Für Amos Danton ging ein Traum in Erfüllung, als er seinen Dienst auf der Satellitenstation antreten durfte. Als man ih...
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Für Amos Danton ging ein Traum in Erfüllung, als er seinen Dienst auf der Satellitenstation antreten durfte. Als man ihn wegen angeblicher Untauglichkeit wieder zurück auf die Erde schicken wollte, wagte er, was keiner vor ihm riskiert hatte, und entdeckte, was keiner wissen durfte ... DER GROSSE BLUFF General Ashley traute der Raumstation nicht mehr, vor allem ihrer Mannschaft nicht, die nach seiner Meinung aus lauter geistig Labilen bestand. Wenn einer da oben durchdrehte und die Raketen auf die Erde abfeuerte, würde die Welt untergehen. Die Station mußte weg vom Himmel. Mit dem Psychologen wollte er das erreichen – und mit einem As im Ärmel ... DAS PULVERFASS Sie waren auf dem Weg zum Mars. Zweihundertneunundfünfzig Tage und Nächte würde die Reise dauern, in denen die Besatzung mit sich und der Einsamkeit des Weltraums fertig werden mußte ... TAUGLICHKEITSTEST DREI PACKENDE SCIENCE-FICTION-STORIES VON JAMES GUNN
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1 bis Band 61 SCIENCE-FICTION-STORIES 62 (Ullstein Buch 3265) Erzählungen von Frank Herbert, Edgar Pangborn, Kris Neville, Roger Zelazny, Robert Silverberg und Philip Latham SCIENCE-FICTION-STORIES 63 (Ullstein Buch 3285) Phantastische und utopische Erzählungen von Ray Bradbury SCIENCE-FICTION-STORIES 64 (Ullstein Buch 3298) Erzählungen von Thomas M. Disch, Colin Free, Edward Maskin und Jack B. Lawson
Ullstein Buch Nr. 3404 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Dolf Strasser Umschlagillustration: Daw Books Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus »Station in Space« Copyright © 1958 by Bantam Books, Inc. Übersetzung © 1978 by Verlag Ullstein GmbH. Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1978 Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3-548-03404-7
SCIENCE-FICTION-STORIES 65 (Ullstein Buch 3314) Erzählungen von Algis Budris, Brian W. Aldiss, Fritz Leiber und James H. Schmitz SCIENCE-FICTION-STORIES 66 (Ullstein Buch 3323) Erzählungen von H. Beam Piper. Henry Kuttner und Clifford D. Simak SCIENCE-FICTION-STORIES 67 (Ullstein Buch 3338) 3 Erzählungen von James H. Schmitz SCIENCE-FICTION-STORIES 68 (Ullstein Buch 3351) Stories von James H. Schmitz. Frederik Pohl, James E. Gunn und Daniel F. Galouye SCIENCE-FICTION-STORIES 69 (Ullstein Buch 3378) Stories von John Wyndham, Arthur C. Clarke, J. T. McIntosh, Ray Bradbury und anderen
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-Stories / hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein. NE: Spiegl, Walter [Hrsg.] 70. Von James Gunn. – 1978. (Ullstein-Bücher; Nr. 3404: Ullstein 2000) ISBN 3-548-03404-7 NE: Gunn, James E. [Mitarb.]
Science-FictionStories 70 von James Gunn
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Der große Bluff .................................................
6
Das Pulverfaß ....................................................
50
Tauglichkeitstest ............................................... 119
DER GROSSE BLUFF Bei Tageslicht wirkte das Zimmer klein und schäbig. Amos war zu groß für den Raum geworden, genauso wie für das Bett. Aber in der Nacht hatte es immer noch seinen Zauber. Wenn das Licht aus war, schimmerten die Sterne fluoreszierend herab, und die Planeten schienen ganz nahe zu sein. Und der Mond – pockennarbig und vertraut –, man konnte ihn fast mit der Hand berühren. Am besten von allen war der S.1.2 – der »Doughnut« –, der direkt über seinem Bett zu leuchten schien, und der Junge lag da und stellte sich vor, in freiem Fall durch den Weltraum zu rasen – einer der Raumfahrer, einer der Helden. Aber der Junge war nun älter geworden; die Sonne hatte die Sterne zu kleinen Farbtupfern gebleicht und den schwarzen Faden sichtbar werden lassen, der die Planeten und den S.1.2 hielt. Die Zeit der Träume, sie war vorüber. Seine Mutter ging durch das Zimmer. Die Modelle, die er gebastelt hatte, pendelten hin und her und drehten sich. »Das wirst du brauchen«, sagte sie und hielt ihm das Buch hin. Die Eroberung des Weltraums. Er nahm den zerrupften, zerlesenen Band und legte ihn auf das Regal zurück. »Ach nein, Mutter.« Er hatte Angst, daß sie ihn nicht verstehen würde. »Das brauche ich nicht. Das ist jetzt vorbei. Du kannst das Zeug Tommy geben.« »Also, wie du redest – fast würde man meinen, daß
da ein anderer zurückgekommen ist«, klagte sie mit Unsicherheit in der Stimme. »Aber Mutter.« Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Das haben wir doch alles zur Genüge besprochen. Ich bin nun einfach kein Kind mehr. All diese Dinge« – er machte eine wegwerfende Handbewegung – »die müssen weg. Jedenfalls ... ich komme zurück – zum Urlaub, zum Dienst auf der Erde und so weiter –« Sie wird alt, dachte er. Seit er auf der Akademie gewesen war ... Einmal war sie die schönste Frau auf der Welt gewesen, aber das war jetzt lange her. Seine Mutter war alt geworden. Es war eine trübselige Heimreise gewesen. Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht, als er gekommen war. Ein Verzicht auf den Urlaub wäre vielleicht besser gewesen. Er hatte sich das überlegt, aber es wäre wohl auch nicht fair gewesen. Er faltete das dünne, graue Nylongewebe des Raumgepäcks mit seiner kleinen persönlichen Habe zusammen und zog den Reißverschluß zu. Die Augen seiner Mutter waren feucht geworden. »Aber was ist denn?« fragte er etwas unwillig. »Du nimmst so wenig mit«, sagte sie und biß sich auf die Lippen. »Du kennst doch das Höchstgewicht«, entgegnete er scharf. »Zehn Pfund«, fügte er mit ruhiger gewordener Stimme hinzu. »Um das auf den Doughnut zu bringen, sind eineinhalb Tonnen Treibstoff nötig. Was ich sonst noch brauche, finde ich dort. Die Air Force läßt mich schon nicht nackt herumlaufen.« »Ich weiß.« Sie seufzte. »Komm hinunter, wenn du fertig bist«, sagte sie dann mit tapferem Lächeln. »Ich
habe dir ein Stück Kuchen aufgehoben.« Er warf sich den Gepäcksack über die Schulter, wie es die Raumfahrer taten. Als sie die Treppe hinuntergingen, faßte er sie unbeholfen um die Taille. »Ich möchte eigentlich nichts essen«, sagte er. »Ehrlich gesagt – ich brächte keinen Bissen hinunter.« »Mit leerem Magen gehst du mir nicht aus dem Haus, junger Mann!« »Sicher, Mutter. Ganz wie du meinst.« Er warf den Sack auf einen Stuhl in der Diele und folgte ihr in die Küche. Während er aß, wandte sie kein Auge von ihm. Er würgte den Apfelkuchen hinunter, den er nicht wollte – unterdrückte den übermächtigen Drang, sich auf den Weg zu machen. Die Küche war der eigentliche Bereich seiner Mutter. Hier herrschte sie; hier hatte sie den Mut, zu sagen, was sie wirklich sagen wollte. »Ich kann einfach nicht verstehen, warum es sich jemand in den Kopf setzt, so ins Nichts hinauszufliegen. Als ob es hier auf der Erde nicht schon genug Probleme gäbe. Jedesmal, wenn ich den Fernseher einschalte« – ihre Augen gingen zu dem flachen Schirm, der an der Küchenwand hing – »dann gibt es irgendeine neue Krise, oder der kalte Krieg wird heiß oder noch kälter –« »Oh, Mutter! Du weißt, wie sehr ich es immer wollte – seit ich ein kleiner Junge war, hab ich davon geträumt und mit Raketen gespielt –« »Kleine Jungen kann ich verstehen. Erwachsene sind etwas anderes. Sie legen ihr Kinderspielzeug weg – wie du vorhin. Warum? Sag mir nur eines: Warum?« »Es ist einfach da ... in mir«, sagte er, aber er wußte,
daß das für sie kein Grund war. Und dennoch, es war genau der Grund, den junge Männer, die einen Traum verfolgten, den sie nicht recht erklären konnten, ihren Frauen immer genannt hatten. »Eine Aufgabe anzupacken, die es wirklich wert ist«, fuhr er fort, »das ist das Entscheidende. Es ist der Traum – ein Traum, wie ihn die Pioniere träumten, als sie die Wildnis eroberten. Alle, die die Zukunft gestalten, träumen diesen Traum: Männer wie Rev McMillen und Bo Finch und Frank Pickrell ... Männer, die wirklich zählen. Männer, die etwas schaffen, wo vorher das Nichts war – wie den Doughnut. Mutige Männer haben ihn aus Träumen gebaut. Fähigkeit und Behauptungswillen erhalten ihn am Leben. Und das ist nur der Anfang. Dort draußen ist unsere Zukunft.« »Der Tod ist dort draußen.« Sie strich sich eine Strähne ergrauenden Haars aus der Stirn. »Denk an McMillen – ewig muß er die Erde umkreisen in seinem eisigen Grab. Er war der erste draußen – und mußte als erster sterben. Das hätte uns eine Warnung sein sollen. Früher war es der Krieg, der uns die Männer nahm; jetzt ist es das.« Sie sah zur Decke empor, als blickte sie durch sie hindurch – als könnte sie das kleine, sich drehende Rad aus Kunststoff und Nylon erkenne, dort oben, wo der Himmel schwarz war und der Tod niemals weit. »Leb wohl, Mutter.« Abrupt stand er auf und küßte sie. Ihre Lippen waren kalt. »Und mach dir keine Sorgen.« Er ging rasch zur Garderobe und setzte seine Mütze auf. Dann holte er seinen Gepäcksack. Draußen blieb er noch einmal zögernd stehen und sah sich um.
Das Haus und alles darin kam ihm schon ganz unwirklich vor. Auch seine Mutter. Er blickte nach oben. Der schwache Schimmer des Doughnut war nicht zu sehen. Er hatte das auch gar nicht erwartet. Hier wurde er erst um 0319 sichtbar. Er ging ein wenig herum – ließ die Anziehungskraft der Erde noch einmal auf sich wirken. Bald würde all dies ganz unwirklich für ihn sein – wie eine Fiktion. Draußen war seine Wirklichkeit. In wenigen Stunden würde er in Cocoa, Florida, die riesige betonierte Landebahn betreten. Es war der Beginn eines großen Abenteuers. General Finch war überaus alt und krank. Amos verglich die Wirklichkeit mit den Fotos in der Akademie. Der General: Beim Händedruck mit Pickrell; vor dem Unterausschuß des Senats; bei der Widmung eines Kranzes »Für den unbekannten Piloten«, der zum Andenken an die Raumfahrer, die ihr Leben geopfert hatten, die Erde umkreisen sollte ... Andererseits war General Beauregard Finch ein alter Mann – vier Jahre über die Pensionierungsgrenze hinaus, fast siebzig. Die sechs Jahre seit McMillens tragischem Flug hatten den General altern lassen. Aber in dieser Zeit hatte er sich auch sein eigenes Denkmal errichtet. Über ihm kreiste der Doughnut, dem er seine Gesundheit, sein Leben gegeben hatte – wie andere Männer ihre Gesundheit und ihr Leben gegeben hatten. Aber der Traum war es wert. Der General stand in dem kleinen Warteraum, im-
mer noch aufrecht, immer noch stolz das Ehrenabzeichen des Doughnut tragend. »Sie fliegen hinaus, Danton, und Sie tun es mit all Ihrer Ehre und all Ihrem Stolz. Niemals haben wir einen schlechten Mann ausgesandt – einen Feigling oder einen Versager. Ich glaube, auch diesmal tun wir das nicht. Sie haben nur ein paar Vorgänger; und nur wenige werden Ihnen folgen. Immer wird es eine harte, einsame Aufgabe sein dort draußen.« Der General war niemals draußen gewesen. Als es möglich geworden war, war er zu alt gewesen. »Übrigens – hat man jetzt einen Namen für die Gruppe, die die demnächst nachrückenden Raumfahrer stellt?« »Man nennt sie die Elitegruppe, Sir.« »Ja, das paßt. Das seid ihr, eine Elite – ausgewählt, handverlesen und immer wieder auf Herz und Nieren geprüft. Die Besten der Besten. Optimal ausgebildet. Aber vergessen Sie nicht: Es gibt kein Genug – weder an Training, noch an Auswahl. Die Aufgabe ist immer größer als der Mann. Was Sie hinter sich haben ist nichts im Vergleich zu dem, was Ihnen bevorsteht.« Amos lächelte höflich. Was wußte der General schon über das Trainings- und Auswahlprogramm der Akademie. Er hatte es nie selbst durchgemacht. Amos, der es jetzt kannte, hätte es um keinen Preis der Welt noch einmal auf sich genommen: Den ständigen Druck auf Körper und Geist, die endlosen physischen und psychologischen Ausdauertests, die unendliche Menge an Wissen und Information, die in ein Gehirn mit begrenzter Kapazität gestopft werden mußte ...
Er mochte das »nichts« nennen. »Fünf Jahre Hölle« war weit eher zutreffend. Von fünfzigtausend Bewerbungen waren tausend angenommen worden. Nach den gründlichen physischen und psychiatrischen Tests waren sechzig übrig geblieben. Sie erhielten ihre Belohnung: Fünf Jahre Ausbildung. Fünf Jahre Kampf mit Manualen, Belastungstraining in Zentrifugen, währenddessen man schwierige Funktionen wahrzunehmen hatte; Leben im »Tank« mit dreizehn anderen Männern während endloser Wochen in dem Bewußtsein, daß die Psychologen jede Bewegung der Kandidaten verfolgten. Und dann der ständig wachsende Leistungsdruck – andere Kandidaten gaben auf, wurden eliminiert, verschwanden, wurden nicht mehr erwähnt. Bis noch ganze fünf übrig blieben. Fünf von fünfzigtausend. Die Aussicht, durchzustehen, war gleich Null. Man konnte nur überleben, wenn man nicht dran dachte, wenn man jede Prüfung nahm, wie sie kam. Und wenn die Beschleunigung einem fast die Besinnung raubte, dann mußte man an den Traum denken und noch einmal kämpfen, und noch einmal. Schlimmer als das? So etwas gab es nicht. Die Wirklichkeit mußte für ihn die Erfüllung bedeuten. »Also los!« knurrte der General. »Hinaus mit Ihnen! Ich rede zuviel. Das Schiff wartet nicht, nicht einmal auf einen General.« Er hustete vor sich hin, als Amos in Helm und Fluganzug auf die wie ein Turm hochragende Fähre zuging. Es war eine typische Dreistufenrakete mit leuchtendweißer Keramikverkleidung, deren klare
Linien nur durch die Stabilisierungsflossen unterbrochen wurden und durch die breiten, uneleganten Flügel, auf denen die dritte Stufe zur Erde zurückgleiten würde. Der Lift hob ihn zur Seite des Schiffes hinauf. An der Basis der Flügel der dritten Stufe las er in großen schwarzen Lettern: McMILLENS NARRENSTREICH. Amos runzelte die Stirn. Respektlosigkeit gehörte zum Soldatendasein – aber nicht vor den Augen der Öffentlichkeit. Den S.1.2 Doughnut zu nennen, ging noch an, und er tat es auch selbst. Aber dieser Name schien ihm geschmacklos. Die glühende Hitze der Luftreibung konnte ihn nicht schnell genug wegbrennen. Die dicke, quadratische Tür stand offen. Achselzuckend trat Amos durch die Luftschleuse in die ihm wohlvertraute Kabine der dritten Stufe einer M-5. Er kletterte die Leiter zu dem freien Sitz hinauf. Auf dieser Fahrt würde er Funker sein. Die anderen waren schon auf ihren Plätzen: Kapitän, Copilot, Navigator, Ingenieur. Ihre glatten Helme wirkten wie auf den Sitzlehnen balancierende Billardkugeln. Eine der Kugeln drehte sich um, wurde zu einem harten, unbewegten Gesicht. Der Kapitän. »Kadett Danton, Sir«, sagte Amos und salutierte, »meldet sich zum Transport.« »Mein Gott!« knurrte der Kapitän zum Copiloten hinüber. Sein Kopf wandte sich wieder Amos zu. »Wo waren Sie denn? Glauben Sie, wir hätten nichts Besseres zu tun, als auf einen Kadetten zu warten? Schnallen Sie sich schon an! Wir wissen ja, der alte Bo hat Ihnen Ansprache 12 B gehalten. ›Ermutigende Worte für Kadetten vor ihrem Jungfernflug: Niemals
haben wir einen schlechten Mann ausgesandt, einen Feigling oder einen Versager. Ich glaube, auch diesmal tun wir das nicht.‹« Mit rotem Kopf stemmte sich Amos in den freien Sitz und schnallte sich an. Sie hätten sowieso warten müssen. Der Start ist ja erst in fünf Minuten. »Was ist Ihre spezielle Funktion?« fragte der Kapitän. »Pilot, Sir.« »Dann sehen Sie zu. Vielleicht lernen Sie was. Kennen Sie sich mit Funk aus?« »Ja, Sir.« »Dann lassen Sie bloß die Finger von den Instrumenten! Das ist ein Befehl! Um die nötigen Verbindungen kümmere ich mich selbst, verstanden?« »Ja, Sir.« »Schließen Sie Ihren Kopfhörer an oder nicht, das ist mir egal. Aber lassen Sie das Kehlkopfmikrophon weg. Ich möchte nicht, daß Sie unseren Funkverkehr stören.« Amos fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Aber er biß die Zähne zusammen und sagte: »Ja, Sir.« Der Kapitän langte in eine Tasche neben seinem Sitz und holte einen Plastikbeutel heraus, den er Amos zuwarf. »Legen Sie das an.« »Ich bin im freien Fall geschult, Sir«, protestierte Amos. »Ich brauche das nicht.« »So, so? Und wieviel?« »Fast sieben Minuten.« »Achtzig Sekunden in einer Kepler-Kreisbahn! Man höre und staune! Dieses Mal kriegen Sie zum Auftakt gleich vier Stunden. Legen Sie das an! Das ist ein Befehl.«
Langsam streifte Amos das elastische Band über seinen Helm und setzte sich den Plastikring auf den Mund. Daß er in der Akademie bestanden hatte, war nicht genug. Jetzt mußte er sich von neuem bewähren. »Ingenieur?« »Ingenieur-Checks okay.« »Navigator?« »Navigator-Checks okay.« »Copilot?« »Copilot-Checks okay.« »Funker- und Kapitäns-Checks okay. Zündung in dreißig Sekunden.« »Sie waren schon ein bißchen ruppig mit dem Jungen, Käpt'n.« »Je eher man ihn zieht, desto besser. Fünfundzwanzig Sekunden.« Amos drehte den Kopf und sah durch die unabgeschirmten Fenster hinaus. Na wenn schon, sagte er sich. Es gibt eben immer wieder mal einen Kapitän Queeg – wie in dem Roman »Die Caine war ihr Schicksal«. Die Armee zog sie geradezu magisch an. Nirgendwo sonst konnten sie sich so leicht Befriedigung schaffen. »Fünfzehn Sekunden.« Über der schwarzgrauen See spannte sich rötlichblau der weite Bogen des Horizonts. Innerhalb von Minuten würde sich die dritte Stufe, losgelöst von den beiden anderen, den Weg hinaus in die Stratosphäre bahnen; noch vor Ablauf einer Stunde würde sie sich in einer Umlaufbahn befinden. Und Stunden später würde er auf dem Doughnut sein ... »Fünf Sekunden.« Das Gefühl der Erwartung ließ
ihm das Herz bis zum Hals pochen. Das war es also nun, wofür er all diese Mühen, all diese Qualen auf sich genommen hatte. Jetzt würde es gleich so weit sein – »Drei – zwei – eins ...« Die Kabine begann zu zittern. Flammen schossen hinauf in die Nacht wie von einer gewaltigen Fackel. Amos konnte ihre Reflexe auf der Observatoriumskuppel sehen und auf den Parabolantennen der Radargeräte. »Alle Motoren gezündet.« Auf dem Kontrollpult des Kapitäns öffnete sich ein rotes Auge. »Und los geht's!« rief der Kapitän mit freudig erregter Stimme. Ohrenbetäubendes Getöse erfüllte die Kabine. Der gleißende Flammenschein wurde unerträglich. Geblendet schloß Amos die Augen, und schon preßte ihn die Beschleunigung in den Sitz, zerrte an seinen Wangen. Als er die Lider wieder zu öffnen vermochte, bewegten sich vor ihm organgerote Zeiger über unverständliche Skalen. Die langen Stunden in der Zentrifuge – waren sie nutzlos gewesen? Amos versuchte zu atmen, aber seine Brust vermochte sich nicht zu heben unter dem unerträglichen Gewicht, das sie niederdrückte. Kalte Panik erfaßte ihn, packte ihn würgend am Hals ... Sekunden später schien die gewaltige Faust ihn loszulassen. Sein Gewicht verringerte sich von sechshundert auf etwas weniger als einhundertfünfzig Kilo. Tief und schaudernd holte er Atem, dann noch einmal. Die erste Stufe hatte ihre Schuldigkeit getan und war abgesprengt worden. Jetzt baute die zweite Ra-
kete ihren Druck auf und addierte ihre Beschleunigung zu einer Geschwindigkeit, die bereits mehr als 8000 Stundenkilometer betrug. Amos wurde von neuem in seinen Sitz gepreßt. Wieder wurde es zunehmend schwierig für ihn zu atmen. Noch ein Atemzug – noch einer ... Dann hatte ihn wieder die gewaltige würgende Faust gepackt. Sekunden vergingen. Der Druck stieg an. Er erreichte zwar nicht die 9 g der ersten Stufe, dauerte aber länger. Dieses Mal mußte Amos vierzig Sekunden lang aushalten, ohne zu atmen. Dann wurde die zweite Raketenstufe abgesprengt, und der Druck ließ nach. Erlöst rang Amos nach Luft. Der Himmel hatte sich zu einem samtigen Schwarz verdunkelt. Die Sterne strahlten, ohne zu flimmern. Das Schiff befand sich in sechzig Kilometer Höhe und legte fast 23 000 Kilometer pro Stunde zurück. Der Druck der dritten Stufe war fast nicht wahrnehmbar; in keinem Moment überstieg er 3 g. Sie kamen in den Bereich des Sonnenlichts. Wieder schloß er die Augen in plötzlichem blendendem Schmerz, schneller, als sich die schützenden Metallschilde über die Fensterluken schoben. Minutenlang tanzten Nachbilder vor Amos' Augen. Noch ehe sie verschwanden, wurden die Düsen gestoppt. Die Polsterung des Sitzes drückte ihn gegen die Rückhaltegurte ... Aber er fiel, stürzte von einer gewaltigen Felswand hilflos hinunter in endlose Tiefen ... Seine Hände packten die Armlehne, krampften sich um sie, bis die Adern bläulich und prall hervorstanden. Sein Atem ging keuchend. Wie von Sinnen
klammerte er sich fest, mit jedem Muskel bereit, den Aufprall aufzufangen ... Aber es gab keinen Aufprall. Der Sturz ging ins Bodenlose. Der Fallreflex! Babies haben ihn; Kätzchen, die man in den Armen hält und plötzlich ein wenig sinken läßt, krallen sich reflexartig fest. Aber er fiel wirklich. Weg von der Erde, weg von ihr mit einer Geschwindigkeit von mehr als 30 000 Stundenkilometern, weg von ihr ohne jenen Gravitationswiderstand, der das Gefühl von Gewicht vermittelt. Langsam beruhigte sich sein Atem. Langsam gelang es ihm, seine Muskeln zu lockern. Er ließ sich fallen. Als er die Augen öffnete, sah er die Sitze und die Helme über sich. Einen Augenblick lang half es; dann sagten ihm seine Gravitations-Rezeptoren, daß dies eine Illusion war – es gab kein Oben, kein Unten jedenfalls. Er fiel in alle Richtungen zugleich. Die Kabine drehte sich um ihn. Er kämpfte gegen diese Empfindung, kämpfte gegen das Gefühl der Übelkeit, das von seinem Magen in seine Kehle hochstieg. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Einen Augenblick später mußte er sich in den Plastikbeutel übergeben. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sich der Aufruhr in ihm gelegt hatte. Undeutlich hörte er Stimmen: »Treibstoffreserve –« »Außenhauttemperatur 400 –« »Geschwindigkeit 31 000 –« »Höhe –«
Die Hitze war ein Problem. Als die dritte Stufe die letzten Spuren der Atmosphäre hinter sich ließ, betrug die Temperatur der Schiffshülle 550 Grad. Die gewaltige Kühlanlage, die für ein zehnstöckiges Gebäude ausgereicht hätte, lief auf vollen Touren, um die Temperatur in der Kabine in erträglichen Grenzen zu halten. Schließlich konnte die Besatzung nicht einfach vor sich hinschwitzen. Sie hatte Aufgaben zu erfüllen. Das Schiff hatte den Rest der Höhe von 1700 Kilometern antriebslos erreicht, dabei aber die erforderliche Umlaufgeschwindigkeit unterschritten. Mit Hilfe von Sternpeilungen und Computerberechnungen bestimmten der Navigator und der Copilot die Höhe der Rakete. Der Kapitän drückte auf einen Knopf in der Armlehne seines Sitzes. Langsam bewegte sich eine Projektion von Sternbildern über die Decke der Kanzel. Der Kapitän betätigte von neuem den Starterknopf. Das Schiff wurde um etwas mehr als 1600 Stundenkilometer beschleunigt. Sie befanden sich in einer Umlaufbahn. Der Kapitän sprach die Doughnut an: »Es Punkt eins Punkt zwei. Hier ist die McMillen. Wir sind auf Umlaufbahn, aber blind. Lotsen Sie uns.« Der Apparat blieb stumm. »Doughnut!« rief der Kapitän. »Machen Sie schon! Dirigieren Sie uns!« »McMillen. Es Punkt eins Punkt zwei. Danke für Ihren Temperamentsausbruch. Erleichterte uns die Peilung. Wir haben Sie jetzt auf dem Visorschirm. Es folgen Kurskorrekturen –« Amos rief sich die Bedeutung von S.1.2 ins Gedächtnis zurück; irgendwie vermittelte sie ihm das
Gefühl, in nicht ganz fremder Umgebung zu sein, und das war alles, was er im Augenblick hatte. Das »S« bedeutete Satellit, die »1« bezeichnete die Umlaufbahn; die »2« sagte uns, daß es sich um den zweiten Satelliten in dieser Umlaufbahn handelte. S.1.1, der dem Doughnut in etwa zweihundert Kilometer Abstand vorausflog, war McMillens Sarg. Als sie den Bereich der Sonnenstrahlung verlassen hatten, waren die Abschirmungen wieder eingezogen worden. Das Schiff befand sich nun im Erdschatten. Amos hielt nach dem Doughnut Ausschau, konnte ihn aber am sternenübersäten Himmel nicht ausmachen. Der Doughnut war nicht wie das Modell, das über seinem Bett hing; er leuchtete nicht. »... schön, daß Sie wieder da sind, Colonel«, sagte die Stimme vom Doughnut. Der Kapitän knurrte etwas und zündete eine Steuerrakete. Langsam begann das Schiff sich zu drehen. Unter ihnen – über ihnen – erschien die nachtdunkle Erde, die einen Bogen um sie zu machen schien und dann wieder den Sternen wich. Einen Augenblick lang sah Amos den rötlichen Schimmer einer Stadt und eine Art Sternenlicht daneben; beides entschwand seinem Blick, bevor er es identifizieren konnte. Er kämpfte gegen die Übelkeit; erschreckt dachte er daran, daß er vielleicht einer der Unglücklichen war, die die Raumkrankheit nie überwanden. Der Hauptauftrieb wurde kurz eingeschaltet. Wieder Gewicht und Fall. Dann stoppte die Taumelbewegung. Amos holte erleichtert Atem. Wie eine Vision sah er jetzt über sich das sich langsam drehende Rad des Doughnut, dessen gewaltige Speichen den
Radkranz mit der Nabe verbanden. Da war es endlich – das Ziel seiner Träume. Amos vergaß seine Übelkeit. Und der Weg war so lang gewesen: Zwanzig Jahre Traum, fünf Jahre Hölle, und dann fast zweitausend Kilometer senkrecht nach oben. »Wenn Sie hinüber wollen«, hörte er die sarkastische Stimme des Kapitäns, »dann würde ich Ihnen raten, sich etwas wärmer anzuziehen. Sonst könnten die letzten paar Meter für Sie die schwierigsten sein.« Er schwebte an ihm vorüber. Amos haßte ihn. Er haßte seinen Sarkasmus. Vorsichtig löste er seine Gurte, wobei er sich verzweifelt an einer Armlehne festhielt, um nicht zu fallen. Es hatte keinen Sinn, seine Gravitations- und Mechano-Stabilisatoren täuschen zu wollen; sie wußten, daß er durch den Raum fiel. Langsam zog er sich an der Leiter entlang, bis er das Regal mit den Druckanzügen erreichte. Sich an einem Handgriff festzuhalten und mit den Beinen richtig in den Anzug zu schlüpfen war wesentlich schwieriger als damals in der Akademie, wo seine hundertfünfzig Pfund entschieden leichter zu manövrieren gewesen waren. Schließlich gelang es ihm auch, in einen der Ärmel zu schlüpfen. Der Kapitän war längst fertig. Ungeduldig kam er herüber, um Amos zu helfen. »Funk in Ordnung?« Seine Stimme kam laut, fast grob. »Ja, Sir.« »Gut. Überprüfen Sie Ihren Anzug.« Amos starrte in das durch die beiden dunkel getönten Glasscheiben nur schwach wahrnehmbare Ge-
sicht. Die vollständige Überprüfung dauerte gut fünf Minuten, und die Anzüge wurden vor und nach jedem Flug auf das gründlichste inspiziert. »Ja, Sir«, sagte er grimmig. Punkt für Punkt ging er die Checkliste durch, bis er schließlich melden konnte: »Überprüfung beendet, Sir.« Der Kapitän wandte sich ab, schwang sich um einen Handgriff und schwebte zur Luftschleusensteuerung. Als sich die äußeren Luken öffneten, brachten Transporter bereits Behälter aller Art aus dem Frachtraum. Das Schiff und die drei Zubringerfahrzeuge auf einem der breiten Flügel waren Ankerpunkte für ein Spinnennetz von Kabeln und Sicherungsleinen. Amos blickte hinaus in den unendlichen Raum. Langsam begann das Schiff sich zu neigen, und der unendliche Raum wurde zu einem schwarzen, gähnenden Schlund. Er fiel – Der Rahmen der Schleusentür! Er versuchte sich festzuhalten. Aber statt seiner Hände schlugen die Klauen des Druckanzuges gegen das Schiff. Der Stoß warf ihn hinaus – ins Leere. Als er vom Schiff wegschwebte, bekam er die Erde in den Blick. Eisige Panik erfaßte ihn. Denn jetzt fiel er wirklich – stürzte hilflos, endlos dem Tod entgegen. Er fiel durch den leeren Raum, unfähig, seinen faszinierten Blick von der dunklen Erde dort unten zu wenden. Etwas stieß gegen seinen Raumanzug, aber er brauchte Sekunden, um zu erkennen, was es war. Der Kapitän hielt sich an dem Handgriff auf der Brust seines Raumanzuges fest. Ein Klicken, das er nicht hören, nur spüren konnte.
Der Kapitän ließ ihn los, drehte sich ab, begann sich zu entfernen. »Warten Sie –!« rief Amos mit vor Angst halb erstickter Stimme. Und dann sah er die Sicherungsleine, die ihn mit dem Kapitän verband. Das Schiff war nur ein paar Meter entfernt. Der Kapitän zog sich an seiner eigenen Leine zu ihm hin und hängte dann Amos' Leine an einen Ring neben der Luftschleuse. Langsam holte er Amos zurück wie einen schwerfälligen metallenen Fisch. »Elementarlektion Nummer 1«, sagte der Kapitän mit unangenehm gelangweilt klingender Stimme. »Beim Eintritt in den Weltraum: Sicherheitsleine festmachen.« »Tut mir leid, Sir«, sagte Amos, der in seinem Raumanzug zu schwitzen begonnen hatte. »Das ist ein Ausdruck, für den wir hier wenig Verwendung haben. Meistens kommt man nicht mehr dazu, ihn zu gebrauchen. Da ist Ihr Fahrzeug.« Er deutete zu einem der wurstförmigen Gebilde auf dem Flügel. »Springen Sie!« Amos kam die Entfernung zu diesem Fahrzeug unendlich vor, und er zögerte. Dann schloß er die Augen und stieß sich ab. Hinter ihm rollte seine Sicherheitsleine ab. Zweimal verfehlte er sein Ziel und seilte sich mit hochrotem Kopf wieder an der Leine zurück. Beim dritten Versuch erwischte er einen Haken an der Nase des kleinen Zwei-Mann-Schiffes und hielt sich fest. Der Kapitän machte seine Sicherheitsleine los. Sie verschwand in der Trommel an seinem Anzug. Eine runde Tür öffnete sich. Vorsichtig schlüpfte er hinein und kletterte an dem Piloten vorbei auf den
hinteren Sitz. Als Amos sich anschnallte, wandte sich der Pilot schwerfällig um und berührte Amos' Helm mit dem seinen. »Wenn Ihr Funkgerät an ist, schalten Sie's ab.« Die Worte klangen hohl. Amos drückte auf den Knopf unter seinem linken Zeigefinger. »Ist abgeschaltet«, sagte er verwundert. »Gut. Gar nicht leicht, hier mal ein wenig unter sich zu bleiben. Man muß ja nicht alles überall hinausposaunen. Mein Name ist Kovac. Leutnant Max Kovac. Sie sind neu, glaube ich?« »Ja. Kadett Amos Danton.« »Freut mich, Amos. Sie wissen gar nicht, wie mich das freut: Noch so einer wie Sie, und ich werde versetzt.« »Sind Sie schon lange hier?« »Ein Jahr; zwölf lange Monate, mein Lieber. In jedem anderen Kalender sind das zwölf Jahre. Wenn ich erst wieder einmal unten bin, dann bringt mich die stärkste Rakete der Welt nicht noch mal hier rauf. Entschuldigung, Amos. Wir werden gepeilt.« Von der Nabe des Doughnut kam ein blendender Lichtstrahl. Das Fahrzeug schwankte ein wenig hin und her, bis der Pilot es in die richtige Startposition gebracht hatte, und schoß dann, getrieben von der vollen Kraft der Hauptdüse, davon. Vor ihnen wurde der Doughnut größer wie ein schwellender, sich drehender Ballon. Mit einer einzigen Korrektur steuerte Kovac das Fahrzeug in eine der käfigartigen Landeboxen an der Seite der Nabe und bremste kurz mit der Frontdüse ab. Erwartungsvoll und mit klopfendem Herzen folgte Amos dem Piloten durch die Luftschleuse ins Innere
der Nabe. An der runden Wand hingen Raumanzüge wie schimmernde weiße Ungeheuer. Jetzt war er im Doughnut, dachte Amos, drehte sich mit ihm, war ein Teil davon. Er war da. Er öffnete die Verschlüsse seines Helms, nahm ihn ab und holte tief Atem. Die Luft roch wie in einem Maschinenraum. Es stank. Kovac war schon aus seinem Anzug gestiegen. »Machen Sie sich nichts draus«, sagte er, während er Amos half. »Das erstemal ist es immer schwierig. Sie können Ihre Bewegungen nicht koordinieren, weil Ihre Nerven und Muskeln immer noch an die Erdschwere gewöhnt sind. Jeder muß das mal durchmachen. Am Anfang sind wir wie Babies – müssen erst gehen lernen. Sie kriegen die Kurve schon.« Sie verstauten ihre Raumanzüge. »Kommen Sie«, sagte Kovac dann, schnellte sich elegant wie ein Kunstspringer auf einen Tunnel zu, fing sich in dem an der Wand ausgespannten Landenetz ab und zog sich zu einem Mikrophon. »Gewichtskontrolle. Kovac hier in B mit Neuzugang Kadett Amos Danton.« Mit einem Blick schätzte er Amos' Größe ab. »Einsachtzig?« Amos nickte. Nach einem kurzen Moment sagte eine gelangweilte Stimme: »Balance okay.« Während sie sich an dem Netz entlangzogen, nahm ihr Gewicht durch die Zentrifugalkraft langsam zu, bis sie schließlich das kleine Büro der Gewichtskontrolle erreicht hatten. Amos wog jetzt knapp zwanzig Kilo. Vor einem Kompakt-Computer und einem mit kleinen magnetischen Markierungsscheiben versehenen Schema der Doughnut saß ein Offizier in einem
zerknitterten Khaki-Overall. »Danton?« brummte er, nachdem er mit einem kaum wahrnehmbaren Heben der Augenbraue zu erkennen gegeben hatte, daß seine Anwesenheit bemerkt worden war. »Willkommen an Bord, Sie Pfeife.« Unvermittelt sprang er dann auf und salutierte. »Herzlich willkommen, Colonel.« Jemand schob sich an Amos vorbei, nahm seinen Helm ab und wandte sich dann zu ihm um. Es war der Kapitän der McMillen. »Ah, Danton«, sagte er mokant. »Sobald Sie es wieder riskieren wollen, lassen Sie es mich wissen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er gebückt in einen Durchgang und war verschwunden. Das Gewicht, das ihm die Zentrifugalkraft der sich drehenden Doughnut verlieh, hatte das Übelkeitsgefühl von Amos genommen. Jetzt aber glaubte er, einen Ziegelstein im Magen zu haben. Wie kann man nur so lange einen Traum verfolgen, dachte er verzweifelt, um dann die Wirklichkeit so abscheulich zu finden? Denn erst jetzt, nachdem der Kapitän den Helm abgenommen hatte, hatte Amos ihn erkannt. Es war Colonel Frank Pickrell, der Kommandant des Doughnut. General Finch hatte recht gehabt: Auslese und Training konnten niemals genügen; die Aufgabe war größer als der Mann; was Amos hinter sich hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was ihm bevorstand. Amos kam es vor, als wäre er überhaupt niemals ausgebildet worden; er mußte noch einmal ganz von vorn anfangen. Nichts konnte ihn auf die Schwerelosigkeit vorbereiten. Nichts konnte ihn vorbereiten auf
die blendende Strahlung der Sonne und auf den Anblick der Erde, die wie ein riesiges, rundes, in Dunst gerahmtes Bild die Hälfte seines Gesichtsfeldes einnahm. Nichts konnte ihn vorbereiten auf die Belastungen des Lebens an Bord des Doughnut. Es gab niemals genügend Männer für die Arbeiten, die getan werden mußten, wenn der gigantische Aufwand für Bau, Transport und Wartung des Doughnut einen Nutzen erbringen sollte. Vierzehn bis sechzehn Stunden lang war der Arbeitstag, und was getan werden mußte, war härteste Schinderei unter den unangenehmsten und gefährlichsten Bedingungen, die ein Mensch ertragen konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Selbst für wichtige Dinge gab es auf dem Doughnut niemals genügend Platz. Bequemlichkeit hatte stets hintanzustehen zugunsten rationellster Funktion. Amos' Koje gehörte ihm nur für acht Stunden am Tag. Während der anderen beiden Schichten stand sie zwei anderen Männern zu. Und wenn er, zum Schlafen zu müde, in diese Koje kroch, dann lag er wach und fragte sich, ob er wohl überleben würde. Manchmal war er so heimwehkrank, hatte solche Sehnsucht nach der Erde und ihrem Geruch, daß er sein Gesicht in das dünne Kissen preßte und weinte. Manchmal hätte er alle seine Beförderungsaussichten für zehn Stunden ununterbrochenen Schlafes verkauft. Manchmal hätte er fast aufschreien mögen vor Verlangen nach nur ein paar Minuten völligen Alleinseins. Aber all dies war einfach nicht möglich, außer, er gab seinen Traum auf. Und das war undenkbar. Es gab kurze Momente, da redete er sich ein, daß dies
die Erfüllung sei. Er war endlich hier – hier, auf dem Doughnut, dem Ziel seiner Träume. Gewiß, es bedeutete härteste Arbeit, Entbehrung und psychologische Frustration – aber er war hier, und das war wunderbar. Aber es gelang ihm nicht oft, sich das einzureden. Denn die Wirklichkeit war nicht sein Traum. Vierundzwanzig Stunden hatte man ihm gegeben, um sich zu akklimatisieren; aber es dauerte sieben Tage, bis er feste Nahrung bei sich zu behalten vermochte. Die Spezialisten bei der Mannschaft führten nach dem Ende ihrer regulären Schicht auch noch Wartungsarbeiten durch; Amos war ausgebildeter Pilot, aber man vertraute ihm kein Schiff an. Er hatte auch Kenntnisse in Navigation, Ingenieur- und Kommunikationswesen, aber auch mit solchen Aufgaben wurde er nicht betraut. Man teilte ihn der Arbeitstruppe zu. Er war Putzer, Lastträger, Hilfsarbeiter. Es gab wenig Staub. Die Klimaanlage filterte den Schmutz aus, der von der Erde mitgebracht wurde. Aber Amos leerte Abfallkörbe, entfernte Fingerabdrücke von Telefonen, Geländern, Fenstern und Visorschirmen, schrubbte Waschräume, polierte Messing ... mindestens einmal im Tag lud er eine Fähre aus und trug die Fracht zu den wartenden Transportern. In seiner freien Zeit wartete er die Temperaturregler. Das war eine laufend durchzuführende Arbeit. Mindestens sechs Stunden pro Tag schraubte er mit dem Werkzeug am Ärmelende seines Anzugs die Regler ab und ersetzte sie durch frisch überholte.
