Der tote Polizist schwebte in etwa dreitausend Metern Höhe. Er trieb auf die Birmingham-Kontrollzone zu. Es war eine Wi...
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Der tote Polizist schwebte in etwa dreitausend Metern Höhe. Er trieb auf die Birmingham-Kontrollzone zu. Es war eine Winternacht, und die Kältegrade, die in dieser Höhe herrschten, hatten seine Glieder erstarren lassen und den gesamten Körper mit schwarzem Rauhreif überzogen. Blut, aus dem zertrümmerten Anzug geflossen, war zu einem Gebilde erstarrt, das entfernt einer Krabbe ähnelte, die mit ihren imaginären Scheren die Brust des Toten umfaßte. Der aufrecht schwebende Körper wurde von schwachen Luftströmungen sanft hin und her geschaukelt, was so aussah, als führe er einen seltsamen Tanz auf. WENN FEUERMANN KOMMT von Bob Shaw und sieben weitere SF-Stories der Spitzenklasse
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1, 2, 11, 12, 53 bis 75
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31002 im Verlag Ullstein GmbH. Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Weidemann Umschlagillustration: Dell Alle Stories aus THE BEST FROM IF Copyright © 1975 by Universal-Award-House, Inc. Alle Rechte vorbehalten Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1979 Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn GmbH, Gütersloh ISBN 3-548-31002-8
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-Stories / hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein. NE: Spiegl, Walter [Hrsg.] 76. Von Bob Shaw ... [Aus d. Amerikan. übers. von Klaus Weidemann]. – 1979. (Ullstein-Bücher; Nr. 31002: Ullstein 2000) ISBN 3-548-31002-8 NE: Shaw. Bob [Mitarb.]
Science-FictionStories 76 von Bob Shaw Craig Strete Raccoona Sheldon Larry Niven Fritz Leiber Jeffrey S. Hudson und Isaac Asimov Colin Kapp Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Wenn Feuermann kommt Bob Shaw ............................................................
6
Mensch in seiner Welt Craig Strete .........................................................
27
Nur für gute Menschen Raccoona Sheldon ..............................................
36
Spielzeug Larry Niven ........................................................
78
Gespensterschach Fritz Leiber .........................................................
86
Titanenkampf Jeffrey S. Hudson & Isaac Asimov ................... 118 Hinab ins Flammenmeer Colin Kapp ......................................................... 125
Bob Shaw WENN FEUERMANN KOMMT Der tote Polizist schwebte in etwa dreitausend Metern Höhe. Er trieb auf die Birmingham-Kontrollzone zu. Es war eine Winternacht, und die Frostgrade, die in dieser Höhe herrschten, hatten seine Glieder erstarren lassen und den gesamten Körper mit schwarzem Rauhreif überzogen. Blut, das aus dem zertrümmerten Anzug geflossen war, war zu einem Gebilde erstarrt, das entfernt einer Krabbe ähnelte, die mit ihren imaginären Scheren die Brust des Toten umfaßte. Der aufrecht schwebende Körper wurde von schwachen Luftströmungen sanft hin und her geschaukelt, was so aussah, als führe er einen seltsamen Lufttanz auf. Und an seiner Seite blinkte ständig ein erbsengroßes karmesinrotes Licht, dessen Schimmer mehr und mehr von dem sich ausbreitenden Eismantel verschluckt wurde. Luftpolizist Sergeant Robert Hasson war erschöpfter und überreizter als nach einem achtstündigen Patrouillenflug im Seitenwind. Seit mittags befand er sich im Hauptquartierblock und war damit beschäftigt. Berichte zu diktieren und abzuzeichnen, Formulare auszufüllen und der Kasse Geld abzuringen, das ihm schon seit zwei Monaten zustand. Und dann, als er gerade dabei war, sich angewidert auf den Heimweg zu machen, wurde er zu einer weiteren Gegenüberstellung im Fall Wellwyn Angels in Captain Nunns Büro gerufen. Die vier Untersuchungshäftlinge – Joe
Sullivan, Flick Bugatti, Denny Johnston und Toddy Thoms – saßen in einer Gruppe beisammen auf der einen Seite des Büros. Sie trugen noch immer ihre Flugausrüstung. »Ich will Ihnen sagen, was mich an dieser Angelegenheit am meisten stört«, sagte Bunny Ormerod, der Senior Rechtsanwalt, gerade mit geübter Wichtigtuerei. »Es ist die totale Gleichgültigkeit der Polizei. Es ist die Gefühllosigkeit, mit der der tragische Tod eines Kindes von den Beamten zur Kenntnis genommen wird.« Ormerod näherte sich den vier Angels. Seine Haltung gab zu erkennen, daß er sich mit ihnen identifizierte. »Man könnte fast meinen, das sei ein alltägliches Ereignis.« Hasson zuckte die Schultern. »Ist es praktisch auch.« Ormerods Unterkiefer sackte herab. Er drehte sich so, daß das Broschenaufnahmegerät an seinem Seidenhemd direkt auf Hasson gerichtet war. »Wären Sie so freundlich, diese Feststellung zu wiederholen?« Hasson starrte genau in die Linse des Geräts. »Praktisch jeden Tag oder jede Nacht kommt ein Schwachsinniger auf die Idee, einen CG-Gurt anzulegen und mit fünf- oder sechshundert Kilometern in der Stunde durch die Gegend zu fliegen; dabei hält er sich für Superman. Dann rammt er einen Masten oder einen Turm. Man ist auf der Stelle tot. Mir ist es schnurzegal, wenn sie sich selbst verwischen.« Hasson konnte erkennen, daß Nunn sich erregte, aber er sprach hartnäckig weiter. »Was mich rasend macht, ist, wenn sie mit anderen Leuten zusammenstoßen. Und dann hole ich sie mir.« »Sie jagen sie hinunter.«
»Genau das.« »So haben Sie auch diese Kinder gejagt.« Hasson musterte die Angels kalt. »Ich sehe keine Kinder. Der jüngste in der Bande ist sechzehn.« Ormerod bedachte die vier schwarzgekleideten Angels mit einem mitleidigen Blick. »Wir leben in einer komplexen und schwierigen Welt, Sergeant. Sechzehn Jahre sind nicht sehr viel für einen Jungen, um sich darin zurechtzufinden.« »Quatsch«, erwiderte Hasson. Er musterte die Angels wieder und deutete auf einen stämmigen bärtigen Jugendlichen, der hinter den anderen saß. »Du dort – Toddy –, komm mal nach vorn.« Toddys Augen suchten kurz hin und her. »Wozu?« »Ich will Mr. Ormerod deine Tätowierungen zeigen.« »Nee, keine Lust«, sagte Toddy selbstsicher. »Außerdem gefällt es mir hier besser.« Hasson seufzte, ging hinüber zu der Gruppe, packte Toddy am Jackenaufschlag und trug ihn, als wäre er eine Puppe, hin zu Ormerod. Hinter sich hörte er wütendes Fluchen und das Klappern des Stuhls, der umgefallen war, als er Toddy hinter dem Schutzwall, den seine Kumpane bildeten, hervorgezerrt hatte. Die Gelegenheit, seine Gefühle, wenn auch unzureichend, am lebenden Objekt demonstrieren zu können, erfüllte Hasson mit einer therapeutischen Befriedigung. Nunn erhob sich halb aus seinem Sessel. »Was glauben Sie, was Sie da tun, Sergeant?« Hasson ignorierte ihn und wandte sich an Ormerod. »Sehen Sie diese Tätowierung? Das große F mit den Flügeln? Wissen Sie, was es bedeutet?«
»Ich bin mehr daran interessiert, was Ihr ungewöhnliches Verhalten zu bedeuten hat.« Ormerods Hand blockierte wie durch Zufall das Sichtfeld des Aufnahmegeräts. Hasson wußte, das dies mit Absicht geschah. Auf Grund der unlängst erlassenen Gesetze lehnten es die Gerichte ab, Filme als Beweismaterial anzuerkennen, wenn nicht die gesamte Spule präsentiert werden konnte – und Ormerod wollte keine Aufnahme von der Tätowierung. »Sehen Sie sie sich einmal genau an.« Hasson wiederholte seine Beschreibung von der Tätowierung für die Bandaufnahme. »Sie bedeutet, daß dieses sogenannte Kind Geschlechtsverkehr im freien Fall gehabt hat. Und er ist stolz darauf. Nicht wahr, Toddy?« »Mister Ormerod?« Toddys Augen blickten den Anwalt flehend an. »Zu Ihrem eigenen Besten, Sergeant. Ich glaube, Sie sollten meinen Klienten in Ruhe lassen«, sagte Ormerod. Seine Hand bedeckte noch immer die Linse des Aufnahmegeräts. »Klar.« Hasson griff nach dem Gerät und riß dabei ein Loch in Ormerods Hemd. Er hielt das Instrument vor die zahlreichen Tätowierungen auf Toddys Arm. Anschließend stieß er Toddy von sich weg und gab dem Anwalt das Gerät mit übertriebener Höflichkeit zurück. »Das war ein Fehler, Hasson.« Ormerods aristokratische Gesichtszüge hatten begonnen, aufrichtigen Ärger zu zeigen. »Sie haben klargemacht, daß Sie Ihre persönlichen Rachegefühle an meinem Klienten auslassen wollen.« Hasson lachte. »Toddy ist nicht Ihr Klient. Sie sind von Joe Sullivans altem Herrn angeheuert worden,
weil ihm eine Mordanklage droht. Der große dumme Toddy ist rein zufällig in derselben Bande.« Joe Sullivan, der in der Mitte der drei anderen Angels saß, öffnete den Mund, eine scharfe Erwiderung auf den Lippen, überlegte es sich aber anders. Es hatte den Anschein, als hätte er die Rolle, die er zu spielen hatte, besser gelernt als seine Kumpane. »So ist es richtig, Joe«, sagte Hasson. »Denk daran, was man dir gesagt hat – überlaß das Reden dem, der dafür bezahlt wird.« Sullivan rutschte wütend auf seinem Stuhl hin und her, starrte hinab auf seine verkrampften Hände und blieb still. »Es ist offensichtlich, daß wir so nicht weiterkommen«, sagte Ormerod zu Nunn. »Ich werde mit meinen Klienten eine private Besprechung führen.« »Tun Sie das«, warf Hasson ein. »Raten Sie ihnen, daß sie diese Tätowierungen entfernen sollen. Das nächste Mal suche ich mir vielleicht eine bessere aus.« Er sah leidenschaftslos zu, wie die vier Angels von Ormerod und zwei Polizisten hinausgeleitet wurden. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte Nunn, als sie allein waren. »Was glauben Sie, was Sie damit erreicht haben? Der Junge braucht nur auszusagen, daß Sie ihn mißhandelt haben –« »Dieser Junge, wie Sie ihn nennen, weiß, wo wir den Feuermann finden können. Sie alle wissen es.« »Sie sind zu hart mit ihnen.« »Sie sind vielleicht zu weich.« Hasson wußte augenblicklich, daß er zu weit gegangen war, aber er war zu stur, als daß er die Worte zurückgenommen hätte. »Wie meinen Sie das?« Nunn preßte die Lippen zu-
sammen, was ihm ein weibisches aber nichtsdestoweniger gefährliches Aussehen gab. »Warum muß ich mit diesem Pack hier in Ihrem Büro sprechen? Sind die Interviewräume in der unteren Etage nicht mehr gut genug? Oder sind sie nur für Gangster, die nicht das Sullivansche Vermögen hinter sich haben?« »Wollen Sie damit sagen, daß ich sullivansches Geld genommen habe?« Hasson dachte einen Moment nach. »Ich glaube nicht, daß Sie das tun würden, aber das hatte ich nicht gemeint. Ich sage Ihnen, diese vier sind mit dem Feuermann geflogen. Wenn man mich nur eine Stunde lang mit einem von ihnen allein ließe, würde ich –« »Damit würden Sie nur erreichen, daß man Sie strafversetzt. Sie scheinen nicht zu verstehen, wie die Dinge liegen, Hasson. Sie sind ein Luftpolizist – und das bedeutet, die Öffentlichkeit ist gegen Sie. Vor hundert Jahren hatten Motorradfahrer eine Abneigung gegen Verkehrspolizisten, weil sie sie zwangen, ein paar vernünftige Regeln zu befolgen. Jetzt, wo jeder besser als ein Vogel fliegen kann, merken sie plötzlich, daß dieselbe Brut von Polizisten dort oben auf sie aufpaßt und ihnen den Spaß verdirbt. Und sie hassen Sie.« »Das läßt mich kalt.« »Ich glaube nicht, daß die Polizeiarbeit Sie auch kalt läßt, Hasson. Nicht wirklich. Ich würde sagen, Sie sind genauso verrückt aufs Fliegen wie dieser legendäre Feuermann, aber Sie wollen ein anderes Spiel spielen.« Hasson wurde zornig. Ihm war klar, daß Nunn ei-
