« Sie war mittelgroß und schlank und geschmeidig. Trotz der feinen Züge hatte sie ein starkes und ausdrucksvolles Gesicht. Die leicht mandelförmigen, fast schwarzen Augen leuchteten strahlend. Ali das und das leichte Beben ihres Körpers ließen ihn plötzlich seine eigene Einsamkeit erkennen, aus der es kein Entrinnen zu geben schien. Er nahm die Maske ab und ließ das helmförmige Kleidungsstück zu Boden fallen. Dann küßte er sie. Ein Gedanke durchzuckte sein Hirn: Daß Donner auch eine Frau aussuchen mußte, die ganz mein Typ ist! Aber er hätte gar keine andere nehmen können, es konnte gar nicht anders sein. Die UN-Männer waren alle gleich. »Jeanne«, sagte er drängend, während ihre Finger durch sein Haar glitten, »Hol ein paar Kleider und eine Maske – Bobby natürlich auch. Verlier keine Zeit mit dem Packen. Ruf die Polizei an und sage, du gehst aus freien Stücken weg. Wir müssen hier so rasch wie möglich fort.« Sie trat einen Schritt zurück und blickte ihn verstört an. »Was ist geschehen, Marty?« flüsterte sie.
»Schnell, sage ich!« Er trat an ihr vorbei und eilte in das Wohnzimmer. »Ich erkläre dir später alles.« Sie nickte und lief in eines der Schlafzimmer – wo sie sich über ein Kinderbett beugte und eine kleine schlafende Gestalt heraushob. Naysmith zündete sich eine Zigarette an, während er die Blicke durch das Zimmer schweifen ließ. Es war ein typisches Fertighaus der Serienproduktion, aber Martin Donner, sein anderes Ich, der Mann, der sowohl äußerlich wie auch in seinen Gewohnheiten, Neigungen und Eigenschaften mit ihm, Naysmith, und den anderen Agenten so verblüffend übereinstimmte, daß man den einen vom anderen nicht unterscheiden konnte, und den jetzt die Nacht ergriffen hatte und nicht mehr losließ, dieser Mann hatte hier seine persönlichen Spuren hinterlassen. Hier gab es nicht die massengefertigten Gegenstände, die sich Leute anschaffen, die mal hierhin zogen, mal dorthin – dies war das Haus einer Familie, die Wurzeln geschlagen hatte und die hier bleiben wollte. Naysmith mußte an die unzähligen Appartements und Hotelzimmer denken, die bisher sein Zuhause gewesen waren, und das Gefühl der Einsamkeit vertiefte sich noch mehr. Ja – genau so, wie er es sich auch vorgestellt hatte. Donner hatte wahrscheinlich den Backsteinkamin selbst errichtet, nicht, weil er vielleicht notwendig gewesen wäre, sondern weil das flackernde Kaminfeuer ein schöner, heimeliger Anblick war. Über dem Kaminsims hing eine antike Muskete, und auf dem Sims selbst standen ein paar Gegenstände – eine alte Uhr mit Marmorgehäuse, in Messing getriebene Kerzenhalter, ein glitzernder Brocken Mondkristall. Der Schreibtisch war ein Anachronismus aus Mahagoni zwischen modernen Entspanner-Sesseln. An den Wänden hingen zwei Filmstreifen-Bilder, die in Bewegung gesetzt werden konnten, aber auch die Reproduktion eines Rembrandt und eines
Landschaftsgemäldes von Constable – daneben einige alte Stiche. Ein teurer Musikschrank mit einer reichhaltigen Auswahl von Musikdrähten. Auf den Bücherregalen standen Kassetten mit Mikrofilmen, aber auch eine ganze Anzahl alter Bücher in guterhaltenen Einbänden. Naysmith lächelte, als sein Blick auf Shakespeares Gesammelte Werke fiel. Die Familie Donner waren keine Leute gewesen, die dem Vergangenen nachhingen, aber sie hatten gesunde Verbindung zur Vergangenheit unterhalten. Naysmith seufzte und erinnerte sich an das, was er im Anthropologieunterricht gelernt hatte. Die Gesellschaft der westlichen Welt war auf der Familie als wirtschaftliche und soziale Zelle aufgebaut; mit zunehmender Technisierung war die Bedeutung der wirtschaftlichen Grundlage mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt worden, der soziale Stützpfeiler war im letzten Krieg und in den darauffolgenden Wirren der Nachkriegsjahre abgebröckelt. Das moderne Leben war eine unpersönliche Angelegenheit geworden. Die Ehe kam erst spät, wenn beide Seiten der Freizügigkeit überdrüssig geworden waren, und war oft nur eine lose Bindung. Die Kinderhorte, Schulen, die Unterhaltungs- und Vergnügungsindustrie nahmen die Kinder so in Anspruch, daß sie vielfach nur noch zu einem geringen Teil in der Familie lebten. Und alles das hatte Auswirkungen auf den Menschen selbst. Von einem Geschöpf mit regem, kräftig ausgebildetem Gefühlsleben, mit einer durch Zusammenwirken von Umgebung und Veranlagung verfeinerten Persönlichkeit verwandelte sich der Mensch der westlichen Welt in ein Wesen, das den Ureingeborenen Samoas nicht unähnlich war: ausgeglichen und anpassungsfähig, während enge Freundschaft und romantische Liebe mehr und mehr in Vergessenheit
gerieten. Man mußte sich fragen, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Gesellschaftsform hatte. Was sollte man dagegen unternehmen? Man konnte das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen und die moderne Bevölkerung mit Methoden einer mittelalterlichen Technik erhalten, selbst wenn dies der Wunsch der Bevölkerung gewesen wäre. Das bedeutete aber die Anerkennung der reinen Wissenschaft, bedeutete den Austausch des früheren Weltbildes gegen ein verwirrendes. Gitternetz unpersönlicher Beziehungen, bedeutete auch die Aufgabe des Jahrtausende alten Rufes des Menschen, der die geballte Faust in den Himmel reckt und fragt: Warum? Die moderne Technik besaß für den Arbeiter mit Hacke und Schaufel keine Verwendung mehr. Die riesige, ungemein komplizierte Zivilisations-Maschinerie brauchte Spezialisten, die bis zur Grenze ihrer Fähigkeiten ausgebildet waren. Ohne diese Fachkräfte ging es nicht. Aber die Erziehung mußte schon in ganz jungen Jahren beginnen, und man konnte seine Fächer frei wählen, solange man die Prüfungen bestand. Das bedeutete, daß die Hochschulen geringschätzig auf die Mittelschulen herabblickten und diese wieder ihre Zurücksetzung die Grundschulen spüren ließen; die Folgen waren intellektueller Größenwahn, Reibungen zwischen den sozialen Schichten – aber wie sollte man diesem Teufelskreis entgehen? Es war eine Welt voll phantastischer Anachronismen; sie war zu rasch und zu ungleichmäßig gewachsen. Hindu-Bauern scharrten nach wie vor in ihren winzigen Feldern und hausten in Lehmhütten, während jedes der großen chinesischen Kollektive sein eigenes Kraftwerk besaß. Durch die Slums um den Manhattan-Krater schlichen trübe Gestalten, während ein Techniker ein vollständig
eingerichtetes Eigenheim für das Gehalt von sechs Monaten kaufen konnte. Auf den Meeren errichtete man schwimmende Kolonien, Städte erstanden auf Mars, Venus und auf dem Mond, aber die Eingeborenen am Kongo trommelten noch die Regenwolken an. Wie sollte es da jemals zu einer Aussöhnung kommen – wie? Die meisten Menschen betrachteten die Dinge nur an der Oberfläche. Sie sahen, daß die großen Umwälzungen, die Weltkriege, die Jahre des Hungers, die Jahre des Wahnsinns und der wirtschaftlichen Zusammenbrüche von der Auflösung der traditionellen gesellschaftlichen Bindungen begleitet waren, und sie glaubten, diese Umwälzungen seien der Grund dafür. »Gebt uns Gelegenheit, und wir werden dafür sorgen, daß die gute alte Zeit zurückkommt.« So sagten sie, aber sie verstanden nicht, daß diese gute alte Zeit den Samen des Todes in sich getragen hatte, daß die Entwicklung der Technologie eine Entwicklung im Menschen selbst mit sich gebracht hatte, deren Auswirkungen tiefgreifender sein würden als die irgendeiner mehr oder weniger kurzlebigen Übergangsperiode. Die Kriege und Depressionen waren nicht die Ursachen, sondern die Ergebnisse – sie waren Symptome ihrer Zeit. Die Welt änderte sich, und es gab kein Zurück. Die Psychodynamiker glaubten, sie begännen den Prozeß zu verstehen – vielleicht. Aber es war noch zu früh dafür. Wissenschaftliche Synthese war ein Traum und noch keine Errungenschaft. Inzwischen ließ die Staatsplanung die Bevölkerung in unvermeidbarer intellektueller Unbeweglichkeit erstarren. Und das zu einem Zeitpunkt, wo neue, frische Gedanken und Ideen dringender als je zuvor in der Geschichte der Menschheit gebraucht wurden. Die Kräfte des Chaos zogen sich drohend zusammen, und nur wenige erkannten die Wahrheit und kämpften dagegen an. Und an
allen Entschlüssen nagte der quälende Zweifel: Bist du auch ganz sicher, daß du recht hast, daß du das Richtige tust? Kannst du deinen Kampf wirklich rechtfertigen? »Pappi!« Naysmith drehte sich um und sah dem Kleinen mit ausgestreckten Armen entgegen. Es war ein zwei Jahre alter gesunder, kräftiger Junge mit hellem Haar und den dunklen Augen seiner Mutter, aus denen er seinen vermeintlichen Vater noch halb verschlafen anblickte. »Hallo, Bobby.« Naysmiths Stimme bebte. Jeanne hob das Kind hoch. Sie hatte eine Maske übergezogen und einen weiten, faltigen Umhang über die Schultern gelegt. Ihre Stimme klang gefaßter. »Also, gehen wir?« Naysmith nickte und ging zur Haustür. Er hatte sie noch nicht ganz erreicht, als die Türglocke anschlug. »Wer kann das sein?« Die rauhe Frage und das wild pochende Herz in seiner Brust verrieten ihm seine nervliche Belastung. »Ich weiß nicht – ich bin die ganze Zeit zu Hause geblieben, seit…« Jeanne trat rasch an ein Erkerfenster im Flur, schob den Vorhang vorsichtig beiseite und spähte hinaus. »Zwei Männer. Mir unbekannt.« Naysmith zog die Maske über den Kopf und schaltete das Bandgerät ein, das die Worte der Männer aufgenommen hatte. Die Stimme aus dem Lautsprecher klang hart und scharf. »Bundespolizei. Wir wissen, daß Sie zu Hause sind, Mrs. Donner. Bitte, öffnen Sie sofort.« »S-Männer!« flüsterte sie mit bebenden Lippen. Naysmith nickte grimmig. »Die haben nur wenig Zeit gebraucht, um dich zu finden. Lauf und sieh nach, ob hinter dem Haus auch welche sind.«
Ihre Füße hasteten über den Boden. »Im Garten sind vier«, rief sie gleich darauf. »Also gut.« In letzter Sekunde besann sich Naysmith, sonst hätte er sie gefragt, ob sie schießen könne. Er zog die kleine, flache Stet-Pistole aus seiner Kleidung und gab sie ihr, als sie zurückkehrte. Er würde sich auf ihr Training verlassen müssen – außerdem war die Pistole rückstoßfrei. »Wir verschwinden von hier. Halte dich hinter mir und schieße, wenn es nötig wird!« Seine große Magnum lag kühl und schwer in seiner Hand. Das Poltern an der Tür wurde immer heftiger und ungeduldiger. Plötzlich war sie so ruhig wie er. »Bist du mit dem Gesetz in Konflikt geraten?« fragte sie. »Mit dem falschen Gesetz«, antwortete er. »Die Polizei ist noch auf unserer Seite, wenn dir das ein Trost ist.« Es konnten keine Agenten Fourres sein, sonst hätten sie die Losung genannt. Das bedeutete also, daß diese Männer von der Gruppe geschickt worden waren, die Martin Donner ermordet hatte. Aber er wollte nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Wichtig war, daß ihnen die Flucht gelang. Naysmith ging zurück ins Wohnzimmer, hob einen leichten Couchtisch auf und hielt ihn vor seinen Körper, um sich vor den Nadeln aus den Stet-Pistolen der Männer vor der Tür zu schützen. Er ging wieder in den Flur hinaus, stellte sich vor Jeanne mit dem Kind und drückte auf den Türöffner. Die Tür schwang auf, gleichzeitig schoß Naysmith. Ein unterdrücktes Zischen. Der S-Mann fiel von der Türschwelle auf den Rasen vor dem Haus. Sein Begleiter schoß instinktiv. Sein Nadelgeschoß traf den Tisch und blieb im Holz stecken. Er schrie auf, und gleichzeitig streckte ihn Naysmiths Schuß nieder. Sie waren draußen – nun rasch zum Boot!
Während er über den Rasen rannte, spürte Naysmith gefährlich nahe den zischenden Lufthauch eines vorbeifliegenden Nadelgeschosses. Naysmith riß die Tür seines Düsenbootes auf. Er gab einen weiteren Schuß ab, während er mit der anderen Hand startete. Die S-Leute schossen mit Nadeln. Das hieß, sie wollten ihr Wild lebendig fangen. Jeanne stolperte, Bobby entglitt ihrem Griff und rutschte auf die Erde. Eine Nadel hatte ihren Arm getroffen. Naysmith sprang aus dem Boot heraus und eilte auf Jeanne zu. Eine Nadel zerbrach an seiner festen Gesichtsmaske, und einen Augenblick lang wurde ihm ganz schwindlig von der verdunstenden Betäubungsflüssigkeit. Die Angreifer schwärmten aus, kamen jetzt von beiden Seiten heran. Auf der einen Seite war Naysmith durch das Boot gedeckt, auf der anderen durch Jeannes reglosen Körper. Er hob sie vom Boden auf und steckte sie und das Kind in das Boot. Dann zwängte er sich an ihnen vorbei und ließ sich in den Sitz fallen. Er zog die Tür zu und langte nach der Steuerung. Der ganze Vorgang hatte weniger als eine Minute in Anspruch genommen. Als das Düsenboot senkrecht in den Himmel hinaufschoß, wurde es Naysmith zum tausendsten Male klar, daß kein gewöhnlicher Mensch schnell und kaltblütig genug gewesen wäre, um so zu fliehen. Die S-Leute waren ausgezeichnete Agenten, aber dem UN-Mann waren sie nicht gewachsen. Sie würden das Haus nach Spuren durchsuchen, Zentimeter um Zentimeter, und frische Fingerabdrücke von ihm finden. Es würden die gleichen sein, die Donner zu seinen Lebzeiten hier hinterlassen hatte und die hier und da in allen Ecken der Welt registriert worden waren, wo auch immer UN-Leute auftauchten. Es war der UN-Mann, der UN-Mensch, der gehaßte und gefürchtete Schatten, der an einem Dutzend
Stellen gleichzeitig zuschlagen konnte, schneller, als ein normaler Mensch es vermochte, und der nun wieder aus dem Grab gekommen war, um ihnen das Leben schwer zu machen. Er, Naysmith, hatte soeben einer langen Legende ein neues Kapitel hinzugefügt, der Legende vom UN-Menschen. Aber die S-Leute glaubten nicht an Gespenster. Sie würden nach einer Antwort auf dieses Rätsel suchen. Und wenn sie einmal die richtige Antwort fänden, wäre es vorbei mit allen Träumen von einer gesunden Welt. Inzwischen ging die Jagd nach ihm weiter. Die Hilfsmittel einer großen und mächtigen Gruppe wurden gegen ihn eingesetzt. Sie würden ihn hetzen, über die ganze Erde und wenn nötig durch die ganze Welt. Nirgends würde er Ruhe finden. Und diese Gruppe mußte ihn finden, mußte ihn fassen, denn sie konnte es sich nicht leisten, einen so großen Unsicherheitsfaktor, wie der UN-Mensch ihn darstellte, unbeachtet zu lassen. Bobby weinte, und Naysmith tröstete ihn, so gut er konnte, während das Düsenboot durch die Lüfte schnitt. Es war nicht leicht, den Jungen anzulachen, während Jeanne neben ihm bewußtlos im Sitz hing und unter ihnen die Erde verschwamm. Aber ein solch schreckliches Erlebnis durfte sich dem Kind nicht einprägen. Das ist alles, was ich für dich im Augenblick tun kann, Kleiner. Das schulden dir die Kameraden, nachdem du das Pech hattest, als Sohn eines von ihnen in diese Welt geboren zu werden. Als Bobby sich beruhigt hatte und auf einem der Rücksitze auf dem Fernsehschirm eine Robot-Schau betrachtete, überdachte Naysmith seine Lage. Er jagte in weitem Bogen nach Norden. Jeanne regte sich. Sie stöhnte. Er drückte sie an sich, bis die unangenehmen Augenblicke vorüber waren und ihre Augen
wieder klar blickten. Dann zündete er zwei Zigaretten an, eine für sie und eine für sich, und lehnte sich in die Polster zurück. »Ich nehme an, du fragst dich, was das alles zu bedeuten hat«, sagte er. »Ja.« Sie lächelte unsicher. »Wieviel kannst du mir sagen?« »Gerade soviel, wie du wissen darfst, ohne gefährdet zu sein«, antwortete er. Und im stillen fragte er sich: Wieviel weiß sie überhaupt schon? Ich darf mich noch nicht zu erkennen geben! Sie muß geahnt haben, daß ihr Mann ein UNAgent ist – war – und daß sein Alltagsberuf nur als Kulisse diente. Aber die Einzelheiten? »Wohin fliegen wir?« »Droben in den kanadischen Rocky Mountains habe ich für dich und Bobby ein Versteck. Ich fürchte, es wird nicht allzu bequem dort sein, aber sicher seid ihr in jedem Fall; falls wir hinkommen, ohne vorher abgefangen zu werden. Es…« »Wir unterbrechen unsere Sendung und bringen eine dringende Durchsage. Ein gefährlicher Gewaltverbrecher befindet sich auf der Flucht mit Luftboot USA-1349-U-7683. Ich wiederhole: USA-1349-U-7683. Der Mann befindet sich vermutlich in Gesellschaft einer Frau und eines Kindes. Falls Sie das Boot sehen, rufen Sie bitte sofort die nächste Polizeidienststelle an oder die zuständige Sicherheitsbehörde. Der Mann wird wegen Mordes und Menschenraubs gesucht, und es wird weiter angenommen, daß er Agent einer ausländischen Macht ist. Weitere Durchsagen mit einer genauen Personenbeschreibung folgen.« Die barsche Stimme wurde ausgeblendet, und die RobotSchau erschien wieder auf dem Bildschirm. »Junge, Junge, Junge«, seufzte Naysmith. »Die reagieren aber mächtig schnell. Findest du nicht auch?« Jeannes Gesicht war bleich, aber ihre Entgegnung war nur: »Kannst du nicht die Nummer des Bootes übermalen?«
»Deswegen will ich nicht landen«, entgegnete Naysmith, »sonst erwischen sie uns ganz bestimmt.« Naysmiths Blicke gingen in die Runde. »Aber es wäre besser, wenn du dich und Bobby anschnallen würdest. Falls uns ein Polizeiboot verfolgt, muß ich mich zur Wehr setzen. Ich habe Maschinenkanonen eingebaut.« »Kannst du mir erklären, was eigentlich los ist?« »Da muß ich ganz von vorn anfangen«, sagte er vorsichtig. »Und damit du alles in der richtigen Reihenfolge mitbekommst, muß ich dir auch eine Menge erzählen, was du bereits weißt. Aber du sollst ein vollständiges Bild bekommen. Ich möchte wegkommen von so zwielichtigen Begriffen wie Spion und Verräter und dir zeigen, was wir wirklich vorhaben.« »Wir?« »Hör zu«, begann Naysmith. »Ich bin UN-Agent, aber einer von einer ganz besonderen Sorte. Ich gehöre nicht zur Aufsichtsbehörde, die von der Charta gebilligt ist, um Untersuchungen und Ermittlungen über Vergehen anzustellen, wie zum Beispiel Bruch von Waffenstillstandsvereinbarungen, die dem Weltsicherheitsrat gemeldet werden. Ich bin im UNGeheimdienst, und wir existieren nach außen nicht. Ich will dir ein Beispiel nennen, an dem du den Zweck unserer Organisation erkennen kannst: Zu den Aufgaben der Aufsichtsbehörde gehörte es, daß sie den UN-Stützpunkten auf dem Mond mitteilt, wohin sie die Raketenbomben zu lenken haben; unsere Aufgabe ist es, zu versuchen, daß es gar nicht so weit zu kommen braucht, indem wir aufflackernde Brände gleich im Keim ersticken.« »Indem ihr zum Beispiel Kwang-ti getötet habt?« fragte sie herausfordernd.
»Das stimmt nicht. Kwang-ti war eine gefährliche Bedrohung für die Welt. Er hatte China aus den UN herausgenommen und wollte ein starkes Heer aufbauen.« »Er hat eine Menge für China getan.« »Klar. Hitler tat eine Menge für Deutschland und Stalin eine Menge für Rußland, aber das alles wurde ausgelöscht, zusammen mit Millionen von Menschen, als diese Länder in den Krieg zogen. Du darfst nie vergessen, daß die Vereinten Nationen immer dazu da sind, den Weltfrieden zu bewahren. Alles andere tritt in den Hintergrund.« Mit der Glut der Zigarette zündete Jeanne eine frische an. »Erzähle weiter«, sagte sie mit einer Stimme, der man es anmerkte, daß sie alles schon lange wußte. »Die Feinde«, fuhr Naysmith fort, »denen die UN jetzt gegenüberstehen, sind so gefährlich, daß alle Krisen der Vereinten Nationen in der Vergangenheit davor verblassen. Im zweiten Weltkrieg wurde die UN als Militärallianz gegen die faschistischen Mächte gegründet. Im dritten Weltkrieg wurde sie zu einer Militärallianz gegen ihre eigenen unzufriedenen und ausgeschlossenen Mitglieder. Nach Rio existierte sie teilweise als Instrument vielseitiger Verhandlungen, aber doch in erster Linie als Allianz einer großen Anzahl von Staaten, nicht nur westlicher Staaten, um überall auf der Welt Kriege zu verhüten oder zu unterdrücken. Ich möchte gar nicht verheimlichen, welchen Wert die Vereinten Nationen auf rechtlichem, kulturellem, humanitärem und wissenschaftlichem Gebiet haben und was sie erreichten, aber das Wesen der UN bestand in ihrer Macht, in ihren Menschen und Maschinen. Wie dem auch sei, das Prinzip der Vorbeugung führte zu Ausbrüchen wie die des Großen Dschihad und die brasilianisch-argentinische Krise. Kleine Kriege wurden ausgefochten, um große Kriege zu vermeiden. Als dann die
russische Regierung um Hilfe gegen unruhestiftende nationalistische Gruppen im eigenen Land bat, half man ihr, und damit war der Präzedenzfall geschaffen, daß die Vereinten Nationen in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten eingriffen. Das hatte seine guten Seiten, stieß aber auf den erbitterten Widerstand einer ganzen Reihe von Regierungen, der der Vereinigten Staaten nicht ausgenommen. Hier waren um diese Zeit die Konservativen am Ruder, wenn du dich entsinnst, die sich verzweifelt und erfolglos bemühten, Mißstände der Sozialistischen Depression zu beseitigen, und unsere Regierung war drauf und dran, aus der UN auszutreten. Aber sie tat es nicht… Rasch wuchs auch die Bedeutung der anderen internationalen Funktionen, Forschung, Handelsvereinbarungen und so weiter. Siehst du, wohin das führt? Ich habe es dir schon früher gesagt – « bei dieser Vermutung ging er kein Risiko ein, »aber ich sage es dir jetzt wieder: Die UN ist im Begriff, sich zu einer Weltregierung zu entwickeln. Sie besitzt schon ihre eigene Aufsichtsbehörde, eine eigene kleine Polizeitruppe und Truppen auf dem Mond. Ganz allmählich und gegen den Widerstand der einzelnen Nationen rüsten alle allmählich ab. Amerika hat bereits vor zehn Jahren die Wehrpflicht abgeschafft. Es sind Bestrebungen im Gange, die Planeten zu internationalisieren, desgleichen die Siedlungsprojekte unter den Ozeanen, und sie der Aufsicht der Vereinten Nationen zu unterstellen. Früher oder später wird eine einheitliche Währung eingeführt. Zölle und dergleichen existieren nicht mehr. Ich könnte stundenlang weiter aufzählen… Bisher stimmte man gegen alle Vorschläge, die die Vereinten Nationen zu einer Weltregierung zu machen. Die einzelnen Staaten waren zu kurzsichtig. Aber es geschieht dennoch, langsam, Stück für Stück, so daß letztlich die offizielle Vereinigung aller Menschen zu einer Nation nur noch eine rein
formelle Angelegenheit sein wird. Diese Entwicklung ist ganz offensichtlich. Das Schlimme ist nur, daß das auch unsere Feinde allmählich begreifen.« Naysmith zündete sich eine Zigarette an und blickte stirnrunzelnd auf den blauen Rauch, der in die Höhe kräuselte. »Es gibt so viele Kräfte, die die Vereinten Nationen zerstören wollen. Es gibt Nationalisten und Militaristen aller Schattierungen, aus aller Herren Länder, Männer, die an die Macht gelangen würden, wenn die alte Anarchie zurückkehrte – und für diese Menschen ist der Drang nach Macht wie ein körperliches Hungergefühl. Es gibt große Männer in der Industrie, der Hochfinanz und der Politik, die sich in ihre Unternehmen nicht reinreden lassen möchten. Gewerkschaftsführer, die sich nichts sehnlicher als den alten Zwist zwischen Arbeiter und Kapitalisten herbeiwünschen, der für sie Macht und Reichtum bedeutet. Und dann sind da auch diejenigen Menschen, die durch irgendeine Aktion der UN Schaden erlitten haben – vielleicht haben sie in einer der Polizeiaktionen einen Sohn verloren, vielleicht hat eine neue politische Entwicklung ihre Existenzgrundlage gefährdet –, sie alle verlangen nach Rache. Solche Fälle gibt es tausendfach; und sollte jemals die UN stürzen, dann haben alle diese Leute freie Hand.« »Erzähle mir doch endlich etwas Neues«, sagte Jeanne ungeduldig. »Ich komme schon noch darauf, Liebling. Ich muß dir doch erklären, woher die neue Bedrohung kommt. Siehst du, jetzt rotten sich unsere sämtlichen Feinde zusammen. Auf der ganzen Welt legen sie ihre Streitigkeiten untereinander bei und vereinigen sich zu einer einzigen Geheimorganisation, deren einziger Sinn und Zweck darin besteht, die Vereinten Nationen zu schwächen und zu stürzen. Du glaubst nicht, daß fanatische Nationalisten verschiedenster Länder miteinander
zusammenarbeiten könnten? Doch, sie können es und tun es auch, denn es ist die einzige Möglichkeit, später, wenn alles vorbei ist, gegenseitig übereinander herzufallen. Die Führung dieser Organisation, die wir UN-Agenten etwas unfein mit ›die Bande‹ bezeichnen, liegt in den Händen von überaus fähigen Personen; eine Menge maßgebender Leute sind Mitglieder, und die ganze Sache ist ausgezeichnet organisiert. Gruppen wie die Partei der Amerikanisten dienen der Bande als tarnende Kulisse. Die Regierungen, die nur widerwillig Mitglied der Vereinten Nationen sind, unterstützen sie, weil die Volksmeinung im Lande es so will und weil sie den Druck fürchten, dem sie als Nicht-Mitglieder ausgesetzt wären. Kwang-tis Nachfolger haben China wieder in die UN gebracht, und ich bin mir ganz sicher, nur mit dem einzigen Ziel, die Vereinten Nationen von innen heraus zu ruinieren. Auch UNAbgeordnete gehören zu ihren Kreaturen, und ich weiß nicht, wie viele Angestellte der Vereinten Nationen noch.« Naysmith lächelte grimmig. »Aber die Masse der Menschen auf der ganzen Welt ist für die Vereinten Nationen und erwartet von ihnen, sie von der Hölle zu erlösen, die sie überlebt haben. Der Feind muß uns also durch Sabotage von innen heraus vernichten. Durch Korruption, Arroganz, Unfähigkeit, illegale Handlungen, die von seinen Agenten in der UN begangen werden, hinaus an die Öffentlichkeit gelangen und in das Bewußtsein der Menschen eindringen. Du hast schon eine Menge davon gehört, und du wirst noch mehr in den folgenden Monaten hören, sofern man die Diffamierungswelle weitergehen läßt. Ein weiterer Weg, uns zu vernichten, ist das Aufspüren und Aufdecken einiger unserer streng gehüteten Geheimnisse. Wenn jetzt, da die UN stark angeschlagen ist, ganze Nationen austreten würden, wenn innerhalb wichtiger Staaten Militärrevolutionen stattfinden und die Mondstützpunkte von
Truppen benachbarter Planeten erobert werden würden – verstehst du, was dann los wäre? Dann würde wieder internationale Anarchie einziehen, Diktaturen würden entstehen, Kriege ausbrechen – und jeder UN-Mann im Sonnensystem würde zu Tode gehetzt werden.«
Selbst bei der hohen Geschwindigkeit des Luftbootes dauerte es wegen des Umwegs, den Naysmith einschlug, um den größeren Städten und Kolonien auszuweichen, viele Stunden, bis sie ihr Ziel erreichten. Seine Phantasie wurde während des Weges auf eine harte Probe gestellt. Zuerst mußte er Jeanne einen Bericht über seinen Verbleib während der vergangenen Wochen geben. Dann waren noch die Wärter der beiden Tankstationen und der Verkäufer in dem Laden, wo Naysmith einige Lebensmittel einkaufte. Sie mußten unauffällig überzeugt werden, daß es sich um ganz alltägliche Kunden handelte, die man sofort wieder vergessen konnte. Es schien alles reibungslos zu klappen, aber Naysmith hatte ein ungutes Gefühl. Er überflog die amerikanisch-kanadische Grenze und kam nach British Columbia in Kanada. Es bestand für einen Amerikaner zwar kein Grund, sich einer Grenzkontrolle zu unterziehen, aber die Grenzen wurden wahrscheinlich alle von den S-Leuten überwacht. »Ob die kanadische Polizei mit der amerikanischen zusammenarbeiten und uns suchen wird?« fragte Jeanne. »Ich weiß nicht«, antwortete Naysmith. »Das hängt alles davon ab, wie die Dinge sich entwickeln. Die American Security hat einen Chef, der gegen die UN eingestellt ist. Auf der anderen Seite ist sein Vorgesetzter, der Präsident der Vereinigten Staaten, für die UN und Fourre wird zweifellos versuchen, ihm den wahren Sachverhalt zu erklären. Er kann
dann zwar die Jagd nicht abblasen, ohne sich in eine unhaltbare Position zu manövrieren, aber er kann vermutlich der kanadischen Regierung einen vertraulichen Hinweis geben.« Das Boot beschrieb einen Bogen nach Osten, bis es dem mächtigen Felsenrückgrat der Rocky Mountains folgte. Unter ihnen lag nun eine unermeßliche Weite aus Felsen, Wäldern und Schnee, die der Sonnenuntergang golden färbte. Naysmith hatte öfter seinen Urlaub hier oben verbracht, und er wußte genau, wohin er wollte. Erst nach Einbruch der Dunkelheit lenkte er sein Boot zur Erde hinab, wobei er sich auf die Radarsteuerung verlassen mußte. Hier in der Gegend lag ein längst aufgegebenes Uranbergwerk, und eine der Hütten war noch bewohnbar. Am Rand einer Klippe brachte Naysmith das Boot zum Stehen, gähnte ausgiebig und sagte: »Endstation, alles aussteigen.« Sie kletterten aus dem Boot. Die Vorräte, Lebensmittel und das schlafende Kind schleppten sie mit. Naysmith fuhr das Boot unter den Schutz einer großen Fichte und ging dann voraus, einen Abhang hinauf. Jeanne atmete die reine Luft in tiefen Zügen ein und seufzte: »Martin, hier ist es ja wunderschön! Warum hast du mich früher nicht schon einmal hierhergebracht?« Er gab keine Antwort. Im Schein seiner Taschenlampe zeichnete sich die baufällige Wand der Hütte ab. Die Jahre hatten ihre Spuren auf dem Holz und dem Metall hinterlassen. Knarrend öffnete sich die Tür in der Dunkelheit. Drinnen verfaulte der Fußboden langsam zu einer schwarzen Humusschicht. Hier und da lagen Trümmer zerbrochener Möbel verstreut. Naysmith ergriff die gekaufte Axt und ging in den Wald hinaus, um Nadelzweige zu schlagen. Er schleppte sie in die
Hütte und legte eine dicke Schicht unter die Schlafsäcke, die Jeanne schon ausgebreitet hatte. Es war Mitternacht auf Naysmiths Uhr, als sie in der Hütte endlich Ordnung geschafft hatten. Er trat ins Freie hinaus, um eine letzte Zigarette zu rauchen, und Jeanne folgte ihm und stellte sich an seine Seite. Ihre Finger schlossen sich um seine Hand. Jeanne schauderte in der kühlen Nachtluft und schmiegte sich enger an Naysmith. Er zog sie unter seinen Umhang und drückte sie fest an sich. Das kleine rote Auge seiner Zigarette glühte auf und verblaßte in regelmäßigen Abständen in der Dunkelheit. »Es ist so schön hier draußen«, flüsterte sie. »Mußt du schon wieder gehen?« »Ja.« Die Antwort drang rauh aus seiner Kehle. »Deine Vorräte reichen für einen Monat. Falls jemand zufällig vorbeikommen sollte, bist du natürlich auf Urlaub hier – ich glaube aber nicht, daß jemand kommen wird. Die Stelle ist zu abgelegen. Falls ich jedoch nach drei Wochen nicht zurück bin, folgst du dem Lauf des Flusses. Etwa achtzig Kilometer entfernt liegt eine kleine Kolonie. Oder aber ich schicke einen unserer Leute, um dich zu holen. Er wird sich durch ein Losungswort zu erkennen geben – laß sehen – ›In Irland gibt es grüne Krokodile.‹ Alles klar?« Ihr Lachen klang leise und ein wenig schwermütig. »Es tut mir leid, daß ich dich in diese Sache mit hineinziehen mußte, Liebling«, sagte er. »Ach, das ist nicht weiter schlimm – es ist nur, daß du so weit weg sein wirst, ein gejagter Mann, und ich werde mich immer fragen, ob…« Sie biß sich auf die Lippe. Im Mondlicht schimmerte ihr Gesicht weiß. »Wir leben in einer schrecklichen Welt.«
»Nein, Jeanne. Es ist eine schöne Welt. Meine Aufgabe ist es, mitzuhelfen, daß die Menschen sie nicht vernichten.« Er legte seinen Finger unter ihr Kinn und zwang sich zu einem Lächeln. »Laß dir deshalb keine grauen Haare wachsen. Und jetzt gute Nacht, kleine Prinzessin.« Sie küßte ihn mit verzweifeltem Verlangen. Einen Augenblick zögerte Naysmith. Soll ich es ihr sagen? Sie befindet sich jetzt in Sicherheit – sie hat ein Recht, zu wissen, daß ich nicht ihr Mann bin. »Was ist, Marty? Du bist so seltsam.« Ich wage es nicht. Ich kann es ihr nicht sagen – solange der Feind auf unserer Spur ist und die Möglichkeit besteht, daß sie sie erwischen. Soli ihr Traum noch eine Weile weitergehen – später kann ich verschwinden und ihr die Nachricht vom Tode ihres Mannes von jemand anders überbringen lassen. Du Feigling!