Eine Woche auf S.1.2, und Amos begann zu vergessen, daß er jemals eine andere Art von Leben gekannt hatte. Eine Woche: Vierundachtzig Umläufe des Doughnut um die Erde; vierundachtzig Sonnenaufgänge, vierundachtzig Sonnenuntergänge, vierundachtzig Nächte. Die Nahrungsaufnahme bedeutete nicht mehr nur Mühe. Es wurde ihm nicht mehr so häufig übel und fast niemals vollends schlecht. Unmerklich kehrte Kraft in seinen Körper zurück. Das Leben war keine Qual mehr, nur mühsam. Gleichzeitig wurde es vom Traum zur kalten Realität. Amos kämpfte gegen diese Realität. Es gab Männer auf dem Doughnut, die er beneidete – die Beobachter und die Wissenschaftler: Physiker, Aerologen, Astrophysiker, Astronomen ... Sie konnten hier ihre Arbeit unter den denkbar günstigsten Voraussetzungen tun. Und Amos putzte sich durch den Doughnut, sah ihnen zu und sagte sich: Dies ist der Traum. Die Physiker konnten hier unter Bedingungen arbeiten, die anderswo nur mit größtem Aufwand oder überhaupt nicht herstellbar waren: Schwerelosigkeit, wirklich vollkommenes Vakuum, Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt ... Unterhalb der Funkstation saßen die Meteorologen und beobachteten die langsame Veränderung des Wetters von oben. Noch nie hatte man das Wetter so präzise vorherzusagen vermocht. Dann kamen die Beobachter, die von ihren zwei Decks voller Karten und Teleskope auf streng bewachte militärische Objekte hinunterstarrten. Amos erinnerten sie an Pathologen, die sich unter dem Mikroskop
Keime, Viren und Krebszellen ansehen. Der einzige Unterschied war, daß man dort, wo die Beobachter hinsahen, davon wußte und sich entsprechend verhielt. Zwei weitere Decks gehörten den Astronomen. Ein paar hundert Meter vom Doughnut entfernt lieferte ein freischwebendes Teleskop die besten jemals gemachten astronomischen Aufnahmen – ohne jede Verzerrung durch eine flimmernde Atmosphäre. Abgesehen davon, daß sie Zivilisten waren, unterschieden sich die Wissenschaftler auch in anderer Weise von den Offizieren und Kadetten der Air Force auf dem Doughnut. Die Wissenschaftler hatten die Erde niemals wirklich verlassen. Für sie war S.1.2 etwas, das einzig und allein für ihre Bedürfnisse geschaffen worden war. Aber Amos wußte, daß der Doughnut der erste Schritt war auf dem Weg zum Mond, zu den Planeten und zu den Sternen. Die Wissenschaftler waren hierher gekommen, um zurück zur Erde zu schauen. Amos jedoch wollte viel mehr. Sein Ziel, das waren die Sterne. Das war der Traum. Der dreißigste Tag, ein Monat: Wieder einmal opferte Amos kostbaren Schlaf und übte in der Nabe des Doughnut Bewegungen unter Schwerelosigkeit. Er kletterte gerade aus seinem Raumanzug, als der Lautsprecher verkündete: »Kadett Danton, bei Colonel Pickrell melden. Kadett –« In der Mitte der A-Speiche begegnete Amos Kovac. Der Leutnant lächelte ihm aufmunternd zu. »Der Colonel ist ein kalter, berechnender Bursche. Lassen Sie sich bloß nicht von ihm aus der Ruhe bringen«, flüsterte er.
Amos lächelte kurz zurück. Über der luftdichten Tür stand: KOMMANDANT. Amos drückte den Summerknopf. Die Tür öffnete sich. Pickrell stand dahinter mit unbewegtem, hartem Gesicht. »Stehen Sie nicht rum wie ein Klotz«, sagte er. »Kommen Sie rein.« »Ja, Sir.« Amos biß die Zähne zusammen und trat gebückt durch den niedrigen Eingang. Die Kabine war nicht viel größer als ein Schrank und sah auch nicht viel komfortabler aus. Wie Pickrell selbst war sie kalt, grau und streng und ausschließlich mit Hinblick auf ihre Funktion hin angelegt. Eine Koje, ein einbeiniger Klapptisch und eine Sitzgelegenheit bildeten das einzige Mobiliar; gegen die Wand geklappt ließen sie einen freien Raum von nicht ganz zwei Metern im Quadrat. Der Aluminiumtisch war aufgestellt. Pickrell setzte sich auf den Klapphocker. »An Treibstoff allein hat Ihr Transport hierher über tausend Dollar gekostet«, begann er ohne Umschweife. »Ich bin bereit, das abzuschreiben. Es geht mir auch nicht um die fünfhundert Dollar, die Ihr Aufenthalt hier täglich kostet. Aber Sie nehmen einen Platz ein, den auch ein guter Mann haben könnte. Ich schicke Sie sobald wie möglich zurück.« »Warum?« stieß Amos hervor. »Manche Leute sind für diese Art Leben geeignet. Sie gehören nicht dazu. Sie leiden unter Übelkeit, nicht wahr?« »Ja, hin und wieder«, gab Amos zu. »So etwas wie Raumkrankheit gibt es nicht. Es ist die Angst. Und für Feiglinge ist hier kein Platz.«
»Darf ich fragen, was Sie gegen mich haben, Colonel? Ich merkte es schon in dem Moment, als ich die Fähre betrat. Was ist es – Haß, Furcht, Eifersucht? Ich tue meine Arbeit. Hätte ich die Gelegenheit dazu, ich täte noch mehr. Geben Sie mir die Chance, Colonel! Schicken Sie mich nicht zurück, ehe ich –« Seine Hände waren feucht. Er blickte auf sie hinab. Blut tropfte aus den Rissen, die er sich mit den Nägeln in die Handflächen gebohrt hatte. »Ich will Ihnen sagen, was ich gegen Sie habe, Danton: Sie haben Sterne in den Augen. Dies ist für Sie nicht ein Job – es ist ein Spiel. Ich kenne das; Leute wie Sie habe ich schon zu viele gesehen. Die Air Force ist für Sie nur das Startloch für das Mondprojekt oder das Marsschiff oder die Venus-Expedition. Ich will Ihnen mal was sagen, Danton: Wir sind hier nicht auf dem Weg zum Ruhm. Keiner von uns ist ein Kolumbus des Weltraums. Dieser Satellit dient in erster Linie zur Beobachtung der Erde. Aber das werden Sie niemals einsehen. Sie sind gefährlich. Sie würden sich umbringen. Das wäre mir übrigens auch egal. Aber es besteht die Gefahr, daß Sie den Rest von uns mit ins Unglück reißen. Und das ist mir ganz und gar nicht gleich. Packen Sie Ihr Zeug, Danton. Sie fliegen zurück.« Amos stand steif vor dem Tisch, sah auf den graumelierten Kopf mit der kahlen Stirn hinunter und kam sich todunglücklich vor. Aber für Pickrell schien Danton nicht mehr zu existieren. Amos wandte sich um und stieg durch die luftdichte Tür, die sich hinter ihm schloß. Es war also aus. Der Traum war zu Ende. Und kein dramatischer
Meteoreinschlag war dazu nötig. Nur ein Wort, und alles zerplatzte wie eine Seifenblase. Aber schlimmer als all das war die Art, wie Pickrell sich verändert hatte. Das war nicht mehr der Mann, den er so sehr verehrt hatte. Das war nicht mehr der Held, der zweite Mensch im Weltraum. Das war nicht mehr der Mann, der in der Kabine von Rev McMillens Schiff gestanden und auf den erstarrten Körper dessen hinuntergestarrt hatte, der den Weg in den Weltraum hinaus gewiesen und nach Erschöpfung seiner Treibstoffvorräte den Tod gefunden hatte. Das war nicht der Mann, dessen Stimme die Welt damals aus zweitausend Kilometer Höhe vernommen hatte: »In Übereinstimmung mit meinen Befehlen und gemäß seinem eigenen Wunsch soll sein Leichnam hier verbleiben und ewig auf dieser Kreisbahn ziehen ... Von diesem Augenblick an soll dies seine Grabstätte sein, heilig und unverletzlich für alle künftigen Raumfahrergenerationen. Sie soll ein Sinnbild sein dafür, daß die Menschheit ihre Träume verwirklichen kann, aber auch daran erinnern, welchen Preis sie manchmal bezahlen müssen ...« Pickrell hatte sich verändert, gewiß. Nicht aber der Traum. Pickrell war alt und verbraucht, war der Aufgabe nicht mehr gewachsen. Und in seinen Händen lag die Zukunft der Raumfahrt. Und damit war die Verwirklichung des Traums vereitelt! Tränen traten in Amos' Augen, und er blinzelte, um sie zurückhalten. Tränen waren unmännlich. Aber manchmal müssen auch Männer weinen. Als er wieder in der Nabe des Satelliten war, stand sein Plan fest.
Pickrell konnte ihn nach Hause schicken wie einen unartigen Schuljungen. Pickrell konnte sein Herz brechen. Das war Pickrells Recht; er war der Kommandant. Aber er konnte Amos nicht heimschicken, ehe Amos eine Chance hatte, das zu tun, was ihm in seiner Ausbildung beigebracht worden war. In Sekundenschnelle war er in einen Anzug geschlüpft, hatte die Reißverschlüsse zugezogen, den Helm aufgesetzt und ihn am Anzug befestigt. An der Zapfstelle in der Wand füllte er die Sauerstofftanks auf. Er holte sich eine der Handraketen aus dem Regal und stieg durch die Luftschleuse hinaus. Es war Nacht; scheinbar ganz nahe schwebte dunkel und riesig die Erde. Als er die Tür der Landebox öffnete, schleuderte ihn die Zentrifugalkraft auf eine tangentiale Bahn. Er hatte ein beklemmendes Gefühl: Jetzt war er völlig auf sich gestellt. Nichts verband ihn mehr mit der übrigen Welt. Keine Nabelschnur, kein Schürzenband, keine Sicherheitsleine. Langsam drehte er sich um sich selbst. Der Doughnut kam in den Blick; die zigarrenförmigen Zubringerfahrzeuge waren am inneren Rand des Rades festgemacht. Er hätte sie über eine der Speichen erreichen können, aber das hätte zu lange gedauert. Er hatte nur wenig Zeit ... Er würde den Radkranz verfehlen. Sorgfältig richtete er die Handrakete und entließ einen kurzen Stoß. Er wurde auf das Rad zugetrieben, drehte sich aber noch schneller. Rasch richtete er die Rakete in die entgegengesetzte Richtung und löste einen Feuerstoß aus, bis seine Drehbewegung gestoppt war. Aber er hatte zu lange
gebremst: Nun drehte er sich in die andere Richtung. Lähmende Angst erfaßte ihn und raubte ihm fast den Atem. Wie lange funktionierte eine solche Handrakete? Er konnte sich nicht erinnern, aber eines stand fest: War der Brennstoff einmal erschöpft, dann hatte er keine Chance mehr, sich selbst zu helfen. Er schloß die Augen und versuchte, ruhig zu bleiben und zu überlegen. Alles, was er noch wußte, war, daß sein Ausbilder auf der Akademie »gegen den Nabel halten! Gegen den Nabel, sage ich!« gerufen hatte. Das war es. Die Kraft mußte an seinem Schwerpunkt wirken – ungefähr am Nabel. Sonst entstand eine Körperdrehung. Er öffnete die Augen, nahm die Rakete nach rechts und löste für Sekundenbruchteile aus. Seine Drehung verlangsamte sich. Noch ein kurzer Feuerstoß. Seine Drehung kam fast zum Stillstand. Das genügte bereits, denn der Kranz des riesigen Rades war jetzt nur noch zwei Armlängen entfernt. In dem Augenblick, wo er dem Doughnut den Rücken zukehrte, zog er die Handrakete gegen den Nabel und feuerte kurz. Als er am Radkranz vorbeischwebte, erwischte er die Fangleine eines kleinen Zubringerschiffs und zog sich vorsichtig heran. Die Anzeigen für den Hydrazin- und Nitritsäurevorrat standen nur auf »halbvoll«. Er holte tief Atem und setzte sich zum nächsten Fahrzeug hin in Bewegung. Dieses Mal gelang ihm das Manöver perfekt. Ein Raketenstoß drehte ihn zu dem Fahrzeug hin, ein zweiter, entgegengesetzter, stoppte seine Drehbewegung, ein dritter bremste ihn ab.
Dieses Fahrzeug hatte volle Tanks. Amos klinkte es aus seiner Verankerung los und ließ es tangential vom Doughnut wegtreiben. Er war zwar schwerelos, hatte aber ein Schiff unter sich. Er verfügte über Antriebsenergie. Er hatte ein Ziel. Ehe seine Chance vorüber war, würde er einem Großen die letzte Reverenz erweisen. Er würde den eisigen Sarg von Rev McMillen besuchen. Das Grab befand sich auf derselben Kreisbahn wie der Doughnut, flog ihm aber zweihundert Kilometer voraus. Hier, wo jede Orientierung überaus schwierig war, mußte er die exakte Richtung finden. Wo selbst voll ausgerüstete Schiffe damit Probleme hatten, mußte er die zurückgelegte Entfernung berechnen. Hier, wo jede Beschleunigung Höhengewinn bedeutete, mußte er beschleunigen. Und wenn er beim Start nur um Winkelminuten von der korrekten Richtung abwich, würde er am Ende sein Ziel um Kilometer verfehlen. Das kleine Schiff besaß keine Instrumente, keine Peilgeräte, keine Computer ... Diese Fahrzeuge waren für Kurzstrecken gebaut, bei denen man das Ziel immer im Blick hatte. Die Zielfernrohre der beiden Kanonen waren starr in Augenhöhe montiert, das eine nach vorn gerichtet, das andere nach hinten. Die Steuerung war primitiv: Zwei Knüppel zu beiden Seiten des Pilotensessels dienten zur Steuerung der Bug- und Heckrakete, die beide innerhalb eines gewissen Bereiches schwenkbar waren. Der Schub wurde durch Knöpfe am oberen Ende der Knüppel reguliert. Das Fahrzeug befand sich ungefähr in horizontaler
Lage und drehte sich langsam. Die Erde kreiste gemächlich um die Kanzel, gefolgt vom samtschwarzen Vorhang der Nacht mit den kleinen Lichtern. Die Sterne schienen ihm fremd. Wo war er? Kontinente und Ozeane der Meere waren gut zu erkennen; er sah den dunklen vertrauten Umriß von Kuba und Florida. Das hieß, daß sich der Doughnut auf dem nördlichen Teil seiner Umlaufbahn befand. Jetzt erkannte er die Sternbilder. Da waren Mizar und Alkor im Großen Bären und da war – mit Hilfe der Trapezsterne leicht zu finden – das Polargestirn. Jetzt kam ihm das mühevolle Auswendiglernen des »Fahrplans« des Doughnut zugute. In fünf Minuten nach dem Chronometer des Fahrzeugs würde der Polarstern mit der Bahn des Satelliten einen Winkel von – er rechnete rasch – 430 bilden. Amos stoppte die Drehbewegung des Schiffes und richtete seine Horizontalachse parallel zur Bahnebene des Doughnut – so gut er den Winkel schätzen konnte. Zur Ermittlung der Höhe gab es nur eine sehr ungefähre Methode; er drückte die Nase des Fahrzeugs nach unten, bis er den Erdhorizont im Zielfernrohr hatte. Statt eines Pilotenanzugs mit seinen speziellen Manipulatoren standen ihm nur die groben Werkzeuge seines Arbeitsanzuges zur Verfügung. Er packte den rechten Steuerknüppel mit einer Zange, drückte einen Schraubenschlüssel auf den Beschleunigerknopf – und zögerte. Ein Flug mit dieser Ausrüstung bedeutete ein kaum zu verantwortendes Risiko. Und hatte sein geplanter Besuch nicht auch etwas von einem Sakrileg an sich? Amos zuckte die Achseln. Von einem auf-
richtigen Verehrer war noch niemals ein Grab entweiht worden. Er biß die Zähne zusammen. Die Gefahr durfte nicht zählen. Hier war die letzte Chance, seinen Traum zu verwirklichen. Er drückte auf den Knopf. Der Beschleunigungsmesser kletterte rasch auf 1 g; diese Beschleunigung behielt er zehn Sekunden lang bei. Als er den Knopf wieder losließ, hatte er seine Anfangsgeschwindigkeit um etwa sechs Kilometer pro Minute erhöht. Ein Fünftel seines Brennstoffvorrats – das zeigten die Instrumente an, hatte er aufgebraucht. Die Nase des Fahrzeugs war immer noch auf den Erdhorizont gerichtet. Um 2103 ging mit blendendem Schein die Sonne auf. Um 2116 überflog er Nome, seinen ersten Orientierungspunkt. Um 2119 vergewisserte er sich, daß das vordere Zielfernrohr immer noch auf den Horizont gerichtet war, und drückte dann, nachdem der Akzelerometer 1 g erreicht hatte, den Knopf der Bugrakete weitere zehn Sekunden lang. Die Motoren waren gut aufeinander abgestimmt, der Gewinn an Höhe und Geschwindigkeit wieder aufgehoben. Jetzt mußte er sich in Sichtweite von McMillens Sarg wieder in einer Kreisbahn befinden. Der blendenden Sonne nicht achtend, schaute er sich langsam um. Eine Raketenstufe war nicht zu sehen. Es war mißglückt. In einem Bereich von Hunderten von Kilometern im Durchmesser zu suchen, war sinnlos. Zurück, du Narr! dachte er. Wenn du noch zu-
rück kannst. Und ich würde keine gebrauchte Spucktüte mehr darauf wetten. Aus Unachtsamkeit drehte er das Schiff auf den Rücken. Einen Augenblick blendete ihn die Reflektion des Polareises. Und dann sah er sie. Rechts von ihm, vier oder fünf Kilometer entfernt, schimmerte die Rakete in der Sonne. Geschickt wie ein erfahrener Pilot stoppte Amos die Taumelbewegung des Fahrzeugs, richtete es auf sein Ziel und beschleunigte. Das Schiff wurde größer, aber nicht so rasch wie seine Erregung. Erst im letztmöglichen Moment bremste er ab. Ein paar Meter von ihm entfernt schwebte McMillens Sarg. Die Luftschleuse stand einladend offen. Für eine Weile vermochte er nicht, sich zu bewegen. Reglos sitzend versuchte er, den Augenblick auszukosten und seine Gefühle zu analysieren. Sie waren zu kompliziert; er gab es auf. Er kroch zur Luke und klinkte seine Sicherheitsleine ein. Ein kurzer Blick zu der Öffnung drüben, dann sprang er, sein Fahrzeug dabei zurückstoßend. Er landete in der offenen Tür, bekam einen Handgriff zu fassen und zog sich hinein. Als sein eigenes, sich in entgegengesetzter Richtung bewegendes Schiff die Sicherungsleine gespannt hatte, hätte ihn diese fast wieder ins Freie gezogen, aber er hielt sich fest, stemmte die Füße zu beiden Seiten der Luke ein und zog sein Fahrzeug wieder heran, bis er es am Schiff festmachen konnte. Dann wandte er sich um. Die innere Schleuse stand offen. Er zögerte. Was würde er drinnen vorfinden? Und die Wirklichkeit begann Einfluß auf seine Träume zu
nehmen. Er hatte sich McMillen auf dem Kapitänssitz vorgestellt, mit wegen der fehlenden Atmosphäre und durch die eisige Kälte völlige erhaltenem Körper, wie er mit erstarrtem Lächeln hinaus zu den Sternen sah, die er den Menschen nähergebracht hatte. Aber so würde es nicht sein. Wenn das Schiff jemals eine Keramikverkleidung gehabt hatte, hatten sie Mikrometeoriten schon vor Jahren restlos abgescheuert. Die Temperatur der Schiffshülle betrug über vierhundert Grad. Das war nicht gerade Tiefkühlung. Amos hatte Bilder von explosiver Dekompression gesehen. Wenn diese Luftschleusentüren rasch geöffnet worden waren, dann war McMillens Leiche nicht mehr ganz. Wenn die Luft indessen langsam entwichen war, mußte seine Körperflüssigkeit zu kochen begonnen haben, sobald der Luftdruck auf sechs Prozent des Normalwerts abgesunken war. Das Blut in der Lunge würde verdampft sein, das Blut unter der Haut diese aufgebläht haben ... Das war kein Bild für einen romantischen Träumer. Amos fühlte sich älter – als hätte er etwas verloren und würde noch mehr verlieren. Er schwebte durch die innere Luke und zog sich an einem Geländer zur Nase des Schiffs. In der Kanzel hielt er jäh inne, bemüht zu verarbeiten, was er hier sah. Das Schiff war leer. Keine Sitze, keine Instrumente, keine Innenverkleidung. Die Fenster der Kanzel hatten keine Schutzblenden und waren von Mikrometeoriten zerkratzt und durch ultraviolette Strahlung fast erblindet!
Es gab keinen Piloten, keinen Helden namens McMillen. Und es hatte nie einen gegeben. Ein Pilot war für diese Rakete gar nicht vorgesehen gewesen. Der einzige nützliche Gegenstand war ein kleiner Sender, an den eine Magnetbandgerät mit übergroßen Spulen angeschlossen war. Das Ganze war ein Trick gewesen – ein Betrug. Das große Epos des ersten Raumflugs, der ergreifende Hilferuf, der so viel Echo gefunden hatte – alles war falsch, war Schwindel gewesen. Die Spenden, die den Doughnut möglich gemacht hatten, sie waren dem gutgläubigen amerikanischen Volk unter betrügerischen Vorspiegelungen entlockt worden. Wie erstarrt hielt sich Amos fest. Der orangefarbene Schutzanstrich der Schiffshülle war niemals erneuert worden. Und Amos kratzte hinein: TRÄUME ENDEN HIER. Mit starrem Gesicht stieß er sich ab, schwebte durch die Luftschleuse und kletterte in sein Fahrzeug. Wie in Trance berechnete er seinen Rückflug. Er hatte mehr als die Hälfte seines Treibstoffs verbraucht und fast die Hälfte des Sauerstoffs. Zehn Minuten später wurde der Polarstern sichtbar. Zehn Sekunden lang zündete er die Bugdüse, um seine Geschwindigkeit abzubremsen. Er wartete auf den Doughnut. Etwas mehr als fünfundzwanzig Minuten später beschleunigte er von neuem. Die Nadel der Treibstoffanzeige ging auf Null. Er ließ den Beschleunigerknopf los und sah nach oben. Der Doughnut hing über ihm. Zum erstenmal schaltete er das Funkgerät ein. Sofort kam eine erregte Stimme: »Danton! Geben Sie
uns einen Hinweis auf Ihre Position. Wenn Ihr Funkgerät arbeitet, antworten Sie, damit wir Sie peilen können. Wir können keine Suchtrupps ausschicken, bevor –« Amos schaltete das Gerät ab, richtete sein Fahrzeug auf den Doughnut aus und berührte den Knopf auf dem rechten Knüppel. Der Motor hustete nur einmal. Es genügte. Langsam schwebte sein Fahrzeug auf den Radkranz zu. Amos kroch heraus, erwischte eine Leine und klinkte das Fahrzeug ein. Er traf mit dem ersten Versuch die Landebox. Als er in die Nabe kam, kletterte Kovac gerade in einen Raumanzug. Als er Amos sah, hielt er ungläubig inne. »Wo zum –« Mein Gott, Mann, Sie haben den ganzen Doughnut in ein –! »Ein kleiner Ausflug«, sagte Amos, nahm den Helm ab und stieß aus dem Anzug. »Ein Ausflug!« lachte er kurz. »Der Colonel schickt mich auf die Erde zurück.« »Ja, weil Sie ihm jetzt den Grund dazu geliefert haben!« Kovac kam näher und warf dabei einen vorsichtigen Blick auf die in der Nähe befindlichen Mikrophone. »Haben Sie mich denn nicht verstanden? Solange einer die Befehle ausführt und seine Arbeit halbwegs vernünftig tut, kann er ihn nicht zurückschicken. Man hat ihm diese Befugnis genommen; er warf zu viele hinaus. Aber Sie haben sich von ihm in dieses Abenteuer hineinreiten lassen!« »Ich war ein Idiot«, gab Amos zu. »Ich bin wohl immer einer gewesen.« Er schnellte sich zur Speiche B hinüber und zog sich dann am Auffangnetz entlang. »Ich bin zurück!« rief er dem Offizier von der Gewichtskontrolle im
Vorbeischweben zu. Der stürzte sich mit ungläubiger Miene auf sein Telefon. Amos begab sich ohne Eile zu seinem Schlafquartier, schlüpfte in seine Koje und starrte, die Hände unter dem Kopf, vor sich hin. Zwei Minuten später kam Colonel Pickrell. Die niedrige Decke zwang ihn zu leicht gebückter Haltung. Er sah Amos mit wütendem Blick an. »Danton –« begann er. »Entschuldigen Sie, daß ich nicht aufstehe, Colonel«, sagte Amos. »Aber zwischen den Kojen ist nicht genug Platz für uns zwei. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie mich sehen wollen, wäre ich zu Ihnen gekommen.« Pickrell versuchte, sich aufzurichten, konnte aber nicht. »Na schön – alles raus bis auf Danton!« Die Kojen leerten sich rasch. Männer packten ihre Kleidung und drückten sich, Amos neugierige Blicke zuwerfend, an Pickrell vorbei. Als sie allein waren, ließ sich Pickrell steif auf die Kante der Koje jenseits des schmalen Ganges nieder. Amos sah ihn nicht an. »Also, Danton, dann lassen Sie mal hören.« »Was soll ich hören lassen, Colonel?« Pickrell starrte ihn eisig an. »Die Erklärung, warum Sie das Fahrzeug gestohlen haben. Warum Sie sich von Ihrem Posten entfernt haben.« »Das Fahrzeug habe ich entliehen und wieder zurückgebracht. Die Treibstoffkosten können Sie von meinem Sold abziehen.« »Danke«, sagte Pickrell sarkastisch. »Aber vielleicht sollten wir das dem Kriegsgericht überlassen.« »Was die Entfernung von meinem Posten anbetrifft – ich hatte Freischicht, genau wie jetzt. Was ich in
meiner freien Zeit mache, ist meine eigene Sache.« »Lächerlich! Es gibt detaillierte Vorschriften, die die unerlaubte Benützung von Ausrüstungsgegenständen zum persönlichen Gebrauch verbieten. Wo waren Sie?« Amos drehte den Kopf zu ihm und sah Pickrell fest an. »Ich habe einen kleinen Ausflug gemacht«, sagte er ruhig. »Ich habe McMillens Sarg besucht!« »Sie sind verrückt!« Amos wandte den Blick wieder zur Kojendecke. »Mit so einem Fahrzeug ist das doch gar nicht möglich«, fuhr Pickrell mit scharfer Stimme fort. »Ohne Instrumente, ohne Funkpeilung! Und wenn Sie wirklich dort gewesen wären, dann hätten Sie jedenfalls nicht mehr zurück gekonnt.« Amos verharrte bewegungslos, die Hände unter dem Kopf. »Sie lügen«, sagte Pickrell. Amos blickte wieder in die blauen Augen in dem harten, zerfurchten Gesicht. »Warum haben Sie das getan?« fragte er. »Warum haben Sie das gemacht?« Zwischen Pickrells Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte. »Sie waren also wirklich dort!« murmelte er mit ungläubiger Stimme. »Phantastisch! Ich weiß nicht, ob ich es mir selbst zutrauen würde, so etwas fertigzubringen.« »Alles Schwindel«, sagte Amos. Pickrell holte tief Atem und seufzte dann hörbar. »Ja«, erwiderte er schließlich, »das Schiff war leer. McMillen war nicht darin. Er war nicht der erste Mensch im Weltraum. Er ist nicht dort gestorben. Diese Botschaften an die Erde – alles geplant, alles vorher aufgezeichnet. Wie konnte es dazu kommen?
Um das zu verstehen, müßten Sie damals einer von uns gewesen sein.« Amos sah ihn nicht an. Was Pickrell auch sagte, es war unwichtig. Kein Grund der Welt konnte das Geschehene rechtfertigen. »Es gelang uns nicht das Geld zu bekommen«, sagte Pickrell. Sein Blick war in weite Ferne gerichtet. »Das war das einzige, was uns fehlte, das Geld. Wir brauchten alles auf, was wir hatten – öffentliche Mittel und unsere eigenen; es war nicht genug. Wir bauten ein Schiff. Wir gaben unser Letztes dafür. Aber wir konnten es nicht vollenden. Indem wir die dritte Stufe zur bloßen Hülle reduzierten, konnten wir eine Nutzlast von knapp fünfzig Kilo in eine Umlaufbahn bringen. Ich weiß nicht mehr, wer den Vorschlag machte – vielleicht war es McMillen selbst. Aber es war die Lösung. Wir alle wußten das. McMillen konnten wir nicht ins Weltall befördern, aber wir waren die einzigen, die sich vorzustellen vermochten, was Raumfahrt bedeutet. Also taten wir einfach so, als wäre die Rakete bemannt. Niemand von uns hat es jemals bereut.« Amos blickte ihn schweigend an. »Dennoch – das war nicht, was wir ursprünglich wollten. Wir hätten einen Mann hier heraufbringen können, verstehen Sie – es scheiterte nur am Geld. Also beschafften wir es auf die einzig mögliche Art. Und jetzt sind Menschen im Raum. Und nur das zählt. Das ist unsere Rechtfertigung. Wir wollten das alles wahrhaftig nicht; aber wir haben unser Vorgehen niemals bedauert.« »Ich bin froh«, sagte Amos leise.
»Niemand von uns ist glücklich darüber, verstehen Sie!« wiederholte Pickrell beinahe wütend. »Bo schon gleich gar nicht. Ihn überzeugten wir erst als letzten; er ist es, der die ganze Sache eigentlich über die Bühne brachte, und es bringt ihn fast um. McMillen ist auch nicht glücklich. Wer will schon ein Held sein, wenn er genau weiß, daß er ein falscher Held ist? Wissen Sie, wer der erste Mensch im Weltraum war? Das war ich.« Amos mußte ein wenig lachen. »Und ein lebender Geist wird dafür geehrt!« »Na wenn schon«, stieß Pickrell hervor. »Wir haben getan, was wir tun mußten«, fügte er dann nachdenklicher hinzu. »Alles andere war zu riskant. Wir konnten es einfach nicht der Zeit und dem Glück überlassen.« »Wo ist McMillen?« »Lebt wahrscheinlich in New York. Hat sich einer gesichtschirurgischen Operation unterzogen und steht Tag und Nacht unter Bewachung. Nicht, weil wir ihm nicht vertrauen; wir können nur kein Risiko eingehen. Er bekommt alles, was er will ... innerhalb vernünftiger Grenzen.« »Nur, daß er nicht in den Weltraum darf«, sagte Amos. »Er kann nicht hierher. Nie. Er wird dort unten sterben, der falsche Held.« »Ja. Und Sie, Sie armer Träumer ... Sie verstehen jetzt, warum ich Sie nicht hierbehalten kann. Nur unglaubliches Glück hat Sie davor bewahrt, sich selbst umzubringen. Die Suche nach Ihnen hätte die Air Force phantastische Summen kosten können.« »Aber das ist nicht der Fall.« »Weil ich Ihnen keine Zeit und Gelegenheit mehr
dazu geben werde. Also packen Sie.« Er sah auf seine Uhr. »Die Fähre geht in dreizehn Minuten.« »Warum wollen Sie mich denn unbedingt loswerden, Colonel?« fragte Amos. »Träumer sterben hier jung«, erwiderte Pickrell. »Wir müssen sie früh genug aussondern ... ehe wir Millionen für ihre Ausbildung vergeuden. Aber in der Akademie will man ja nicht auf mich hören. Um hier zu überleben, muß man ganz kompromißlos sein. Hierher zu kommen – das haben wir mit einem Trick geschafft. Aber wir können nicht von Illusionen leben. Ich möchte nicht sterben, weil irgendein Narr ein Loch in den Doughnut brennt, während er auf die Sterne starrt. Die Realität ist hier. Man kann sich nicht darüber hinwegträumen. Hier leben heißt gleichzeitig leiden«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Wohin wir auch gehen – wir müssen unsere Umwelt mitbringen, und die reicht nicht hin. Die Luft stinkt. Das Essen ist furchtbar. Das Wasser schmeckt nach menschlichen Ausscheidungen. Es gibt keine Privatsphäre. So sehr wir uns auch bemühen – an Schwerelosigkeit können wir uns nie ganz gewöhnen. Der Tod bedroht uns auf Schritt und Tritt: Zu große Hitze, zu große Kälte, zu große Beschleunigung, zu viel ultraviolette Strahlung, zu wenig Luft, zu wenig Abschirmung gegen die unsichtbaren Geschosse, die durch den Raum rasen, zu viele ungefilterte Strahlen und Teilchen – Ich habe fünf blinde Punkte von Partikeln, die durch meine Netzhaut gingen. Wenn ich nicht vorher bei einem Unfall umkomme, sterbe ich, ehe ich sechzig bin.« »Und falls Sie niemand vorher umbringt«, mur-
melte Amos. Ein verkniffenes Lächeln ging über das Gesicht des Colonel. »Könnte ein Träumer das durchstehen?« fragte er. »Er würde zerbrechen – wenn er lang genug lebte. Hier brauchen wir Männer, keine Jungen. Und deswegen müssen Sie zurück.« Er stand auf, soweit es die Decke erlaubte, und ging zur Tür, als sei nun alles gesagt. »Colonel.« Amos hob ein wenig die Stimme. »Wie kann ein Mann die fünf höllischen Jahre in der Akademie durchstehen und dann dieses gräßliche Leben hier leben – wenn man ihm seinen Traum wegnimmt?« Pickrell fuhr herum und starrte ihn an. »Was ich Ihnen mitteilen wollte, Colonel: Ich gehe nicht zurück.« »Was sagen Sie da?« fragte Pickrell langsam. »Wenn Sie mich zurückschicken«, sagte Amos, jedes einzelne Wort betonend, »dann decke ich den Schwindel auf.« Pickrell grinste. »Erpressung?« »Wenn Sie es so nennen wollen.« Pickrell musterte Amos, als hätte der Kadett plötzlich ein ganz neues Gesicht. »Irgendwie scheint mir doch, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe. Sie können bleiben.« Amos nahm es hin, als hätte er nichts anderes erwartet. »Den wirklichen Grund will ich Ihnen sagen«, fuhr Pickrell fort. »Nicht, weil Sie vielleicht etwas sagen könnten – wer würde einem von einem Kriegsgericht verurteilten, rachedurstigen Soldaten glauben? Oder weil es zu einem kleinen Unfall kommen könnte ...
die passieren hier ziemlich oft und sind meistens tödlich. Nein – aber Sie haben diese Fahrt gemacht; in Ihnen muß ein guter Pilot stecken. Und ich sehe auch, daß Sie zu kompromißlosem Handeln fähig sind. Erpressung!« fuhr Pickrell lachend fort. »Danton, Sie fangen an, mir zu gefallen. Helden ... das große Abenteuer ... wenn Sie sich von diesem Unsinn freimachen können, werden Sie vielleicht doch noch ein guter Raumfahrer. Sie haben recht – es ist die beste Lösung. Sie werden hier bei uns dasselbe sein wie auf der Erde. In der nächsten Schicht übernehmen Sie eines der Fahrzeuge. Gute Nacht, Leutnant. Träumen Sie süß!« Gebückt ging er hinaus: Ein harter, unglücklicher Mann – ein Träumer, der seine Träume verkauft hatte für die Mittel zu ihrer Verwirklichung. Wenn seine Träume ihn heimsuchten, mußten sie bitter sein. Amos drückte auf den Knopf neben der Sichtluke, und der Schutzschild öffnete sich. Draußen waren Mars und Venus zu sehen. Der Mond schien zum Greifen nahe. Er und der Colonel, sie waren verschieden, dachte Amos. Die Träume, die man aus seiner gesellschaftlichen Umwelt in sich aufnimmt wie Atemluft, die zählen nicht. Früher oder später gibt man sie auf. Erwachsen werden – vielleicht war es das. Und wenn ein Mann erwachsen wird, muß er sich seine eigenen Träume schaffen. Amos Traum galt immer noch den Sternen. Originaltitel: THE HOAX Copyright © 1955 by Quinn Publishing Co., Inc.