nen wunden Punkt berührt hatte. »Den Feuermann gibt es wirklich – ich habe ihn gesehen.« »Ob es ihn wirklich gibt oder nicht, ich ziehe Sie aus dem Verkehr.« »Das dürfen Sie nicht tun«, entfuhr es Hasson instinktiv. Nunn sah ihn interessiert an. »Und warum nicht?« »Weil –« Hasson mühte sich um die richtigen Worte, als die Kommunikatortafel auf Nunns Schreibtisch rot aufleuchtete und eine Botschaft der höchsten Geheimhaltungsstufe anzeigte. »Ich höre«, sagte Nunn in die Tafel. »Sir, wir empfangen ein automatisches Notsignal«, erwiderte eine männliche Stimme. »Jemand schwebt außerhalb der Kontrollzone in dreitausend Metern Höhe. Wir glauben, daß es sich um Inglis handelt.« »Tot?« »Wir haben seine Rufnummer durchgegeben, Sir. Keine Antwort.« »Aha. Warten Sie, bis die Stoßzeit vorbei ist, und schicken Sie jemanden zu ihm hinauf. Ich wünsche einen ausführlichen Bericht.« »Jawohl, Sir.« »Ich gehe zu ihm«, sagte Hasson und wandte sich zur Tür. »Sie kommen um diese Zeit nicht durch den Verkehrsstrom.« Nunn stand auf und ging um den Schreibtisch herum. »Und Sie sind vom Dienst suspendiert. Ich meine es ernst, was ich sage, Hasson.« Hasson hielt inne. Er wußte, er hatte bereits die Grenze dessen, was sich selbst ein Mitglied der bevorzugt behandelten Luftpatrouille erlauben konnte, überschritten. »Lloyd Inglis ist dort oben, und ich ge-
he hinauf und hole ihn – jetzt gleich. Wenn er tot ist, suspendiere ich mich selbst. Auf Dauer. In Ordnung?« Nunn schüttelte unsicher den Kopf. »Wollen Sie sich umbringen?« »Vielleicht.« Hasson schloß die Tür und hastete zum Ausrüstungsraum. Er hob vom Dach des Polizeipräsidiums ab. Er schwebte in ein Feuermeer von sich überschneidenden und zusammenlaufenden Lichtströmen. Von der Arbeit erschöpfte Pendler ergossen sich von Süden her in den Himmel. Sie machten den Hauptanteil des Verkehrsstroms aus, aber es gab noch andere, die aus allen Himmelsrichtungen in das weite Auffangbecken der Birmingham-Kontrollzone hineinströmten. Die Schulter- und Fußlichter von Abertausenden von Fliegern schimmerten und bewegten sich hierhin und dorthin. Parallaxenverschiebungen erweckten den Eindruck scheinbarer Stockungen entlang der leuchtenden Ströme. Senkrechte Lichtsäulen hielten die in entgegengesetzter Richtung Fliegenden auseinander und erweckten einen Anschein von Ordnung. Hasson wußte jedoch, daß dieser Schein trügte. Leute, die es eilig hatten, neigten dazu, ihre Positionslichter auszuschalten, um eine Entdeckung zu vermeiden, und ihr Ziel so anzusteuern, wie es ihnen gefiel, ohne sich um die Luftkorridore zu kümmern. Die Gefahr, mit einem anderen regelwidrig Reisenden zusammenzustoßen, sei verschwindend gering, versicherten sie sich selbst. Aber es waren nicht nur Geschäftsleute, die, weil sie sich verspätet hatten, undiszipliniert flogen. Da gab es die Betrunkenen und Drogenabhängi-
gen, die Asozialen, die Leichtsinnigen, die Selbstmörder, diejenigen, die einen Nervenkitzel suchten, die Kriminellen – das ganze Sprektrum von Leuten, denen es an Verantwortungsbereitschaft für den individuellen Flugverkehr mangelte –, in deren Händen der Antigravitationsgurt zu einem Instrument des Todes werden konnte. Hasson stellte seine Leuchtaggregate, die ihn als Himmelspolizisten auswiesen, auf maximale Stärke. Er stieg vorsichtig auf, die Farbpistole schußbereit, bis die Lichter der Stadt sich unter ihm in endlosen leuchtenden geometrischen Mustern ausbreiteten. Als seine Instrumente anzeigten, daß er sich in zweihundert Metern Höhe befand, begann er dem Radar besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dies war die Höhe, wo Verkehrsrowdys am häufigsten anzutreffen waren. Hasson schwebte kontinuierlich weiter in die Höhe. Er unterdrückte die Unsicherheit, die eine normale Reaktion war angesichts der Tatsache, daß in jedem Augenblick ein anderer Flieger aus der Finsternis auftauchen und mit tödlicher Geschwindigkeit mit ihm zusammenprallen könnte. Jetzt war zu erkennen, daß der Luftstrom der Reisenden sich aus einzelnen Schichten zusammensetzte, die übereinander dahinglitten wie leuchtende Schleier. Die obersten Schichten bewegten sich am schnellsten. Nach weiteren dreihundert Metern begann sich Hasson etwas zu entspannen. Er wandte seine Aufmerksamkeit gerade dem Problem zu, wie er Inglis herunterholen sollte, als die Annäherungswarnvorrichtung Alarm schlug und eine Peilung des Helmradars auf der Innenseite seines Visiers aufleuchtete. Hasson wandte sich in die angezeigte Richtung. Die
Gestalt eines Mannes, der ohne Lichter und mit Höchstgeschwindigkeit flog, zeichnete sich im Licht von Hassons Leuchtaggregaten ab. Die Erfahrung von Tausenden solcher Begegnungen gab Hasson die Gewißheit, sein Ziel um nicht mehr als zehn Meter zu verfehlen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils riß er die Pistole hoch, zielte und feuerte eine Wolke unauslöschlicher Farbe ab. Der andere Mann flog durch sie hindurch und verschwand in der Nacht. Hasson erhaschte einen Blick auf ein blasses, in freudiger Erregung verzogenes Gesicht und in dunkle starre Augen. Er rief das HQ an und schilderte den Vorfall. Er fügte hinzu, daß sich der Mann seiner Meinung nach ebenfalls des Drogenmißbrauchs schuldig gemacht hatte. Bei mehr als einer Million Reisenden allein in diesem Sektor war es unwahrscheinlich, daß man des Missetäters jemals habhaft werden würde, aber sein Fluganzug und die Ausrüstung waren auf Dauer gebrandmarkt und würden nur mit erheblichem Kostenaufwand ersetzt werden können. In dreitausend Metern schaltete Hasson den Höhenstabilisator ein. Er holte ein Suchgerät hervor, stellte es auf Inglis' Peilsignal ein und begann einen langsam kreisenden Horizontalflug. Seine Augen sondierten die Dunkelheit vor ihm. Die Leuchtaggregate erhellten einen sich verdichtenden Nebel, der ihn in den Mittelpunkt einer aus dunstigem Licht bestehenden Kugel versetzte und der es schwierig machte, etwas darüber hinaus zu erkennen. Dies war hart an der Grenze für individuellen Flug ohne Spezialanzug, und Hasson wurde sich der Kälte bewußt, die ihn bedrängte und nach einer Schwäche in seiner Verteidigung suchte. Die Verkehrsströme weit unter ihm
wirkten dagegen warm und sicher. Ein paar Minuten später ortete Hassons Radar einen Gegenstand geradeaus vor ihm. Er rückte näher, bis er im Licht seiner Leuchtaggregate die Umrisse von Lloyd Inglis erkennen konnte, der seinen grotesken Tanz durch die dunkle Nacht vollführte. Hasson wußte augenblicklich, daß sein Freund tot war, aber er umkreiste den Körper langsam im Feldinterferenzabstand, bis er das gähnende Loch in Inglis' Brustplatte sah. Die Wunde sah aus, als wäre sie von einer Lanze verursacht worden. Es war jetzt eine Woche her, daß Hasson und Inglis auf einer Routinepatrouille über Bedford auf eine Gruppe von etwa acht Jugendlichen gestoßen waren, die ohne Licht flogen. Inglis hatte eine kleine Leuchtrakete abgefeuert, die knapp hinter der Gruppe explodiert war und in ihrem Licht die Silhouetten der Jugendlichen einen Moment lang erkennen ließ. Beide Männer hatten die schlanken Umrisse einer Lanze ausmachen können. Personen, die den CG-Gurt benutzten, war das Mitführen loser Gegenstände in der Luft verboten wegen der Gefahr für andere Luftreisende und die Menschen auf dem Erdboden. Und selbst unter den jugendlichen Luftpiraten war das Tragen von Waffen selten. Es schien, als wären sie auf den Feuermann gestoßen. Mit einsatzbereiten Netzen und Schlingen hatten Hasson und Inglis die Verfolgung aufgenommen. Während der nun folgenden Jagd in niedriger Höhe hatte es zwei Tote gegeben – eine junge Frau, die ebenfalls ohne Licht geflogen und frontal mit einem Mitglied der Bande zusammengeprallt war. Der andere war einer der Anführer der Bande gewesen, der fast in zwei Stücke gerissen
worden war, als er einen Telefonmasten rammte. Die Anstrengungen der beiden Polizeibeamten waren von wenig Erfolg gekrönt. Am Ende hatten sie nichts weiter vorzuweisen als vier unbedeutende Mitglieder der Wellwyn Angels. Der Feuermann blieb in der Sicherheit der Anonymität. Jetzt, als er den erstarrten Körper seines Kollegen untersuchte, wurde Hasson klar, daß der Feuermann sich hatte rächen wollen. Die Namen seiner Verfolger hatte er wahrscheinlich den Nachrichten über Joe Sullivans Verhaftung entnommen. Hasson fluchte vor Bitterkeit und Kummer. Er neigte sich vornüber und schuf so eine horizontale Komponente der Aufwärtskraft seines CG-Gurtes. Er stürzte sich auf den starren Körper und schloß die Arme um ihn. Beide Körper begannen sofort zu fallen, als die Antigravitationsfelder sich gegenseitig aufhoben. Hasson, der an den freien Fall gewöhnt war, befestigte ein Seil an einer Öse an Inglis' Gürtel und stieß den Toten von sich weg. Als die beiden sich so weit voneinander entfernt hatten, daß ihre Schwebefelder sich nicht mehr gegenseitig störten, ließ das Brausen der hochgewirbelten Luft allmählich nach. Hasson befragte seinen Datengeber und stellte fest, daß er etwas über hundert Meter tief gefallen war. Er ließ etwas Seil nach aus einem Behälter an seiner Seite, bis Inglis' Körper in einer günstigen Schleppentfernung war. Dann flog er nach Westen, auf einen Punkt zu, der es ihm gestatten würde, unbehelligt vom dichten Reiseverkehr zu landen. Weit unter ihm wirbelte der Verkehr der Birmingham-Kontrollzone wie ein leuchtender Sternnebel, aber Hasson – im Mittelpunkt seines eigenen kugelförmigen Universums aus dunstigem Licht – war von ihm
isoliert. Er war eingehüllt in seine eigenen Gedanken. Lloyd Inglis – der Biertrinker, Bücherfreund, Verschwender – war tot. Und vor ihm waren es Singleton, Larmor und MacMeekin gewesen. Die Hälfte seiner ursprünglichen Korporalschaft von vor sieben Jahren war in der Ausübung ihrer Pflicht gestorben. Und wofür? Es war unmöglich, eine menschliche Rasse zu beaufsichtigen, der man mit der Einführung des CGGurtes die dreidimensionale Freiheit gegeben hatte. Es hatte sich herausgestellt, daß die einzige Möglichkeit zu fliegen darin bestand, den Erdanziehungskräften einen Judogriff anzulegen, sie gegen sie selbst zu wenden. Das war einfach, billig und amüsant – und unmöglich zu beaufsichtigen. Allein in Großbritannien gab es achtzig Millionen Flieger, jeder einzelne ein Supermann, der sich dagegen sträubte, auch nur die kleinste Einschränkung in seiner Fähigkeit, dem Sonnenuntergang entlang der Erdkrümmung zu folgen, hinzunehmen. Der Flugzeugverkehr war nahezu über Nacht vom Himmel verschwunden, nicht weil seine Frachtbeförderungskapazitäten nicht mehr benötigt wurden, sondern weil es zu gefährlich war, in einem Medium zu fliegen, das von Tölpeln übervölkert war. Der nächtliche Luftpirat, der ›schwarze Ikarus‹, war der Volksheld des Zeitalters. Welchen Sinn, fragte sich Hasson, hatte es, Luftpolizist zu sein? Vielleicht war das ganze Konzept der polizeilichen Überwachung, für andere verantwortlich zu sein, nicht mehr länger gültig. Vielleicht war der unvermeidliche Preis der Freiheit ein langsamer Regen aus zerbrochenen Körpern, die auf die Erde hinabfielen, wenn die Energiequellen versiegten ...