Colonel Samsey erwachte plötzlich und setzte sich in seinem Bett auf. Der Schlaf war völlig vergessen, als er in der offenen Balkontür die schwarzen Umrisse der großen Gestalt erkannte. Er griff nach der Pistole unter seinem Kopfkissen. »Ich würde das lieber sein lassen, mein Freund.« Die Stimme sprach sanft. Im Mondlicht glänzte die Pistole des Eindringlings. »Wer sind Sie?« Samsey stieß keuchend diese Frage aus. Noch hatte er die Bedeutung dieser unglaublichen Tatsache nicht ganz erfaßt. Wie konnte das geschehen? Er wohnte im hundertfünfzigsten Stockwerk, alle Eingänge wurden bewacht, und kein Kopter konnte so leise herangeflogen sein, um einen Mann auf seinem Balkon abzusetzen. »Aus dem Bett, alter Junge. Schneller! Okay, jetzt die Hände auf den Kopf gelegt.«
Samsey spürte den kühlen Nachtwind an seinem Körper. Er fühlte, sich ohne Uniform und Pistolengurt hilflos. Stumm drohte die Mündung der Waffe, die der Unbekannte in der Hand hielt. »Wie sind Sie hereingekommen?« flüsterte er. Naysmith hielt es nicht für notwendig, das dem Colonel zu erklären. Er war von der verlassenen alten Autobahn herübergekommen, wo er sein Boot aufgesetzt hatte, und war mit Hilfe von Saugschuhen und Handschuhen an der steilen Wand des Denver-Wohnblocks emporgeklettert. »Fragen Sie lieber, warum ich gekommen bin«, sagte er. »Also schön, zum Teufel! Warum? Sie begehen einen groben Verstoß gegen die Gesetze zum Schutz der Privatsphäre des einzelnen, hinzu kommen Bedrohung und…« Samsey biß sich auf die Lippen. Damit würde er den Eindringling nicht einschüchtern können. »Ich brauche Informationen.« Naysmith setzte sich auf die Tischkante und ließ lässig sein Bein baumeln. In der Rechten hielt er die Pistole, während er mit der Linken an einer Gürtelschnalle nestelte. »Und Sie als hoher Offizier im American Corps und guter Bekannter Roger Wades erschienen mir als der geeignete Mann, mir diese Informationen zu geben.« »Sie sind ja verrückt! Das – wir sind lediglich eine Gruppe von Patrioten. Sie wissen das doch, oder sollten es wenigstens wissen. Wir…« »Sparen Sie es sich, Samsey«, sagte Naysmith müde. »Das American Corps, von dem Sie behaupten, es sei nur eine Gruppe von Patrioten, verfügt über eine straffe militärische Organisation, über Uniformen, Waffen und Ausbildung. Jedes Mitglied der Gruppe gehört der Partei der Amerikanisten an. Ihr seid eine Privatarmee wie die SA der Nazizeit, und ihr habt seit fünf Jahren ausgeführt, was die Partei befiehlt: Mord,
Raub und Schlägereien. Sobald die Regierung Beweise hat und vor Gericht zur Sprache bringen will, wandert ihr alle in die Bergwerke in der Antarktis – und das wißt ihr genau. Ihr hofft, daß eure Partei an der Macht ist, bevor es soweit kommen kann.« »Schamlose Verleumdung! Wir sind ein privater Verein patriotischer Menschen…« »Ich bedaure, daß ich das alles gesagt habe«, entgegnete Naysmith ironisch. Tatsächlich tat es ihm nämlich leid, soviel Zeit mit Worten verschwendet zu haben. Er hätte sogleich zum Angriff übergehen sollen. »Wie dem auch sei, ich brauche die Auskünfte. Der augenblickliche große Plan ist der, die Vereinten Nationen zu vernichten. Wie wollen Sie das erreichen? Um genauer zu fragen: was haben Sie als nächstes vor?« »Sie erwarten doch nicht etwa…« Die linke Hand des UN-Mannes kam aus der Gürteltasche und stieß wie eine Schlange zu, als Samsey sich auf Naysmith warf. Mit der rechten Hand umklammerte er Samseys Bizeps und riß den Mann herum, während er ihm mit der Linken die Injektionsnadel in den Nacken stieß. Die Bezeichnung Wahrheitsdroge trifft nicht ganz den Kern. Sie zwingt die betreffende Person nicht, die Wahrheit zu sagen; sie legt nur vorübergehend die Nervenzentren im Gehirn lahm, die gebraucht werden, um eine Lüge zu erfinden oder auch nur die Antwort zu verweigern. Das Opfer plappert ohne Hemmungen und verspürt eine starke Neigung dazu, besonders die Dinge auszuplaudern, die es bisher geheimzuhalten bemüht war; ein erfahrener Psychologe kann ein solches Gespräch in die gewünschten Bahnen lenken. Samsey kannte niemand in der Bande, der einflußreicher gewesen wäre als Wade. Nun, das war zu erwarten gewesen. Tatsache war, daß er, Naysmith, als Außenstehender mehr über
die Organisation wußte als Colonel Samsey. Aber er erfuhr etwas sehr Wichtiges: die als nächstes geplante Terroraktion des American Corps. Die Ankunft der Phobos vom Mars stand bevor, in einer Woche würde sie landen. Die Männer Colonel Samseys sollten dafür sorgen, daß einer der Passagiere, ein gewisser Barney Rosenberg, gleich nach seiner Ankunft auf der Erde ermordet wurde. Warum? Es war kein Grund angegeben worden, und Colonel Samsey hatte auch nicht danach gefragt, aber er konnte eine gute Beschreibung des Mannes geben. Mars – ja, man schmuggelte mit einem privaten Raumschiff Waffen auf den Mars, zu den Pilgrims. Aha! Die Pilgrims steckten mit der Bande also unter einer Decke. Naysmiths Organisation hatte das schon vermutet, aber noch hatte es am Beweis gefehlt. Hier war er. Das konnte von großer Bedeutung sein, aber Naysmith hatte das Gefühl, daß dies nur ein Ausschnitt war, der ins Gesamtbild paßte. Viel wichtiger schien ihm der geplante Mord an einem Heimkehrer vom Mars zu sein. Von Samsey war nichts mehr zu erfahren, was das Risiko gerechtfertigt hätte, länger hierzubleiben. Naysmith hatte noch ein letztes Experiment vor. Samsey war eine kräftige Natur und schon nahe daran, aus dem tranceähnlichen Zustand zu erwachen. Naysmith zündete eine Lampe an, und ihr Schein fiel auf das verzerrte Gesicht auf dem Bett. Samseys Blicke waren verschwommen auf Naysmiths Gesichtsmaske gerichtet. Langsam hob Naysmith die Maske. »Wer bin ich, Samsey?« fragte er mit ruhiger Stimme. Ein ersticktes Keuchen drang aus Samseys Kehle. »Donner – aber Sie sind doch tot. Sie haben sich in Chicago getötet. Sie sind gestorben, Sie sind tot!«
Jetzt wußte Naysmith, was mit seinem Kameraden Donner geschehen war. Er zog seine Maske über das Gesicht. Systematisch schloß er die Alarmanlagen wieder an, die er vor seinem Eintreten neutralisiert hatte, und durchsuchte den Raum nach Hinweisen auf seine Anwesenheit. Er fand keine. Dann holte er die Pistole des Colonel unter dem Kopfkissen hervor – eine Waffe mit Schalldämpfer. Er legte die schlaffen Finger des Mannes um den Griff, den Zeigefinger durch den Abzugsbügel, drückte ab und jagte dem Colonel eine Kugel ins Gehirn. Man würde zwar wissen, daß der Colonel nicht Selbstmord begangen hatte, aber vielleicht würden sie die Obduktion zu spät ansetzen und keine Spuren der Wahrheitsdroge mehr im Blutstrom des Toten finden. Jedenfalls gab es nun einen Feind weniger. Naysmith hatte keine Gewissensbisse. Es ging um die Existenz einer für den Weltfrieden ungemein wichtigen Organisation. Sie befanden sich im Kriegszustand. Naysmith ging auf den Balkon hinaus und schloß die Tür hinter sich. An der Wand schwang er sich über das Geländer, setzte seine Saugnäpfe an und begann den langen, gefährlichen Rückweg auf die Erde. Von einer Fernsprechzelle aus rief er Prior an. Das war trotz des Verzerrers ein gefährliches Unterfangen, aber er mußte es riskieren. Auf die Post war kein Verlaß, und er mußte die Informationen so schnell wie möglich weitergeben. Priors Stimme klang müde und abgespannt. »Mars, so? Gute Arbeit, Naysmith. Was sollen wir unternehmen?« »Natürlich Fourre benachrichtigen, damit er Bescheid weiß und entsprechende Schritte unternimmt. Und eine verschlüsselte Mitteilung an unsere Agenten auf dem Mars. Sie sollen die Pilgrims unter die Lupe nehmen und sich nach Rosenbergs Vergangenheit und Freunden erkundigen. Da dürften eine Menge Hinweise zu finden sein. Inzwischen
werde ich mit Hilfe von ein, zwei Kameraden versuchen, Rosenberg zu schnappen, bevor ihn die Amerikanisten ermorden können.« »Ja, tu das. Unserem Geheimdienst sind mehr oder weniger die Hände gebunden, solange die UN sich mit den Anschuldigungen Chinas auseinanderzusetzen hat. Außerdem können wir uns auf eine ganze Anzahl unserer eigenen Leute nicht verlassen. Also müssen wir, und ganz besonders die Kameraden, vorläufig ziemlich unabhängig vorgehen. Mach weiter, so gut du kannst. Ich kann jedoch dafür sorgen, daß deine Informationen nach Rio und auf den Mars gelangen.« »Gut. Wie sieht’s bei dir aus?« »Schlecht. Ruf mich nicht mehr an. Ich werde beobachtet, und meine Leute könnten kein großangelegtes Attentat verhindern.« Prior lachte trocken. »Wenn sie mich umbringen, müssen wir uns in der Hölle weiter unterhalten.« Am nächsten Tag hörte er in den Nachrichten, daß Nathan Prior, ein Sprachforscher aus Frisco, ermordet worden sei. Man halte es für das Werk von Agenten ausländischer Mächte und die S-Leute unterstützten die Polizei bei den Ermittlungen. Schon am Beginn ihrer Karriere hatten die UN-Männer ihre Tarnung erhalten. Auf operativem Wege waren charakteristische Gesichtsmerkmale verändert worden, die Größe, die falschen Fingerabdrücke und andere Erkennungsmerkmale waren mit ihren Papieren in die Registraturen geschleust worden – und jeder von ihnen besaß entsprechende »Fingerspitzen« aus Kunststoff, die man überstreifen konnte, wenn man die Fingerabdrücke brauchte. Diese Männer lebten vorübergehend in Sicherheit, und es bestand kein Grund, sie aus ihrer Tarnung zu holen. Sie mußten ohnehin täglich auf der Hut sein, denn einer genauen Untersuchung würde ihre Verkleidung nicht standhalten.
Es blieben etwa hundert Agenten der Vereinten Nationen in den Vereinigten Staaten, die nicht getarnt waren, als die Meldung kam, alles solle untertauchen. Einige von ihnen würden untertauchen können, andere dagegen mußten über die Grenze fliehen. Besonders unglücklich war der Fall von Juho Lampi. Er hatte sich in Finnland einen Namen als Kernphysiker geschaffen und war nach Amerika eingeladen worden. Seine Tarnung war nur sehr ungenügend. Als Fourres Warnung ihn über Kopfempfänger erreichte, verließ er sofort sein Appartement. Ein Mechaniker in der Garage erkannte ihn. Lampi las dem Mann die Erregung an den Augen ab, schlug ihn nieder und floh mit dem Boot. Die S-Leute waren ihm auf den Fersen, und sie wußten jetzt, daß die gleich aussehenden Agenten nicht nur auf Amerika beschränkt waren. Lampi hatte den Namen und die Adresse einer Frau in Iowa erhalten. Während seines Aufenthaltes dort tauchte auch Naysmith auf. Er entschloß sich, nicht länger zu warten, sondern nahm Lampi gleich mit. Die Zeit drängte. In wenigen Stunden würde die Phobos auf der Erde landen. Naysmith war mit einem Boot nach Iowa geflogen, das er in Denver, Colorado, gemietet hatte. Über die Frau, der das Haus gehörte, mieteten die beiden Männer ein anderes und flogen Richtung Robinson Field. »In der Nähe parkt mein eigenes Boot – mit neuem Anstrich, neuen Kennzeichen und so weiter«, erklärte Naysmith. »Wir werden damit weiterfliegen, falls nichts dazwischenkommt.« »Und was geschieht dann?« fragte Lampi. »Ich weiß nicht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Naysmith sah sich nachdenklich um. »Man hetzt uns, wie noch nie Menschen vor uns gehetzt wurden.« Sie saßen im »Moonjumper«, ein dem Raumflughafen angeschlossenes Restaurant mit Barbetrieb. Sie hatten eine
Nische in der Nähe der Tür gewählt, und durch die Glaswand konnten sie auf die Landefläche hinausblicken. Unter dem Schein starker Scheinwerfer erstreckte sich die schmutzigweiße Betonfläche weit hinaus in die Dunkelheit. Auf drei Seiten war die Piste von rosigen Gebäuden begrenzt. Mechaniker in Arbeitsanzügen hantierten an den Landegerüsten. Ein Polizist ging vorbei und unterhielt sich ungezwungen mit einem Techniker. Oder tat er nur so? Der Techniker machte jedenfalls ein ernstes Gesicht. »Um auf ein erfreulicheres Thema zu kommen«, sagte Lampi. »Hast du dir schon die neue Warschawski-Ausstellung angesehen?« »Was ist denn schon erfreuliches daran?« fragte Naysmith. »Sie ist einfach furchtbar. Bildhauerei läßt sich mit abstrakter Kunst einfach nicht vereinbaren.« Obwohl die Agenten von Natur aus den gleichen Geschmack hatten, machten sich die unterschiedlichen Umgebungen doch bemerkbar. Naysmith und Lampi waren bald in eine hitzige Diskussion über moderne Kunst verwickelt. Sie war in vollstem Gange, als sie unterbrochen wurden. Die Vorhänge der Nische wurden beiseite gezogen, und die Kellnerin blickte herein. Sie war jung und hübsch. Hinter ihr in der Bar herrschte ein Gewühl von Gästen, Stimmen brummten, summten und grollten. Trotz der Klimaanlage lag ein blauer Rauchschleier in der Luft. »Wollen Sie noch etwas trinken?« fragte das Mädchen. »Nein, danke. Noch nicht«, sagte Naysmith und wandte ihr sein maskiertes Gesicht zu. Er hatte sein blondes Haar braun gefärbt, und Lampis Haar war schwarz, aber das half nicht viel. »Wünschen Sie Gesellschaft?« fragte sie. »Das ließe sich arrangieren.«
»Nein, danke«, sagte Naysmith. »Wir haben nur auf die Ankunft der Rakete gewartet.« Naysmith zahlte gleich, und nachdem die Kellnerin gegangen war, fragte Lampi: »Wo stecken die Männer des American Corps?« »Wahrscheinlich die beiden kräftigen Typen, die drüben an der Bar lungern. Sind sie dir nicht aufgefallen, als wir hereinkamen? Die werden anderswo noch Freunde haben, die…« Eine Lautsprecherdurchsage unterbrach ihn: »Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit. Die erste Fähre von der Phobos wird in zehn Minuten landen. Sie bringt die Hälfte der Passagiere vom Mars. Die zweite Fähre wird zehn Minuten später ankommen. Ich wiederhole: Die erste…« »Mit welcher kommt Rosenberg?« fragte Lampi. »Keine Ahnung.« Naysmith zuckte die Achseln. »Wir werden es drauf ankommen lassen müssen. Trink aus.« Er klopfte gegen seine Pistole, die er in einem Schulterhalfter trug, und öffnete sein Jackett, um rasch an die Waffe heranzukommen. Er und Lampi hatten sich mit kugelsicheren Westen und Stiefeln ausgerüstet. Ihre Gesichtsmasken waren für Nadeln undurchdringlich, und ein Arm oder ein Schenkel waren schwer zu treffen, wenn ein knielanger Umhang lose um den Körper wallte. Wenn sie rasch arbeiteten, würden sie vor den nadelschießenden Stet-Pistolen relativ sicher sein. Allerdings nicht vor Explosivgeschossen; aber die Attentäter Rosenbergs würden es nicht wagen, in einer Menschenmenge damit zu schießen. Die beiden Männer verließen die Nische und mischten sich unter die vielen Leute in der Ankunftshalle. Als sie sich dem Eingang zum Flugfeld näherten, trennten sie sich und hielten sich im Hintergrund. Zwei große, kräftig gebaute Männer mit Masken hatten sich rücksichtslos bis zum Eingang durchgezwängt. Naysmith erinnerte sich, einen von ihnen im »Moonjumper« gesehen zu haben.
Er besaß kein Bild von Rosenberg, und Colonel Samseys zusammenhanglose Beschreibung war von nur geringem Wert. Der Mann war ein ganz normaler Mensch, der schon seit Jahren nicht mehr auf der Erde gewesen war. Aber die Männer des Corps wußten höchstwahrscheinlich, wen sie suchten. Das bedeutete, daß… Am dunklen Himmel leuchtete ein rotgelber Schein auf. Der ferne Donner wurde zu einem dröhnenden Brüllen, das in den Knochen vibrierte und im Schädel nachhallte. Die Nerven zuckten unter den Schwingungen. Die Fähre erschien wie ein schlanker Pfeil, als sie auf das Landegerüst zuflog. Wie flüssiges Feuer zersprühte ihr Düsenstrahl an der Dämmwand aus Beton. Als sie gelandet war und die Düsen schwiegen, schien die einsetzende Stille ohrenbetäubend. Endlose Vorbereitungen – Männer in Arbeitsanzügen fuhren eine Treppe heran, eine Luftschleuse öffnete sich, ein Steward trat heraus, Ärzte standen bereit, um sich um Passagiere mit Raumkrankheit zu kümmern… Naysmith sehnte sich nach einer Zigarette. Er trat von einem Fuß auf den anderen und versuchte, seine Nerven zur Ruhe zu zwingen. Jetzt kamen die Passagiere. Ein halbes Dutzend steuerte im Gänsemarsch auf den Ausgang zu. Am Schalter der Einwanderungsbehörde blieben sie stehen, um ihre Papiere abfertigen zu lassen. Die beiden Corps-Männer sahen sich an und wechselten durch die Augenschlitze ihrer Masken vielsagende Blicke. Als erster kam ein untersetzter Orientale durch den Ausgang. Dann sorgte ein weiblicher Ingenieur in der Uniform der Raumlinie für eine Stockung, als sie zwei Kinder in die Arme schloß. Dann… Es war ein kleiner, säbelbeiniger Mann mit einer Hakennase und lederner brauner Haut. Er war einfach gekleidet und
schleppte einen ramponierten Koffer. Einer der Corps-Männer tippte ihm höflich auf den Arm. Er blickte auf, und Naysmith sah, wie sich seine Lippen bewegten, während das Gesicht im hellen Schein der Deckenbeleuchtung deutlich zu erkennen war. Durch das vielfältige Stimmengemurmel verstand Naysmith nicht, was gesprochen wurde, aber er konnte es sich gut vorstellen. »Ja, doch. Ich bin Barney Rosenberg. Was ist?« Er bekam eine Antwort – völlig unwichtig, wie sie lautete. Überrascht nickte der kleine Mann. Der andere Corps-Mann drängte sich heran, und zwischen den beiden ging Rosenberg durch die wartende Menge. Naysmith zog seine Stet-Pistole, lud im Schutze seines Umhangs durch und schlich den dreien nach. Die Corps-Männer führten Rosenberg nicht etwa in die Schatten des Landefeldes, sondern gingen mit ihm auf den »Moonjumper« zu. Es bestand kein Grund für Rosenberg, Verdacht zu schöpfen, erst recht nicht, wenn sie ihn zu einem Whisky einluden. Naysmith ging rascher, bis er mit dem links neben Rosenberg schreitenden Corps-Mann auf gleicher Höhe war. Er zögerte keine Sekunde. Seine Pistole war schußbereit auf die Hüfte des Mannes gerichtet. Er drückte ab. Der Corps-Mann stieß einen erstickten Schrei aus. Lampi war bereits auf der anderen Seite aufgetaucht, aber er war eine Idee zu langsam. Der Corps-Mann packte die Pistolenhand des Finnen mit eisernem Griff. Naysmith beugte sich über den ersten Corps-Mann hinweg, der sich an ihn zu klammern suchte, während er in die Knie sank, und versetzte dem zweiten einen Handkantenschlag ins Genick. »Was soll das denn…?« Rosenberg öffnete den Mund zu einem Ruf. Es war keine Zeit für langatmige Erklärungen, und Lampi betäubte ihn mit einer Nadel aus seiner Stet-Pistole. Mit einem Blick ungläubiger Überraschung sank der kleine
Prospektor zusammen. Lampi ergriff ihn unter den Achseln und lud ihn sich auf die Schulter. Der Zwischenfall war nicht unbeobachtet geblieben, und die Leute rannten umher und schauten entgeistert zu. Jemand begann zu schreien. Lampi stieg über die beiden bewußtlosen Corps-Männer hinweg und folgte Naysmith. An der Tür zur Bar vorbei, hinaus auf die Straße. Schnell! Hinter ihnen schrillte eine Pfeife. Sie sprangen über den Rollweg und überquerten die Fahrbahn. Ein Fernlaster raste auf sie zu; seine Scheinwerfer blendeten, und das Dröhnen des mächtigen Dieselmotors erfüllte die Luft. Naysmith glaubte schon, das Ungetüm würde ihn noch streifen, aber es raste hinter ihm vorbei und bot für kurze Zeit Deckung vor den Verfolgern. Dann sprangen sie über den anderen Rollweg, kümmerten sich nicht um die neugierigen Blicke der Passanten und verschwanden im Schatten der Parkanlagen. Eine Sirene begann zu heulen. Im Schutze des Schattens unter einem Baum drehte Naysmith sich um. Zwei Polizisten rannten heran, aber sie hatten die Flüchtenden noch nicht bemerkt. Naysmith und Lampi liefen geduckt durch die Gartenanlage. Sie sprangen über Hecken und eilten gewundene Pfade entlang. Kies knirschte unter ihren Stiefeln. Quer durch den Park führte Naysmith seinen Kameraden zu seinem Luftboot. Er riß die Tür auf und glitt hinein. Lampi hinterher. Er legte Rosenberg auf den Rücksitz und schlug die Tür zu. Dann ordnete sich das Boot unauffällig in den Verkehrsstrom ein. Es herrschte noch reger Verkehr, und Naysmith tauchte darin unter. Im Dunkel der Kabine atmete Lampi keuchend. Ein riesiges Leuchtschild tauchte seine Gesichtsmaske in einen blutigen Schein. »Was jetzt?« fragte er.
»Jetzt nichts wie weg aus dieser Gegend«, sagte Naysmith. »Die Burschen sind alles andere als auf den Kopf gefallen. Sie werden nicht lange brauchen, um die Verkehrspolizei zu alarmieren und alle Fahrzeuge in der näheren Umgebung durchsuchen zu lassen. Bis dahin müssen wir außer Reichweite sein.« Als sie aus dem Stadtkern heraus waren, drückte Naysmith auf einen Freigabeknopf. Auf automatischem Wege wurde ihm eine Flugbahn nach Süden zugewiesen. Er kletterte auf die vorgeschriebene Höhe und folgte dem Funkleitstrahl nach Süden. Wie ein Strom von Sternen zog der Verkehr an beiden Seiten vorüber. »Es geht los«, sagte Naysmith. Vertikal jagte er das Boot nach oben, knapp vorbei an den Fahrzeugen auf den oberen Flugbahnen, bis er sich über dem Verkehr befand. Er kletterte weiter, bis sein Fahrzeug in der unteren Stratosphäre dahinjagte. Dann schlug er mit Höchstgeschwindigkeit Kurs nach Westen ein. »Wir fliegen auf den Pazifik hinaus«, erklärte er. »Dann müssen wir uns eine kleine, unbewohnte Insel mit einigen Bäumen suchen und bis morgen abend untertauchen. Gemütlich wird es nicht werden, aber es muß sein. Etwas zu essen habe ich mitgenommen.« Er lächelte hinter seiner Maske. »Ich hoffe, daß du kalte Bohnen in Büchsen magst, Juho.« »Und dann?« »Ich kenne eine andere Insel vor der kalifornischen Küste«, sagte Naysmith. »Bei unserer ersten Landung werden wir natürlich unser Boot tarnen und die Kennummer, Erkennungssignal und so weiter ändern. Bei der zweiten Landung werden wir tanken, und ich werde einen wichtigen Anruf machen. Du kannst deinen letzten roten Heller wetten, daß der Feind weiß, wer wir sind, und man wird inzwischen
alle Tankstellen benachrichtigt haben. Aber der Mann, zu dem wir gehen werden, ist ein zerstreuter alter Knacker, den wir leicht täuschen können.« Er runzelte die Stirn. »Dabei wird mein letztes bares Geld draufgehen. Werden uns irgendwo neues beschaffen müssen, wenn wir wie bisher weitermachen wollen.« »Und wohin fliegen wir dann?« fragte Lampi weiter. »Nach Norden, nehme ich an. Wir müssen Rosenberg irgendwo verstecken, und du…« Naysmith schüttelte den Kopf. Ein dumpfer Schmerz hatte ihn ergriffen. Wenn Jeanne Donner Lampi sah, der ja genauso aussah wie ihr Mann und Naysmith, würde es das Ende der Maskerade bedeuten. Sie würde wissen, daß Naysmith ein Kollege ihres Mannes war. Anfangs konnte Barney Rosenberg es nicht glauben. Die Brutalität der Ereignisse hatte ihn zu sehr schockiert. Die Corps-Männer hatten ihm erzählt, sie kämen von einer Firma, die vorhabe, sich mit der Erschließung des Mars zu beschäftigen und die Wert auf seinen Rat lege – man hatte ihm ein Hotelzimmer angeboten und gesagt, das Honorar würde anständig sein. Jetzt blickte er seine Entführer verwirrt an und verlangte von ihnen, daß sie sich auswiesen. »Halten Sie uns für so dumm, unsere echten Ausweispapiere bei uns zu haben?« fragte Naysmith. »Sie werden uns glauben müssen, daß wir Agenten der Vereinten Nationen sind. Jedenfalls bis später, wenn wir es beweisen können. Ich sage Ihnen, der Teufel ist los auf der Erde, und Sie brauchen Schutz. Diese Leute waren hinter etwas her, das nur Sie wissen, und nachdem sie es erfahren hätten, wären Sie ein toter Mann gewesen.« Rosenberg blickte von einem maskierten Gesicht zum anderen. Er fühlte sich noch ein bißchen schwindelig. Die Wirkung des Betäubungsmittels war noch nicht völlig
verflogen, und er konnte nicht klar denken. Aber diese Stimmen! Er glaubte, sich an eine Stimme zu erinnern. An beide, denn es waren die gleichen. »Ich weiß gar nichts«, sagte er. »Ich bin ja nur ein Prospektor vom Mars, der nach Hause kommt.« »Sie müssen doch etwas wissen – anders kann es gar nicht sein«, sagte Lampi. »Etwas, das Sie auf dem Mars erfahren haben und das für sie von Bedeutung ist, vielleicht für die ganze Welt. Was könnte es sein?« Dr. Fieri in Drygulch, und der Pilgrim, der so versessen darauf war… Rosenberg schüttelte den Kopf, versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er blickte die beiden verhüllten Gestalten an, die mit ihm in dem Fahrzeug saßen. Draußen herrschte Finsternis, während das Boot dahinschoß. »Wer seid ihr?« »Ich sagte Ihnen schon, wir sind Freunde. UN-Männer, Geheimagenten.« Naysmith legte seine kräftige Hand auf Rosenbergs Schulter. »Wir wollen Ihnen helfen, weiter nichts. Wir wollen Sie schützen – Sie und das, was Sie wissen.« Rosenberg sah auf die Hand – stark, sehnig, mit kräftigen Fingern und feinen goldenen Härchen auf dem Rücken. Aber nein, nein, nein! Sein Herz begann zu pochen, bis er glaubte, sein Brustkorb müsse zerspringen. »Zeigt mir eure Gesichter«, keuchte er. »Nun – weshalb nicht?« Naysmith und Lampi nahmen ihre Masken ab. Das matte Licht des Armaturenbrettes erhellte zwei gleiche Gesichter, breitflächig, kräftig ausgeprägt und blauäugig. Eine tiefe Falte saß über jeder der beiden Nasen. Das linke Ohr war eine Idee größer als das rechte. Beide Männer hatten die Gewohnheit, den Kopf ein wenig auf die Seite zu legen, wenn sie zuhörten.
Wir behaupten, wir seien Zwillingsbrüder, dachten Naysmith und Lampi gleichzeitig. Rosenberg sank in seinem Sitz zusammen. Ein heiseres Geräusch entrang sich seiner Kehle. »Stef«, murmelte er mit bebender Stimme. »Stefan Rostomily.«
Die Nachrichten berichteten von der Krise innerhalb der Vereinten Nationen. Etienne Fourre, unterstützt vom Generalsekretär der UN, behauptete, die Chinesen würden nur deshalb ihre phantastischen Anschuldigungen vorbringen, um ihre eigenen geheimen Pläne zu vertuschen. Eine genaue Untersuchung sollte Klarheit schaffen. Aber wessen Händen sollte man die Ermittlungen anvertrauen, meinte Besser, der Finanzminister der Vereinten Nationen, wenn der Geheimdienst der UN selbst unter Verdacht stand? In den Vereinigten Staaten war die Sicherheitsbehörde auf der Jagd nach einem gefährlichen Spion und Volksfeind. Detaillierte Beschreibungen von Donner-Naysmith-Lampi gingen über alle Bildschirme. Theoretisch konnte der amerikanische Präsident die Jagd zwar abblasen, aber das würde im Kongreß zu einem Tumult führen, wo ohnehin die Oppositionsparteien einen großen Einfluß hatten. Es würde zu einer Kampfabstimmung kommen, und wenn der Präsident verlor, würden er und sein Kabinett zurücktreten müssen. Und es war völlig klar, welche Gruppe die Nachfolge antreten würde. Naysmith und Lampi lächelten sich gegenseitig an, als der Präsident in einem Interview aussprach, daß er glaube, dieser von allen Seiten gejagte Spion stehe in chinesischen Diensten. Natürlich wußte der Präsident genau Bescheid über die UN-Agenten. Offiziell arbeitete Kanada mit den Vereinigten Staaten zusammen, um den Spion zu fangen. Aber Naysmith war
sicher, daß man dies nur nach außen hin sagte, um die gegen die Vereinten Nationen eingestellten Gruppen in Kanada zu täuschen. Mexiko tat gar nichts, aber die Grenzen nach Mexiko wurden streng bewacht. So konnte es nicht weitergehen. Die Insel war ein kleiner Sandhügel in der Unendlichkeit des Ozeans. Auf ihr wuchsen hartes Gras und ein paar vom Wind zerzauste Bäume. Naysmith sah auch die Hütten eines kleinen Dorfes. Er setzte Lampi auf der dem Dorf entgegengesetzten Seite der Insel ab, wo er sich verstecken sollte, bis Naysmith und Rosenberg zurückkämen. Rosenberg nahm die Maske des Finnen und flog mit Naysmith nach Kalifornien zu der Tankstelle, die Naysmith kannte. Während die Tanks gefüllt wurden, betraten die beiden eine Fernsprechzelle. Peter Christian – in Mexico City. Naysmith wählte die Nummer, die Prior ihm gegeben hatte. Es bestand kein Zweifel, daß jedes Gespräch über die Grenze abgehört wurde – das war zwar illegal, aber Tatsache. Die Zelle verfügte über eine Verzerreranlage. Naysmith warf eine Münze ein, ließ aber den Verzerrer noch ausgeschaltet. »Ich möchte bitte Peter Christian sprechen«, wandte er sich an den Diener, dessen Gesicht auf dem Bildschirm erschien. »Sagen Sie ihm, sein Vetter Joe rufe an. Und richten Sie ihm aus: ›Der zerlumpte Bettler war glücklich und verhökerte keine Kinder mehr.‹« »Señor?« Das braune Gesicht des Dieners drückte seine Verblüffung aus. »Das ist nur ein privates Erkennungszeichen. Schreiben Sie es bitte auf, damit Sie es nicht vergessen.« Naysmith diktierte langsam: »Der zerlumpte Bettier…« »Ja, ich habe verstanden. Bitte, warten Sie einen Augenblick. Ich werde den jungen Herrn rufen.«
Naysmith stand da und beobachtete den Schirm. Undeutlich konnte er den Raum erkennen, den der Diener soeben verlassen hatte. Ein hübsch möbliertes Zimmer. Dann drückte er auf die Knöpfe der Verzerreranlage; es gab acht von ihnen, mit denen man 40 320 verschiedene Möglichkeiten einstellen konnte. Wenn man die Bänder in der Abhöranlage abspielte, würde man aus dem Losungssatz nicht erkennen können, welche Variante der über vierzigtausend Einstellungen Naysmith an Christian durchgegeben hatte, und allein aus der Tatsache, daß der Verzerrer eingeschaltet wurde, ließ sich noch lange nicht auf verdächtige Personen schließen, da das Verzerren von Gesprächen ein völlig alltäglicher und normaler Vorgang war. Naysmith schaltete die Glaswände der Zelle auf undurchsichtig und entfernte seine und Rosenbergs Maske. Der kleine Mann befand sich jetzt in einem hypnotisierten Zustand. Er konnte sich an jedes Wort des Manuskriptes von Dr. Fieri erinnern, das er vor seinem Abflug auf dem Mars gelesen hatte. Er zeichnete bereits die Struktur der Moleküle auf ein Blatt. Im Gerät knackte es, und das Bild verschwamm vorübergehend, während Peter Christian am anderen Ende der Leitung die von Naysmith in dem durchgegebenen Codesatz enthaltene Variante des Verzerrers einstellte. Dann erschien sein Gesicht auf dem Bildschirm. Es war Naysmiths Gesicht, nur einige Jahre jünger, das schweißüberströmte Antlitz eines blonden Sechzehnjährigen. Er schnaufte noch, als er seinen Kameraden anblickte. »Tut mir leid, daß ich so lange gebraucht habe«, sagte er. »Ich war draußen in der Turnhalle.« »Hör zu«, sagte Naysmith. »Du weißt doch, daß hier oben der Teufel los ist und die S-Leute hinter uns her sind. Sie glauben, ich sei der einzige, den sie jagen. Aber Lampi, unser Kollege
aus Finnland, und ich haben einen gewissen Barney Rosenberg entführt, als er gerade, vom Mars nach Hause kam. Er verfügt über bestimmte Informationen, die der Feind haben möchte.« Naysmith wußte, was der Junge jetzt dachte. »Nein, wir haben ihn nicht in unser Geheimnis eingeweiht, obgleich er ein enger Freund von unserem Kollegen Stef Rostomily war. Deshalb vertraut er uns auch. Er las die Arbeit eines Dr. Fieri auf dem Mars, die sich mit künstlich hervorgerufenem Tiefschlaf befaßt. Er wird dir jetzt die Einzelheiten durchgeben. Schalte das Aufnahmegerät ein.« »Okay, alles fertig. Es kann losgehen.« Christian lächelte und drehte an einem Schalter. Rosenberg begann zu sprechen, leise, aber sehr deutlich, wobei er an den entsprechenden Stellen die gezeichnete Strukturformel und chemischen Gleichungen hochhielt. Das Ganze dauerte etwas über eine Stunde. Wäre Christian nicht an dem Material interessiert gewesen, würde er sich furchtbar gelangweilt haben. Naysmith saß die ganze Zeit wie auf glühenden Kohlen und schwitzte Blut. Jeden Augenblick könnte jemand Verdacht schöpfen, könnten sie entdeckt werden. In der Zelle herrschte eine Atmosphäre wie in einem Treibhaus. »Das ist alles, glaube ich«, sagte Naysmith, als der Prospektor endlich zu sprechen aufhörte. »Was hältst du davon?« »Mensch, das ist eine sensationelle Erfindung! Es wird die Forschung um zwei Jahrzehnte weiterbringen.« »Und was glaubst du, warum sie für den Feind so wichtig ist?« fragte Naysmith ungeduldig. »Das ist doch offensichtlich. Die Verwendungsmöglichkeiten auf militärischem Gebiet, Mann! Mit einer kleinen Dosis kann man Menschen gegen hohe Beschleunigung immun machen. Oder man kann ein Raumschiff voll Männer laden, die sich im Zustand des Tiefschlafs befinden, und ist das Problem los, wie
man sie unterwegs ernähren soll. Es bedeutet, daß man ganze Armeen von Planet zu Planet transportieren kann, was bisher noch nicht möglich war. Und die Auswirkungen auf die biologische Kriegsführung! Dieses Gebiet erhält völlig neue Aspekte.« »Das hatte ich mir schon gedacht.« Naysmith nickte müde. Es war immer das alte Lied. Wertvolle Erfindungen wurden immer für militärische Zwecke mißbraucht. »Also gut, was wirst du mit dem Zeug anfangen?« »Ich werde es an die entsprechenden Stellen weiterleiten. Auf keinen Fall darf das Material in die Hände der Feinde fallen.« »Wahrscheinlich haben sie es schon. Es ist ganz sicher, daß dieses Gespräch automatisch aufgezeichnet wurde. Aber es wird einige Tage dauern, bis sie unser Gespräch überprüfen und die vielen möglichen Verzerrungskombinationen durchprobieren können, besonders wenn wir sie auf Trab halten.« Naysmith beugte sich vor und starrte auf den Bildschirm. »Peter, als Sohn eines Diplomaten dürftest du einen besseren Überblick über die allgemeine politische Lage haben. Was können wir tun?« Christian schwieg, und die Sekunden verrannen. Dann sagte er: »Mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ist Besser der Kopf der Bande. Du weißt ja, als Minister für internationale Finanzen… Du hast selbst festgestellt, daß Roger Wade mit großer Wahrscheinlichkeit sein Sektionschef für Nordamerika ist.« »Besser? Ich habe mir schon so etwas gedacht, abgesehen von dem, was man mir gesagt hat. Der finanzielle Zusammenschluß ist sehr langsam vorangegangen, seit Besser den Posten übernommen hat. Wir müssen jedenfalls gegen seine Organisation zum Schlag ausholen. Was ist zu tun?« »Ich brauche noch mehr Einzelheiten. Wie viele Kameraden in den Vereinigten Staaten können wir erreichen?«
»Keine Ahnung. Die meisten werden das Land verlassen haben. Ich bin nur deshalb noch im Lande, weil ich über die allgemeine Lage gut genug unterrichtet bin.« Christian saß brütend vor dem Schirm und dachte nach. Dann sagte er: »Es ist nur ein Vorschlag – und ich weiß auch nicht, ob es viel nützen wird –, aber ich schlage vor, ihr beiden laßt euch erwischen.« Naysmith seufzte. Er hatte es fast erwartet.