DAS PULVERFASS Phillips gefiel dieses Zimmer nicht. Jemand anderer wäre achselzuckend darüber hinweggegangen. Aber Phillips konnte, ganz abgesehen von seinem Beruf, nicht ruhen, ehe die intuitive Reaktion isoliert und analysiert war. Einmal war er schon hier gewesen. Damals hatte ein anderer Mann hinter dem breiten, polierten Walnußschreibtisch gesessen. Der Raum war groß, selbst im Vergleich mit anderen Räumen. Für die Verhältnisse hier, im SubPentagon, war er gigantisch: Volle zehn Meter lang und acht Meter breit. Die drei Türen, von denen eine zu den Vorzimmern ging, durch die man ihn rasch hereingeführt hatte, und die anderen an der Seite zu »Kommunikation« und zur »Planung«, waren Walnußholzimitation – eine gute Imitation, die nur zu erkennen war, wenn man sie mit dem seidigen Schimmer des polierten Schreibtischs verglich. Phillips hatte das Gefühl, daß seine Finger, wenn er diese Türen berührte, bis zum ersten Gelenk einsinken würden. Die Türen bestanden aus fünf Zentimeter dickem Panzerplatten. Den Boden bedeckte ein von Wand zu Wand reichender, überaus dicker grauer Spannteppich. Nichts war zu hören, als er zum Schreibtisch hinüberging. Das einzige Geräusch im Raum war das gedämpfte Flüstern der Klimaanlage, die durch Öffnungen in der Decke frische, kühle Luft hereinblies. Hatte der General vergessen, daß er hier war? fragte sich Phillips. Haven Ashley saß mit dem Rücken zum
Schreibtisch – und zu Phillips, der neben dem Schreibtisch saß. Ashley schien das Mosaik an der hinteren Wand seines Büros zu studieren – die einzige Dekoration im Raum. Die anderen Wände waren im Kriegsschiffgrau getüncht. Das Mosaik war wirklich ein Kunstwerk. Es bestand aus winzigen Stückchen farbigen Glases, von denen jedes in mühevoller Arbeit einzeln aufgeklebt war, und stellte die Erde aus einer Höhe von eineinhalbtausend Kilometern gesehen dar. Die Kontinente waren in mattem Braun, Gelb und Grün mit einem schwachen Hauch von Blau darüber; die Meere waren bläulichgrau, fast schwarz. Das Mosaik war flach, vermittelte aber die Illusion einer Halbkugel. Hier unten war es stets Nacht, doch wenn für die Bewohner der Erdoberfläche die Sonne jenseits des Potomac unterging, verdunkelte sich die Scheibe in Ashleys Büro, und Städte glommen darauf als Flecken rötlichen Lichtes. Und aus dem samtigen Dunkel um den Planeten traten Sterne, bis dahin überstrahlt von der im Tageslicht liegenden Erde. Es waren keine Satelliten am Himmel. Zu klein war der Maßstab für die Vierundzwanzig-StundenKreisbahn des Großen Rades, und zu groß, als daß das Kleine Rad mehr als ein winziges Pünktchen sein konnte. Außerdem wäre das Kleine Rad ohnehin nicht sichtbar gewesen; auf ihm hatte sich der Künstler befunden. Das Mosaik war strategisch plaziert. Phillips war es, als er eingetreten war, wie ein Heiligenschein hinter dem Kopf von General Haven Ashley erschienen. Ashley nutzte das aus. Er war kein Engel. Zum drittenmal betrachtete Phillips den Hinter-
kopf des Generals. Ashley war nicht groß, aber stämmig. Er füllte den Drehstuhl von Armlehne zu Armlehne; seine massiven Oberschenkel spannten die Hosenbeine der grauen Air-Force-Uniform, sein massiver Oberkörper die Jacke mit den goldenen Knöpfen. Aber das hatte er schon beim Eintreten bemerkt. Jetzt konnte er nur seine robusten Schultern sehen, den geröteten Hals mit der Speckfalte, das graue, energisch niedergebürstete Haar, und er dachte: Was ist los mit diesem Zimmer? Es ist identisch mit Pickrells Zimmer, als er noch hier war, bis hin zu dem aus rostfreiem Stahl bestehenden Modell des dreistufigen Transportschiffs, das als Papierbeschwerer diente. Vielleicht ist es ein wenig aufgeräumter, aber da bin ich nicht kleinlich. Er hatte eine Neigung zur Klaustrophobie. Vielleicht war es das. Er glaubte, den Druck des zweihundert Meter dicken Stahlbetons auf Schultern und Brust zu spüren. Selbst die Luft schien ihm muffig, obgleich er wußte, daß sie viel reiner war als die, die er in den Straßen von Washington atmen mußte. Vielleicht war es die Unsicherheit darüber, weswegen Ashley ihn hierhergerufen hatte. Dies war kein Höflichkeitsbesuch, wie es der andere gewesen war. Hier ging es um ein Problem, und Ashley konnte aus irgendeinem Grund nicht darüber sprechen. Der General hatte keinen obskuren Air-ForcePsychologen in sein Amtszimmer gebeten, um seine Ansicht über die Air Force von ihm zu erfahren. Er hatte auch keinen Therapeuten für seine Neurosen geholt; bei Ashley war das undenkbar. Es mußte der Job sein. Ashley hatte ihn vor sechs Monaten geerbt, und es war die erdrückendste Ver-
antwortung auf der Welt. Wie ein moderner Atlas trug er auf seinen Schultern den Himmel. Wenn er schwach wurde, wenn er stolperte, dann würde der Himmel herunterstürzen, und die Menschheit würde ausgelöscht sein. Vielleicht, dachte Phillips, war es die Unsicherheit der Weltsituation selbst, die sich in den letzten Monaten unzweifelhaft verschlechtert hatte. Als Phillips sich hinüberbeugte, um seine Zigarette im Aschenbecher auszudrücken, fuhr Ashley auf seinem Drehstuhl herum, schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch und stieß hervor: »Unmöglich!« Phillips erstarrte, die Hand über dem Aschenbecher. Die Zigarette sengte an seinen Fingern. »Nicht Sie, Captain«, knurrte Ashley. »Machen Sie das Ding aus. Das Rauchen müssen Sie sowieso aufgeben.« Phillips lehnte sich unsicher zurück. »Ja, Sir?« Was meinte er damit? Ashley starrte finster den schimmernden Papierbeschwerer an. »Was wissen Sie von der Weltlage? Schon gut; ich schildere sie Ihnen mit einem Wort: Hoffnungslos. Seit vierzig Jahren ist sie schon hoffnungslos, aber jetzt ist sie noch schlimmer. Auch der letzte Ministaat lagert ein Arsenal an Wasserstoffbomben. Und noch der kleinste davon schießt Ihnen den Kopf vom Hals, wenn sie ihn nicht mit dem Respekt ansprechen, auf den er Anspruch zu haben glaubt.« »Wir sitzen auf einem Pulverfaß«, sagte Phillips, »und jedermann hat eine Zündschnur in der einen Hand und den glimmenden Zunder in der anderen. Wenn einer von uns hochgeht, gehen wir alle hoch.
Irgendwann müßte man zu dem Entschluß kommen, den Zunder auszutreten und die Zündschnüre abzureißen, möchte man meinen.« Ashleys buschige rote Augenbrauen zogen sich enger zusammen, und die Falten dazwischen vertieften sich. »Und wie können Sie sicher sein«, fragte er säuerlich, »daß es alle gleichzeitig tun? Dieser Idealismus! Die letzte Nation mit einem brennenden Streichholz – die wird die Welt beherrschen.« »Ich dachte«, entgegnete Phillips langsam, »daß das die Funktion des Kleinen Rades sei: Alle zu überwachen.« »Schon, schon«, erwiderte Ashley düster. »Aber was hilft das in einer Situation wie dieser. Es ist, wie wenn man ein Maschinengewehr hat und der andere einen Revolver. Wenn die Schießerei losgeht, ist man genauso tot.« »Aber der Satellit erlaubt doch ständige Inspektionen! Alle zwei Stunden kommt jeder Punkt auf der Erde ins Blickfeld.« »Und wie sehen Sie unter die Erde? Das können Sie nicht. Und da sind die Fabriken und ComputerAnlagen.« »Es gibt auch noch Spionage ...« »Womit wir wieder da wären, wo wir vor fünfundzwanzig Jahren anfingen.« Ashley schien gelassen auf seinem Stuhl zu sitzen; aber seine Augen starrten weiter wie gebannt auf das Raketenmodell. »Sind Sie jemals oben gewesen? Oder draußen, wie die Raumfritzen sagen?« »Ja, Sir. Trainingsfahrten und ein Wochenende auf dem Großen Rad.« »Und auf dem Kleinen Rad?«
»Noch nie, Sir.« »Nein. Da läßt man Sie nicht hinauf. Keinen Psychologen läßt man dort hin.« Ashleys Stimme war leise geworden, er starrte wie blind auf die Eingangstür. »Als ich das Kommando über die Air Force übernahm, übernahm ich auch einen Befehl, daß keinem Psychologen der Zutritt zum Kleinen Rad erlaubt werden darf. Warum, Captain?« Seine Stimme wurde wieder lauter, als er fortfuhr, ohne auf eine Antwort zu warten. »Sie haben Angst vor dem, was ein Psychologe feststellen würde. Sie fürchten, daß er ihr Spielchen stören könnte. Pickrell versuchte, mich auf seine Linie einzuschwören. ›Die Derwische hatten in der Akademie schon genügend Gelegenheit, an meinen Männern herumzupfuschen‹, sagte er immer. ›Bei der Arbeit kommt das nicht mehr in Frage.‹ Nun, jetzt habe ich das Kommando, und ich mache die Sache auf meine Art.« »Es gibt keinen Zweifel, daß die Männer draußen stabil sind«, versuchte Phillips, ihn zu beschwichtigen. »In welcher Hinsicht stabil?« fragte Ashley heftig. »Als Raumfahrer vielleicht. Aber sind sie auch stabil, wenn es gilt, eine Exekution durchzuführen? Die dort oben haben den Finger am Abzug, Mann, und niemand sagt ihnen, wann sie schießen sollen – bis auf einen Wahnsinnigen. Unterbrechen Sie mich nicht! Natürlich, wir stehen in Verbindung – für zwanzig Minuten alle zwei Stunden. Und diese Verbindung kann gestört werden. Ein Feind, dem das zu auffällig ist, kann auf Sonnenflecken warten. Da kommt jeder Funkkontakt vollständig zum Erliegen! Astronomen
haben keine Nationalität. Seit zwanzig Jahren sind dort oben Männer mit dem Finger am Abzug. Keine abgeklärten Männer, Captain, die man dazu ausgebildet hat, verantwortungsvoll und umsichtig zu entscheiden ... nein, Männer, die von vornherein einen kleinen Knacks haben müssen, um überhaupt dort hinaufzufahren und zu bleiben.« Ein Unterton tiefster Besorgnis sprach aus Ashleys tiefer Stimme. »Es gibt sogar einen Mann, der seit zwölf Jahren ununterbrochen dort oben ist – der den Fuß nicht mehr auf die Erde gesetzt hat, seit er in den Weltraum hinausflog. Und er ist der Kommandeur! Wie stabil ist ein Mann, Captain, der so auf einen Befehl seines Vorgesetzten antwortet: Meiner Meinung nach ist das ungünstig oder Wir schlagen vor, daß Sie mögliche Alternativen in Ihre Überlegungen einbeziehen? Das wär's, Captain. Nehmen Sie Ihre Orders mit, wenn Sie gehen. Sie werden die psychologische Situation im Kleinen Rad auf das gründlichste untersuchen und uns dann berichten. Wenn Sie zurückkommen, werden Sie eine Antwort auf diese Frage haben: Ist jeder Mann dort oben in der Lage, in Fällen, wo es um Wohl und Wehe der ganzen Erde geht, überlegte, sachlich unangreifbare Entscheidungen zu fällen? Ist es ausgeschlossen, daß irgendein Mann dort oben unter der Belastung, ständig auf einem Pulverfaß zu sitzen, psychisch zusammenbricht? Ja, noch etwas. Man baut dort oben etwas – hinter dem Rad, wo wir es nicht sehen können. Ich möchte wissen, was es ist.« Phillips Blick war auf die rotbehaarten Hände des Generals gerichtet, die das Raketenmodell hielten. Sie waren weiß vor Anspannung. Plötzlich fiel das Mo-
dell auseinander. In der Stille wirkte das Geräusch fast erschreckend. Ashley sah überrascht auf seine Hände hinunter und schob die Stücke mit rascher Bewegung von sich. »Ja, Sir«, sagte Phillips und dachte an die Antwort, die er würde geben müssen, wenn seine Untersuchung beendet war. Es gab nur eine mögliche Antwort: Nein. Nirgendwo gab es eine Gruppe von Männern, die durchweg imstande waren, wohlüberlegte, sachlich unangreifbare Entscheidungen zu fällen. Und es gab auch niemanden, der nicht unter dem Druck der Verantwortung zusammenbrechen würde, wenn die Verantwortung nur groß genug war. Die Antwort konnte er Ashley schon jetzt geben; aber das war nicht das, was der General wollte. Er wollte den Anschein des Ordnungsgemäßen; er wollte Beweise, die er dem Verteidigungsminister oder dem Präsidenten unterbreiten konnte. Er war entschlossen, das Kleine Rad zu zerbrechen, wie er das Raketenmodell auf seinem Schreibtisch zerbrochen hatte. »Der Kommandeur auf dem Kleinen Rad – was ist das für ein Mann ...?« fragte Phillips neugierig. Unwillig und mit aufgerissenen Augen starrte Ashley ihn an. »Ich sagte Ihnen doch – ein Wahnsinniger. Er ist völlig verrückt.« Phillips nahm all seinen Mut zusammen und sagte: »Und warum berufen Sie ihn nicht ab?« Ashley zögerte einen Moment und sagte dann mit fast unhörbarer Stimme: »Und wenn er sich weigert?« Captain Lloyd Phillips, M.D., USAF, saß im Warteraum des riesigen Raumhafens in Cocoa, Florida, und
sah sich auf dem flachen Fernsehschirm an der gegenüberliegenden Wand Schwanensee an. Die Darbietung war überaus anmutig, unglaublich schön; niemals hatten menschliche Tänzer so sehr Schwänen geglichen wie diese, wenn sie ihre schwebendgleitenden Sprünge machten. Das Programm kam vom Großen Rad, das in dreißigtausend Kilometer Höhe über den Vereinigten Staaten stand. Die Vorstellung fand in einem Niedriggravitationsstudio der berühmten Telecity unweit des kommerziellen Satelliten statt, und der Empfang war ausgezeichnet. Dies war etwas, was Phillips beeindruckte – etwas, was, zumindest bis zu einem gewissen Grad, Opfer an Menschenleben und Arbeit und an Rohstoffen aufwog, die auch vernünftiger und profitabler hätten verwendet werden können. Phillips hatte nichts gegen den Raumflug und auch nichts gegen das Große oder das Kleine Rad. All dies interessierte ihn sogar sehr – als psychologisches Phänomen. Dieses Interesse hatte ihn zur Air Force gebracht und dort gehalten. Phillips suchte eine Antwort auf seine eigene Frage: Warum? Was veranlaßte Männer, zum Raumfahrtcorps der Air Force zu gehen? Was trieb sie in eine unbarmherzige, fremde Umgebung, wo sie bestenfalls härteste Arbeit und ein steriles Leben erwarten konnten, verkürzt noch durch schlechtes Essen, vergiftete Luft, durch die Auswirkung wiederholten übergroßen Beschleunigungsdrucks und mit der fünfzigprozentigen Aussicht auf Irrsinn oder gewaltsamen Tod? Und warum verausgabte eine Rasse ihre Substanz für eine so große, aber letztlich nichtige Geste?
Raumfahrt war unprofitabel, so viel stand fest. Niemals würde sie auch nur die Hälfte dessen bringen, was an Geisteskraft, Schweiß, Blut und Geld in sie investiert worden war. Eines Tages würde es ein dickes, gelehrtes Buch mit Phillips' Namen darauf geben. Vielleicht würde er es Die Männer im Weltraum nennen mit dem Untertitel »Die psychologischen Faktoren in den Karriereentscheidungen von Freiwilligen des Raumfahrercorps, mit Fallstudien.« Oder vielleicht: Der Einfluß gescheiterter Ehen auf zwanzig Freiwillige des Raumfahrercorps ... Oder einfach: Menschen im All – Eine Studie des Raumfahrercorps. Danach würde die soziologische Abhandlung kommen: Wozu Raumfahrt? – Soziologische Zwänge und ihre Einwirkung auf die Entwicklung der Raumfahrt. Phillips sah sich in dem großen Warteraum um. Er war kahl und fast antiseptisch sauber. Außer ihm war nur noch ein junger Leutnant da, der in einer Ecke schlief, den Raumhelm tief ins Gesicht gezogen. Phillips versuchte, sich wieder auf die menschlichen Schwäne auf dem Fernsehschirm zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Andere Probleme beschäftigten ihn – zum Beispiel General Haven Ashley. Seine Befehle hatten ihm nur vierundzwanzig Stunden Frist eingeräumt, und Phillips hatte sie gut genützt. Da war niemand, von dem er sich hätte verabschieden müssen: Seine Mutter war vor vielen Jahren gestorben, seinem Vater konnte nichts gleichgültiger sein, und mit Mädchen war er so vorsichtig gewesen, daß keine sich fragen würde, warum er nicht anrief. In einem abgeschlossenen Teil seines blauen
Raumfahrerpacks war das Ergebnis seiner vierundzwanzigstündigen Arbeit: Militärische und medizinische Unterlagen des gesamten Personals des Kleinen Rades auf Mikrofilm – vom Rekruten mit fünf Monaten Dienstzeit bis zu jenem Veteranen mit seinen zwölf Jahren, einen Colonel Danton, der, wie General Ashley betont hatte, »vollkommen wahnsinnig« war. Der Start der Rakete war mehrmals verschoben worden, und so hatte Phillips Gelegenheit, die Unterlagen mehrere Male durchzusehen. Eine gründliche Analyse würde indessen erst dann möglich sein, wenn er jeden einzelnen Mann selbst kennengelernt hatte und seine Beobachtungen mit dem, was in den Unterlagen stand, in Beziehung zu setzen vermochte. Er wollte ganz unvoreingenommen urteilen. Natürlich machte seine Gewissenhaftigkeit die Aufgabe nicht einfacher; schließlich hatte die maßgebende Stelle ihr Urteil bereits gefällt. Aber seine Arbeitsweise war nun einmal nicht anders, und auch dieses Mal würde er mit dieser Belastung leben müssen wie schon früher. Phillips' Order hatte ihn in die Lage versetzt, sich auch eine gewissermaßen privatere Akte vorzunehmen – die von Ashley. Er wußte jetzt mehr über Ashley als dieser über sich selbst. Gern hätte er eine Bestätigung gehabt, um absolut sicherzugehen, durch einen Rorschachtest beispielsweise. Aber er wußte jetzt, warum Ashley das Kleine Rad zerstören wollte. Der Schlüssel war eine kurze Aktennotiz in Ashleys Personalpapieren: Nicht qualifiziert für Raumfahrt (Raumfahrtkrankheit). Ashley war einer der wenigen Menschen, die bei Schwerelosigkeit unter völliger sensorischer Desori-
entierung und starker Übelkeit leiden. Ein geringerer Mann hätte sich nicht darum gekümmert; ein größerer Mann hätte sich das verziehen. Aber Ashley konnte keines von beiden. Er hatte das Trauma sublimiert, und aus seiner Niederlage war brennender Ehrgeiz geworden, der ihn durch unermüdliche Arbeit, ständiges Taktieren und nicht zuletzt durch Intrigen an die Spitze der Air Force gebracht hatte. Er hatte erleben müssen, daß ihm Männer vor die Nase gesetzt wurden, die sich als Raumfahrer ausgezeichnet hatten. Und er hatte gearbeitet und gewartet und Oberbefehlshaber wie die Raumfahrtpioniere Beauregard Finch und den kürzlich invalidisierten Frank Pickrell überlebt. Und er hatte sich hinaufgekämpft bis zur Spitze. In Ashleys Akte befanden sich veröffentlichte Artikel, in denen er die Notwendigkeit einer zivilen Kontrolle betont und die Probleme der militärischen Verteidigung analysiert hatte. »Der Schwanz wedelt mit dem Hund« oder »bei unserer Beförderungspolitik sollten Aspekte allgemeiner Führungsfähigkeit gegenüber spektakulären, aber letztlich sinnlosen Manifestationen persönlichen Mutes oder bloßer körperlicher Leistungsfähigkeit im Vordergrund stehen. Ausgeglichene Führungspersönlichkeiten mit gesundem Menschenverstand, die dem allgemeinen Wohl ersten Stellenwert einräumen, zählen mehr als Visionäre und weltfremde Idealisten« – Phillips glaubte förmlich, Ashleys Stimme zu hören. Wenn Ashley Haßgefühle gegen das Raumfahrercorps in Abrede stellte, geschah das sicher in aller
Aufrichtigkeit. Im Unterbewußten war er jedoch schon seit langem davon überzeugt, daß Raumfahrt absolut nutzlos sei. Er assoziierte sie mit furchtbaren physischen und psychischen Strapazen. Menschen sind Erdengeschöpfe war einer seiner wichtigsten Glaubensartikel. Die Genkombination, die für Ashleys Unfähigkeit, Schwerelosigkeit zu ertragen, verantwortlich war, hatte schon fast fünfzig Jahre zuvor das Verdammungsurteil über das Kleine Rad – ja, vielleicht über die Raumfahrt überhaupt – bedeutet. Zufall. Genauso wie es Zufall gewesen war, daß der erste Mensch im Weltraum nicht mehr zurückkehren konnte; sein Untergang hatte weltweites Mitgefühl erregt und die psychologischen Vorbedingungen geschaffen, die das Kleine Rad erst ermöglicht hatten. Daß er die unterbewußten Motive für Ashleys Einstellung erkannt hatte, bedeutete jedoch keine Abwertung dieser Position. Trotz seiner Voreingenommenheit konnte Ashley recht haben. Phillips hielt es für durchaus wahrscheinlich, daß Ashley tatsächlich recht hatte. Die Überflüssigkeit seiner Vision wurmte ihn freilich. Wartete er nicht mit einer unverfrorenen Lüge auf, dann konnte keine seiner Antworten, wie sie auch lauten mochte, das Kleine Rad retten. Dennoch – für Ashley und für die Welt war seine Mission wichtig. Das Kleine Rad würde sterben. Und mit ihm die Raumfahrt. Aber sie mußten aus gutem Grund sterben und mit allem Pomp und Zeremoniell, sonst würden sie wieder ins Leben zurückkehren.
»Entschuldigen Sie, Sir«, wiederholte die Stimme. Gedankenverloren sah Phillips auf. Ein Leutnant des Raumfahrercorps stand respektvoll vor ihm; seinen Helm trug er am Riemen in der Hand. Phillips warf rasch einen Blick in die entfernte Ecke des Raumes. Sie war leer. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte der Leutnant zum dritten Male, »aber ich dachte ... ich glaube, Sie schauen nicht zu« – er machte eine ungelenke Geste zum Fernsehschirm hinüber – »... würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich auf einen anderen Kanal schalte?« Er war ein junger Mann – groß, schlank, breitschultrig und mit kurzgeschnittenem – blondem Haar – und er lächelte auf jungenhafte, überaus einnehmende Art. Er war einer jener jungen Männer, denen die Uniform so gut steht und die der Uniform Ehre machen. Sein Gesicht war sonnverbrannt, und seine blauen Augen sahen Phillips frei und ohne Unterwürfigkeit an. Er war ein völlig normaler junger Mann, ein Fleisch und Blut gewordenes Werbeplakat für das Raumfahrercorps. Phillips' Unwille verflog. »Nur zu«, sagte Phillips. Augenblicke später hatten die schwebenden Schwäne fliegenden Akrobaten Platz gemacht. Aber der junge Leutnant schenkte ihnen, nachdem er wieder zurückgekehrt und sich in den lederbezogenen, luftgepolsterten Sessel neben Phillips niedergelassen hatte, keine Beachtung. Vielmehr wandte er sich sofort an den Psychologen und fragte ihn: »Sie fahren hinauf, Sir?« »Ja.« »Zum erstenmal?«
Phillips lächelte unwillkürlich. »Zum Kleinen Rad.« »Dann haben Sie einiges vor sich.« »Da haben Sie möglicherweise recht.« »Wir werden zusammen fliegen«, freute sich der junge Mann. »Gut«, lächelte Phillips. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte der Leutnant etwas verlegen. »Ich rede zu viel, nicht wahr? Es ist nur ... ich habe gerade einen kurzen Urlaub hinter mir und kann es gar nicht erwarten, wieder draußen zu sein. Mein Name ist Grant. Jack Grant.« Grant, dachte Phillips. Beide Eltern leben, glücklich verheiratet. Gute Familienverhältnisse. Älterer Bruder Solarenergie-Ingenieur. Jüngere Schwester auf der HighSchool. Sexuell normale Erwachsenenbeziehungen. Bei Verlassen der Akademie für sein Alter gut angepaßte Persönlichkeit. Phillips runzelte die Stirn. Der Mann paßte überhaupt nicht ins Bild. Warum war er beim Raumfahrercorps? »Lloyd Phillips«, sagte er. Grant plauderte ungehemmt weiter, erzählte Phillips von der Akademie, vom Rad, berichtete über seinen Urlaub und über das Mädchen, das er kennengelernt hatte – bis hart an die Grenze dessen, was einen Gentleman von einem Tölpel unterscheidet. Sein Erlebnishunger und seine Fröhlichkeit waren geradezu ansteckend. Er erinnerte Phillips an einen jungen Hund, der tolpatschig und verspielt herumtollte. Fast wider Willen taute Phillips auf. »Was für ein Mensch ist Colonel Danton?« fragte er beiläufig. Grants Lächeln verschwand. »Ein sehr guter Offi-
zier, Sir«, sagte er. »Ein ausgezeichneter Kommandeur, der stets loyal zu seinen Männern steht, und dem seine Männer deswegen auch ergeben sind. Fleißig und gewissenhaft, Sir. Arbeitet härter als alle anderen.« Phillips lächelte ermutigend. »Ich will Ihnen was sagen, Jack. Können Sie das für sich behalten?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er vertraulich murmelnd fort: »Ich bin Psychologe; man hat mich zum Kleinen Rad beordert. Eine meiner Aufgaben ist, festzustellen, ob Danton psychisch für eine Position qualifiziert ist, deren Verantwortung fast unvorstellbar groß ist.« Das war durchaus wahr, wenn auch nicht in dem Sinne, wie Grant es verstehen würde. »Sie können mir helfen.« »Sie bringen mich in eine schwierige Lage, Sir. Ich möchte Ihnen gern helfen. Aber ich fürchte, ich kann nicht.« Dann gab es also etwas, was er nicht verraten wollte. »Es ist nicht nur ein Routineauftrag, Jack. Es ist viel, viel wichtiger.« Grant schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Sir«, sagte er bestimmt. »Sie müssen das selbst herausbekommen.« Phillips nickte einsichtig; der Junge stieg zusehends in seiner Achtung. »Schon gut. Ich kann Sie verstehen.« Grant konnte nur eine kurze Weile an sich halten. Schon bald offenbarte er seine junge Seele so freimütig wie zuvor. Fünfzehn Minuten später kam Leutnant Kars durch die breite, gläserne Eingangstür. Er trug einen blauen Overall und das netzartige Fluggeschirr um die Brust.
Seine Miene war düster. Joseph Kars, 23, einziges Kind einer verwitweten Mutter – Phillips hatte Zeit, kurz nachzudenken, ehe Kars sagte: »Gehen wir, Captain. Wir können nicht die ganze Nacht warten.« »Langsam wird's Zeit«, erwiderte Phillips ruhig. »Ich warte hier schon seit zwei Tagen.« Kars sah ihn mit kalten, schwarzen Augen an. »Es wird nie langsam Zeit, Captain. Entweder ist es Zeit oder nicht. Nehmen Sie das Gepäck des Captain, Grant.« Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um. Phillips bückte sich rasch, um seinen Pack aufzunehmen, aber Grant hatte ihn schon in der Hand. Phillips sah ihn hilflos an und dann Kars, als ob er die beiden vergliche, und folgte ihnen schließlich hinaus in die Nacht. Sie gingen quer über das Landungsfeld auf die gigantische Drei-Stufen-Rakete zu, deren Bugflügel noch breiter als ihre Heckflossen waren. Grant war etwa zwanzig Meter hinter ihnen. Phillips blickte nicht zu der Rakete hinüber. Er schaute auf Kars. Es gibt eine Ähnlichkeit zwischen ihnen, dachte er. Ein Eifer, eine Besessenheit, die ihre Züge formen. Ihre Augen wirken, als sähen sie in weitere Fernen als andere Menschen. Gewiß, sie sind verschieden nach Figur, Haarfarbe und Gesicht, aber die Unterschiede betonen nur noch ihre Verwandtschaft. Sie kommen aus identischen Formen, und darauf steht: »Experiment – Homo spatiorum.« Sie waren gezeichnete Männer. Gezeichnet nicht nur durch ihre tiefbraune Hautfarbe, die das ungefilterte Ultraviolett erzeugt hatte, sondern durch eine gemeinsame
Erfahrung und einen gemeinsamen Traum. Sie waren so gezeichnet, daß jedermann sagen konnte: »Der ist ein Raumfahrer.« Alle – bis auf Grant. Er war zu normal. Er schien nicht dazuzugehören. Phillips spürte Zuneigung zu Grant, als seien sie Brüder, die eben erkannt hätten, daß sie sich unter Fremden befanden. »Was hat den Start verzögert, Joe?« fragte Phillips beiläufig. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Captain, nennen Sie mich Kars oder Leutnant.« »Also gut, Leutnant. Was war los?« »Gar nichts, Captain.« »Eine Verzögerung von zwei Tagen, und das nennen Sie gar nichts?« Kars blickte ihn schweigend an, als schätze er seine Verständnisfähigkeit ab. Dann deutete er auf die Rakete, die teilweise beleuchtet, auf dem sonst dunklen Landefeld stand. »Das ist ein Biest, Captain«, sagte er, »ein wildes, böses, unberechenbares Tier, das an seiner Leine zerrt und nur darauf wartet, mich zu töten, wenn ich auch nur die geringste Kleinigkeit übersehe. Ich bin der Kommandant dieses Geräts. Und es bewegt sich nicht, ehe ich sicher bin, daß es bereit ist. Jedes Relais, jede Pumpe, jede Anzeige muß perfekt funktionieren; jede Verbindung muß halten; jede Leitung muß leiten. Andernfalls ... andernfalls ist es aus mit der Mannschaft, und es gibt keinen Joseph Kars mehr und keinen Captain Lloyd Phillips. Und keine Fracht für das Rad. Wir inspizieren jeden Einzelheit persönlich, Captain. Überrascht Sie das?«
»Nein. Dann war also etwas nicht in Ordnung?« »Wir waren nicht sicher, daß alles wirklich in Ordnung war.« »Gut, daß Sie das sagen. Ich möchte nicht gern berichten müssen, daß ich bei der Ausführung meines Befehls vorsätzlich behindert wurde. Nach General Ashleys Order sollte ich bereits gestern auf dem Kleinen Rad sein.« Kars sagte Phillips, was er mit General Ashley tun konnte. »Außerdem«, schloß er mild, »gibt es immer die Möglichkeit von Sabotage. Ein Mitglied der Mannschaft hält ständig Wache.« »Sabotage von seiten einer feindlichen Macht?« sagte Phillips überrascht. Kars' unergründliche schwarze Augen sahen ihn an. »Nachdem Sie all diese Vorschriften gelesen haben – glauben Sie – daß sich ein feindlicher Agent hier Zutritt verschaffen könnte?« »Hat Colonel Danton Ihnen das gesagt?« »Captain«, sagte Kars eisig, »das brauchte uns niemand zu sagen. Was den Colonel angeht – er ist einer der großartigsten Männer, die jemals lebten!« Als sie die Stufen zur Startplattform hinaufstiegen, ragte die Rakete so drohend gegen den Himmel, als wolle sie auf sie niederstürzen. »Sie mögen mich nicht, Leutnant«, sagte Phillips frei heraus. »Warum?« »Ich habe gar nichts gegen Sie, Captain«, entgegnete Kars ausdruckslos. »Ich bin weder für noch gegen Sie eingestellt abgesehen von einem ganz allgemeinen Widerwillen gegen Psychologen. Auf der Akademie bekam ich von ihnen genug. Sie stellen die falschen Fragen, Captain.
Wenn ich etwas gegen Sie habe, dann deshalb, weil Sie uns Platz wegnehmen, den wir auch für etwas Nützliches brauchen können. Müßten wir Sie nicht hinauftransportieren, dann wäre Raum für eine weitere Sauerstoffflasche zum Beispiel. Sauerstoff können wir atmen, Captain.« »Und ich bin totes Gewicht«, sagte Phillips fröhlich. »Okay, Leutnant. Der Mensch denkt, aber die Air Force lenkt. Auch ich habe meine Befehle, und ich hoffe, Sie werden damit genauso fertig wie ich.« Der Aufzug brachte sie hinauf, und sie kletterten durch die quadratische Luke. Kars schob Phillips zu einem der Sitze. »Das ist Ihrer«, sagte er und ging zum Pilotensitz weiter. Mit raschen, geübten Bewegungen schnallte Phillips sich an. Das würde es also sein: Ein Test für den Psychologen. Sollen sie ihren Spaß haben, dachte er. Sie werden ihn brauchen. Nach den endlosen Checks überraschte ihn der Start der Rakete. Kars hatte ihn nicht über Intercom angekündigt, und plötzlich lastete ein Tonnengewicht auf seiner Brust. Es preßte die Luft aus seiner Lunge und ließ ihn nicht wieder zu Atem kommen. Sein Kopf war leicht seitwärts gedreht und tief in die Kissen gedrückt, und er konnte ihn nicht bewegen. Draußen flammte die Nacht rot, gelb und weiß, bis er geblendet die Augen schloß. Das Schiff vibrierte und schüttelte sich, und das Gebrüll der Triebwerke durchfuhr jede Zelle seines gequälten Körpers. Nach einer Weile bemerkte Phillips, daß der Feuerschein draußen verschwunden war. Seine geblende-
ten Augen sahen nur rußige Dunkelheit. Dann senkte sich das Gewicht wieder auf ihn herab. Dieses Mal – die zweite Stufe war nun gezündet – dauerte der Druck fast eine Minute. Als die zweite Stufe abgesprengt war, holte Phillips tief und keuchend Atem. Der durch die dritte Raketenstufe erzeugte Druck war vergleichsweise unbedeutend. Dann hörte die Vibration plötzlich auf. Die Motoren verstummten, und Phillips fiel. Seine Hände umklammerten die Armlehnen. Es ist eine Illusion, redete er sich verzweifelt. Was seine Sinne in taumelndes Chaos stürzte, war die Abwesenheit von Beschleunigungsdruck und Gravitation. Sein Magen rebellierte. Bittere Säure stieg in seinen Mund, und trotz des Würgens in seinem Hals schluckte er ... Freier Fall, sagte er sich. Tatsächlich falle ich in dem Sinne, daß jeder Körper fällt, dessen Gravitationsbeschleunigung sich kein Widerstand entgegenstellt. Aber in Wirklichkeit stürze ich nach oben, hinauf in den Abgrund der Nacht, vor ihrem hungrigen Vakuum und ihren extremen Hitze- und Kältegraden durch starkes Metall und hochentwickelte menschliche Ingenieurkunst geschützt. Ja, es war ein Fall – aber nach oben! Phillips holte ein paarmal tief Luft. Ein ungemein wohliges Gefühl erfüllte ihn. Er gehörte zu den Glücklichen: Nach ein paar unangenehmen Momenten des Übergangs war Schwerelosigkeit für ihn ein Vergnügen. Er sah sich um. Neben ihm, auf der anderen Seite der zu den Pilotensitzen führenden Leiter, saß Grant. Dem Jungen ging es weit schlechter; sein Gesicht war
blaß, und seine Backenmuskeln hatten sich verkrampft. Dann kam aus dem Kopfhörer Kars' spöttische Stimme. »Okay, Captain?« »Alles bestens, Leutnant«, sagte Phillips munter. »Noch nie so einen guten Flug gehabt.« Den Anpflaumereien von dieser Seite war damit wohl ein Ende bereitet. Für Unterhaltung war nicht viel Zeit: Die Mannschaft war zu beschäftigt mit der Navigation und der Bestimmung des Zeitpunkts für den letzten Beschleunigungsstoß, der die Kreisbahn des Schiffes in eintausendsiebenhundert Kilometer Höhe stabilisieren würde. Für Phillips verging die Zeit schnell. Grant war immer noch nicht sehr gesprächig, und so beobachtete der Psychologe durch die klaren Fenster der Kanzel die Sterne. Die Sterne hatten ihn schon immer fasziniert, und hier waren sie so verschieden von den flimmernden Glühwürmchen, die sie von der Erde aus gesehen zu sein schienen. Hier war ihr Leuchten stetig und klar und farbig, und man glaubte fast, sie mit Händen greifen zu können. Aber auch das war eine Reaktion. Als Psychologe wußte er, daß Ashleys Glaubensartikel stimmte: Der Mensch war ein Erdenwesen. Nirgendwo außerhalb seines eigentlichen Lebensbereiches konnte er mehr als eine gefährdete Randexistenz führen. Kein anderer Boden vermochte ihn zu ernähren; keine andere Welt würde ihm jemals Heimat sein. Und selbst wenn es irgendwo im endlosen Universum eine Welt gab, wo Atmung und Nahrung nicht Gift für ihn waren und das empfindliche Gleichge-
wicht seines Metabolismus nicht gestört wurde ... selbst wenn die ungeheuren Probleme einer Reise zu den näher gelegenen Sternen – ja selbst zu den nächsten Planeten des Sonnensystems – gelöst wurden oder lösbar waren ... es mußte immer noch Menschen geben, die sich auf diese lange Reise ins Unbekannte hinauswagten. Und der Geist dieser Männer in den gewichtslosen metallenen Zellen konnte unter der Bedrängnis der Angst zerbrechen. Die beiden künstlichen Satelliten waren besondere Fälle. In sie hatte man eine der Erde vergleichbare Umwelt verpackt und mit ungeheurem Aufwand auf eine Kreisbahn um den Globus geschickt. Und wenn der psychologische Druck zu groß wurde, dann konnte ein Mann hinausschauen und sich an dem warmen Anblick seiner nur Stunden entfernten Mutter Erde trösten. Eine neue Stimme brach in Phillips' Gedanken. Sie gehörte niemandem von der Besatzung; deren Stimmen kannte er schon. Diese Stimme war heiter, fast übermütig. »Okay, Joe«, sagte sie. »Sie haben Ihre Peilung; sparen Sie nicht mit dem Hydrazin. Und seien Sie vorsichtig mit der Extrafracht.« Die Stimme lachte. »Wir wollen doch nicht, daß dem Botenjungen des Generals was passiert.« Die dritte Raketenstufe schwebte im gleißend hellen Sonnenlicht. Die Erde – unten? oben? – füllte den halben Himmel aus. Sie erinnerte Phillips an das Mosaik in General Ashleys Büro. Der Unterschied war nur, daß das, was er jetzt sah, Wirklichkeit war. Und er schwebte siebzehnhundert Kilometer über der Erde und ihren schwarzblauen Ozeanen, über den Wol-
ken, die fast den halben Planeten bedeckten, über den bräunlich-grünen Kontinenten, die an den Rändern der Halbkugel fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt waren. Die ganze Erdkugel war von weißlichem Dunst eingehüllt. Was er sah, war Wirklichkeit; es war majestätisch und fast beängstigend. Und dann war das das Rad – das schimmernd weiße, zweispeichige, sich langsam drehende Rad. Auf Phillips wirkte es wie der silberne Ring eines Giganten, der auf dem schwarzsamtenen Kissen der Nacht ruht. Phillips wartete auf das torpedoförmige Taxi, das ihn hinüberbringen würde. Unweit vom Rad befand sich ein großes, rundes Objekt aus Metall, das in der Sonne blitzte wie ein Spiegel. Aber es konnte kein Spiegel sein – keine Waffe, welche die Sonnenstrahlen auf eine feindliche Stadt konzentrierte, und auch kein Reflektor, der für Beleuchtung sorgen oder das Polareis erwärmen konnte. Das Objekt stand im rechten Winkel zur Erde. Hinter dem Rad war eine weitere Struktur zu erkennen. Phillips konnte nicht ausmachen, worum es sich handelte; das Rad verdeckte einen großen Teil davon. So viel konnte er sehen: Es war ein bizarr wirkender, aus Raketenmotoren und kugelförmigen Tanks zusammengesetzter Apparat. Ein Mann wartete in der schwerkraftfreien Zone der Nabe, um Phillips aus seinem Raumanzug zu helfen. Sein hartes Gesicht war tief gebräunt und sein Haar schneeweiß – eine Auswirkung der kosmischen Strahlung. Er trug den lose sitzenden Overall eines gewöhnlichen Raumfahrers. Der Anzug war am Kragen und an den Manschetten ausgefranst und wies
keine Rangabzeichen auf. Unvorschriftsmäßige Kleidung, dachte Phillips. Schlamperei. Der Mann war schlank und gut mittelgroß. Der Kontrast zwischen seinem gebleichten Haar und dem sonnverbrannten Gesicht sprang in die Augen. Tatsächlich sah der Mann dem kranken General Pickrell verblüffend ähnlich, bis hin zu den fleckigen Pupillen. Aber dann lächelte er, und die Ähnlichkeit schwand. »Captain Phillips?« fragte er, während er, ohne sich festzuhalten, vor ihm schwebte. »Colonel Amos Danton. Zu Ihren Diensten.« Phillips zuckte verblüfft zusammen. Um seine Überraschung zu verbergen, streckte er rasch seine Hand der hingehaltenen Rechten Dantons entgegen. Aber sie verfehlte ihr Ziel, und leicht verlegen mußte er es noch einmal versuchen. Muskeln lernen nicht schnell, dachte Phillips. »Freut mich sehr, Colonel Danton«, sagte er. »Ein Mißverständnis möchte ich, wenn Sie erlauben, gleich aufklären. Für einen Botenjungen bin ich ein wenig zu alt.« »Ich wußte nicht, daß es da ein Zeitgrenze gibt«, entgegnete Danton lächelnd. »Aber jetzt, da ich Sie sehe, bin ich geneigt, Ihnen zuzustimmen. Wissen Sie, ich bin aufrichtig bis zur Brutalität. Nehmen Sie's nicht zu ernst.« »Dann hoffe ich, daß Sie auch weiterhin aufrichtig zu mir sein werden, Colonel. Meine Aufgabe ist schwierig, und ich brauche dabei alle nur denkbare Hilfe.« »Ich weiß.«
»Wissen Sie, was meine Aufgabe ist?« fragte Phillips scharf. »Soll ich Ihnen Ihre Order zitieren?« »Spione?« »Nennen Sie sie Spione, wenn Sie wollen.« Dantons Miene war hart geworden. »Auch um mich herum gibt es Spione. Saboteure. Feinde.« Er holte tief Atem und zuckte schließlich die Achseln. Die Bewegung versetzte ihn in eine leichte Drehung, die er jedoch mühelos abfing. »Für uns sind das einfach gescheiterte Raumfahrer. Aber wer einmal Raumfahrer war, bleibt es auch.« »Als was würden Sie mich bezeichnen?« »Weder Fisch noch Fleisch, Captain. Sie sind ein Meeresbewohner mit Luftsäcken, die Sauerstoff aus der Atmosphäre ziehen können. Aber Sie wissen noch nicht so recht, ob es nicht schließlich doch besser wäre, wieder in den sicheren Schoß der See zurückzukehren.« »Ihrer Analyse und Ihrem Vergleich kann ich nicht zustimmen, Colonel.« »Das ist Ihr Recht. Aber diese Förmlichkeit macht mich nervös.« Seine Augenlider zuckten, während er sprach. »Wir halten hier nicht sehr viel davon. Also ... mein Name ist Amos. Ich werde Sie Lloyd nennen. Okay?« Phillips nickte und leitete damit eine Serie von langsamen Überschlägen ein, die er nicht zu stoppen versuchte, weil er nicht wußte, wie. Vielleicht würde es nicht so schwierig werden, wie er befürchtet hatte, dachte er. Danton mochte so verrückt sein, wie Ashley es glaubte, oder ein so großartiger Mann, wie Kars ihn beschrieben hatte. Arrogant schien er jeden-
falls nicht zu sein. Phillips glaubte eine Idee zu haben, wie er ihn zu seinem Verbündeten machen könnte. »Wenn Sie meine Order kennen, dann werden Sie, wie ich hoffe, auch dafür sorgen, daß ich die nötige Hilfe erhalte«, sagte er und kam sich wegen seiner Purzelbäume ziemlich komisch vor. »Sicher«, antwortete Danton. »Sie sind gekommen, um das Rad zu zerstören. Versuchen Sie es. Wenn Sie es fertigbringen, verdient das Rad nicht, noch weiter zu existieren. Man wird Ihnen helfen. Und wenn Ihnen einer der Jungs Schwierigkeiten macht, dann kommen Sie zu mir. Die mögen Sie nicht, das wissen Sie. Nicht nur, weil sie an diesem alten Rad hängen; aber es ist ihnen auch klar, daß Sie eine Arbeit behindern werden, die von großer Bedeutung ist, und daß Sie wichtigen Platz in Anspruch nehmen und wertvollen Sauerstoff und wertvolle Nahrung verbrauchen werden.« Seine Augenlider zuckten. »Aber sie werden mit Ihnen zusammenarbeiten – sonst ...« Als sei er des Gesprächs müde geworden, packte er plötzlich Phillips' Hand und zog mit einem Ruck daran, der seine Purzelbäume abrupt stoppte und ihn in eines der Speichenrohre katapultierte. Phillips gelang es gerade noch rechtzeitig, eine Sprosse der Strickleiter zu erwischen, die an der Seite des Tunnels entlanglief. Danton, der sich von der gegenüberliegenden Wand der Nabe abgestoßen hatte, war sofort neben ihm. »Danton in Speiche B mit einhundertsechzig Pfund Psychologie«, meldete er in ein Mikrophon. Und zu Phillips gewandt fügte er hinzu: »Wir müssen Sie unterbringen. Ich gebe Ihnen die Kabine neben meiner. Sie ist klein und unbequem, aber etwas Besseres
haben wir nicht. Sie werden nicht ganz so ungestört bleiben, wie Sie es gern möchten, fürchte ich. Aber so ist das nun einmal hier oben.« »Niemand wird ganz ungestört bleiben«, sagte Phillips rasch, während sie sich an der Leiter entlangzogen. Ihr Gewicht nahm zu, je mehr sie sich dem Radkranz näherten. »Ich brauche freien Zugang zu sämtlichen Teilen des Rades. Ich werde einen Plan für Einzelinterviews mit jedem der Leute hier aufstellen; außerdem möchte ich mit der Mannschaft essen.« »Die Jungs haben schon ziemlich viel durchgemacht. Da werden sie wohl auch das überleben. Sie haben völlige Bewegungsfreiheit. Aber der Offizier von der Gewichtskontrolle hat Order, Sie zu überprüfen, wenn Sie Ihre Kabine verlassen. Die Möglichkeit der Sabotage, verstehen Sie?« Die Kabine war unglaublich winzig. Verglichen mit ihr waren die Dritterklassequartiere des Großen Rades luxuriös. Hier gab es nur Platz für eine Pritsche, einen Tisch und einen Stuhl. Zog man die Pritsche hoch, dann konnte man den Tisch und den Stuhl herunterklappen. War alles das aus dem Weg geräumt, dann konnte man sogar zwei Schritte gehen – wenn sie nicht allzu groß waren. Wenn man der Aufschrift an der Tür glauben konnte, hatte die Kabine zuvor den Raketensteueroffizier beherbergt. Die Aussicht bildete zu dem kärglichen Interieur einen höchst angenehmen Kontrast. Wenn er den Schutzschild vor der Sichtluke öffnete, breitete sich das Universum vor seinem Blick aus – eine dunkle Unendlichkeit mit vielen freundlich leuchtenden
Lichtern. Und wenn das Rad sich wieder gedreht hatte, schwebte der große schöne Erdball vor ihm – so nahe, daß er ihn mit beiden Händen glaubte umfassen zu können, wäre da nicht das dicke Glas der Luke gewesen. Gelegentlich hörte er durch die dünne metallene Zwischenwand, wie Danton sich in der Nachbarkabine bewegte. Ungestörtheit! Das Wort kam ihm vor wie blanker Hohn, und Phillips war froh, daß er ein Ohrmikrophon für seinen Recorder hatte. War seine Kabine schon winzig, so waren die Unterkünfte der Mannschaft einfach unmöglich. Wie Landstreicher, die sich im Obdachlosenasyl stundenweise ein ungezieferverseuchtes Bett mieten, schliefen die Leute auf ihren vom Vorgänger her noch warmen Pritschen. Wenn sie hineinkrochen, waren ihre Gesichter knapp fünfzehn Zentimeter von der Leinwand der darüberhängenden Pritsche entfernt. Zumindest gab es kein Ungeziefer. Das Essen – es bestand in der Hauptsache aus gefrorenen Mahlzeiten, damit ein Koch und der zur Zubereitung nötige Raum gespart werden konnte – war überraschend gut. Aber selbst die Einteilung in Schichten konnte nicht verhindern, daß die winzige Messe ständig überfüllt war. Am besten war es, man aß im gleichen Takt mit den anderen, damit man sich nicht dauernd gegenseitig behinderte. Vor Duschen und anderen sanitären Einrichtungen mußte man Schlange stehen, und Vergnügungsmöglichkeiten gab es so gut wie keine. Hin und wieder kam es zu einem kurzen gravitationslosen Handballspiel in der Nabe – ganz gegen alle Vorschriften, aber selbst Danton machte da mit – und auch riskantere
Spiele in Raumanzügen oder in den kleinen zweistrahligen Zubringerfahrzeugen draußen wurden gespielt. Und natürlich spielte man Karten, Dame und Schach auf den Pritschen, wahrscheinlich sogar Poker. Das Letzte war eine Vermutung. Die Männer sprachen nicht miteinander, wenn Phillips dabei war. Sie musterten ihn nur mit kaltem Blick oder ignorierten ihn völlig. Selbst wenn er sie in seine sorgfältig vorbereitete Kabine bat – die Knetmasse für den Rorschachtest lag auf dem Tisch, der Recorder hing darunter –, waren sie mürrisch und einsilbig. Sie wußten, was er von ihnen wollte, und sie nahmen es ihm sehr übel. Daß sie überhaupt kamen, war nur Dantons ausdrücklichem Befehl zuzuschreiben. Phillips nahm alles auf Band auf. Ashley würde begeistert sein, dachte er. Alle klangen sie depressiv bis an die Grenze des Irreseins. Keiner von ihnen begriff, daß die Knetmasse, die sie mit ihren Fingern bearbeiteten – da sie durchwegs zwanghaft handelten, ergriffen sie alles, was in Reichweite lag, um ihre Hände zu beschäftigen – ihre innere Verfassung deutlicher offenbarte als alles, was sie hätten sagen können. Alumbaugh, Baker, Chapman, Dean – einen nach dem anderen diagnostizierte Phillips sie an Hand der gekneteten Klumpen, die sie hinterlassen hatten. Die Psychologie hatte im letzten Vierteljahrhundert gewaltige Fortschritte gemacht; aus den vom Patienten zu interpretierenden Rorschachflecken waren Rorschachklumpen geworden, und Phillips konnte die Mitglieder der Besatzung genau einordnen: Schizo-
phrene, Zykloide, Paranoide, Homosexuelle, Sadisten, potentielle Selbstmörder ... alle waren sie ohne Ausnahme Psychopathen. In gewisser Weise war die Aktion unfair – zum Teil jedenfalls. Die Moral der Mannschaft war besser, als man es bei Männern erwarten konnte, die täglich zwölf bis sechzehn Stunden schwer arbeiten mußten und unter Bedingungen lebten, die in einem Gefängnis nur als unzumutbar hätten gelten können. Andererseits war sie nicht so gut, wie sie es bei Betreuung durch einen erfahrenen Psychologen hätte sein können. Klar war eines: Phillips selbst hätte diese Männer nicht mit Entscheidungen betraut, welche die Sicherheit auch nur einer kleinen Stadt hätten tangieren können. Er hatte jetzt keinen Zweifel mehr: Hier handelte es sich um instabile Persönlichkeiten in einer künstlichen, geradezu widernatürlichen Umwelt. Es war ein Dilemma: Männer, die vor den Belastungen und dem täglichen Entscheidungszwang des Lebens auf der Erde die Flucht ergriffen hätten, mußten charakterliche Defekte haben. Andererseits konnten nur solche Männer den Weltraum erobern, weil nur sie den Willen dazu hatten, und deshalb konnten nur solche Männer mit der Verantwortung für die Zukunft der Erde betraut werden. Wenn das Bild vom Pulverfaß jemals zutraf, dann hier. Es wartete nur auf den Funken, der es zur Explosion bringen und die Welt, die geschützt werden sollte, vernichten würde. Ausweg gab es nur einen: Die Eroberung des Weltraums würde der Sicherheit der menschlichen Rasse geopfert werden müssen.