Der Angriff traf Hasson völlig überraschend. Er ging so rasch vor sich, daß der Annäherungsalarm und das Heulen der von dem Körper des Angreifers verdrängten Luft praktisch gleichzeitig kamen. Hasson wandte sich um und sah die schwarze Lanze auf sich gerichtet. Er klappte zusammen wie ein Taschenmesser, um ihr zu entgehen. Er erhielt einen fürchterlichen Schlag, der ihn streifte und in Drehung versetzte – alles in Sekundenschnelle. Der Fall, verursacht durch die momentane Feldüberlagerung, war geringfügig gewesen. Mit einer Reflexbewegung schaltete er seine Leuchtaggregate und Fluglichter ab und versuchte verzweifelt, sich von dem Schleppseil zu befreien, das sich durch seine Eigenrotation um ihn herumgewickelt hatte. Als er es geschafft hatte, sich zu stabilisieren, verhielt er sich vollkommen still und versuchte, seine Situation abzuschätzen. Seine rechte Hüfte pochte schmerzhaft von dem Schlag, aber soweit er es beurteilen konnte, war nichts gebrochen. Er fragte sich, ob sein Widersacher sich mit diesem einen Angriff zufrieden geben würde, oder ob dies der Anfang eines Duells war. »Du warst schnell, Hasson«, tönte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Schneller als dein Flügelmann. Aber es wird dir nichts nützen.« »Wer bist du?« rief Hasson und wartete auf die Radarpeilung. »Du weißt, wer ich bin. Ich bin der Feuermann.« Hasson sprach ruhig, während er anfing, die Schlingen und Netze auszubreiten. »Wie ist dein richtiger Name? Der, unter dem dich dein Psychiater in seiner Kartei führt?« rief er laut. Aus der Dunkelheit klang ein Lachen. »Sehr gut,
Sergeant Hasson. Willst mich hinhalten, mich wütend machen, um meinen Namen zu erfahren, alles auf einmal.« »Ich habe es nicht nötig, dich hinzuhalten. Ich habe bereits QRF gesendet.« »Bis jemand hier ist, bist du tot, Hasson.« »Warum sollte ich tot sein? Warum willst du mich umbringen?« »Warum hetzt du meine Freunde und sperrst sie ein?« »Sie sind eine Bedrohung für sich selbst und andere.« »Nur wenn du sie zwingst, wild zu fliegen. Du machst dir selbst was vor, Hasson. Du bist ein Luftpolizist, und du liebst es, Leute zu Tode zu hetzen. Ich werde dir das Handwerk legen – und deine Netze werden dir nichts nützen.« Hasson starrte vergeblich in die Richtung, aus der die Stimme kam. »Netze?« Ein weiteres Lachen, und dann begann der Feuermann zu singen. »Ich kann dich im Dunkeln sehen, denn ich bin der Feuermann; ich kann mit dir fliegen, und du weißt nicht, daß ich da bin –« Die vertrauten Worte wurden lauter, als der Unbekannte näher kam, und plötzlich konnte Hasson in dem schwachen Licht der Verkehrsströme unten und der Sterne oben die Gestalt eines hünenhaften Mannes erkennen. Er sah fürchterlich und unmenschlich aus in seiner Flugausrüstung. Hasson sehnte sich plötzlich nach einer Schußwaffe, die ihm die britische Polizeitradition versagte. Und dann fiel ihm etwas auf. »Wo ist die Lanze?« »Wer braucht sie? Ich habe sie fallen lassen.« Der
Feuermann breitete die Arme aus, und trotz der Dunkelheit und trotz des Fehlens räumlicher Bezugspunkte wurde ersichtlich, daß er ein Riese war, ein Mann, der keine anderen Waffen brauchte als die, mit der ihn die Natur ausgestattet hatte. Hasson dachte an die schwere Lanze, wie sie in ein dicht bevölkertes Wohngebiet dreitausend Meter tiefer stürzte, und kalter Haß überkam ihn, ließ ihn sich abfinden mit dem bevorstehenden Kampf, gleichgültig wie er ausgehen mochte. Während der Feuermann näher herankam, wirbelte Hasson das Netz in langsamen Kreisen und stellte sich schräg, um der Fliehkraft, die diese Bewegung hervorrief, entgegenzuwirken. Er zog die Beine in eine Stellung, aus der er jederzeit zutreten konnte, und wurde gleichzeitig mit dem Entwirren des Schleppseils fertig, das Inglis zu einem gespenstischen Zuschauer des Geschehens machte. Er fühlte sich nervös und angespannt, aber nicht besonders ängstlich, jetzt, da der Feuermann seine Lanze weggeworfen hatte. Ein Luftkampf war keine Sache des Instinkts, er war etwas, was gelernt und geübt werden mußte, und deshalb war ein geübter Kämpfer stets im Vorteil gegenüber einem Amateur, ganz gleich wie talentiert oder stark motiviert dieser sein mochte. Der Feuermann hatte zum Beispiel den schwerwiegenden Fehler begangen, daß er Hasson gestattete, seine Beine in eine Position zu bringen, aus der er die ganze Kraft seiner Oberschenkel zu einem einzigen mächtigen Stoß einsetzen konnte. Der Feuermann, sich seines Schnitzers nicht bewußt, schwebte langsam auf Hasson zu. Er steuerte seinen Gurt mit kaum wahrnehmbaren Schulterbe-
wegungen. Er ist ein ausgezeichneter Flieger, dachte Hasson, selbst wenn er in der Strategie des Kämpfens nicht so gut ist ... Der Feuermann kam schnell auf ihn zu – aber nicht annähernd so schnell, wie er es hätte tun sollen. Hasson empfand ein Gefühl des Hochgenusses, als er sich die Zeit nehmen konnte, den Beineinsatz genau zu berechnen. Er wählte den wunden Punkt unterhalb des Visiers, berücksichtigte den abrupten Fall, der sich einstellte, als beide CG-Felder sich gegenseitig aufhoben, und stieß mit einer Kraft zu, die ausgereicht hätte, einem Mann das Genick zu brechen. Irgendwie brachte der Feuermann seinen Kopf rechtzeitig aus der Stoßrichtung und bekam Hassons ausgestrecktes Bein zu fassen. Beide Männer fielen jetzt, aber mit ungleicher Geschwindigkeit, weil Hasson an Inglis angebunden war, dessen CG-Feld zu weit entfernt gewesen war, um in Mitleidenschaft gezogen zu werden. In der Sekunde, bevor sie voneinander getrennt wurden, benutzte der Feuermann die Hebelkraft seiner kräftigen Arme und brach Hassons Bein unterhalb des Knies. Schmerz und Schock brannten in Hassons Gehirn und löschten alle Kraft und Vorsätze aus. Für eine unbestimmte Zeitspanne schwebte er in der Finsternis, die Arme wirr kreisend, das Gesicht bei einem leisen Aufschrei verzerrt. Der große Spiralnebel weit unten fuhr fort sich zu drehen, aber eine dunkle Gestalt schwebte ständig darüber, und ein Teil seines Verstandes sagte Hasson, daß er keine Zeit hatte, sich den natürlichen Reaktionen auf die Verletzung hinzugeben. In physischer Hinsicht war er jetzt hoffnungslos unterlegen, und wenn er weiterleben wollte,
mußte er sich etwas einfallen lassen. Aber wie sollte er denken, wenn der Schmerz in seinen Körper eingedrungen war wie eine feindliche Armee und ihm Granaten der Qual ins Gehirn schoß? Zuerst, sagte sich Hasson, mußt du Lloyd Inglis loswerden. Er zog an dem Schleppseil und begann seinen Kameraden einzuholen in der Absicht, ihn vom Seil zu lösen, aber da kam die Stimme des Feuermanns von einem Punkt dicht hinter ihm. »Wie hat dir das gefallen, Hasson?« Die Stimme klang triumphierend. »Das sollte dir nur zeigen, daß ich dich auch nach deinen eigenen Regeln schlagen kann. Aber jetzt spielen wir nach meinen Regeln.« Hasson zog fester am Seil. Inglis kam taumelnd näher, bis er schließlich im Interferenzbereich war. Hasson und Inglis fielen. Der Feuermann stürzte augenblicklich auf sie herab, hakte einen Arm um Hasson, und alle drei fielen gemeinsam. Das Lichtermeer unter ihnen begann zu expandieren. »Dies ist mein Spiel.« Der Feuermann sang durch den immer schneller werdenden Luftsog. »Ich kann dich auf den Weg nach unten reiten, denn ich bin der Feuermann.« Hasson kannte die Spielkämpfe der Luftrowdys. Er verdrängte den Schmerz mit einer gewaltsamen Anstrengung, langte nach dem Hauptschalter und hielt inne. In einem Luftduell führte das Ausschalten eines Feldes dazu, daß das andere abrupt seine volle Wirksamkeit entfaltete, wodurch die beiden Widersacher gewöhnlich voneinander weggestoßen wurden. Der übliche Gegenzug des zweiten Mannes bestand darin, daß er das eigene Feld zur gleichen Zeit abschaltete. Dadurch stürzten beide weiterhin zusammen ab, bis
dem einen die Nerven versagten und er sein Feld wieder einschaltete. In dem gegenwärtigen Spiel des Todes wurde die Situation jedoch durch das Vorhandensein von Inglis kompliziert – seinem toten Kollegen, der bereits verloren hatte. Sein Feld würde fortfahren, die seiner beiden Begleiter aufzuheben, egal was sie taten. Es sei denn ... Hasson befreite einen Arm aus der Pseudoliebesumarmung des Feuermanns und zog Inglis' Körper näher heran. Er tastete nach dem Hauptschalter des Toten, aber seine Finger fühlten nur eine ebene Fläche gefrorenen Blutes. Der juwelenbesetzte Horizont kam beunruhigend schnell näher, und der kreisende Verkehrsstrom schien sich wie eine fleischfressende Pflanze unter ihnen zu öffnen. Sie fielen jetzt mit bedrohlicher Geschwindigkeit, und die vorbeiströmende Luft verursachte einen orkanartigen Lärm. Hasson bemühte sich, die Eisschicht über Inglis' Hauptschalter wegzukratzen, aber im selben Moment legte der Feuermann einen Arm um seinen Nacken und zog seinen Kopf zurück. »Versuch nicht, mir abzuhauen!« schrie er in Hassons Ohr. »Versuch nicht, mir das Spiel zu verderben. Ich will sehen, wie du aufschlägst.« Sie fielen weiter. Hasson tastete, durch das Netz behindert, nach dem Schleppseilbehälter. Er öffnete den Verschluß mit tauben Fingern und war im Begriff, das Seil, das ihn mit Inglis verband, loszumachen, als ihm klar wurde, daß er wenig gewinnen würde, wenn er den Toten wegstieß. Ein erfahrener Kämpfer zögerte den Moment, an dem er das Interferenzfeld des Gegners verlassen mußte, bis zum letztmöglichen Augenblick
hinaus, so daß er mit einer Geschwindigkeit auf dem Erdboden auftraf, die er gerade noch verkraften konnte. Der Feuermann würde diesmal wahrscheinlich bis hart an diese Grenze herangehen. Was bedeutete, daß Hasson mit seinem gebrochenen Bein beim Aufprall zerschmettert werden würde. Inglis' Körper loszuwerden, würde daran nichts ändern. Sie waren jetzt fast zweitausend Meter tief gefallen und würden in ein paar Sekunden in die Verkehrsebenen des Pendlerstromes eindringen. Der Feuermann begann erregt zu brüllen und sich wie ein läufiger Hund gegen Hasson zu reiben. Mit der linken Hand hielt Hasson Inglis' Leiche fest, mit der rechten schlang er das Schleppseil um den ausgestreckten Schenkel des Feuermanns und machte einen Knoten. Er war noch immer damit beschäftigt, den Knoten festzuziehen, als sie in den fließenden Verkehr stürzten. Lichter blitzten in ihrer Nähe auf, und plötzlich war der kreisende Sternennebel über ihnen. Die Muster von Straßenlaternen zeichneten sich unter ihnen ab. Hasson wußte, daß nun der Moment kam, wo der Feuermann ausbrechen mußte, wenn er bremsen wollte, bevor er den Erdboden erreichte. »Danke für den Flug!« rief der Feuermann. Die Worte wurden vom Luftstrom zerfetzt. »Muß dich jetzt leider verlassen.« Hasson schaltete seine Lichter ein. Dann riß er gewaltsam am Schleppseil, um die Aufmerksamkeit des Feuermanns darauf zu lenken. Der Feuermann blickte auf die Schlinge um sein Bein. Sein Körper zuckte, als er feststellte, daß er es war und nicht Hasson, der an den toten und todbringenden Luftpolizisten gefesselt war. Er stieß Hasson von sich fort und begann an
dem Seil zu zerren. Hasson war frei. Er wußte, daß das Seil selbst den gigantischen Kräften des Feuermanns widerstehen würde. Als er fühlte, wie die unsichtbaren Flügel des CG-Feldes sich um ihn ausbreiteten, wandte er sich um und schaute zurück. Er sah die zwei Männer, einer von ihnen in einen wütenden Kampf verstrickt, wie sie die Reihen der Lichter auf ihrem Weg zum tödlichen Zusammenprall mit dem Boden passierten. Hasson hatte keine Zeit zu einer inneren Prüfung. Seine eigene Bruchlandung stand bevor, und er würde seine ganze Geschicklichkeit und Erfahrung brauchen, um sie zu überleben – aber er war erleichtert festzustellen, daß er dem Tod des Feuermanns keine Befriedigung abgewinnen konnte. Nunn und die andern hatten unrecht. Dennoch, dachte er während der letzten Sekunden des Falls, habe ich schon viel zu lange wie ein Falke gejagt. Dies ist mein letzter Flug. Ohne Angst erwartete er die blinde Umarmung der Erde.