Als die ersten Strahlen der Sonne in den Himmel tasteten, setzte Naysmith zum Landen an. Er flog über das schmale Felsplateau hinweg, auf dem er landen mußte und zog eine Schleife. Die Erschütterung beim Aufsetzen war so hart, daß ihm die Zähne klapperten. Er stellte den Motor ab, und Stille legte sich über das Land. Wenn Jeanne auf Draht war, würde sie bereits eine Pistole auf das Boot gerichtet haben. Er öffnete die Tür und rief laut: »In Irland gibt es grüne Krokodile.« Dann stieg er auf und blickte sich um. Rosenberg kletterte steif hinter ihm heraus und lehnte sich gegen das Boot. Die ungewohnte Schwerkraft der Erde zerrte an seinen Muskeln. Er fror, hatte Hunger und war hundemüde. »Martin! O Martin!« Die Frau kam den Weg heruntergelaufen. »Oh, mein Liebling. Du bist wieder da!« Naysmith preßte sie an sich. Noch eine Minute, nur noch eine kleine Minute, bevor Lampi ausstieg. War das zuviel verlangt? Er hatte den Finnen nirgends zurücklassen können. In ganz Amerika gab es für ihn kein sicheres Versteck, solange die SLeute hinter ihnen her waren. Es würde auch keine Möglichkeit geben, einen zuverlässigen Treffpunkt zu vereinbaren, und er brauchte Lampi. Er hatte ihn mitnehmen müssen.
Der Finne hätte natürlich maskiert und stumm bleiben können, solange sie sich in der Hütte aufgehalten hätten, aber Rosenberg würde zurückbleiben, wenn sie wieder gingen, denn hier war das einzige sichere Versteck für ihn. Vielleicht würde der alte Prospektor das Geheimnis wahren, daß ihn zwei völlig gleich aussehende Männer hierhergebracht hatten – vielleicht aber auch nicht. Er war schlau. Aus Jeannes Reden konnte er die Wahrheit entnehmen, und er konnte leicht denken, sie sei das Opfer eines niederträchtigen Tricks geworden und würde seine Wahrheit erzählen. Dann konnte alles mögliche passieren. Naysmith legte die Hände auf die schlanken Schultern, trat ein Stück zurück und sah ihr in die Augen. Als er sprach, war es fast nur ein Flüstern. »Jeanne, Liebling, ich habe schlechte Nachricht für dich.« Er spürte, wie sich ihr Körper unter seinen Händen versteifte, sah, wie sich ihre Gesichtsmuskeln spannten, und hörte, wie sie den Atem anhielt. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Sie hatte schlecht geschlafen, seit er sie verlassen hatte. »Es geht um eine Sache, die streng geheim gehalten werden muß«, fuhr er mit tonloser Stimme fort. »Niemand – ich wiederhole, niemand – darf je ein Wort davon erfahren. Aber du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.« »Sag schon, was es ist.« Ihre Stimme klang rauh. »Ich kann es ertragen.« »Ich bin nicht Martin Donner«, sagte er. »Dein Mann ist tot.« Einen Herzschlag lang stand sie starr vor ihm, dann riß sie sich ruckartig los. Ihre Hand tastete nach dem Mund, die andere war halb erhoben, als wolle sie ihn abwehren. »Ich mußte so tun, als sei ich Martin, um dich ohne Aufsehen aus dem Haus zu bringen«, fuhr er fort, während er den Blick auf den Boden gerichtet hielt. »Der Feind würde dich
wahrscheinlich gefoltert haben. Oder sie hätten dich und Bobby getötet. Ich weiß es nicht.« Juho Lampi trat neben Naysmith. Mitgefühl sprach aus seinem Gesicht. Jeanne wich stumm zurück. »Du wirst hierbleiben müssen«, sagte Naysmith düster. »Es ist der einzig sichere Ort. Das ist Mr. Rosenberg, den wir hier bei dir lassen. Ich kann dir versichern, daß er damit nichts zu tun hat. Ich kann weder dir noch ihm mehr sagen, als was ich bereits gesagt habe.« Er machte einen langen Schritt auf sie zu. Sie bewegte sich nicht, wich nicht zurück. Als er ihre Hände ergriff, waren sie kalt wie Eis. »Außer, daß ich dich liebe«, setzte er flüsternd hinzu. Dann drehte er sich um und wandte sich an Lampi. »Wir waschen uns hier und frühstücken«, sagte er. »Dann fliegen wir weiter.« Jeanne folgte ihnen nicht in die Hütte. Bobby freute sich, seinen Vater wiederzusehen, aber Naysmith schenkte ihm wenig Aufmerksamkeit. Er trug Rosenberg auf, mit Jeanne und Bobby so lange wie möglich hierzubleiben, bevor sie sich auf den Weg zur nächsten Niederlassung machten. Er hoffte, in einigen Tagen ein Boot herschicken zu können, um sie abholen zu lassen. Jeannes Gesicht war kalt und blutleer, als er und Lampi zum Boot zurückgingen. Nachdem es hinter den Bäumen verschwunden war, begann sie zu weinen. Rosenberg hätte sie lieber allein gelassen, damit sie sich den ganzen Schmerz von der Seele weinen konnte, aber sie klammerte sich verzweifelt an ihn, und er tröstete sie, so gut er konnte. Sich fangen zu lassen, war nicht schwierig. Naysmith ging einfach in einen öffentlichen Waschraum im OregonWohnzentrum und nahm seine Maske ab, um sein Gesicht zu waschen. Ein Mann, der in der Nähe stand, ging hinaus, und als Naysmith den Waschraum verließ, traf ihn der Schuß aus
der Lähmpistole eines Polizisten. Erst das, was anschließend kam, war unangenehm. Er wachte in einer Zelle auf, kurz bevor eine Abteilung SLeute kam und ihn holte. Sie fesselten ihn an Händen und Füßen und steckten ihn in ein Düsenfahrzeug. Es wurde wenig gesprochen, bis sie das als Ranch getarnte Hauptquartier in Wyoming erreichten. Da nahmen sie ihn sich vor. Widerstandslos ließ er alle Prozeduren über sich ergehen, die seiner Identifizierung dienten. Das Fluoroskop zeigte an, daß bis auf die Empfängerkapsel in seinem Hirn nichts in seinem Körper versteckt war, und man unterhielt sich darüber, ob man operieren solle. Aber man entschloß sich, auf weitere Befehle von oben zu warten, bevor man daranging. Er sagte ihnen seinen Namen und seine Adresse, sonst nichts. Am darauffolgenden Tag kamen neue Befehle. Naysmith wurde in ein Boot gepackt und in östlicher Richtung davongeflogen. In der Nähe des Zielortes wurde in ein gewöhnliches, unauffälliges Luftboot umgestiegen. Nach Einbruch der Dunkelheit landeten sie auf dem Grundstück eines neuen, großen Herrschaftssitzes im westlichen Pennsylvanien – Naysmith erinnerte sich, daß Roger Wade hier wohnte –, und er wurde ins Haus geführt. Im Keller gab es einen schallisolierten Raum. Der Gefangene wurde auf einen Stuhl geschnallt und eine Weile allein gelassen, damit er über seine Lage nachdenken konnte. Naysmith seufzte und versuchte, es sich so bequem wie möglich zu machen. Aber es war ein kalter, ungemütlicher Stuhl. Der Raum war langgestreckt und hatte eine niedrige Decke. Nackt und kahl lagen die Wände unter dem grellen Schein der Leuchtröhren. In der durch nichts unterbrochenen Stille wirkten sein Herzschlag und sein Atem gedämpft. Die Luft war kühl, und doch schien diese alles aufsaugende Stille
auf die Atmungsorgane zu drücken. Vor ihm waren die kalten Skalen eines Lügendetektors und eines Neurovibrators, und die Stille wuchs und wuchs. Sein Kopf schmerzte. Er sehnte sich nach einer Zigarette. Seine Augen brannten vor Schlaflosigkeit, und ein schaler Geschmack lag auf seiner Zunge. Die meiste Zeit dachte er an Jeanne Donner. Schließlich öffnete sich die Tür am Ende des Raumes, und mehrere Personen kamen herein. Er erkannte an der Spitze Wades massige Gestalt. Ihm folgte ein bärtiger Mann mit hagerem Gesicht von ungesunder Farbe. Dann ein junger Bursche, dürr wie eine Bohnenstange, mit totenbleicher Haut, dessen Hände sich zu Fäusten ballten und wieder öffneten. Eine magere, ausgemergelte, häßliche Frau und ein kräftig gebauter Untergebener, den Naysmith nicht kannte, von dem er aber vermutete, daß er ein S-Mann in Wades Diensten war. Die übrigen waren dem UN-Geheimdienst wohlbekannt; Dr. Lewin, Wades Hausarzt; Rodney Borrow, sein Chefsekretär; Marta Jennings, Agitatorin in der Partei der Amerikanisten. Das Versprechen des Todes lag in ihren Augen. Ruhig trat Wade bis vor Naysmith hin. Borrow schob für ihn einen Stuhl heran, auf den er sich setzte und eine Zigarette herausnahm. Niemand sprach, bis er sie angezündet hatte. Dann blies er den Rauch in Naysmiths Richtung und sagte mit sanfter Stimme: »Aus den Meldeunterlagen geht hervor, daß Sie Norbert Naysmith aus Kalifornien sind. Aber sagen Sie mir – ist das ein weiterer Deckname? Wir haben Sie wenigstens einmal getötet. Aber sind Sie Martin Donner oder sein Zwillingsbruder? Und wie wäre es im letzteren Falle möglich, daß ihr beide euch so völlig gleicht?« »Oh, nicht ganz«, sagte Naysmith. »Nein, Sie haben recht. Es sind da kleine Narben und Eigenheiten, die durch die Umwelt hervorgerufen wurden –
außerdem Gewohnheiten, Sprache, Akzent und Beruf. Aber in den Augen der Polizei sind Sie und Donner ein und derselbe Mann. Wie kommt das?« Naysmith lächelte dünn. »Wieviel bietet man mir für diese Auskunft?« parierte er ungerührt. »Und für weitere Informationen, von denen Sie ja wissen, daß ich darüber verfüge!« »Aha.« Wades Augen verengten sich. »Sie sind also gar nicht richtig gefangengenommen worden. Sie haben sich fangen lassen.« »Vielleicht. Haben Sie noch jemand anders erwischt?« Wade tauschte mit dem S-Mann einen raschen Blick aus. Dann schien er eine Entscheidung getroffen zu haben und sagte: »Vor einer Stunde hat man mich unterrichtet, daß ein Mann, dessen Beschreibung auf Sie zutrifft, in Minnesota gefangengenommen worden ist. Er hat zugegeben, ein gewisser Juho Lampi aus Finnland zu sein, und ich glaube ihm, obwohl wir die Einreisepapiere noch nicht überprüft haben. Wie viele von euch gibt es?« »Einige«, sagte Naysmith. »Vielleicht auch mehr.« »Also schön. Sie haben sich gefangennehmen lassen. Sie müssen wissen, daß wir keinen Grund haben, Ihr Leben zu schonen. Was wollen Sie also damit erreichen?« »Einen Kompromiß«, antwortete Naysmith, »der natürlich unsere Freilassung mit einschließt.« »Wieviel sind Sie bereit, uns jetzt zu verraten?« »Natürlich so wenig wie möglich. Wir werden einen Informationsaustausch vereinbaren müssen.« Zeit gewinnen! So lange wie möglich hinhalten! Die Nachricht aus Rio muß bald kommen – sie muß einfach, sonst sind wir alle erledigt.
Borrow beugte sich über die Schulter seines Chefs. Seine Stimme war hoch und brüchig, und er stotterte ein bißchen: »Wie sollen wir wissen, daß Sie die Wahrheit sagen?« »Wie wollen Sie das wissen, selbst wenn Sie mich foltern?« konterte Naysmith achselzuckend. »Ihre Leute müssen doch gemeldet haben, daß ich gegen Drogen immun bin.« »Es gibt noch andere Mittel«, warf Dr. Lewin ein. Seine Worte fielen dumpf in die muffige Stille. »Dann würde unsere Abmachung nicht mehr gelten«, antwortete Naysmith. »Die wichtigste Voraussetzung für eine Abmachung ist der freie Wille und Wunsch beider Parteien, sie zu treffen«, sagte Wade geschwollen. »Sie sind nicht frei.« »Aber doch. Die anderen sind frei.« Unsicher blickte Borrow und Jennings auf die glatten, nackten Wände. Die Frau schüttelte sich. »Seien wir doch nicht so umständlich«, schaltete sich Lewin ein. »Für den Anfang haben wir den Lügendetektor – obwohl seine Möglichkeiten begrenzt sind. Aber da sind noch weitere Apparate, die einen Menschen zum Sprechen bewegen.« »Oder Schrauben, an der richtigen Stelle angesetzt«, fauchte die Jennings. »Mal langsam«, befahl Wade. »Stellen wir zunächst einmal fest, wieviel er uns sagen will, ohne daß wir ihm ein wenig nachhelfen müssen.« »Ich sagte vorhin, ich würde Auskünfte eintauschen. Von verschenken war keine Rede«, sagte Naysmith. Er wünschte, der Schweiß liefe nicht über sein Gesicht und seinen Körper, so daß alle es sehen konnten. Der Geruch primitiver, unbeherrschter Angst lag in der Luft – nicht die Angst vor dem Tode, sondern Furcht vor Schmerzen, die schlimmer waren als der Tod.
»Was wollen Sie überhaupt wissen?« fuhr ihn der S-Mann verächtlich an. »Nun«, sagte Naysmith, »vor allen Dingen möchte ich wissen, was Ihre Organisation wirklich will.« »Wie?« Wades fleischiges Gesicht wandte sich ihm erstaunt zu. Seine feisten Wangen röteten sich vor Wut. »Spielen Sie uns doch kein Theater vor. Sie wissen doch, was wir wollen.« »Nein, im Ernst, ich weiß es nicht und kann es mir auch nicht vorstellen.« Naysmith zwang sich dazu, seiner Stimme einen sanften Klang zu verleihen. »Ich erkenne, daß Ihnen der Status quo nicht gefällt und Sie ihn ändern wollen. Aber es geht Ihnen doch allen gut. Was wollen Sie also?« »Was? – Das genügt!« Wade gab dem S-Mann ein Zeichen, und Naysmiths Schädel begann unter dem Faustschlag zu brummen. »Wir haben keine Zeit, uns schlechte Witze anzuhören.« Naysmith lächelte bösartig. Wenn er sie in Wut bringen könnte, wenn er ihre verschrobenen Gefühle anstacheln könnte – er würde zwar nichts zu lachen haben, aber damit würden ihre eigentlichen Absichten hinausgeschoben werden. »Oh, ich kann es mir schon denken«, sagte er. »Es sind persönliche Beweggründe, nicht wahr? Keiner von euch weiß so richtig, was ihn dazu veranlaßt – bis auf die primitiven Schakale unter euch, die nur mitmachen, weil es mehr für sie abwirft, als wenn sie etwas leisten müßten. Wie Sie, zum Beispiel.« Er blickte den S-Mann an und verzog verächtlich das Gesicht. »Halt’s Maul!« Der Schlag traf ihn am Kinn. Ein Blutfaden lief aus dem Mundwinkel, und er hing halb benommen in den Riemen, die ihn festhielten. Aber seine Stimme fuhr fort: »Oder schaut euch Miss Jennings an, obwohl da nicht viel zu sehen ist. Sie ist innerlich völlig verschroben – zu häßlich für einen Mann und viel zu feige, sich einer Operation zu unterziehen. Sie tut alles, um ihre verschrobenen Gefühle in
Patriotismus umzumünzen – aber welchen symbolischen Wert hat schon eine Fahnenstange? Und ich habe festgestellt, daß Sie es waren, die diesen Vorschlag mit den Schrauben machte, um mich zu foltern.« Sie fuhr zurück, und ihre Wut war die eines geprügelten Tieres. Der S-Mann griff nach einem Stück Gummischlauch, aber Wade winkte ab. Das Gesicht des Anführers hatte sich versteinert. »Oder Lewin – ein weiterer Fall psychopathischer Unzufriedenheit.« Naysmith lächelte den Doktor mit zusammengepreßten, geschwollenen Lippen herausfordernd an. »Ich wette, Sie wären arbeitslos, wenn diese Leute Sie nicht angestellt hätten. Sadisten haben es heute schwer. Und nun zu Rodney Borrow.« »Aufhören!« schrie der Dürre. Er drängte sich vor, aber Wade stieß ihn mit dem Arm zurück. »Ein Exogener!« Naysmith lächelte mitleidig. »Entsetzlich, daß man menschliche Exogenese während der Jahre des Wahnsinns entwickelt hat, als die Moral mit den Füßen getreten wurde und die Wissenschaftler genauso fanatisiert waren wie jeder andere. Sie haben dich in einem Aquarium aufgezogen, Borrow, und dein pränatales Leben, das normalerweise in Wärme, Dunkelheit und Geborgenheit stattfinden sollte, war erfüllt von Unruhe, Licht und Experimenten. Man hat dabei eine Menge über den menschlichen Fötus erfahren, aber hinterher hätte man dich töten sollen, anstatt ein zitterndes Häufchen künstlich gezeugten Elends lebendig herumlaufen zu lassen, gejagt von unzähligen Psychosen.« Borrow drängte sich an Wade vorbei. Speichel lief ihm aus dem Mund. Seine zu Krallen verkrümmten Finger zielten nach Naysmiths Augen. Der S-Mann riß ihn zurück. Borrow fiel auf
den Boden und brach in hysterisches Schluchzen aus. Naysmith überlief eine Gänsehaut. »Und wie steht es mit mir?« fragte Wade. »Diese amateurhaften Analysen sind höchst amüsant. Bitte, fahren Sie fort.« »Schuldkomplex. Überkompensation. Unser Geheimdienst hat Nachforschungen über die Zeit Ihrer Kindheit und Jugend angestellt und…« »Und was?« »Und weiß, daß Sie unter sexuellen Neurosen leiden.« Der kräftige Mann saß steif wie ein Eisenstab auf seinem Stuhl. Einen langen Augenblick tat sich nichts, und die Stille war nur unterbrochen vom Schluchzen Borrows. Wade hatte sich nicht bewegt, aber sein Gesicht war grau geworden. Als er sprach, hörte sich seine Stimme an, als müsse er jeden Augenblick ersticken. »Es ist Zeit, daß Sie den Chlorgasgenerator anstellen, Lewin.« »Mit Vergnügen.« Naysmith schüttelte den Kopf. »Und ihr wollt den Lauf der Welt bestimmen?« murmelte er. »Wir sollen eine langsam wieder vernünftig werdende Welt in die Hände von verschrobenen Typen wie ihr es seid legen?« Hinter seinem Rücken begann der Generator zu zischen und zu gluckern. Er hätte den Kopf wenden und hinsehen können, aber das hätte seine Niederlage bedeutet. Und er brauchte jeden Funken von Stolz, der ihm noch geblieben war. »Ich möchte den Generator bedienen«, flüsterte Borrow. »Nein«, entgegnete Lewin. »Dann stirbt er zu schnell.« »Ich stelle fest, daß Sie noch immer nicht versucht haben, zu erfahren, was ich Ihnen freiwillig sagen möchte«, schaltete Naysmith sich ein. »Dann reden Sie schon«, sagte Wade ausdruckslos. »Wir hören.«
Ein bißchen Zeit, nur noch ein bißchen Zeit. Wenn ich ihnen ein Schauermärchen erzählen kann… »Etienne Fourre verfügt über mehr Hilfsmittel, als Sie ahnen«, erklärte Naysmith. »Ein Gegenschlag ist in Vorbereitung, der Sie empfindlich treffen wird. Aber da dieser Gegenschlag auch uns stark in Anspruch nehmen würde, sind wir bereit, wenigstens über einen vorübergehenden Waffenstillstand zu verhandeln, da es einen Kompromiß auf Dauer augenscheinlich nicht geben kann. Deshalb…« Eine Glocke schlug an. »Herein!« sagte Wade laut. Seine Stimme löste den Türöffner aus, und ein Mann trat ein. »Dringender Anruf für Sie, Mr. Wade«, meldete er. »Verzerrt.« »Es ist gut.« Der Anführer stand auf. »Warten Sie mit dem Chlor, bis ich wieder zurück bin, Lewin«, befahl er. Dann ging er hinaus. Wade kam bald zurück und sagte mit brüsker Stimme: »Wir fahren weg. Alle.« Die Nachricht war eingetroffen. Naysmith sank zurück und atmete keuchend. In diesem Moment war die Erleichterung so groß, daß er nicht weiter dachte. Es dauerte einige Minuten, bis er sich Gedanken machte, ob Peter Christians Logik richtig war und ob der Geheimdienst seinen Teil erledigen konnte, und ob es auch die richtigen Befehle waren, die Wade erhalten hatte.
Erst am Spätnachmittag bekam Barney Rosenberg Gelegenheit, mit Jeanne Donner zu sprechen. Sie kam aus eigenem Antrieb zu ihm. Nach dem Essen hatte er die Hütte verlassen und ging spazieren, kletterte ein bißchen den Berghang hinauf und schlenderte zwischen den hohen Fichten dahin. Aber die Erdanziehung ermüdete ihn, und nach wenigen
Stunden kehrte er zurück. Aber er ging noch nicht in die Hütte. Er entdeckte am Rand der Klippe einen umgestürzten Baumstamm und setzte sich darauf, um nachzudenken. Das war also die Erde. Aber ein Tag würde kommen, da würde auch Mars ein ausgereifter Planet sein, und seine Bewohner würden wohlhabend und frei sein. Rosenberg schüttelte den Kopf und lächelte schmerzlich. Er vernahm leichte Schritte hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er Jeanne Donner herankommen. Sie trug Bluse und Hose aus leichtem Stoff, die weder die Geschmeidigkeit ihres Körpers noch ihre Erschöpfung verbargen. Ihr schwarzes Haar glänzte im Sonnenschein. Mit einem Gefühl der Unbeholfenheit stand Rosenberg auf. »Bitte, behalten Sie doch Platz!« Ihre Stimme klang ernst und irgendwie aus weiter Ferne. »Ich möchte Ihnen ein Weilchen Gesellschaft leisten, falls Sie gestatten.« »Aber gewiß.« Rosenberg setzte sich wieder auf den bemoosten Stamm. Jeanne nahm neben ihm Platz und stützte die Ellbogen auf die Knie. Einen Augenblick lang schwieg sie und blickte auf das sonnenüberflutete Land hinaus. Dann holte sie ein Päckchen Zigaretten heraus und hielt es Rosenberg hin. »Rauchen Sie?« fragte sie. »Äh – nein, danke. Auf dem Mars habe ich es mir abgewöhnt. Da ist der Sauerstoff zu kostbar – wir kauen Tabak, falls wir ihn uns überhaupt leisten können.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Wir werden einen Schlafplatz für Sie herrichten. Tannenzweige unter dem Schlafsack sind weich.« »Sehr schön.« Schweigend saßen sie nebeneinander. In zerrissenen Wolken wehte der Zigarettenrauch davon. Droben in der Felsenschlucht hörte Rosenberg den Wind pfeifen und wimmern.
»Ich möchte einige Fragen an Sie stellen«, sagte sie schließlich und blickte ihn an. »Falls sie zu persönlich werden, brauchen Sie es nur zu sagen.« »Ich habe nichts zu verbergen.« Er versuchte ein Lächeln. »Das heißt, auf dem Mars kennen wir diese strenge Abgrenzung der Privatsphäre des einzelnen nicht. Sie wäre unter den gegebenen Lebensbedingungen nicht aufrechtzuerhalten.« »Auch auf der Erde sind sie noch neu«, sagte sie. »Überbleibsel aus den Jahren des Wahnsinns, wo es so viele ausgefallene Dinge gab.« Sie warf die Zigarette auf die Erde und zertrat sie mit dem Absatz. »Ich will meine Umwelteinflüsse vergessen. Fragen Sie mich ruhig alles, was Sie für wichtig halten. Wir müssen endlich der Wahrheit auf den Grund kommen.« »Falls wir es können. Jedenfalls war es ein sehr streng gehütetes Geheimnis.« »Hören Sie zu«, sagte sie gepreßt. »Mein Mann war Martin Donner. Wir waren dreieinhalb Jahre verheiratet. Er konnte mir nicht viel über seine Tätigkeit erzählen. Ich wußte, daß er in Wirklichkeit ein UN-Mann war und seinen Ingenieurposten nur zur Tarnung behielt. Mehr hat er mir nie gesagt. Und er erwähnte auch nie ein Wort davon, daß er Kollegen hatte. Aber ganz davon abgesehen, wir liebten uns und lernten uns auch sehr genau kennen, wie das bei zwei Menschen während dieser Zeit überhaupt möglich ist. Und dieser Mann – wie, sagten sie noch, war sein Name?« »Naysmith. Norbert Naysmith. Wenigstens hat er mir das gesagt. Der andere hieß Lampi.« »Ich muß annehmen, daß Martin tot ist. Man hat diesen – Naysmith – geschickt, der Martins Rolle spielen sollte«, fuhr sie fort. »Ich mußte unser Haus so schnell wie möglich verlassen. Sie hatten keine Zeit, mich dazu zu überreden,
deshalb schickten sie Naysmith. Er floh mit mir und dem Jungen. Es war ein langer und ungemütlicher Flug bis hierher. Sie wissen doch, daß sich unter einer starken Belastung der Mensch am ehesten offenbart, aber er täuschte mich vollkommen. Alles an ihm war wie bei Martin. Einfach alles.« Sie umklammerte seinen Arm. »Stimmt es? Ist es wahr? Ist mein Mann wirklich tot?« »Ich weiß nicht«, antwortete er ernst. »Ich glaube, die beiden haben die Wahrheit gesagt. Aber wie soll man es genau wissen?« »Es geht um mehr als um meinen Verstand«, sagte sie müde. »Ich muß wissen, was ich Bobby sagen kann. Vorerst wohl noch gar nichts.« Rosenberg starrte auf den Boden. Seine Worte kamen langsam und waren sehr sanft. »Ich glaube, es ist das beste für Sie, wenn Sie erst einmal in Ruhe abwarten. Es geht hier um etwas Großes – vielleicht um das größte Geheimnis auf der ganzen Welt. Und es ist entweder etwas sehr Gutes oder etwas sehr Schlechtes. Ich möchte gern glauben, daß es gut ist.« »Aber was wissen Sie davon?« Sie ließ seinen Blick nicht los. Er konnte nicht wegsehen, und ihre Hand hielt seinen Arm mit blinder Kraft. »Was können Sie mir sagen? Was glauben Sie?« Er strich sich mit der dünnen, blaugeäderten Hand durch das Haar und atmete tief ein. »Nun«, sagte er, »ich glaube, daß es eine ganze Anzahl dieser UN-Männer gibt. Wir wissen, daß es zumindest drei von ihnen gibt – jetzt noch zwei. Und weshalb auch nicht? Dieser Lampi war Ausländer; er sprach mit einem leichten Akzent, folglich gibt es noch mehr. Und alle sehen gleich aus.« »UN-Menschen.« Sie schauderte ein bißchen. »Es ist eine schreckliche Welt. Als wären sie keine richtigen Menschen.«
»Nein«, sagte er sanft. »Ich glaube, da irren Sie sich. Sie – ich kannte jedenfalls den Prototyp, und der war bestimmt ein Mensch.« »Ihren…? Nein!« Beinahe wäre sie aufgesprungen. Mit Gewalt zwang sie sich zur Ruhe und blieb steif sitzen. »Wer war das?« »Er hieß Stefan Rostomily. Fünfzehn Jahre lang war er mein bester Freund.« »Ich – ich weiß nicht – habe nie etwas von ihm gehört.« Ihre Stimme klang belegt. »Konnten Sie ja gar nicht. Er lebte die ganze Zeit auf dem Mars. Aber sein Name hat auf allen Planeten einen guten Klang. Sie wissen vielleicht nicht, was ein Rostomily-Ventil ist, aber das war seine Erfindung – er bastelte es in einer Woche zusammen, verkaufte es zu einem guten Preis und verjubelte das ganze Geld.« Rosenberg lachte, als er sich erinnerte. »Dieses Gelage hat Geschichte gemacht. Das Ventil aber war für die Siedler auf dem Mars von unschätzbarem Wert.« »Wer war er?« »Er erzählte nie viel aus seinem Leben. Ich kam zu dem Ergebnis, daß er Europäer war, vermutlich Tscheche oder Österreicher. Er war mit bei den UN-Truppen, die die Große Dschihad niederwarfen, aber er bekam das Soldatenleben satt – und trotz seiner bewegten und bunten Vergangenheit war er einer der vernünftigsten Menschen, die ich kannte. Er ergatterte sich eine Stelle auf einem Raumschiff. Er besaß zwar kein Diplom, aber er hatte praktisch über Nacht Maschinenbau gelernt und beherrschte sein Metier ausgezeichnet. Ich traf ihn auf der Venus, als ich mich dort als Prospektor umhertrieb. Ich mag vielleicht nicht so aussehen, aber ich bin Geologe und Mineraloge. Schließlich landeten wir zusammen auf dem Mars. Wir halfen mit, Sandy Landing zu bauen, halfen bei der
Entwicklung einiger Plantagen, suchten Erze, zeichneten Landkarten, machten Vermessungen und durchforschten das Land – wir müssen wirklich alles versucht haben. Vor fünf Jahren starb er. Bei einem Stolleneinbruch. Ich begrub ihn auf dem Mars.« In den Bäumen über ihnen flüsterte der Wind. »Und diese anderen sind – seine Söhne?« murmelte sie. Ihr Körper bebte leicht. Rosenberg schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Diese Männer sind genauso wie er. Sie sind Stef bis in die kleinste Einzelheit, so, als wäre er wieder lebendig und jung. Kein Kind könnte jemals seinem Vater so ähnlich sein.« »Nein, wahrscheinlich nicht.« »Stef war Mensch durch und durch«, fuhr Rosenberg fort. »Aber er war ziemlich nahe daran, ein Supermensch zu sein. Wenn ich an all das denke, was er mitgemacht hat – seine Kindheit erlebte er in den Wirren des Weltkrieges und der Zeit danach, als junger Mann machte er fast alle Aktionen der UN mit, ein armer, entwurzelter Mensch, der sich seine Fachkenntnisse selbst beschafft hat. Und dennoch war er ausgeglichen und vernünftig, sanftmütig bis auf die Fälle, wo Gewaltanwendung am Platze war – aber dann war er nicht zu halten, kann ich Ihnen sagen. Männer und Frauen mochten ihn gleichermaßen gern – er besaß eben eine ansprechende Persönlichkeit. Er beherrschte ein Dutzend Sprachen und las die Literatur der Völker mit mehr Wertschätzung und Verständnis als viele Universitätsprofessoren. Er verstand etwas von Musik und schrieb selbst einige Lieder. Er malte, und seine Marslandschaften waren besser, als eine Kamera sie wiedergeben könnte. Auch verstand er es ausgezeichnet, mit einer Kamera umzugehen. Ich erwähnte schon seine Fähigkeit, Entdeckungen zu machen, und er hatte ein Gefühl für Maschinen. Sein Körper hielt allen Vergleichen stand – als er
mit sechzig starb, hätte er es mit jedem jungen Mann von zwanzig aufnehmen können. Er… aber warum soll ich weiter aufzählen? Er war und konnte nahezu alles.« »Ich weiß«, sagte sie. »Marty war auch so.« Sie lächelte kurz und schmerzlich. »Es muß doch in jeder Generation einige dieser Menschen geben. Sie sind das Ergebnis eines glücklichen Zufalls. Einige von ihnen gehen in die Geschichte ein. Denken Sie nur an Michelangelo, Vespucci, Raleigh – Männer, die sich mit allem beschäftigten, mit Wissenschaft, Politik, Kriegskunst, Technik, Forschung, Kunst, Literatur und so weiter. Andere wieder waren gar nicht daran interessiert, prominente Persönlichkeiten zu werden. Wieder andere mußten einfach Pech gehabt haben, daß man heute nichts von ihnen weiß. Wie zum Beispiel Ihr Freund.« »Ich weiß nicht, welche Verbindung zwischen ihm und den UN-Menschen besteht«, sagte Rosenberg. »Stef erwähnte mir gegenüber nie etwas davon – aber er würde natürlich niemandem etwas davon erzählt haben. Vielleicht ist es ohne sein Wissen geschehen. Die Frage ist nur: Was ist geschehen? Und warum?« Jeanne antwortete nicht. Sie blickte über die Schlucht hinweg zu der klaren Schönheit der Berge hinüber. Sie verschwammen, als sich ihre Augen mit Tränen füllten. Unvermittelt stand sie auf und ging. Sternklare Nacht und das Heulen des Windes umgaben die Düse. Der Mond hing tief über dem Horizont und warf eine Brücke gelblichen Lichtes über die wogende Weite des Atlantik. Einmal sah Naysmith ganz in der Ferne einen Kometenschweif himmelwärts ziehen, ein Raketenschiff unterwegs zu den Sternen. Abgesehen davon umgab ihn Dunkel und Einsamkeit. Man hatte ihn in eine kleine Kammer im Heck des Düsenschiffes gesperrt. Vorn saßen Wade und sein Gefolge
zusammen mit dem Piloten und zwei Wächtern. Das Düsenflugboot war mit allem Komfort ausgestattet, und sie holten wahrscheinlich ihren versäumten Schlaf nach. Naysmith wollte nicht schlafen, obwohl ihn Müdigkeit und Entbehrungen zu übermannen drohten. Er starrte durch das Bullauge hinaus und lauschte auf das Brausen des Windes. Er versuchte zu erraten, wo sie sich befanden. Irgendwo über dem Atlantik, vielleicht fünfzehn Grad nördlicher Breite. Falls Christian Bessers Reaktionen richtig vorausgesagt hatte, waren sie jetzt unterwegs zu dem geheimen Hauptquartier der Bande, aber Wade und die anderen hatten nichts durchblicken lassen. Das Düsenschiff neigte sich nach unten, verlangsamte seinen Flug, während es aus den oberen Luftschichten heulend der Wasseroberfläche zustrebte. Naysmith lehnte sich an die Wand, packte den Rand des Bullauges mit gefesselten Händen und spähte hinunter. Der Mondschein huschte über eine riesige, dunkle, wogende Fläche, und aus ihrer Mitte erhob sich etwas, das wie eine metallene Klippe aussah. Eine Meeres-Station! Ich hätte es wissen sollen, dachte Naysmith. Der logischste Ort, leicht zu erreichen, beweglich und trotz seiner offenen Lage gut versteckt. Ich kann mir vorstellen, daß man diese Möglichkeit ins Auge gefaßt hat – aber wie sollte man alle Meeres-Stationen überwachen, die es gab? Und es ist noch nicht einmal bekannt, wie viele Meeresstationen es eigentlich gibt. Diese lag inmitten einer ausgedehnten Fläche schwimmender Meerespflanzen. Wahrscheinlich eine der speziell entwickelten Algen, mit denen man einen übervölkerten Planeten zu ernähren hoffte; vielleicht wollte diese Station auch nur den Anschein einer Versuchsplantage erwecken.