Es war Ashleys Entscheidung, aber Phillips fand sie bestätigt. Das Problem war, wie er seine Erkenntnisse ausreichend deutlich machen konnte. Die aufgezeichneten Interviews, seine Notizen und Beobachtungen, die Ergebnisse der Rorschachtests – vielleicht genügten sie, um das Gremium zu überzeugen, das über das Schicksal des Rades zu entscheiden hatte, wenngleich Laien die Knetprodukte der Rorschachtests mit dem gleichen Argwohn beobachteten, die Analphabeten früher für Bücher hatten. Aber Phillips wollte mehr: Zum Beispiel die Privatgespräche der Besatzungsmitglieder abhören, wenn sie allein waren. Aber er verfügte nicht über die nötigen elektronischen Kenntnisse, um in den Schlafquartieren und in der Messe wirklich funktionsfähige »Wanzen« anbringen zu können. Mit Dantons Hilfe konnte er das fertigbekommen; aber zuvor mußte er sicher sein, daß seine Beweise hinreichten, um eine derartige Entscheidung berechtigt erscheinen zu lassen. Nur dann konnte er sich der Gefahr aussetzen, seine Analyse Dantons nicht bestätigt zu finden. Phillips trieb sich im Außenring des Rades herum und suchte nach irgend etwas, worauf er deuten und sagen konnte: »Sehen Sie? Hier hat jemand dem Druck nicht mehr standgehalten. In einer unbewußten Dramatisierung seines paranoiden Aggressionsdrangs oder seines Selbstmordimpulses hat er dies getan oder jenes zu tun vergessen. Dies hätte der Akt sein können, der jedes lebende Wesen auf der Erde vernichtet hätte – wenn auch der Zufall es anders wollte.« Aber es gab nichts, worauf er deuten konnte.
So neurotisch die Besatzungsmitglieder auch waren, so psychopathisch viele von ihnen zu sein schienen – ihre Aufgaben führten sie aus und vergaßen nichts. Die Teile des Kleinen Rades, die lebenswichtig für die Besatzung waren – und das waren fast alle – befanden sich in ausgezeichnetem Zustand. In besserer Verfassung jedenfalls als die Männer, die sie zu warten hatten. Im Kraftwerk, wo Sonnenstrahlung durch einen trogartigen Spiegel auf einen Quecksilberboiler konzentriert wurde, war kein Stäubchen zu finden. Die Klimaanlage, die der Luft Feuchtigkeit und Kohlendioxyd entzog und dem Raketeninneren frischen Sauerstoff zuführte und den Luftdruck aufrecht erhielt, wurde gewartet wie ein empfindliches Baby. Der Pumpenraum schimmerte blitzblank, und die Wasserrückgewinnungsanlage gurgelte zufrieden vor sich hin. Und dann kam Phillips zur Erdbeobachtungsstation. Die Visorschirme waren eingeschaltet, doch das Teleskop war nicht richtig justiert. Das Bild des Gebietes, über dem sich das Rad befand, war verschwommen, unbrauchbar. Nur ein einziger Mann schien hier Dienst zu tun. Er schlief friedlich auf einem Stuhl neben der Schleuse, welche die Erdbeobachtung von dem trennte, was früher die Wetterstation gewesen war und jetzt als Schlafquartier für zweiunddreißig Männer diente. Phillips packte den Mann an der Schulter und schüttelte ihn wach. Sobald sich seine Augenlider bewegten, fuhr er ihn an: »Name und Dienstrang?«
Benommen stand der Mann auf. »Raumfahrer Erster Klasse Miguel Delgado, S – Sir!« Dann erkannte er Phillips. Mit einem Ruck entzog er ihm seine Schulter und ließ sich wieder auf seinen Stuhl niederfallen. »Ach, Sie sind es bloß«, sagte er dann gedehnt. »Haben Sie hier Dienst?« »Ja, Captain.« »Nur Sie?« »Sehen Sie sonst noch jemand?« »Sie wissen, was auf Schlafen während des Dienstes steht?« »Was der Colonel sagt.« »Der Colonel hat damit gar nichts zu tun. Auf Schlafen im Dienst steht automatisch Kriegsgericht. Das Strafmaß reicht bis zur Todesstrafe.« »Der Colonel wird das entscheiden«, wiederholte Delgado hartnäckig. »Was der Colonel sagt, ist recht.« »Ihre Loyalität gegenüber Colonel Danton in Ehren. Nur schade, daß ihr keine ebenso große Loyalität zu Ihrem Vaterland und der Air Force entspricht.« »Was soll das Theater wegen so 'nem kleinen Nikkerchen?« sagte Delgado achselzuckend. »Das ist doch wirklich nicht schlimm.« »Es gibt nichts Schlimmeres. Wenn Sie nun wegen Ihres kleinen Nickerchens dort unten eine Raketenbasis übersehen? In dieser Minute könnten die Geschosse über Washington sein oder über Ihrer eigenen Heimatstadt.« »Wer sollte denn so was tun?« meinte Delgado erstaunt. Phillips gab auf. »Wo ist der Raketenoffizier?« »Wer?«
»Der Raketenoffizier. Laut Ihrem Organisationsplan untersteht ihm die Erdbeobachtung.« Delgado schüttelte störrisch den Kopf. »Nie gehört. Da müssen Sie den Colonel fragen.« »Das werde ich tun!« Phillips drehte sich auf dem Absatz um, Delgados unterdrücktes Gähnen geflissentlich übersehend. Es war Zeit, ein Wort mit Danton zu reden. Phillips hatte nur ein paar Schritte zu gehen. Hinter der nächsten Tür befand sich der Himmelsbeobachtungsraum. Danton saß bewegungslos vor einem der Vergrößerungsbildschirme. Phillips machte die Tür hinter sich zu. »Colonel!« sagte er scharf. Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, gebot ihm Danton mit einer Geste Schweigen. »Sch-sch!« Phillips war mit zwei Schritten bei ihm. »Amos! Es ist wichtig!« Auf dem Bildschirm war, rötlich und scharf, vergrößert ein Marsquadrant zu sehen. »Oh, Sie sind's, Lloyd«, sagte Danton. »Was kann ich für Sie tun?« »Eine bessere Frage wäre: Was kann ich für S i e tun?« erwiderte Phillips grimmig. »Okay«, sagte Danton freundlich. »Was können Sie für mich tun?« »Ich kann Ihnen folgendes melden: Vorgesetztenmißachtung in Ihrem Kommando, stark gesunkene Dienstmoral der Besatzung und eine mögliche Katastrophe.« »Na, na«, sagte Danton, und seine Augenlider zuckten. »Ganz neu ist das nicht. Der Respekt vor Vorgesetzten ist auf dem Kleinen Rad nie sonderlich groß gewesen. Uniform und Rangabzeichen genügen
hier draußen nicht; man muß sich auf andere Weise Respekt verschaffen. Und die Dienstmoral ... die verschlechtert sich seit eh und je. Und eine Katastrophe steht ständig bevor. Noch etwas?« »Ich habe eben ein Mitglied der Mannschaft auf Wache schlafend angetroffen.« Phillips beobachtete Danton genau. Dieses Mal reagierte er auf angemessene Weise. Mit einem Ruck stand er auf. »Wo?« »In der Erdbeobachtung.« Danton sank auf seinen Stuhl zurück. »Oh! Zu dumm.« »Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben – zu dumm?« »Wer war es?« »Miguel Delgado – ein instabiler, unfähiger, unverfrorener Kerl, dem ein so verantwortungsvoller Auftrag von vornherein nicht hätte übertragen werden dürfen.« »Nun, Lloyd, wir müssen eben nehmen, was wir haben. Wir sollten wohl nicht zu streng gegen ihn sein. Er hat gerade acht Stunden härtester Arbeit draußen beim Satellitenbau hinter sich, und jetzt muß er noch sechs Stunden lang einen langweiligen, unwichtigen Job tun ...« »Unwichtig?« »Unwichtig für ihn.« »In der Air Force, zu der ich gehöre, steht es unteren Dienstgraden nicht zu, die Wichtigkeit ihrer Aufgabe zu beurteilen«, erwiderte Phillips scharf. »Vermutlich weiß er, daß dieser Job auch für mich unwichtig ist.« Phillips musterte das sonnverbrannte Gesicht unter
dem weißen Stoppelbart. Für seine Jahre sah Danton sehr alt aus. Phillips hätte viel darum gegeben, hätte er seine Gedanken zu erraten vermocht. Er wünschte, Danton in seine Kabine holen zu können, den Recorder unter dem Tisch und die Rorschachknetmasse darauf, und er wünschte auch, sicher zu sein, daß Danton wirklich so paranoid war, wie es den Anschein hatte. Aber vorerst mußte er auf der Basis dieser Annahme handeln. »Ich verstehe Sie nicht, Amos. Sie haben hier den schwierigsten Job, den ein Colonel in der Air Force haben kann – den verantwortungsvollsten überhaupt. Und Sie scheinen gar nicht beeindruckt zu sein.« »Vielleicht sehen meine Wertvorstellungen ein bißchen anders aus als die Ihren«, beschied ihn Danton. »Daraus kann ich nur einen Schluß ziehen: Die zwölf Jahre hier – ohne Urlaub, ja überhaupt ohne Pause – müssen Ihre Urteilsfähigkeit beeinträchtigt haben.« Danton wollte etwas erwidern, aber Phillips hinderte ihn mit einer Geste daran und beeilte sich, das schwere Geschütz aufzufahren, das er sich für diesen Moment in Reserve gehalten hatte: »Es braucht Sie nicht zu verwundern, daß ich aus Ihren Akten General Pickwells Befehl an Sie kenne. Aber eines sollten Sie wissen: Dieser Befehl ist zerrissen ... ist außer Kraft gesetzt worden. Sie können nach Hause gehen, wann immer Sie wollen.« Einen Augenblick lang starrte ihn Danton verständnislos an; dann begann er zu lachen. Und sein Lachen war nicht irre; es war nicht einmal hysterisch. Es war das Lachen eines Mannes, der eben etwas unvorstellbar Komisches gehört hat.
Schließlich wischte sich Danton die Tränen aus den Augen und fragte mit mühsam wiedergewonnener Fassung: »Sie glauben also, mich kaufen zu können? Sie glauben also wirklich, sich für ein paar lausige Wochen auf der Erde meine Mitwirkung bei der Zerstörung des Rades einhandeln zu können?« »Das war nicht –« begann Phillips, aber dieses Mal war es Danton, der ihm mit einer Handbewegung Schweigen gebot. »Ich habe Sie angehört; jetzt hören Sie mir zu: Ja, es stimmt – General Pickwell hat mir diesen Befehl gegeben, und aus guten Gründen, wie ich Ihnen eines Tages vielleicht erläutern werde. Später wurde dieser Befehl für mich eine Art Treppenwitz. Jedenfalls hat er mir nie angeboten, ihn aufzuheben, und ich habe ihn auch niemals darum gebeten. Warum sollte ich nach Hause zurückwollen? Zwei Jahre, nachdem ich hierher kam, starb meine Mutter – ja, Lloyd, ich stamme aus einer gescheiterten Ehe –, und dort unten gibt es nichts mehr, was mir wichtig genug wäre, daß ich dafür auch nur von einer Seite des Rades zur anderen ginge. Nach Hause zurück, Captain? Hier bin ich zu Hause.« »Und aus eben diesem Grunde stellen Sie ein Risiko dar, Amos.« »Die Eroberung von Neuland ist immer mit Risiken verbunden.« »Ich spreche nicht von dieser Art Risiko. Es geht mir um die Gefahr für die Erde.« Danton lächelte. »Lassen Sie's gut sein! Ich kann Ihnen alles, was Ashley Ihnen sagte, auswendig vorbeten. Er hat es mir weiß Gott oft genug wiederholt: Unter keinen Umständen werden Sie selbständig
handeln, ganz gleich, wie groß die Provokation ist. Sie warten auf Order der verantwortlichen Stellen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, Colonel, daß mir der Gedanke, die letzte Entscheidung könnte von einem Mann gefällt werden, der weder vom Charakter noch von seiner Ausbildung her dafür qualifiziert ist, wenig Vergnügen bereitet.« Danton verstummte. Er starrte wie blind auf den Bildschirm. »Ashley hat eine sehr unschöne Art, eigene Wünsche und Charakterzüge in das Bild, das er sich von seinen Untergebenen macht, hineinzuprojizieren. Wer würde eine Rakete abschießen ohne die Order der zuständigen höchsten Stelle – ohne doppelte und dreifache Bestätigung dieser Order?« »Ein Neurotiker vielleicht. Jeder, der hier oben sitzt und ständig den Finger am Drücker hat, könnte unter dieser Belastung zerbrechen. Auch Sie, Amos, selbst wenn Sie sich noch so sicher sind, Ihre Heimat hier im Weltraum gefunden zu haben. Sie haben die Macht, sich zum Diktator oder zum Zerstörer der ganzen Welt zu machen.« Danton schienen diese Worte fröhlich zu stimmen. »Zum Diktator vielleicht, ja – aber für wie lange? Es gibt Neurosen und Neurosen, Lloyd. Manche sind gefährlich, manche nur funktionell. Höhenangst zum Beispiel hat schon viele daran gehindert, sich in die Tiefe zu stürzen. Ich bin nun einmal der Ansicht, daß unsere Art von Neurose nur dann gefährlich ist, wenn sie sich kein Ventil verschaffen kann.« »Unglücklicherweise«, hielt ihm Phillips entgegen, »sind Sie kein ausgebildeter Psychologe. Nach meiner Auffassung ist das Kleine Rad einem Zustand der Instabilität gefährlich nahe. Sie geben sich große Mühe,
das Rad genau ausbalanciert zu halten. Viel wesentlicher ist aber noch, daß die Männer im Rad sich in einem Zustand inneren Gleichgewichts befinden. In diesem Kommando, bei dem sich die Mannschaft durch schlampige Dienstauffassung, herausforderndes Verhalten und mangelnden Respekt vor Vorgesetzten auszeichnet, ist es Ihnen gelungen, bei Ihren Männern eine Einstellung großer persönlicher Loyalität zu schaffen. Vielleicht können Sie sie unter Kontrolle halten. Doch überlegen Sie bitte eines: Was würde geschehen, wenn Sie getötet oder plötzlich abberufen würden?« Phillips fiel Ashleys gequälter Blick ein, als er gemurmelt hatte: »Und wenn er sich weigert?« »Diese Männer sind nervös, reizbar und instabil«, fuhr er hastig fort. »Das Rad ist ein Pulverfaß, das auf den zündenden Funken wartet.« Als Danton jetzt Phillips ansah, lächelten seine Lippen, aber der Blick seiner fleckigen Augen war hart. »Nervös – sicher. Reizbar – vielleicht. Aber instabil – nein! Druck, dem man ein Ventil verschafft, bildet keine Gefahr. Nur wenn jeder Ausweg verschlossen ist, kommt es zur Explosion. Natürlich sind wir nervös, aber wir haben ein Recht dazu. Wir sind Gefahren ausgesetzt, die man unten nicht kennt. Wir sind uns der Unzulänglichkeit unserer Umwelt bewußt, denn wir haben sie mit uns gebracht. Wir leben in einer hohlen Welt von achtzig Metern Durchmesser; ihre Wände sind nur ein paar Zentimeter dick, und das meiste davon ist Luft. Gefährliche Strahlung, Meteoriten, Erstickung – wir sehen ständig dem Tod ins Auge. Wenn ich keines gewaltsamen Todes sterbe, Lloyd,
dann werde ich keine sechzig. Mir macht das nichts aus. Ich möchte nirgendwo anders sein, und wenn ich dort zweimal so lange leben könnte. Diese Nervosität, von der Sie da reden – ich nenne sie Gefahrenbewußtsein. Und solange wir auf diese Weise nervös sind, bleiben wir am Leben – jedenfalls die meisten von uns. Man braucht vor uns keine Angst zu haben unten. Für uns ist es zu wichtig, selbst am Leben zu bleiben.« Das Timing war perfekt. Zu perfekt, dachte Phillips gerade noch, als der Alarm mit schrillem Geklingel und blinkenden Warnlichtern losbrach. Danton zuckte zusammen, und Phillips starrte besorgt auf die dünnen Wände. Instinktiv hielt er den Atem an. Als er gewiß sein konnte, daß das, was ihn vom todbringenden Vakuum trennte, noch intakt war, war Danton schon am Wandtelefon. »Wo ist es?« rief er. »Okay. Ich bin sofort da. Sorgen Sie für genügend Luftdruck und lassen Sie Markierungsgas ab.« Phillips hatte sich noch nicht aus seiner Erstarrung gelöst, da war Danton bereits bei der Tür. Die scheinbar chaotische Verwirrung, die nun ausbrach, führte jedoch rasch zu Ergebnissen. Die automatischen Türen des Gaslaboratoriums wurden geschlossen. Ein Meteor hatte eine seiner Wände durchschlagen, deren Schutzschild normalerweise neunundneunzig Prozent der auf das Rad auftreffenden Partikel standhielt. Notventilatoren verhinderten ein zu großes Absinken des Luftdrucks, so daß die Männer im Laboratorium ausreichend Zeit hatten, Sauerstoffhelme aufzusetzen, die Löcher mit
Hilfe des harmlosen farbigen Gases, das in die Sektion geblasen wurde, aufzuspüren und auszubessern. Aber etwas war schiefgegangen. »Was ist los?« fragte Danton. Jenseits der luftdichten Tür verrichtete eine Gruppe von Männern unverständliche Arbeiten. Ein verschwitztes Gesicht wandte sich zu ihnen. Phillips erkannte Leutnant Chapman, den Luftkontrolloffizier. »Ich weiß nicht. Sie scheinen ohnmächtig zu sein. Fred ist drin und der junge Grant. Ich kann nur ein Stöhnen hören. Ich habe zwei Männer hinausgeschickt, die versuchen, die Lecks von dort aus zu stopfen. Bis dahin können wir die Tür nicht öffnen.« Er wandte sich an den Mann neben ihm, der sich einen Kopfhörer ans Ohr hielt. »Der Luftdruck steigt. Ja, da kommt der Bericht. Das Loch ist verstopft. Noch ein paar Minuten.« »Loch?« fragte Danton leise. Chapman sah ihn an und sagte: »Ja, Sir. Eins.« Endlos langsam verging die Zeit. »Okay«, sagte Chapman schließlich. »Macht auf.« Die Tür öffnete sich. Rötlicher Nebel trieb heraus. Phillips schnüffelte vorsichtig, aber er war geruchlos. Sekunden später wurden zwei Männer hereingebracht. Der eine hing barhäuptig und schlaff in den Armen eines Helfers, der die hier nur ein Drittel des Erdengewichts wiegende Last mit Leichtigkeit zu befördern vermochte. Der andere trug einen Helm und konnte sich, wenn auch mühsam, mit eigener Kraft bewegen. »Nun, worauf warten Sie?« fragte Danton ungeduldig. Phillips blickte auf. Danton sah ihn stirnrunzelnd
an. »Sie sind doch Arzt. Kümmern Sie sich um den Mann.« Er deutete auf den Bewußtlosen, den man vorsichtig auf den Boden gelegt hatte. »Der andere hat einen Schock erlitten«, wandte Phillips ein. »Er braucht ebenfalls Hilfe.« »Er wird schon durchkommen«, sagte Danton grimmig. »Nicht, daß mir sehr viel daran liegt. Aber Fred ist wichtig.« Als Phillips weiter zögerte, drängte ihn Danton grob zu dem Mann am Boden. »Na los, machen Sie schon!« Phillips begann, ihn zu untersuchen. »Sie verstehen wohl nicht, Phillips?« fragte Danton, dessen Stimme jetzt wieder ganz ruhig war. »Als der Meteor einschlug und die Luft zu entweichen begann, vergaß Grant alles, was er jemals gelernt hatte. Fred verschwendete kostbare Sekunden damit, ihm einen Helm über den Kopf zu stülpen. Und dann hatte er nicht mehr genügend Zeit, sich selbst einen aufzusetzen.« Phillips blickte auf. Inzwischen hatte man Grant den Helm abgenommen. Sein junges Gesicht sah nun nicht mehr lebhaft und offen aus. Aus seiner Nase lief Blut über Mund und Kinn. Seine Augen waren weit aufgerissen, schienen aber nichts wahrzunehmen. Seine Lippen bewegten sich, doch brachte Grant keinen Laut hervor. Der einzig normale Mensch im Rad, dachte Phillips, und ich kann ihm nicht helfen. »Er handelte unter Schock!« rief er zornig. »Raumfahrer handeln nicht unter Schock. Wir können uns das nicht leisten. Unser Leben hängt von unserer Fähigkeit ab, in einem Katastrophenfall rasch und richtig zu handeln, wo andere einen Schock erlei-
den könnten. Wer das nicht schafft – und zwar jedesmal –, der gehört nicht hierher.« Phillips stand langsam auf. »Was ist?« fragte Danton barsch. »Er ist tot«, sagte Phillips. Im nächsten Sekundenbruchteil schlug Danton Grant mit aller Wucht die Hand ins Gesicht. Der Blick des Jungen blieb leer, während seine Wange sich langsam rötete. »Du dreckiger Spion!« schrie Danton. Als Phillips auf Grant zustürzen wollte, fuhr Danton herum und starrte ihn mit irren Augen an. Phillips blieb stehen. Im nächsten Moment hatte sich Dantons Atem wieder beruhigt. Fast ruhig sagte er zu Chapman: »Bringt ihn zur Ersten Hilfe. Wenn er wieder bei sich ist, soll er sofort seine Sachen packen. Er fliegt hier raus.« »Er muß unverzüglich behandelt werden«, stieß Phillips mühsam beherrscht hervor. »Serum und –« »Kriegt er. Kommen Sie mit.« Widerwillig folgte Phillips Danton zur Gewichtskontrolle und dann durch die Speiche zu seiner – Phillips' – Kabine. Danton stieß die Tür auf, als sei sie seine eigene. Er stürmte hinein und blieb dann mit dem Rücken zur abgeschirmten Sichtluke stehen. Als Phillips die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte Danton wie beiläufig: »Jetzt glauben Sie, ich sei zu hart gegen den Jungen gewesen.« Phillips' Hand ging hinter seinem Rücken zum Recorder unter der Tischplatte und schaltete ihn ein. »Allerdings«, erwiderte er. »Das Leben hier draußen ist hart; deswegen müs-
sen auch wir hart sein, um am Leben zu bleiben. Ich mache dem Jungen keinen Vorwurf, weil er sich dumm verhielt. Auch ich war einmal ein junger, unerfahrener Tropf und wurde deswegen fast nach Hause geschickt. Wenn ich ihn zurückschicke, dann deshalb, weil er nicht instinktiv das Richtige tat: Er hielt die Luft an, statt auszuatmen – sie sahen, wie er aus der Nase blutete. Das hat die Ausdehnung der Gase in seiner Lunge bewirkt; sie hätte davon zerplatzen können. Ich werfe ihm vor, daß er seinen Nothelm nicht aufsetzte. Und ich werfe ihm vor, einen Mann getötet zu haben – einen guten Mann, den zu verlieren wir uns einfach nicht leisten können.« »Sie hätten ihn nicht schlagen sollen.« »Hab ich ihn geschlagen?« fragte Danton überrascht. Er schien die Antwort aus Phillips' Gesicht zu lesen. »Das tut mir leid.« »Und daß Sie ihn einen Spion genannt haben?« »Das auch noch? Das hätte ich auch nicht tun sollen.« Danton verzog den Mund, aber es war keine Fröhlichkeit in seinem Lächeln. »Der Junge wird nach Hause geschickt. Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt mit Ihnen darüber debattiere. Sie sind es ja, der uns alle nach Hause schicken will.« »Ich nicht. General Ashley.« »Ach ja, General Ashley. Mit dem werden wir noch einigen Spaß haben.« Danton trat einen Schritt näher und ergriff wie geistesabwesend ein Stück der Knetmasse auf dem Tisch. »Wir haben Ihre Papiere mit großem Interesse gelesen.« »Bekommen Sie hier die psychologischen Fachblätter?« »Mikrofilme von Dingen, die uns interessieren.
Viele von uns möchten doch ganz gern wissen, warum Sie überhaupt hierher gekommen sind. Sie haben sich mit zerrütteten Familien und Unsicherheit und Neurosen befaßt. Aber die Antwort haben Sie auch nicht gefunden.« »Was macht Sie so sicher?« »Das ist zu simpel. Menschen sind nicht so einfach. Das ist wie bei einem Neandertaler, der jedesmal, wenn es regnet, einen Regenbogen bemerkt und deshalb glaubt, daß der Regenbogen den Regen macht. Der Regen gehört dazu, aber die Sonne ist wichtiger. Sie spendet die Energie. Und die Impulse, die einen Mann anders machen – Abenteuerlust, Kriminalität oder einfach Größe –, die können Sie nicht schlichtweg auf Ursache und Wirkung reduzieren. Nehmen Sie alle Ursachen weg, und Sie haben immer noch ein undefinierbares Etwas. Es ist das, was den Menschen zum Menschen macht – das Fragen, das Suchen.« »Aber Sie können doch einfach nicht wegdiskutieren, daß Sie hier oben wie Kinder sind, die Forscher spielen – nicht reif genug, um mit den Alltagsproblemen des Lebens unten fertig zu werden.« Aber Danton ließ sich nicht ködern. Als er lächelte, sah es aus, als sei er wirklich belustigt. »So kommen wir Ihnen also vor? Nun, vielleicht stimmt es. Jedenfalls wäre es sehr traurig für die menschliche Rasse, wenn sämtlicher Fortschritt auf Kinder zurückginge, die weglaufen, um auf der anderen Seite des Berges etwas Neues und Schönes zu suchen. Haben Sie sich jemals gefragt, Lloyd, warum General Ashley sich ausgerechnet Sie für diesen Job herausgesucht hat – einen fähigen Offizier, das wollen wir gern einräumen, aber jedenfalls einen kleinen
Air-Force-Captain?« »Ich bin ein junger Mann. Ich kann mich gut anpassen.« »Könnte es sein«, fragte Danton sanft, »daß er von vornherein sicher war, was für einen Bericht Sie ihm bringen würden ... daß er ihren Ruf und Ihre Überzeugungen kannte?« Schweigen trat ein. Schließlich zuckte Phillips die Achseln und sagte: »Wie dem auch sei. Ich fahre mit dem nächsten Schiff zurück. Was ich brauche, habe ich jetzt. Und der Bericht, den ich nach Hause mitbringe, ist so, wie ihn jeder andere kompetente Psychologe ebenfalls abgefaßt haben würde.« Er sah Danton herausfordernd an. »Keine Sorge«, sagte Danton und lachte leise. »Wir halten Sie nicht auf. Wir könnten das, aber wir wollen nicht. Ashley würde einfach noch jemand anderen schicken, und mit dem kämen wir vielleicht nicht so gut aus. Was werden Sie ihm erzählen?« Phillips musterte Danton einen Augenblick lang. Was die Frage der Paranoia anbelangte, so war die Beantwortung klar. Unsicher war nur, ob er genügend Beweise hatte, oder ob er riskieren konnte, Danton bis zum kritischen Punkt zu treiben. Er entschied sich für das Risiko. »Das Große Rad hat alle Ihre nichtmilitärischen Funktionen übernommen: Wetterbeobachtung, wissenschaftliche Untersuchungen, Ausstrahlung von Radio- und Fernsehprogrammen ...« »Und es verdient Geld damit.« »Wenn das Kleine Rad außer Observation und Raketensteuerung keine Funktion hat«, fuhr Phillips fort, »dann hat es keine Existenzberechtigung mehr.