Originaltitel: A LITTLE NIGHT FLYING. Aus IF 8/74
Craig Strete MENSCH IN SEINER WELT Der alte Mann schaute dem Jungen zu. Der Junge schaute dem Reh zu. Dem Reh schauten alle zu, auch das Große Wesen oben. Der alte Mann erinnerte sich daran, als er ein kleiner Junge war und sein Vater ihm ein Motorrad auf einem Parkplatz gezeigt hatte. Der Junge erinnerte sich mit ein wenig Bedauern an sein zweites Leben. Er freute sich nicht auf das Kommen seiner ersten Frau. Am Dienstagmorgen war die Verkehrsverstopfung von Montagmorgen drei Tage alt. Der alte Mann saß auf der Haube eines eingekeilten Wagens und schaute dem Jungen zu. Der Junge schaute dem Reh zu. Dem Reh schauten alle zu, auch das Große Wesen oben. Der Junge hatte sich widersetzt, als sein Sohn, auf Drängen dieser Hure von einer Ehefrau, versucht hatte, ihn in ein Altersheim zu stecken. Jetzt beobachtete er das Reh neben der Autobahn und wurde seinerseits beobachtet. Der alte Mann war auf dem Weg irgendwohin. Er war auf dem Weg zu einem Ort, zu einem wichtigen Ort. Er hatte vergessen, wo dieser Ort lag, aber er wußte, daß er auf dem Weg war. Das Reh hatte Verwandte, die auf es warteten, Gras, das auf es wartete, Jahreszeiten, die mit ihm nachsichtig waren. So sehr es den Jungen erfreuen wollte, indem es sich von ihm anschauen ließ, so
dringend mußte es nun fort. Es bat mit einem Kopfschütteln um Verzeihung. Der alte Mann schaute dem Reh zu, wie es fortging. Er wußte, es mußte gehen, zu einem wichtigen Ort. Er wußte nicht, wohin es ging, aber er wußte warum. Der alte Mann würde sich verspäten. Er hätte schon gegangen sein müssen. Er brauchte nur über die Straße zu sehen. Er ging über die Straße, um auf die andere Seite zu gelangen. Er würde zu seiner eigenen Beerdigung zu spät kommen. Der alte Mann war auf dem Weg irgendwohin. Er konnte sich nicht erinnern, wohin. »Hast du ihn dazu gebracht, die Uhr zu tragen? Falls er die Uhr trägt, sollte er –« »Er ist ein alter Mann, Liebling. Seine Gedanken wandern umher«, sagte Frank Strong Bull. »Dr. Amber wartet! Glaubt er vielleicht, wir könnten es uns leisten, für jeden Termin zu zahlen, den er versäumt?« schimpfte Sheila und fuhr mit den Fingern durch ihre durcheinander geratene Frisur. »Kommt er jemals rechtzeitig zu einem Termin?« »Er lebt nach indianischer Zeit. Zuspätkommen ist eben etwas, was man erwarten muß von –« wollte er erklären. Sie schnitt ihm das Wort ab. »Indianisch hin, indianisch her! Ich habe deine verdammten Entschuldigungen so satt, ich könnte kotzen!« »Aber –« »Vergessen wir's. Wir haben keine Zeit, darüber zu diskutieren. Wir müssen in zwanzig Minuten beim Arzt sein. Wenn wir jetzt losfahren, entgehen wir gerade noch der Stoßzeit. Ich hoffe nur, dein Vater ist dort, wenn wir hinkommen.«
»Reg dich nicht auf. Er wird da sein«, sagte Frank und zweifelte an seinen Worten. Aber das Reh konnte nicht fortgehen. Es lief ein kleines Stück, wandte dann den Kopf und kam zurück. Das rührte den alten Mann, denn er wußte, das Reh war zurückgekommen, weil der Junge es verstand, das Reh anzuschauen. Und der Junge war glücklich, weil das Reh entschieden hatte, ihm diese Gunst zu gewähren. Und er sah das Reh in all seiner Schönheit. Herrlich und golden und schnell. Und das Reh wußte, daß der Junge es schön fand. Denn es war die Aufgabe des Rehs, schön zu sein für einen kleinen Jungen an diesem Morgen, in dieser Welt. Und der alte Mann, der auf dem Weg war, war dem Reh dankbar und fast neidisch auf den Jungen. Aber er war eins mit dem Jungen, der eins war mit dem Reh, und sie alle waren eins mit dem Großen Wesen oben. So gab es keinen Neid, nur die große Sehnsucht des Alters nach Jugend. »Dieser Hurensohn!« grollte Frank Strong Bull. »Der Bastard hat mich geschnitten.« Er riß den vierten Gang heraus und schob den dritten ein. Die Nadel des Drehzahlmessers schnellte in den roten Bereich, und der Mustang machte einen Satz nach vorn. Dabei verfehlte er knapp das andere Auto, das gerade vor ihnen auf die Spur eingeschwenkt war. »O Christus – wir werden zu spät kommen!« maulte Sheila. Sie drehte sich auf dem Autositz um und spähte durch das Rückfenster. »Fahr auf die Schnellspur.«
»Bist du verrückt? Bei diesem Verkehr?« Seine Hände packten das Lenkrad wie eine Waffe. Er hob die rechte Hand und schaltete. Zahnräder griffen ineinander, und der Mustang schnellte vorwärts. Frank riß das Steuer nach links und schnitt einen Lastwagen. Bremsen kreischten. Frank gab Vollgas, und das Fahrzeug reagierte. Er zog auf gleiche Höhe mit dem Sportwagen, der ihn vorhin geschnitten hatte. Er hupte und machte im Vorbeifahren eine obszöne Geste. Sheila kreischte vor Entzücken. »Weiter! Weiter!« rief sie. Der alte Mann hatte in seinem Leben Freiheiten gehabt. Er hatte Dinge gehabt, an die er sich gern erinnerte, und Dinge, die er zu vergessen wünschte. Zweimal hatte er geheiratet. Das erste Mal. Er haßte das erste Mal. Er hatte sich von ihrem Äußeren blenden lassen. Er hatte sich selbst nicht gekannt, und, unwissend, hatte er seine Triebe entscheiden lassen. Das war etwas, was er immer bedauern würde. In jenem Sommer war er frei wie ein Adler. Er schwebte hoch in der Luft, ohne jemals aufzusetzten, ohne zurückzublicken. In jenem Sommer. Seine Hände, die sie berührten, waren wie Flügel. Und er flog, und Federn bedeckten die Narben, die wuchsen, wo ihre Körper sich berührt hatten. Er war ein Wesen der Luft, sie eines der Erde. Sie befleckte seine Träume. Sie besaß den Körper einer Frau, aber ihr fehlte das Wesen einer Frau. Ein Stern ist für einen Blinden ein Stein. Sie sah ihn durch verkrüppelte Augen. Sie besaß. Er teilte. Es gab nichts Lebendiges zwischen ihnen. Er sah die Sterne und
zählte sie einen nach dem anderen in ihre Hand; diese Gabe, die alle Liebenden miteinander teilen. Sie sah Steine. Und sie wandte sich ab. Er war frei, weil er brauchte. Sie war eine Gefangene, weil sie verlangte. Eines Tages war sie fort. Und er faltete seine Flügel, und die Wirklichkeit holte ihn ein. Und er war ein alter Mann mit einem kleinen Jungen. Und er lebte in einem Käfig und war drei Jahre lang tot. Und sein Sohn war eine schwache Hoffnung, die langsam dahinschmolz. Er war der Sohn seiner Mutter. Er konnte es seinen Augen ansehen. Das war etwas, was er immer bedauern würde. Aber das Reh, der kleine Junge, das waren Dinge, die er niemals bedauern würde. Dr. Amber war verärgert. »Verdammt! Sehen Sie – ich kann die Einweisungspapiere nicht unterschreiben, wenn ich ihn nicht einmal gesehen habe.« Sheila versuchte freundlich zu lächeln. »Er wird kommen. Sein Hotel ist genau gegenüber. Frank wird ihn finden. Regen Sie sich nicht auf.« »Ich habe noch andere Patienten! Ich kann mich nicht von einem tattrigen alten Mann aufhalten lassen«, erregte sich Dr. Amber. »Nur ein paar Minuten«, bat Sheila. »Sie werden für zwei Behandlungen bezahlen müssen. Ich kann diesen Laden nicht als Wohlfahrtseinrichtung betreiben. Jede Minute, die ich nicht arbeite, kostet mich Geld.« »Wir bezahlen«, sagte Sheila grimmig. »Wir bezahlen.« Die Welt war groß, und das Reh mußte seine Schön-
heit in die Welt hinaustragen. Es war an einem Ort für einen Jungen an einem Morgen dieser Welt schön gewesen. Es war jetzt Zeit, an einen anderen Ort zu gehen. Das Reh wandte sich um und floh in die Wälder. Es trug seine Schönheit in die Welt hinaus. Der kleine Junge sprang auf die Füße. Sein Herz raste, seine Füße stampften. Er rannte hinter dem Reh her mit dem Eifer der Jugend, die sich um etwas bekümmert. Er jagte der Schönheit in der Welt nach und verschwand aus der Sicht des alten Mannes in den Tiefen des Waldes. Und der alte Mann fing an zu träumen – Frank Strong Bulls Hand schloß sich um seine Schulter, und sein Sohn rüttelte ihn unsanft. Der alte Mann schaute seinem Sohn ins Gesicht, und was er sah, gefiel ihm nicht. Er ließ sich in den Behandlungsraum des Arztes führen. »Endlich«, sagte Sheila. »Wo zum Henker ist er gewesen?« Dr. Amber betrat den Raum mit einem falschen Lächeln auf den Lippen. »Ah! Der Widerspenstige ist erschienen. Und wie fühlen wir uns heute?« »Uns geht es gut«, sagte der alte Mann bitter. Er schob das ausgestreckte Stethoskop von seiner Brust weg. »Empfindlich ist er, nicht wahr?« bemerkte Dr. Amber. »Bringen Sie es hinter uns«, sagte Sheila. »Es ist lange genug hinausgezögert worden.« »Bin nicht krank«, sagte der alte Mann. »Lassen Sie mich in Ruhe.« Er ballte die Fäuste und rückte von dem Arzt weg.
»Wie alt ist er?« fragte Dr. Amber und betrachtete das runzlige Gesicht des alten Mannes und sein weißes Haar. »Bestimmt über achtzig«, antwortete sein Sohn. »Es existieren keine Unterlagen, und er kann sich nicht erinnern.« »Über achtzig sagen Sie. Nun, das ist Grund genug«, entgegnete Dr. Amber. »Lassen Sie mich eine kurze Untersuchung machen, bloß eine Formalität, und ich unterzeichne die Papiere.« Der alte Mann öffnete die Fäuste. Er schaute auf seinen Sohn. Seine Augen brannten. Er fühlte sich w eder betrogen noch ungerecht behandelt. Er fühlte bloß Trauer. Er weinte eine Träne, nur eine. Sie war für seinen Sohn, der ihm nicht in die Augen sehen konnte. Und zum erstenmal seit sein Sohn sie geheiratet hatte, blickte er seiner Schwiegertochter in die Augen. Sie schien unter seinem Blick zu schrumpfen, aber sie hielt ihm stand, und er las Böses in ihren Augen. Sie waren unbedeutend, nicht wirklich Teil seines Lebens. Er hatte die Dinge, die wichtig waren, gesehen. Er hatte dem Jungen zugesehen. Der Junge hatte dem Reh zugesehen. Dem Reh hatten alle zugesehen, auch das Große Wesen oben. Der alte Mann rückte von ihnen ab, bis sein Rücken gegen die Wand stieß. Er legte die Hand auf die Brust und lächelte. Er war tot, bevor sein Körper auf dem Boden aufschlug. »Eine schwere Herzkranzgefäßthrombose«, sagte Dr. Amber zu dem Sanitäter. »Ich unterschreibe gleich den Totenschein.« »Sind das die Angehörigen?« fragte der Sanitäter
und deutete auf das Paar, das schweigend in den Sesseln an der Wand saß. Dr. Amber nickte. Der Sanitäter näherte sich ihnen. »So ist es auf alle Fälle besser«, sagte Sheila. »Ein alter Mann wie er, kein Grund zu leben, kein –« »Wohin soll ich die Leiche bringen?« fragte der Sanitäter. »Vales Beerdigungsinstitut«, sagte Sheila. Frank Strong Bull blickte starr geradeaus. Er hörte nichts. Sein Blick war leer. »Wo ist sie?« fragte der Sanitäter. »Wo ist was?« fragte Dr. Amber. »Die Leiche. Wo ist die Leiche?« »Sie ist im Raum nebenan. Auf dem Tisch«, sagte Dr. Amber und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Er nahm den Sanitäter beim Arm und führte ihn von dem Ehepaar fort. »Ich helfe Ihnen, sie auf die Bahre zu legen.« Der alte Mann, der dem Reh zusah. Seine zweite Frau war ihm im Traum erschienen. Es war ein Traum gewesen. Aber sie war wirklich gewesen. Sie war gekommen, als Leere und Bitterkeit ihn beherrscht hatten. Als die Federn seiner Jugend ihm ausgerissen worden waren. Sie hatte ihn mit neuen strahlenden Träumen erfüllt. Und so gab es für ihn in der zweiten Hälfte seines Lebens, weit weg von dem Sohn und dieser ersten, einen Neuanfang. Fliegen. Die Welt in sich aufnehmen. Seine Augen sahen das Grüne, seine Lippen schmeckten das Süße, und sein Alter war freundlich. Es war strahlend und schnell und bewegend, dieses sein zweites Leben. Und sie waren kinderlos und
gottlos und waren dafür selbst Kinder und Götter. Und sie wurden alt in ihren Körpern, aber der Tod schien mehr wie ein alter Freund denn als ein Unheil. Er bedeutete Schlaf. Eines Nachts raffte das Fieber sie dahin. Friedlich. Holte sie, während sie schlief. Und er weinte nicht noch folgte er ihr. Denn sie hatte ihn wieder jung gemacht, und die Jugend versteht den Tod nicht. »Ich helfe Ihnen, sie auf die Bahre zu legen.« Sie öffneten die Tür. Und der alte Mann sah dem Jungen zu und verstand den Tod nicht. Und der kleine Junge sah dem Reh zu und verstand, was Schönheit war. Und alle sahen dem Reh zu, auch das Große Wesen oben. Und der Junge sah, was das Reh war. Und wie es wurde er wundervoll und golden und schnell. Und der alte Mann träumte – Frank Strong Bulls Hände, seines Sohnes Hände, schlossen sich um seine Schultern und rüttelten ihn unsanft. Sie öffneten die Tür. Der Körper war fort. Als er zuletzt gesehen wurde, jagte sein Körper hinter einem Reh her, das seine Schönheit in die Welt hinaustrug. Er verschwand aus der Sicht des alten Mannes in die Tiefe des Waldes. Originaltitel: TIME DEER. Aus IF 12/74
Raccoona Sheldon NUR FÜR GUTE MENSCHEN Nicht ganz durch Zufall geschah es, daß er einem guten Menschen in die Hände fiel, als ein Außerirdischer endlich auf der Erde landete. Tatsächlich faltete er gerade sein ParabortHitzelaken auf Martin Brumbachers hinterer Weide zusammen, als der junge Marty um die Erlengruppe bog und ihn erblickte. »Hallo«, sagte Marty unsicher und schaute auf den gelben Helm des Fremden und die Khaki-Unterhosen über den mageren dünnen Beinen und die Schweinerei auf dem Boden. »Sind Sie, äh, von der Landvermessung?« »Come' sta Usted?« fragte der Fremde. »Ich bin ein Berliner. Mukka hai!« Er gab seinem Helm einen Klaps. »A! Hallo, da. Nun ja, das könnte man sagen. Halt mal, bitte.« Er reichte Marty eine Ecke des Hitzelakens und trat zurück, um es zu strecken, dabei hielt er den Rand mit seinen humanoiden Zähnen und trat in die Mitte, damit es sich faltete. Er war nicht viel größer als Marty. »Sie haben sicherlich irgendeine Dschunke«, sagte Marty und hielt sein Ende. »Das sieht aus wie eine fliegende Untertasse.« »Machen sie nicht mehr so, wie sie sollten.« Der Fremde nahm das Ende aus dem Mund und faltete, den Kopf schüttelnd, weiter. »Keine Qualitätskontrolle.« Er streckte die Hand nach Martys Ende aus.