An einem Ende der schwimmenden Insel befand sich eine Landefläche. Geschickt setzte der Pilot das Fahrzeug auf, schaltete die Motoren aus, und Stille trat ein. Naysmith hörte nur die endlose Stimme des Meeres, dessen Wogen gegen die Wände brandeten. Er fragte sich, wie weit es bis zur nächsten menschlichen Niederlassung sei. Sehr weit. Für ihn wahrscheinlich schon zu weit. Die Tür ging auf, und Lichtschein fiel in die Kammer. »Los, Naysmith«, sagte der Wächter. »Kommen Sie mit.« Gehorsam trat Naysmith zwischen seinen Wächtern auf die Plattform hinaus. Sie lag im hellen Scheinwerferlicht. Der etwa zehn Meter unter dem Geländer wogende Atlantik war nicht zu erkennen. Selbst bei schwerstem Seegang würden die Aufbauten der Station nur leicht schwanken. In der Nähe standen zwei weitere Düsenfahrzeuge. Von Bewaffnung war nichts zu erkennen, obwohl Naysmith mit Sicherheit vermutete, daß die Düsenboote mit Raketenwaffen ausgerüstet und daß sämtliche Mechaniker mit Pistolen bewaffnet waren. Er fror im kalten Wind, als er zur Hauptkabine geführt wurde. Vor ihm schritt Wade, dessen Umhang heftig im heulenden Nachtwind flatterte. Auf der einen Seite erkannte Naysmith Borrows unbewegliches, bleiches Gesicht und die verbittert-ausdruckslosen Züge Dr. Lewins. Vielleicht würden ihn diese beiden foltern dürfen. Sie betraten einen kurzen Gang. Am Ende des Ganges legte Wade seine Handfläche gegen ein Elektronenauge. Ein Stück der Wandverkleidung glitt zur Seite und gab den Eingang zu einem Aufzug frei. »Hinein«, brummte einer der S-Leute. Naysmith stand ruhig in einer Ecke, in die ihn die Wächter geschoben hatten. Er sah, daß Borrow und die Jennings vor nervöser Spannung zitterten. Ein fast unmerkliches, freudloses Lächeln erschien auf seinen Lippen. Was immer auch
geschehen mochte, der Feind hatte einen empfindlichen Schlag einstecken müssen. Zischend hielt der Aufzug. Naysmith wurde hinausgeführt und einen langen Gang entlang, zu dessen beiden Seiten Türen lagen. Eine Tür stand offen, und er sah Wände, an denen Registraturschränke für Mikrofilme standen – das mußte ihr Archiv sein. Am Ende des Ganges wurde Naysmith in einen großen Raum geführt. Es schien ihm, als befände er sich wieder in dem Keller unter Wades Wohnsitz: das gleiche blendende Licht und die schalldichten Wände. Sein Blick wanderte durch den Raum, bis er auf drei Männern haften blieb, die hinter einer Reihe von Neuroanalysatoren saßen. Die UN-Agenten konnten sich gegenseitig erkennen. Es gab genügend kleine Anhaltspunkte dafür. Naysmith erkannte sofort Lampi, der bis auf ein blaues Auge unverletzt war. Man hatte ihn auf direktem Wege hierhergebracht. Neben Lampi saß Carlos Martinez aus Guatemala, den Naysmith schon einmal getroffen hatte, und ein weiterer Kollege, den er nicht kannte, der aber höchstwahrscheinlich Südamerikaner war. Sie lächelten ihm entgegen, und er lächelte ihnen ebenfalls zu. Vier blaue Augenpaare blickten aus den gleichen hageren, muskulösen Gesichtern, vier blonde Köpfe nickten grüßend, und durch vier Gehirne zuckte der Gedanke: Du auch, Bruder? Wir müssen durchhalten. Naysmith wurde neben Martinez auf einen Stuhl geschnallt. Er hörte Wade zu, der sich mit Lucientes unterhielt. Der UNGeheimdienst hatte schon lange den Verdacht gehabt, daß Lucientes der Anführer der Rebellen im argentinischen Sektor war. »Ist Besser noch nicht gekommen?« fragte Wade. »Nein, aber er ist unterwegs. Er wird bald eintreffen.«
Besser ist also tatsächlich der Kopf der Bande, das Gehirn, das die Organisation zusammenhält – und er ist auf dem Weg hierher! Die vier Kameraden saßen steif auf ihren Stühlen. Vier gleich aussehende Gesichter starrten unbeweglich geradeaus, wagten es nicht, sich einen Blick zuzuwerfen. Besser ist auf dem Weg hierher! Wade schritt rastlos im Raum hin und her. »Eine unheimliche Sache«, sagte er mit dünner, gepreßter Stimme. »Ich weiß nicht recht, aber es will mir nicht gefallen, vier von ihnen hier zu haben – gerade hier.« »Was können sie schon anstellen?« Lucientes zuckte die Achseln. »Gestern faßten meine Leute Villareal in Buenos Aires. Er war Artist – nach außen hin – und tauchte unter, als er die Nachricht bekam, daß der UN-Mensch gejagt würde, auf den auch seine Beschreibung paßte. Aber er machte den Versuch, noch einmal seine Wohnung zu betreten, und konnte ohne Schwierigkeiten festgenommen werden. Martinez wurde in Panama City mit derselben Leichtigkeit verhaftet. Wenn sie nicht einmal in der Lage sind…« »Aber sie sind es! Sie sind zu allem fähig!« Wade funkelte die Gefangenen böse an. »Das haben sie absichtlich gemacht, glauben Sie mir. Aber warum?« »Ich sagte bereits…« Naysmith und Villareal sprachen nahezu gleichzeitig. Sie brachen ab, und der Argentinier lächelte und schloß den Mund. »Ich sagte es Ihnen bereits«, fuhr Naysmith fort. »Wir wollen verhandeln. Es gab keine andere rasche und zuverlässige Möglichkeit, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.« »Aber waren dazu vier von euch notwendig?« fuhr ihn Wade an. »Vier unersetzliche Männer?« »Vielleicht sind sie gar nicht so unersetzlich«, meinte Lewin mit ruhiger Stimme. »Jedenfalls nicht, solange noch weitere frei herumlaufen.«
»Das sind doch keine übernatürlichen Wesen«, protestierte Lucientes. »Ja, was denn?« forderte Wade ihn heraus. »Was sind sie denn?« Es folgte ein Augenblick völligen Schweigens. Nur das laute Atmen der anderen war zu hören – der Leute, in deren Händen sie waren, denen der Schrecken der Ungewißheit in den Knochen saß und die aus diesem Grunde nur noch gnadenloser und tödlicher sein würden. Der wahre Grund war einfach zu erklären, dachte Naysmith, so einfach, daß der verschrobene Geist dieser Menschen ihn nicht begreifen konnte. Es war wahrscheinlich gewesen, und Christians Logik hatte den hohen Wahrscheinlichkeitsgrad bestätigt, daß ein Mann, der dem getöteten Agenten Donner glich wie ein Ei dem anderen, große Verwirrung stiften würde, daß aber vier von ihnen aus vier verschiedenen Ländern eine so nachhaltige Wirkung auf die Verschwörer ausüben würden, daß der Anführer sie an seinem sichersten und geheimsten Versteck beisammen haben – und daß er selbst bei den Verhören dabeisein wollte. Die Frage war nur – was würde als nächstes geschehen? »Das sind keine Menschen!« Borrows Stimme klang schrill und bebend. »Sie können es gar nicht sein – es können vier oder fünf oder tausend Männer nicht gleich aussehen. Die UN hat ihre eigenen Laboratorien. Es könnte für Fourre einfach gewesen sein, geheime Experimente durchführen zu lassen.« »Und weiter?« Lewin blickte in das weiße Gesicht des Dürren. »Folglich sind sie Roboter – Androiden – synthetisches Leben. – Wie Sie es auch bezeichnen wollen. Ungeheuer aus der Retorte!« Lewin schüttelte grimmig den Kopf. »Das wäre ein zu großer Schritt nach vorn in der Forschung«, sagte er. »Die Wissenschaft – die menschliche Wissenschaft wird, auf
Jahrhunderte gesehen, nicht in der Lage sein, so etwas zu leisten. Sie übersehen, wie unendlich kompliziert das menschliche Lebewesen ist – und unsere besten Anstrengungen haben nicht ausgereicht, um auch nur eine richtig funktionierende lebende Zelle zu erzeugen. Ich gebe zu, diese Burschen haben etwas – Übermenschliches – an sich. Sie haben Unglaubliches geleistet. Aber es können keine Roboter sein. Das ist menschlich ganz und gar unmöglich.« »Menschlich!« kreischte Borrow. »Ist der Mensch denn das einzige technisch begabte Lebewesen im Universum? Wie steht es mit Wesen von den Sternen? Welches sind die wahren Mächte hinter der UN?« »Das genügt«, befahl Wade barsch. »Wir werden es früh genug erfahren.« Sein mitleidloser Blick blieb auf Naysmith haften. »Vergessen wir das dumme Geschwätz über einen Austausch von Informationen. Es gibt keinen Kompromiß, bis entweder die eine oder die andere Seite auf dem Boden liegt.« Richtig. Derselbe Gedanke zuckte durch vier Hirne. »Ich…« Wade brach ab und drehte sich zur Tür um. Sie ging auf, und zwei Männer traten herein. Einer von ihnen war Arnold Besser. Er war ein kleiner Mann von zartem Wuchs, dunkelhaarig und trotz seiner siebzig Jahre äußerst beweglich. Eine Flamme brannte in diesem Mann, die auch aus den fast nichtssagenden Gesichtszügen leuchtete; aber es war das unheimliche Flackern des Fanatismus tief im Innern seines schmalen Schädels. Er erwiderte die Grüße mit einem knappen Kopfnicken und trat mit forschen Schritten näher. Ihm folgte sein Diener, ein großer, mächtiger Mann in Chauffeurlivree, leise wie eine Katze, das verwitterte Gesicht ausdruckslos.
Nur – nur… Naysmiths Herz begann wie wild zu pochen. Er sah von dem Chauffeur-Leibwächter weg und blickte in Arnold Bessers Augen. »Nun denn…« Der Anführer stand vor seinen Gefangenen, die Hände auf die Hüften gestemmt, und starrte sie unpersönlich an, obwohl ein leichter Schauder über seinen Rücken rann. »Ich möchte euer wahres Motiv wissen, warum ihr euch habt gefangennehmen lassen. Ich habe mir auf dem Weg hierher eure Akten angesehen. Ihr könnt euch also die Mühe sparen, euch zu wiederholen. Ich möchte alles wissen, was ihr noch nicht gesagt habt. Es geht um zu große Dinge, als daß ich mich mit Nebensächlichem befassen könnte.« Seine Stimme klang eisig, als er sich an Lewin wandte. »Wir haben hier vier von ihnen, und vermutlich weiß jeder von ihnen alles, was der andere auch weiß. Folglich können wir vier verschiedene Methoden anwenden. Vorschläge?« Lewin stellte den Chlorgasgenerator an. Der ChauffeurLeibwächter lehnte an einem Tisch und sah mit kalten, ausdruckslosen Augen zu. Das Ende? Gute Nacht, Welt, Sonne und Mond und Winde. Gute Nacht, Jeanne. Eine Sirene begann zu heulen. Auf und nieder schrillte der markzerschneidende Heulton und ließ Metall, Glas und Knochen vibrieren. Besser sprang zum Telefon. Wade stand wie festgenagelt. Die Jennings kreischte. Der Raum erzitterte, dann vernahmen sie die dumpfe Detonation einer Explosion. Die Tür wurde aufgestoßen, und ein Mann taumelte herein. Er schrie etwas. Seine Worte gingen im dröhnenden Pfeifen und Donnern der Raketengeschosse unter. Plötzlich erschien eine Magnum-Pistole in der kräftigen Hand des Chauffeurs. Ein Hagel Explosivgeschosse jagte aus der Mündung, während er sich duckte und den Raum bestrich.
Naysmith sah, wie Besser getroffen wurde und zu Boden ging. Die beiden Wächter hatten ihre Waffen erst halb aus den Halftern gezogen, als der Chauffeur sie niederschoß. Im Lautsprecher in der Wand begann es zu knattern, und eine hysterische Stimme rief etwas über einen Luftangriff. Der Chauffeur stand schon an dem Schalter, der das Türschloß bediente. Er verriegelte die Tür von innen. Dann sprang er über Wades Leiche und ergriff eine Säge. Damit zersägte er die Fesseln, mit denen Naysmith auf den Stuhl geschnallt war. Lampi, Martinez und Villareal brüllten vor Freude. Der Chauffeur sprach in schnellem Brazilo-Portugiesisch: »Nehmt euch Waffen und bereitet euch auf einen Kampf vor. Ich weiß nicht, aber es könnte sein, daß sie uns angreifen. Unsere Fallschirmjäger können erst landen, nachdem die Luftabwehr ausgeschaltet ist. Wir müssen uns bis dahin selber verteidigen.« Es hatte geklappt. Der unglaubliche, verzweifelte, gefährliche Plan war geglückt. Ungewißheit und Unruhe hatten Besser bewogen, persönlich sein geheimes Hauptquartier aufzusuchen. Wie gewöhnlich hatte ihn sein Revolvermann geflogen. Nur mit einem kleinen Unterschied – Fourre hatte schon lange Informationen über den Piloten besessen und einen brasilianischen UN-Agenten als dessen Doppelgänger herrichten lassen. Als Christians Nachricht eingetroffen war, hatte man sich den echten Chauffeur geschnappt und den verkleideten UN-Agenten an seine Stelle gesetzt. Dieser hatte ein kleines Funkgerät in Bessers Düsenboot verborgen, dem die UN-Polizeitruppen in Rio gefolgt waren. Und jetzt griffen sie das Zentrum der Verschwörung an. Naysmith sprang von seinem Stuhl hoch und hob eine Pistole vom Boden auf. Mit seinem Befreier tauschte er einen kurzen, warmen Blick der Zusammengehörigkeit und Kameradschaft aus. Selbst unter der vollkommenen Maske und den
einstudierten Angewohnheiten des Chauffeurs hatte etwas Ungreifbares gelegen, das Naysmith gleich beim Eintreten des Mannes gespürt hatte. »Ja«, sagte der Brasilianer ganz überflüssigerweise, »ich gehöre zu euch. Auch ich bin der UN-Mensch.« Es war an einem Morgen, als Naysmith aus seinem Zelt kam und zum Strand hinunterging. Er befand sich im NordwestNationalpark, der erst vor kurzem angelegt worden war und zu dem ein schönes Stück der Pazifikküste gehörte. Er war hierhergekommen, um sich zu entspannen, um die Ruhe zu genießen und nachzudenken. Doch seine Gedanken brachten ihn nicht weiter, und er war länger hiergeblieben, als er ursprünglich vorgehabt hatte. Hier herrschte Frieden. Um diese Zeit befanden sich nur wenige Menschen im Park, und er hatte sein Zelt weitab von den üblichen Campingplätzen aufgeschlagen. Es war vorbei. Der Auftrag war ausgeführt. Auf Grund der Hinweise und Beweise, die ihm Bessers Unterlagen lieferten, die man auf der Meeres-Station sichergestellt hatte, war Fourre in der Lage, die gesamte Verschwörung aufzudecken. Mehrere Regierungen mußten abtreten, und vernünftige Männer nahmen die Zügel in die Hände. Die Sicherheitsbeamten hatte man aus den Regierungen entfernt, sogar in Amerika, wo die American Security ihre Spitzel überall hatte. Ihr Chef, Hessling, saß im Gefängnis, und es wurde davon gesprochen, den Sicherheitsdienst überhaupt aufzulösen. Das Prestige der Vereinten Nationen war gestärkt und ihre Macht gewachsen. Die Völker der Erde würden von nun an treuer zu dieser Organisation stehen. Also ein Happy-End? Nein. Denn es war eine Arbeit, bei der es kein Ende gab. Der Feind war alt, stark und gerissen, er offenbarte sich in unzähligen Formen und konnte nie völlig besiegt werden. Denn es war der Mensch selbst, das Dunkle, Verrückte, das
Leid in der Seele des Menschen, das Auflehnen gegen den Zustand, den man Zivilisation und Freiheit nannte. Jemand würde es wieder versuchen. Seine Methoden würden anders sein, er würde ein anderes Ziel haben, aber er würde der Feind sein, und die Wächter würden ihn bekämpfen müssen. Aber wer wachte über die Wächter? Sicherheit war ein Traum ohne Bedeutung. Es gab keine Stabilität außer im Tod. Frieden und Glück waren keine Belohnung, die man sich verdienen konnte, sondern ein Zustand, der erkämpft werden mußte. Im Augenblick aber beschäftigten sich Naysmiths Gedanken mit, persönlichen Problemen. Für sie schien es keine Lösung zu geben. Er überquerte den Strand, rutschte auf den glitschigen Steinen aus und verfluchte den feuchten, kalten Wind. Sein Sprung ins Wasser war ein eisiger Schock, der erst durch kräftige Schwimmbewegungen verging. Aber als er wieder aus dem Wasser stieg, prickelte sein Körper vor Frische. Auf dem Weg zu seinem Zelt dachte er an ein kräftiges Frühstück. Als er das steile, felsige Ufer hinaufkletterte, blieb er stehen und runzelte die Stirn. Neben seinem eigenen war ein kleines Luftboot gelandet. Als er die Gestalt erkannte, die danebenstand, begann er, auf sie zuzulaufen. Jeanne Donner wartete auf ihn, ernst und fast ein bißchen feierlich. Als er vor ihr stand, blickte sie ihm fest in die Augen, und er wich dem Blick aus. »Wie hast du mich gefunden?« flüsterte er endlich. Er glaubte, das wilde Pochen seines Herzens müßte jeden Augenblick seinen Brustkasten sprengen. »Ich habe mich doch gründlich genug versteckt gehalten.« »Es war auch nicht leicht«, antwortete sie mit einem schwachen Lächeln. »Nachdem uns der UN-Pilot wieder in die Staaten zurückgebracht hatte, ließ ich sämtlichen Leuten keine
Ruhe, die von der Sache wußten. Endlich vergaß einer die Unantastbarkeit der Privatsphäre und sagte es mir – vermutlich weil er dachte, daß du schon mit mir fertig werden würdest. Die beiden letzten Tage habe ich alle entlegenen Plätze im Park abgesucht. Ich wußte, du wolltest allein sein.« »Rosenberg…?« »Er stimmte gegen eine ansehnliche finanzielle Entschädigungssumme einer Hypno-Behandlung zu – nachdem er ohnehin davon überzeugt war, dem Geheimnis nie ganz auf den Grund zu kommen. Jetzt hat er schon vergessen, daß es jemals mehr als nur einen Stef Rostomily gegeben hat. Ich weigerte mich natürlich.« »Also…« Seine Stimme verklang. Dann blickte er sie wieder an und sagte: »Ja, ich habe ein unehrliches Spiel mit dir getrieben. Ich glaube, unsere Organisation ist daran mitschuldig. Aber es ging um ein Geheimnis, das so streng gehütet wurde, daß Menschen sterben mußten, wenn sie es entdeckten.« Sie lächelte wieder und blickte zu ihm auf. Herausforderung leuchtete in ihren Augen. »Wird es mir genauso ergehen?« Er ließ die Hände sinken. »Nein. Du hast ein Recht darauf, es zu wissen. Wir sind keine Fanatiker. Und eine Organisation, die ihren Zielen selbst keine Grenzen setzt, ist es nicht wert, daß sie besteht.« »Danke«, sagte sie. »Es besteht kein Grund, mir zu danken. Du hast wahrscheinlich den Kern des Geheimnisses bereits erraten, falls du weißt, wer Stef Rostomily war.« »Und was er war. Ja, ich glaube, ich weiß es. Aber sage es mir selbst.« »Für den Geheimdienst der Vereinten Nationen wurde eine große Anzahl Agenten gebraucht, Männer, die den Voraussetzungen entsprachen. Jemand lernte Rostomily
kennen, als dieser noch auf der Erde lebte. Er selbst war weder ausgebildet noch an dieser Arbeit interessiert, aber man wollte sein Erbgut haben – die Gene und Chromosomen. Fourre besaß damals schon seine Geheimlabors, was in den Jahren des Wahnsinns nicht schwierig war. Die Exogenese eines befruchteten Eies bildete schon damals kein Problem mehr. Es bedeutete nur einen Schritt weiter in der gleichen Richtung, einige von Rostomilys Erbfaktoren zu nehmen und sie auf noch nicht ausgeformtes menschliches Gewebe zu übertragen. Wir – unsere Gruppe – sind natürlich Menschen. Nur unsere Erbfaktoren stammen von einer einzigen Person, so daß jeder von uns ein Duplikat des Prototyps ist. Es gibt inzwischen Tausende von uns, auf der Erde, auf den Planeten und im Sonnensystem. Ich gehöre zu den ersten. Die nächste Generation wächst bereits heran, um uns abzulösen.« »Exogenese…!« Sie konnte ein leichtes Zittern ihres Körpers nicht unterdrücken. »Ich weiß, die Bezeichnung hat einen schlechten Klang. Aber nur deshalb, weil im pränatalen Zustand Experimente durchgeführt wurden, die zu Psychosen führen mußten. Unsere Gebärtanks dagegen sind geschützter und ruhiger als der Mutterleib.« Sie nickte. »Ich glaube es. Du kannst mir die Einzelheiten ein andermal erzählen. Und ich verstehe jetzt auch den Grund. Fourre brauchte Übermenschen. Die Welt befand sich in einem zu chaotischen und aufgewühlten Zustand – sie ist es noch –, und nur besonders geeignete Männer konnten die gestellten Aufgaben meistern.« »Ja.« »Was wirst du jetzt tun?« fragte sie. »Ich weiß noch nicht. Natürlich muß sich der Aufruhr erst legen. Das dürfte keine großen Schwierigkeiten bereiten. Aber einige von uns werden eine neue Tarnung brauchen, werden
sich eine neue Heimat suchen müssen. Ich habe schon an Neuseeland gedacht.« »Und es wird weitergehen – deine Arbeit wird nie ein Ende haben. Fühlst du dich nie einsam?« Er nickte, dann versuchte er zu lächeln. »Aber deshalb brauchen wir nicht sentimental zu werden. Komm, frühstücke mit mir.« »Nein – warte.« Sie hielt ihn zurück und drehte ihn zu sich herum. »Sag mir – ich möchte jetzt die Wahrheit hören. Letztes Mal hast du gesagt, du liebst mich. Ist das wirklich wahr?« »Ja«, sagte er fest. »Aber es ändert nichts an der Sache. Ich werde schon darüber hinwegkommen.« Ein Jahrhundert lang, so schien es ihm, stand sie bewegungslos vor ihm. Über ihnen flog eine kreischende Möwe aufs Meer hinaus. »Du bist Martin«, sagte sie dann. »Du bist zwar nicht ganz derselbe, aber du bist dennoch Martin mit einer anderen Vergangenheit. Und Bobby braucht einen Vater, und ich – brauche dich.« Für eine Antwort fand er keine Worte, aber sie war auch gar nicht nötig.
Originaltitel: UN-MAN. Copyright © 1953 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Januar 1953. Übersetzt von Otto Kühn.
Ray Bradbury und Leigh Brackett DIE VENUS-HEXE
Die Spürhunde der Company waren gut. Verdammt gut. Hugh Starke kam zum erstenmal der Gedanke, daß er es vielleicht nicht schaffen könnte. Er beugte sich über das Instrumentenbord, eine schmale, drahtige Gestalt, und holte das Letzte aus seinem Kallman heraus. Der heiße Nachthimmel der Venus floh in zerfetzten Indigoschleiern an den Sichtluken vorüber. Starke wußte nicht mehr genau, wo er sich befand. Venus war ein Grenzplanet und stellte immer noch ein großes Fragezeichen dar – natürlich nicht für die Eingeborenen, aber die lieferten keine Karten. Er wußte, daß er in gefährliche Nähe der Weißwolken-Berge geriet. Sie waren das Rückgrat des Planeten und ragten weit in die Stratosphäre hinauf, eine Magnetfalle, hinter der sich weiß Gott was verbarg. Vielleicht wußte es nicht einmal Gott. Aber er hatte keine Wahl. Wenn er die Berge nicht schaffte, war es aus: Tot im Gewehrfeuer der Werkspolizei der TerroVenus Mines, Co. oder sie schickten ihn als Gewohnheitsverbrecher zurück in das Straflager von Luna, lebenslänglich. Starke entschied sich für die Berge. Was auch geschehen mochte, er hatte im Alleingang das größte Ding der Geschichte gedreht. Eine knappe Million Credits, das Geldtransportschiff der T-V Mines. Er befühlte die Metallkassette zu seinen Füßen und grinste. Es würde eine Zeitlang dauern, bis ihm jemand dieses Kunststück nachmachte.
Die Nadel des Masseindikators begann zu schwanken. Verschwommen, ein schwacher Purpurschatten am Himmel, erhoben sich die Weißwolken-Berge wie ein Wall vor ihm. Starke überprüfte die Positionen der Verfolgerschiffe. Es gab keine Lücke. »Also schön, verdammt nochmal«, sagte er verbissen und jagte den Kallman steil in den schwarzblauen Himmel. An das, was danach kam, hatte er keine klare Erinnerung. Der Magnetismus, auf Venus immer ein Risiko, spielte verrückt. Die Instrumente fielen aas. Er steuerte nach Gefühl, und er schaffte es, und die Company-Leute schafften es nicht. Er war entkommen, mit einer Million Credits in der Tasche. Tief unten in der gleichförmigen Nacht sah er einen düsterroten Flecken, als hätte jemand mit blutigem Daumen über das Dunkel gewischt. Der Kallman raste darauf zu. Blaue Flammen tanzten über das Instrumentenbord; es folgte eine Detonation, und dann war da nur noch das Kreischen von Luft gegen den absackenden Rumpf.
Er wußte, noch bevor er die Augen öffnete, daß er im Sterben lag. Er spürte keine Schmerzen, er spürte überhaupt nichts, aber er wußte es dennoch. Ein Teil seines Ichs war losgelöst. Er existierte nicht mehr als Einheit. Er hob die Lider. Da war eine Decke. Sie war weit weg. Sie war aus schwarzem Stein, mit rauchroten und bernsteingelben Adern. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Er schloß die Augen, zog die Stirn kraus und warf den Kopf unruhig hin und her. Pelz schmiegte sich an seine Haut. Ein Blick verriet ihm, daß er in einem Bett lag, auf einem Stapel von Seidenstoffen und weichen Fellen. Er war zugedeckt. Es erleichterte ihn, daß er seinen Körper nicht sehen konnte. Im Grunde war es egal, da er ihn ohnehin nicht mehr verwenden
würde; und getaugt hatte das Ding von Anfang an nicht viel. Aber er war daran gewöhnt, und er wollte ihn nicht sehen, schrecklich zugerichtet, wie er nun sein mußte. Sein Blick wanderte über das Fußende des Bettes, und er entdeckte die Frau. Sie beobachtete ihn von einem schweren geschnitzten Stuhl aus, über dem ein weiches weißes Fell hingebreitet lag wie eine Schneewehe. Sie lächelte und ließ ihn schauen. Eine Ader begann unter seinem Kinn zu pochen, ganz schwach. Sie war hochgewachsen, schlank, mit herausfordernden Formen. Sie trug ein kurzes Gewand aus blaßgrauer Spinnenseide; ein juwelenbesetzter Gürtel raffte es zusammen, so daß es sich an ihren Körper schmiegte, aber es war nicht mehr als eine hübsche Dekoration. Ihr Gesicht war schmal, fein geschnitten, unergründlich, ein wenig belustigt. Ihre Lippen, ihre Augen und ihr fließendes Seidenhaar hatten alle denselben kühlen Aquamarinschimmer. Ihre Haut war weiß, ohne jeden Anflug von Rosa. Ihre Schultern und Arme, die langen Schenkel, die blaßgrünen Spitzen ihrer Brüste, waren mit winzigen Partikeln bestäubt, die wie Diamantenpuder funkelten. Sie glitzerte sanft wie ein Feengeschöpf gegen den schneeigen Pelz, ein Wesen aus Schaum und Mondlicht und klarem seichtem Wasser. Ihre Augen ließen die seinen keine Sekunde los, und sie hatten nichts Menschliches an sich, aber er wußte, daß es um ihn geschehen gewesen wäre, wenn seine Gefühle nicht unterhalb des Nackens aufgehört hätten. Er wollte sprechen. Ihm fehlte die Kraft, seine Zunge zu bewegen. Die Frau beugte sich vor, und wie auf ein Signal traten vier Männer aus den Gobelinschatten der Wände. Sie waren wie sie. Ihre Augen waren blaß und fremd wie die ihren. Sie sagte in wohlklingendem Hoch-Venusisch: »Dein Körper stirbt. Aber du wirst nicht sterben. Du wirst jetzt schlafen und
in einem fremden Körper erwachen, an einem fremden Ort. Hab keine Angst! Meine Gedanken werden bei dir sein und dich leiten. Hab keine Angst! Ich kann es dir jetzt nicht erklären, dazu fehlt die Zeit, aber hab keine Angst!« Die Augen der Frau begannen Kühle in sein Inneres zu gießen. Sie waren wie zwei kleine Ströme, die durch die Kanäle seiner eigenen Augen liefen und sich in silbergrüner Stille über sein gepeinigtes Gehirn verteilten. Seine Gedanken entspannten sich. Er schwebte auf dem Wasser, und dann vereinten sich die beiden Ströme zu einer einzigen breiten Flut, und sein Geist oder Ego, das Ding, das ganz allein er war, wurde hinweggespült.
Es dauerte lange, lange Zeit, bis er das Bewußtsein wiederfand. Er hatte das Gefühl, als sei er durchgeschüttelt worden, bis in seinem Innern völlige Unordnung herrschte. Außerdem sagte ihm ein Instinkt, daß er das Aufwachen bereuen würde. Er ließ sich Zeit damit und fügte erst einmal alles zusammen. Er erinnerte sich an seinen Namen, Hugh Starke. Er erinnerte sich an den Bergwerks-Asteroiden, auf dem er geboren war. Er erinnerte sich an das Straflager von Luna, wo er einmal beinahe den Tod gefunden hatte. Dazwischen lag wenig Bemerkenswertes. Der Rest kam schnell. Der Job bei T-V Mines, der Fluchtweg, der keiner war, die Weißwolken-Berge. Der Absturz… Die Frau. Das gab den Ausschlag. Wilder Schmerz durchzuckte sein Gehirn. Licht, Gefühl, ein nackter Wirklichkeitssinn jagten über ihn hinweg. Er lag vollkommen reglos da, mit geschlossenen Augen, und sein Verstand klammerte sich an das Bild der glitzernden Frau mit dem meergrünen Haar. Er
hörte den Klang ihrer Stimme: Du wirst nicht sterben. Du wirst in einem fremden Körper erwachen. Hab keine Angst… Vorsichtig öffnete er die Augen einen Spalt. Er sah einen Körper seitlich zusammengerollt im schmutzigen Stroh liegen. Es war sein Körper, denn er spürte die harten Halme und die winzigen Tiere, die ihn bissen, ein Stück weiterhüpften und wieder bissen. Es war ein kraftvoller Körper, hart und muskelbepackt, sehr viel größer als sein eigener. Offensichtlich war dieser Körper während der Entwicklungsjahre nicht dem Hunger ausgeliefert gewesen. Er war splitternackt. Wetter und Kämpfe hatten ihre Geschichte darauf geschrieben, schwielige weiße Zeichen auf lederner Bronzehaut. Aber er schien intakt zu sein. Schwarzes Haar kräuselte sich auf der Brust, den Armen und den Schenkeln, und die Hände waren schmal und sehnig, bereit zum Töten. Es war der Körper eines Menschen. Immerhin etwas. Er hätte so viele andere Dinge sein können, die sein Rassen-Snobismus nicht als menschlich akzeptierte. Wie das namenlose schimmernde Geschöpf, das mit fremden, blassen Lippen lächelte. Starke schloß wieder die Augen. Die Lippen, die nun Starkes Lippen waren, zuckten in einem dünnen, grausamen Lächeln. Er hatte einmal auf Luna ein halbes Jahr in einer Einzelhöhle abgesessen. Wenn ein Mann das schaffte, ohne den Verstand zu verlieren, dann konnte er alles ertragen. Selbst das hier. Ihm kam dann, ziemlich ernüchternd, der Gedanke, daß die Frau und ihre vier Gefährten den Schock vermutlich durch Hypnose gedämpft hatten. Sein Unterbewußtsein begriff und akzeptierte die Veränderung. Aber an der Oberfläche zeigte er sich erst einmal zu Tode erschreckt.