Es kann diese Dinge nicht gut genug tun, und die bloße Existenz solcher Funktionen stellt eine ständige Quelle der Versuchung dar. Ich kann für die geistige Gesundheit der Männer hier nicht geradestehen.« »Für wessen geistige Gesundheit können Sie denn dann garantieren?« fragte Danton sichtlich ermüdet. »Sie haben General Ashley erlebt und auch mich. Wessen Finger würden Sie lieber am Abzug sehen?« »General Ashley wurde für diese Funktion ausersehen.« Dantons Augenlider zuckten. »Von wem denn? Der einzige, der General Ashley für diese Funktion ausersehen hat, war General Ashley selbst.« »Er ist von einer demokratischen Regierung auf ordnungsgemäße Weise ernannt worden«, beharrte Phillips hartnäckig. »Niemand darf es gestattet werden, seine eigenen Ansichten und Entscheidungen über die desjenigen Mannes zu stellen, bei dem allein die legitime Entscheidungsbefugnis liegt.« »Selbst wenn dieser ›auf ordnungsgemäße Weise ernannte‹ Amtsträger ganz offensichtlich von Agoraphobie und Größenwahnsinn geplagt ist?« Danton zögerte; als er wieder das Wort nahm, klang seine Stimme entschuldigend. »Das war unfair. Ich kam nur darauf zu sprechen, um Ihnen zu beweisen, daß Sie General Ashley hier, wo wir uns jetzt befinden, noch weniger trauen würden als mir. Ashley hat Sie mit einer Frage ausgeschickt, auf die es nur eine Antwort gibt: Man kann niemandem völlig vertrauen.« »Und? Ist das nicht ein guter Grund, Sie zurückzubeordern?« »Wenn das Ihre einzige Absicht hier wäre, und der
Zweck damit wirklich erreicht werden könnte – ja, gewiß. Aber es würde nichts nützen. Dort unten steht die zehnfache Vernichtungsgewalt bereit und wartet nur auf einen nervösen Finger, der sie entfesselt.« Dantons Augenlider zuckten, als er Phillips gerade und offen ansah. »Sie wissen den wirklichen Grund, warum Ashley uns nicht hier lassen will. Er hat keine Sorge, daß wir ohne Befehl schießen würden. Er hat Angst, daß er uns befehlen könnte, zu schießen, ohne daß wir gehorchen.« Was war Wahrheit an Dantons Argumentation und was Sophisterei? fragte sich Phillips. Dann fiel ihm ein: »Und wenn er sich weigert?« und er dachte: Ja, davor hatte Ashley Angst. Dies warf ein neues und bezeichnendes Licht auf Ashley, änderte jedoch nicht die grundsätzlichen Prämissen: Immer noch gab es Männer hier oben, die die ganze Welt vernichten konnten, wenn sie nicht stärker waren, als man es von Menschen erwarten kann. Das Klopfen an der Tür klang wie der Schlußpunkt hinter seinen Gedanken. Als Danton öffnete, stand Chapman draußen und hielt ihm ein dünnes Rohr hin. Danton schien nicht überrascht zu sein. »Haben Sie's?« »Riecht noch nach Pulver.« »Und niemand versuchte, es zu verstecken?« Chapman schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.« Phillips' Blick ging von dem Rohr zu Chapman und dann zu Danton. »Was wollen Sie damit sagen? Daß das Loch in der Wand des Laboratoriums von einem
Geschoß stammt und nicht von einem Meteoriten?« Ungeduldig zuckte Danton die Achseln. »Natürlich. Ein Meteorit dieser Größe hätte glatt beide Wände durchschlagen. Das Geschoß muß von innen gekommen sein. Wie paßt das zu Ihren Theorien, Mr. Freud?« »Es bestärkt mich in meiner Ansicht, daß die Männer hier oben instabil sind – instabil genug, um Mord zu begehen – oder Selbstmord.« »Glauben Sie, ein Raumfahrer hat das getan?« fragte Danton ruhig. »Nein, nein. Wir haben zu großen natürlichen Respekt vor Meteoriten, um selbst künstliche zu schaffen. Außerdem – woher sollte ein instabiler Raumfahrer so ein Geschoß bekommen? Das war Sabotage.« »Von welcher Seite?« »Vielleicht haben Sie eine Idee. Wir waren bereits mit dem Problem konfrontiert – fast sechs Monate lang.« Danton sah Phillips plötzlich mit harten, eiskalten Augen an. »Übrigens, Captain, Sie sind unser letzter Neuankömmling.« Peinliches Schweigen trat ein, und Phillips starrte Danton ungläubig an. Plötzlich kam die blecherne Stimme des Lautsprechers: »Alle Mann auf ihre Stationen. Die Zubringerfahrzeuge sind los. Alle Mann –« Dantons Gesichtsausdruck veränderte sich sofort. »Vielleicht habe ich unrecht.« Ein zweifelndes Lächeln spielte um seine Lippen. »Hier, Captain, ist ihr Rorschachklumpen.« Er legte die Knetmasse auf den Tisch zurück und verließ die Kabine. Phillips starrte auf die Tür, durch die Danton verschwunden war. Hatte ihn Danton ernsthaft in Ver-
dacht? Oder war das alles nur ein Ausdruck seiner Paranoia? Es gab keinen Grund ... Oder doch? Das Rohr, das nach frischem Pulverdampf roch ... Wenn es wirklich nach Pulverdampf roch, und wenn es im Gastestlaboratorium gefunden worden war ... Und wenn Danton es nicht selbst dort deponiert hatte ... Der Gedanke war ihm gekommen, als er den Eindruck perfekten Timings gehabt hatte. Andererseits würde ein solcher Akt die Handlungsfähigkeit eines Paranoiden durchaus überschreiten. Wenn Danton das Rohr selbst deponiert hatte, war er nicht paranoid. Wenn nicht, dann hatte jemand Sabotage verübt. Phillips begriff, was er schon früher hätte begreifen müssen: Die Aktion gegen das Rad und die ihr zugrunde liegenden Vorbehalte standen und fielen damit, ob der Kommandant wirklich paranoid war oder nicht. Phillips warf einen Blick auf den Tisch ... und erstarrte. Die Knetmasse, die Danton dort hingelegt hatte, war nicht mehr bloß ein Klumpen. Sie war zu einer Figur geworden, zu der Figur eines Kindes, das fest auf beiden Beinen stand und nach oben blickte. Während Danton sprach, hatten seine Finger die Masse bearbeitet und etwas geschaffen – ein Kunstwerk. Und als Kunstwerk mußte er es beurteilen, nicht als psychologischen Test. Mit geschickten Händen hatte Danton geschaffen, was er beschrieben hatte – das Kind, das wegläuft und jenseits des Berges etwas Neues und Schönes sucht. Aber es lag noch mehr in der Figur: Hier kamen jene so bedeutsamen menschlichen Qualitäten zum Ausdruck – das Fragen, das
Suchen, das Streben nach Größe ... Aber Phillips mußte die Figur nach seinen eigenen Maßstäben beurteilen. Und das stellte ihn vor das größte Problem. Denn aus dieser kleinen Figur sprach Verständnis, Mitleid und Glaube an die Menschheit – und keine Spur von Paranoia. Das bedeutete, daß Danton wirklich von Spionen umgeben war. Es konnte nur das bedeuten. Danton hatte ein Recht, argwöhnisch zu sein. Seine Neurose war funktionell. Aber Danton wußte zu viel – das war das Problem. Was hatte er gesagt, bevor er hinausging? Hier, Captain, ist Ihr Rorschachklumpen. Das würde bedeuten, daß Danton sich und seine Psychologie so gut kannte und ein derart vollendeter Künstler war, daß er so etwas schaffen konnte wie diese Plastik! Es war zuviel. Phillips beschlich ein sehr unangenehmes Gefühl, fast als hätte er einen Anfall von Raumkrankheit. Entschlossen nahm er die kleine Figur und zerdrückte sie zur Formlosigkeit. Erst Augenblicke später fiel ihm ein, warum Danton davongeeilt war. Die Zubringerfahrzeuge hatten sich gelöst. Und wenn sie verlorengingen, dann saß er in der Klemme. Phillips stürzte hinaus. Er machte sich auf den Weg zur Nabe. Sie war leer. Nur zwei Raumanzüge hingen an ihren Befestigungen. Er schlüpfte in einen davon, wenn er ihm auch zu groß war. Dann durchquerte er eine Luftschleuse, klinkte den Haken seiner Sicherheitsleine in einen
Ring neben dem käfigartigen Eingang und glitt hinaus. Langsam entfernte er sich von der Nabe, schwebte dahin in die schwarze Unendlichkeit der Nacht. Die Sterne verschwammen ein wenig vor seinen Augen wie auf einer schlechten astronomischen Aufnahme. Mit einem kurzen Ruck an seiner Leine, den ihm ein Instinkt gebot, den er vorher nie zu besitzen geglaubt hatte, verlangsamte er seine Drehbewegung. Eines der plumpen, torpedoförmigen Fahrzeuge sah er vom schimmernden Radkranz der Nabe wegschweben. Dann sah er noch weitere. Alle entfernten sich. Soweit er es feststellen konnte, war keines mehr am Satelliten befestigt. Eigentlich hätte er hier ein Chaos erwartet; Männer in Raumanzügen hätten auf Grund dieser Notsituation, von der Phillips nur ahnen konnte, wie schwierig sie war, wie Ameisen herumwimmeln müssen. Aber bei aller zu erwartenden Hektik herrschte eine seltsame überraschende Ordnung. Männer klinkten ihre Sicherheitsleinen an die Anzüge anderer Raumfahrer anstatt ans Rad. Einer kletterte unglaublich schnell die Speiche entlang, bis er den Radkranz erreichte. Dann stieß er sich ab und zog seine Sicherheitsleine nach. Als sie fast zu voller Länge gespannt war, sprang ihm der nächste mit ihm verbundene Raumfahrer nach. Einer nach dem anderen schnellten sie sich hinaus und bildeten eine lebende Kette, die mit dem sozialen Instinkt von Ameisen arbeitete und eine dünne Brükke über den unüberbrückbaren Abgrund des Weltraumes spannte. Flammen schossen aus dem Raumanzug am vorde-
ren Ende der Kette. Langsam näherte sich der Mann dem ersten Zubringerfahrzeug. Auf Phillips wirkte das alles fast wie ein Symbol. Männer würden ihr Leben lassen, aber andere würden ihren Platz einnehmen, und eines Tages würde eine neue Generation über die Brücke gehen, die Mut und Opferbereitschaft ihrer Kameraden gebaut hatten. Und sie würden die Sterne erreichen. Das Zubringerfahrzeug entfernte sich immer noch – schneller, wie Phillips schien, als sich die Kette ihm näherte. Würde sie lang genug sein? Er packte einen Ring an der Speiche und schwang sich zum Radkranz hinaus. Plötzlich wurde er aufgehalten. Irgend etwas hatte ihn von hinten gefaßt. Hinter ihm war ein anderer Mann, der mit dem Haken am Ärmel seines Raumanzugs irgendwo Phillips' Anzug erfaßt hatte. Mit dem anderen Haken hielt sich der Mann an einem Ring an der Nabe fest. Mühelos zog er Phillips wieder zurück. Phillips konnte nicht sehen, wer es war. Die Visiere der Raumhelme waren dunkel getönt, um ultraviolette Strahlen zurückzuhalten. Dann erkannte er einen verblichenen Adler auf dem Bruststück des Raumanzugs. Leicht berührte sein Helm den anderen. Durch den Kontakt übermittelt, kam die metallische Stimme: »Wo, zum Teufel, wollen Sie hin?« Es war Danton. »Vielleicht ist sie nicht lang genug.« Danton brauchte nicht zu fragen, was er meinte. »Dann können Sie auch nicht helfen. Dazu braucht man Teamwork. Etwas, was Sie erst lernen müssen. Etwas, was Sie erleben müssen. Wenn das Leben jedes einzelnen von der richtigen Handlungsweise je-
des einzelnen abhängt, kommt das von selbst.« Was er meinte, war klar: Er war kein Mitglied des Teams. »Aber die Sache ist ernst –« »Natürlich. Wenn sie das Fahrzeug nicht erwischen, sitzen wir hier fest. Wir können keinen Nachschub von den Transportern holen. Wir können unsere Arbeit nicht beenden.« »Bis uns Ersatz geschickt wird?« Selbst durch die Helme hindurch war die Ironie in Dantons Stimme zu spüren. »Das kann Ashley verhindern.« »Und Sie glauben wirklich, das tut er?« »Darüber können Sie sich Ihre Gedanken machen.« »Wir müssen helfen«, sagte Phillips und suchte sich zu befreien. »Was könnten Sie denn schon helfen?« fragte Danton. Er ließ Phillips ein wenig los, um sich zu vergewissern, daß seine Sicherheitsleine noch in dem Ring an der Nabe eingeklinkt war. Dann zog er ihn zurück. »Sie würden ihnen nur im Weg sein. Die kriegen das Fahrzeug schon.« Phillips hatte sich umgedreht und konnte die sich verlängernde Kette jetzt wieder sehen. Der erste Mann, dessen Raketen kurze Feuerstöße ausstießen, war weiter vom zweiten entfernt, als er es hätte sein sollen. Er hatte seine Sicherheitsleine gekappt, wurde Phillips klar. Allein bewegte er sich hinaus in das schwarze, grundlose Meer. Aber er näherte sich dem Fahrzeug. Sein stummeliger Arm streckte sich aus ... und verfehlte es! Nein, er hatte es doch erwischt. Der Raumanzug und das Fahrzeug näherten sich einander, wurden eins ... Zum erstenmal fragte sich Phillips: Wer hat die Zu-
bringerboote losgemacht? Und warum? Und was hatte der Betreffende getan, während alle anderen draußen waren? Und plötzlich wußte er auch die Antwort. Er wandte sich um, aber Danton war nicht mehr da. Würde Ashley wirklich so weit gehen? fragte sich Phillips. Die Antwort konnte nur so lauten: Ja. Wie weit würde er noch gehen, um das Kleine Rad zu zerstören? Die Antwort war: So weit, wie er gehen mußte. Phillips setzte sich zur Nabe hin in Bewegung. Als er den Landekäfig erreichte, sah er, wie das wieder eingefangene Fahrzeug auf ein anderes zuschoß. Am Rande des Rades kam das rätselhafte, runde, metallisch spiegelnde Objekt in den Blick. Auf der anderen Seite des Rades sah er den seltsam gebrechlich wirkenden, unwahrscheinlich aussehenden Apparat aus Raketenmotoren und Kugeltanks. Als Phillips aus seinem Anzug gestiegen war, war Danton bereits verschwunden. Phillips folgte ihm und rief: »Danton! Amos!« Die Worte halten durch das leere Rad. Es kam keine Antwort. Der Gewichtskontrollraum war verlassen. Verlassen war auch die Erste-Hilfe-Kabine, der Pumpenraum und die Luftkontrolle. Durch die Gewichtskontrolle begab sich Phillips zurück zur Himmelsbeobachtung. Danton saß da und starrte ruhig auf die geschlossene luftdichte Tür, die ihn von der Erdbeobachtung trennte. »Sie sollten rauskommen, Grant«, sagte Danton sanft. »Sie kriegen noch was ab da drinnen.« Er sprach in ein Wandmikrophon. Aus dem Lautsprecher daneben kam hysterisches
Gelächter. »Sie kriegen was ab, Colonel – Sie und die blöden Hunde da unten.« Phillips erkannte Grants Stimme. »Die Raketenrohre sind feuerbereit, Colonel, und ich habe den Finger am Knopf. Versuchen Sie doch, mich rauszuholen! Plumps, dann fliegt die Welt in die Luft! Und rumms, dann geht das Rad hoch!« »Das geht doch gar nicht, Grant«, sagte Danton geduldig. »Sie hätten gar keine Zeit, sie zu steuern. Sie würden beim Eintritt in die Atmosphäre verbrennen.« »Grant?« Obgleich Phillips es eigentlich hätte wissen müssen, konnte er es trotzdem noch fast nicht glauben. »Aber er hatte doch einen Schock!« Bei Phillips' erstem Wort hatte Danton Mikrophon und Lautsprecher abgeschaltet. »Das dachten wir auch«, sagte er und wandte sich langsam dem Psychologen zu. »Offenbar hatten wir uns getäuscht. Das Losmachen der Zubringer war mehr oder weniger ein Ablenkungsmanöver. Wenn es gelang – gut. Wenn nicht, dann hatte Grant immer noch genügend Zeit, in die Erdbeobachtung einzudringen.« »Was hat er denn vor?« Danton zuckte die Achseln. »Sie haben es ja gehört.« »Er ist verrückt!« »Das können Sie am besten beurteilen.« »Können wir irgendwie unbemerkt an ihn rankommen?« »Bevor er auf diesen Knopf drückt? Ausgeschlossen, selbst wenn er die andere Tür nicht versperrt hat. Und selbst ein Verrückter würde das tun.« »Haben Sie vielleicht Gas? Können Sie ihn betäuben?«
»Ehe er merkt, was los ist?« Danton schüttelte ungeduldig den Kopf. »Wir halten hier nichts vorrätig, was wir nicht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit brauchen.« Verzweifelt suchte Phillips nach einem Ausweg. »Jemand hat einen Knacks gekriegt! Das ist genau, was Ashley befürchtete!« »Ja?« lächelte Danton. Seine Augen gingen wieder zu dem großen flachen Projektionsschirm, auf dem der Mars rötlich leuchtete, und dann zu der versperrten Tür. »Reden Sie weiter, Danton«, sagte Phillips rasch. »Wenn man ihn in seinem Zustand zu lange allein läßt, versteigt er sich noch so weit, daß er tatsächlich auf den Knopf drückt.« »Sie sind der Psychologe; versuchen Sie, es ihm auszureden.« »Ich?« Unwillkürlich wich Phillips zurück. »Wer ist Ihr Raketenoffizier? Er müßte doch im stande sein, die Stromkreise abzuschalten und die Raketen zu entschärfen –« »So einen hatten wir mal, aber er wurde versetzt – vor fünf Jahren. Einen neuen haben wir dann nicht mehr bestellt.« »Er steht auf Ihrem Organisationsschema ...« »Wir haben keine Verwendung für einen Raketenoffizier. Schauen Sie!« Danton drehte sich rasch auf seinem quietschenden Stuhl herum und drückte auf einen Knopf neben der Sichtluke. Das Schutzschild ging hoch. »Sehen Sie das?« Die große schimmernde Metallscheibe glitt langsam am Fenster vorbei. »Das ist ein Raketenschutzschild«, sagte Danton düster, »und er ist wertlos. Er
fliegt vor uns in der Kreisbahn und räumt alles, was stört, zur Seite. Was aber würde ein Angreifer als erstes tun? Er würde eine Rakete heraufschicken, deren Sprengkopf mit feinem Bleischrot gefüllt ist. Wenn sie unsere Kreisbahn erreicht und explodiert, dann würde sie eine Wolke von acht Milliarden winzigen Geschossen hier ausstreuen. Und Stunde für Stunde würden wir in diese Wolke hineinrasen. Das erste Mal würde er Schutzschild sie abhalten, vielleicht auch das zweite Mal. Aber dann würde er aussehen wie ein Sieb. Und beim nächsten Mal wären wir selbst ein Sieb.« »Sie könnten zurückschlagen –« »Wie? Selbst wenn wir den Raketenabschuß entdeckten und wüßten, woher sie kommt, würden wir Stunden brauchen, bis wir selbst eine Rakete abschießen könnten, die die Atmosphäre erreicht, ohne dort zu verglühen. Nein, Lloyd, in einem neuen Krieg wären wir selbst die ersten Opfer. Ja, wir sitzen hier wirklich auf einem Pulverfaß. Und wir müssen mit diesem Bewußtsein leben. Aber die Lunte, die liegt unten. Und wenn dieses Pulverfaß nicht hochgehen soll, dann müssen wir sie austreten – oder sicherstellen, daß sie niemals entzündet wird.« »Aber dann gibt es keinerlei Grund für die Existenz des Kleinen Rades! Das Große Rad hat alle Ihre anderen Funktionen übernommen: Wetterbeobachtung, Forschung, Ausstrahlung von Radio- und Fernsehsendungen ... Was noch bleibt, ist militärische Aufklärung und Geschoßlenkung. Das erste vernachlässigen Sie und das zweite schaffen Sie nicht. Aus Ihrer Gegenwart hier ergibt sich für Sie die ständige Versuchung, Ihre Probleme dadurch zu lösen, daß Sie die
Quelle dieser Probleme zerstören.« »Wodurch wir uns selbst zerstören würden. Nein, so dumm sind wir nicht. Unabhängig von der Erde können wir nicht existieren – noch nicht.« »Entscheidungen sind nicht immer logisch. Nicht einmal meistens. Grant ist das beste Beispiel. Lassen Sie mich ans Mikrophon!« »Vielleicht hat er seine Gründe«, sagte Danton leise. Er drückte auf den Schaltknopf. »Aber bitte.« Phillips sagte mit beschwörender Stimme: »Grant! Hier spricht Dr. Phillips.« »Was wollen Sie, Klapsdoktor?« »Hören Sie, Grant. Drücken Sie nicht auf den Knopf! Sie brauchen es nicht zu tun. Ich garantiere Ihnen, daß das Rad zerstört wird.« Einen Augenblick herrschte Schweigen in der Kabine. Das vergrößerte Marsbild schimmerte rötlich vom Videoschirm. Phillips wurde sich plötzlich des Geruchs des Kleinen Rades bewußt, eines Gemischs aus Öl und Schweiß. Es roch wie im Heizungskeller des CVJM. Und über allem lag der säuerliche Geruch der Angst. Phillips spürte, wie Schweißtropfen auf seine Stirn traten. Danton schaute ihn an. Phillips entgegnete seiner halbtoleranten Verachtung mit kalten Augen. Aus dem Lautsprecher kam Grants heftiger Atem. »Daß ich nicht lache, Klapsdoktor. Mich legt keiner herein. Wenn es so weit ist, drücke ich auf den Knopf. Niemand kann mich daran hindern.« »Hören Sie!« Phillips sprach ruhig und beherrscht. »General Ashley hat mich hierher geschickt, damit ich einen Report für ihn mache. Und der Report, den ich machen werde, Grant, wird das Rad vom Himmel
herunterblasen. Wenn Sie auf diesen Knopf drücken, Grant, wird die Welt sterben und Sie mit ihr. Das wollen Sie doch nicht? Sie brauchen nicht zu sterben, Grant. Es ist aus mit dem Rad.« »Selbst wenn Sie die Wahrheit sagen – Sie würden es nicht schaffen, Phillips. Danton ... er will das verhindern. Er ist zu clever. Er würde einen Weg finden. Aber daß ich auf diesen Knopf drücke – das kann er nicht verhindern!« »Um Himmels willen, Grant –« flehte Phillips. »Zwecklos, Klapsdoktor. Ich glaube, Sie lügen. Denn ich bin es, den Ashley heraufgeschickt hat, um diesen Job zu tun. Und ich werde ihn tun. ›Wenn es nicht anders geht‹, hat er gesagt, ›schießen Sie eine Rakete herunter. Das wird das Ende des Rades sein.‹ Ja, ich werde ganze Arbeit leisten.« Grant brach in irres Lachen aus. »Ich werde sie alle hinunterschießen.« »Ich fürchte, es hat keinen Zweck mehr«, flüsterte Phillips. Danton beugte sich zum Mikrophon. »Sie brauchen den Knopf nicht zu drücken«, sagte er ruhig. »Es gibt gar keine Raketen.« Er schaltete ab und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Das wird nichts nützen«, sagte Phillips rasch. »Er wird abdrücken, um ganz sicher zu gehen.« »Manche wollen die Wahrheit nicht fassen, und wenn sie mit Händen zu greifen ist.« »Die Wahrheit? Was meinen Sie –?« »Es gibt keine Raketen. Der Erde droht von uns keine Gefahr. Schade, daß wir das den Leuten dort unten nicht sagen dürfen. Aber das können wir nicht. Und deshalb müssen wir ständig befürchten, daß jemand von unten aus eine Bedrohung zerstört, die gar
nicht existiert.« »Keine Raketen?« Ungläubig schüttelte Phillips den Kopf. Schweißtropfen liefen ihm über das Gesicht. »Was geschah mit ihnen? Sie hatten sie doch!« »Ja, wir hatten sie. Aber es war, wie Ashley befürchtete: Ihre Existenz stellte eine ständige Versuchung dar. Also verwendeten wir sie für einen besseren Zweck.« »Für einen besseren Zweck? Was reden Sie denn da?« »Augenblick.« Danton schaute durch die Sichtluke zu den Sternen hinaus. »Sie sprechen von einem Pulverfaß. Ich will Ihnen etwas über Pulver sagen. Gefährlich ist es nur, wenn man es einsperrt. Verstreuen Sie es im Freien und zünden Sie es an, dann gibt es nur ein Zischen und eine helle Flamme, sonst nichts. Schauen Sie, da ist die Erde!« Im leuchtend hellen Sonnenschein glitt der Globus vor dem Fenster vorbei wie ein Juwel auf dem schwarzsamtenen Kissen der Nacht. »Das ist Ihr Pulverfaß – zusammengepferchte Menschenmassen – immer mehr Menschen und immer noch mehr in jeder Minute. Verschafft man diesem Druck kein Ventil, dann ist eine Explosion unvermeidlich. Es gibt so viele Dinge, die sie auslösen können ... ein unbewachtes Feuer, ein zufälliger Funke, Selbstentzündung –!« »Und Sie sind dieses Ventil?« »Symbolisch. Natürlich gibt es keinen praktischen Weg außer Geburtenkontrolle, den Bevölkerungsdruck zu vermindern. Unsere überschüssigen Milliarden von Menschen können wir nicht zu anderen Planeten exportieren. Aber wir können ihren überschüssigen Energien, ihren angestauten Aggressionen
und ihren frustrierten Träumen einen Ausweg schaffen. Das Vorhandensein einer neuen Grenze genügt; nicht jeder muß selbst dorthin.« Danton verstummte. Selbst das Zucken seines Augenlides hatte jetzt für einen Moment aufgehört. »Sehen Sie! Da! Jetzt!« Der häßliche Apparat aus Raketenmotoren und Kugeltanks schwebte vorbei. »Das ist unser Ventil. Und dort sind auch unsere Raketen: Ihre Motoren sind Trägerkörper, und ihre Sprengköpfe haben wir in Atomkraftwerke verwandelt. Sie sind ja auch im Hinblick darauf entworfen worden.« »Damit hätten Sie sich so ziemlich jeder denkbaren Verfehlung schuldig gemacht«, sagte Phillips langsam. »Vernachlässigung des Dienstes, Ungehorsam, mißbräuchliche Verwendung von Material, Meuterei –« »Worte«, winkte Danton ab. »Nichts als Worte. Sie sind nicht wichtig. Was zählt, ist das Überleben. Und dieses Schiff ist der Schlüssel zum Überleben.« »Und wohin wollen Sie mit dem Ding?« Danton schaute an Phillips vorbei zu dem Vergrößerungsbild auf dem Videoschirm. »Zum Mars.« Verblüfft musterte Phillips das harte, verwitterte Gesicht. Wahnsinniger oder Prophet? Verräter oder gar – Patriot? Er mußte sich darüber schlüssig werden, und bald. Er schaute wieder zur Luke hinaus, doch war das gebrechliche Gebilde nicht mehr zu sehen. »Damit?« »Die Wikinger haben den Atlantik mit ihren winzigen Drachenschiffen überquert.« »Und Sie glauben, die dort unten würden das zulassen?« »Wir wollten warten, bis wir eine erfolgreich zu
Ende gebrachte Fahrt hätten melden können. Aber dazu ist es nunmehr zu spät. Ashley greift zu den äußersten Mitteln; das nächste Mal gelingt es ihm vielleicht, seine Absicht zu verwirklichen. Vielleicht wären wir dann nicht mehr da, wenn das Schiff zurückkommt. Wir werden also die Nachricht verbreiten, daß es bald starten wird.« Danton lächelte auf einmal. »Dann soll Ashley es dementieren, wenn er das wagt.« »Er wird nicht ruhen, bis er das Rad heruntergeholt hat.« »Auch das soll er versuchen, sobald die Welt weiß, was wir tun wollen. Das ist unser einziger Trumpf: Die Träume der Milliarden dort unten. Fliegen Sie wieder zurück, Lloyd. Sagen Sie ihnen, daß wir alle einen Knacks haben ... daß wir alle Neurotiker sind. Und wir werden sie wissen lassen, daß wir keine Gefahr für sie sind. Wir haben unsere Schwerter zu Träumen geschmiedet. Wir werden ihnen das Rad zeigen, und wir werden ihnen das Marsschiff zeigen. Und wir werden sie, stellvertretend, zum ersten Flug zu einer anderen Welt einladen. Sie werden kommen. Sie können die Einladung nicht zurückweisen. Sie sind Menschen wie wir ... sie sind Träumer.« »Der Abstand zur Erde ist Ihnen noch nicht weit genug«, sagte Phillips leise. »Sie wollen noch weiter weg.« »Nennen Sie es Flucht, wenn Sie wollen. Ein anderer würde es vielleicht Abenteuer oder Eroberung nennen. Worte. Was einen Mann zur Flucht veranlaßt, ist gleich; wohin er flieht und was er tut, wenn er ankommt, und was seine Flucht bedeutet – das ist wichtig. Wovor fliehen Sie, Lloyd?«
Phillips erstarrte. »Wie meinen Sie das?« »Man hat Sie analysiert. Was hat Sie veranlaßt, Psychologe zu werden? Warum sind Sie zur Air Force gegangen? Was zwang Sie, die unterschwelligen Motive von Raumfahrern zu erforschen? Was war es ... eine zerstörte Familie, eine überbesorgte Mutter, ein uninteressierter Vater? Was für ein Komplex war es? Geben Sie ihm einen Namen!« Phillips wurde von Panik gepackt. Er kann es nicht wissen. Er rät nur ... »Geben Sie ihm einen Namen«, fuhr Danton unbeirrt fort, »oder lassen Sie's sein. Es ist mir egal. Was für mich zählt, ist, daß Sie gutes Raumfahrermaterial sind, das zu Schrott geworden ist. Sie sind einer der wenigen, einer von denen, die als erste Luft zu atmen vermochten. Und dennoch steigen Sie nicht an Land, und das ist schade. Wir brauchen Männer wie Sie. Sie könnten uns helfen – helfen bei unserer kleinen Auseinandersetzung mit Ashley und bei unserem großen Sieg über den Mars und die phantastische Distanz, die zwischen uns liegt. Wir könnten diese psychologischen Fähigkeiten brauchen bei der Auswahl der Männer, die diese Tat zu wagen und trotzdem bei Verstand zu bleiben und zurückzukommen vermögen, um der Welt ihren Erfolg zu melden. Sie könnten uns helfen, der Phantasie des Menschen einen Weg zu zeigen, wie sie ihr Herz öffnen und ihren Träumen Form geben können. Sie brauchten nicht wieder zurückzugehen, Phillips. Ich könnte Sie für unabkömmlich erklären und Sie hierbehalten, bis Ashley oder ich an Altersschwäche sterben.« »Und wobei soll ich Ihnen helfen? Das Volk zu be-
trügen, so wie Sie seine Regierung betrogen haben?« »Der Vorstoß ins Unbekannte ist immer eine Art Betrug«, sagte Danton, den Blick in die Ferne gerichtet. »Da wir ja ex definitione nicht wissen können, was wir finden werden, können wir auch gar nicht die richtigen Gründe dafür haben. Und die Gründe, die wir nennen, werden immer die falschen sein, denn der einzige wirkliche Grund ist der: Es gibt etwas Unbekanntes, was wir entdecken können. Betrug –« wiederholte Danton, und seine Lider begannen von neuem zu zittern. »Ich will Ihnen etwas sagen. Als ich hierher kam, war mein Kopf voller Visionen und Träume. Und dann stellte ich fest, daß diese Visionen und Träume falsch waren. Da floh ich. Ich floh zum S.1.1. Sie wissen, was das ist – das Schiff einhundertsechzig Meilen vor dem Kleinen Rad auf derselben Kreisbahn, in dem Rev McMillen als erster den Weltraum eroberte und in dem er starb, weil er nicht mehr zurückkonnte. Wissen Sie, was ich fand? Eine leere Hülse. In dem Schiff hatte sich niemals ein Mensch befunden. Es war gar nicht für diesen Zweck gebaut. Ein Schiff, das einen Menschen befördern konnte, konnten sie gar nicht bauen – nicht mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln – und Bo Finch und Pickrell und ein paar andere betrogen die Öffentlichkeit, damit der Weltraum erobert werden konnte. Und er wurde erobert – aus den falschen Gründen und auf die falsche Weise. Die Visionen waren falsch. Der Mensch findet nie, was er sucht. Deswegen sucht er weiter. Doch hier draußen wird der Mensch nicht das finden, hinter dem er herjagt – Frieden, Reichtum, die Herrschaft
über das Universum. Und da lernte ich, was jeder früher oder später lernen muß: Der Mensch muß stärker sein als seine Träume; er muß es ertragen können, sie zerbrechen zu sehen und weitermachen. Das können Sie kindisch nennen. Nennen Sie es, wie Sie wollen.« Es klang, als sei er sehr müde. Er sah jetzt aus wie ein alter Mann und nicht wie ein knapp Vierzigjähriger mit frühzeitig weiß gewordenem Haar. »Tatsache bleibt, daß das, was ich Ihnen beschrieben habe, die Seele des Menschen ausmacht. Er ist ein Träumer, und der letzte Traum ist der beste, ganz gleich, wie viele vorher schon zunichte geworden sind. Fahren Sie wieder zurück, Captain Phillips. Fahren Sie zurück, wenn Sie wollen, und berichten Sie, was ich Ihnen gesagt habe – alles. Und dann werde ich lügen und Sie einen Lügner nennen, und die Lügen werden ohne Bedeutung sein, genauso wie die zerstörten Träume. Die Leute werden mir glauben, weil ich ein Träumer bin, und Träume verstehen sie. Dies ist der letzte Traum im ältesten aller Träume – die Eroberung der Umwelt des Menschen, des Universums. Und dieser Traum wird geträumt werden, solange es Menschen gibt.« Die Tür der Erdbeobachtungsstation öffnete sich. Grant taumelte heraus, leichenblaß im Gesicht. Sein starrer Blick schien ohne Wahrnehmung zu sein. »Ich habe abgedrückt«, sagte er tonlos. »Ich habe abgedrückt, und nichts ist geschehen.« Danton war aufgestanden, als sich die Tür öffnete. Grant prallte gegen ihn, und dann war es, als sei das
letzte Quentchen seiner Kraft verbraucht. Er verbarg sein Gesicht an Dantons Brust und begann zu schluchzen. Danton klopfte ihm begütigend auf die Schulter. »Schon gut. Schon gut. Es ist schwer, die Wahrheit zu finden, und wenn man sie findet, dann tut sie weh. Ich weiß es. Ich habe sie gefunden.« Er schaute Phillips an. »Sie sehen«, sagte er leise, »es sind nicht die neurotischen Männer hier, vor denen Sie Angst haben müssen. Wer gefährlich ist, das sind die, die hinter etwas anderem her sind als wir – hinter Geld oder Ehre.« Schweigend sah Phillips den Captain an und wandte dann den Blick zur Sichtluke. Draußen strahlten Sterne. Danton hatte recht. Seit wann wußte er das schon? Vielleicht war es ihm erst vor einigen Minuten klar geworden, als er versucht hatte, Grant von der Vernichtung der Erde abzuhalten. Vielleicht hatte er es schon früher erfahren, als er zugesehen hatte, wie die Raumfahrer eine Brücke zu den Sternen gebaut hatten und er ihnen dabei hatte helfen wollen. Vielleicht hatte er diese Erkenntnis gewonnen, als er in Dantons Rorschachfigur so viel Menschlichkeit und Verständnis entdeckt hatte. Vielleicht aber war dieser Erkenntnisprozeß auch schon viel früher erfolgt – als er begriffen hatte, daß er selbst ein Raumfahrer war, einer von denen, die aus dem Meer an Land gekrochen waren und von der Erfahrung so angetan waren, daß sie niemals wieder ins Wasser zurückkehrten. Wenn der Mensch Glück hat, gibt es für ihn einen
Augenblick seines Lebens, wo er sich selbst erkennt. Phillips hatte dieses Glück. Doch es bedeutete, daß er sein ganzes Konzept der Menschennatur ändern mußte. Die grundlegende Eigenschaft des Lebens ist Bewegung. Ein Tier, das sich nicht mehr bewegt, ist tot. Raubtier und Beute wissen das instinktiv. Und der Mensch ist ein unzufriedenes Tier. Stellt man ihn zufrieden, so hört er auf, Mensch zu sein. Völlige Ruhe bedeutet nur eines: Tod. Und Phillips bewegte sich. Er lebte. Und mit Mut, Kühnheit und Opferbereitschaft konnte er bei diesen Männern bleiben. Und indem er hier lebte und den Gefahren des Weltraums trotzte, hielt er auch die Menschheit am Leben. Wenn er Glück hat, findet ein Mensch einmal in seinem Leben etwas, was sich zu tun lohnt. Phillips hatte es gefunden. Die lange Reise zu den Sternen war das Menschlichste, was Menschen tun konnten. Es würde dazu beitragen, daß der Mensch menschlich blieb. Die erste Fahrt würde mißlingen, dessen war er fast sicher, und vielleicht auch die zweite und dritte. Eines Tages jedoch würden Männer von der langen Reise zurückkehren, wenn jene, die dazu ausersehen waren, diese Aufgabe zu erfüllen, den Mut nicht verloren. Er war einer von ihnen.
Originaltitel: POWDER KEG Copyright © 1958 by Quinn Publishing Co., Inc.
TAUGLICHKEITSTEST 1 Terry Phillips beobachtete ihren Mann, als er aus dem Schlafzimmer kam und sein ergrauendes Haar bürstete. Es würde nach dem Waschen nicht richtig liegen, obwohl Lloyd versuchte, es mit einem Haarnetz zu bändigen. Das war eine Auswirkung der nur ein Drittel der normalen Gravitation betragenden Schwerkraft. Einen Augenblick lang bemühte sie sich bewußt, sich von einer zehn Jahre langen Gewöhnung freizumachen. In diesen zehn Jahren war Lloyd ungemein stark gealtert. Niemand hätte ihm angesehen, daß er noch nicht einmal vierzig war. Sein dunkles Gesicht war zerfurcht. Er war abgemagert. Dennoch war er immer noch ein gutaussehender Mann – fast so gut aussehend als damals, als sie ihn geheiratet hatte. Es gab auch unangenehme Erinnerungen, aber an diese Dinge wollte sie jetzt nicht denken. Nicht jetzt, da ihr Entschluß gefaßt war. Lloyd war bekümmert. Sie fragte sich, ob es wegen des Schiffes war. Aber als erstes fragte er nach den Kindern. Terry lachte. Sie konnte noch lachen. »Paul und Karl sind schon seit Stunden auf. Es ist zehn Uhr, du Schlafmütze. Sie sind im Rekreationsraum.« »Oh. Gut, gut.« Er rieb sich geistesabwesend das Kinn, wobei er auf die Sprossen der metallenen Leiter an der inneren Wand starrte. Sie führten zu einer quadratischen Tür in der konvexen Decke. Die Tür
war geschlossen. Irgend etwas stieß dagegen; dann hörten sie unterdrücktes Gelächter. »Das Frühstück ist fertig«, sagte Terry freundlich. Lloyd fuhr zusammen. »Oh. Ja.« Er setzte sich und leerte sein Glas mit rekonstituiertem Orangensaft. Dann machte er sich über das Eipulver her, als ob es ihm wirklich schmeckte. »Gestern wurde es etwas spät; ich kam erst nach eins. Hoffentlich hab ich dich nicht aufgeweckt.« »Nein«, log Terry. »Waren die Filme wieder schlecht?« Lloyd nickte stirnrunzelnd. »Zweihundertundneunundfünfzig Tage. Wenn sie noch einen Tag länger durchhalten, schaffen sie es. Dann sind sie die ersten Menschen, die einen erfolgreichen Flug zum Mars unternehmen. Sie müssen durchhalten!« »Du bist der kaltblütigste Mensch, den ich kenne«, sagte sie langsam. »Diese Männer sind deine Freunde, aber du denkst mehr an den Erfolg dieses Fluges als an ihr Leben.« Lloyd trank einen Schluck Kaffee. »Glaubst du, ich hätte nicht mit jedem von ihnen getauscht? Sie wußten, was sie taten. Sie wußten, daß schon zwei Versuche gescheitert sind – auf schreckliche Weise gescheitert. Was glaubst du, wie mir im Beobachtungsraum zumute ist, wenn ich sehe, daß sie am Rande des Wahnsinns sind, und gleichzeitig weiß, daß sie Gott weiß wie viele Millionen Kilometer entfernt sind, und ich absolut nichts tun kann?« »Entschuldige bitte. Vergiß es.« Lloyd sah sie an. »Es tut dir nicht wirklich leid, oder?« Er machte eine Pause. »Ich habe mich ent-
schlossen, den Kindern Scooter zum Geburtstag zu schenken«, sagte er dann. Terry setzte die Tasse ab, die sie in beiden Händen gehalten hatte, als wolle sie sie daran wärmen. »Lloyd! Karl ist erst sechs, und Paul gerade acht.« »Wir können sie nicht ewig in diesen sechs Räumen einsperren. Die beiden sind alt genug, selbst auf sich aufzupassen. Du brauchst keine Angst zu haben.« »Sie werden sie nie benützen«, sagte Terry mit eisenharter Entschlossenheit. Die Lippen hatte sie zu einem bleichen Strich zusammengekniffen. »Einmal muß ich es dir sagen: Ich verlasse dich. Die Kinder nehme ich mit. Ich wollte es dir nicht sagen, solange du solche Sorgen mit der Santa Maria hat. Aber wir können nicht mehr so weitermachen.« »Terry!« Lloyd war schockiert und verletzt. »Ich weiß, daß es nicht einfach ist, mit mir zu leben. Aber ich bin nicht anders geworden, als ich immer war. Ohne dich und die Kinder könnte ich nicht leben. Du bist meine Frau –« Terry schüttelte traurig den Kopf. »Du bist mit dem Rad da draußen verheiratet. Du bist eine Art Mutter für diese Männer. Du brauchst keine Frau. Ich weiß nicht, wie ich jemals glauben konnte, daß das gutgehen würde. Ich muß verrückt gewesen sein. Alle erklärten mich für verrückt, als ich dir hierher folgte. Seit zehn Jahren lebe ich in dieser blödsinnigen Kugel. Sie stinkt, Lloyd, stinkt nach Schweiß und altem Essen und Öl. Wenn ich Zwiebeln brate, rieche ich sie noch nach Wochen. Die Luft ist so feucht und stickig, daß man sie fast wie nasse Watte in der Lunge spürt. Ich möchte mich wieder fühlen wie ein menschliches Wesen. Ich gehe hinunter, Lloyd. Und
ich komme nie mehr zurück.« Ihre Stimme war fast hysterisch. »Niemals!« »Aber es gibt jetzt auch andere Frauen hier«, sagte Lloyd. »Dies ist eine Dauerbasis. Wir wohnen im Weltraum. Niemand kann erwarten, daß wir das ohne unsere Familien tun –« »Frauen können hier einfach nicht leben, Lloyd!« Terry versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Die anderen Frauen sind Einsiedlerinnen, genau wie ich. Wann haben sie zum letzten Mal ihren Kokon verlassen? Wenn wir zusammenkommen, geschieht es nur über das Fernsehen. Hast du schon einmal versucht, per Fernsehen Bridge zu spielen? Seit einem Jahr bin ich mit keiner Frau mehr in persönlichen Kontakt gekommen.« »Hast du denn an die Kinder gedacht?« »Allerdings. Ist dir klar, daß diese Kinder noch nie auf der Erde gewesen sind? Niemals? Man bringt sie um ihre elementarsten Rechte – um blauen Himmel, um grünes Gras und das Spielen mit anderen Kindern. So werden sie nie richtige Menschen.« Sie schrie es fast. »Sie werden zu Monstren! Zu Ungeheuern!« Lloyd sah sie eine Weile schweigend an. Dann sagte er: »Für mich sind sie gute und liebe Kinder. Du solltest deine Frustrationen nicht in sie projizieren, Terry. Kinder sehen die Dinge anders als wir. Solange man ihnen Liebe entgegenbringt und Sicherheit bietet –« Terry konnte sich nur noch mühsam beherrschen. »Vielleicht brauchst du Urlaub«, versuchte es Lloyd begütigend. »Wir können's uns leisten.« »Noch einmal ohne die Kinder? Nein, danke. Wenn ich jetzt gehe, dann für immer. Und die Kinder gehen
mit mir.« Lloyd biß sich auf die Lippen, wie er es immer tat, wenn er Emotionen zu unterdrücken versuchte. Würde er doch nur einmal offen und rückhaltlos sprechen, dachte Terry. Nur einmal. Dann müßte ich nicht im dunkeln tappen ... »Laß mich bitte drüber nachdenken.« Lloyds Stimme klang heiser. »Bitte, Terry.« Widerstrebend nickte sie. Sie konnte ihn nicht so leiden sehen. Immer noch nicht. »Und bitte, laß dir den Kindern gegenüber nichts anmerken«, sagte Lloyd. »Laß sie nicht spüren, daß wir eine Auseinandersetzung hatten – vor allem nicht, daß es auch um sie ging.« »Jawohl, Herr Psychologe«, sagte Terry bitter. »Vielleicht habe ich dieses Mal in meiner Eigenschaft als Vater gesprochen.« Lloyd wandte sich ab und stieg rasch die Leiter hinauf. Die Tür ging nach obenauf. Gelächter drang an Terrys Ohr, und Kinderstimmen riefen: »Papi! Papi! Schau her!« Terry kämpfte mit den Tränen. »Lloyd! Lloyd!« sagte sie. »Wenn du mich nur liebtest!« Aber sie sagte es zu sich selbst. Es waren fröhliche Kinder, braungebrannt, mit langen Armen und Beinen, und dunklen Augen, deren Blick so tief gehen kann. Anmutig wie Zierfische im Wasser, so schwebten sie in der Mitte des kugelförmigen Rekreationsraumes und lachten und freuten sich. Lloyd sah sie an, und es wurde ihm kalt ums Herz. Was würde er ohne sie sein? Ein alter sterbender Mann. »Hallo, Jungs«, sagte er. »Was macht ihr heute?«
»Er ist ein Marsmensch«, antwortete Paul. »Ich komme von der Erde und versuche ihn einzufangen, weil er mich daran hindern möchte, zum Mars zu kommen. Wenn ich ihn in fünf Sprüngen erwische, komme ich zum Mars. Wenn nicht, bin ich tot.« »Nein, nein!« krähte Karl. »Du kannst mich nicht fangen!« Er streckte seinem Bruder die Zunge heraus, stieß sich zur gegenüberliegenden Wand und prallte von dort wieder zurück. In der Mitte des Raumes, die gravitationsfrei war, machte er einen seltsam anmutenden Überschlag, der ihn in einer anderen Richtung davonschweben ließ. Lloyd hatte so etwas noch niemals gesehen. Pauls ausgestreckte Hände verfehlten seinen Bruder um wenige Zentimeter, und der Ältere landete an der gekrümmten Wand und stieß sich von dort wieder ab. Neben diesen braungebrannten, anmutigen Geschöpfen fühlte Lloyd sich alt und steif. Er berührte die innere Luftschleusentür und kam aus dem Handstand in eine aufrechte Position, während die Tür sich öffnete. Er schlüpfte hinaus. Er hatte noch ihre Stimmen im Ohr, als er mit aus langer Übung resultierender Leichtigkeit in seinen Raumanzug schlüpfte. So spielten Kinder. Im Krieg waren sie Soldaten. Bei Epidemien waren sie Ärzte und Krankenschwestern. Im Weltraum ... Die anderen Anzüge hingen wie enthauptete Ungeheuer an den Wänden des rechteckigen Schachtes. Terrys Anzug war schon lange nicht mehr benützt worden. Er würde ihn sorgfältig überprüfen müssen. Wenn sie tatsächlich fort wollte ... Nein. Daran mochte er nicht denken.