»Unsere Milchmaschine hat auch Mucken«, sagte Marty mitfühlend. Er betrachtete die Hand des Fremden genauer, und seine Augen traten aus den Höhlen. Der Fremde würgte das Hitzelaken zu einem Klumpen zusammen, der plötzlich zu einem Toroid wurde, zwängte noch ein paar weitere Gegenstände hinein und setzte sich keuchend darauf nieder. Er starrte Marty mit großen braunen Augen über einem schlaff herabhängenden Schnurrbart an. Das Toroid zischte. Marty starrte ihn an. »Hübsches Plätzchen habt ihr hier.« Der Fremde atmete anerkennend die Luft ein. »Viel Frempf. Und Büffel. Kühe. Richtig? Ich dachte, die wären ausgestorben.« »Nein, das sind Ayshire-Rinder«, Marty schluckte einige Male. »Hu. Willkommen auf der Erde. Denk ich.« »Danke!« Der Fremde grinste und hielt ihm die Hand hin. Sein Grinsen war nicht schlecht. Marty schüttelte die Hand; sie fühlte sich okay an, war jedoch heiß. »Ich vermute, Sie werden den Präsidenten oder jemand sehen wollen.« »Du lieber Himmel, nein, eine rein private Vergnügungsreise. Keine Formalitäten, bitte.« Der Fremde beobachtete Marty noch immer aufmerksam. Dann lächelte er erleichtert. »Ich sehe, du bist einer von den guten Burschen.« »Was meinen Sie?« »Hab dich gerade mit meinem ethischen Ausstrahlungsmesser getestet.« Er deutete auf eine flimmernde Stelle an seinem Helm. »Du liegst wirklich
weit oben. Ehrlich, tapfer, vertrauenswürdig, freundlich, die ganze Skala. Glück für mich. Ich meine, eine Menge Leute sind Fremden gegenüber feindselig.« Er zuckte entschuldigend die Schultern. »Ich habe keine Todesstrahlen oder so was dabei.« Marty konnte das glauben, wenn er ihn so betrachtete. »Na klar. Es wäre nicht so gut, wenn Sie bei Matts Wirtshaus gelandet wären. Oder beim Sheriff.« Der Fremde nickte traurig. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Wir haben ein Sprichwort. Jeder gute Bursche kennt wenigstens einen anderen guten Burschen. Ich meine, ich würde mich gern ein wenig unterhalten, solange ich hier bin, wenn du jemanden weißt, der mich akzeptieren würde.« Marty dachte nach. »Nun ja, ich schätze, Whelan würde Sie akzeptieren. Ich habe sein Auto am Bach gesehen. Aber er ist niemand Wichtiges, er ist bloß der Aufseher.« Der Fremde zwinkerte. »Es steht auch geschrieben, gute Burschen schießen selten den Vogel ab. Bring mich zu deinem Freund.« Also führte Marty den Fremden zum Wasserlauf hinunter und stellte ihm gleichzeitig tausend Fragen, woher er käme und so weiter, die der Fremde, so gut er konnte, beantwortete. Astronomie war nicht gerade Martys Stärke. Neben dem Weidengatter stand ein schmutziger alter Kombiwagen. Ein schmutziger Mann, der aussah, als habe er schon ganze Zeitalter überdauert, kam vom Bach herauf. Er trug etwas. Der Fremde hielt an. »Whelan! He, Whelan!« Marty kletterte hinunter und sprach mit ihm.
Whelan ging einfach weiter. Als er beim Auto ankam, öffnete er die Hecktür und warf die Falle hinein. Dann lange er ins Innere, holte ein Stück einer Pfote heraus und schleuderte es in die Büsche. »Bastarde«, sagte er. »Bringen jedes gottverdammte Vieh um.« Er wischte sich die Hände an der Hose ab und wandte sich an den Fremden. »Was kann ich für Sie tun, Sir? Whelan ist der Name.« »Guten Tag, Sir Whelan.« Der Fremde lächelte. »Mein Name ist, äh, Joe. Joe Smith. Ich lebe eine ganze Ecke weit weg. Ich hatte gehofft, ich könnte ein paar von euch Leuten treffen und, nun, mich unterhalten.« Er versetzte seinem Helm einen Klaps und runzelte die Stirn. »Ja?« »Wirklich ganz schön weit weg.« Der Fremde schlug wieder gegen den Helm, fester diesmal. Eine Dampfwolke stieg von der flimmernden Stelle auf. »Verdammt«, sagte er. »Er ist ein Außerirdischer!« sagte Marty. »Ich hab's dir gesagt.« »So?« Whelan grinste und zog seinen Strohhut bis fast über die Nase. »Das bin ich wirklich.« Der Fremde starrte auf das, was er von Whelans Augen unter dem Strohhut erkennen konnte. »Ich sehe, Sie kennen sich in Anatomie aus, Sir Whelan. Wenn ich Ihnen –« Er hielt die Hände in die Höhe und entfaltete die extra Teile. Whelan hörte zu grinsen auf. »Es gibt noch mehr«, sagte er scheu und begann die Reißverschlüsse aufzumachen. Er schaute auf Marty. »Vielleicht, wenn wir auf die andere Seite des Wagens gingen?«
»He«, sagte Marty entrüstet. Aber sie schritten um den Wagen herum, so daß Marty nur den Rücken des Fremden sah. Als sie zurückkamen, war Whelans Hut weit in den Nacken geschoben, und er kratzte sich am Kopf. »Hören Sie, das ist zuviel für mich. Sie müssen den Präsidenten oder jemand sehen. Ich bringe Sie besser zum Gerichtsgebäude.« »Oh, bitte nicht.« Der Fremde faltete die Hände. »Können wir uns nicht einfach privat unterhalten?« »Ich hab ihm vom Sheriff erzählt«, sagte Marty. Whelan nickte, ohne den Blick von dem kleinen Fremden zu nehmen. »Worüber wollten Sie sich unterhalten?« Der Schnurrbart des Fremden zitterte. »Es ist alles ganz formlos, Sir Whelan. Bloß eine Idee. Wir haben zufällig gemerkt, wie die Dinge hier laufen; ich meine, Sie schienen ein paar Schwierigkeiten zu haben. Nicht Ihr Fehler, gewiß nicht!« Er lächelte hoffnungsvoll. »Also dachte ich, ich schaue mal vorbei und biete ein bißchen meine Hilfe an, von Person zu Person, meine ich. Falls Sie sie wollen, natürlich.« »Wer ist wir?« wollte Whelan wissen. »Oh, nur ich selber und zwei sehr enge Freunde. Wir kamen hier zufällig auf einer Spritztour vorbei. Ich versichere Ihnen, absolut nichts Offizielles, in keiner Weise.« »Was für eine Hilfe? Halt mal, Marty.« Der Fremde machte eine verlegene Geste. »Es ist nur eine winzige Sache. Kann sein, Sie wollen sie gar nicht haben.« »Fragen Sie mich mal.« »Gern. Aber –« Der Fremde blickte Whelan for-
schend an. »Ich sehe, Sie sind sich darüber im klaren, wie gefährlich es sein kann, die Umwelt mit völlig fremden Stoffen zu belasten? Die möglichen Konsequenzen?« Whelan nickte. »Wenn ich ein paar, nun, verständnisvolle Leute versammeln könnte. Wie ich zu Marty sagte, gute Burschen. Und sie euch als Gruppe präsentiere? Sie könnten es durchsprechen und entscheiden, ob es wünschenswert wäre.« »Ich denke, das ergibt einen Sinn«, sagte Whelan langsam. »Er sagt, jeder gute Bursche kennt einen anderen guten Burschen«, warf Marty ein. Der Fremde nickte eifrig. »Sir Whelan, könnten Sie möglicherweise die Zeit erübrigen, uns zu einer weiteren vertrauenswürdigen Person zu führen? Sehen Sie, ich kann nur wenige Stunden bleiben. Ich kann wirklich nicht erklären warum – verstehe es selbst kaum. Vielleicht kennen Sie jemanden, der mit einer großen Zahl von Leuten zu tun hat?« »Der gute alte Whelan ist schon okay.« Whelan begann zu grinsen. »Sicher, warum nicht.« Er kratzte sich den Kopf. »Jemanden, dem ich traue, der einen Haufen Leute kennt? Nun, da gibt es meine Frau, aber sie ist an der High School. Doc Murrey. Er redet zuviel. Warten Sie. Wie wäre es mit Marion Legersky drüben in der Klinik? Sie kennt eine Million Leute und redet nicht.« »Sie redet immerzu«, wandte Marty ein. »Ja, aber sie sagt nichts. Sie ist okay.« »Oh, danke!« sagte der Fremde. »Fahren wir damit?«
Sie machten Platz zwischen den Fallen, Schaufeln, Drahtscheren, Taschenlampen, Wolldecken, Ketten und anderem Zeug im Wagen. »Nicht so eilig, Marty«, sagte Whelan. »Dein Vater weiß, wo du bist?« »Ich rufe, wenn wir vorbeifahren.« »Tu das.« Whelan brachte den Motor auf Touren. Als sie am Tor der Brumbachers auf dem Kamm des Hügels vorbeifuhren, steckte Marty den Kopf heraus und schrie gellend. Keiner schrie zurück. »Wundervolles Plätzchen, das Sie hier haben«, seufzte der Fremde. »Phantastische Frempf. Scheußlich sich vorzustellen, Sie könnten es ruinieren.« Whelan grunzte. »Was ist Frempf?« »Oh, das ist ein Zustand, den Sie von der allgemeinen elektromagnetischen Konfiguration erhalten. Van Allen irgendwas? Ich habe die Erklärung nie verstehen können. Einige Planeten haben es, andere nicht, ich persönlich liebe es.« Er wiegte die schmalen Schultern. Whelan raste um eine Kurve und zog den Wagen auf die Asphaltdekke. Der Fremde hielt sich an der Tür fest. »Fahren Sie immer so, äh, zügig?« »Manchmal fährt er noch ganz schön zügiger, nicht wahr, Whelan? Whelan muß Wilddiebe fangen«, erklärte Marty dem Fremden. »Hast du den einen Schurken schon erwischt, Whelan?« »Reden wir nicht darüber«, sagte Whelan. »Sagen Sie mal, können Sie mir nicht einen Tip geben, was das für eine Hilfe ist, die Sie uns anbieten?« Der Fremde zwinkerte scheu, als wolle er sagen ›Warte, bis Weihnachten ist‹. Marty konnte erkennen, daß er nicht mehr verschreckt war. »Was würden Sie mögen?«
»Oh, Christus, zitier mich nicht, Marty. Nun, um einen Anfang zu machen – geht ein paar Jahrhunderte zurück und setzt ein flammendes Zeichen in den Himmel, daß jeder, der etwas wegwirft, es aufessen muß. Und jeder, der mehr als zwei Kinder zeugt, sollte sich selbst kastrieren. Und Mineralöl kann nur bei Mondschein von linkshändigen Jungfrauen gewonnen werden – die Art von Dingen.« »Und Deutschland sollte den Krieg nicht verlieren«, warf Marty ein. »He, Joe, kannst du das? Kannst du?« Die großen braunen Augen schauten traurig, und sein Schnurrbart hing schlaff herab. »Oh, meine lieben Freunde. Ich hoffe, ich habe keine falschen Hoffnungen geweckt. Ich kann euch nicht in dem Ausmaß beistehen, ich wünschte, ich könnte es. Zeitreise –« »Ich will ja nur, daß Sie den Planeten retten, bevor es zu spät ist«, murmelte Whelan. »Jeder Frau, die einen Pelz trägt, sollte die Nase abgeschnitten werden.« »Du liebe Güte.« Der Fremde schluckte nervös. »Ja, das meine ich auch. Ich fürchte, was ich anzubieten habe, wird sehr unbedeutend erscheinen.« Sie bogen bei der Kühlschrankfabrik ab und kamen auf die Maple Street. »Wir sind da.« Die Klinik war ein einstöckiger Backsteinbau mit ein wenig Rasen darum herum. Als sie ausstiegen, öffnete sich die Vordertür, und ein Mantel kam herausgeflogen mit einem Mädchen halb darin. »Marion! He – Miß Legersky!« »Whelan!« Das Mädchen wirbelte herum. »Hallo, Marty! Hört mal, entschuldigt mich, ich habe eine
Verabredung. Paul hat mich zu dem Spiel in Green Bay eingeladen. Da kommt der Bus, ich bin schon verschwunden!« Sie bekam den andern Arm in den Mantel, ließ ihr Notizbuch fallen und hob es im Laufen auf. Der Greyhound stand einen Block weiter unten vor Matts Wirtshaus. Gestank quoll aus seinem Auspuff. Drinnen in der Klinik klingelte das Telefon. Miß Legersky hielt im Lauf inne, als hätte sie ein Pfeil getroffen, und drehte sich um die eigene Achse. »Brenda? Wo bist du? Sie hat sich verspätet –« Sie stürzte zurück in die Klinik. Als sie ihr ins Innere folgten, sagte sie gerade. »Jawohl, Mrs. Floyd – Nein, Mrs. Floyd – Ich sage dem Doktor Bescheid, sobald er kommt, Mrs. Floyd, auf Wiedersehn jetzt – was? Ja, natürlich, Mrs. Floyd, ich werde bestimmt –« Draußen machte der Bus Lärm. »Richtig. Ja, Mrs. Floyd! Auf Wiedersehn!« Sie rannte zur Tür hinaus. Sie alle sahen zu, wie der Bus wegfuhr. Miß Legersky zog langsam den Mantel aus. »Es hätte was Ernstes sein können.« Sie seufzte und warf einen Blick auf ihre Besucher. Sie hatte wunderschöne Haut. »Was ist mit euch allen?« Es gab eine kurze Pause, dann begannen alle auf einmal zu reden. »Was? Was?« Sie schaute hin und her, und ihr Blick blieb schließlich auf dem Fremden haften. »Was?« »Zeigen Sie's ihr«, schrie Marty gellend und zerrte an ihm. »Ich glaube, du wirfst besser einen Blick auf ihn, Marion«, sagte Whelan. »Als Krankenschwester und so. Die Zähne«, erklärte er dem Fremden.