Hugh Starke verfluchte die Frau ausdauernd und gründlich in sieben Sprachen und etlichen Dialekten. In gesundem Zorn erboste er sich darüber, daß irgendein Weibsstück es wagte, so mit ihm umzuspringen. Dann dachte er: Zum Teufel, ich bin am Leben! Und es sieht so aus, als hätte ich keinen schlechten Tausch gemacht. Verstohlen betrachtete er seine neue Welt. Er befand sich in einem Felsensaal: quadratisch, geräumig, unterteilt durch zwei Säulenreihen aus dunklem venusischen Holz. Grob gezimmerte Bänke und Tische standen herum. Die Glut in den runden, backsteinumkleideten Feuerstellen war fast erloschen. Rauch stieg aus der glimmenden Asche, trübte den Gold- und Bronzeglanz der Schilde, die an Wänden und Ziergiebeln hingen, wallte um die Klingen der Langschwerter und die Speere, die Gobelins, Häute und Trophäen. Es war sehr still im Saal. Irgendwo draußen spielte sich ein Kampf ab. Ein heftiger, wilder Kampf. Der Lärm berührte die Stille nicht, er vertiefte sie noch. Außer Starke waren zwei Männer im Saal. Sie befanden sich in seiner Nähe, auf einer niedrigen Estrade. Einer von ihnen saß auf einem hohen geschnitzten Stuhl, reglos, die großen, narbigen Hände flach auf den Tisch gelegt. Der andere kauerte zu seinen Füßen am Boden. Sein Kopf war nach vorn gebeugt, so daß die schlohweiße Mähne das Gesicht und die Harfe zwischen den Knien verbarg. Er war ein schmächtiger Mann, allem Anschein nach ein Albino aus den Sumpfgebieten. Starke betrachtete wieder den Sitzenden. »Weshalb gibt sie keine Nachricht?« fragte der Mann mit rauher Stimme. Ein bitterer Akkord der Harfe klang auf. Das war alles. Starke achtete kaum darauf. Seine ganze Aufmerksamkeit wurde zu dem Sprecher hingezogen. Sein Herz begann zu
hämmern. Seine Muskeln spannten sich. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund, und er wußte, was es war. Haß. Er hatte den Mann noch nie zuvor gesehen, aber seine Hände zuckten vor Verlangen, ihn zu töten. Er war ein Hüne, gut zwei Meter groß, und besaß Muskeln wie ein Zugpferd. Aber sein Körper, nackt bis auf den goldbeschlagenen Lederkilt, wirkte trotz des Gewichts geschmeidig und flink wie bei einem Windspiel. Er hatte ein breites, grobknochiges Gesicht, wettergegerbt, aber noch jung. Es war ein Gesicht, das einst viel gelacht hatte, das Wein und hübsche Mädchen geschätzt hatte. Es hatte diese Dinge jetzt vergessen, bis auf den Wein vielleicht. Es war vom Schmerz grausam verzerrt und wirkte verhärmt. Starke hatte diesen Ausdruck schon früher gesehen, im Straflager von Luna. Quer über die Stirn des Mannes verlief eine breite weiße Narbe. Die blauen Augen lagen eingesunken und erloschen hinter halbgeschlossenen Lidern. Der Mann war blind. Draußen, weit entfernt, schrien und starben Menschen. Starke war schon seit geraumer Zeit aufgefallen, daß an seinem Hals etwas drückte und scheuerte. Er hob die Hand, behutsam, damit das Stroh nicht raschelte. Seine Finger spürten einen langen, verfilzten Bart und darunter einen harten Metallreifen. Er trug einen Halsring wie ein bissiger Hund. Eine Kette war an dem Ring befestigt. Starke konnte keinen Verschluß entdecken. Man hatte die Enden verschweißt, für immer. Seinem Körper schien das nicht gut bekommen zu sein. Der Hals war wund und aufgescheuert. Das Blut schoß Starke heiß in den Kopf. Er hatte früher Ketten getragen. Er haßte sie. Besonders um den Hals.
Am anderen Ende des Saales wurde plötzlich eine Tür aufgerissen. Nebel und rotes Tageslicht flossen über den dunklen Steinboden. Ein Mann trat ein. Er war groß, halbnackt, blond und blutüberströmt. Sein langes Schwert schleifte über die Fliesen. In seiner Brust klaffte ein Schnitt, der bis auf die Knochen ging, und er drückte die Wunde mit der Hand zusammen. »Nachricht von Beudag«, sagte er. »Sie haben uns in die Stadt zurückgedrängt, aber noch halten wir das Tor.« Niemand sprach. Der kleine Albion nickte. Der Verwundete drehte sich um und ging wieder hinaus. Er schloß die Tür hinter sich. Eine sonderbare Veränderung überkam Starke, als der Name Beudag fiel. Er hatte ihn nie zuvor gehört, aber er bohrte in seinem Innern wie eine Speerspitze und löste verwirrende Gemütsregungen aus. Er konnte das Gefühl nicht deuten, aber es lenkte ihn von dem Blinden ab. Der heiße, primitive Haß kühlte ab. Starke entspannte sich, bis er eiskalt war, trügerisch ruhig wie eine schlafende Kobra. Er grübelte nicht über sein Verhalten nach. Er wartete auf Beudag. Der Blinde hieb plötzlich mit beiden Händen auf den Tisch und stand auf. »Romna«, sagte er, »gib mir mein Schwert!« Der schmächtige Mann sah ihn an. Er hatte milchblaue Augen und die Züge einer treuherzigen Bulldogge. »Sei kein Narr, Faolan!« entgegnete er. Der Blinde sagte leise: »Verdammt, gib mir mein Schwert!« Männer starben draußen vor dem Saal, und sie starben nicht lautlos. Auf Faolans Haut glänzte Schweiß. Unvermittelt versuchte er Romna zu packen. Romna wich ihm aus. In seinen fahlen Augen standen Tränen. »Du wärst nur im Weg«, sagte er brutal. »Setz dich!« »Ich kann das Schwert halten und mich hineinstürzen«, erklärte Faolan.
Romnas Stimme steigerte sich zu einem Aufschrei. »Halt den Mund! Halt den Mund und setz dich!« Faolan umklammerte die Tischkante und beugte sich vor. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er schloß die Augen, und Tränen quollen heiß unter den Lidern hervor. Der Barde wandte sich ab. Seine Harfe weinte wie eine Frau. Faolan holte tief und schluchzend Luft. Er richtete sich langsam auf, machte einen Bogen um den hohen geschnitzten Stuhl und ging mit sicheren Schritten auf Starke zu. »Du bist so still, Conan«, sagte er. »Was ist los? Du müßtest dich freuen, Conan. Du müßtest lachen und mit den Ketten klirren. Du bekommst, was du wolltest. Bist du traurig, weil du kein Gehirn mehr besitzt, um diese Vorgänge zu verstehen?« Er hielt an. Sein Fuß, mit einer Sandale bekleidet, tastete im Stroh umher, bis er gegen Starkes Hüfte stieß. Starke rührte sich nicht. »Conan«, fuhr der Blinde leise fort und stellte Starke den Fuß auf den Bauch. »Conan, der Hund, der Verräter, der Schlächter, das Messer im Rücken. Erinnerst du dich, was du in Falga getan hast, Conan? Nein, jetzt erinnerst du dich nicht mehr. Aber ich erinnere mich, Conan. Solange ich im Dunkeln lebe, werde ich mich daran erinnern.« Romna zupfte die Harfe, und die Saiten weinten bittere Tränen für kraftvolle Männer, die durch Verrat den Tod gefunden hatten. Leise Musik, fern, aber nicht sanft. Faolan begann zu zittern; seine Muskeln zuckten wie im Reflex. Die Gesichtszüge verhärteten sich, Eisen, das unter dem Hammer geschmiedet wurde. Unvermittelt fiel er auf die Knie. Seine Hände packten Starkes Schultern, glitten zur Kehle hin und verkrampften sich darum. Draußen erstarb der Kampfeslärm.
Starke bewegte sich blitzschnell. Als hätte er es gesehen und gewußt, daß es an dieser Stelle lag, griff er nach dem langen Ende der Kette und schwang sie hoch. Es sollte ein vernichtender Hieb werden. Starke war von dem Wunsch besessen, Faolan den Schädel zu zertrümmern. Aber im letzten Augenblick zögerte er, und die Kette traf in genauer Berechnung den Hinterkopf. Faolan fiel mit einem Stöhnen zur Seite. Zur gleichen Zeit war Romna herangekommen. Er hatte die Harfe fallengelassen und zum Messer gegriffen. Seine Augen drückten Entsetzen aus. Starke sprang auf. Er zog sich zurück und schwang warnend das Ende der Kette. Sein neuer Körper gehorchte ihm prächtig. Nach außen hin war alles großartig, aber in seinem Innern tobte plötzlich ein heftiger Kampf. Er haderte mit sich, daß er Faolan nicht getötet hatte. Er haderte auch mit sich, daß er die Selbstbeherrschung verloren und den Wunsch gehegt hatte, grundlos einen Menschen zu töten. Er haßte Faolan. Er haßte Faolan nicht, weil er ihn gar nicht kannte. Starkes geschulter, kühl berechnender, von Emotionen freier Verstand lag im Kampf mit einer Flut unbegründeter Gemütsbewegungen. Er hatte erst erkannt, daß sie unbegründet waren, als sein Verstand, abgerichtet durch Jahre des bitteren Zwangs, ihn davor bewahrt hatte einen Mord zu begehen. Nun hörte er wieder die Stimme der Frau: »Meine Gedanken werden bei dir sein und dich leiten…« »Nein!« sagte Starke heiser. »Halt!« Ein Werkzeug! Du grünäugige Hexe! Diesmal hast du dir den Falschen ausgesucht! Für einen flüchtigen Augenblick sah er sie. Sie beugte sich vor. Ihr Haar umrahmte das sanfte Schaumgefunkel ihrer Schultern. Ihre meerhellen Augen waren erfüllt von spöttischem Lachen und offener, herausfordernder Bewunderung. Starke hörte sie jetzt ganz deutlich sprechen:
»Vielleicht hast du gar keine Wahl, Hugh Starke. Sie kennen Conan, auch wenn du ihn nicht kennst. Außerdem ist es nicht so wichtig. So oder so wird es das Ende für sie sein – es ist nur eine Frage der Zeit. Du kannst deinen neuen Körper retten oder nicht, ganz wie du willst.« Sie lächelte. »Ich würde mich freuen, wenn du es tätest. Es ist ein guter Körper. Ich kannte ihn, bevor Conans Verstand zerbrach und seinen Körper als leere Hülle zurückließ.« Meine Kassette, schoß es Starke durch den Kopf, meine Million Credits! »Komm und hol sie dir doch!« Sie war verschwunden. Starkes Gehirn war klar, befreit von dem fremden Willen, der darin herumgespukt hatte. Faolan kauerte am Boden und hielt sich den Kopf. »Wer hat gesprochen?« fragte er. Romna, der Barde, betrachtete starren Blicks die Szene. Er bewegte die Lippen, aber man hörte keinen Ton. »Ich habe gesprochen«, sagte Starke. »Ich, Hugh Starke. Ich bin nicht Conan, und ich weiß nichts von Falga, und dem ersten, der mir zu nahe kommt, schlage ich den Schädel ein.« Faolan rührte sich nicht. Leere lag auf seinen Zügen. Er atmete in keuchenden Stößen. Romna begann zu fluchen, ganz leise, beinahe unbewußt. Starke beobachtete die beiden. Am Ende des Saales flogen Türen auf. Der rötliche Nebel, vermischt mit Tageslicht, quoll über die Fliesen. Dann drängten die Kämpfer herein, erhitzt vom Gefecht, den Dunst von Blut ausströmend. Das Herz des Mannes, der Conan hieß, verkrampfte sich, als Starke die Gestalt ansah, welche die Meute anführte. »Beudag!« rief Romna. Sie war hochgewachsen. Sie besaß die Muskeln einer Löwin, und der Schwung ihrer Hüften verriet Arroganz. Ihr Haar erinnerte an Feuerschlangen. Ihre Augen waren blau, heiß und hell. So mochte Faolans Blick früher gestrahlt haben. Sie sah
aus wie Faolan. Sie war gekleidet wie er, mit einem Lederkilt und Sandalen, den prachtvollen Körper über der Taille nackt. Sie trug ein Langschwert mit blutiger Klinge. Ihre Haut war blut- und schmutzverkrustet. Ein langer Schnitt klaffte an ihrer Hüfte und ein weiterer über dem flachen Bauch, und bleierne Müdigkeit lastete auf ihr, auch wenn sie es zu verbergen suchte. »Wir haben sie besiegt, Faolan«, sagte sie. »Es wird ihnen nicht gelingen, das Tor zu erreichen, und wir können Crom Dhu halten, solange wir genug zu essen haben. Und das Meer ernährt uns.« Sie lachte, aber es klang hohl. »Götter, bin ich müde!« Dann blieb sie am Fuß der Estrade stehen. Ihr flammenblauer Blick glitt vorbei an Faolan und Romna, bohrte sich in Hugh Starkes Augen und ließ sie nicht mehr los. Wieder begann eine Ader an seinem Hals zu pochen, und diesmal war sein Körper stark, und das Pochen steigerte sich zum Trommelwirbel. »Sein Verstand ist zurückgekehrt«, sagte Romna. Es entstand ein langes, hartes Schweigen. Niemand im Saal rührte sich. Dann strebten die Männer hinter Beudag, hünenhafte, stämmige Krieger, auf die Estrade zu. Ihr drohendes Murmeln schwoll an zu einem Wutschrei. Faolan stand auf, trat ihnen entgegen und brüllte sie an, bis sie schwiegen. »Er gehört mir! Laßt die Finger von ihm!« Beudag sprang auf die Estrade, in einer einzigen fließenden Bewegung. »Das ist nicht möglich«, erklärte sie. »Sein Verstand zerbrach unter der Folter. Er war ein sabbernder Idiot, der kaum Nahrung zu sich nehmen konnte. Und nun soll er plötzlich wieder normal sein?« »Ihr wißt, daß ich normal bin«, sagte Starke. »Ihr könnt es in meinen Augen lesen.«
»Ja.« Die Art, wie sie das sagte, gefiel ihm nicht. »Hört, mein Name ist Hugh Starke. Ich bin Terraner. Nicht Conan hat seinen Verstand wiedergefunden. Die Sache sieht anders aus. Ich wurde in diesen Körper gezwungen. Was er tat, bevor ich ihn erhielt, weiß ich nicht, und ich trage auch nicht die Verantwortung dafür.« Faolan sagte: »Er erinnert sich nicht an Falga. Er erinnert sich nicht an die Langboote auf dem Meeresgrund.« Faolan lachte. »Immerhin, er hat dich nicht getötet«, warf Romna ein. »Es wäre ihm ein Leichtes gewesen. Hätte Conan dich verschont?« »Ja«, sagte Beudag, »wenn er einen besseren Plan gehabt hätte. Conans Verstand war wie eine Schlange. Er schlich durch das Dunkel, und man wußte nie, wann er zustoßen würde.« Starke schwang lässig die Kette und berichtete ihnen, wie es sich abgespielt hatte. Während er sprach, sah er an einer Säule einen blanken Schild hängen; ein Gesicht spiegelte sich darin. Harte, vorspringende Knochen, eingerahmt von einer wirren Mähne schwarzen Haares. Den sinnlichen Mund umspielte ein finsteres Lächeln. Die Augen waren gelb – das grausame, helle Gelb eines Jagdfalken. Starke erkannte mit Entsetzen, daß das sein neues Gesicht war. »Eine Frau mit blaßgrünem Haar«, sagte Beudag leise. »Rann«, meinte Faolan, und Romnas Harfe klang wie der Fluch eines Hohenpriesters. »Ihr Volk besitzt diese Fähigkeit«, sagte Romna. »Sie können die Seele eines Menschen in eine Spinne hineindenken und sie zertreten.« »Sie besitzen viele Fähigkeiten. Vielleicht ist Rann Conans Verstand gefolgt, wohin er auch ging, und hat ihm befohlen, was er sagen sollte. Dann brachte sie ihn zurück.«
»So hört doch«, mischte sich Starke wütend ein. »Ich habe nicht…« Plötzlich, ohne Warnung, entriß Romna Beudag das Schwert und schleuderte es Starke entgegen. Starke wich aus. Er betrachtete Romna mit häßlichen gelben Augen. »So ist es gut! Fesselt mich, damit ich nicht kämpfen kann, und tötet mich aus sicherer Entfernung!« Er hob das Schwert nicht auf. Er hatte noch nie eines benutzt. Die Kette fühlte sich besser an; sie unterschied sich nicht sehr von einem schweren Riemen oder einem Kabelende oder den anderen Ketten, die er bei Gelegenheit geschwungen hatte. »Ist das Conan?« fragte Romna. »Was ist geschehen?« fauchte der Blinde. »Romna warf mein Schwert Conan entgegen. Er wich aus und ließ es auf dem Boden liegen.« Beudags Augen waren schmale Schlitze. »Conan konnte ein Schwert im Flug fangen, und er war der beste Kämpfer der Roten See, wenn man dich ausnimmt, Faolan.« »Er versucht uns hinters Licht zu führen. Rann leitet ihn mit ihren Gedanken.« »Zum Teufel mit Rann!« Starkes Kette klirrte. »Sie möchte, daß ich euch beide töte. Ich weiß immer noch nicht, weshalb. Schön. Ich hätte Faolan ohne weiteres umbringen können. Aber ich bin kein Mörder. Ich habe noch niemanden angegriffen, es sei denn, um meine eigene Haut zu retten. Also brachte ich ihn Rann zum Trotz nicht um. Ich will weder mit euch noch mit Rann etwas zu tun haben. Ich habe nur den Wunsch, schleunigst von hier wegzukommen.« »Er hat nicht Conans Akzent«, stellte Beudag fest. »Und sein Blick ist anders.« Ihre Stimme besaß einen merkwürdigen Klang.
Romna sah sie an. Er schlug ein paar perlende Akkorde auf seiner Harfe und sagte: »Du hast eine Möglichkeit, dir Gewißheit zu verschaffen.« Röte brannte unvermittelt auf Beudags Wangenknochen. Romna trat unauffällig außer Reichweite. In seinen Augen tanzte boshaftes Vergnügen. Beudag lächelte, das Lächeln einer gereizten Katze. Plötzlich trat sie auf Starke zu, den Kopf hoch aufgerichtet, die Arme locker herabhängend. Starke spannte sich argwöhnisch, aber das Blut in seinen Adern geriet in angenehme Wallungen. Beudag küßte ihn. Starke ließ die Kette fallen. Er wußte mit seinen Händen etwas Besseres anzufangen. Nach einer Weile hob er den Kopf, um Atem zu schöpfen, und sie trat zurück und flüsterte verwundert: »Er ist nicht Conan.«
Der Saal hatte sich geleert. Gewaschen und rasiert, fand Starke sein neues Gesicht nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht. Genau genommen, sogar verdammt gut. Und man kannte es nicht im System. Er konnte eine Million Credits besitzen, ohne daß jemand Fragen stellte. Er war immer noch angekettet, aber man hatte das Stroh entfernt, und er trug einen Lederkilt und Sandalen. Faolan hatte sich mit einem Krug Wein an seinen Platz zurückgezogen. Beudag lag erschöpft auf einem Fell neben ihm. Romna hatte die Beine untergeschlagen und schlug leise die Harfe, die Augen von Müdigkeit verschleiert. Er schien in anderen Regionen zu schweben. Starke kannte die Sumpfbewohner. Er war nicht überrascht.
»Dieser Mann sagt die Wahrheit«, erklärte Romna. »Aber fremde Gedanken berühren die seinen. Ranns Gedanken, wenn ich mich nicht täusche. Traut ihm nicht!« »Ich würde noch nicht einmal einem Gott in Conans Gestalt trauen!« knurrte Faolan. »Was bedeutet das alles?« fragte Starke. »Der Kampf da draußen und diese Rann, die einen Mörder ins Lager der Feinde zu schleusen versucht? Und was geschah in Falga? Ich habe noch nie im Leben von diesem verdammten Ozean gehört, geschweige von einem Ort namens Falga.« Die Finger des Barden strichen über die Saiten. »Ich werde es dir sagen, Hugh Starke. Und vielleicht willst du dann nicht mehr in diesem Körper stecken.« Starke grinste. Er warf einen Blick auf Beudag. Sie starrte ihn unter gesenkten Lidern an, mit einer seltsamen Intensität. Das Grinsen verging ihm. Er begann zu schwitzen. Diesen Körper aufgeben, verdammt! Das Ding verdiente die Bezeichnung Körper wirklich. Seine magere kleine Gestalt hatte sich nie so angefühlt. Der Barde erzählte: »Vor langer Zeit gab es in der Roten See eine Rasse, die noch Schuppen und Schwimmhäute besaß. Sie war amphibisch, aber nach einer Weile wollte ein Teil des Volkes ganz auf dem Festland leben. Es kam zu einem Streit und zu einem Kampf, und einige verließen die See für immer. Sie siedelten sich in Ufernähe an. Sie verloren ihre Schwimmhäute und zum größten Teil auch ihre Schuppen. Sie waren hochintelligent und liebten die Macht. Sie unterdrückten die Menschenstämme bis zur Sklaverei. Sie haßten ihre Brüder, die noch in der See lebten, und ihre Brüder haßten sie. Dann kam ein drittes Volk an die Rote See, Piraten aus dem Norden. Sie plünderten und raubten, und ihre Freiheit ging ihnen über alles. Sie errichteten einen Stützpunkt auf Crom
Dhu, dem Schwarzen Felsen, bauten Langboote und forderten Tribut von den Küstenstädten. Aber das Sklavenvolk wollte nicht gegen die Piraten kämpfen. Es wollte mit ihnen kämpfen und das Seevolk vernichten. Die Piraten waren Menschen, und Blut zieht zum eigenen Blut hin. Die Piraten liebten auch die Macht, und das hier ist ein reiches Land. Außerdem war in ihrer Stammesentwicklung die Zeit gekommen, in der sie sich anschickten, ihr Nomadenleben aufzugeben und seßhaft zu werden. So begannen die Piraten und das Seevolk und das Sklavenvolk, das zwischen den beiden stand, ihren Kampf um das Land. Da war eine Frau namens Rann, mit grünem Haar und von großer Schönheit, und sie herrschte über das Seevolk. Da war ein Mann namens Faolan-von-den-Schiffen, und er hatte eine Schwester namens Beudag, was soviel bedeutet wie Dolch-inder-Scheide; und diese beiden herrschten über die Piraten. Und da war ein Mann namens Conan.« Die Harfe dröhnte wie Schwerter, deren Klingen aufeinanderschlugen. »Conan war ein großer Kämpfer und ein feuriger Liebhaber. Er kam gleich nach Faolan-von-den-Schiffen, und Beudag liebte ihn, und sie wurden einander versprochen. Dann nahm das Seevolk Conan während eines Gefechts gefangen, und Rann sah ihn – und er sah Rann.« Hugh Starke erinnerte sich flüchtig an Ranns lächelndes Gesicht und hörte ihre leise Stimme: »Es war ein guter Körper. Ich kannte ihn, bevor…« Beudags Augen unter den verengten Lidern waren wie zwei Steine aus blauem Vitriol. »Conan blieb lange Zeit in Falga, bei Rann von der Roten See. Dann kehrte er zurück nach Crom Dhu und berichtete, daß
er entflohen sei und einen Weg entdeckt habe, die Langboote hinter dem Rücken von Ranns Flotte in den Hafen von Falga zu bringen, und daß es von dort aus leicht sei, die Stadt zu vernichten – und Rann. Und Conan und Beudag feierten Hochzeit.« Starkes gelbe Falkenaugen glitten über Beudag, die sich wie eine junge Löwin streckte, kraftvoll und schön. Ein Muskel unter seinem Wangenknochen begann zu zucken. Beudag errötete, aber ihr Blick wankte nicht. »So verließen die Langboote Crom Dhu und durchquerten die Rote See. Und Conan fühlte sie bei Falga in eine Falle, und mehr als die Hälfte der Flotte versank. Conan dachte, sein Schiff sei bereits weit genug und er bekäme nun Rann und alles, was sie ihm versprochen hatte, aber Faolan sah, was geschehen war, und setzte ihm nach. Sie kämpften, und Conan führte einen Streich gegen Faolans Braue und blendete ihn; aber Conan verlor den Kampf. Beudag brachte sie heim. Conan wurde nackt und in Ketten auf den Marktplatz gestellt. Die Leute achteten darauf, ihn nicht zu töten. Von Zeit zu Zeit taten sie ihm andere Dinge an. Nach einer Weile zerbrach sein Verstand, und Faolan ließ ihn hier im Saale anketten, wo er sein Stammeln und das Klirren der Fesseln hören konnte. Es machte ihm die Dunkelheit erträglicher. Aber seit Falga steht es schlecht um Crom Dhu. Zu viele Männer verloren wir, zu viele Schiffe. Nun halten uns Ranns Leute hier fest. Sie können nicht eindringen, wir können nicht ausbrechen. Und so warten wir, bis…« Die Harfe seufzte und schwieg. Nach ein paar Minuten sagte Starke langsam: »Ja, ich begreife. Ein Stillstand auf beiden Seiten. Und Rann rechnete sich aus, daß euer Volk vielleicht aufgeben würde, wenn ich die Anführer tötete.« Er fluchte vor sich hin. »Ein dreckiger, hundsgemeiner Trick! Wie kam sie darauf, daß ausgerechnet
ich…« Er unterbrach sich. Eigentlich müßte er jetzt tot sein. Aber er hatte einen neuen Körper und eine Million Credits. Ah, zum Teufel mit Rann! Er hatte sie nicht darum gebeten. Und niemand konnte ihn als Mörder dingen. Schon gar nicht als Mörder von Beudag! Immerhin, auch Rann hatte ihre Vorzüge. Allmählich wünschte er sich, er hätte den Geldtransport der T-V-Mines niemals gesehen, denn dann hätte er vielleicht niemals die Weißwolken-Berge gesehen. Weil jeder auf eine Antwort von ihm zu warten schien, sagte er schließlich: »Wenn alles so festgefahren ist, holt man im allgemeinen eine dritte Macht zu Hilfe. Habt ihr keine Verbündeten?« Faolan schüttelte den Kopf mit den roten Locken. »Die Sklaven würden sich vielleicht erheben, aber sie besitzen keine Waffen und sind den Kampf nicht gewöhnt. Was hilft es uns, wenn der Feind sie niedermetzelt?« »Und das andere – äh – Volk, das im Meer lebt? Überhaupt, was ist dieses Meer? Irgendeine Strahlung geht von ihm aus. Sie bewirkte, daß meine Maschine abstürzte und ich in diese Lage geriet.« »Ich weiß nicht«, entgegnete Beudag schläfrig. »Die Meere, auf denen unsere Vorfahren kreuzten, enthielten Wasser, aber das hier ist etwas anderes. Es trägt Schiffe, wenn man den Rumpf richtig baut – ganz dünn, aus einem weißen Metall, das wir in den Vorbergen gewinnen. Aber wenn man darin schwimmt, fühlt man sich von einer Schaumwolke umgeben. Es prickelt, und je tiefer man sich sinken läßt, desto fremdartiger wird es, dunkel und voller Feuer. Manchmal bleibe ich stundenlang unten und jage nach den Tieren, die dort leben.« »Stundenlang?« fragte Starke. »Dann besitzt ihr Taucheranzüge?«
»Was ist das?« Starke erklärte es ihr. Sie schüttelte lachend den Kopf. »Weshalb diese unnütze Last mitschleppen? Man kann in der Tiefe atmen.« »Das ist doch – « Starke schüttelte den Kopf. »Kaum zu glauben, aber es muß sich um ein schweres, radioaktives Gas handeln, mit einer Oberflächenspannung, die niedriger als der Atmosphärendruck ist, aber für leichte Schiffe ausreicht. Hoher Sauerstoffgehalt vermutlich, ohne gefährliche Beimischungen. Hm. Aber schön, warum geht niemand hinunter und bittet das Seevolk um Hilfe? Ihr habt selbst gesagt, daß sie Ranns Sippe nicht mögen.« »Uns mögen sie auch nicht«, entgegnete Faolan. »Wir meiden den südlichen Teil des Meeres, weil sie manchmal unsere Boote zerstören.« Sein harter Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Wollen Sie zu ihnen gehen und Unterstützung holen?« Starke mißfiel Faolans Tonfall. »Es war nur ein Vorschlag«, meinte er. Beudag streckte sich und zuckte zusammen, als die Bewegung sie an ihre Wunden erinnerte. »Komm jetzt, Faolan! Es ist Schlafenszeit.« Er stand auf und legte die Hand auf ihre Schulter. Romnas Harfensaiten spotteten leise. Die Augen des Barden waren verschleiert und schläfrig. Beudag würdigte Starke, genannt Conan, mit keinem Blick. »Und was wird aus mir?« fragte Starke. »Sie bleiben angekettet«, erwiderte Faolan. »Wir haben viel Zeit zum Nachdenken. Solange die Nahrung ausreicht – und das Meer versorgt uns gut.« Er folgte Beudag durch einen Vorhang zur Linken. Romna erhob sich langsam und schlang die Harfe über die Schulter. Er
stand da, im schwachen Feuerschein, und sah Starke in die Augen. »Ich weiß nicht«, murmelte er. Starke wartete schweigend. Sein Gesicht war ausdruckslos. »Conan kannten wir. Starke kennen wir nicht. Vielleicht hätte es weniger Schwierigkeiten gegeben, wenn Conan zurückgekehrt wäre.« Er fuhr mit dem Daumen geistesabwesend über den Griff des Messers, das in seinem Gürtel steckte. »Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich Ihnen die Kehle durchschneiden sollen, bevor Beudag hereinkam.« Starkes Mund zuckte. Es war kein Lächeln. »Sehen Sie«, fuhr der Barde ernst fort, »für Sie von draußen ist das alles unwichtig, bis auf die Dinge, die Sie unmittelbar berühren. Aber wir leben in dieser kleinen Welt. Wir sterben hier. Für uns ist es wichtig.« Das Messer war jetzt in seiner Hand. Es blitzte auf, versank im Schatten und blitzte wieder auf. »Sie kämpfen für sich, Hugh Starke. Aber Rann kämpft durch Sie. Ich weiß nicht.« Starkes Blick wankte nicht. Romna zuckte mit den Schultern und steckte das Messer ein. »Es liegt in der Hand der Götter«, sagte er seufzend. Er ging hinaus. Ein Schauder überlief Starke. Im Saal herrschte lautlose Stille. Er betastete den Halsring, jede Niete, jedes einzelne Kettenglied, selbst die Öse, in der das Ende befestigt war. Dann ließ er sich auf dem Fell nieder, das man anstelle des Strohs gebracht hatte. Die stillen, dunklen Stunden, die über ihn hinwegkrochen, waren schlimmer als alles, was er in den Höhlen von Luna durchgemacht hatte.