Er entriegelte die äußere Tür, schwebte hinaus und hielt sich am Verankerungsring fest. Die Tür schloß sich wieder. Jetzt konnte er sein Haus von außen sehen. Es war eine Kugel, eine Miniaturwelt von zehn Metern Durchmesser, was als Lebensraum gar nicht so klein war, wenn es sich ausschließlich um nutzbaren Raum handelte. Die Kugel rotierte rasch und vermittelte so in den außen gelegenen Räumen die Illusion eines Drittels normaler Schwerkraft, die freilich zur Achse hin, in deren Nähe er stand, rasch abnahm. Die Achse bestand aus der Luftschleuse, einem imaginären Zylinder durch den Rekreationsraum und dem Frachtabteil auf der anderen Seite. In die pechschwarze Nacht strahlten mehr Sterne, als sich jemand, der in der lichtschluckenden Erdatmosphäre aufgewachsen war, je vorstellen kann. Zu seiner Rechten schimmerte rot der Mars, näher als alle anderen sichtbaren Himmelskörper, aber immer noch sehr, sehr weit entfernt. Links war die Erde, dunkel jetzt, da sich Sonne und Mond jenseits von ihr befanden. Sie war eine riesige schwarze Scheibe, auf der da und dort Städte wie rötliche Punkte glommen. Ein paar hundert Meter von ihm schimmerte das Rad im Sternenlicht. Um es herum schwebten die neun anderen Wohnkugeln. Irgendwie ließen sie das Rad heimelig erscheinen. Sie vermenschlichten es, so daß es nicht mehr so sehr wie ein Vorposten im Weltraum wirkte, sondern eher wie eine Kolonie von Männern und Frauen die vorhatten, hier zu bleiben. Daß sich jemand aus dieser Gemeinschaft löste, konnte er einfach nicht zulassen. Für eine Frau war es schwer. Männer können
manchmal von Träumen leben; Frauen jedoch brauchen Sicherheit. Aber Männer brauchen auch Frauen und Kinder, und irgendwie hatten sie es stets fertiggebracht, Frauen dazu zu bewegen, mit ihnen in neues, unbekanntes Gebiet zu ziehen und dort Heime zu gründen. Die Frage war: Hatten die Männer sich so weit vorgewagt, daß die Frauen ihnen nicht mehr zu folgen vermochten? Er stieß sich ab, schwebte auf das Rad zu. Als er die runde Nabe erreichte, hakte er sich mit dem Greifer am Ärmelende seines Anzugs an dem Käfig fest, in den die Zubringerfahrzeuge mit ihren Passagieren einfuhren. Er durchquerte die Luftschleuse, entledigte sich seines Anzugs, verstaute ihn und kletterte dann zur Gewichtskontrolle. Die Luft war hier schlecht – stikkig und heiß und feucht und erfüllt von den vielen Gerüchen, die entstehen können, wo Menschen wohnen und arbeiten. Colonel Danton erwartete ihn vor der Himmelsbeobachtungsstation. Er wirkte alt, abgemagert und krank und sah eher wie achtzig aus als fünfzig. Einen weiteren Mißerfolg übersteht er nicht, dachte Phillips. Danton sagte: »Jim Faust ist hier.« Aus seiner Stimme sprach immer noch große Autorität. »Hier? Was will er denn?« »Er ist sehr besorgt und möchte sich die Filme selber vornehmen. Er glaubt nicht, daß er uns noch lange halten kann – nicht, wenn das Projekt auch dieses Mal scheitert.« Lloyd starrte Danton nachdenklich an. »Ich weiß,
ich weiß. Aber nehmen Sie's heute nicht so schwer.« Danton gab sich merklich Mühe, sich zu entspannen. »Ärztliche Vorschrift, was?« fragte er. »Also halten Sie ihn bei Stimmung, Lloyd. Wir sehen uns dann beim Lunch.« Lloyd wandte sich um, öffnete die luftdichte Tür und trat in die Dunkelheit des improvisierten Vorführraums, wo Faust sich Filme vom fünften Tag der Expedition ansah ...
2 Fünf Tage unterwegs. Die Santa Maria war 1,7 Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Das Schiff sah aus wie ein Kinderspielzeug aus Kugeln, Zylindern und Raketenmotoren; im ungedämpften Sonnenlicht schimmerte es weiß wie Porzellan. Die obere Hälfte des zentralen Zylinders bildete den Frachtraum für die Geräte, die zur Erkundung des Mars benötigt wurden. Darüber befand sich die Kugel, die die Besatzung beherbergte, mit ihren Luken und Temperaturregulatoren. Es gab drei Decks: Das Ausrüstungsdeck mit seiner zylindrischen Luftschleuse – wo die Raumanzüge aufbewahrt wurden –, das Wohndeck und das Steuerdeck. Das Ganze wurde gekrönt von der Plastikkuppel des Astrodoms. Fünfzehn Minuten lang hatten die Raketenmotoren das Schiff beschleunigt; für den Rest der zweihundertsechzig Tage langen Fahrt folgte es in absoluter Stille seiner elliptischen Bahn zum Mars. Das Steuerdeck war eine kleine Welt für sich mit unzähligen Skalen und Leuchtanzeigen. Aber der
Mann, der auf Wache war, warf nur gelegentlich einen Blick darauf. Er starrte durch die Kuppel des Astrodoms und versuchte, die Erde zu sehen, wenn sich seine Seite des langsam rotierenden Schiffes ihr zuwandte. Wie alle Mitglieder der Besatzung war Burt Holloway klein von Gestalt, knapp unter einssiebzig. Seine agilen Händen waren schmal, sein blondes Haar kurz, seine Augen blau. Gutaussehend konnte man ihn nicht nennen; Männer sagten, er habe ein Affengesicht mit seinem schwachen Mund und dem fliehenden Kinn, während er bei Frauen Mutterinstinkte weckte. Er war barfuß. Eine kurze Hose war sein einziges Kleidungsstück. Vier Mitglieder der Besatzung befanden sich auf dem Wohndeck, das von den beiden anderen Decks durch einen zylindrischen Zugang erreichbar war. An einer der sphärisch gekrümmten Wände hingen Pritschen, die hochgeklappt werden konnten. Die andere Seite des Raumes diente als Messe: Es gab einen Snack-Automaten, einen riesigen Eisschrank, der bis ins Ausrüstungsdeck reichte, einen Kurzwellenherd und einen runden Tisch. Jack Barr, ein rothaariger, muskulöser Mann, den man den »Eisernen« nannte, lag auf seiner Pritsche; sein Gürtel war in am Rahmen befindliche Ringe geklinkt. Er las einen auf blaßblaues Papier geschriebenen Brief. Wenn er sich gelegentlich das Blatt an die Nase hielt und daran roch, schloß er die Augen, und ein Lächeln spielte um seinen Mund. »Hört euch das an«, sagte er heiser. »›Liebling, Baby – niemals werde ich die Nacht vergessen, als du mir gezeigt hast ...‹«
»Hör bloß auf, Mann«, fiel ihm Ted Craddock ins Wort. Er saß am Tisch, eine Plastikflasche mit Orangensaft in der Hand. Mit fünfundzwanzig war er der Junior der Mannschaft – ein gutaussehender, braungebrannter junger Mann. »Die Frau muß Moschus über ihr Briefpapier gegossen haben. Tu das bloß weg, Jack. Es stinkt schon alles danach.« Er mußte husten. »Immer noch besser als der Gestank, in dem wir sonst die ganze Zeit leben«, sagte Barr. »Ich hätte nie für möglich gehalten, daß ihr Kerle so komisch riecht, das schwöre ich. Und du, Ted, sprühst auch noch überall deine Bazillen herum. Warum hältst du dir nicht ein Taschentuch vor den Mund? He, hört euch mal das an.« Er zog ein zusammengefaltetes Blatt rosa Papier aus seinem Hosenbund. »Das war eine kleine blonde Zuckermaus –« »Jetzt reichts, Jack«, sagte Emil Jelinek. Er war Mitte Dreißig – ein schmaler, eckiger Mann mit dünnem, schwarzem Haar und einem kleinen Schnurrbart. »Bis zu der nächsten Frau sind es mehr als zweieinhalb Jahre. Bis du wieder bei denen bist, hat jede von ihnen zwei Kinder.« »Die nicht«, prahlte Barr. »Die wartet. Ellen zum Beispiel schreibt es hier. Fünf Jahre wartet sie, wenn es sein muß, auch zehn. Einen wie mich gibt es nicht noch mal, schreibt sie.« Von der anderen Seite des Decks hörte man Lachen. Tony Migliardo war ein junger Mann mit dunklen Augen und schwarzbraunem Haar. »Solche wie dich gibt es viele, Barr, und sie wird sie finden. Vielleicht besorgt's ihr schon längst irgendein anderer, und besser als du –«
»Du dreckiger kleiner –« Barr versuchte, von seiner Pritsche zu springen, aber der Gürtel hielt ihn zurück. Jelinek starrte ihn an. »Alle mal ruhig für zehn Sekunden! Wenn wir uns schon nach fünf Tagen so aufführen, was tun wir dann erst nach zweihundertsechzig? Mig? Hörst du mich?« »Tut mir leid, Jack«, entschuldigte sich Migliardo. »Ich hätte das nicht sagen sollen.« »Schon gut«, sagte Barr. »Außerdem«, fügte Jelinek hinzu, »wäre es wohl am besten, wenn du uns mit den Einzelheiten deiner amourösen Eroberungen verschonen könntest, Jack.« »Dann verpaßt ihr eben die Chance eures Lebens, was zu lernen, was man auf der Akademie nicht lernt. Bitte sehr. Dann bleibt ihr eben dumm«, knurrte Barr. Craddock begann zu husten. Barr fuhr zu ihm herum. »Und das? Das muß man sich wohl trotzdem weiter gefallen lassen?« »Ich will sehen, was ich tun kann. Ted?« sagte Jelinek. Er öffnete das Schränkchen neben seinem Kopf und holte ein Ophthalmoskop heraus. Craddock löste sich aus seinen Gurten und schwebte zu Jelineks Pritsche hinüber. Dort hielt er sich mit einer Hand fest, während Jelinek seinen Hals inspizierte. »Der Kehlkopf ist entzündet. Aber es könnte auch bloß vom Husten kommen.« Jelinek holte einen kleinen metallenen Zylinder aus dem Kästchen und drückte auf einen Knopf an dessen Seite. Zwei blaue Pillen hüpften in seine Hand. »Ein bißchen Penicillin wird nicht schaden. In sechs Stunden kriegst du noch eine.«
»He, Emil«, sagte Barr plötzlich. »Das stimmt nicht, was du da sagtest – das mit den fünf Tagen.« Migliardo warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Fünf Tage, eine Stunde, sechzehn Minuten und einunddreißig Sekunden.« »Die Uhr muß falsch gehen«, murmelte Barr. »Mir kommt es mehr wie ein Monat vor.« »Sie ist mit dem Quarz-Chronometer auf dem Steuerdeck synchronisiert«, sagte Jelinek. »Sie geht so genau, wie eine Uhr überhaupt gehen kann.« »Und wenn Phillips sie so hat stellen lassen, daß sie langsamer geht?« murrte Barr. »Ich würde es ihm fast zutrauen. Wenn wir daran glauben, daß wir die Hälfte geschafft haben, und allmählich z u spinnen anfangen – dann würde er uns erklären, daß der Flug fast zu Ende ist. Der würde das für sehr clever halten.« »Hör mal, Jack«, sagte Craddock, der eben zum Essenstisch zurückschwebte, »soll das ein Witz sein?« »Was heißt hier Witz? Ich weiß, daß wir schon länger als fünf Tage unterwegs sind.« Craddock hielt sich am Tischrand fest und fuhr mit den Füßen in die Halteschlingen. »Wir haben keine Funkverbindung – wie sollte er uns das sagen?« »Und wofür, glaubst du, ist unsere drehbare Parabolantenne da?« erwiderte Barr sarkastisch. »Die ist für die Telemetrie der Raketensonden, wenn wir zum Mars kommen.« »Ja, das hat man uns gesagt«, antwortete Barr in spöttischem Ton. »Aber warum ist sie immer auf die Erde gerichtet?« Craddock reagierte heftig. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht empfängt sie Kontrollwerte für unsere Instrumente.«
»Kontrollwerte! Bei der Energie, die das Ding verbraucht? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!« Migliardo verschluckte das Stück Candy, an dem er gekaut hatte. »Die Antenne verbraucht nicht so viel.« Barr sah ihn verächtlich an. »Deswegen bist du eben Ingenieurassistent in dieser Badewanne und nicht Ingenieur. Das Kontrollinstrument zeigt den Verbrauch nicht an. Ich habe mich schon gefragt, warum der Reaktor nicht seine volle Kapazität liefert. Das Ding da draußen schluckt einen Teil davon, und zwar so, daß das Instrument es nicht anzeigt. Das ist eine Trick-Schaltung.« »Aber warum sollten sie denn so etwas tun?« sagte Migliardo friedlich. »Und warum ist dann ein Wandpaneel auf dem Steuerdeck versiegelt und unserem Zugang entzogen?« fragte Barr. Er wandte sich Jelinek zu. »Du weißt das besser als jeder andere.« »Man hat uns gesagt, daß dies ein zusätzlicher Sicherheitsfaktor ist, neben den Sicherheitsfaktoren bei Treibstoff und strukturaler Stärke«, sagte Jelinek ruhig. »Und warum haben wir nichts davon erfahren?« »Als Psychologe muß ich dazu sagen, daß ein Sicherheitsfaktor, der ganz genau bekannt ist, in Wirklichkeit keiner ist. Man rechnet mit ihm. Aber dieser Sicherheitsfaktor ist etwas, was uns noch helfen soll, wenn alles andere versagt. Wir sind besser dran, wenn wir ihn nicht so genau kennen.« »Das ist, wie wenn man an Gott glaubt«, sagte Migliardo. Jelinek nickte. »Dies ist wirklich eine Art Glaubenssache.«
Barr verzog das Gesicht. »Blödsinn. Ich möchte es wissen. Gott überlasse ich denen, die ihn brauchen. Auf meinen Instrumenten ist von ihm nichts zu sehen. Eins will ich euch sagen: Die Sache mit dem Sicherheitsfaktor ist genauso ein Bluff. Man hat uns nichts Genaueres darüber gesagt, weil es den Faktor gar nicht gibt. Diese versiegelte Wandverkleidung – das bedeutet gar nichts. Wenn wir sie aufmachen, dann finden wir den Raum dahinter so leer wie die Versprechungen des Papstes.« »Barr ...« protestierte Migliardo. »Mig!« verschaffte sich Jelinek Gehör. »Behalte deine Meinung für dich, Jack, und laß die Hände von diesem Paneel. Wenn nichts dahinter ist, dann ist es besser, wenn wir's nicht wissen. Die Sache mit der falschen Zeit, die die ganze Debatte hier ausgelöst hat, ist absurd, das weißt du. Wir überprüfen sie jeden Tag, wenn wir unsere Position berechnen.« »Ja, schon«, räumte Barr ein, »aber –« Plötzlich machte es pingngng! Das Echo hallte durchs ganze Schiff. Die Lichter gingen aus. Jemand schrie: »Meteorit!« Erregte Stimmen riefen Befehle durcheinander. Barr bemühte sich, Ordnung in das Chaos zu bringen. »Ruhe! Ruhe! Die Kugel ist nicht getroffen. Burt? Wie steht es bei dir?« »Okay«, hörte man Holloways Stimme vom Steuerdeck. »Aber wir sind jetzt auf Batteriestrom. Ich versuche, den Treffer zu lokalisieren.« »Bemüh dich nicht«, sagte Barr. »Er ist irgendwo vorn, im Reaktor oder in der Verdrahtung dazwischen.« »Wenn es der Reaktor ist« – begann Craddock mit
unsicherer Stimme. »Dann sind wir tot«, vollendete Barr den Satz. »Die Batterien reichen nur für ein paar Stunden. Und dann geht die Klimaanlage aus. Ich will mal nachsehen. Zieh deinen Anzug an, damit du mir helfen kannst, wenn's nötig ist.«
3 Auf dem Bildschirm im Vorführraum des Kleinen Rades wurde es dunkel. Lloyd schaltete das Licht ein und blickte Faust an. Faust war nicht größer als einssechzig. Das Haar über dem feingeschnittenen Gesicht war grau. Er hatte die Stirn gerunzelt, und der Blick seiner Augen war hart. »Sie sind es, Lloyd«, sagte er mit seiner überraschend volltönenden Stimme. »War das das Ende? Ist es das, was Sie vor mir verbergen?« »Beruhigen Sie sich, Jim«, erwiderte Lloyd. »Wir verbergen gar nichts vor Ihnen. Der Meteorit traf den Reaktor nicht. Er durchschlug eine Zuleitung, und die Santa Maria mußte auf Batteriestrom gehen. Danach reichte die Sendeleistung gerade noch für Ton aus, und selbst das war eine Belastung, der die Batterie nicht lange gewachsen war. Barr fand die beschädigte Stelle und flickte die Leitung in fünfundzwanzig Minuten.« Faust atmete auf. »Für Barr müssen wir Gott danken. Die anderen scheinen recht uninformiert zu sein.« »Barr ist der Mann der Tat«, sagte Lloyd. »Als das Unerwartete eintrat und schnelles, präzises Handeln
erforderlich war, war er zur Stelle.« »Dann verdient er, dabei zu sein. Nun, sehen wir weiter.« »Wir haben zweihundertundneunundfünfzig Tage Film – vierundzwanzig Stunden pro Tag.« Faust runzelte die Stirn. »Kann ich Sie denn damit betrauen, für mich eine Auswahl zu treffen?« Lloyd stand auf. Ihm kam der Raum groß vor. Es war die Himmelsbeobachtungsstation, ein Raum von etwa sieben Meter Höhe und Querschnitt. Faust allerdings mußte er wohl beengend, stickig und stinkend erscheinen. Natürlich kann sich ein Mann nach zehn Jahren an diese Dinge gewöhnen – genauso, wie er sich so an eine Frau gewöhnen kann, daß er nur noch ein halber Mann sein würde, wenn sie ihn verließe. Er setzte sich auf einen Stuhl neben Faust und sah dem Politiker in die Augen. »Das werden Sie müssen, Jim. Sie sind unser Public-Relations-Mann. Sie haben uns doch bisher vertraut. Jetzt, glaube ich, sind Sie mehr der Politiker, Jim.« »Ich bin beides. Die Partei hat sich seit jeher für die Raumfahrt eingesetzt – von Anfang an, als es darum ging, Rev McMillen in S.1.1 zu retten. Seit mehr als dreißig Jahren kämpfen wir für eure Sache, Lloyd. Ich glaube, wir hätten ein wenig Vertrauen verdient.« »Und Sie haben es, Sie und die Partei«, erwiderte Lloyd. »Aber vergessen wir nicht, daß nicht alles, was Sie getan haben, aus uneigennützigem Wohlwollen heraus erfolgt ist. Politisch und finanziell haben sie viel profitiert. Die Partei ist heute die stärkste politische Kraft auf der Erde, selbst wenn sie keine absolute Mehrheit besitzt. Und Ihre Stimme gilt am mei-
sten in dieser Partei. Auch persönlich sind Sie nicht schlecht gefahren – alles legal und völlig in Ordnung, wie ich betonen möchte. Jedenfalls ist Ihre Seite des Brotes ganz schön gebuttert. Und Sie haben etwas von Ihrem eigenen Geld in das Rad gesteckt. Sie haben Profit gemacht. Und jetzt sagen Sie, Sie können uns nicht vertrauen.« »Vertrauen«, sagte Faust, »ist keine Einbahnstraße.« »Wie würde es die Öffentlichkeit aufnehmen«, sagte Lloyd langsam, »wenn sie wüßte, daß sich die Mannschaft der Santa Maria schon in der ersten Woche des Fluges in den Haaren liegt?« »Es wäre sicher ein Schlag für die Börse.« Lloyd breitete die Hände aus. »Und?« »Deshalb bin ich hier, Lloyd«, sagte Faust, ohne die Stimme zu erheben. »Ich muß die Wahrheit wissen. Wir brauchen die Planeten nicht unbedingt. Wir können ein paar Jahre stillhalten und unsere Gewinne konsolidieren und Mars und Venus vergessen.« »Und unsere Überschüsse, Jim? Die wirtschaftliche Lage?« »Besser jetzt eine ökonomische Krise, die wir überwinden können, als später eine Depression, die uns alle umwirft und jemand wie Deacon McIntire in den Sattel hilft. Eine Wirtschaftskrise können wir durchstehen, wenn wir uns richtig verhalten ... wenn wir die Öffentlichkeit auf einen weiteren Mißerfolg vorbereiten. Schon zweimal haben wir erlebt, daß Schiffe am Mars vorbeiflogen und unverrichteter Dinge wieder zurückkehrten. Wenn wir diesen Mißerfolg ohne Vorbereitung verkündeten, würde Chaos die Folge sein – politisch und ökonomisch. McIntire würde von unseren schockierten Wählern so viele
Stimmen bekommen, daß seine Fundamentalistische Koalition eine klare Mehrheit erhielte. Und sobald er einmal im Sattel ist, bekommen wir ihn nicht mehr herunter. Wir würden ihn umbringen müssen; aber dadurch käme es vielleicht erst recht zur Katastrophe. Ich möchte das nicht, Lloyd. Der Weltraum ist wichtig, aber nicht so wichtig wie Menschen. Wir können einen neuen Anlauf nehmen, wenn wir jetzt fest zusammenhalten.« »Einen neuen Anlauf? Es gibt einen Grundsatz bei Boxern: They never come back. Alles hat seinen psychologisch richtigen Moment. Und für den Mars ist dieser Moment jetzt da. Jetzt oder nie.« »Vielleicht haben Sie recht.« Bedauern klang aus Fausts Stimme. »Vielleicht bedeutet das ›nie‹. Mir täte das sehr, sehr leid. Aber ich werde leben, und Sie auch. Ich möchte, daß die ganze Welt weiterlebt – auch ohne die Sterne.« »Sie haben wirklich vor, uns den Hahn abzudrehen!« sagte Lloyd ungläubig. »Aber man identifiziert Ihre Partei mit der Raumfahrt. Können Sie es sich leisten, auf Gegenkurs zu gehen?« Faust zögerte. »Es wäre zweifellos kritisch, aber wir könnten es. Die Raumfahrt hat uns Siege gebracht – allen, nicht nur der Partei. Doch die Menschen würden einen Rückzug aus der Raumfahrt verstehen. Man müßte sie nur darauf vorbereiten. Ab sofort.« »Natürlich, Jim«, sagte Lloyd bitter. »Aber Sie müssen verstehen. Nicht alles ist das, was es zu sein scheint. Vieles bedarf der Interpretation.« Er sprach ein paar Worte in das Wandmikrophon. »Hier ist der dreißigste Tag.«
4 Dreißig Tage unterwegs. Die Santa Maria befand sich fast zehn Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Die Planetenscheibe war immer noch deutlich wahrnehmbar. Der Mond neben ihr freilich war zu einem Punkt geschrumpft. Mit Ausnahme der Sonne waren Erde und Mond freilich immer noch die strahlendsten Gestirne am Himmel. Holloway stand bewegungslos an der Sichtluke und starrte zu dem Planeten zurück, von dem sie gekommen waren. Auf dem Wohndeck der Mannschaftskugel herrschte völlige Stille. Es war eine Stille, die man sich, wenn man nicht selbst Raumfahrer ist, nicht einmal vorstellen kann. Dann klatschte plötzlich eine magnetisierte Karte auf den Tisch, wo Craddock und Migliardo Gin Rummy spielten. Craddock hustete und legte seine zehn Karten mit dem Bild nach unten auf die Tischplatte, während er sich die andere Hand vor den Mund hielt. Der Anfall schüttelte seinen ganzen Körper. Migliardo nahm eine Flasche und gab sie Craddock. Barr drehte sich auf seiner Pritsche herum, einen Stereobetrachter in der Hand. »Hör auf damit!« rief er erbost. »Hör endlich auf damit, verdammt noch mal!« Craddock spritzte sich Wasser in den Mund, würgte es zwischen den Hustenanfällen hinunter und spritzte von neuem, bis das Wasser zu Ende war. Langsam löste sich der Reiz. Craddock wischte sich Tränen aus den Augen. »Danke, Mig«, sagte er schwach. Er war dünner geworden wie alle anderen. »Emil!« rief Barr von seiner Pritsche. »Warum, zum
Teufel, tust du denn nichts dagegen?« Jelineks ruhige Stimme kam vom Steuerdeck. »Ich sagte dir doch, Jack – es ist psychosomatisch bedingt.« »Wenn da nicht bald was geschieht«, murmelte Barr, »dann wacht Ted eines Morgens ohne Hals auf, durch den er husten kann.« Jelineks schmales Gesicht erschien in der Luke. »Was soll denn das heißen, Barr?« »Genau das, was ich sagte.« »Gar nichts soll es heißen«, sagte Craddock entschuldigend. »Mein Gehuste geht ihm halt auf die Nerven. Geht mir ja selber auf die Nerven, verdammt noch mal.« »Wir sitzen hier alle im selben Boot, Jack«, schaltete sich Jelinek noch einmal ein. »Wir kommen alle durch, oder keiner von uns. Ja, ich weiß – vielleicht könnte Mig deinen Platz einnehmen. Burt könnte das Schiff steuern, wenn mir etwas passierte. Mig könnte für Burt navigieren, wenn es sein müßte, und du verstehst genug von Elektronik, um Teds Arbeit einigermaßen tun zu können. Aber in Wirklichkeit würde es so nicht gehen. Wir sind zu fünft. Das ist das Minimum, wenn eine Gruppe wie wir bei Verstand bleiben soll. Einer weniger, und wir schaffen es nicht.« Sein Gesicht verschwand aus der Luke, und von neuem trat Stille ein. Barr zuckte die Achseln und schaute wieder in seinen Stereobetrachter. Craddock und Migliardo nahmen Karten von dem dicken Paket auf dem Tisch und spielten sie aus. Holloway starrte schweigend zur äußeren Luke hinaus. Jelinek sagte: »Tank B wird zu kalt. Ich werde ihn ins Sonnenlicht drehen.«
Niemand reagierte. Irgendwo im Schiff heulte ein Motor auf, der ein Schwungrad beschleunigte. Langsam begann sich das Schiff zu drehen. Das Heulen schwoll wieder ab, verstummte. Unvermittelt schrie Holloway auf und deutete mit dem Finger auf die Sichtluke. Alle fuhren herum, und Jelineks Kopf erschien in der Öffnung. »Was zum –!« »Burt!« »Um Himmels willen, Burt!« »Da!« stieß Holloway hervor. »Da war etwas – draußen!« »Was denn?« fragte Jelinek. »Was war es denn?« Holloway klammerte sich zitternd an einen Handgriff neben der Luke. Sein Körper schwebte in der Luft. »Ich weiß nicht, was es war. Irgend etwas ... irgend etwas Weißes. Jetzt ist es weg.« »Du hast mehr gesehen, sonst hättest du nicht geschrien«, sagte Jelinek scharf. »Was war es, Burt?« »Es kann ja Abfall gewesen sein«, meinte Migliardo leise. »Ja«, sagte Holloway rasch. »Das muß es gewesen sein. Abfall, der neben dem Schiff schwebt. Als du das Schiff drehtest, kam das Zeug an der Luke vorbei.« »Vielleicht war es das, Burt«, beharrte Jelinek. »Aber was war es denn deiner Meinung nach?« »Also schön!« rief Holloway wütend. »Es sah aus wie ein Gesicht ... ein Gesicht mit einem Bart!« »Ein bekanntes Gesicht?« fragte Jelinek. Holloway schien sich wieder in der Gewalt zu haben. »Ich bin nicht verrückt, Emil. Nein, das Gesicht hab ich noch nie gesehen.«
»Sah es aus wie das eines Toten?« »Nein!« »Woher weißt du das?« Holloway holte tief Atem und sagte dann mit mühsam beherrschter Stimme: »Es hat hier hereingeschaut. Es sah mich an. Die Augen ... noch nie habe ich einen solchen Ausdruck von Kummer und Mitleid gesehen. Es war ... als täten wir ihm leid. Als taten wir alle ihm leid.« »Du lieber Gott!« schimpfte Barr. »So einen Quatsch hab ich noch nie in meinem Leben gehört. Das war doch nur eine Blendung – ein Nachbild.« Jelinek nickte. »Das glaube ich auch. Oder vielleicht war es auch einfach Abfall, wie Mig sagte. Mach dir keine Gedanken, Burt.« Holloway lachte gezwungen. »Wer macht sich Gedanken? Was könnte denn schon draußen sein – fast zehn Millionen Kilometer von der Erde entfernt?« »Da schaut mal her«, sagte Barr. »Da ist was Sehenswertes.« Er schubste Holloway den Betrachter zu. Holloway fing ihn auf, setzte ihn an die Augen und starrte hinein. »Damit vertreibst du dir also die Zeit!« sagte er. »Laß mich auch mal sehen!« sagte Craddock ganz ungeduldig. Holloway warf den Betrachter zu ihm hinüber, als sei es Schmutz, den er loswerden wollte. Dann wischte er sich die Hände an seinen Shorts ab und wandte sich wieder der Sichtluke zu. Craddock starrte lange in den Betrachter, stellte dann ein anderes Bild ein und starrte von neuem. Seine Wangen röteten sich.
Migliardo musterte ihn neugierig. »Also wirklich ... was ist denn das?« Er langte hinüber, um Craddock den Betrachter wegzunehmen. »Du kommst schon noch dran!« sagte Craddock. Migliardo riß ihn ihm aus der Hand. »Du kriegst ihn ja gleich zurück.« Er starrte hinein und fuhr dann sofort wieder hoch. »Im Namen des –« Hastig bekreuzigte er sich. »Wie hast du denn das verdammte Ding an Bord geschmuggelt? Fällt dir nichts Besseres ein, als diese dreckigen –?« Craddock streckte die Hand aus. »Her damit! Los, gib's wieder her!« Jelineks Kopf erschien in der Luke. »Allmählich, glaube ich, verbringe ich mehr Zeit damit, auf euch Idioten aufzupassen als auf meine Instrumente. Laß mich mal sehen!« Verächtlich warf ihm Migliardo den Betrachter zu. Jelinek langte danach, verfehlte ihn aber, und der Betrachter segelte durch das Loch. Einen Augenblick später hörte man, wie Plastikmaterial gegen Metall schlug. Mit einem Griff hatte Barr seinen Gürtel gelöst und war bei der Luke. Er starrte Jelinek an, der mit dem zerbrochenen Betrachter wieder erschien. »Tut mir leid, Jack«, sagte Jelinek entschuldigend. »Ungeschickt von mir.« »Wenn du das absichtlich getan hast –« stieß Barr wütend hervor. »Was wäre dann?« fragte Jelinek ruhig. Barr sagte mit eisiger Stimme: »Dann würde ich dich vertrimmen, bis du lieber ohne Raumanzug aus dem Schiff springst als hier drinnen bei mir zu bleiben. Er ist kaputt!« jammerte er.
»Eigentlich tut's mir nicht sehr leid«, sagte Jelinek. »Kannst du nicht verstehen, daß bei einer Expedition, die zweieinhalb Jahre dauert und an der nur Männer teilnehmen, Pornobilder wirklich nicht das Richtige sind? An Frauen darfst du nicht einmal denken. Das ist die einzige Möglichkeit, jemals wieder an sie heranzukommen.« »Gib das Ding her!« sagte Barr zornig und riß Jelinek die Reste des Betrachters aus der Hand. »Du machst das auf deine Weise und ich auf meine.« Seine Augen unter den schweren Lidern blickten Jelinek feindselig an. »Laß mich in Zukunft bloß in Frieden, sonst kehrt nur einer von uns beiden zurück.« Barr schlüpfte mit den stämmigen, haarigen Beinen durch die Halteschlaufen am Tisch und untersuchte sorgfältig den beschädigten Betrachter. Keines der Einzelteile fehlte. Vorsichtig und mit einer für seine dicken Finger erstaunlichen Geschicklichkeit zerlegte er den Apparat. »He, Burt«, rief er, »wirf mir doch mal die Tube mit dem Kleber aus meinem Spind rüber.« Einen Augenblick später schwebte sie auf ihn zu. Mit einer nonchalanten Handbewegung pflückte Barr sie aus der Luft. Langsam und präzise bestrich er die Kontaktflächen der Teile mit Klebstoff und begann sie wieder zusammenzusetzen. Migliardo klatschte triumphierend seine letzte Karte auf den Tisch und machte sich dann daran, seine Punkte addieren. Holloway starrte mit steinerner Miene zur Luke hinaus. »Ich hab Hunger«, sagte Barr plötzlich. »Mig, du bist heute Koch. Mach mal was Gutes. So ein saftiges
Steak wäre gerade das Richtige.« »Steak gab's gestern«, sagte Migliardo, der gar nicht recht hingehört hatte und seine Karten studierte. »Mir gleich, wann's Steak gab«, sagte Barr. »Ich will es heute.« »Wenn wir einmal die Woche Steak essen, dann reicht es für den ganzen Trip«, sagte Migliardo. »Fangen wir an, jeden Tag Steak zu machen, dann haben wir die letzten zwei Jahre gar nichts mehr. Heute gibt's Schollenfilet.« »Was soll das – ist vielleicht Freitag?« fragte Barr. »In der Tat«, sagte Migliardo. »Heute ist Freitag.« »Dachte ich mir doch, daß ich da so 'nen Fischfresser rieche«, höhnte Barr. »Also, ich scheiß auf Fisch. Warum sollte ich wegen dir Fisch essen?« »Wir haben Fisch für eine Mahlzeit pro Woche«, sagte Migliardo ruhig. »Und Freitag ist dafür ein ebenso guter Tag wie jeder andere. Früher mochtest du Fisch.« Barr hieb mit der Faust auf den Tisch. »Jetzt hängt er mir jedenfalls zum Hals raus! Weißt du was«, fügte er hinzu, als hätte er eine plötzliche Erleuchtung. »Du ißt meinen Fisch, und ich eß dein Steak.« »Nein, danke«, sagte Migliardo höflich. »Fisch mag ich einmal die Woche. Genauso ist es mit Steak. Außerdem –« Migliardo sah auf die Uhr, – »ist es nicht Essenszeit.« »Die Uhr geht falsch!« röhrte Barr. »Was geht da richtig – mein Magen oder diese Uhr? Ich weiß schon, was richtig geht.« Er schlüpfte aus den Halteschlingen und zog sich zur Tiefgefrierkammer neben dem Herd hinüber. Dort wühlte er in den vorgekochten
Gerichten, bis er fand, was er suchte, und steckte es in den Herd. Migliardo wollte etwas sagen, zuckte die Achseln und sagte nichts. Craddock spielte eine Karte aus. »So!« rief Migliardo triumphierend und legte sein Blatt auf. »Damit schuldest du mir dreihundertzwölf Dollar.« Craddock starrte ungläubig auf den Tisch. Plötzlich blickte er auf und warf Migliardo seine Karten ins Gesicht. »Schwindler!« schrie er hysterisch. »Keinen Cent kriegst du von mir, du windiger Gauner! Und ich spiele auch nicht mehr mit dir! Du lausiger, drekkiger Schwindler!« Der Hustenanfall, der ihn befiel, war von solcher Heftigkeit, daß seine Augen aus ihren Höhlen traten. Migliardo starrte ihn ratlos an. Aus einem Schnitt unter seinem linken Augen, wo ihm die Kante einer Karte die Haut aufgerissen hatte, tropfte Blut. Auf dem Bildschirm wurde es dunkel.