Der Fremde öffnete den Mund. Sein Kopf war ein wenig unterhalb des ihren. Hinter den Vorderzähnen des Fremden waren grüne und schwarze Zickzacklinien. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich das mal anfasse?« fragte Marion matt. »Ich wasche mir die Hände.« »Die Vorderzähne sind künstlich«, sagte der Fremde. Als sie den Finger hineinsteckte, zog sie ihn sofort wieder zurück. »Ihre Temperatur!« rief sie. »Sie verbrennen!« »Ganz normal.« Der Fremde schien ein wenig verlegen. Whelan begann ihr von den anderen Dingen zu erzählen. Als der Fremde seine Finger ausstreckte, begann Marion ganz irre zu grinsen, wie ein Hund, der die Zähne fletscht. »Ich habe auch ein drittes, äh, Auge.« Der Fremde klopfte sich an die Stirn. »Wäre es in Ordnung, das für später aufzuheben? Es schmerzt, das Lid aufzumachen.« »Ich habe gesehen, wie er gelandet ist«, erklärte Marty. »Nun, praktisch. Er hat eine fliegende Untertasse; sie ist in unserer Kiesgrube. Nur hat er sie zusammenschrumpfen lassen.« Miß Legersky grinste noch irrer. »Sie, Sie – Sie sind aus dem Weltraum? Wirklich? Woher?« »Nun, es ist drüben beim Hillihievio-Komplex. Ich weiß nicht, wie Sie es nennen. Diese Richtung.« Er zeigte grinsend. Alle grinsten. »Warum? Warum sind Sie gekommen? Wußten Sie über uns Bescheid? He, müssen Sie nicht zum Präsidenten oder zur UNO oder sonst wohin?« »O nein, bitte!«
»Sie wollen gute Menschen kennenlernen?« Sie brachte ihr Haar in Unordnung. »Nun, Sie haben einen Anfang gemacht. Wer, wer? Oh, na klar, mein alter Chef in der O.E.D. wäre ausgezeichnet, aber er ist in Detroit. Wer?« »Vielleicht jemand, von dem Sie sich Rat holen, wenn Sie Probleme haben?« schlug der Fremde vor. »Probleme? Mensch. Nun, da gibt es drei Familien, die seit Januar keine Milch bekommen haben. Mrs. Riccardi hat mir etwas Milchpulver gegeben. Aber sie ist ein bißchen unberechenbar. Probleme ... Whelan, hast du gehört, der Sheriff wirft Mrs. Kovacs aus ihrer Farm; sie ist einundachtzig und blind? Moment! Cleever, Cleever!« Sie ergriff das Telefon. »Wenn er nur da ist, wenn er nicht weg ist oder so was. Er ist der neu Ö.V.«, erklärte sie ihnen. »Gerichtsgebäude? Mary? Ist Cleever da? Hör mal, sag ihm, er soll warten, bitte, es ist dringend! Ich komme sofort rüber, okay, Mary?« Sie legte auf. »O mein Gott Brenda! Wo steckt sie?« »Hallo«, sagte eine Stimme an der Tür. »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, aber mein Poliermittel wollte nicht trocknen. Was ist los? Ich meine, auf Wiedersehn«, fügte Brenda hinzu, als sie alle an ihr vorbeiliefen und sich in Whelans Auto zwängten. Whelan nahm den Weg hintenherum, um nicht am Wirtshaus vorbeifahren zu müssen, und fegte um Rays Autofriedhof herum hinauf zur Distriktstraße C, während Marion schnatterte. »O Mensch, ist das wahr? Können Sie uns helfen? Können Sie wirklich, wirklich?« »Es ist nur eine winzige Sache«, sagte der Fremde bescheiden. »Es mag etwas sein, was Sie gar nicht haben wollen.«
»Was ich will? Oh, ich kann nicht – Whelan, ist das wirklich wahr?« »Könnte sein«, sagte Whelan vorsichtig. »Gerichtsgebäude, richtig?« »Du meine Güte, die Frempf«, seufzte der Fremde. »Sie können das nicht verstehen. Phantastisch.« »Frempf ist Van-Allen-Gürtel«, erklärte Marty. »Er spürt es. He, Joe, wie ist es auf ihrem Planeten? Ist es in Ordnung, wenn ich Sie Joe nenne? Sind Sie von der galaktischen Föderation?« »Was ist das?« fragte der Fremde. »O ja, bitte.« »Hallo, Joe. Ich bin Marion. Schau, Whelan, die Moellers, die haben ihre Essensmarken verloren. Wenn du das nächste Mal Fleisch konfiszierst, könntest du –« »Sie haben zu viele gottverdammte Bälger«, sagte Whelan. »Außerdem ist es illegal. Okay.« Der Kombi schoß über die alte Brücke, vorbei an den Hecker-Giodano-Zahnpastawerken, um die Foxy Cabins und die Frigo-Käsefabrik herum und in den Randbezirk der Innenstadt hinein. Das Gerichtsgebäude hatte einen pizzafarbenen Turm. Whelan lenkte den Wagen zwischen einigen Fahrspuren hindurch und parkte hinter einer Reihe rostiger Schulbusse. »Nahe genug.« Sie kletterten alle heraus und eilten um die Busse herum über den Parkplatz zum Rückportal des Gerichtsgebäudes. Drinnen neben den Mülltonnen war eine Tür, auf der Stand EDGAR CLEEVER, JR. ÖFFENTLICHER VERTEIDIGER. »Cleever!« Marion trieb sie alle hinein und begann sie vorzustellen. Cleever war ein langer junger Chip-
pewa mit einem komischen Gesichtsausdruck. Er sagte »Tag« ringsum und grinste. »Oh, Cleever, Sie werden es nicht glauben, aber Joe kommt aus dem Weltraum. Ich meine, er kommt nicht von der Erde. Er ist gekommen, um uns zu helfen. Ist das nicht eine Wucht?« Cleevers Schielen blieb auf dem Fremden hängen. »Ich habe ihn landen sehen«, sagte Marty. »Er hat es uns gezeigt, Cleever. Ich meine, ich glaube es. Ich tue es wirklich.« Cleever schielte Whelan an. Whelan räusperte sich. »Sieht so aus«, sagte er. Cleevers Augäpfel verengten sich zu zwei schwarzen winzigen Löchern, die auf den Fremden gerichtet waren. »Spricht er nicht? Wo ist sein interstellares Übersetzungsgerät?« »Eigentlich habe ich keins«, sagte der Fremde laut und deutlich und ein wenig zaghaft. »Es ist wirklich nicht notwendig.« »Aha, der schwache britische Akzent«, sagte Cleever. »Wie habt ihr gesagt, war sein Name?« »Joe Smith«, erklärte ihm Whelan unbehaglich. »Nun, er klingt in Wirklichkeit mehr wie Sorajosujojorghtha«, warf der Fremde ein. »Joe schien mir einfacher. Den Smith habe ich mir ausgedacht.« »Also, was verkaufen Sie? Heute ist kein Feiertag für mich.« Cleever nahm einige Papiere, aber mit einem Ohr hörte er dem Fremden zu. »Du liebe Güte«, der Fremde schluckte. »Offenbar muß ich Ihnen erst beweisen, daß ich von einem anderen Planeten komme.« »Gute Idee.« »Nun, natürlich, untergeordnete physische Aspekte
–« Der Fremde streckte die Hände aus und wackelte mit allem. »Aber wie ich sehe, ist das nicht sehr überzeugend.« »Nein«, sagte Cleever kurz angebunden. »Das habe ich befürchtet.« Der Fremde begann an seinen Reißverschlüssen zu zerren. Marty erhaschte einen Blick auf schwarze, feucht aussehende Dinge, bevor Whelan ihn wegzog. Marion wich zwei Schritte zurück, ihre Augen traten aus den Höhlen. Cleever sah nur schweigend zu. Seine Mundwinkel verzogen sich ärgerlich. Er blinzelte zweimal und schüttelte langsam den Kopf. »Tut mir leid. Tut mir wirklich leid. Aber nein.« Der Fremde seufzte und zog die Reißverschlüsse zu. Er fing an, sich an der Stirn zu kratzen, und zuckte ein bißchen zusammen. Ein großes Stück Haut schälte sich ab. Über der Nase war eine gallertartige Stelle. »Das ist kein Auge«, sagte Marty empört. Der Fremde hielt eine Plastiktasse gegen die Stirn. Er beugte den Kopf vor und schnellte ihn einige Male hoch. Als er sich aufrichtete, konnte es jeder sehen. »Ooo«, stöhnte Marion. Es war nicht wie seine anderen Augen, sondern mehr wie ein weiches, schimmerndes Tierchen, das herausschaute, direkt auf Cleever. Seine anderen Augen sahen Cleever ebenfalls an. Cleever starrte mit fürchterlicher Wildheit zurück. Seine Finger trommelten dreimal auf die Tischplatte. Plötzlich wandte sich das dritte Auge von Cleever ab und schwenkte herum, um die andern anzuschauen. Es zwinkerte. Cleever räusperte sich einmal, zweimal. Er streckte
eine Hand nach dem Fremden aus. Der Fremde nickte und lehnte sich über den Schreibtisch. Sehr behutsam berührte Cleever das Auge. Es schien sich zu ducken. Cleever lehnte sich zurück und atmete finster dreinschauend aus. »Okay«, er schüttelte sich. »Okay. Vorläufig. Also was? Worum geht es? Kein Ultimatum?« »Oh, Erbarmen, nein«, sagte der Fremde. »O nein! Einfach ein freundschaftlicher Besuch. Sehen Sie, wäre es möglich, wenn ich das zurückziehe? Es ist ein wenig –« »Nur los. In wessen Namen findet Ihr freundschaftlicher Besuch statt? Die letzten Außerirdischen, die wir hatten, erwiesen sich als weniger gut.« »Er sagt, er will uns etwas geben«, sagte Whelan. »Aha«, schnaubte Cleever verächtlich. Der Fremde beugte den Kopf zurück und ließ die Gallerte verschwinden. »Wir«, sagte er gedämpft. »Ich wollte sagen, meine beiden Begleiter und ich kamen zufällig hier vorbei und konnten nicht umhin festzustellen, daß die Zustände bei ihnen nicht allzu erfreulich waren. Ziemlich betrüblich. Gefährlich.« Er schob die Haut über die Gallerte. »Sieht es so richtig aus? Wir haben auch unsere Misere, leider. Also fiel mir etwas ein – ein sehr kleiner Gegenstand, verstehen Sie –, das vielleicht hilfreich sein mochte, und ich dachte, ich schaue mal vorbei, um zu sehen, ob Sie es ausprobieren wollen.« »Wieviel?« wollte Cleever wissen. »Oh, Cleever«, protestierte Marion. »Er verkauft nichts – er will helfen.« »Das ist richtig«, erklärte der Fremde eifrig. »Wir
haben ein Sprichwort. Die guten Leute müssen zusammenhalten.« »Gute Leute. Was soll man darunter verstehen? Ich denke nicht in Schwarzweißkategorien.« »Jawohl, verzeihen Sie. Ein Slangausdruck. Wie soll ich es ausdrücken?« Der Fremde kaute auf seinem dichten Schnurrbart. »Nun, in Situationen, wie Sie sie hier haben, findet man Leute – so wenige, leider –, die versuchen eher zu helfen, als daß sie Status oder Macht oder materielle Güter erstreben –« »Sie sagen dauernd Hilfe. Was meinen Sie? Jeder glaubt, er würde helfen. General Custer hat geholfen.« »Selbstverständlich.« Der Fremde beobachtete ihn ängstlich. »Wäre es eine Hilfe – Entschuldigung –, könnte ich sagen, Leute, für die der Schmerz, den andere fühlen, Wirklichkeit ist? All der Schmerz, die Vergeudung. Emphatisch, ist es das? So real, daß sie versuchen, nun, ihn abzustellen?« »Das ist wundervoll«, sagte Marion. »Okay, okay«, brummte Cleever. »Was wollen Sie also?« »Das bescheidene Angebot meiner Unterstützung machen.« »Machen Sie es.« Der Fremde schaute sich um und zählte. »Ich hatte gehofft, daß wenigstens einer mehr – der Unterschiedlichkeit wegen –« Seine Stimme verlor sich zaghaft. »Er will so was wie eine Liste der Geschworenen«, erläuterte Whelan. »Um festzustellen, ob es die Sache durcheinanderbringen würde.« »Wen wollen Sie? Ralph Nader? Margaret Mead? Billy Graham? Bella Abzug?«
»Er sucht Ihren guten Menschen!« sagte Marty. Der Fremde nickte. »Wenn Sie uns möglicherweise zu jemandem führen könnten, der, nun ja, Erfahrung hat, was die weiteren ethischen Implikationen angeht. Niemand Offizielles, bitte. Jemandem, den Sie ein großes Geheimnis anvertrauen würden.« »O Mann«, sagte Marion. »Weitere ethische Implikationen.« Cleever schüttelte langsam den Kopf und starrte den Fremden nachdenklich an. »Nun, vielleicht. Vorausgesetzt, an Ihrer Geschichte ist was Wahres dran, was ich bezweifle. Lassen Sie mich nachdenken. Richter Ball war bei meiner mündlichen Prüfung, er kennt jede ethische Implikation, die es gibt. Ich schätze, ich kann dem alten Bastard trauen. Ich würde gern sein Gesicht sehen –« Cleever kramte in seiner Schreibtischschublade herum. Plötzlich hielt er inne. »Hören Sie mal, wenn sich das als Unfug herausstellt, zerreiß ich Sie in der Luft. Verstehen Sie mich?« Der Fremde erbebte. »Oh, ich versichere Ihnen –« »Seien Sie gewarnt.« Cleever nahm den Telefonhörer ob. »O zum Teufel, zwecklos. Er ist in Denver. Nächste Woche?« »Du liebe Güte, es muß früher sein. Eigentlich heute. Meine Freunde haben das ausdrücklich betont.« »Ich sollte mein Gehirn überholen lassen«, Cleever grinste den Fremden höhnisch an. »Sehen Sie, warum hauen Sie nicht ab und retten die Welt anderswo?« »He!« sagte Marion. »Doktor Lukas. Wie wäre es mit ihm? Ich war in seinem Seminar, ich vertraue ihm. Er hat sich vom N.I.H. zurückgezogen, weil, Sie wissen schon, Cleever. Ich habe es Ihnen erzählt.« »Lukas? Macht er jetzt nicht irgend so einen wis-