Sie kam leise, eine Kerze in der Hand. Beudag, Dolch-in-derScheide. Starke schlief nicht. Er richtete sich auf und wartete. Sie stellte die Kerze auf den Tisch und trat näher. Ein paar Schritte von Starke hielt sie an. Sie hatte einen dünnen weißen Stoffstreifen um die Taille geschlungen, so daß der Saum bis zu den Knöcheln reichte. Die Schatten der kleinen schwankenden Flamme umspielten geheimnisvoll ihren nackten Oberkörper. »Wer bist du?« flüsterte sie. »Was bist du?« »Ein Mann. Nicht Conan. Vielleicht auch nicht mehr Hugh Starke. Einfach ein Mann.« »Ich liebte den Mann namens Conan, bis…« Sie stockte. Dann trat sie dicht vor ihn hin und legte ihm die Hand auf den Arm. Die Berührung durchfuhr ihn wie weißglühendes Feuer. Der warme, frische Duft, der ihr entströmte, schmeckte süß in seiner Kehle. Ihre Augen suchten die seinen. »Wenn Rann so große Macht besitzt, könnte es dann nicht sein, daß Conan zu dem, was er tat, gezwungen wurde? Könnte es nicht sein, daß Rann seinen Verstand nahm und nach ihrem Willen umformte? Daß er es vielleicht nicht einmal merkte?« »Die Möglichkeit besteht.« »Conan war heißblütig und aufbrausend, aber er…« Starke sagte langsam: »Ich glaube kaum, daß du ihn geliebt hättest, wenn er nicht aufrecht gewesen wäre.« Ihre Hand lag immer noch auf seinem Arm. Er spürte, wie sie zitterte. Einen Moment später begann Beudag lautlos zu weinen. Starke zog sie sanft zu sich heran. Seine Augen brannten gelb im Kerzenlicht. »Weibertränen«, meinte sie nach einer Weile ungehalten. Sie versuchte sich von ihm zu lösen. »Ich habe zu lange gekämpft und verloren. Allmählich macht sich die Müdigkeit bemerkbar.«
Er gab sie frei. »Kämpfen alle Frauen von Crom Dhu wie Männer?« »Wenn sie wollen. Sie zogen schon immer als Schildträgerinnen mit in den Krieg. Und seit Falga hatte ich keine Wahl mehr. Ich mußte kämpfen, um meinen Gedanken zu entfliehen.« Sie strich über die Kette. »Und diesem Anblick.« Er dachte an Conan auf dem Marktplatz und an Conan in Faolans Saal, wie er an seinen Fesseln zerrte und unsinniges Zeug brabbelte. Das alles hatte Beudag miterlebt. Starkes Finger verstärkten ihren Druck um die Muskeln ihrer Arme, wanderten über die breiten, geraden Schultern zu ihrem Hals, der stolz und kraftvoll unter seinen Händen pulsierte. Ihr Haar fiel lose herab, rote Flammen, die ihn zu versengen schienen. »Du liebst mich nicht«, flüsterte sie. »Nein.« »Du bist ein ehrlicher Mann, Hugh Starke.« »Du willst, daß ich dich küsse.« »Ja.« »Du bist eine ehrliche Frau, Beudag.« Ihre Lippen waren hungrig, voller Leidenschaft, benetzt von der Bitterkeit ihrer Tränen. Nach einer Weile blies Starke die Kerze aus. »Ich könnte dich lieben, Beudag.« »Nicht so, wie ich es meine.« »So wie du es meinst. Ich habe das noch keiner anderen Frau gesagt. Aber du bist nicht wie die anderen Frauen. Und – ich habe eine Verwandlung durchgemacht.« »Merkwürdig – so merkwürdig. Conan und doch nicht Conan.« »Ich könnte dich lieben, Beudag – wenn ich lebte.« Harfensaiten schwangen in der Dunkelheit, ein hauchzartes Wispern. Beudag zuckte zusammen, seufzte und erhob sich
von der Felldecke. Kurze Zeit später hatte sie Feuerstein und Stahl gefunden und die Kerze angezündet. Romna, der Barde, stand am Seiteneingang und sah sie an. Schließlich sagte er: »Du läßt ihn gehen.« »Ja«, erwiderte Beudag. Romna nickte. Er schien nicht überrascht. Er kam quer durch den Saal, legte die Harfe auf den Tisch und verschwand in einem anderen Raum. Gleich darauf kam er mit einer Bügelsäge zurück. »Beugen Sie sich nach vorn!« befahl er Starke. Das Metall des Halsrings war weich. Sobald es zersägt war, schob Starke die Finger darunter und bog die Enden nach außen, ohne großen Kraftaufwand. Sein alter Körper hätte das nie geschafft. Sein alter Körper hätte vieles nicht geschafft. Er mußte zugeben, daß Rann ihn nicht betrogen hatte. Nicht sehr. Er stand auf und sah Beudag an. Beudag neigte den Kopf nach vorn. Das leuchtende Haar verdeckte ihr Gesicht. »Es gibt nur eine Möglichkeit, Crom Dhu zu verlassen«, sagte sie mit unbewegter Stimme. »Ein Korridor führt durch den Felsen zu einem versteckten Hafen hinunter; er ist winzig, gerade groß genug, um ein oder zwei Boote aufzunehmen. Vielleicht gelingt es dir im Schutze des Nebels und der Dunkelheit, Ranns Blockade zu durchbrechen. Oder du läßt dich von einem ihrer Schiffe nach Falga bringen.« Sie nahm die Kerze in die Hand. »Ich führe dich hinunter.« »Halt«, sagte Starke. »Was wird aus dir?« Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Ich bleibe natürlich.« Er sah ihr in die Augen. »Die Trennung wird schwer sein, jetzt, da wir uns kennen.« »Du kannst nicht hierbleiben, Hugh Starke. Das Volk würde dich in Stücke reißen, sobald du dich auf der Straße sehen ließest. Es ist sogar möglich, daß sie den Saal stürmen, um
dich in ihre Gewalt zu bekommen. Sieh her!« Sie stellte die Kerze ab und führte ihn an ein schmales, häutebespanntes Fenster. »Dort drüben«, erklärte Beudag, »ist das Festland. Crom Dhu steht durch eine Felszunge mit der Landmasse in Verbindung. Das Seevolk beherrscht die Küste, aber wir können die Felsenbrücke halten, solange wir leben. Wir haben genug Wasser, und das Meer bietet uns Nahrung im Überfluß. Aber es gibt weder Ackerland noch Wild auf Crom Dhu. Nach einer Weile, wenn Leder und Flachs zu Ende gehen, werden wir nackt sein, und der Skorbut wird uns befallen, weil wir weder Obst noch Getreide haben. Wir sind geschlagen, falls nicht noch ein Wunder geschieht. Und wir sind geschlagen, weil uns Conan in Falga verriet. Begreifst du die Gefühle des Volkes?« Starke warf einen Blick auf die dunklen Straßen, auf die Häuser, die sich gegenseitig stützten, und auf die Irrlichter draußen im Nebel. »Ja«, sagte er. »Außerdem dürfen wir Faolan nicht vergessen. Ich weiß nicht, ob er dir deine Geschichte abnimmt. Ich weiß nicht, ob es eine Rolle spielen würde.« Starke nickte. »Und du willst mich nicht begleiten?« Sie drehte sich mit einem Ruck um und griff wieder nach der Kerze. »Kommst du, Romna?« Der Barde nickte. Er hängte sich die Harfe über die Schulter. Beudag schob einen Vorhang ganz am anderen Ende des Saales beiseite. Ein schmaler Mauerdurchbruch zeigte sich. Beudag ging mit der Kerze voraus, gefolgt von Starke und Romna. Niemand sprach. Sie kamen durch einen engen Korridor, vorbei an Vorratsund Waffenkammern. Einmal blieben sie stehen, als Starke ein Messer auswählte, und Romna flüsterte: »Pst!« Er lauschte angespannt. Starke und Beudag strengten ihr Gehör an. Kein Laut drang aus dem Dunkel.
Romna zuckte mit den Schultern. »Mir war, als hörte ich Sandalen über den Stein huschen«, sagte er. Sie gingen weiter. Der Stollen lag hinter einer Brettertür. Er führte steil durch den Felsen in die Tiefe, ein schmaler Pfad ohne jede Abzweigung. An manchen Stellen waren Stufen in den Stein gehauen. Er mündete schließlich auf einem schmalen Sims dicht über dem Wasser der Bucht, die eigentlich nichts anderes als eine kleine, von schwarzen Klippen umschlossene Höhle war. Beudag stellte die Kerze ab. Zwei Kähne aus irgendeinem leichten Metall waren am Sims vertäut. An der Höhlenwand lehnten lange Ruder. Sie bestanden aus einem anderen Metall und hatten merkwürdig geformte Blätter. Beudag legte eines davon auf die Ruderbank des näheren Bootes. Dann wandte sie sich Starke zu. Romna wartete im Schatten der Tunnelmündung. »Leb wohl, Mann ohne Namen«, sagte Beudag ruhig. »Muß es ein Abschied sein?« »Ich habe jetzt Faolans Platz eingenommen. Außerdem ist es mein Volk.« Ihre Finger krampften sich um seine Handgelenke. »Wenn es dir gelänge…« In ihren Augen flammte kurz Hoffnung auf. Dann senkte sie den Kopf und sagte: »Ich vergesse, daß du keiner von uns bist. Leb wohl.« »Leb wohl, Beudag.« Starke umarmte sie. Er küßte sie, beinahe grausam. Sie schmiegte sich an ihn, ihre Augen waren halb geschlossen und verträumt. Starkes Hände glitten höher, erfaßten ihre Kehle, drückten zu. Sie beugte sich nach hinten; ihr Körper war ein Bogen aus Stahl. Ihre Augen loderten und suchten die seinen, aber nur einen Moment lang. Seine Finger preßten genau auf die Nervenzentren. Beudags Kopf sackte kraftlos nach vorn, und dann sprang Romna Starke an. Sein Messer suchte Starkes Hals.
Starke fing das Handgelenk ab und drückte die Klinge zur Seite. Blut lief ihm auf die Brust, aber das Messer hatte nicht die Schlagader getroffen. Er warf sich nach hinten auf den Stein. Romna konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Pfeifend wich die Luft aus seinen Lungen. Er ließ das Messer nicht los. Starke rollte herum. Der schmächtige Albino hatte keine Chance gegen ihn. Er war zäh und schnell, allein Starkes Größe erdrückte ihn. Starke erinnerte sich an den Moment, als ihm Romna nicht so klein erschienen war. Er schmetterte dem Barden die Faust ans Kinn. Romnas Kopf schlug hart gegen den Stein. Das Messer entglitt ihm. Sein Kampfgeist schien gebrochen. Starke erhob sich. Er schwitzte und atmete schwer, aber nicht von der Anstrengung. Seine Zähne blitzten wölfisch. Seine Muskeln zuckten, sein Magen war heiß und verkrampft vor Erregung. In seinen Augen stand ein sonderbarer Blick. Er ging zurück zu Beudag. Sie lag mit dem Rücken auf dem schwarzen Felsboden. Kerzenlicht lief blaßgolden über ihre braune Haut, säumte die schroffe, tiefe Mulde zwischen ihren Brüsten und den gewölbten Rand ihrer Rippen. Starke kniete auf ihr, sein Gewicht gegen das röchelnde Atmen gestemmt. Er starrte sie an. Schweiß trat ihm aus den Poren. Wieder nahm er ihre Kehle zwischen die Hände. Er sah, wie das Blut in ihren Wangen dunkel wurde. Er sah, wie die Adern auf ihrer Stirn anschwollen. Er sah, wie das Rot ihrer Lippen sich schwärzlich verfärbte. Sie kämpfte ein wenig, ganz schwach, wie jemand, der sich im Traum bewegte. Starke schnaufte wie ein Tier, mit weit offenem Mund. Dann, ganz allmählich, versteifte er sich. Seine Hände erstarrten, ohne den Griff zu lockern oder ihn zu verstärken. Seine gelben Augen weiteten sich. Es war, als versuchte er Beudags Gesicht hinter dichten Wolken zu erspähen.
Weit weg, in der Tiefe des Tunnels, war das leise, schwache Schlurfen von Sandalen auf unebenem Fels. Starke hörte es nicht. Beudags Gesicht flimmerte tief unter ihm, eingehüllt von zähen Nebeln, die Blasphemie eines Gesichts, verzerrt, schwarz. Starkes Hände öffneten sich. Sie öffneten sich langsam. Seine Arm- und Schultermuskeln traten vor wie gebündelte Stricke, als müßte er sich gegen schwere Gewichte stemmen. Er fletschte die Zähne. Er spannte den Nacken an, und Schweißtropfen fielen von seiner Stirn. Sie glänzten auf Beudags Brust. Starke berührte ihre Kehle kaum noch. Sie begann wieder zu atmen, schmerzerfüllt. Starke fing zu lachen an. Es war kein gutes Lachen. »Rann«, wisperte er, »Rann, du Teufelin!« Er taumelte halb zurück und tastete sich an der Wand hoch, bis er stand. Er zitterte am ganzen Körper. »Ich ließ mich nicht von deinem Haß zum Morden antreiben, so hast du versucht, meine Leidenschaft auszunützen.« Er zischte ihr Flüche entgegen, lang und anhaltend. Er hatte noch nie zuvor in seinem gottlosen Leben jemand richtig verflucht. Das Echo eines Gelächters tanzte durch sein Gehirn. Starke wandte sich um. Faolan-von-den-Schiffen stand in der Tunnelmündung. Sein Kopf war lauschend geneigt, seine blinden, dunklen Augen richteten sich auf Starke, als könnten sie ihn sehen. Faolan sagte leise: »Ich höre dich, Starke. Ich höre die anderen atmen, aber sie sprechen nicht.« »Es ist ihnen nichts geschehen. Ich hatte nicht die Absicht…« Faolan lächelte. Er trat auf den schmalen Sims hinaus. Er bewegte sich zielbewußt, und sein Lächeln verhieß nichts Gutes. »Ich vernahm Schritte im Korridor neben meiner Schlafkammer. Ich wußte, wohin Beudag dich brachte und
weshalb. Ich wäre schneller hier gewesen, aber es ist ein mühsames Vorwärtskommen in der Dunkelheit.« Die Kerze stand ihm im Wege. Er spürte ihre Wärme dicht neben seinem Fuß, ertastete sie und trat sie aus. Danach war es dunkel. Ganz dunkel, bis auf ein schwaches verwischtes Leuchten von dem Stück Meer, das an den Höhlenboden stieß. »Es macht nichts«, sagte Faolan, »solange ich rechtzeitig komme.« »Ich wollte dich allein haben. In dieser Nacht aller Nächte wollte ich dich allein haben. Beudag kämpft jetzt an meiner Stelle, Conan. Ich brauche eine Selbstbestätigung.« Starke sah angestrengt in das Halbdunkel und versuchte die Entfernung zum Boot auszumachen. Er wollte nicht gegen Faolan kämpfen. In Faolans Lage hätte er das Gleiche gefühlt. Starke verstand ihn vollkommen. Er haßte Faolan nicht, er wollte ihn nicht töten, und er hatte Angst, daß Rann wieder ihre Macht ausspielen würde, wenn seine Emotionen außer Kontrolle gerieten. Man konnte unmöglich gegen einen zum Äußersten entschlossenen Feind antreten und dabei nichts empfinden. Starke wollte verdammt sein, wenn er jemanden umbrachte, um Rann einen Gefallen zu erweisen. Er versuchte sich an Faolan vorbeizuschleichen und ins Boot zu gelangen. Faolan schien ihn nicht zu hören. Starke hielt den Atem an. Seine Sandalen berührten den Boden leichter als Schneeflocken. Faolan setzte unbeirrt seinen Weg fort. Er würde einen knappen halben Meter an Starke vorbeigehen. Sie befanden sich auf gleicher Höhe. Faolans Hand schoß vor und verfing sich in Starkes langen schwarzen Haaren. Der Blinde lachte leise. Er zerrte den Gegner zu sich heran. Starke ballte die Faust. Mach die Sache kurz, und dann verschwinde von hier! Aber Faolan war schnell. Starkes Hieb
glitt harmlos an seinen Rippen ab. Er war größer als Starke und schwerer, und die Dunkelheit behinderte ihn nicht. Starke entblößte die Zähne. Beeil dich, Freund, los! Oder diese grünäugige Katze… Faolans Gewicht drückte ihn nieder. Faolans Arm zermalmte ihm die Halswirbel. Faolans Faust grub sich in seinen Magen. Starke handelte. Er hatte überall gekämpft. Er hatte von Kesselheizern und Tramps gelernt, von den Bewohnern der Slum-Kanäle auf Mars und den rotäugigen Nahali in der Kloake von Lhi. Er ließ sein Messer stecken. Statt dessen benutzte er Knie, Füße, Ellbogen und Hände. Es war ein guter Kampf. Faolan setzte sich großartig zur Wehr, aber Starke kannte mehr Tricks. Noch ein Hieb, dachte Starke. Noch einer, und er ist geschafft. Er holte aus und stieß gegen Romna, der immer noch auf dem Felsboden lag. Er stolperte. Faolan landete einen harten Schwinger, und Starke wurde gegen die Höhlenwand geschleudert. Sein Kopf krachte an die Felsen. Licht durchzuckte feuerrot sein Gehirn, wurde blasser und kühler, eine Flut von klarem, silbergrünem Wasser. Er ließ sich sinken.
Er war müde, entsetzlich müde. Sein Kopf schmerzte. Er wollte schlafen, aber er spürte, daß er aufrecht dasaß und etwas tat, das getan werden mußte. Er öffnete die Augen. Er befand sich im Heck eines Bootes und stützte mit dem Rücken das Ende der langen Steuerstange, die in ihrer Gabel steckte. Das Ruderblatt zog Furchen im Wasser, und wo das Metall die rote Oberfläche zerschnitt, schoß silbernes Feuer auf und wirbelten helle Punkte. Das Boot glitt rasch durch den trägen Nebel, durch einen Schleier von Blut in der heißen venusischen Nacht.
Beudag kauerte im Bug, ihm zugewandt. Sie war mit Streifen des weißen Tuches gefesselt, das sie getragen hatte. Dunkle Male zeichneten sich an ihrem Hals ab. Sie beobachtete Starke mit dem aufmerksamen, starren, vollkommen ausdruckslosen Blick einer Tigerin. Starke sah an sich hinunter. Blut war auf seinem Kilt und verteilte sich bräunlich auf seiner Brust. Es war nicht sein Blut. Langsam zog er das Messer aus der Scheide. Die Klinge war matt und verkrustet, immer noch ein wenig feucht. Starke schaute Beudag an. Seine Lippen waren aufgeschwollen. Er befeuchtete sie und fragte heiser: »Was ist geschehen?« Sie schüttelte den Kopf, zögernd, stumm. Ein dunkler, kalter Zorn erfaßte Starke und schüttelte ihn. Rann! Er stand auf und ging nach vorn, ohne sich darum zu kümmern, welche Richtung die Steuerstange einnahm. Dann begann er die Fesseln von Beudags Handgelenken zu streifen. Ein Schatten schwamm aus dem roten Nebel auf sie zu. Ein Langboot mit zwei schweren Rudern, die backbords Feuer aufwühlten. Die Galionsfigur hatte die Umrisse einer schlanken, hochgewachsenen Frau; einer Frau mit Haaren und Augen aus Aquamarin. Das Boot kam längsseits. Eine Strickleiter schlängelte sich nach unten. Männer säumten die niedrige Reling, schlanke Männer mit schneekristallfunkelnder Haut und Haar von der Farbe ferner, seichter Gewässer. Einer von ihnen sagte: »Komm an Bord, Hugh Starke!« Starke ging nach hinten ans Ruder und steuerte den Kahn in einem weiten Bogen weg von Ranns Boot. Enterhaken flogen und verkrallten sich in Ruderbank und Dollbord. Bogen erschienen in den Händen der Männer, gefährlich gekrümmte Dinger. Auf den Sehnen lagen scharfe Metallpfeile. Der Mann sagte noch einmal: »Komm an Bord!«
Hugh Starke löste vollends Beudags Fesseln. Er sprach nicht. Es gab nichts zu sagen. Er wartete ab, bis sie die Leiter hinaufgeklettert war, und folgte ihr dann. Der Kahn wurde freigegeben. Das Langboot drehte ab. Es gewann an Fahrt. »Wohin bringt ihr uns?« fragte Starke. Der Mann lächelte. »Nach Falga.« Starke nickte. Er begab sich mit Beudag nach unten in eine Kabine mit weichen, seidenbezogenen Liegen. Dunkle, wundervoll bemalte Holzvertäfelungen beschworen die Vergangenheit von Ranns Volk herauf. Die beiden saßen einander gegenüber. Sie schwiegen immer noch. Sie liefen Falga in der Opaldämmerung an – eine Zitadelle aus Basaltklippen, die jäh aus der brennenden See stiegen. Ein Felsausläufer legte sich wie ein Arm schützend um einen Hafen voller Schiffe. Landeinwärts waren grüne Felder, und dahinter umhüllt von den ewigen Venus-Nebeln, ragten die Weißwolken-Berge himmelwärts. Starke wünschte, er hätte diese Berge nie gesehen. Dann, als er seine Hände betrachtete, die hart und kraftvoll auf den Schenkeln ruhten, war er nicht mehr so sicher. Er dachte an Rann, die ihn erwartete. Zorn, Erregung, ein Brodeln widersprüchlicher Gefühle ließ ihn nervös auf und ab gehen. Beudag saß ruhig da, beherrscht, abwartend. Das Langboot glitt an den dicht besetzten Liegeplätzen vorbei und fädelte sich in eine Lücke längs des Felsenkais. Eifrige Hände vertäuten es. Starke und Beudag gingen an Land. Sie hätten Gefangene sein können oder auch Ehrengäste, umringt von ihrer Eskorte. Straßen führten vom Hafen zu den Klippen, gewunden und mit schwindelerregenden Steigungen. Häuser klebten übereinander. Es hatte zu regnen angefangen, ein starker, dampfender Guß, und die feuchte Wärme unterstrich, den beklemmenden Gestank nach Menschen, zu vielen Menschen.
Irgend etwas stimmte nicht. Nach einer Weile erkannte Starke, daß es die Stille war. Niemand in dieser zusammengepferchten Menschenmenge lachte, sang oder schrie. Selbst die Kinder flüsterten nur. Starke fühlte sich ein wenig elend. Ihre Augen hatten einen Ausdruck… Er sah Beudag an und wandte sich wieder ab. Die Hafenstraßen endeten an einer steilen Basaltfassade, durchlöchert von Gängen und Stollen. Starkes Begleiter drangen in den Berg ein. Es ging immer noch nach oben, durch riesige, ineinander verschachtelte Höhlen, die zum Meer hin offen waren. Menschengewimmel begegnete ihnen, der gleiche Gestank, das gleiche Schweigen. Augen glitzerten im Halbdunkel, nackte Füße tappten verstohlen über den Stein. Irgendwo wimmerte dünn ein kleines Kind und wurde sofort beruhigt. Sie kamen zum oberen Rand der Klippe, in die reine Gipfelluft. Hier lag eine Stadt. Breite Straßen, von Bäumen gesäumt, geduckte, weitläufige Villen aus schwarzem Fels, umwuchert von schillernden Lianen, Riesenfarnen und Blüten, abgegrenzt von Parkmauern. Nackte Männer und Frauen arbeiteten in den Gärten, zogen Karren mit Abfall durch die Gassen oder huschten auf Botengängen unauffällig über die Hauptstraße. Die Gruppe wandte sich vom Meer ab und hielt auf den schwarzen Palast zu, der die Stadt krönte. Der dampfende Regen schlug auf Starkes nackte Haut, und hier oben konnte man ihn riechen, selbst durch den schweren Blütenduft. Man konnte Venus in diesem Regen riechen – schwül und primitiv und tierhaft lebendig, eine fruchtbare Riesin mit Passionsblumen in den ausgestreckten Händen. Starke schritt dahin wie ein Panther, und seine Augen brannten rauchiggelb. Sie betraten Ranns Palast…
Rann empfing sie in dem gleichen Raum, in dem Starke nach dem Absturz zu sich gekommen war. Durch einen breiten Torbogen sah er das Bett, auf dem sein alter Körper geruht hatte, bevor ihn das Leben verließ. Die rote See dampfte unter dem Regen draußen, der rostfarbene Nebel quoll träge durch die offenen Bögen der Halle. Rann beobachtete sie lässig von einer erhöhten Liege, die sich in eine Wandnische schmiegte. Ihre langen glitzernden Beine ruhten arrogant auf den schwarzen Decken aus Spinnenseide. Diesmal trug sie ein blaß-gelbes Gewand. Ihre Augen hatten immer noch die Farbe von seichtem Wasser; sie waren immer noch belustigt, unergründlich, gefährlich. »Also hast du mich doch gezwungen, es zu tun«, sagte Starke. »Und du bist wütend.« Sie lachte. Ihre Zähne blitzten spitz und weiß wie Knochennadeln. Ihr Blick hielt den seinen fest. Sie wußte genau, was sie wollte. Starkes Falkenaugen verwandelten sich in geschmolzenes Gold. Sein Blick wankte nicht. Beudag stand da wie ein Bronzespeer, die Arme unter den nackten, harten Brüsten verschränkt. Zwei von Ranns Palastwächtern standen hinter ihr. Starke ging langsam auf Rann zu. Sie beobachtete jede seiner Bewegungen. Sie ließ ihn so nahe herankommen, daß er sie berühren konnte, wenn er die Hand ausstreckte. Dann sagte sie listig: »Es ist ein guter Körper, nicht wahr?« Starke betrachtete sie einen Moment lang. Dann lachte er. Er warf den Kopf zurück und lachte dröhnend. Er schlug sich mit der Faust gegen die mächtigen Muskelbündel seines Oberkörpers. Dann sah er Rann ruhig in die Augen. »Ich kenne dich«, sagte er.
Sie nickte. »Wir kennen einander. Setz dich, Hugh Starke.« Sie schwang die langen Beine zur Seite, um ihm Platz zu machen. Halb aufgerichtet saß sie da und sah Beudag an. Starke setzte sich. Er sah Beudag nicht an. »Wird sich dein Volk jetzt ergeben?« fragte Rann. Beudag rührte sich nicht. Nicht einmal ihre Lider zuckten. »Wenn Faolan tot ist – ja.« »Und wenn er lebt?« Beudag versteifte sich; Starke ebenfalls. »Dann werden sie warten«, erklärte Beudag ruhig. »Bis er tot ist?« »Oder bis sie sich ergeben müssen.« Rann nickte. Sie sagte zu den beiden Wächtern: »Sorgt dafür, daß diese Frau gut behandelt wird und genug zu essen erhält.« Beudag und ihre Eskorte wandten sich zum Gehen. »Wartet!« sagte Starke. Die Wächter sahen Rann an. Sie nickte und warf Starke einen belustigten Blick zu. »Ist Faolan tot?« fragte er. Rann zögerte. Dann lächelte sie. »Nein. Du hast einen verdammt starken Willen. Die Wunde ging tief, aber nicht tief genug. Vielleicht stirbt er noch, aber… Nein, er ist nicht tot.« Sie wandte sich an Beudag und sagte mit lässigem Spott: »Du mußt Starke nicht zürnen. Ich habe eher Grund dazu.« Ihre Blicke ruhten wieder auf Starke. Sie verrieten keinen Zorn. »Da ist noch etwas«, fuhr Starke fort. »Conan – der Conan von früher, vor der Sache mit Falga.« »Beudags Conan.« »Ja. Weshalb hat er sein Volk verraten?« Rann betrachtete ihn forschend. Ihre fremdartigen blassen Lippen kräuselten sich, ihre scharfen weißen Zähne blitzten in hämischer Freude. Dann wandte sie sich Beudag zu. Beudag stand immer noch wie eine Statue da, aber ihre glatten
Muskeln verrieten die Härte der Anspannung, und ihre Augen waren nicht die Augen einer Statue. »Conan oder Starke«, sagte Rann, »sie bleibt Beudag, nicht wahr? Also schön, ich will es dir sagen, Conan verriet sein Volk, weil ich ihn dazu zwang. Er wehrte sich gegen mich. Er lieferte mir einen guten Kampf. Aber er war nicht ganz so zäh wie du, Starke.« Es herrschte Stille. Zum ersten Male, seit sie den Raum betreten hatten, sah Hugh Starke Beudag an. Sie seufzte schließlich, hob das Kinn und lächelte, ein tiefes, verborgenes Lächeln. Die Wächter marschierten los, aber sie schritt aufrechter und leichter dahin als die beiden Männer. »So«, sagte Rann, als sie gegangen waren, »und was hast du vor, Hugh Starke, genannt Conan?« »Bleibt mir denn eine Wahl?« »Ich pflege meine Versprechen zu halten.« »Dann gib mir mein Geld und laß mich so schnell wie möglich von hier verschwinden.« »Bist du sicher, daß du das willst?« »Das und nichts anderes.« »Du könntest eine Weile hierbleiben.« »Bei dir?« Rann hob die glitzernden weißen Schultern. »Ich verspreche dir nicht die Hälfte meines Königreichs, nicht einmal einen Teil davon. Aber du findest vielleicht deinen Spaß.« »Ich habe keinen Sinn für Humor.« »Und du möchtest auch nicht sehen, was mit Crom Dhu geschieht?« Starke stand auf. Er sagte heftig: »Zum Teufel mit Crom Dhu!« »Und mit Beudag?«
»Und mit Beudag.« Er unterbrach sich und musterte Rann mit seinen unbeugsamen gelben Augen. »Nein. Laß Beudag aus dem Spiel! Was hast du mit ihr vor?« »Nichts.« »Das kaufe ich dir nicht ab.« »Ich sage es noch einmal – nichts. Wenn ihr etwas zustößt, dann durch ihr eigenes Volk.« »Was meinst du damit?« »Ich meine, daß wir die kleine Dolch-in-der-Scheide ein paar Tage hegen, pflegen und gut füttern werden. Dann nehme ich sie an Bord meines Schiffes und schließe mich der Flotte vor Crom Dhu an. Beudag bekommt einen bequemen Platz am Masttop, wo ihr Volk sie deutlich sehen kann. Sie wird dort bleiben, bis sich die Felsensiedlung ergibt. Es hängt von ihren Leuten ab, wie lange sie ausharren muß. Sie wird Wasser erhalten. Nicht viel, aber genug.« Starke starrte sie an. Er starrte sie lange an. Dann spuckte er verächtlich auf den Boden und sagte mit vollkommen ausdrucksloser Stimme: »Wann kann ich weg von hier?« Rann lachte leise vor sich hin. »Menschen sind so verdammt komisch«, sagte sie. »Ich glaube nicht, daß ich sie je verstehen werde.« Sie streckte die Hand aus und schlug an einen Gong, der in einem geschnitzten Rahmen neben dem Ruhebett aufgestellt war. Das weiche, dunkle Vibrieren hatte einen Hauch von Trauer und Heimweh. Rann schmiegte sich seufzend in die Seidenkissen. »Leb wohl, Hugh Starke.« Eine Pause, dann, bedauernd: »Leb wohl, Conan!«
Sie waren entlang der Roten See rasch vorangekommen. Eine von Ranns Galeeren hatte sie zum Rande des Südozeans gebracht und auf einem schmalen Kiesstrand unterhalb der
Klippen abgesetzt. Von dort hatten sie das Plateau erklettert und waren zu Fuß weitergegangen – Hugh Starke, genannt Conan, und vier von Ranns arroganten, hellhäutigen Männern. Sie sollten zugleich als Führer und Eskorte dienen. Sie waren höflich, und sie hielten ohne Murren mit ihm Schritt, obwohl Starke dahineilte, als säße ihm der Teufel im Nacken. Aber sie waren bewaffnet, und Starke war es nicht. Manchmal, ganz vage, spürte Starke, daß ihn Ranns Gedanken mit der Behutsamkeit von samtigen Katzenpfoten berührten. Manchmal fuhr er aus dem Schlaf und sah sie deutlich vor sich, wie sie die Lippen zu ihrem spöttischen, rätselhaften Lächeln kräuselte. Ihm gefiel das nicht. Ihm gefiel das ganz und gar nicht. Aber noch weniger gefiel ihm das Bild, das ihn im Wachen und im Schlafen verfolgte. Das Bild, das er nicht anschauen mochte. Das Bild einer hochgewachsenen Frau, der das Haar wie Flammen in den Nacken hing und die mit leichten, stolzen Schritten zwischen ihren Wächtern ging. Sie wird Wasser erhalten, hatte Rann gesagt. Nicht viel, aber genug. Starke umklammerte die Kassette, die seine Million Credits enthielt, und legte entschlossen Meile um Meile zurück. In der fünften Nacht sagte einer von Ranns Männern ruhig über das Lagerfeuer hinweg: »Morgen erreichen wir den Paß.« Starke erhob sich und ging allein bis zum Rand des Plateaus, das senkrecht in die brennende See abfiel. Der rote Nebel umhüllte ihn wie ein Schleier aus Blut. Er dachte an das Blut auf Beudags nacktem Oberkörper, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Er dachte an das Blut auf seinem Messer, verkrustet und eingetrocknet. Er dachte an das Blut, das in den Rinnsteinen von Crom Dhu dampfte und stank. Der Nebel muß rot sein, dachte er. Von all den gottverfluchten Farben im Universum muß er rot sein. Rot wie Beudags Haar.
Er preßte die Fäuste gegen die Schläfen und wünschte sich in seinen alten Körper zurück – dieses verkrüppelte elende Ding, das sich durch schiere Verstandeskraft seinen Weg zum Überleben gescharrt und gekratzt hatte. Ein verdammt zäher Wille, hatte Rann gesagt. Ja. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Aber Verstand blieb Verstand. Er besaß keine Gefühle. Er berechnete kühl und handelte danach, ohne je Fragen zu stellen, und er beherrschte den Körper vollkommen, weil der Körper nur eine wertlose Maschinerie war, die den Verstand trug. Wertlos. Ja. Die wenigen Frauen, die ihm begegnet waren, hatten das deutlich zum Ausdruck gebracht – und es war ihm ziemlich egal gewesen. Der alte Körper hatte keine Schwierigkeiten gemacht. Jetzt dagegen befand er sich in Schwierigkeiten. Starke stand auf und ging hin und her. Morgen erreichen wir den Paß. Wasser. Sie wird Wasser erhalten. Nicht viel, aber genug. Conan umklammerte eine Felsnadel, und seine Muskeln traten vor wie Seilknoten. »O Gott«, flüsterte er, »was ist nur los mit mir?« »Du liebst.« Es war nicht Gott, der antwortete. Es war Rann. Er sah sie deutlich in seinem Innern, hörte ihre Stimme wie eine Silberglocke. »Conan war ein Mann, Hugh Starke. Ein ganzer Mann. Körper, Herz und Gehirn bildeten eine Einheit. Er wußte, was lieben hieß, und für ihn gab es nur eine Frau – Beudag. Ich brach ihn, aber es war nicht leicht. Dich kann ich nicht brechen.« Starke blieb lange, lange Zeit reglos stehen. Er zitterte. Dann löste er von seinem Gürtel die Kassette mit der Million und schleuderte sie weit über den Rand der Klippe hinaus. Der rote Nebel verschlang sie. Er hörte nicht, wie sie aufschlug.
Vielleicht gab es in dieser See keine Geräusche. Er blieb nicht, um es herauszufinden. Er ging zurück an eine Stelle, wo ein Spalt oder Kamin in die Tiefe führte. Und die vier hellhäutigen Männer, die in Ranns Diensten standen, kamen schweigend aus der schweren, glühenden Nacht und kreisten ihn ein. Ihre Schwertspitzen fingen leuchtendrote Funken vom Himmel auf. Starke hatte nichts außer dem Kilt und den Sandalen und einem Umhang aus dichtgewebter Spinnenseide, der den Regen abhielt. »Rann hat euch geschickt?« fragte er. Die Männer nickten. »Um mich zu töten?« Wieder nickten sie. Das Blut wich Starke aus dem Gesicht, so daß es grau und steinern unter der Bronze wirkte. Seine Hand tastete nach der Goldfibel, die seinen Umhang zusammenhielt. Die vier Männer umringten ihn wie Tänzer. Starke riß den Umhang von den Schultern und wirbelte ihn wie eine Peitsche über ihre Gesichter. Es verwirrte sie eine Sekunde, einen Herzschlag lang – mehr nicht, aber das genügte. Zwei Schwerter verfingen sich in dem schweren Gewebe. Starke ließ es los und sprang zur Seite. Eine scharfe Schneide streifte seine Rippen, dann hatte er sich gebückt und einen Mann an den Knöcheln gepackt. Er schwenkte den sich heftig Wehrenden wie einen Dreschflegel. Der Körper war sonderbar leicht, als bestünden die Knochen nur aus Versteifungsknorpeln, ähnlich wie bei Fischen. Wenn er geblieben wäre, um die Sache auszutragen, hätten sie ihn in Sekunden erledigt. Sie waren Kämpfer und flink obendrein. Aber Starke lieb nicht. Er nutzte die Gunst des Augenblicks. Sie waren ihm so dicht auf den Fersen, daß er bereits ihre Schwertspitzen im Rücken zu spüren glaubte, aber er schaffte es. Bis zum Rand des Plateaus und entlang einer
schmalen Felszunge, die über das Meer ragte, und dann sprang er hinaus, weit hinaus, in den roten Nebel und das düstere Feuer, das seinen in die Tiefe stürzenden Körper umloderte. O Gott, dachte er, wenn ich mich nun verschätzt habe und da unten ein Strand liegt… Die Luft wich pfeifend aus seinen Lungen. In seinen Ohren knackte es. Er hörte nichts mehr. Er streckte die Arme weit vor, die Daumen ineinander verhakt, und spannte den Nacken gegen den gewaltigen Druck von unten her an. Er tauchte in die See. Ohne jeden Aufprall. Düsteres, gekräuseltes Feuer, das ihn mit unendlicher Trägheit umschwebte, mit langsamen, prickelnden Funken an seinem Körper entlangstrich. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit, als sei sein Fleisch eins mit dem schwebenden Feuer. Die Angst, ersticken zu müssen, die völlig unbegründet war und allmählich einer merkwürdigen Heiterkeit Platz machte. Er spürte keinen Schock beim Eintauchen, keinen zermalmenden Druck. Nur ein weiches Abfedern, als sei er auf eine Luftmatratze gefallen. Starke schlug einen Salto um den anderen, und dann hörte auch das auf, so daß er ruhig, ohne jede Hast, auf den Grund sank. Oder, besser gesagt, in eine Art Wald mit kristallenen Kronen. Er breitete sich über das absinkende Bett des Ozeans, bis in die verwischten roten Schatten der Ferne. Schlanke, bizarre Stämme, die ein Gewirr von schimmernden Filigranästen trugen, ohne Blätter oder Früchte. Starke konnte sich nicht erklären, weshalb alles so tot wirkte. Nichts bewegte sich in den roten Schluchten zwischen den Stämmen. Es hatte auch nicht mit den Bäumen selbst zu tun. Es war mehr eine Ahnung, die ihn erfüllte.