5 Als das Licht anging, wandte sich Faust rasch zu Lloyd um. »Noch ein Meteorit?« »Ende der Spule.« »Sieht nicht sehr gut aus«, sagte Faust seufzend. »Lassen Sie sich nicht irreführen.«, erwiderte Lloyd. »Wir zeigen Ihnen das Schlimmste. Die meiste Zeit ging das Leben dort oben seinen ganz gewöhnlichen Gang. Keine Debatten, keine Auseinandersetzungen, keine Meinungsverschiedenheiten.«
»Nur einmal im Monat so etwas, und es wäre bereits zuviel. Irgendwie scheint das ja eine recht bunt zusammengewürfelte Gruppe zu sein.« Lloyd lächelte. »Meinen Sie? Wir haben sie sorgfältig ausgewählt in Hinblick auf Ausgewogenheit der Mannschaft und Vorhandensein der notwendigen Fertigkeiten. Sie sollten einander ergänzen; die Stärke des einen sollte die Schwäche des anderen ausgleichen. Wir haben an alles gedacht – die Art des psychologischen Drucks, mögliche Persönlichkeitsveränderungen, die Hackordnung – aber das ist so schwierig, als wollte man die Art der Jupitermaterie vorhersagen. Diese Männer leben unter Bedingungen, über die wir nichts wußten, als wir sie auswählten. Erst jetzt lernen wir sie kennen.« Faust sah Lloyd neugierig an. »Ich dachte, diese Männer seien Freunde von Ihnen.« Lloyds Miene verhärtete sich. »Das sind sie. Jeder einzelne. Man muß den besten Kandidaten aussuchen und ihn dann genau beobachten. Versagt er, dann darf man den gleichen Fehler nicht noch einmal machen. Blindlings werde ich keine Männer mehr hinausschicken.« Faust runzelte die Stirn. »Ich verstehe. Aber nimmt die Fernsehausrüstung nicht Platz weg, den man für etwas nützen könnte, was ihnen hilft zu überleben? Mehr Nahrungsmittel und Wasser? Genug Fleisch, damit Barr jeden Tag ein Steak essen kann? Funkausrüstung?« Lloyd schüttelte den Kopf. »Wenn es genügend Steaks gäbe, würden sie Barr nicht mehr interessieren. Seine Motivation ist psychologisch bedingt – alle ihre Motivationen. Eine Funkausrüstung wäre keine
Hilfe, sondern eine Bedrohung ihrer geistigen Gesundheit. Wie würden sie sich fühlen, wenn sie wüßten, daß sie für mindestens zweieinhalb Jahre unwiderruflich vom Rest der Welt abgeschnitten sind, und ständig daran erinnert würden, daß die Menschen dort unten ein sicheres, glückliches Leben führen – daß sie essen, was sie wollen, auf Sportplätze gehen, mit Frauen schlafen, auf der grünen Erde herumspazieren? Das würde sie wahnsinnig machen. Wir haben das auf der Pinta und auf der Nina versucht. Auf der Pinta haben sie den Empfänger schon in der ersten Woche zerschmettert. Auf der Nina dauerte es zehn Tage. Diese Männer sind abgeschnitten. Sie müssen es wissen – müssen wissen, daß sie keine Hilfe erhalten können, daß sie ganz auf sich allein gestellt sind. Psychologisch müssen sie das Gefühl haben, daß auch für alle anderen das Leben stehengeblieben ist. Wenn sie zurückkommen, werden sie alles genauso vorfinden, wie sie es verlassen haben – die selben Freunde, die gleichen Jobs, die selben Mädchen. Nein, ein Empfänger ist nicht die Antwort.« »Das klingt«, sagte Faust, »als wollten Sie sich selbst überzeugen.« »Glauben Sie vielleicht, ich hätte nicht Angst davor, mir diese Filme anzusehen? Und dennoch freue ich mich darauf mit einer Faszination, die mich erschreckt. Aber eines weiß ich: Diese Männer haben genug, um durchzukommen – wenn Menschen überhaupt durchkommen können. Sie haben mehr als genügend Nahrung, mehr als genügend Brennstoff, mehr als genügend Luft. Und zu all dem kommt noch der Sicherheitsfaktor.«
»Ah, der geheimnisvolle Sicherheitsfaktor«, sagte Faust. »Den hatte ich fast vergessen. Worin besteht er?« Lloyd zögerte. »Das sollten Sie sich lieber selbst ansehen. Er hat auf ziemlich ... seltsame Weise geholfen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Wie wär's mit dem Lunch? Amos wartet schon.« »Amos sieht schlechter aus als vor einem Jahr«, sagte Faust besorgt. »Wie lange hält er noch durch?« »Nicht lange genug, um zu tun, was er tun möchte.« »Warum hat er es nie zum General gebracht?« »Er hat die Beförderung mehrere Male abgelehnt. Das Kommando über das Kleine Rad, das ist ein Colonelsposten. Unten glauben Sie, daß der Job für einen General nicht wichtig genug ist. Aber wenn man ihm seinen Job wegnimmt, dann stirbt er. Physisch wäre das eine Katastrophe für ihn. Erwähnen Sie nichts davon, daß ich es Ihnen gesagt habe – er hat ein schwaches Herz. Schwerer Primärschaden. Hier wird er länger leben.« »Sie haben's auch nichts zum General gebracht«, sagte Faust. »Wie viele Beförderungen haben Sie abgelehnt?« »Ein paar«, erwiderte Lloyd knapp. »Da sind wir schon.« Er zog eine Tür auf, und sie traten in die Messehalle mit den drei langen Aluminiumtischen. Bis auf Amos Danton, der neben dem Ausgabeschacht des elektronischen Herdes saß, war der Raum leer. Danton starrte ausdruckslos auf sein Tablett, sah aber lächelnd auf, als sie eintraten. »Ich habe mir erlaubt, für Sie zu bestellen«, sagte er.
Sie setzten sich vor ihre Tabletts und begannen zu essen. Lloyd bemerkte, daß Danton nur einen Salat vor sich stehen hatte. Er stocherte mit der Gabel darin herum, nahm aber keinen Bissen zu sich. Lloyd liebte diesen Mann, dieses kantige, dunkle Gesicht mit den fast blinden Augen und den dünnen weißen Bartstoppeln – diesen harten, begabten Menschenführer, der zu viele von ihnen in den Tod geschickt hatte und mit jedem von ihnen gestorben war – diesen seltsamen, leidenschaftlichen Raumfahrer – diese Vaterfigur. »Was meinen Sie, Jim«, sagte Danton. »Sie kennen sich aus mit Menschen. Sie sind noch unbefangen – Sie haben nicht mit diesen Dingen gelebt wie ich. Ist es schlimm?« Faust nickte langsam. »Wenn sie es schaffen, ist es ein Wunder.« Danton stöhnte auf. »Sie haben nur die ersten zwanzig Tage gesehen. Lloyd, ich sagte Ihnen, daß ich hätte mitfahren sollen. Sie hätten mich gehen lassen müssen.« Lloyd wollte etwas sagen, aber Faust kam ihm zuvor. »Nein, Amos. Wir konnten Sie nicht entbehren. Ohne Sie wäre hier nur noch das Nichts. Sie sind immer noch unentbehrlich.« »Ich möchte Ihnen ja so gern glauben«, sagte Danton und schlug die runzligen Hände vor das Gesicht. »Aber Lloyd kann mein Werk weiterführen.« Er wandte sich Phillips zu. »Sie werden das Werk weiterführen, Lloyd! Ihr Platz ist hier und nirgendwo sonst.« Er blickte zur Luke hinüber, wo sich die vielfarbigen Sterne drehten. »Das alte Gesetz muß weichen. Die Zeit der Nichtspezialisten ist vorbei. Jetzt ist
die Reihe am Psychologen, der nicht den Weltraum dem Menschen anpaßt, sondern den Menschen dem Weltraum.« Lloyd sagte: »Fertig?« Danton stand mit ihnen auf. Lloyd wandte sich Faust zu. »Machen Sie weiter, Jim?« Faust nickte und ging zur Tür. Als sie allein waren, sagte Lloyd: »Amos ... Terry will mich verlassen.« Danton schloß einen Moment die Augen und sah dann Lloyd voller Besorgnis an. »Und die Kinder?« »Die will sie mitnehmen. Sie hat genug, Amos. Jahrelang habe ich das kommen sehen. Ich versuchte, sie darüber hinwegzubringen; aber was kann man tun, wenn eine Frau Umgang mit normalen Leuten braucht, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen – wenn sie möchte, daß ihre Kinder im Sonnenschein über grüne Wiesen rennen, daß sie Baseball und Fußball spielen daß sie tanzen gehen und mit einem Mädchen im Mondschein sitzen? Was soll man dagegen sagen?« »Gar nichts. Das weiß sogar ein Mann, der niemals eine Frau gehabt hat.« »Eins scheint mir klar zu sein«, sagte Lloyd langsam. »Wir haben einen Fehler gemacht, als wir die Häuser hier bauten. Hier oben ist es schon einsam genug, aber wir haben diese Einsamkeit noch vergrößert. Wir haben hier neun Familien und ein leeres Haus, seit Chapmans Frau ihn verließ. Warum verbinden wir nicht die neun Häuser – mit dem leeren Haus in der Mitte? Wir könnten ein Erholungszentrum daraus machen mit einer Wandelhalle, einer
Tanzfläche, Spielzimmer und mit einem Gymnastikraum in der Mitte. Die Frauen können sich dort treffen, ohne ins Freie zu müssen, die Männer können es auch benützen. Könnten wir uns das leisten?« Danton nickte. »Am größten ist der Arbeitsaufwand, aber wir haben zur Zeit nicht viel zu arbeiten. Nicht nur, daß wir uns das leisten können – wir können uns nicht leisten, darauf zu verzichten. Aber Ihr Problem löst das auch nicht.« Lloyds Miene verdüsterte sich von neuem. »Ich weiß.« »Ich spreche nicht gern wie ein Briefkastenonkel«, sagte Danton, »aber Frauen brauchen Sicherheit. Psychische Sicherheit. Wann haben Sie Terry zum letzten Mal gezeigt, daß Sie sie lieben?« »Vielleicht ist das schon zu lange her«, sagte Lloyd traurig. Dann rief er unvermittelt, als sei er plötzlich besserer Stimmung: »Schauen wir uns die Filme an.«
6 Dreiundsiebzig Tage unterwegs. Der bizarre Apparat aus Kraftstofftanks, Raketenmotoren und gebrechlichem Lebensraum, die Santa Maria, befand sich neunzehn Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Während der letzten paar Tage war der helle Doppelstern, den Erde und Mond gebildet hatten, langsam dunkler geworden und dann verschwunden. Er hatte dem Schiff seine Nachtseite zugewandt. Dieses Mal war es nicht ruhig im Schiff. Musik dröhnte durch die Mannschaftskugel – heulende Gitarrenklänge über endlos wiederholten stampfenden
Ostinatofiguren. Holloway hatte Wache. Er starrte durch das mit der Himmelskamera kombinierte Teleskop. Craddock war beim Wasserspender und füllte seine Flasche. Immer wieder schüttelten ihn Hustenanfälle. Sein Gesicht wirkte jetzt ausgezehrt; er schien um Jahre gealtert zu sein. Barr lag auf seiner Pritsche und las ein Taschenbuch. Dann und wann lachte er leise auf. Jelinek und Migliardo hielten sich an Handgriffen neben der Sichtluke fest. Obwohl ein dicker, durchscheinender Schild über sie geschoben worden war, strahlte die Sonne immer noch durch wie eine weißglühende Scheibe. »Jack!« sagte Craddock plötzlich. »Kannst du den Lärm nicht ein bißchen leiser machen? Die Bänder hören wir nun schon zum zwanzigstenmal.« »Immer noch besser«, sagte Barr, »als dich die ganze Zeit husten zu hören.« »Nur ein klein wenig leiser, Barr«, sagte Jelinek, ohne sich umzudrehen. »Das ist nicht zuviel verlangt.« »So, wirklich?« empörte sich Barr. »Mig?« fragte Jelinek. »Zu laut?« »Zu laut«, sagte Mig. »Drei von uns meinen, es ist zu laut, Jack. Burt brauchen wir also nicht mehr zu fragen. Du bist überstimmt. Mach's leiser.« »Leck mich am Arsch!« sagte Barr. Mit einer schnellen Bewegung war Jelinek bei Barrs Pritsche und drehte an einem Knopf. Die Musik verstummte. Im nächsten Moment hatte Barr Jelineks dünnes Handgelenk gepackt. Fast glaubte man, die
Knochen knirschen zu hören. Unheimliche Stille trat ein. Barr hob den Kopf und starrte Jelinek in die Augen. »Mir gefällt es, verstehst du! Die Stille hier ist zu laut ... man muß was dagegen tun. Ich brauche Leben um mich herum ... und wenn ich jeden einzelnen von euch umbringen muß. Und jetzt laß mich in Ruhe!« Er stieß Jelineks Arm von sich, schaltete die Musik auf höchste Lautstärke ein und blieb dann, von seinen Gurten gehalten, in einer schwebenden Position über der Pritsche. Jelinek sah auf sein Handgelenk. Weiße Druckstellen schimmerten auf der braunen Haut. Langsam wurde sie rot. Er kaute auf seinem zerrupften Bart herum. Dann wandte er sich achselzuckend um und schnellte sich wieder zur Luke hinüber. Migliardo sah ihn fragend an. Hilflos zog Jelinek die Brauen hoch. »Und du gehst vom Wasser weg, Craddock!« rief Barr. Craddock zuckte zusammen. »Es ist genug Wasser da«, murmelte er verärgert. »Nicht, wenn du so damit umgehst«, sagte Barr. »Jedesmal, wenn ich hinschaue, fängst du schon wieder zu schlabbern an.« »Zweieinhalb Liter im Tag stehen mir zu, das weißt du.« »Du schaffst doppelt soviel. Schluß damit, oder ich montiere ein Schloß an den Hahn, so wie ich es beim Gefrierschrank gemacht habe, damit ihr mir nicht die Steaks klaut.« »Wasser haben wir mehr als genug, Barr«, sagte Jelinek. »Notfalls ist da auch noch die Brauchwasserreserve.«
Barr verzog verächtlich die Lippen. »Würdest du das Zeug vielleicht trinken?« »Ja.« »Na, viel Vergnügen! Ich jedenfalls nicht. Ich brauche sauberes Wasser. Viel sauberes Wasser. Wenn ihr was anderes wollt, bitte schön!« »Treib's nicht zu weit, Barr«, warnte ihn Jelinek. »Wir lassen dir die Steaks, wir lassen dir –« »Wer läßt mir was?« erregte sich Barr. »Ich nehme es mir!« »Wir machen dir Zugeständnisse aller Art, weil wir alle zusammen die Mannschaft der Outward Bound sind. Aber du solltest nicht übertreiben. Sonst könnten wir zu dem Schluß kommen, daß es ohne dich besser geht.« »Rutsch mir den Buckel runter! Ihr Arschgeigen könntet nicht mal 'nen Floh zerdrücken, wenn er euch am Hintern –« »Emil! Es geht los!« schrie Mig. Jelinek fuhr herum. Am Rande der flammenden Sonnenscheibe erschien ein kleiner schwarzer Punkt. Es war die Erde. Sie sahen, was nur wenige andere zuvor gesehen hatten – einen Durchgang der Bahn von Erde und Mond vor der Sonne. Eine Stunde später würde ein kleinerer Fleck erscheinen und der Erde in Richtung zum flammenden Zentrum der Sonne hin folgen. Acht Stunden würde der Durchgang dauern. »Dreizehnhundertzwölf und sechs Sekunden«, freute sich Holloway. »Präzise Arbeit.« Migliardo sagte: »Ich sollte wohl Burt helfen. Wir brauchen diese Daten für die Kurskorrekturen.« Er machte sich auf den Weg zum Steuerdeck. Craddock sah Barr an und sagte: »Ich werde die
Vorräte überprüfen.« Hustend verschwand er durch die Luke, die zum Vorratsdeck führte. »Mach mal ein wenig leiser, Barr«, sagte Jelinek, als sie allein waren. »Ich möchte mit dir reden; die anderen brauchen es nicht zu hören. So eine Gelegenheit kommt nicht oft.« Mürrisch langte Barr zum Lautstärkeregler und drehte die Musik leiser. Jelinek machte eine ungeduldige Handbewegung. »Worauf willst du hinaus, Barr?« »Mir holen, was mir gehört.« »Alle Steaks? Gehören die dir? Hör zu, Barr!« sagte Jelinek eindringlich. »Wir könnten genauso stur sein wie du. Aber wir wissen, daß wir in einer Eierschale leben. Wir alle sind die Mannschaft auf der Outward Bound –« »Es ist die Santa Maria«, zischte Barr. »Bedaure. Dumme Angewohnheit. Was ich sagen wollte, ist dies: Wir wissen, daß unser Leben von dir abhängt. Aber umgekehrt hängt dein Leben von jedem von uns ab. Ohne mich kommst du nicht zurück, Barr. Ich bin der Pilot. Wenn mir etwas zustößt, bist du tot. Damit das ganz klar ist! Tot, tot, tot! Dann gibt es keine Steaks mehr, Barr. Keine Weiber. Und keinen Barr mehr.« »Läßt mich ziemlich kalt, Jelinek.« »Barr! Höchste Zeit, daß du zur Besinnung kommst. Wir alle sehen dem Tod ins Gesicht. Und wenn du jetzt nicht bald merkst, worum es geht, dann sind wir alle verloren!« »Halt den Mund!« schrie Barr. »Halt's Maul, oder ich stopf es dir! Wir sind in keiner größeren Gefahr, als wenn wir auf einem Ausflug zum Mond wären.
Was soll das Getue, Emil? Wir sind doch erst zehn Tage unterwegs.« »Barr. Es sind dreiundsiebzig Tage. Einhundertundsiebenundachtzig Tage haben wir noch vor uns.« »Du willst mir nur Angst einjagen«, sagte Barr rasch. »Ich habe aufgepaßt. Schau bloß nicht auf die Uhr! Sie stimmt nicht. Die wollen uns reinlegen ... Phillips versucht das. Ich weiß, wie er es machen will. Wir sind schon fast da, Emil. Lüg mich nicht an! Es stimmt doch, oder? Wir sind schon fast –« Jelinek schüttelte langsam den Kopf. »Es würde dir nichts helfen, wenn ich dich in dem Glauben ließe. Schau doch hinaus ... Erde und Mond laufen vor der Sonne durch. Dreiundsiebzig Tage, Barr – genau dreiundsiebzig.« Barrs Augen traten vor Angst aus den Höhlen; sein Atem ging heftig. »Nein, nein –« Craddocks Stimme kam fröhlich vom Vorratsdeck. »Barr, ich habe eben in unseren Wassertank uriniert. Hörst du mich, Barr? Was wirst du jetzt trinken?« Wut verzerrte Barrs Gesicht, doch sah es fast so aus, als sei er erleichtert. »Der dreckige kleine –« Jelinek hielt ihn zurück. »Er lügt, Barr. An den Wassertank kann er gar nicht heran. Jedenfalls hast du ihn so weit getrieben.« Barrs Augen leuchteten wild. »Der bringt es doch fertig. Er haßt mich. Ihr alle haßt mich. Was schert ihr euch schon um mich? Alle belauert ihr mich und mauschelt hinter meinem Rücken und schmiedet Komplotte gegen mich! Nur weiter so! Ich nehm's mit jedem von euch auf – oder mit allen zugleich.« Es gab ein kratzendes Geräusch, als Craddock die Luftschleuse ins Freie durchquerte. Dann fiel die Tür
dröhnend ins Schloß. »Den linken Kerl krieg ich, sobald er wieder zurückkommt«, schnaubte Barr wütend. »Als ich heute morgen auf Wache ging«, sagte Jelinek langsam, »fand ich Kratzspuren an dem versiegelten Wandpaneel auf dem Steuerdeck. Sie stammen von einem Werkzeug; gestern waren sie noch nicht da. Du hattest vor mir Wache.« »Na und?« »Du hast versucht, das Paneel zu öffnen. Damit ist Schluß, Barr. Wenn ich noch einmal solche Spuren am Paneel finde, dann bring ich dich um, Barr. Das ist gar kein Problem. Eine Spritze, während du schläfst ... ein bißchen Arsen auf deinem Steak. Laß die Finger von dem Paneel!« Nach einer Weile sagte Barr: »Das würdest du nicht wagen. Dazu bist du zu vorsichtig. Es würde eure Chance, durchzukommen, gewaltig vermindern.« »Darauf würde ich mich an deiner Stelle nicht zu sehr verlassen, Barr«, sagte Jelinek. Barr schaltete die Musik wieder an. Der Rhythmus ließ das Schiff erzittern. Plötzlich schwebte Craddock herein. Er trug einen Raumanzug. Durch das Visier konnte Jelinek sein verzerrtes Gesicht erkennen; sein Mund stand offen, seine Augen waren weit aufgerissen. Sofort sprang Jelinek auf ihn zu, löste die Halteschrauben und nahm ihm den Helm ab. Craddocks Schreie übertönten noch die Musik. Er schrie so hysterisch, daß er kaum mehr Atem zu holen vermochte. »Ted!« rief Jelinek. Er klatschte ihm die flache Hand ins Gesicht, wobei er sich am Ärmel von Crad-
docks Raumanzug festhielt, um nicht davongeschleudert zu werden. Plötzlich hörte Craddock zu schreien auf. Röchelnd holte er Luft, schloß die Augen und öffnete sie wieder. Sein Blick verriet, daß er wieder bei Sinnen war. »Was ist los, Ted?« drängte Jelinek. »Ich war ... gerade dabei ... die Vorräte zu überprüfen ...«, stammelte Craddock atemlos. »Da bemerkte ich ihn. Er war dort hinten ... irgendwo hinter den Raketensonden.« »Wie sah er aus?« »Bleiches Gesicht. Bart. Ganz weiße Hände –« »Wie konntest du seine Hände sehen, wenn er einen Raumanzug anhatte?« fragte Jelinek scharf. »Keinen Raumanzug. Um die Hüften hatte er irgendwas wie ein Paar Shorts. Kein Helm, kein Anzug.« »Blinder Passagier!« sagte jemand. Jelinek blickte sich zu der Luke um, die zum Steuerdeck führte. Dort waren zwei der Männer zu sehen: Migliardo und Holloway. Holloway hatte gesprochen. »Dort hinten gibt es doch gar keine Luft«, sagte Jelinek. »Nichts zu essen, kein Wasser. Kein Mensch kann dort auch nur fünf Minuten leben, geschweige denn dreiundsiebzig Tage.« »Es braucht ja kein Mensch zu sein«, sagte Holloway. »Aber was denn sonst?« schrie Barr. Holloway schwieg. »Was soll das?« schrie Barr. »Willst du mir vielleicht Angst einjagen? Das soll doch wohl ein Witz sein, was, Ted?«
»Für ihn ist das kein Witz, Barr«, sagte Jelinek. »Dem ist das wirklich in die Knochen gefahren. Aber es muß eine Täuschung gewesen sein. Wir alle sehen hin und wieder Gespenster. Nur wenn wir einmal alle das gleiche Gespenst sehen, dann wird es gefährlich. Barr, geh hinunter und schau nach, was das war.« Barr schwang sich sofort von seiner Pritsche. »Und ob ich das tun werde.« »Mig!« rief Jelinek. »Hilf mir, ihm den Anzug auszuziehen.« Craddock war unfähig, sich zu bewegen. Als er aus dem Anzug heraus war, zitterten alle seine Muskeln. Alle paar Sekunden mußte er husten. Migliardo führte ihn zu seiner Liege. Während er ihn anschnallte, holte Jelinek eine Spritze aus seinem Spind. »Ich gebe ihm Reserpin.« »Hat dich Teds Beschreibung an etwas erinnert?« fragte Migliardo. »Das Gesicht, das Burt durch die Luke gesehen hat. Aber das ist nicht so erstaunlich. Suggestion kann ungeahnte Wirkungen haben.« Erneut hörte man einen Schrei vom Vorratsdeck. Jelinek und Migliardo zuckten zusammen. Aber dieses Mal war es ein Wutschrei. Im nächsten Augenblick kam Barr zurück. »Jemand hat versucht, mich umzubringen«, stieß er hervor. »Wir waren alle hier«, sagte Jelinek. Barrs Stimme überschlug sich fast. »Jemand hat an der Sauerstoffanzeige meines Anzugs herumgebastelt. Der Zeiger steht auf voll, aber der Tank ist leer.« »Das muß ein Defekt sein«, wehrte Jelinek ab. »Ich weiß, wer es war!« rief Barr. »Der kleine
Schleicher da drüben – der war es.« Mit zitternden Fingern deutete er auf Craddock. »Er tat es, bevor er sagte, daß er ins Wasser gepinkelt hat. Er wollte, daß ich ihn ins Freie verfolge. Und dann würde es einfach heißen, es sei ein Unfall gewesen. Aber da hat er sich leider getäuscht.« »Das ist doch absurd, Barr«, erwiderte Jelinek. »Schließ einen anderen Tank an und überprüf die Raketensonden.« Wütend fuhr Barr herum. »Natürlich! Vielleicht stimmt auch sonst noch was mit dem Anzug nicht? Ein kleines Loch vielleicht in einem der Schläuche, ein verklemmtes Ventil ... Den Anzug zieh ich nicht mehr an. Wer mich umbringen will, muß es da tun, wo ich ihn sehen kann.« Er zitterte am ganzen Leib. »Mig«, sagte Jelinek. »Sieh du nach.« Mig machte sich auf. »Barr!« fuhr Jelinek fort. »Leg dich hin. Lies eines von deinen Pornoheften. Aber halt jetzt den Mund!« Er wandte sich Holloway zu, der ihn leichenblaß anstarrte. »Burt! Geh wieder auf Wache!« Eine unnatürliche Stille entstand. Minuten vergingen. Keiner der Männer rührte sich von der Stelle. Schließlich hörte man, wie die Luftschleusentür ging und jemand sich seines Anzugs entledigte. Dann kam Migliardo herein. »Nichts«, sagte er. »Nichts rührt sich, nichts regt sich. Gar nichts.« Draußen zogen Erde und Mond langsam vor der Sonne vorbei.
7 Jim Faust schüttelte den Kopf, als Lloyd das Licht einschaltete. Er war ebenso bleich, wie Holloway es gewesen war. »Übel«, murmelte er. »Übel, ganz übel.« »Vergessen Sie nicht«, sagte Lloyd, »daß Sie nur die schlimmsten Filme sehen. Nicht alle sind so.« »Mein Gott«, knurrte Faust. »Wie ich diesen Barr hasse!« Lloyd räusperte sich. »Er ist ein guter Mann – unser Extrovertierter. Die Balance, verstehen Sie. Wenn alle wie Migliardo oder Jelinek wären, hätten sie längst den Verstand verloren. Barr zieht ihren Haß auf sich. Wir haben das nicht vorhergesehen, aber es ist so gekommen.« »Aber in einer so haßerfüllten Atmosphäre kann man doch gar nicht leben«, sagte Faust. »Manchmal«, erwiderte Lloyd, »kann man nicht ohne Haß leben. Die Santa Maria funktioniert nun schon fast fünfmal so lange wie die Pinta und dreimal so lange wie die Nina.« »Daß sie bloß besser ist, genügt noch nicht«, sagte Faust. »Auf einigen der Spulen, die wir übersprungen haben«, sagte Lloyd, »hat Jelinek mit Psychoanalyse begonnen.« »Dafür ist er doch gar nicht qualifiziert«, entgegnete Faust. »Der Mann ist selbst nicht ganz bei Verstand. Er kann Barr nicht unter Kontrolle halten. Er hat ihn bereits mit dem Tode bedroht. Das macht kein Psychoanalytiker, der bei Sinnen ist. Barr ist auch so mit den Nerven am Ende. Er hat versucht, sich einzu-
reden, daß der Flug schon auf sein Ende zugeht. Aber er weiß, daß das nicht stimmt; und dieses Wissen kompensiert er, indem er sich als kleiner Tyrann aufspielt. Einem, der sowieso schon in Todesangst schwebt, kann man nicht noch zusätzlich Furcht einjagen.« »Jelinek gründet seine Zuversicht auf das versiegelte Paneel«, sagte Lloyd. »Barr bedroht diese Zuversicht. Und Migliardo?« »Verglichen mit den anderen scheint er sich gut zu halten. Vielleicht kommt das einfach daher, daß er ein ruhiger Typ ist. In seinem Inneren sieht es vielleicht ganz anders aus. Alle zeigen sie Symptome von Paranoia. Sie meinen, alles hat sich gegen sie verschworen ...« Lloyd schüttelte den Kopf. »Sehen wir uns die nächste Rolle an.«
8 Einhundertdreiunddreißig Tage unterwegs. Lautlos beschrieb die Santa Maria die elliptische Bahn, die sie schließlich zum Mars bringen würde. Auch in der Mannschaftskugel herrschte Stille. Die Luken waren geschlossen. Der Raum war dunkel. Nach Schiffszeit war es jetzt 0300 Uhr. Es war das, was sie hier, wo die Sonne niemals unterging, Nacht nannten. Nur der regelmäßige Atem der schlafenden Männer war zu hören. Zuweilen war vom Steuerdeck das Klicken eines Relais zu vernehmen. Plötzlich warf sich eine dunkle Gestalt auf einer der Pritschen her-
um und begann zu schreien. Männer kamen taumelnd von ihren Liegen hoch, suchten in der Schwerelosigkeit nach etwas, woran sie sich festhalten konnten. Migliardo fand den Lichtschalter. Aus dem unheildrohenden Dunkel wurde wieder prosaische Realität. Jelinek, Barr und Migliardo schwebten in der Luft. Holloway hatte sich, von den Gurten gehalten, auf seiner Liege aufgesetzt. Er schrie immer noch. Im nächsten Augenblick war Jelinek bei ihm und schüttelte ihn heftig. Schließlich öffnete der Navigator die Augen. Er sah Jelinek und hörte schließlich zu schreien auf. »Was, zum Teufel, ist los mit dir?« fragte Barr wütend. »Ich hatte einen Traum«, sagte Holloway. »Ich glaubte, ins Bodenlose zu fallen.« »Oh ...!« stieß Barr verächtlich hervor. »Nichts weiter? Jetzt könnte ich eine Zigarette brauchen. Meine rechte Hand würde ich für eine Zigarette geben.« Holloway fuhr fort, als hätte er gar nichts gehört. »Ich träumte, ich sei tot. Ich war in einem Metallsarg ... und fiel. Ich glaubte, man würde mich nicht begraben und ich würde deswegen niemals Ruhe finden. Ich war tot, aber ich konnte noch hören und sehen und fühlen. Und niemals würde ich Ruhe finden, denn ich war in einem Metallsarg ... und lief und fiel.« »Sind wir das nicht alle?« fragte Migliardo leise. Barr fuhr herum. »Sind wir nicht alle was?« »Wir sind alle in einem Metallsarg«, sagte Jelinek. »Und wir nennen ihn Outward Bound.« Migliardo sah ihn an. »Mir ist endlich eingefallen,
woher ich den Namen kenne. Ein altes Theaterstück. Eine Gruppe von Leuten war mit dem Schiff unterwegs zu einem unbekannten Ziel. Und schließlich erkannten sie, daß sie alle tot waren.« »Unser Unterbewußtes spielt uns so manchen Streich«, klagte Jelinek. Barr hatte sie mit zusehends düsterer werdender Miene abwechselnd angesehen. »Wovon redet ihr überhaupt? Wir sind doch nicht tot.« »Nein«, sagte Jelinek. »So schlechte Scherze dürfen wir auch gar nicht machen.« »Emil«, sagte Holloway plötzlich mit mühsam verhaltener Stimme. »Emil. Ted da ... auf seiner Pritsche. Er rührt sich nicht mehr.« Teds Liege war neben der Holloways. Jelinek beugte sich hinüber und starrte Craddock an. »Mig. Wirf mir mein Stethoskop rüber.« Aber er wartete nicht darauf; er legte das Ohr auf Craddocks Brust. »Schon gut ... ich brauch es nicht mehr«, sagte er schließlich, als er sich wieder aufrichtete. »Er ist tot.« Migliardo bekreuzigte sich und begann leise irgend etwas zu murmeln. Barrs Augen traten vor Schrecken aus den Höhlen. Holloway schwebte zitternd über seiner Pritsche. »Mich friert«, stieß er hervor. »Findet ihr nicht auch, daß es sehr kalt ist? Und die Luft ist schlecht. Ich glaube, mir wird übel.« Jelinek hatte begonnen, Craddocks Leiche zu untersuchen. Unvermittelt blickte er auf und sah sich um, als zählte er die anderen Männer. Ihre Lippen bewegten sich. »Wer ist auf Wache?« fragte er scharf. »Barr. Du bist doch dran, nicht wahr?« »Shepherd hat mir angeboten, für mich auf Wache
zu gehen«, erwiderte Barr. »Er hat schon viele deiner Wachen übernommen, wie?« »Nicht mehr als für Burt oder Ted.« Barrs Stimme klang unsicher. »Was ist die Todesursache?« »Nicht was«, sagte Jelinek. »Wer. Ted ist ermordet worden.« Drückende Stille trat ein. Jelinek sah jeden von ihnen lange an. »Woher weißt du das?« fragte Barr. »Es ging ihm schlecht. Er war am Abkratzen, das wußten wir alle. Seit einem Monat hat er alles gekotzt, was er aß.« »Jemand konnte es nicht erwarten. Er ist erwürgt worden.« »W-wer –«, stammelte Holloway, »wer – wer hat das getan?« Wieder blickte Jelinek jeden einzelnen von ihnen an. »Wollen wir das wirklich wissen? Wenn wir es wissen, dann müssen wir auch entsprechend handeln. Wenn wir nicht sicher sind, dann können wir tun, als wüßten wir nichts.« »Einen Mörder straflos ausgehen lassen?« rief Migliardo. »Wer sagt uns denn, daß er nicht weiter tötet?« »Vielleicht weiß der Mörder gar nichts von seiner Tat«, sagte Barr. »Wer so etwas tut, mußt doch verrückt sein. Er – er hat vielleicht gar keine Ahnung, was er getan hat.« »Das stimmt durchaus«, sagte Jelinek. »Vielleicht haben wir einen mörderisch veranlagten Schizophrenen unter uns. Aber ich glaube, du hast recht, Mig. Wir müssen es wissen. Damit wir dem Mörder sagen können, was er ist.«
»Aber wie kann man da sicher sein?« fragte Holloway schwach. »Jeder könnte es getan haben. Barr – du hattest wegen seiner Husterei ständig Streit mit ihm. Du sagtest, du würdest ihn umbringen. Jetzt hast du es getan! Genau, wie du sagtest!« »Ich?!« rief Barr mit empörter Stimme. »Und du? Du haßtest ihn. Du wolltest mit Mig die Pritsche tauschen, damit du nicht mehr neben ihm schlafen mußtest. Oder Mig! Du hattest dich auch mit ihm in den Haaren, Mig. Er nannte dich einen dreckigen Schwindler –« »Wer hat sich denn nicht mit ihm gestritten – oder mit allen andern?« fragte Jelinek müde. »Aber Ted hat den Mörder gekennzeichnet. Er war stärker, als der Mörder dachte. Er hat kleine Hautfetzen unter den Fingernägeln. Und auch ein wenig Blut. Es gehört dem Mörder. Und der Mörder hat Kratzspuren an den Armen, wo Ted in seiner Todesangst seine Nägel in sie krallte. Also streckt jeder jetzt seine Arme aus.« Holloway starrte schon seine Arme an, genauso wie Migliardo. Dann streckte Holloway bereitwillig seine Arme aus. »Keine Kratzer. Hier bitte. Nichts.« »Mig?« Mit einem Ausdruck der Erleichterung streckte Migliardo seine Arme aus. »In Ordnung. Barr?« Barr hatte die Arme hinter dem Rücken. »Erst wollen wir deine sehen.« Jelinek streckte seine Arme aus und drehte sie langsam um. Sie wiesen keine Kratzspuren auf. »Jack?« Barr zögerte. »Ich habe mich gestern gekratzt, als
ich meinen Anzug anziehen wollte. Irgend jemand hat wieder daran herumgebastelt. Irgend jemand versucht, mich umzubringen! Den müssen wir finden.« Seine Stimme überschlug sich beinahe. »Bei mir hat er es nicht geschafft, darum hielt er sich an Ted. Bei Ted war es leicht. Ted starb ja sowieso. Ich bin zu stark, um deswegen nahm er Ted. Irgend jemand belauert uns und versucht, uns zu töten. Und diesmal nützte er seine Chance.« »Barr?« wiederholte Jelinek ruhig. »Und Shepherd?« stammelte Barr. »Warum siehst du dir seine Arme nicht an?« »Ich glaube, das ist nicht mehr nötig. Nur wer sich schuldig fühlt, wird sich weigern, seine Arme zu zeigen.« »Das ist ein Trick!« rief Barr plötzlich. »Ich wette, daß Ted gar keine Hautfetzen unter den Nägeln hat. Das sagtest du nur, weil du sahst, wie ich mich gestern kratzte.« Er stieß sich zu Teds Pritsche hinüber. »Du willst mich nur reinlegen, damit ich sage, ich habe ihn getötet.« »Da!« rief Migliardo und deutete auf Barrs Arm. An der Außenseite des Arms, genau über dem Handgelenk, waren drei lange, rote, senkrechte Kratzer. Barr bedeckte die Male. »Ich habe ihn nicht umgebracht!« schrie er hysterisch. »Sonst müßte ich es doch wissen.« Seine Stimme verlor sich in hektischem Schluchzen. »Was sollen wir jetzt tun?« fragte Migliardo. Jelinek hob die Brauen. »Wir sollten wohl an das Begräbnis denken.« »Was willst du denn mit der Leiche tun?« fragte
Holloway. »Ted soll ein Raumfahrerbegräbnis erhalten. Das ist alles, was wir tun können.« »Damit er dem Schiff bis zum Mars folgt?« rief Holloway mit bebender Stimme. »Damit wir ihn jedes Mal, wenn wir hinausschauen, draußen sehen?« »Wenn wir ihm einen Schubs geben«, sagte Jelinek, »ist er in ein paar Stunden außer Sichtweite.« »Man muß ihn bestatten«, murmelte Holloway. »Sonst gibt er keine Ruhe.« Jelinek zuckte die Achseln. »Er bekommt ein Raumfahrerbegräbnis – das hätte er sich gewünscht. Kennst du die Zeremonie, Mig?« »Ich werd's versuchen.« »Unsere Vorräte«, meldete sich Barr. »Sie sind so knapp. Warum sollten wir etwas wegwerfen, was –« »Wenn wir je so weit kommen«, sagte Jelinek düster, »dann ist es aus mit uns. Schnallt ihn los. Bringt ihn zum Vorratsdeck.« Barr ging auf Distanz. »Ich? Ich mag ihn nicht anrühren. Irgend ein anderer. Ich kann das nicht tun. Soll Shepherd es tun.« »Los, mach schon«, sagte Migliardo mit harter, kalter Stimme. »Mach schon, Barr, sonst binden wir ihn mit einem Strick an dich.« »Nein!« wimmerte Barr. »Nein!« »Los, Barr«, sagte Holloway mit dünner Stimme. Langsam schwebte Barr zu Craddocks Pritsche zurück. Langsam und vorsichtig, damit er die Leiche nicht berührte, löste er auf beiden Seiten den Gurt. Dann zog er daran. Die Leiche kam hoch und folgte ihm. Plötzlich öffneten sich ihre Lider. Die blicklosen Augen starrten Barr anklagend an.