senschaftlichen Beratungskram?« »Er ist drüben im angrenzenden Bundesstaat. Pike River. Es sind nur vierzig Meilen.« »Rufen Sie ihn an.« »O Gott, ich könnte nicht«, jammerte sie. Aber als Cleever Lukas' Sekretärin am Apparat hatte, machte Marion ihre Sache recht gut. Sie erklärte, daß sie eine ehemalige Studentin sei und daß etwas von wissenschaftlicher Bedeutung aufgetaucht sei, und könnte sie nicht bitte zehn Minuten seiner Zeit in Anspruch nehmen? Als die Sekretärin nachgab und ja sagte, hängte Cleever sein ›Bin auf der Jagd‹-Schild an die Tür, und sie alle stürmten hinaus und sprangen in Whelans Wagen mit den Fallen und anderem Zeugs. »Was veranlaßt Sie, Lukas zu trauen, Marion?« fragte Cleever, als sie die Interstate 101 hinuntersausten. Es war ein prächtiger Tag. Der Fremde ließ die Arme aus dem Fenster baumeln und fragte Marty die Namen von Dingen. »Oh, ich weiß nicht.« Marion lachte. »Das Zurückzucken, schätze ich.« »Was für ein Zurückzucken?« »Sie wissen schon. Zum Beispiel das ganze Zeug in den Nachrichten, und nach einer Weile stumpft man total ab, alles ist so schrecklich, aber man zuckt weiter zurück. Zum Beispiel zwanzig Millionen Babies sind irgendwo am Verhungern. Zuck. Alte Leute in stinkenden Privatkliniken mißhandelt. Zuck, Zuck. Achtzig Milliarden für neue Superbomben. Zuck, Zuck, Zuck. Sie zucken zurück, Cleever. Ich sehe Sie.« »Nein, Chippewas zucken nicht zurück«, fauchte Cleever. Dann sagte er. »Oh, Mist.«
Eine Sirene heulte ohrenbetäubend hinter ihnen. »Das ist er. O nein.« Sie fuhren an den Rand und warteten. Stiefel stampften. Dann verdeckte ein khakifarbener Klotz Whelans Fenster. Abzeichen und Gürtel waren an ihm befestigt. »Hallo, Leute.« »Hallo, Sheriff«, sagte Whelan tonlos. »Ich muß mal mit dir reden, Junge. Was für eine Scheiße wolltest du mit Charlie Orr abziehen? Tschuldigung, Miss.« Des Sheriffs breites Gesicht senkte sich herab, um zu sehen, wem die Beine gehörten. Als er es sah, hörte er zu lächeln auf, was im großen und ganzen ein Vorteil war. »Orr hatte acht Rotwildgerippe oder Teile davon auf seinem Feld«, erklärte ihm Whelan. »Er sagt, du hast versucht, ihn bei über hundert Meilen die Stunde von der Straße abzudrängen.« »Nun, er wollte nicht anhalten. Ich hatte den Blinker gesetzt; ich bin bloß dicht aufgefahren und habe ihm einen Stups versetzt.« »Gottverdammt gefährliche Fahrerei. Dieses Auto von dir könnte jemand umbringen.« Der Sheriff stand noch immer vorgebeugt da und sah sie alle mit seinen runden blauen Augen an. »Du hast Krempel in diesem Auto, der verboten ist, Whelan. Ich muß dich aufschreiben, Junge.« Whelan sagte nichts. »Eine Party, wie ich sehe. Sag mal, du bist doch der Kleine von den Brumbachers. Weiß dein Vater, daß du mit diesen Leuten unterwegs bist?« »Wir haben es ihm gesagt«, sagte Marty. »Ja? Ich denke, ich sag's ihm auch. Sie –« Sein Kinn
ruckte zu dem Fremden. »Neu in der Stadt?« »O ja, Sir! Wirklich!« Sie konnten fühlen, wie der Fremde zitterte. »Bloß auf der Durchreise, wirklich!« »Lassen Sie's dabei. Er Ihr Anwalt?« »Du liebe Güte, nein, wirklich nicht! Ich –« Cleever stieß ihn an, und er hielt den Mund. »Zum Verwechseln ähnlich«, brummte der Sheriff. Er zog den Kopf heraus. »Erst mal will ich dich morgen in meinem Büro sehen, Whelan. Verstanden? Und bring dieses unsichere Vehikel mit.« »Das Recht steht auf meiner Seite«, sagte Whelan. »Sicher. Sicher.« Der Sheriff lachte in sich hinein und versetzte dem Wagendach einen Klaps. In dem Moment nieste der Fremde oder so was. Ein großer Ring blaßlila Lichts schoß durch den Wagen und aus dem Fenster hinaus. Das Gesicht des Sheriffs kam wieder herunter. »Ihr habt Feuerwerkskörper im Auto!« »O nein! Nein!« schrien alle außer Cleever. Der Sheriff hämmerte hart auf das Dach. »Also schön, alles raus.« Er riß die Tür an Marions Seite auf. »Durchsuchungsbefehl?« fragte Cleever. Der Sheriff machte die Lippen rund und spie ein Stück Kaugummi aus. »In meiner Eigenschaft als Sheriff dieses Bezirks fordere ich Sie auf, einen Beamten des Gesetzes bei der Ausübung seiner Pflicht zu unterstützen. Raus!« Er packte Marions Arm. Cleever richtete sich auf. »Lassen Sie sie los, Claude.« »Schaut!« schrie der Fremde und deutete nach vorn. Ein Auto donnerte auf sie zu, eine Art Seifenkiste
auf großen dicken Rädern. Haarige Köpfe ragten oben heraus. »Haughgh!« sagte der Sheriff und ließ Marion los. Das seltsame Auto hatte sie fast erreicht. Es bremste auf dem Kies, wirbelte Steine auf und fuhr kreischend neben dem Streifenwagen des Sheriffs zurück auf die Straße. Ping-g-g! Der Sheriff brüllte und rannte zu seinem Wagen. Die Teenager bekamen einen guten Vorsprung und rasten die Straße hinunter. Auf die Rückseite waren große Buchstaben gemalt. Der Streifenwagen begann zu heulen und nahm die Verfolgung auf, Kies in alle Richtungen spritzend. Whelan startete und brachte sie weg von dem Ort. »Hab sie nie zuvor gesehen«, sagte er. »Was war das? Ein aufgetakelter VW-Bus?« »›Liebe‹ stand darauf«, kicherte Marion. »In purpur. Mensch, war das irre. Ich hoffe, er kriegt sie nicht.« »Das stimmt nicht«, sagte Marty zu ihr. »›Claude ißt Haarschuppen‹ stand darauf.« »Ich hab's gesehen. Liebe.« »In Wirklichkeit stand ›Weißer Mann tot umgefallen‹ darauf«, sagte Cleever. »Und es war ein 67er Pontiac.« »Es tut mir leid«, sagte der Fremde. »Es ist schwer, bei so vielen Leuten. Ich habe die Sinne getrübt.« »Hu?« »Sie meinen, Sie haben das gemacht?« fragte Cleever. Der Fremde lächelte bescheiden. »Nun, ich dachte – ich hoffe –, es war in Ordnung?«
»Oh, es war perfekt! Mensch! Ho ho ho!« schrie Marion. »Sie meinen, wir haben uns das nur eingebildet – He!« Marty schnellte herum und schaute dem Fremden ins Gesicht. »Machen Sie noch mehr! Machen Sie ein paar Monster!« »Oh, das geht nicht. Es muß im Kopf des Betreffenden sein. Das heißt, im Kopf der Person, meine ich.« Er zupfte wieder an seinem Schnurrbart. »Äh, Miß Legersky –« »Marion.« »Marion – ich muß mich entschuldigen. Dieser Telefonanruf. Mrs. – äh, Floyd. Das war ich.« »Was meinen Sie? Ich habe sie gehört.« »Nein, wirklich. Niemand hat angerufen. Ich habe es in ihrem Kopf gemacht. Es tut mir so leid.« »Sie meinen, Mrs. Floyd hat niemals angerufen? Aber – aber warum?« »Ich mußte mich Ihrer vergewissern«, sagte der Fremde flehentlich. »Mein, mein Einfall scheint funktioniert zu haben.« »Sein ethischer Vibrator«, erklärte Marty. »Er ist in seinem Helm. Ich habe Rauch gesehen, Joe.« »Ja. Totaler Schund. Also dachte ich, mach einen Versuch. Das Schlimmste, worüber man sich ärgern kann. Es tut mir furchtbar leid.« »Sie meinen, mal sehen, ob ich ans Telefon gehe.« Sie zerwühlte ihr Haar und starrte ausdruckslos auf die hinter einigen Wunderbrotanzeigen vorrüberrauschende Szenerie. »Cleever, gerade als ich wegging, ich meine, Paul hat mich gefragt – ich glaubte, er sei es«, sie schaute umher. Der Fremde nickte. »Jedenfalls, Brenda kam zu spät, und Mrs. Floyd rief an –
nur daß es nicht Mrs. Floyd war. Aber die Stimme und alles –« »Es tut mir so leid.« Die großen braunen Augen des Fremden glitzerten. »Ihr Paarungsritual –« sagte er kläglich. »Oh, Joe, es spielt keine Rolle.« Sie tätschelte seine Hand. »Ich möchte dies um keinen Preis versäumt haben. Und Sie versuchen uns zu helfen.« »Ich hoffe wirklich, daß Sie nicht enttäuscht sein werden.« Er umfaßte ihre Hand. »Es ist eine so winzige Sache.« »Sie haben wunderschöne Augen, Joe.« Sie umarmte ihn. Er strahlte. »Testen«, sagte Cleever. »Ich entsinne mich nicht, daß Sie bei mir etwas versucht haben. Warum nicht? Berufsmäßige Höflichkeit?« »Oh, ich habe Sie angeschaut«, erwiderte der Fremde scheu. »Ich entsinne mich«, Cleever schielte wieder. »Vielleicht sollten wir eine Art Test machen. Bloß für Anfänger. Sieht jeder den Burschen so, wie ich ihn sehe? Whelan, macht es dir etwas aus, uns zu sagen, wie Joe aussieht?« Alle fingen an, den Fremden zu beschreiben, es zu vergleichen und darüber zu diskutieren, während sie an der Ölverladerampe vorbeifuhren, über die Bahngleise und um Earls Wohnwagenplatz und über die Brücke nach Pine River zischten. »Oh, Cleever, was spielt die Sache mit seinen Ohrläppchen für eine Rolle«, sagte Marion. »Wir alle sehen ihn. Langsamer, Whelan, da ist der Campus.« »Ich weiß nicht«, sagte Cleever düster, als sie auf den Parkplatz unter den Ahornbäumen rollten. »Ich
wünschte, mein Großvater wäre hier mit seiner Windhundfalle.« Der Fremde erschauderte. »Lebenswissenschaften hat sie gesagt.« Marion deutete mit dem Finger. »Das, das wie ein Motel aussieht.« Sie bahnten sich einen Weg zwischen den Äxten und Benzinkanistern und strömten in das Lebenswissenschaftenmotel. Sie fanden eine Tür mit der Aufschrift ›Dr. phil. med. T. H. LUKAS‹. In dem kleinen Büro dahinter herrschten zehn Grad Kälte. »Die Klimaanlage«, nieste seine Sekretärin. »Gehen Sie gleich durch.« »Oh, es ist angenehm«, versicherte ihr der Fremde. »Bringt wirklich die Frempf heraus.« Er folgte ihnen angenehm fröstelnd in Lukas' Kabüffchen. Lukas erwies sich als ein kräftiger kleiner Mann mit einer weißen Mähne. »Übernehmen, Marion«, sagte Cleever. »Oh, Mensch«, sagte Marion und stürzte sich hinein. Gerade als sie ›Weltraum‹ sagte, öffnete sich die Tür, und die Sekretärin spazierte mit einem gelben Umschlag in der Hand hinein. »Entschuldigung.« Lukas öffnete ihn und begann zu lesen. Während er las, bewegte er sich langsam rückwärts, bis er gegen die Wand stieß. Das Blatt in seiner Hand zitterte ein wenig, und sein Gesicht wurde blaß. Marty atmete plötzlich hörbar ein, und Whelan umklammerte ihn von hinten. »Soll ich eine Antwort schicken?« Die Sekretärin sah ebenfalls nicht gut aus. »Nein – O ja, natürlich, Miss Timmons. Äh. Lieber
Harry. Aufrichtige – nein, viele Glückwünsche zu deiner Berufung. Du hast meine volle Unterstützung. Gezeichnet Theo.« »Doktor Lukas, es – es tut mir so leid.« Er machte eine unbestimmte Geste. »Danke, Miss Timmons. Diese Dinge – Man muß hoffen, das die Ausübung von Macht eines Tages besser wird –« »Ich weiß, zu was die Ausübung von Macht bei ihm führen wird.« Miss Timmons marschierte hinaus. Lukas lächelte ein wenig mühsam und kehrte mit einiger Anstrengung an seinen Schreibtisch zurück. »Verzeihen Sie bitte – Miss Legersky, nicht wahr? Bitte fahren Sie fort.« Sie hatte gerade zu sprechen begonnen, als der Fremde etwas murmelte und rasch zur Tür hinausglitt. »Uups«, sagte Cleever und flitzte hinter ihm her. Marion sprach weiter. Als sie zurückkamen, stand Lukas auf. »Sie –?« Er starrte den Fremden an, schüttelte den weißen Kopf und lächelte müde. »Das Auge«, sagte Cleever. »Zeigen Sie es ihm.« »Das ist jetzt wirklich nicht notwendig.« Der Schnurrbart schien sich aufgerichtet zu haben. »Ich weiß. Sie erzählen ihm das besser auch. Sie wird das Telegramm abschicken.« »O nein.« Der Fremde schüttelte den Kopf, während er seinen Schnurrbart glättete. »Ich habe ein elektronisches Bonbon«, bekannte er. Dann wurde er ernst. »Doktor Lukas, ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Dieses Telegramm existiert überhaupt nicht.« »Was?« »O Joe!« schrie Marion auf.