Er drang in den Wald ein und folgte dem schräg abfallenden Grund. Er entdeckte, daß er ganz leicht schwimmen konnte. Oder vielleicht war es mehr ein Fliegen. Das dichte Gras trug ihn und hielt ihn im Gleichgewicht, so daß es ihm nicht schwerfiel, dahinzugleiten, einen der Kristalläste zu ergreifen, sie abzustoßen und den nächsten anzusteuern. Er drang tiefer und tiefer in das Herz des verwunschenen Südozeans vor. Nichts regte sich. Der Feenwald erstreckte sich endlos vor ihm. Und Starke hatte Angst. Rann tauchte plötzlich in seinem Innern auf. Ihr Gesicht, klar umrissen, verriet Spott. »Ich werde zusehen, wie du stirbst, Hugh Starke, genannt Conan. Aber bevor du stirbst, zeige ich dir etwas. Schau!« Ihr Gesicht zerfloß, und an seiner Stelle tauchte Crom Dhu auf, schroff im roten Nebel, die Langboote im Hafen zertrümmert und versenkt. Und Ranns Flotte bildete einen dichten, leuchtenden Ring um die Festung. Da war ganz besonders ein Schiff. Das Flaggschiff. Es rückte dicht vor Starkes geistiges Auge. Er sah die Plattform des Masttops und die Frau, die dort stand, nackt, aufrecht, festgebunden mit dünnen, harten Riemen. Eine Frau mit rotem Haar, das im trägen Wind flatterte, und mit blauen Augen, die starr nach Crom Dhu hinüberspähten. Beudag. Ranns Gelächter rieselte eiskalt über das Bild und verwischte es. »Du hättest besser daran getan, den blanken Stahl zu nehmen, als ich ihn dir anbot«, sagte sie. Sie war verschwunden, und in Starke herrschte die Leere und Kälte des Todes. Er umklammerte einen Ast, den Blick in blindem Instinkt nach oben gerichtet, die Sicht verschleiert. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er geweint oder gebetet.
Hier unten, in den dunstigen Schatten des Meeresgrundes, verlor die Zeit ihre Gültigkeit. So mochten Minuten vergangen sein oder Stunden, als Starke merkte, daß er gejagt wurde. Es waren insgesamt drei, und sie glitten gewandt durch das Labyrinth der schimmernden Äste. Sie waren blaßgolden, beinahe phosphoreszierend, und hatten etwa die Größe von Hetzhunden. Ihre Augen leuchteten riesig, juwelengleich, in den schmalen spitzen Gesichtern. Sie besaßen vier Gliedmaßen, die vielleicht Arme und Beine darstellten, nun jedoch glatt an die pfeilschnellen Körper geschmiegt waren. Goldene Häute spannten sich wie Flügel von Kopf zu Flanke, und sie balancierten auch wie Flügel geschickt die Ruderbewegungen des flachen, kräftigen Schwanzes aus. Es wäre ihnen ein Leichtes gewesen, ihn einzuholen, aber sie schienen es nicht eilig zu haben. Starke besaß Vernunft genug, um seine Kräfte zu schonen. Er schwamm ruhig weiter und beobachtete sie. Er entdeckte, daß sich die Kristalläste abbrechen ließen, und er wählte einen mit spitzen Zinken, den er wie ein Schwert unter seinen Gürtel schob. Zwar versprach er sich keinen großen Nutzen davon, aber es beruhigte ihn doch. Er wunderte sich, weshalb ihn die Dinger nicht angriffen und so der Jagd ein Ende machten. Hungrig genug wirkten sie, so wie sie die Zähne fletschten. Aber sie blieben in einem weiten Halbkreis hinter ihm, ohne den Abstand zu verringern. Gelegentlich schossen die Außenverfolger auf ihn zu, fielen jedoch wieder zurück, sobald er auswich. Es war nicht so sehr ein Verfolgen… Nein, sie trieben ihn voran. Er konnte nichts dagegen tun. Er versuchte anzuhalten, aber sofort stürzten sie herbei und schnappten nach ihm. Dabei arbeiteten sie geschickt zusammen. Wenn er versuchte, einen von ihnen mit seiner plumpen Waffe anzugreifen, packten ihn
die anderen an den Beinen, wie Hirtenhunde, die einen widerspenstigen Bock zausten. Starke schickte sich wie der Bock in das Unabwendbare und gab nach. Die goldenen Hunde bleckten ihre Zähne zu einem animalischen Grinsen und schnüffelten gierig nach dem Blutfaden, den er in den langsamen roten Feuerspiralen zurückließ. Nach einer Weile hörte er die Musik. Es schien eine Art Harfe zu sein, aber die Töne hatten eine merkwürdige Schwingung. Die goldenen Hunde begannen vor Erregung zu hecheln; sie breiteten ihre schimmernden Flügel aus und trieben ihn voller Ungeduld rascher durch die Kristallzweige. Starke spürte, wie die Vibration in seinem Innern anschwoll – bis jede Muskelfaser im Einklang mit dieser Geisterharfe war. Wahrscheinlich entging ihm ein großer Teil der Musik. Zu hoch oder zu niedrig für sein Gehör. Aber er konnte sie fühlen. Er begann schneller zu schwimmen, nicht wegen der Hunde, sondern aus freiem Antrieb. Das tiefe Schwingen in seinem Fleisch erregte ihn. Er keuchte, teils weil ihn die Kraft verließ, aber auch, weil ihn das Gemisch, das er einatmete, irgendwie leicht berauschte. In der Zeit, die er benötigte, um von den letzten Bäumen hinunter zur Ebene zu gelangen, konnte er alles ganz deutlich sehen. Er hatte keine Ahnung, wie lang diese Spanne war. Es spielte auch keine Rolle. Es war einer jener Momente, in denen die Zeit keine Bedeutung besitzt. Der Waldrand wich in einer langgezogenen Krümmung zurück und verschmolz glitzernd mit der funkensprühenden See. Davor erstreckte sich die Ebene, ein glatter, glasharter Boden aus schwarzem Obsidian, der Auswurf eines längst erloschenen Vulkans. Oder doch nicht erloschen? Starke
schien es, als sei das Licht hier röter und kräftiger, als befände er sich an seiner Quelle. Er sah die Herde, zusammengehalten von einem Rudel der goldenen Hunde. Und er sah den Hirten, der seine Harfe schweigend in den Händen hielt. Die Herde kroch träge dahin, phosphoreszierend. Hundert, zweihundert schweigende Krieger, die kraftlos durch das rote Halbdunkel trieben. Zu zweien, einzeln oder in bleichen Trupps schwebten sie dahin. Die goldenen Hunde umkreisten sie lautlos, lässig, schleusten sie in Strömungen, die der bizarren schwarzen Stadt entgegenflossen. Der Hirte stand wie festgewachsen auf dem Obsidian. Er wandte das haifischhelle Gesicht, und seine scharfen Aquamarinaugen entdeckten Starke. Die silbrige Hand hing lockend über den Saiten, schlug sie hart an. Das Echo pflanzte sich fort, erfaßte Starke, schüttelte ihn. Er warf seinen Kristalldolch zu Boden. Ein Hitzeschleier detonierte in seinen Augen, Schaumblasen kreiselten und tanzten in seinen Trommelfellen. Er verlor die Herrschaft über seine Muskeln. Der dunkle Kopf sank auf den dichten schwarzen Haardschungel seiner Brust; das Gold der Augen verblaßte zu einem schwachen, stumpfen Gelb, und der Mund erschlaffte. Er wollte kämpfen, aber es hatte keinen Sinn. Dieser Hirte gehörte zum Seevolk, das er gesucht hatte. Irgendwie mußte er mit ihm ins Gespräch kommen. Dunkles Blut füllte seine schmerzenden Augen. Er spürte, daß er hierhin und dorthin gelenkt, geschoben wurde. Ein goldener Hund glitt vorbei und drängte ihn in die Strömung aus Seeblut. Sie führte dicht an der Stelle vorbei, wo der Hirte stand, die Harfe in den Händen. Starke kam vage der Gedanke, ob die anderen Krieger, die in dem Zug mittrieben, tot waren oder lebten wie er. Eine weitere Überraschung erwartete ihn.
Es waren alles Ranns Leute. Männer von Falga. Silbergeschöpfe mit leuchtend grünem Haar. Ranns Leute. Einer von ihnen, ein Hüne mit einer Haut wie Salzkristalle, taumelte ziellos mit einer Woge an ihm vorbei, die grünen Augen erloschen. Er schien tot zu sein. Was hatte das Seevolk mit den toten Kriegern von Falga zu tun? Weshalb die Hunde und die Harfe des Hirten? Fragen strudelten wie aufgewühlter Schlick in Starkes müdem, schlaff herabhängendem Kopf. Strudelten und setzten sich wieder. Starke schloß sich der Prozession an. Die Hunde dirigierten ihn mit raschen, geschickten Flügelschlägen in die Mitte der Herde. Leiber stießen gegen ihn. Kalte Leiber. Er wollte aufschreien. Seine Kehle schnürte sich zusammen. In seinem Innern hallte der Schrei wider. »Lebt ihr, Männer von Falga?« Keine Antwort; nur das Dahintreiben narbiger, fahler Leiber. Die Augen dieser Krieger wußten nichts. Sie hatten Falga vergessen. Sie hatten Rann vergessen, für die sie in den Kampf gezogen waren. Die Zungen, die schlaff im Munde hingen, fragten nichts. Nur Schlaf verlangten die Krieger. Sie bekamen ihn. Die Harfe sang, und die goldenen Hunde gehorchten. Die Harfe sang, und die Leiber zuckten wie in einem unruhigen Schlaf. Ein Ackord schwebte geradewegs auf Starke zu. Er ballte die Fäuste. » – und die Toten werden wieder auferstehen – « Wieder eine spöttisch perlende Melodie. » – und Ranns Leute werden sich erheben, diesmal gegen sie…« Starke spürte ein kurzes, verwirrtes Schaudern, bevor die Strömung ihn weiterriß. Mit einem trunkenen, geistlosen Lallen versuchten sich die toten Krieger von Falga an ihm vorbeizuschieben, alle auf einmal.
Starke war allein. Ein dunkler unterirdischer Schlund hatte Falgas Krieger aufgesogen. Nun lenkten ihn die goldenen Hunde und das leise Locken der Harfe durch einen Korridor in eine große, kreisförmige Felsenkammer, die mit einer Vorhalle in Verbindung stand. Schwärme von schlanken Fischen schwammen an der schwarzen Decke. Ihr heller Glanz verlieh dem Raum Licht. Sie waren seit Jahrtausenden da, fraßen, vermehrten sich und starben, und sie würden noch Jahrtausende dableiben, fressen, sich vermehren und sterben. Die Harfe raunte nur noch. Starke spürte Boden unter den Füßen. Kraft kehrte in seinen Körper zurück. Er konnte den Mann in der Mitte des Raumes gut sehen. Zu gut. Der Mann hing in der Feuerströmung. Ketten aus getriebener Bronze hielten seine dünnen, fleischlosen Knöchel fest, so daß er nicht entfliehen konnte. Sein Leib wollte es. Er zog nach oben. Er war schon lange tot. Fäulnisgase blähten ihn auf, und er wollte an die Oberfläche der Roten See steigen. Die Ketten verhinderten es. Seine Arme wehten wie weiße Schärpen vor dem eingefallenen weißen Gesicht. Schwarzes Haar stand zitternd nach oben. Es war einer von Faolans Männern. Einer der Piraten. Einer von jenen, die wegen Conan in Falga ihr Leben gelassen hatten. Er hieß Geil. Starke erinnerte sich daran. Der Teil von ihm, der Conan war, erinnerte sich an den Namen. Die toten Lippen bewegten sich. »Conan. Welch ein Zufall! Conan. Ich heiße dich willkommen.«
Die Worte waren grausam, die Lippen, die sie formten, welk und tot. Es schien Starke, als glimmte Zorn und ein bitterer Haß tief in den leeren Augen. Die Lippen zuckten wieder. »Ich fiel in Falga durch deine und Ranns Schuld, Conan. Erinnerst du dich noch?« Ein Teil von Starke erinnerte sich und litt Qualen. »Wir sind alle hier, Conan. Alle. Clev und Mannt und Bron und Aesur. Erinnerst du dich an Aesur, der Metall über seinem Rücken biegen und mit bloßen Fingern formen konnte? Aesur ist hier, aufgeschwollen wie ein Meeresungeheuer. Er wartet in einer Nische, kalt und schlaff. Die Hirten des Seevolkes haben uns aufgelesen, zu einem ironischen Zweck, Schau!« Die knochenlosen Finger flatterten wie im Wind. Sie deuteten. Starke drehte sich langsam um, und sein Herz hämmerte in einem harten, unregelmäßigen Rhythmus. Er biß die Zähne zusammen. Vor seinen Augen verschwamm alles. Der Teil von ihm, der Conan war, schrie auf. Conan war so sehr mit ihm und er mit Conan verwachsen, daß man sie nicht trennen konnte. Sie durchdrangen einander wie Perlmutt den Sand, Schicht um Schicht. Starke schrie auf. In der Halle jenseits der kreisförmigen Kammer standen tausend Männer. Schulter an Schulter, in Reihen von fünfzig Mann, standen die Krieger von Crom Dhu da und starrten blicklos zu Starke herauf. Hier und dort hob sich ein Gesicht entsetzlich vertraut aus der Menge. Die Erinnerung schrie ihm die Namen entgegen. »Bron! Clev! Mannt! Aesur!« Die zu Gas verwesten Körperflüssigkeiten richteten sie auf, ließen sie ein Stück über den Fliesen schweben. Jeder einzelne war angekettet wie Geil.
»Wir haben uns mit den Männern von Falga verbündet«, flüsterte Geil. Starke zuckte zurück. »Falga!« »Im Tod sind alle Brüder.« Er sprach langsam. Er hatte es nicht eilig. Wasserleichen haben es nie eilig. Sie schaukeln und treiben dahin und warten auf den rechten Augenblick. »Die Toten dienen jenen, die ihnen eine Art Leben schenken. Morgen ziehen wir gegen Crom Dhu.« »Du bist wahnsinnig! Crom Dhu ist eure Heimat. Das Reich von Beudag und Faolan – « »Und – « unterbrach ihn der pendelnde Tote ruhig – »von Conan? Was?« Er lachte. Kristallbläschen perlten aus dem schlaffen Mund. »Besonders von Conan. Conan, der uns bei Falga versenkte…« Starke schnellte vor. Niemand hinderte ihn. Im nächsten Augenblick hatte er das kurze Schwert des Toten in der Hand. Er hieb es in Geils kalte Brust. Die Klinge fand keinen Widerstand. Kühl, ohne jede Regung, sagte Geils Stimme: »Stich auf mich ein, verwunde mich! Das Leben kannst du mir nicht mehr nehmen. Zerstückle mich! Spiel den Schlächter! Die Hüfte, die Hand, das Herz! Inzwischen erkläre ich dir unseren Plan.« Mit einem Fauchen riß Starke die Klinge aus dem Fleisch. Fluchend, in blindem Zorn, stieß er sie immer wieder in den Leichnam. Und der Tote schaukelte sanft in den roten Fluten und fuhr nüchtern fort: »Wir steigen aus dem Meer und ziehen vor die Tore von Crom Dhu. Romna und die anderen werden uns von oben erkennen und befehlen, daß man uns einläßt.« Der Kopf kippte leicht zur Seite, die Lippen öffneten und schlossen sich träge über den Worten. »Stell dir den Jubel vor, Conan, wenn Bron,
Mannt, Aesur und ich nach Crom Dhu zurückkehren – und auch du, Conan, auch du!« Starke sah das Bild lebhaft vor sich, wie einen Gobelin, den man eigens für ihn gewirkt hatte. Er trat zurück, mühsam nach Luft ringend. Seine Nasenflügel bebten. Er sah, was seine Klinge Geils Leichnam angetan hatte, und er sah, wie sich die großen Felstore von Crom Dhu donnernd öffneten. Zuerst die Vorsicht. Dann die Freude, das Glück von Faolan und Romna, die totgeglaubten Freunde heimkehren zu sehen. Die guten Kämpfer, mit denen sie längst nicht mehr gerechnet hatten. Wieder am Leben, herbeigeeilt, um ihnen zu helfen! Er konnte sich die Szene vorstellen. Mit Überlegung holte Starke aus. Geils Kopf, mit einem flachen Streich vom pendelnden Körper getrennt, trudelte unendlich müde zur Decke. Er drehte sich und kreiselte und beendete dabei seinen grausigen Bericht. »Und dann, sobald die Tore offen sind, was dann, Conan? Kannst du es erraten? Kannst du erraten, was wir tun werden, Conan?« Starke starrte ins Nichts. Das Schwert zitterte in seiner Faust. Von weit weg hörte er Geils Stimme: » – wir werden Faolan in seinem Saal töten. Mit einem Ausruf des Staunens auf den Lippen wird er sterben. Romna wird seine Harfe gegen den aufgeschlitzten Leib pressen und mit den letzten Schlägen seines Herzens die Saiten rühren. Und Beudag – « Starke, wütend und zugleich hilflos, versuchte die Gedanken abzuwehren. Geils Leichnam war ein formloses Ding. Er hatte ihm angetan, was er konnte. Mit kalkweißem, verzerrtem Gesicht rief er: »Ihr bringt es fertig, euer eigenes Volk zu vernichten?« Geils abgeschlagener Kopf verharrte an der Decke, die gespenstischen Züge von Leuchtfischen erhellt. »Unser Volk?
Aber wir haben kein Volk. Wir sind jetzt eine andere Rasse. Die Toten. Wir tun, was die Hirten von uns verlangen.« Starke warf einen Blick in die Vorhalle, dann auf die kreisförmige Wand. »Also schön«, sagte er tonlos. »Kommt heraus, wo ihr euch auch verstecken mögt und dieses Stimmentheater aufführt! Kommt heraus und sagt deutlich, was ihr wollt!« Daraufhin schwang ein ganzer Abschnitt der schwarzen Steine auf lautlosen Rollen zurück. Starke sah einen langgestreckten schmalen schwarzen Marmortisch, hinter dem sechs Leute auf geschnitzten dunklen Thronsesseln warteten. Es waren alles Männer, nackt bis auf spinnwebfeine Tücher, die sie um die Lenden geschlungen hatten. Sie betrachteten Starke ohne Neugier und ohne besonderen Haß. Einer von ihnen umklammerte eine Harfe. Es war der Hirte, der Starke durch das Tor gelotst hatte. Seine Finger mit den Schwimmhäuten ruhten auf dem Instrument; gelegentlich entlockte er der einen oder anderen Saite einen reinen, heiteren Klang. Als Starke losstürmte, bremste ihn ein Schrei eben jener Harfe. Das Schwert in seiner Hand begann zu glühen. Er ließ es fallen. Der Hirte rundete Geils Erzählung ab. »Und dann? Und dann bringen wir Ranns tote Krieger die weite Strecke zurück nach Falga. Dort wird beim Anblick der Kämpfer Ranns Volk in Jubel ausbrechen, in einen wilden Freudentaumel über die Heimkehr der Freunde und Verwandten. Auch sie werden Falgas Befestigungen weit öffnen. Und der Tod wird einziehen, in der Maske der Auferstehung.« Starke nickte langsam. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Auf der Erde nennt man so etwas Psychologie. Gute Psychologie. Aber wird sich Rann davon täuschen lassen?«
»Rann wird mit ihren Schiffen vor Crom Dhu sein. Während ihrer Abwesenheit empfängt die harmlose Bevölkerung die verloren geglaubten Krieger sicher mit offenen Armen.« Der Hirte hatte belustigte grüne Augen. Er sah aus wie ein Jüngling von knapp siebzehn. Trügerisch jung. Wenn Starkes Vermutungen stimmten, zählte dieser Jüngling an die zweihundert Jahre. Das Leben am Grund der Roten See hatte seinen Einfluß. Die Strahlung erhielt die Jugend. Starke verengte nachdenklich die gelben Falkenaugen. »Ihr habt alle Trümpfe in der Hand. Den Sieg kann euch niemand nehmen. Aber was bedeutet euch Crom Dhu? Weshalb begnügt ihr euch nicht mit Rann? Sie ist eine von euch, ihr haßt sie mehr als die Piraten. Ihre Vorfahren eroberten das Land, und das habt ihr ihnen nie verziehen – « Der Hirte zuckte mit den Schultern. »Wir haben in der Tat kaum etwas gegen die Leute von Crom Dhu, außer daß sie von Natur aus Landbewohner sind. Aber sie rauben und plündern in Booten, und eines Tages könnten sie ihr Glück in unserer Unterwasserstadt versuchen.« Starke streckte eine Hand aus. »Wir kämpfen auch gegen Rann. Vergeßt nicht, wir stehen auf eurer Seite!« »Während wir nur an uns selbst denken«, entgegnete der Jüngling. »Willkommen in dem Heer, das Crom Dhu angreifen wird!« »Ich? Niemals. Nur über meine Leiche!« »Ganz recht«, meinte der Jüngling belustigt. »Siehst du, wir haben jahrelang unsere Vorbereitungen getroffen. Auf dem Land taugen wir nicht viel. Wir benötigten Tote, welche die Arbeit für uns tun konnten. So waren wir mit unseren goldenen Hunden immer da und lauerten, wenn Faolan ein Schiff verlor oder wenn Rann ein Schiff verlor. Wir lasen sie auf, sammelten sie, warteten, bis wir von jeder Seite genug Krieger hatten. Sie werden den Kampf für uns führen. Oh, natürlich
nicht lange. Die Quellenergie wird ihnen ein Scheinleben verleihen, einen vorübergehenden elektrischen Impuls, zu marschieren und zu streiten, aber sobald sie das Wasser verlassen haben, halten sie höchstens eine halbe Stunde durch. Doch das müßte reichen, wenn erst einmal die Tore von Crom Dhu und Falga geöffnet sind.« »Rann wird irgendeinen Weg finden, um euch zu überlisten«, sagte Starke. »Holt sie euch zuerst! Greift Crom Dhu am Tag darauf an!« Der Jüngling überlegte. »Du versuchst Zeit zu gewinnen. Aber dein Vorschlag klingt vernünftig. Rann geht vor. Wir werden also zuerst Falga erobern. Du hast eine kurze Spanne, in der du falsche Hoffnungen nähren kannst.« Starke fühlte sich mit einem Mal elend. Der Raum verschwamm. Ganz leise, ganz leicht, drang Rann wieder in sein Denken. Er spürte die Berührung; sie streifte ihn wie ein Seefarn, der im Brackwasser schwankte. Er verschloß sein Inneres, aber nicht, bevor sie ihm einen Gedankenfetzen entrissen hatte. Ihre Aquamarinaugen musterten ihn fragend, fordernd. »Hugh Starke, du bist beim Seevolk?« Ihre Stimme war leise. Er schüttelte den Kopf. »Sag es mir, Hugh Starke! Was für eine Verschwörung planst du gegen Falga?« Er sagte nichts. Er dachte nichts. Er schloß die Augen. Ihre Fingernägel glitzerten, krallten sich in sein Gehirn. »Sag es mir!« Seine Gedanken rollten sich zu einer harten Metallkugel zusammen, die nichts verletzen konnte. Rann lachte widerwärtig und beugte sich vor, bis sie jeden dunklen Horizont seines Schädels mit ihrem schimmernden
Leib ausfüllte. »Gut, ich habe dir Conans Körper gegeben. Nun nehme ich ihn dir wieder weg.« Sie traf ihn mit einem Hieb ihrer Augen, ihrer zuckenden Lippen, ihrer knochenspitzen Zähne. »Geh zurück in deinen Körper, geh zurück in deinen alten Körper, Hugh Starke!« zischte sie. »Geh zurück! Überlaß Conan seinem Irrsinn! Geh zurück in deinen alten Körper!« Furcht packte ihn. Er fiel aufs Gesicht, schaudernd und bebend. Er konnte einen Mann mit einem Schwert bekämpfen. Aber wie konnte er dieses Ding in seinem Gehirn bekämpfen? Er begann in schluchzenden Zügen Luft zu holen. Er schrie. Er konnte sich nicht hören. Ihre Stimme stürzte vom dunklen Rand des roten Universums herbei, vernichtete ihn. »Hugh Starke! Geh zurück in deinen alten Körper!« Sein alter Körper war – tot! Ein Teil von ihm schoß kopfüber durch roten Nebel.
Er lag auf einem Bergplateau über dem Hafen von Falga. Roter Nebel wand und wickelte sich um ihn. Flammenvögel stießen grauenvoll auf seine stieren, blinden Augen zu. Er war in seinem alten Körper. Gestank verstopfte ihm die Nasenlöcher. Das Fleisch schlotterte und rutschte fettig um sein aufgelöstes Skelett. Er fühlte sich wieder klein und häßlich. Flammenvögel hackten, pickten, suchten zwischen seinen Rippen. Schmerz verschlang ihn. Kälte, Schwärze, Nichts erfüllte ihn. Wieder in seinem alten Körper. Für immer. Er wollte das nicht. Das Plateau, der rote Nebel verschwanden. Die Flammenvögel auch. »Das war erst der Anfang«, erklärte ihm Rann. »Das nächste Mal lasse ich dich für ganz in dem Kadaver auf dem Plateau.
Wirst du mir jetzt von den Plänen des Seevolks erzählen? Um weiterhin in Conan zu leben? Er gehört dir, wenn du redest.« Sie lachte hämisch. »Du willst doch nicht tot sein.« Starke versuchte zu denken. Wohin er sich auch wandte, es war der falsche Weg. Er atmete gepreßt. »Du wirst Beudag umbringen, selbst wenn ich es dir sage.« »Ihr Leben für das, was du weißt, Hugh Starke.« Die Antwort kam zu schnell. Sie klang nach Verrat. Starke glaubte ihr nicht. Er wollte sterben. Das war die Lösung. Wenigstens würde auch Rann den Tod finden, wenn das Seevolk seine Strategie durchführte. Eine kleine Rache wenigstens, verdammt! Dann hatte er einen Gedanken. Er stieß ein Lachen hervor und hob schwach den Kopf, um den verwirrten Hirten anzusehen. Sein kleines Gespräch mit Rann hatte nicht länger als zehn Sekunden gedauert, aber ihm war es wie ein Jahrhundert erschienen. Der Hirte trat auf ihn zu. Starke versuchte sich aufzurichten. »Ich – habe einen Vorschlag für euch. Du mit der Harfe! Rann ist in meinem Innern. Jetzt! Wenn du mir nicht die Sicherheit von Crom Dhu und Beudag garantierst, erfährt sie ein paar Dinge, auf die sie vielleicht sehr scharf ist.« Der Hirte zog ein Messer. Starke schüttelte kühl den Kopf. »Steck es wieder ein! Selbst wenn du mich tötest, gebe ich euren ganzen verdammten Plan noch an Rann weiter.« Der Hirte senkte die Hand. Er war kein Narr. Rann wühlte in Starkes Gehirn. »Rede! Verrate mir ihren Plan!« Er fühlte sich wie ein Mann in einer Drehtür. Starke konzentrierte sich auf die Vertreter des Seevolkes. Sie verrieten jetzt Angst, Zweifel und Nervosität. »Ich bin in
spätestens einer Minute tot«, sagte Starke. »Versprecht mir die Sicherheit von Crom Dhu, und ich sterbe, ohne Rann ein Wort zu sagen.« Der Hirte zögerte, dann hob er die Hand. »Ich verspreche es«, sagte er. »Crom Dhu wird nichts zustoßen.« Starke seufzte. Sein Kopf fiel nach vorn und schlug hart gegen den Boden. Dann rollte er herum und legte die Hände über die Augen. »Abgemacht! Und heizt Rann tüchtig für mich ein, Leute, ja? Heizt ihr ein!« In der Dunkelheit seines Gehirns wartete Rann. »Okay, Fürstin«, flüsterte er schwach. »Du hättest mich so oder so umgebracht. Ich bin bereit. Setz all deine verfluchten Künste ein, um mich zurück in diesen stinkenden Kadaver zu treiben. Ich werde dich bekämpfen bis zum letzten Augenblick!« Rann schrie auf. Es war ein Schrei des ohnmächtigen Zorns. Dann begannen die Schmerzen. In der nächsten Minute stellte sie allerhand mit seinem Gehirn an. Der Teil von ihm, der Conan war, zog sich zusammen wie eine Muschel, die ihren kostbaren Inhalt schützen will. Der Gestank fauligen Fleisches kehrte wieder. Der Blutnebel kehrte wieder. Die Flammenvögel fielen in glühenden Spiralen aus Funken und Rauch auf ihn zu, um seine blanken Rippen abzunagen. Starke sagte ein Wort, bevor die Finsternis von ihm Besitz ergriff. »Beudag.« Er glaubte nicht, daß er jemals wieder erwachen würde.
Dennoch erwachte er. Rund um ihn war roter Ozean. Er lag auf einer Art Felsenbett, und neben ihm saß der junge Hirte und betrachtete ihn mit einem feinen Lächeln.
Eine Zeitlang wagte sich Starke nicht zu rühren. Er hatte Angst, daß sein Kopf abfallen und wie ein großer Fisch davonwirbeln könnte. »Mein Gott!« flüsterte er, ohne sich umzudrehen. Das Meeresgeschöpf regte sich. »Du hast gesiegt. Du hast Rann bekämpft und gesiegt.« Starke stöhnte. »Ich fühle mich wie durch die Eingeweide einer Wildkatze gezerrt. Sie ist fort. Rann ist fort.« Er lachte. »Das macht mich traurig. Jemand soll mich aufheitern. Rann ist fort.« Er tastete über seinen kräftigen, muskelbepackten Körper. »Sie hat geblufft. Versuchte mich zum Wahnsinn zu treiben. Sie wußte, daß sie mich in Wirklichkeit nicht wieder in diesen Kadaver stecken konnte, aber sie wollte nicht, daß ich es erfuhr. Es war wie der Alptraum eines Babys kurz vor der Geburt. Aber vielleicht besitzt du andere Erinnerungen als ich.« Er rollte herum und streckte sich. »Sie wird nie wieder in mein Gehirn eindringen. Ich habe das Tor versperrt und den Schlüssel verschluckt.« Er öffnete die Augen. »Wie heißt du eigentlich?« »Linnl«, sagte der Mann mit der Harfe. »Du hast Rann nichts von unseren Plänen verraten?« »Was denkst du?« Linnl lächelte offen. »Ich denke, daß du mir gefällst, Mann von Crom Dhu. Ich denke, daß mir dein Haß auf Rann gefällt. Ich denke, daß mir die Art gefällt, in der du die ganze Angelegenheit behandelt hast – wie du Rann töten und Crom Dhu retten und dafür freiwillig sterben wolltest.« »Das ist eine ganze Menge Denken. Tja, und was ist nun mit diesem Versprechen?« »Wir werden es halten.« Er lachte mit geschlossenen Augen.
»Überläßt du mir Rann, wenn es so weit ist?« Seine Finger tasteten begierig nach oben, schlossen sich um eine unsichtbare Gestalt, preßten, verkrampften sich. »Sie gehört dir«, sagte Linnl. »Ich würde mich gern selbst um sie kümmern, aber dein Racheanspruch ist ebenso groß, wenn nicht größer. Komm mit! Wir brechen auf. Du hast eine ganze Planetenumdrehung geschlafen.« Starke glitt behutsam von seinem Lager. Er hatte das Gefühl, daß er sich auflösen könnte, sobald ihn jemand berührte. Die Flut nahm ihn auf, und er überließ ihr die ganze Arbeit. Er folgte Linnl vorsichtig durch die Korridore, vorbei an den silbernen Bewohnern der Stadt. In einem weitläufigen Saal unter ihnen schwebten die Krieger von Falga, nur durch Beinfesseln festgehalten. Sie starrten mit blassen kalten Augen zu Starke und Linnl auf. »Männer von Falga!« Linnl schlug die Saiten an. »Ja«. Die dumpfe Andeutung eines Lautes strömte aus tausend toten Lippen. »Wir brechen auf, um Ranns Zitadelle zu stürmen.« »Rann!« grollten die Stimmen. Beim Klang einer anderen Melodie tauchten die goldenen Hunde auf. Sie berührten die Ketten. Die Männer von Falga, befreit, schwankten durch die Rote See. Aufgesogen von einem engen Schlund, wurden sie in ein riesiges vulkanisches Rund gespien. Starke folgte ihnen dicht auf den Fersen. Er starrte in eine schwarze Schlucht, in deren Tiefe sich ein flammender Kessel auftat. Das war die Lebensquelle der Roten See. Hier hatte sie vor langer Zeit ihren Ursprung genommen. Hier brachen die ungezähmten Zyklonen aus Funken und Feuerhitze hervor, erschütterten titanische schwarze Schutzwälle, schufen Strömungen und Strudel, die dich anzusaugen und machtvoll
an die Oberfläche zu werfen drohten, in Kanülen von Energie, in Kapillaren entzündeter Nebel, in Trichtern aus Farbe, die dich zu verbrennen schienen und doch nur beglückten, dir schäumendes neues Leben schenkten. Er stemmte die Beine ein und kämpfte gegen den Sog an. Eine unglaubliche Feuermacht schoß aus der Schlucht, knisternd und brüllend. Die Männer von Falga widersetzten sich der Anziehung nicht. Sie trieben lautlos vorwärts und hingen über der heißen Glut. Die Lebenskraft der Quelle stieg in den Kadavern empor. Sie schien zuerst die Fußspitzen zu berühren und dann durch einen leuchtenden Osmoseprozeß höher zu klettern, in die Lenden, in die Organe; sie zeichnete ihre kräftigen Skelette nach, wie Quecksilber beim Ansteigen der Temperatur das Glasröhrchen im Thermometer nachzeichnet. Die Knochen schimmerten wie geschnitztes, blankes Elfenbein durch das für eine kurze Spanne transparente Fleisch. Tausend Männer, und ihre Rippen dehnten sich aus wie silberüberzogene Spinnenbeine, preßten sich zusammen und dehnten sich wieder aus. Sie streckten die Wirbelsäulen, drückten die Schultern durch. Ihre Augen, in denen sich das Feuer zuletzt fing, waren nun entfacht und brannten wie Kerzen auf frisch geschmückten Gräbern. Ihre Köpfe hoben sich, ihre Haut erstrahlte rundum in silbernem Glanz. Alptraumgestalten gleich, schwammen sie durch den Sturm von Energie, erreichten die Kälte, die andere Seite der Schlucht, wie flüssiges Metall, das aus Schmelzöfen strömt. Wenn sie gegeneinander stießen, zischten Purpurfunken, sprangen von Kopf zu Kopf, von Hand zu Hand. Linnl berührte Starkes Arm. »Komm!« »Nein, danke.«
»Angst?« lachte der Harfenspieler. »Du bist müde. Es wird dir neues Leben verleihen. Komm!« Starke zögerte nur einen Augenblick. Dann ließ er es zu, daß die Flut ihn rasch hinaustrug. Er hatte Angst. Verdammte Angst. Ein Feuerschwall erfaßte ihn, als er im Herzen der Schlucht anlangte. Schichten von Ekstase hüllten ihn ein. Beudag schmiegte sich an ihn. Es war ihr brennendes Haar, das ihn umfing und versengte. Es war ihre Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitete, in die Brust stieg und in den Kopf.