Barr ließ das Gurtende fallen, als sei es aus glühendem Metall, und schlug die Hände vor die Augen. »Ted!« schrie er. »Ich hab es nicht getan!« Die Leiche trieb hinüber zu Jelinek, der sie am Arm erwischte. »Barr!« Mit verzerrtem Gesicht stieß Barr sich ab, auf Jelinek zu, packte das Ende des Haltegurts und verschwand dann mit Craddock durch die Luke. Die anderen folgten – Jelinek, Migliardo, Holloway. »Was ist mit Shepherd?«, fragte Migliardo. »Er ist auf Wache«, sagte Jelinek. Migliardo räusperte sich. »›Der Mensch, aus dem Weibe geboren‹«, sagte er leise, »›lebt nicht lange auf Erden, und sein Leben ist Mühsal und Last. Er wächst und wird abgeschnitten wie eine Blume; er bleibt nicht lange und flieht wie ein Schatten ...‹« Sie senkten einen Moment lang die Köpfe. Dann sah Jelinek auf. »Zieh deinen Raumanzug an, Barr!« Barr wandte sich wie benommen um, öffnete eine Schranktür und legte mit automatischen Bewegungen seinen Anzug an. Als er fertig war, hatte Migliardo die innere Luftschleusentür geöffnet. Jelinek sagte: »Schaff die Leiche hinaus. Gib ihr einen kräftigen Stoß.« Barr packte von neuem das Gurtende und bewegte sich schwerfällig in die Luftschleuse. Mit dumpfer Endgültigkeit schloß sich die Tür. Einen Augenblick lang starrten sie sie noch an. Dann schwebten sie einer nach dem anderen wieder zum Wohndeck hinauf. Holloway begab sich sofort zu einer der Sichtluken, öffnete sie und schaute hinaus. »Ich sehe nichts.«
»Was machen wir denn mit Barr?« fragte Migliardo. »Wir können ihn nicht straflos ausgehen lassen.« »Rache?« fragte Jelinek. »Vernunft, nichts weiter. Glaubst du, daß mit seinem Anzug wirklich etwas nicht in Ordnung war?« Jelinek schüttelte düster den Kopf. »Zu einfach. Und zu ironisch. So direkt waltet die Gerechtigkeit nicht. Nein, Barr war der einzige potentielle Mörder, den wir an Bord hatten. Und die nächsten zwei Jahre werden wir wohl mit ihm leben müssen. Schöne Aussicht.« »Kannst du nicht –« Migliardos Stimme versagte fast – »kannst du nicht dafür sorgen, daß wir ihn loswerden?« »Nein. Er war einmal mein bester Freund. Vielleicht wird er es wieder.« Jelinek verstummte. »Nicht Barr hat Ted umgebracht«, fuhr er dann fort. »Es war der Weltraum. Wie kannst du einen Mann für etwas verurteilen, was du dir ruhig und kaltblütig selbst überlegt hast? Könntest du Barr umbringen?« Migliardo zögerte. »Nein.« »Keiner von uns könnte das.« »Ich kann sie nicht sehen«, erregte sich Holloway. »Irgend etwas stimmt da nicht. Dort draußen ist gar nichts.« Plötzlich hörte man die Luftschleusentür. Jelinek sah sich im Raum um und schwebte dann rasch zu Barrs Spind, öffnete ihn und holte einen Schraubenschlüssel heraus. »Leg dich auf deine Pritsche, Burt. Versteck den. Aber benütze ihn, wenn es notwendig wird.« Mit entsetztem Blick bewegte sich Holloway zu seiner Pritsche. Er gurtete sich an und legte dann den
Schraubenschlüssel zwischen seinen Oberschenkel und die Wand. Barr hatte sich seines Raumanzugs entledigt. Langsam, fast zögernd, kam er wieder zurück. »Hast du der Leiche einen Stoß gegeben?« »Ja.« Sein Blick ging zur offenen Sichtluke. »Mig«, sagte Jelinek ruhig. »Sieh nach.« Einen Moment lang faßte Migliardo Barr ins Auge. Dann verließ er den Raum. »Barr«, sagte Jelinek. »Was sollen wir mit dir anfangen?« Barr knetete sich nervös die muskulösen Hände. »Ich weiß nicht.« »Du könntest noch jemand töten.« »Nein!« rief Barr. »Das würde ich nicht tun. Es war nur – ich schwöre dir, Emil, ich habe ihn nicht getötet!« »Jack«, sagte Jelinek kopfschüttelnd, »wie sollen wir dir denn glauben? Wie sollen wir dir vertrauen?« Er stieß sich mit einer Hand von der Wand ab und schwebte auf Barr zu. Barr wich zurück. »Versuch bloß keine faulen Tricks!« stieß er hervor. »Ich warne dich. Sonst wehre ich mich. Ich – ich erledige euch alle. Ich bring dich um, Emil, wenn du mich nur berührst.« Er ballte die Fäuste, als er mit dem Rücken an die Wand nahe bei Holloways Pritsche stieß und wieder zurückprallte. Jelinek bewegte die Hand. Barr sah die Nadel der Spritze blitzen. »Du willst mich vergiften!« schrie Barr. »Ich bring euch um ... euch alle! Ich –« Holloway schlug ihm den Schraubenschlüssel auf den Kopf. Es gab ein hohles dumpfes Geräusch. Barr
verdrehte die Augen. Eine Zuckung ging durch seinen Körper. Dann schwebte er bewegungslos in der Luft. »Danke, Burt«, sagte Jelinek und machte sich daran, Barr zu seiner Pritsche zu befördern. Er schnallte ihn an, holte eine Rolle Klebeband aus seinem Spind und heftete Barrs Handgelenke an den Rahmen der Pritsche. Dann suchte er die Vene an der Innenseite von Barrs Ellenbogen und injizierte den Inhalt der kleinen Spritze. Wieder hörte man die Luftschleusentür gehen. Augenblicke später kam Migliardo herein. Mit einem Blick hatte er die Situation erfaßt Jelinek rieb gerade die Platzwunde an Barrs Kopf mit Desinfektionslösung ab. »Er hat Teds Leiche zwischen die Raketensonden gesteckt«, meldete Migliardo. »Ich hab sie hinausgebracht und weggestoßen. Wie ich sehe, hast du die – die Lage bereinigt.« Unwillig sah Jelinek auf. »Für wie lange? Das Morphium reicht für dreißig Tage. Und was dann?« »Vielleicht können wir, wenn wir den Mars erreichen –« Migliardo verstummte. »Können wir ihm dann vertrauen?« Hilflos zuckte Migliardo die Achseln. »Du bist der Doktor.« Barrs Augenlider hatten zu zittern begonnen. »Mama«, sagte er. Migliardo hatte sich abgewandt. »Ich will mal mit Shepherd sprechen.« Auf dem Deck war es ruhig – bis auf die Stimme eines mißhandelten Kindes, das »Mama« sagte.
9 Faust blinzelte, als das Licht wieder anging. »Die armen Hunde«, sagte er leise. Es klang beinahe wie ein Gebet. Danton stierte bleich auf den Bildschirm. »Ich kann das nicht mehr ertragen«, murmelte er mit heiserer Stimme. »Ich kann Sie verstehen, Amos«, sagte Faust. Dantons Miene verriet Erschrecken und Schuldgefühl. »Ich hab sie hinausgeschickt, Jim. Ich hab sie da reingehetzt. Ich hab Ted umgebracht. Ich hab Barr zu einem zwanghaften Mörder gemacht.« »Ich habe die Leute ausgewählt«, sagte Lloyd. »Niemand ist dafür verantwortlich zu machen«, nahm Faust wieder das Wort. »Es ist der Weltraum. Diese Männer fuhren hinaus, weil sie einem inneren Drang gehorchten. Es ist derselbe innere Drang, dem Sie Folge leisteten, als Sie hierher kamen, Amos. Aber eine neue Umwelt dürstet nach Blut. Menschen bezähmen sie, indem sie ihr Leben opfern. Die Erprobung der westlichen Hemisphäre, der Vorstoß in die Antarktis, die Entwicklung der Atomenergie, der Bau von Wolkenkratzern – für all dies haben Menschen ihr Leben gegeben. Menschen starben, damit das Kleine Rad und das Große Rad gebaut werden konnten. Auch der Weltraum ist hungrig. Und Menschen stekken ihren Kopf in sein Maul, weil sie Menschen sind.« »Zu alt«, sagte Danton und schüttelte das weiße Haupt. »Ich bin zu schnell zu alt geworden.« Er wandte sich um und ging hoch erhobenen Kopfes hinaus. »Danke«, sagte Lloyd ruhig.
»Sie glauben, ich hätte das nicht im Ernst gesagt?« »Ich weiß, daß es Ihr Ernst war. Aber Sie haben nicht alles gesagt. Sie haben ihm nicht gesagt, daß wir aufgeben müssen, wenn es die Santa Maria nicht schafft.« »Das weiß er«, sagte Faust. »Noch ein Film?« »Nein«, antwortete Faust mit müdem Lächeln. »Mir geht es wie Amos. Mehr halte ich nicht mehr durch.« Er versuchte, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben. »Nun, vielleicht schaffen sie es. Es sind ja immer noch fünf.« »Fünf?« »Natürlich. Barr, Jelinek, Holloway, Shepherd, Migliardo.« »Jim«, sagte Lloyd. »Es gingen nur fünf Männer an Bord, als das Schiff zum Marsch startete. Einer von ihnen ist tot.« »Aber sie sind zu fünft!« »Wie sieht Shepherd denn aus?« »Er trägt einen Bart«, sagte Faust zögernd. »Hat ziemlich müde wirkende, tiefliegende Augen ...« »Woher wissen Sie das, Jim? Sie haben ihn niemals gesehen.« »Ich muß ihn wohl schon gesehen haben«, reagierte Faust überrascht. »Auch jetzt kann ich ihn mir sehr gut vorstellen – er muß ein blinder Passagier sein! Deswegen war er nicht auf den ersten Filmen. Hinter diesem versiegelten Paneel –?« »Jim«, wiederholte Lloyd. »Sie haben ihn niemals gesehen.« Faust rieb sich heftig die Augen. »Sie haben recht. Er war während des ganzen Films auf dem Steuer-
deck. Halluzination? Wie ist das zu erklären?« Hilflos zuckte Lloyd die Achseln. »Ich kenne die Saat; aber was für eine Blume daraus wird ... Das ist der Sicherheitsfaktor, von dem wir ihnen erzählen. Und außerdem ließen wir eine posthypnotische Suggestion auf sie wirken: Wenn sie sich unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenübersähen, dann würde Hilfe kommen.« »Barr hielt das für einen Trick.« »Kein Trick, Jim – Wirklichkeit. Es gibt Hilfe. Aber wir erwarteten nicht, daß sie diese Form annehmen würde.« Lloyd schwieg einen Augenblick. »Kommen Sie, Jim. Ich zeige Ihnen Ihre Kabine.« Er führte Faust durch die Speiche zur anderen Seite des Rades und zu der Kabine, die er bewohnt hatte, als er hierhergekommen war. »Amos hat Abendessen für Sie beide bestellt«, sagte Lloyd. »Er erwartet Sie um 1800 Uhr in seiner Kabine. Haben Sie einen besonderen Wunsch?« Faust schüttelte den Kopf. Als Lloyd sich wieder auf den Weg zur Speiche machen wollte, sagte Faust mit Ratlosigkeit in der Stimme: »Wenn ich Shepherd niemals gesehen habe ... woher wußte ich dann, wie er aussieht?« »Ich wünschte, Sie könnten mir diese Frage beantworten«, antwortete Lloyd. Der heiß-feuchte Hydroponieraum befand sich jenseits der Klimananlage im gegenüberliegenden Teil des Rades. Ein breiter, flacher, eine grünliche Masse enthaltender Tank nahm den größten Teil der Bodenfläche ein. Die Algen im Tank absorbierten Kohlendioxid aus der Luft des Rades und erzeugten Stunde für Stunde das Fünfundfünfzigfache ihres eigenen
Volumens an Wasserstoff. Neben dem großen Tank gab es noch einen kleineren, in dem Gemüse und Blumen wuchsen. Ein alter Mann stiefelte dazwischen herum – er war nicht wirklich alt, nur nach Raumfahrermaßstäben. Er war fünfzig. Lloyd grüßte. »General Kovac!« Kovac antwortete mit einer lässigen Handbewegung. »Nur die Ruhe, Lloyd. Ich bin hier nur der Gärtner. Wenn Amos und ich nicht als junge Offiziere zusammengewesen wären, hätte er mir nie erlaubt, mich hier auf diesen Job zurückzuziehen, das wissen Sie.« Sein zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Jedenfalls danke ich Ihnen.« Lloyd lächelte zurück. »Könnte ich vielleicht ein paar Blumen haben, Max?« Kovac griff nach einer dick eingewickelten Schachtel. »Bestens verpackt und isoliert. Gardenien, sagte Amos.« Lloyd nahm die Schachtel und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Lippen. »Gardenien. Sie und Amos –« »Genug jetzt«, sagte Kovac unwirsch. »Ich will davon nichts mehr hören. Und Amos auch nicht. Richten Sie Terry aus, sie soll nicht so dumm sein.« »Danke, Max. Ich will es versuchen.« Der Rekreationsraum des Hauses war leer. Lloyd fragte sich, wo die Jungen sein mochten. Er wickelte die Schachtel aus und öffnete sie. Die Gardenien waren so frisch und weiß, als seien sie eben auf der Erde gepflückt worden. Lloyd betrachtete sie noch einmal, holte tief Atem und hob dann die Tür zum Wohnraum.
Terry, die gerade ein Kleid bügelte, sah auf, als er die Leiter hinunterstieg. Sie wollte etwas sagen, blieb aber stumm. Lloyd ließ die letzten paar Sprossen der Leiter aus und sprang hinunter. »Für dich«, sagte er und hielt ihr die Gardenien hin. Terry schaute den Strauß an, und ihre Augen wurden feucht. Blind streckte sie die Hand aus, um die Blumen in Empfang zu nehmen, und atmete tief ihren Duft ein. »Oh, Lloyd«, sagte sie. »Wie schön sie sind.« »Nicht so schön wie du«, entgegnete Lloyd mit belegter Stimme. Röte hatte sich über Terrys Gesicht gezogen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Du braucht nichts zu sagen. Wenn ich dir jedes Mal, wo ich dir sagen möchte ›ich liebe dich‹, Blumen brächte, dann wäre hier kein Platz mehr für uns. Ich liebe dich wirklich, Terry. Mehr als alles in der Welt. Mehr als meine Arbeit. Wenn du wieder auf die Erde hinunter willst ... dann gehe ich mit dir.« »Oh, Lloyd!« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Du weißt, daß ich dich nicht von hier wegholen will. Ich – ich möchte nur das Gefühl haben, daß du mich brauchst.« »Wenn du mich verläßt«, sagte Lloyd, »dann ist es mir gleich, ob die Sterne vom Himmel fallen.« Sie sah ihn forschend an. »Ich glaube fast, es ist wirklich dein Ernst. Ja, ich glaube es, Lloyd!« Sie nahm ihn in ihre Arme und zog ihn an sich. »Ich bin so glücklich.« Er konnte ihr Herz klopfen spüren. Wenn ich nur kein Psychologe wäre, dachte er. Wenn ich nur nicht mich selbst und alle Menschen um mich herum stän-
dig analysieren müßte. Wenn ich handeln könnte, wie mein Gefühl es mir sagt, statt immer richtig handeln zu müssen. Sie hatte die Augen geschlossen. Er preßte seinen Mund auf den ihren. Ihre Lippen öffneten sich. Als er den Kopf wieder hob, sprudelte es aus ihm heraus: »Terry, wir bauen die neun Häuser zusammen. Und das zehnte kommt in die Mitte – als Erholungszentrum. Du wirst die anderen Frauen öfter sehen können. Es wird Tanz geben, Kartenabende, Filme, alle Arten von Gemeinschaftsveranstaltungen. Wir werden eine wirkliche Gemeinschaft sein –« Sie legte ihm die Finger auf die Lippen und murmelte: »Das ist schön, Liebling. Wunderbar.« Wieder küßte er sie. »Die Kinder?« fragte er unvermittelt. Aber Terry verstand. »Die schlafen«, flüsterte sie und schmiegte sich noch enger an ihn. Er hob sie auf und trug sie zum Schlafzimmer. Sie öffnete die Augen und flüsterte: »Das Bügeleisen, Liebling.« Fluchend stürmte er zurück, riß mit einem Ruck den Stecker heraus und war mit wenigen Schritten wieder bei der Schlafzimmertür. Terry seufzte. Aber sie lächelte.
10 Einhundertsiebenundneunzig Tage unterwegs. Die Santa Maria verfolgte weiter ihre Bahn. Sie war dem Mars merklich nähergekommen, der sich bereits als kleine Scheibe zeigte.
Holloway lag angegurtet auf seiner Pritsche. Unter den Kopf hatte er sich ein zusammengerolltes Kleidungsstück gelegt, damit er bequemer zur Luke hinaussehen konnte. Er war stark abgemagert. Seine dunklen Augen waren wie schwarze Löcher in dem bleichen Gesicht. Barr war immer noch an den Rahmen seiner Pritsche gefesselt. Migliardo versuchte, ihm zerkleinertes Steak einzugeben. Barr spuckte es wieder aus. »Ihr wollt mich vergiften!« schrie Barr. »Ich esse nichts! Ihr wollt mich nur loswerden.« »Barr«, sagte Migliardo geduldig und fing das Fleischstückchen wieder ein, »du hast gesehen, wie ich das Fleisch aus dem Gefrierschrank geholt habe, wie ich es in den Ofen gesteckt habe. Und du hast gesehen, wie ich es wieder herausgeholt und es dir gebracht habe. Nur wenn du nichts ißt, stirbst du.« Barr bäumte sich gegen seine Fesseln auf, vermochte sich aber nicht zu befreien. »Ich esse nichts!« schrie er. »Und ich sterbe auch nicht. Irgendwann einmal komme ich los, und dann bringe ich euch alle um – dich und Emil und Burt und Ted und ... alle außer Shepherd. Er ist gut zu mir –« Seufzend beförderte Migliardo das Essen in den Abfallschlucker und schwebte dann zum Steuerdeck, begleitet von Barrs hysterischen Ausbrüchen. Jelinek saß auf dem Navigatorsitz. Er betrachtete durch ein Teleskop den Mars. »Emil«, sagte Migliardo. Jelinek fuhr zusammen und stieß mit dem Auge gegen das Okular. Er wandte sich um und rieb sich die schmerzende Stelle. »Was machst du hier?«
Jelinek grinste verlegen. »Ich trainiere Navigation. Burt kann da wohl nicht sehr viel helfen, und wenn irgend etwas passieren sollte –« »Mir?« Migliardo nickte. »Gute Idee. Ich sollte wohl auch das Steuern üben. Aber ich war nie ein besonderer Pilot. Aber da ist ja auch noch Shepherd.« Sie sahen einander an und überlegten. Migliardos Miene entspannte sich. »Wir kommen durch, wie, Emil?« »Du und ich und Shepherd.« »Weißt du ... ich war nie das, was man einen guten Katholiken nennt. Aber in letzter Zeit bete ich. Shepherd und ich. Vielleicht hat es geholfen.« »Vielleicht. Aber vergiß nicht – hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Wie steht es mit den Maschinen?« »Die Zweier spuckt, aber eine Zündung hält sie noch aus – sogar zwei, wenn wir Glück haben.« Barr schrie und wütete immer noch. Migliardo lauschte einen Moment. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann, Emil«, sagte er. »Tag und Nacht geht das so weiter. Pausenlos. Schläft der denn überhaupt nie?« »Er macht immer wieder mal ein Nickerchen. Das merken wir gar nicht. Wir sollten es machen wie Burt. Der nimmt das gar nicht zur Kenntnis.« Jelinek musterte Migliardo. »Er muß ja mit der Zeit schwächer werden. Seit einer Woche hat er nichts mehr gegessen, und wenn wir versuchten, ihn intravenös zu ernähren wie Burt, dann würde er den Schlauch herausziehen.« »Das Morphium ist vor einem Monat zu Ende gegangen; Reserpin hilft nicht; außerdem glaubt er, wir vergiften ihn.«
Migliardo fuhr sich nervös über den Mund. »Es ist wie bei einem Baby. Man muß ihn füttern, waschen, ihm die Bettflasche bringen. Bloß kann ein Baby nicht reden.« »Ich würde dich ablösen, Mig; das weißt du. Aber das würde die Sache nur schlimmer machen. Vor mir fürchtete er sich noch mehr.« Migliardo biß sich auf die Lippen. »Ja. Tut mir leid. Manchmal wird es mir einfach zu viel –« Er wandte sich lauschend um. »Da!« rief er beunruhigt. »Das ging schnell. Zu schnell. Ich werde nachsehen.« Während er sich entfernte, herrschte einen Augenblick Stille. Dann hörte man Migliardos entsetzten Schrei: »Emil! Um Gottes willen! Emil!« Im Wohndeck schwebten rötliche Nebel. Purpurne Tröpfchen trieben durch die Luft. Barr lag auf seiner Pritsche; aus seiner Schlagader spritzte immer noch Blut. Jelinek klammerte sich mit einer Hand am Rahmen der Liege fest und drückte die andere auf den zentimeterlangen waagrechten Schnitt in Barrs Hals. Aber das Blut kam schon schwächer, als Jelinek nach der Schlagader suchte. Dann versiegte es völlig. Barr war tot. Seine Augen standen weit offen. In ihrem Blick lagen immer noch Schrecken und Haß. Die Tür des Spindes neben seinem Kopf war geöffnet. Seien rechter Arm war frei. In der rechten Hand hielt er ein rasiermesserscharfes Federmesser. Das Messerchen und die Hand waren blutverschmiert. Sein ganzer Körper war blutbesudelt. Auch Migliardo, der sich neben Jelinek an die Pritsche klammerte, war über und über voll Blut. Nur sein Gesicht war kalkweiß.
»Es ist vorbei, Mig«, sagte Jelinek leise. »Wir müssen hier saubermachen.« »Ich hab nie gewußt«, sagte Migliardo langsam, »daß ein Mensch so viel Blut in den Adern hat.« Er schien keiner Bewegung fähig zu sein. Jelinek schob ihn zur Duschkabine. »Wasch dich. Und wirf diese Shorts zum Abfall.« Als er das Rauschen des Wassers hörte, schwebte Jelinek zu seinem Spind und holte ein Handtuch hervor, mit dem er das Blut von seiner Hand wischte. »Hast du irgend etwas gesehen, Burt?« Holloway starrte zur Sichtluke hinaus. »Nein«, sagte er wie geistesabwesend. »Ich habe nichts gesehen. Nur die Sterne. Die Erde ist noch sehr weit entfernt. Manchmal glaube ich, wir werden sie nie erreichen. Vielleicht ist es nur ein Traum, den ich einmal geträumt habe, und es gibt sie gar nicht. Oder vielleicht bin ich selbst nur ein Traum, den ein anderer träumt. Dann wäre es ohne Bedeutung. Träume sind ohne Bedeutung.« Er verstummte. Die rötlichen Nebel waren verschwunden; die Ventilation hatte sie abgesaugt. Aber immer noch trieben rote Tropfen in der Luft. Methodisch schlug Jelinek mit dem Handtuch danach. Als nur noch ein paar winzige Tröpfchen übrig waren, die mit der Luftumwälzung verschwinden würden, knüpfte Jelinek das blutbefleckte Handtuch um Barrs Hals und schloß ihm die starren Augen. Migliardo kam aus der Duschkabine – nackt, gewaschen und sehr bleich. Bedrückende Stille herrschte, als er zu seinem Spind hinüber trieb, um sich ein Paar Shorts zu holen. »So ist es besser für Barr«, sagte Jelinek. »Er war
unheilbar – selbst wenn wir ihn zur Erde zurückgebracht hätten. Schaffen wir ihn zum Vorratsdeck.« Sie bugsierten die Leiche zum nächstgelegenen Deck. »Shepherd?« sagte Jelinek. Mit gebeugten Häuptern verharrten sie bei Barrs Leiche. Nach einer Weile richteten sie sich wieder auf. »Danke, Shepherd«, sagte Jelinek. »Mig?« Migliardo nickte schweigend und begann, seinen Raumanzug anzulegen. »Wenn du wieder zurück bist«, sagte Jelinek, »dann solltest du mit Shepherd die Blutflecken beseitigen. Das Bettuch der Liege wirfst du in den AbfallEjektor. Ich gehe jetzt wieder auf Wache.« Migliardo nickte und stülpte sich den Helm über den Kopf. Jelinek zog ihm die Schrauben an und machte sich dann auf den Weg zum Steuerdeck. Als er das Wohndeck passierte, sah er sich stirnrunzelnd um. Dann setzte er seinen Weg fort.
11 Ohne das Licht anzuschalten, sagte Lloyd zu den beiden Köpfen zwischen ihm und dem Bildschirm: »Der Film vom zweihundertsechzigsten Tag ist eben entwickelt worden. Sollen wir ihn abspielen?« »Ja«, entgegnete Danton heiser. »Er kann uns endgültigen Aufschluß geben.« »Also los«, sagte Faust. Auf dem Schirm erschienen die ersten Bilder ... Zweihundertsechzig Tage unterwegs. Vor der Santa Maria stand der Mars als große, rot, weiß und grün
schimmernde Scheibe. Er war dreizehntausend Kilometer entfernt. Die Kanäle waren gut sichtbar – natürliche Risse in der Marskruste, durch die vom Südpol her Nebel zog. Die Oberfläche schien mit zunehmender Geschwindigkeit zu rotieren. Bis zur Zündung waren es noch vierundsechzig Minuten. Migliardo saß angeschnallt am Tisch und las ein in schwarzes Leder gebundenes Buch. Es war eine Bibel. Jelinek schwebte neben Holloways Liege. Die Augen des Navigators waren geschlossen. Fast unmerklich hob und senkte sich seine Brust. Jelinek hielt sein Handgelenk und zählte. Schließlich schaute er auf die Uhr und nickte. »Zweiundsechzig Minuten bis zur Zündung. Wir sollten uns an die Arbeit machen, Mig.« Migliardo sah nicht auf. »Shepherd kümmert sich darum.« »Mig –« begann Jelinek und zögerte. »Ich hab das Logbuch angesehen, Mig. Bis zum einhundertzwölften Tag ist Shepherd überhaupt nicht erwähnt.« Migliardo zuckte die Achseln. »Dann hast du das eben übersehen.« »Nein. Ich war natürlich verwundert und habe es noch einmal überprüft. Mig, wie sieht Shepherd aus?« Migliardo ließ sich nicht bei der Lektüre stören. »Du weißt, wie er aussieht. Er hat einen Bart. Traurige, tiefliegende Augen –« »Trägt er eine Art Handtuch um die Hüften?« »Wieso denn«, sagte Migliardo. »Er trägt Khakishorts wie wir anderen auch.« Jelinek stieß einen Seufzer aus und trieb auf Migli-
ardo zu. »Ja. Erstaunlich, daß er genau wie wir beide aussieht, nicht wahr?« »Warum? So sieht er halt aus.« Jelinek hielt sich am Tischrand fest und starrte Migliardo ins Gesicht. »Weil es ihn in Wirklichkeit gar nicht gibt. Mig.« Migliardo fuhr hoch. »Sag so was nicht, Emil. Wir sind sowieso schon zittrig genug. Mach keine faulen Witze!« »Überleg doch mal, Mig«, sagte Jelinek ruhig. »Denk zurück an die Vergangenheit. Denk an den Augenblick, als wir vom kleinen Rad in dieses Schiff stiegen. Phillips hatte sich verabschiedet. Danton hatte sich verabschiedet. Und dann waren wir allein, und das Zubringerfahrzeug hatte uns zur Santa Maria gebracht und wir waren da, wo wir zweieinhalb Jahre lang leben würden. Wer war dabei, Mig?« Migliardo zog die Stirn in Falten. »Du und ich und Barr und Burt und Ted und – und –« Er starrte Jelinek mit weit aufgerissenen Augen an. »Shepherd war nicht dabei.« »Wann ist er aufs Schiff gekommen, Mig?« »Wie konnte er nach dem Start überhaupt aufs Schiff kommen, Emil? Er war nicht dabei, und jetzt ist er da. Das ist alles.« »Rat mal, Mig. Was ist Shepherd?« »Das kannst du dir selbst überlegen.« »Übrigens habe ich noch etwas überprüft. Die Vorräte. Nur wir beide haben etwas gegessen, Mig. Shepherd ißt nicht, trinkt nicht, atmet nicht. Wie soll man ihn nennen? Eine Massenhalluzination, was immer das sein mag? Die Verkörperung eines tief empfundenen Bedürfnisses, das vielleicht durch
posthypnostische Suggestion ausgelöst wird? Aber ich glaube nicht, daß das geplant war.« »Das ist Psychologenlatein, Emil«, sagte Migliardo. Jelinek nickte. »Stimmt. Aber die Rolle des Unterbewußten ist schwer auszurechnen. Wie siehst du das?« »Was die erste Erwähnung Shepherds anbetrifft, so hast du Unrecht. Denk an das Gesicht, das Burt durch die Luke sah. Denk an den blinden Passagier, den Ted sah.« »Das würde bedeuten, daß er etwas – Außermenschliches ist.« »Ja. Was immer er ist – ein Mensch ist er nicht. Aber woher sollen wir wissen, was uns im interplanetarischen Raum erwartet?« »Du weißt mehr als das, Mig.« »Meine Ansicht gründet sich nicht auf Wissen, sondern auf Glauben. Shepherd heißt Hirte. Warum nennen wir ihn so? Hat er sich selbst so genannt? Haben wir uns diesen Namen selbst ausgedacht? Oder ist das etwas, was von anderswoher zu uns kam?« »Wie meinst du das?« »›Der Herr ist mein Hirte‹«, sagte Migliardo leise. »›Mir wird nichts fehlen. Er führt mich auf grüne Weiden und leitet mich hin zu stillen Wassern. Er erhebt meine Seele. Er führt mich den Pfad der Gerechtigkeit um seines Namens Willen. Ja, ich werde wandeln durch das Tal des Todesschattens, aber ich werde das Böse nicht fürchten.‹« »Vielleicht ist es das, Mig«, sagte Jelinek langsam. »Was du da sagst, trägt alle Merkmale einer psychologischen Wahrheit, und es hat auch Berührungspunkte mit der Erfahrung – die stillen Wasser und
das Tal des Todesschatten. Ich wünschte, ich wäre kein solcher Skeptiker. Ich möchte beten mit dir und Shepherd. Nur – Shepherd habe ich in letzter Zeit nicht gesehen.« »Emil –!« begann Migliardo. »Schon lange möchte ich dir etwas sagen.« »Ein Geständnis?« fragte Jelinek ruhig. »In mehr als einer Hinsicht. Ich habe Barr getötet.« »Das weiß ich. Das Band, mit dem sein Handgelenk festgemacht war, war durchschnitten – nicht zerrissen. Er konnte es nicht zerschneiden, wenn er kein Messer hatte; und an das Messer konnte er nicht heran, wenn eine Hand nicht frei war. Außerdem hätte Barr niemals Selbstmord begangen. Er hätte sich befreit und wäre dann auf uns losgegangen.« Migliardo schlug sich die Hände vors Gesicht. »Er war mein Freund.« »Du hast das getan, was er von einem Freund erwartet hätte – wenn er einsichtig genug gewesen wäre, einen Freund zu erkennen. Keiner von uns ist unschuldig, Mig.« Jelinek sah auf die Uhr. »Noch fünfundzwanzig Minuten bis zur Zündung.« Ein Ausdruck der Besorgnis trat in Migliardos Gesicht. »Wenn es Shepherd nicht gibt, dann können wir nicht – er ist auf dem Steuerdeck, nicht wahr, Emil?« Jelinek runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Ich habe ihn in letzter Zeit nicht gesehen.« Migliardo zog die Beine aus den Halteschlingen. Er schwang sich hastig zur Luke und verharrte dann, den Kopf schon jenseits der Trennwand. »Shepherd! Emil, er ist weg!« Er kam zurück und suchte mit Angst und Schrecken im Blick das Wohndeck ab.
»Shepherd! Shepherd!« Wenig später war er Vorratsdeck. »Shepherd!« rief er. Und noch einmal – fast verzweifelt: »Shepherd!« Plötzlich schrak Jelinek zusammen. »Mig!« Mit einem Satz war er bei der Luke. »Shepherd!« rief Migliardo noch einmal. Dann schlug die Tür der Luftschleuse zu. Ehe Jelinek sie erreichte, hörte er noch das zischende Geräusch entweichender Luft. Mit zusammengebissen Zähnen wandte er sich um und öffnete die Spindtüren an der Wand. Migliardos Raumanzug war da, genauso wie die anderen vier. Beklommen starrte er auf die Luftschleuse. »Leb wohl, Mig. Ich hoffe, du findest ihn«, murmelte er. Müde, als drücke ihn eine Zentnerlast, bewegte er sich zum Wohndeck zurück. Im ganzen Schiff herrschte Stille – eine beklemmende, fast unerträgliche Stille. Jelinek sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten bis zur Zündung. Er schaute Holloway an. Der atmete kaum noch merklich. »Die Stille«, murmelte er. »Das ist das Schlimmste.« Er schwebte zu Holloway und fühlte wieder seinen Puls. Stirnrunzelnd wandte er sich zu einem in die Wand eingelassenen Kästchen und zog einen dünnen Plastikschlauch mit einer Nadel am Ende hervor. Jelinek suchte die Vene in Holloways Arm, stieß die Nadel hinein und schaltete den winzigen Motor an, der die Zuckerlösung Tropfen für Tropfen in Holloways Blutbahn pumpte. Dann schwebte er zu seinem Spind, öffnete ihn und holte eine mit klarer Flüssigkeit gefüllte Spritze heraus. Er betrachtete sie einen Augenblick lang, sah zu Holloway hinüber und schaute dann wieder auf die
Uhr. Fünfzehn Minuten bis zur Zündung. Er legte die Spritze wieder in den Spind zurück und schlug die Tür zu. Dann begab er sich rasch zum Steuerdeck und schnallte sich auf den Kapitänssitz. Sein Blick ging über die Anzeigeskalen. Seine Hände verharrten über den Steuerhebeln. Noch zehn Minuten. Zu wenig. Plötzlich kam ein Geräusch von Pumpen. Jelinek starrte auf seine Finger. Sie hatten die Steuerhebel nicht berührt. Irgendwo im Schiff gab es eine Reihe von kleinen Explosionen es klang wie Feuerwerk. Jelinek lauschte. Irgendwo starteten Motoren, und Schwungräder begannen zu summen. Langsam verschwand der Mars aus dem Blickfeld der Astrogationskuppel, als das Schiff sich zu drehen begann. Durch eine seitliche Luke konnte Jelinek eine riesige weiße Kugel sehen, die langsam davonschwebte. Es war ein leerer Brennstofftank. Plötzlich nahm er die Hände vom Steuerpult. Er lächelte. »Shepherd!« In der Luke des Wohndecks neben Holloways Pritsche erschien der Mars. Er füllte sie völlig aus – eine rotierende Scheibe in Rot, Weiß und Grün. Mit weit aufgerissenen Augen hatte sich Holloway auf seiner Liege aufgesetzt und deutete mit zitternden Fingern zur Luke. Der Plastikschlauch baumelte an seinem Arm. »Die Erde!« rief Holloway. Seine Augenlieder zuckten. Seine Augen verdrehten sich. Langsam zogen ihn die Gurte auf die Pritsche zurück. Als er wieder in liegender Stellung war, bewegte sich sein Brustkorb nicht mehr. »Burt!« Jelinek rief es vom Steuerdeck. Doch dann
blieb der kleine Lautsprecher in der Wand neben Holloways Pritsche stumm. »Du warst kein so schlechter Navigator, Burt«, murmelte Jelinek. »Immerhin wußte nicht einmal Kolumbus, daß er die neue Welt entdeckt hatte.« Er sah sich im Steuerraum um – schaute auf die blinkenden und ihre Farbe wechselnden Leuchtanzeigen, die Skalen und auf die Schiffssilhouette über dem künstlichen Horizont. Auf dem Steuerdeck herrschte Leben ... Und er lauschte den Geräuschen – dem Summen und Ticken. Tief atmete er die Luft ein. Sie war stickig und roch nach Schweiß und nach Öl. Und dennoch fand er sie frisch, als atmete er zum erstenmal seit sehr langer Zeit. Seine Hand ging zum Steuerpult; sein Finger drückte auf den mit »Klimaanlage – Stop« markierten Knopf. Eines der Geräusche – ein Flüstern – verstummte. Dann drückte er auf den nächsten Knopf: »Luftdruck – minus«. Auf dem Steuerpult leuchtete ein rotes Licht auf; ein dünnes, pfeifendes Geräusch wurde hörbar. »Lloyd«, sagte Jelinek leise. »Ich nehme an, Sie sehen zu. Sie haben es mir niemals gesagt – aber ich glaube, es mußte so kommen. Ich hoffe, Sie haben etwas gelernt.« Er lachte ein wenig; es klang fast glücklich. »Vielleicht haben Sie das gelernt: sich einen besseren Psychologen auszusuchen. Tut mir leid, Lloyd«, fuhr er mit einem veränderten, nüchternen Ausdruck in der Stimme fort. »Ich konnte das nicht ertragen – die Einsamkeit und die Stille. Die Stille war, glaube ich, das Schlimmste. Sagen Sie Amos ... daß die Mannschaft versagt hat
... aber das Schiff war eine Erfolg. Und sagen Sie ihm ... daß es ein Schiff gibt ... hier draußen ... das gut funktioniert ... mit Brennstoff und Vorräten ... wenn es jemals ... jemand bis hierher schafft ...« Nach einer Weile hörte das Pfeifen auf; die Luft war entwichen. Vom Steuerdeck starrten zwei blinde Augen zu den kreisenden Sternen hinaus, und zwei taube Ohren hörten das Gebrüll tosender Raketenantriebe ...
12 In dem kleinen Raum war es fast ebenso unerträglich still wie an Bord der Santa Maria. Lloyd hatte vergessen, das Licht anzuschalten. Keiner bemerkte es; keiner sagte etwas. Als Lloyd schließlich daran dachte, klammerte sich Danton immer noch mit weiß hervortretenden Knöcheln an die Armlehnen seines Sessels. Tränen rollten ihm über die Wangen. Faust hielt sich die Hand vor die Augen. »Dann«, sagte er endlich, »muß ich mich also auf das Schlimmste einrichten. Es bleibt wenig Zeit.« Lloyds Stimme klang seltsam. »Was könnten Sie mit zwei Jahren anfangen?« Faust sah auf. Auch seine Augen waren feucht. »Woher würden wir zwei Jahre nehmen?« »Das Schiff wird erst dann zurückerwartet.« »Aber wie wollen Sie die Öffentlichkeit so lange täuschen?« »Die Santa Maria ist in etwas über tausend Kilometer Höhe in eine Kreisbahn um den Mars eingeschwenkt«, erwiderte Lloyd, jedes seiner Worte beto-
nend. »Sie wird die Oberfläche des Planeten teleskopisch und mit Raketensonden untersuchen und uns die Resultate senden. Und es wird sogar mobile Labors geben, die auf dem Mars landen und innerhalb eines bestimmten Radius' geologische Analysen durchführen werden. Auch diese Daten werden uns zugefunkt. Das war unser Sicherheitsfaktor. Abgesehen von unwahrscheinlichen Katastrophen wie Meteoriteneinschlag, war das Schiff alleine imstande, das Ziel zu erreichen und die gegebene Aufgabe zu erfüllen. Und unterbewußt spürten die Männer das. Sie personifizierten das Schiff; sie nannten es Shepherd. Aber es reichte nicht ... Die Berichte des Schiffs liefern uns Informationen, die wir von Zeit zu Zeit der Öffentlichkeit mitteilen können«, fuhr er nach einer Pause fort. »Was die Besatzung anbetrifft, so müssen wir nicht unbedingt auf dem laufenden sein. Wenn wir noch mehr Zeit brauchen, können wir bekanntgeben, daß das Schiff noch auf die nächste günstige Gelegenheit zur Rückkehr wartet.« »Zu viele wissen davon. Sie könnten das nicht geheimhalten.« Lloyd seufzte. »Geheimhaltung ist doch unser tägliches Brot, nicht wahr, Amos? Die Männer, die die Filme sichten, werden hierbleiben, bis wir bereit sind, unsere Informationen bekanntzugeben. Sie haben jahrelange Arbeit vor sich.« »Vielleicht könnte es gelingen«, räumte Faust ein. »Aber warum? Glauben Sie, Sie können eine bessere Mannschaft zusammenstellen – eine, die das schafft, was diese Männer nicht schafften?«
Dantons Stimme war brüsk und kalt. »Das waren die Besten!« »Woher wollen Sie dann die Raumfahrer nehmen?« fragte Faust beinahe zaghaft. »Wir brauchen keine«, erwiderte Danton kategorisch. »Schalten Sie das Bild der Santa Maria ein!« Das Bild des silbrigweißen, gebrechlichen Schiffes erschien. »Das wird unser Raumfahrer sein. Mehr brauchen wir nicht – es ist mit nützlicher Ausrüstung vollgepackt bis zum Rande. Keine Neurosen, keine Bauchschmerzen, keine Schwäche, keine Unentschlossenheit, keine Raumkrankheit. Es braucht keinen Sauerstoff, weder Nahrung noch Wasser, keine Medikamente, keine Desinfektion, keine Unterhaltung und auch sonst nichts von dem Zeug, das wir zum Überleben benötigen. Servomechanismen und Fernmeßgeräte – das ist alles. Roboter. Das ist unser Raumfahrer. Er kann überall hin, kann fast alles untersuchen, fast alles tun, und braucht sich keine Gedanken über seine Rückkehr machen ...« Faust schüttelte den Kopf. »Nein, Amos«, sagte Lloyd. »Das genügt nicht. Als Forschungsinstrument – ja. Aber als Symbol genügt es nicht. Vertreter der Menschheit – sie müssen lebende, atmende Menschen sein – Menschen, die Angst haben wie alle anderen. Sie müssen etwas tun, von dem die Zurückgebliebenen glauben, daß sie es auch hätten tun können, wenn sie die Chance gehabt hätten – Männer, deren Taten ihnen Ruhm und Ehre einbringen. Das haben Sie mir einmal gesagt, Amos. Erinnern Sie sich? Ich habe es nie vergessen.« Für eine Weile trat beklemmende Stille ein. »Wie lange brauchen Sie?« fragte Faust endlich.
»Vielleicht acht Jahre. Möglicherweise auch zehn.« »Das ist eine lange Zeit.« »Der Mars wird warten.« »Und woher wollen Sie sie nehmen«, fragte Faust, »diese Raumfahrer?« Lloyd wußte, daß er seine zehn Jahre hatte. »Wenn wir auf der Erde keine fertigen finden, müssen wir sie uns selbst schaffen.«
13 In der Luftschleuse seiner Hauskapsel schlüpfte Lloyd aus dem Raumanzug und öffnete die innere Tür. Zwei übermütig jubelnde Gestalten stürzten sich auf ihn, Plastikhelme auf dem Kopf, Strahlenkanonen in der Hand. »Daddy, heute kommst du ja früher heim!« riefen sie ihm entgegen. »Spiel doch Raumfahrer mit uns! Ja, Daddy?« »Hallo«, sagte Lloyd leise. »Hallo, ihr Raumfahrer.«
Originaltitel: SPACE IS A LONELY PLACE Copyright © 1957 by Fantasy House, Inc.