Jenseits der Schlucht warteten tausend Falga-Krieger. Tausend Harfen setzten ein, und als Starke die andere Seite erreichte, begannen sie einen Marsch zu spielen, und die Männer marschierten mit. Sie waren immer noch tot, aber das konnte niemand wissen. Es steckte kein Geist in diesen Körpern. Sie wurden von außen gelenkt. Aber das konnte niemand wissen. Sie ließen die Stadt hinter sich. Die goldenen Hunde und fernen Harfen leiteten das schimmernde Soldatenheer zu einer Stelle, wo eine reißende Küstenströmung vorüberzog. Die Strömung trug sie mit. Dicht neben Linnl, der seine Harfe spielte, fühlte sich Starke in Tiefen gezerrt, wo fremdartige Monstren lauerten. Sie sahen ihn mit hungrigen Augen an. Aber die Harfenklänge ließen sie zurückprallen. Starke betrachtete die Männer um sich. Sie wissen nicht, was sie tun, dachte er. Kehren heim, um ihre Eltern und ihre Kinder zu töten, um Falga in Brand zu stecken, und wissen es nicht. Ihre lebendig-toten Gesichter waren nach oben gerichtet, immer nach oben, als sähen sie dort Ranns Zitadelle. Er schickte seine Gedanken voraus, sachte. Rann. Rann. Die einzige Antwort war der Zug der Silberleiber durch die feurigen Tiefen. Eben, als der Morgen dämmerte, tauchten sie auf.
Falga lag schläfrig in der rot verwischten Nebelstille. Seine Sklavenstraßen waren leer und taubedeckt. Hoch oben badete das erste Licht Ranns Gärten und ließ ihre Zitadelle aufglühen. Linnl lag im seichten Wasser neben Starke. Beide lächelten hart, fast grausam. Sie hatten lange auf diesen Moment gewartet. Linnl nickte. »Heute ist der Tag der Freudenfeste. Man wird Ranns heimgekehrten Soldaten Früchte, Wein und Liebe anbieten. Man wird auf den Straßen tanzen.« Weit drüben zur Rechten erhob sich ein Berg. Auf seinem stumpfen Gipfel – Starke ließ ihn nicht aus den Augen – ruhte der Leichnam eines schmächtigen, ausgemergelten Terraners. Flammenvögel hingen in Trauben an ihm. Er würde später auf diesen Berg steigen. Wenn alles vorbei war und er Zeit dazu fand. »Was suchst du?« fragte Linnl. Starkes Stimme kam von weit weg. »Einen alten Bekannten.« Die Männer erklommen die Felsenkais in leuchtenden Reihen. Ihre vom Alter rissigen Sandalen schlurften über den Boden. Starke ging wie ein gefangenes Tier in ihrer Mitte. Seine dunkle Haut durfte nicht auffallen. Man entdeckte sie. Von ihren Wehrgängen auf den Klippen starrten die Wächter über die schmutzigen Sklavenbehausungen hinweg und stießen einen Schrei aus. Hände winkten, hoben sich frostigweiß in der Dämmerung. Mehr Wächter kamen herbeigerannt, über Rampen und Tunnel, und trafen mit ihren Gefährten zusammen. Sie rückten näher. Linnl, im Wasser neben dem Kai, schlug eine Melodie auf seiner Harfe an. Die anderen Harfen nahmen sie auf. Die bebende Musik stieg aus dem Meer und zwang mit sanfter Beharrlichkeit die toten Füße zum Marschieren, entlang der
Kais, hinauf durch die schmalen, erstickend engen Gassen der Sklaven, den Wächtern entgegen. Angehörige des Sklavenvolkes spähten aus ihren engen Behausungen. Das Vorbeiziehen der Krieger war ein gewohnter Anblick für sie, ohne jede Bedeutung. Diese Krieger trugen keine Waffen. Starke fühlte sich nicht wohl dabei. Schon ein Stück Kette hätte ihn beruhigt. Aber diese Leere in den Händen! Seine Kiefer schmerzten, weil er so lange die Zähne zusammengebissen hatte. Seine Armmuskeln zuckten nervös, wie im Fieber. Jenseits des Sklavendorfes, am Fuße der Klippe, traten ihnen die Wächter entgegen. Mit gezückten Schwertern kamen sie die Tunnel entlanggelaufen, um die Männer abzufangen, die sie für ihre Feinde hielten. Die Wächter blieben in völliger Verwirrung stehen. Ihr Hauptmann trat zögernd näher, Argwohn in den grünen Augen. Der Argwohn schwand. Seine Miene hellte sich auf. Seit Monaten nun wälzte er sich nachts schlaflos auf den Fellen und dachte an seinen Sohn, der für Falga gefallen war. Nun stand sein Sohn vor ihm. Er lebte. Der Hauptmann vergaß, daß er Hauptmann war. Er vergaß alles. Seine Sandalen streiften über die Steine. Die Luft wich aus seinen Lungen und kam mit einem leisen Gebet wieder. »Mein Sohn! In Ranns Namen! Es hieß, daß du vor mehr als hundert Finsternissen von Faolans Männern erschlagen wurdest. Mein Sohn!« Irgendwo klang hell eine Harfe auf. Der Sohn ging lächelnd auf ihn zu. Sie umarmten einander. Der Sohn sagte nichts. Er konnte nicht sprechen. Das war das Zeichen für die anderen. Sie lösten sich aus ihrer Erstarrung, legten die Schwerter weg. Die Palastwache umringte alte Freunde, Brüder, Väter, Onkel, Söhne.
Sie betraten gemeinsam die Felskorridore, die Wächter und die heimgekehrten Krieger, Starke in ihrer Mitte. Wälzten sich zur Klippe hinauf, Tunnel um Tunnel, und alle redeten gleichzeitig. Zumindest schien es so. Die Wachen redeten. Keiner der toten Krieger antwortete. Es hatte nur den Anschein. Starke hörte überall durchdringend und klar die Musik. Sie erreichten die grünen Gärten am Rand der Klippe. Bis dahin war die ganze Stadt erwacht. Frauen strömten herbei, schluchzend, mit nackten Brüsten, und warfen sich in die Arme ihrer Liebhaber. Blumen überschütteten sie. »So sieht also dieser Krieg aus«, murmelte Starke. Sie hielten inmitten der weiten Parks an. Die Menge wimmelte fröhlich durcheinander, ohne auf das sonderbare Schweigen der Krieger zu achten. Sie war zu glücklich, um es zu bemerken. »Jetzt!« flüsterte Starke. »Jetzt ist der richtige Moment. Jetzt!« Wie zur Antwort fiel das schrille Kreischen der Harfen vom Himmel herab. Die Menge hörte erst zu lachen auf, als die heimgekehrten Krieger von Falga sich mit erhobenen Händen suchend vorwärtstasteten.
Das Klagen in den Straßen war wie das ferne Wimmern einer Sirene. Metall klirrte und wurde von Stille abgelöst, sobald es auf Fleisch traf. In den grünen, betauten Gärten fand eine grausame Pantomime ihr Ende. Starke beobachtete sie von Ranns leerer Zitadelle. Nebelfetzen strichen an den Arkaden vorüber, und ein schwerer Regen fiel. Er kam wie ein Blutschauer und tränkte
den Park, bis man Regen vom Blut nicht mehr unterscheiden konnte. Die heimgekehrten Krieger besaßen nun Schwerter. Sie hatten die ihnen am nächsten Stehenden in der festlich gestimmten Menge umgebracht und ihren Opfern die Waffen abgenommen. So einfach war das – und so grauenvoll. Die Sklaven hatten ebenfalls den Kampf eröffnet. Sie schwärmten aus ihren Löchern, hoben zu Boden gefallene Dolche und kurze Schwerter auf, umzingelten die Gärten und fielen über die arroganten hellen Krieger Ranns her, die bis dahin dem lautlosen Gemetzel entronnen waren. Toter Vater stürzte sich auf fassungslosen lebenden Sohn. Toter Bruder erwürgte lebenden Bruder. Wiedersehensfeier in Falga! Er setzte die schwarzen Tapeten aus Spinnenseide in Brand. Sie wisperten und knackten. Seine Schritte hallten vom Stein wider, als er Saal um Saal durchsuchte. Rann war fort, vermutlich schon seit letzter Nacht. Das bedeutete, daß Crom Dhu kurz vor dem Untergang Stand. War Faolan tot? Hatte das Volk von Crom Dhu sich ergeben, als es Beudags Qualen sah? In Falgas Hafen schaukelten nur ein paar kleine Fischerboote. Der Nebel begleitete ihn, als er in die Gärten zurückkehrte. Regen fand sein Gesicht. Ranns Zitadelle stand in Flammen, und Rauch hüllte sie ein, als er hinaufsah. Stille lag über dem Park. Der Kampf war vorbei. Die Männer von Falga besaßen immer noch das Leben der Quelle. Aber die Schwerter hingen in schlaffen Fingern, und allmählich wich das Licht aus ihren grünen Augen. Ihre Haut wirkte stumpf und schmutzig. Starke eilte durch die Felskorridore und das Sklavenviertel hinunter zum Kai. Linnl erwartete ihn. Er strich liebevoll über die willige Harfe.
»Es ist vorbei. Die Sklaven mögen behalten, was der Vernichtung entging. Sie werden auf unserer Seite stehen, da sie uns ihre Befreiung verdanken.« Starke hörte es nicht. Er spähte mit zusammengekniffenen Augen über die Rote See. Linnl verstand ihn. Er schlug zwei Töne auf der Harfe an, und sie drückten aus, was Starke dachte. »Crom Dhu.« »Wenn wir nicht zu spät kommen.« Starke beugte sich vor. »Wenn Faolan am Leben ist. Wenn Beudag noch am Masttop steht.« Wie ein Blinder setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er in die See sank. Es war keine Million Meilen nach Crom Dhu. Es erschien ihm nur so weit. Eine mächtige Strömung nahm sie vor Falga auf und trug sie rasch durch Kristallwälder der Küste entlang. Er verfluchte jede Meile des Weges. Er verfluchte den Zeitverlust, der entstand, als sie in der Titanenstadt anhielten und neue Männer zusammenholten. Clev und Mannt, Aesur und Bruce. Ungeduldig beobachtete Starke die Wiederholung des Dramas an der lebensspendenden Quelle. Diesmal schwebten die Krieger von Crom Dhu über dem Feuer. Ihre Körper sogen sich voll mit der Kraft, ihre Haut nahm die Farbe von Bronze an, und in ihren Augen glühten Funken. Und dann woben die Harfen ein Gewand um jeden, und die Gewänder trugen die Männer, anstatt die Männer die Gewänder. Starke wandte den Kopf nach hinten, als er durch die aufgewühlte Flut schoß. Clev und Aesur folgten ihm, neu belebt. Die Strömung richtete sie auf, schob sie wie Fäden aus Spinnenseide durch schwarze Nadelöhre.
Ironie des Schicksals: Die Männer von Crom Dhu, gefallen bei Falga durch Conans Verrat, kehrten jetzt unter Conans Führung zurück, um diesen Verrat auszulöschen. Plötzlich waren sie in Crom Dhus äußerem Hafenbecken. Schatten glitten über ihnen vorbei. Die langen dunklen Schatten der Falga-Schiffe, die hier verankert lagen. Schatten wie schwarze Schleppnetze. Der Menschenschwarm zerriß die Schattennetze. Die Strömung hörte hier auf, spülte sie in kleinen Wirbeln nach oben. Starke starrte hinauf zu dem riesigen silbernen Kiel eines Falga-Schiffes. Er spürte, wie seine Züge erstarrten. Ein Würgen saß in seiner Kehle. Dann zog er die Knie an und schnellte nach oben; dunkelrot umströmte ihn die Nachtluft. Linnl hielt ihn nicht zurück. Starke entdeckte etwas in seiner Faust, ein geflochtenes Seil aus biegsamen grünen Schilfhalmen, an dessen Ende ein schwerer Haken befestigt war. Er wußte ohne Erklärung, wie er es handhaben mußte. Aber er sehnte sich jetzt nach einem Messer, auch wenn er einsah, daß bei der Fortbewegung im Wasser eine Waffe nur hinderlich sein konnte. Hundert Meter entfernt sah er die schlanke Galionsfigur von Ranns bestem Schiff, eine schwebende Silhouette. Die Fackeln versprühten Feuer wie Beudags Haar. Er schwamm näher. Sein Atem ging gleichmäßig. Und dann hing die silberne Galionsfigur mit den spöttischen grünen Augen und dem wehenden Aquamarinhaar über ihm. Seine Finger streiften das kühle weiße Schiffsmetall. Es roch nach qualmenden Fackeln. Schwache Rufe vom Land her verrieten ihm, daß der nächste Sturm auf das Tor erfolgte. Hinter ihm kräuselte sich das Wasser. Es kräuselte sich tausendfach. Wellenkämme aus funkelndem Burgunder umschäumten die wiedererweckten Männer von Crom Dhu bei ihrem
Auftauchen. Sie starrten den Schwarzen Felsen an, und vielleicht wußten sie, was er bedeutete, und vielleicht wußten sie es nicht. Einen Moment lang stieg Besorgnis in Starke hoch. Angenommen, Linnl wollte ihn überlisten? Angenommen, diese Männer drangen, sobald sie die Schlacht gewonnen hatten, in Crom Dhu ein, um Romnas Harfe zu zerbrechen und Faolans Dunkel zu vertiefen? Er verscheuchte den Gedanken. Eines nach dem anderen. Neben ihm zeigten sich Clev und Mannt. Sie schauten schweigend nach Crom Dhu hinüber. Vielleicht sahen sie Faolans Festung und hörten eine Harfe, mächtiger als die Instrumente, die sie zum Morden und Sengen trieben – Romnas Harfe, die Balladen von Piraten, Seeschlachten und alten Zeiten kannte. Ihre Augen spähten und spähten nach Crom Dhu, aber sie sahen nichts. Nun erschienen die Hirten, die Brüder Linnls, jeder mit seiner Harfe, und die Musik setzte ein. Hoch, so hoch, daß man sie nicht hören konnte. Sie wob ein Netz aus Spannung in der Luft. Stumm, mit grimmiger Entschlossenheit, scharten sich die Toten-und-doch-nicht-Toten um Ranns Schiff. Das Lautlose dieser Umzingelung ließ ihn frösteln und trieb ihm kalten Schweiß auf die Wangen. Ein Dutzend Taue wirbelten in lockeren Spiralen über die Flanke des Schiffes. Sie faßten, ruckten, verkrallten sich. Starke hatte das seine ebenfalls geworfen. Er spürte, wie es einhakte und sich festbiß. Nun erklomm er es rasch, fluchend, die Füße gegen den glatten Silberrumpf gestemmt. Er erreichte das Deck. Beudag war da. Er hatte sich bereits halb über die niedrige Reling geschwungen, als er einhielt und sie ansah. Eingerahmt vom Schein der Fackeln, wirkte sie dunkel und schemenhaft. Sie stand immer noch aufrecht da, erschöpft
zwar, mit geschlossenen Augen, das Gesicht hager und bleich, aber sie lebte. Nun erwachte sie beim Klatschen der Taue und Knirschen der Enterhaken aus einer tiefen Erstarrung. Sie entdeckte Starke, und ihre Lippen öffneten sich. Sie wandte den Blick nicht mehr von ihm. Er atmete keuchend. Beinahe hätte es ihn das Leben gekostet, daß er nur für sie Augen hatte. Ein Wächter mit einer Haut wie frischgefallener Schnee legte einen Pfeil auf und ließ ihn von der Sehne schnellen. Eine Kette lag auf dem Deck. Dankbar hob Starke sie auf. Clev kam neben Starke über die Reling. Seine Brust fing den Pfeil auf. Der Schaft grub sich tief in das Fleisch und blieb stecken. Clev drang unbeirrt weiter vor und holte den Mann ein, der den Pfeil abgeschossen hatte. Beudag schrie auf. »Hinter dir, Conan!« Conan! In ihrer Erregung gab sie ihm den alten Namen. Er war Conan! Er wirbelte herum und sah sich einem drahtigen kleinen Kerl gegenüber. Brutal schlug er ihm die Kette ins Gesicht, entriß ihm das Schwert, benutzte es. Er stieß den Toten ins Meer. Das Schiff war jetzt zum Leben erwacht. Die meisten Männer hatten sich unter Deck von den Kämpfen ausgeruht. Nun strömten sie herauf, wie eine silberne Flutwelle. Ihr Gebrüll stand in einem seltsamen Gegensatz zu dem Schweigen der Männer von Crom Dhu. Starke hatte alle Hände voll zu tun. Conan war ein gesundes Tier gewesen, mit schier unerschöpflichen Kraftreserven. Nun gehorchten Starke die Muskeln aufs Wort. Er lief in weiten Sprüngen über das Deck. Er hielt Ausschau nach Rann, aber sie war nirgends zu sehen. Er griff zwei Gegner an, erledigte einen davon. Mehr Taue schwirrten, schlängelten sich an ihm vorbei. Auf sämtlichen Schiffen im Hafen tobte nun der Kampf. Mehr Männer schwärmten lautlos auf das Deck.
»Clev! Mannt! Aesur!« rief Beudag beim Anblick der Kämpfenden. Ihre Stimme übertönte den Lärm. Starke war ein Gott. Alles, was er wollte, konnte er haben. Einen Kopf? Er konnte ihn haben. Seine Guillotine war ein Messer, ein Handgelenk, ein nach vorn geworfener Körper. So! Seine Augen leuchteten wie rauchiger Bernstein, und grimmige Freude grub tiefe Furchen um seine Mundwinkel. Ein Feind ohne Hände kann nicht kämpfen. Einer, der Starke gegenüberstand, hielt plötzlich blutüberströmte Stümpfe vor die Augen und wollte nicht fassen, was er sah. Siehst du das, Faolan? schrie Starke lautlos, während er das Schwert führte. Schau her, Faolan! Gott, nein, du bist blind! Dann horch wenigstens! Hörst du das Klirren von Stahl auf Stahl? Weht der Geruch dampfenden Blutes und dampfender Leiber zu dir hinüber? Oh, wenn du das heute abend miterleben könntest, Faolan! Falga wäre vergessen. Hier steht Conan, aus dem Wahnsinn erlöst, mit einem Burschen namens Starke, der seinen Körper trägt und seine Schritte lenkt! Es wurde gefährlich auf Deck. Erst jetzt fiel Starke auf, daß die Krieger von Crom Dhu nicht mehr darauf achteten, wen sie angriffen. Sie zerstückelten sich gegenseitig, trennten einander in blindem Eifer die Gliedmaßen vom Leib. Hier konnten Beudag und er nicht bleiben. Er zerschnitt ihre Fesseln und zog sie rasch zur Reling. Beudag lachte. Sie konnte nicht anders. In ihren Augen stand Entsetzen. Sie sah Tote, zu Leben erwacht, die Waffen schwingend; sie war halbverhungert, hatte Tag und Nacht am Masttop ausgeharrt, und nun konnte sie nur lachen. Starke schüttelte sie. Sie hörte nicht zu lachen auf. »Beudag! Es ist alles gut. Du bist frei.« Sie starrte ins Nichts. »Gleich – ich habe es gleich überwunden.«
Er mußte einen Angriff von einem der eigenen Leute abwehren. Er parierte den Hieb, setzte nach und stieß den Mann ins Wasser. Es war das einzige, das man tun konnte. Ein Toter ließ sich nicht umbringen. Beudag starrte dem Stürzenden nach. »Wo ist Rann?« Starkes gelbe Augen verengten sich suchend. »Sie war da.« Beudag zitterte. Rann starrte aus ihren Augen. Ein Echo von Rann war in Beudags erschöpfter Gleichgültigkeit zu spüren. Rann befand sich in der Nähe, sie hatte schon wieder die Hand im Spiel. Instinktiv hob Starke den Blick. Rann erschien am Masttop, wie Schneegestöber. Die Brüste mit den grünen Spitzen hoben und senkten sich vor Erregung. Blanker Haß lag in ihren Augen. Starke fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und umklammerte das Schwert fester. Ranns Blicke schossen zu Beudag hinüber. Wie im Traum bückte sich Beudag, hob einen Dolch auf und setzte ihn an die eigene Brust. Starke stand wie gelähmt da. Rann nickte voll Genugtuung. »Nun, Starke? Wie sieht es aus? Nimmst du in Kauf, daß Beudag stirbt? Oder läßt du mich frei?« Starkes Handflächen waren feucht und klebrig. »Du hast keine Heimat mehr. Falga ist besiegt. Wenn du es riskieren willst, ins Wasser zu springen, bitte! Vielleicht erreichst du das Ufer und deine Leute.« »Schwimmend? Darauf lauern die Seebestien nur!« Ihre Betonung lag auf dem Wort Bestien. Sie gehörte zum Seevolk. Linnl und seine Schar waren Seebestien. »Nein, Hugh Starke! Ich nehme ein Beiboot. Bring Beudag an die Reling, wo ich sie ständig im Auge behalten kann! Wenn du mir freies Geleit bis zum Ufer und zu meinem Volk gibst, bleibt Beudag am Leben.«
Starke winkte mit dem Schwert. »Geh!« Er wollte sie nicht entkommen lassen. Er hatte andere Pläne mit ihr, gute Pläne. Er verständigte Linnl von dem Handel. Linnl nickte nach langem Zögern. Rann steuerte in einem winzigen silbernen Boot das Land an. Sie ruderte und ließ dabei Beudag keine Sekunde aus den Augen. Sie glitt an den Seebestien vorbei und erreichte das Ufer. Sie hob die Hand und schmetterte sie nach unten. Starke wirbelte herum, schlug die Faust gegen Beudags Kinn. Ihre Hand stieß die Klinge bereits in die Brust. Ihr Kopf sackte nach hinten. Sie stürzte. Der Dolch klirrte zu Boden. Starke stieß ihn mit dem Fuß über Bord. Dann hob er Beudag auf. Sie schmiegte sich warm an ihn. Die Klinge hatte sie nur geritzt. Eine dünne Blutspur lief über ihre Brust. Rann erkletterte die Uferfelsen, hastete ihren Kriegern entgegen. Die Harfen im Wasser verstummten. Die Schiffe waren besiegt. Ihre Besatzungen lagen auf den Decks verstreut. Die Männer von Crom Dhu stellten den Kampf ebenso rasch ein, wie sie ihn begonnen hatten. Der kräftige Bronzeschimmer auf ihren Armen und nackten Schultern verblaßte allmählich. Die Schiffe begannen zu sinken. Linnl schwamm heran und sah zu Starke auf. Starke erwiderte den Blick und nickte zur Küste hin. »Geschafft!« sagte er. »Und nun holen wir uns diese Teufelin!«
Faolan wartete auf seinem Felsensöller, der hoch über Crom Dhu hinausragte. Im Hintergrund loderten Feuer, und die brennenden Holzscheite erfüllten das Halbdunkel zwischen den Säulen mit Prasseln und grellem Licht. Faolan lehnte an der Brüstung. Salben und Verbände bedeckten seinen Oberkörper. Er hielt den Kopf schräg, und
die unruhigen blinden Augen richteten sich wieder und wieder starr nach unten. Romna stand neben ihm. Er füllte von neuem den Becher, den Faolan in durstigen Zügen leertrank, und berichtete, was sich abspielte. Berichtete von den Männern, die aus der Tiefe des Meeres heraufströmten, und von Rann, die am Felsenufer erschien. Manchmal neigte sich Faolan näher zu Romna, um seine Worte genau zu verstehen. Dann wieder bemühte er sich, das Ding selbst zu hören, das Ding, das sich jenseits der belagerten Festung zutrug.
Romnas Harfe blieb unberührt. Er spielte sie nicht. Es war nicht nötig. Aus der Tiefe hallte der mächtige Klang vieler Harfen, perlender als die seine, überschüttete wie ein Wasserfall die Stadt und ließ den Nebel rote Tränen weinen. »Sind das Harfen?« rief Faolan. »Ja, Harfen.« »Und was war das?« Faolan horchte schweratmend. Er tastete nach einem Halt. »Ein Gefecht«, sagte Romna. »Wer hat gesiegt?« »Wir.« »Und das?« Faolans blinde Augen versuchten zu sehen, bis sie tränten. »Der Feind weicht vom Tor zurück.« »Und dieses Geräusch, und dieses Geräusch?« fragte Faolan immer weiter, wie im Fieber. Er wandte sich hierhin und dorthin, das Gesicht zerquält, empfänglich für jeden Strudel und jede Strömung in der See. Der Rhythmus von Schwertern durch Nebel und Leiber war eine verwirrende Musik, deren Melodien er erkennen mußte. »Wieder einer gefallen! Ich hörte seinen Schrei. Und wieder einer von Ranns Männern!«
»Ja«, sagte Romna. »Aber weshalb kämpfen unsere Krieger so leise? Ich höre keinen Laut von ihren Lippen. So leise.« Romna runzelte die Stirn. »Leise. Ja – leise.« »Und woher kommen sie? Unsere Leute sind alle in der Stadt?« »Ja.« Romna bewegte sich. Er zögerte, kniff die Augen zusammen. »Bis auf jene, die in – Falga starben.« Faolan stand einen Moment lang reglos da. Dann hob er den leeren Becher. »Mehr Wein, Barde, mehr Wein!« Er wandte sich wieder der Schlacht zu. »O Götter, wenn ich das sehen könnte, wenn ich das nur sehen könnte!« Unten, ein lautes Dröhnen. Stille. Ein Rufen, Lärmgewirr. »Das Tor!« Faolan war starr vor Angst. »Wir haben verloren! Mein Schwert!« »Bleib, Faolan!« Romna lachte. Dann seufzte er. Es war ein ungläubiger Seufzer. »Im Namen von zehntausend mächtigen Göttern, warum bin ich jetzt nicht blind oder kann besser sehen?« Faolans Hand ertastete ihn, hielt ihn fest. »Was ist denn? Rede!« »Clev! Und Tlan! Conan! Und Blucc! Und Mannt! Sie stehen im Tor wie Wahnbilder nach einer durchzechten Nacht, mit Schwertern in den Händen!« Faolans Finger lockerten sich, packten erneut fester zu. »Sprich ihre Namen noch einmal, und sprich sie langsam! Belüge mich nicht!« Seine Haut zuckte wie bei einem nervösen Tier. »Du sagtest – Clev? Mannt? Blucc?« »Und Tlan! Und Conan! Heimgekehrt von Falga. Sie haben das Tor geöffnet. Die Schlacht ist gewonnen. Es ist vorbei, Faolan! Crom Dhu wird heute nacht schlafen.« Faolan ließ ihn los. Ein Schluchzen löste sich aus seiner Kehle. »Ich werde mich betrinken, so wie nie zuvor im Leben.
Herrlich betrinken! Götter, hätte ich das doch sehen können! Hätte ich dabei sein können! Erzähl mir noch einmal davon, Romna!« Faolan saß im großen Saal, auf seinem hohen, geschnitzten Stuhl, und wartete. Draußen, Sandalen auf Stein, das Klirren von Ketten. Die Tür flog weit auf, roter Nebel quoll herein und mit ihm Menschen. Faolan zuckte zusammen. »Clev? Mannt? Aesur?« Starke trat in den Feuerschein. Er preßte die Rechte auf die klaffende Wunde an seiner Hüfte. »Nein, Faolan. Ich und zwei andere.« »Beudag?« »Ja.« Und Beudag kam müde zu ihm. Faolan starrte. »Wer noch? Ich höre leichte Schritte. Eine Frau?« Starke nickte. »Rann.« Faolan richtete sich langsam auf. Er kostete den Klang des Namens aus. Er nahm ein kurzes Schwert von seinem Platz. Er ging nach unten, Starke entgegen. »Du hast mir Rann lebend gebracht?« Starke zerrte an der Kette, mit der Rann gefesselt war. Sie kam mit kleinen Schritten näher, das weiße Gesicht gesenkt, die Augen zu Schlitzen verengt wie eine fauchende Katze. »Faolan ist blind«, sagte Starke. »Ich habe dich aus einem verdammt guten Grund am Leben gelassen, Rann. Also schön, fang an!« Faolan verharrte neugierig. Er wartete. Rann tat nichts. Starke drehte ihr den Arm auf den Rücken. »Ich sagte: Fang an! Vielleicht hast du mich nicht gehört.« »Sofort!« Sie stöhnte. Starke ließ sie los. »Sag mir, was geschieht, Faolan!«
Rann richtete den Blick starr auf Faolan, der hochgewachsen im Licht stand. Faolans Hände zuckten mit einem Mal an die Augen. Er keuchte. Beudag schrie auf, umklammerte seinen Arm. »Ich kann sehen!« Faolan schwankte wie unter einem Schock. »Ich kann sehen!« Zuerst schrie er es, dann wisperte er es. »Ich kann sehen.« Starkes Augen verschleierten sich. Er flüsterte Rann scharf zu: »Zeig es ihm, Rann, oder du stirbst! Zeig es ihm!« Und an Faolan gewandt: »Was siehst du?« Faolan war verwirrt, er schwankte. Seine Hände formten die Vision nach. »Ich – ich sehe Crom Dhu. Es ist ein schöner Anblick. Ich sehe Ranns Schiffe. Sie sinken.« Er lachte abgehackt. »Ich – sehe den Kampf vor dem Tor.« Stille hing über ihren Köpfen. Faolans Stimme fuhr fort, wie hypnotisiert. Er ballte die großen Hände zu Fäusten, schüttelte sie, öffnete sie wieder. »Ich sehe Mannt, Aesur und Clev! Sie kämpfen, wie sie immer kämpften. Ich sehe Conan, wie er war. Ich sehe Beudag am Strand die Waffe schwingen. Ich sehe Feinde sterben. Ich sehe Männer mit Bronzehaut und schwarzem Haar aus dem Meer strömen. Männer, die ich vor der langen Dunkelheit kannte. Männer, die mit mir über die Meere kreuzten. Ich sehe Rann gefangen!« Er stammelte es schluchzend, die Lungen füllten sich, stießen es aus, sogen es ein, keuchten es hervor. Tränen liefen aus den leeren, brennenden Augen. »Ich sehe Crom Dhu, wie es war und ist und sein wird. Ich sehe, ich sehe, ich sehe!« Starke spürte ein Prickeln im Nacken. »Ich sehe Rann gefangen und gefesselt und ihre Männer tot, verstreut auf dem Strand vor dem Tor. Ich sehe, wie sich das
Tor öffnet – « Faolan stockte. Er wandte sich Starke zu. »Wo sind Clev und Mannt? Wo sind Blucc und Aesur?« Die Flammen knisterten in die Stille. Es dauerte lange, bis Starke antwortete. »Sie kehrten zurück in die See, Faolan.« Faolan spreizte die Finger. »Ja«, sagte er niedergeschlagen. »Sie mußten zurück, nicht wahr? Sie konnten nicht bleiben. Auch nicht für eine einzige Nacht an meiner Tafel, vor gefüllten Bechern, oder am Feuer, in den Armen ihrer Frauen. Nicht einmal für einen Trinkspruch.« Er drehte sich um. »Wein, Romna! Wein für alle.« Romna reichte ihm einen vollen Becher. Er ließ ihn fallen, sank in die Knie, faßte sich an die Brust. »Mein Herz!« »Rann, die Seehexe!« Starke umklammerte ihren Hals. Er preßte gegen die pulsenden kleinen Adern zu beiden Seiten ihres schneeweißen Nackens. »Laß ihn los, Rann!« Er verstärkte den Druck. »Laß ihn los!« Faolan stöhnte. Starke umklammerte sie, bis ihr weißes Gesicht fahl und fremd im Tod war. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bevor er sie losließ. Sie fiel leise und rührte sich nicht mehr. Sie würde sich nie mehr rühren. Starke drehte sich langsam um und sah Faolan an. »Du hast es gesehen, nicht wahr, Faolan?« fragte er. Faolan nickte blind, schwach. Er tastete sich vom Boden hoch. »Ich habe es gesehen. Einen Moment lang habe ich alles gesehen. Und bei den Göttern, es hat mir gutgetan. Komm, Hugh Starke, genannt Conan, ich möchte mich auf deine Schulter stützen.« Beudag und Starke erklommen am Tag darauf den Berg oberhalb Falga. Starke legte das letzte Stück allein zurück, und bei seinem Kommen flatterten die Flammenvögel auf und stoben leuchtend davon.
Er schaufelte die flache Mulde und tat mit den Überresten, die er fand, was getan werden mußte, und dann, als das Grab mit schweren grauen Steinen bedeckt war, holte er Beudag. Sie standen gemeinsam davor. Er hätte nie geglaubt, daß er einmal vor seinem eigenen Grab stehen würde, aber nun war es so, und Beudags Hand umklammerte die seine. Er wirkte mit einem Mal eine Million Jahre alt, wie er so dastand. Er dachte an die Erde und den Asteroidengürtel und Jupiter, an die Vergnügungsstraßen in den Jekkara-Kanälen von Mars. Er dachte an den Raum und die Schiffe, die dort kreuzten, Schiffe, die ihn mitgenommen hatten. Er dachte an die Million Credits, die ihm sein letzter Coup eingebracht hatte. Er lachte ironisch. »Morgen werde ich die Meeresgeschöpfe bitten, nach einer kleinen Metallkassette zu suchen.« Er deutete ernst zum Grab hin. »Der da wollte sie haben. Zumindest glaubte er es. Er starb bei dem Versuch, sie in Sicherheit zu bringen. Wenn die Meeresgeschöpfe sie finden, trage ich sie hierher auf den Berg und lege sie ihm ins Grab, in seine Finger. Ich glaube, das ist der beste Platz.« Beudag zog ihn weg. Sie stiegen den Berg hinunter zum Hafen von Falga, wo sie ein Schiff erwartete. Im Gehen hob Starke das Gesicht. Beudag war bei ihm, und die Segel des Schiffes blähten sich im Wind, und die Rote See lockte. Beudag und Faolan-von-den-Schiffen, Romna und HughStarke-genannt-Conan würden sie erforschen. Er schritt zügig voran, Beudag dicht neben sich. Das Schiff stach in See, und auf dem Berg warfen sich die Flammenvögel wieder und wieder vergebens gegen den Steinhügel, bis sie aufgaben und mit schrillen Klagelauten wegflogen.
Originaltitel: LORELEI OF THE RED MIST. Copyright 1946, Love Romances Pub. Co. Inc. Aus TOPS IN SCIENCE FICTION Herbst 1953. Übersetzt von Birgit Reß-Bohusch.