»Wirklich. Schauen Sie auf Ihrem Schreibtisch, wo sie es hingelegt haben. Nichts da.« Es war wirklich nichts. Lukas rannte suchend herum, während seine Augenbrauen mehr und mehr in die Höhe gingen. »Das ist ein Trick von ihm«, erklärte Cleever. »Testen. Er sagt, er benutzt das Schlimmste, was Sie sich vorstellen können.« »Nur in Notfällen«, sagte der Fremde. »Es erschöpft einen sehr. Bitte verzeihen Sie mir.« »Erstaunlich!« Lukas blinzelte und begann zu lächeln. »Nun! Ja, meine Güte! Das ist gewiß ein Meisterstück, Mr. Joe, nicht wahr? Aber bedauerlicherweise kann ich es nicht akzeptieren als ein, äh –« »Natürlich«, stimmte der Fremde zu. Also führten Sie ihm alles vor, während Lukas immer erregter wurde. Als sie bei dem Auge angelangt waren, hatten seine Augenbrauen den Haaransatz erreicht, und er beguckte sich den Fremden durch eine Taschenlupe. »Ein Analogon zur Zirbeldrüse? Unmöglich, betrachten Sie die Feinstrukturen – Wieso, das ist kein Haar –?« Das Auge schwenkte in offensichtlichem Vergnügen hin und her. »Wir sollten zur Sache kommen«, unterbrach Whelan. »Ich würde ganz gern den geheimnisvollen Apparat sehen, den er hat.« »Knöpfen Sie sich zu, Joe. Jemand könnte hereinkommen.« »Gut, gut, gut!« wiederholte Lukas, während der Fremde sich wieder zusammensetzte. »Gut! Und jetzt? Wen rufen wir zuerst an?« »Nein, nein, nein!« Sie erzählten es ihm. Der Frem-
de begann zu erklären, daß dies eine private Angelegenheit sei, die er einer kleinen Gruppe offerieren wolle. Er wählte seine Worte mit großer Sorgfalt, während er Cleever nervöse Blicke zuwarf. »– Personen von, wie soll ich es ausdrücken? Von altruistischem Temperament, von nicht dominierender, kompromißlerischer Orientierung? Nicht ausbeuterisch?« Lukas blickte verwirrt. »Ich sehe in Ihrem Bewußtsein die Ausdrücke ›nicht-antagonistisches Verhalten‹. Ausgesprochen etepimelistische Tendenzen?« »Ah«, erwiderte Lukas. »Sie meinen die guten Leute!« Marion kicherte. »Aber wie wundervoll! Sie bieten uns Hilfe an? Sie meinen das wirklich?« »In begrenzter Hinsicht.« Der Fremde begann in seiner Kleidung herumzutasten. »In sehr begrenzter Hinsicht. Das heißt, falls Sie –« Er runzelte die Stirn und tastete an einer anderen Stelle. Lukas blickte über ihre Köpfe. »Eine Hemmung vielleicht, einander gegenseitig umzubringen? Etwas, von dem Lorenz – so geringfügig, daß es vielleicht ganz unbegründet ist – glaubt, daß man es unter Wölfen beobachten kann. Wir scheinen es mehr zu brauchen als die Wölfe.« Geistesabwesend rieb er eine Stelle an seinem Arm. »Ist so etwas möglich?« fragte er. »Können Sie die Menschen davon abbringen, sich gegenseitig zu vernichten?« »Dann geht der Planet zum Teufel«, sagte Whelan. Die Miene des Fremden war bekümmert. »Doktor Lukas, es tut mir leid. Was Sie vorschlagen, ist möglich, in gewisser Hinsicht. Aber es würde viel Mühe
erfordern – Oh, angefangen bei einem offiziellen Projekt, über eine gewaltige Organisation, Kapital, Genehmigungsverfahren, Koordinierung, Grundlagenforschung – Ich sehe, Sie verstehen, was ich meine.« Cleever schnaubte verächtlich. »Ja.« Lukas atmete schnaufend aus. »Ich verstehe.« »Das mit Ihrer Familie tut mir so leid«, sagte der Fremde leise. Lukas erschrak. »Sie lesen wirklich Gedanken?« »Wenn der Gedanke so hervorstechend ist.« »Und die Toten können Sie auch nicht zurückbringen. Dessen bin ich mir sicher. Oder könnten –« Lukas Miene veränderte sich. »O nein. Verzeihen Sie. Aber nun, lassen Sie mal sehen. Was bringen Sie uns?« Der Fremde zog ein kleines zerknittertes Päckchen hervor, das augenblicklich zu einem lappigen kleinen Sack anschwoll. »Es ist vollkommen harmlos«, sagte der Fremde. »Nun, der kritische Punkt ist –« Es kam ein schnelles Klopfen an der Tür, als Miss Timmons hereinkam. »Doktor Lukas, kann ich Ihr Telefon benutzen? Mein Anschluß ist tot.« »Oh«, sagte der Fremde. »Äh, Doktor Lukas.« »Das ist es also, was Sie gemacht haben«, sagte Cleever. »Sir, vielleicht sollten Sie das mit dem Telegramm erwähnen.« »Natürlich. Miss Timmons, es wird nicht nötig sein, dieses Telegramm abzuschicken. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß die Botschaft ein, äh, Irrtum war.«
»Ein Scherz«, fügte Cleever grimmig hinzu. »Was für ein perverser, schrecklicher –« »Ja, ja, es ist schon in Ordnung.« Lukas lächelte sie an. Sie starrte jeden der Reihe nach an und stolzierte hinaus. »Ich sollte es reparieren«, sagte der Fremde ängstlich. »Später, wir wollen keine Anrufe.« »Richtig. Nun, wie ich schon sagte, der kritische Punkt ist Müdigkeit.« »Müdigkeit?« echoten sie ausdruckslos. »Jawohl, auf seiten der guten Menschen. Wir haben ein Sprichwort. Die guten Burschen kriegen immer die Dreckarbeit.« »Ich folge Ihnen«, sagte Whelan. »Und bei uns heißt es auch, gute Burschen sind dumm genug, sich Sorgen zu machen. Also versuchen sie es weiter. Aber es gibt so wenige von ihnen, und ständig erleiden sie Verletzungen und Niederlagen und Dreckarbeit. Eine furchtbare Last. Sie werden müde.« Er schaute umher. Keiner nickte, keiner hatte Grund dazu. »Und so nutzen sie sich ab, sie erlahmen. Unfähig weiterzumachen. Vielleicht tot. Die Gesellschaft leidet, Irrtümer und das Böse triumphieren. Also dachte ich, ich bringe euch Erfrischung, für die guten Burschen.« »Drogen«, knurrte Cleever. »Scheiße.« »O nein!« Der Fremde blickte schockiert um sich. »Sagen Sie mir – hat keiner von Ihnen schon einmal den Wunsch verspürt, für eine Weile abzuhauen? Einen geheimen wunderschönen Ort zu haben, der frei
ist von Bösem und Habgier, ohne – ist Zank das richtige Wort? Warten Sie –« Er betrachtete Marion. »Wo es nur Sympathie und Verständnis gibt und wo Rehe und Antilopen spielen?« »Ooo«, stöhnte Marion. »Sie meinen, wie Schulferien?« Dann verschwand ihr Lächeln. »Ich war einmal im Yellowstone Park. Es ist wie in einer Sardinenbüchse.« »Vertreter eines Reisebüros«, Cleever zeigte die Zähne. »O bitte, dies ist ein Geschenk! Ein sehr bescheidenes Geschenk, fürchte ich. Aber sehen Sie«, sagte der Fremde ernst, »wir haben Erfahrung mit diesen Problemen. Wirklich. Wir haben gelernt, daß, wenn man dem Streß für eine Weile entkommen kann, man erfrischt zurückkehrt. Erneuert! Fähig, weiterzumachen, mehr zu vollbringen. Zu blühen wie der grüne Baum.« »He, Joe, wo ist es?« fragte Marty. »Wo geht's lang?« »Beobachten Sie bitte.« Der Fremde öffnete ein Läppchen des Bündels. Ein Gegenstand fiel heraus. »Nein, warten Sie, falsche Kultur.« Er steckte ihn zurück und probierte ein anderes. »Das sah aus wie ein afrikanischer Webkamm«, sagte Marion. »Ich hoffe wirklich, Sie mögen es.« Der Fremde zog ein schillerndes kleines Ding heraus. »Autoschlüssel?« »Als Tarnung. Sehr unauffällig, jedermann besitzt einen, nicht wahr? Und nun, wenn Sie in der Mitte des Raumes etwas Platz machen würden – gut, gut. Sehen Sie. Ich halte den Schlüssel hoch, so, und klop-
fe leicht darauf. Zwölfmal.« Seine Finger klopften zwölfmal. »Ooooo! Aaah!« In der Mitte des Raumes stand eine schwach schillernde Seifenblase, so hoch wie ein großer Kühlschrank. »Das ist das Tor. Nun, was das Hineingehen betrifft –« »Moment mal«, sagte Whelan. »Was ist da drin?« »Oh, nichts im Moment. Sehen Sie – sie ist vollkommen leer.« Der Fremde spazierte in die Blase hinein und wieder heraus, dabei fuchtelte er mit den Armen. »Sie synchronisiert zwei Punkte. Man geht hier hinein und kommt dort heraus. Ich habe die technische Bezeichnung vergessen, Zeit-unabhängiger-nulldimensionaler-Irgendwas. Unsere Transportindustrie stellt sie her.« »Funktioniert es?« fragte Marty. »O ja. Sie haben seit Jahrhunderten keins zurückgerufen.« »Ich dachte, Sie wären mit einer fliegenden Untertasse hierher gekommen«, sagte Cleever. »Oh, natürlich. Ich brauche keinen permanenten Angelpunkt. Sie würden keine Straße bauen nur wegen eines –« »Okay.« »Wo geht es hin? Ich will es ausprobieren«, sagten Marty und Marion gleichzeitig. »Nein.« Cleever und Whelan sprachen mit einer Stimme. Lukas näherte sich der Seifenblase und steckte die Hand hinein. »Ich bin der älteste, ich bin entbehrlich.
Ich werde es testen.« »O nein, Dr. Lukas –« Aber der Fremde gab ihm bereits Instruktionen. »Wenn Sie drinnen sind, klopfen Sieden Schlüssel so.« Er klopfte dreimal langsam, dreimal schnell, dreimal langsam. »Ihr Notsignal, glaube ich? Um zurückzukommen, einfach wieder hineingehen und das Klopfen wiederholen.« Er überreichte Lukas den Schlüssel. »Bitte, wenn Sie gleich zurückkommen würden? Ihre Freunde werden sich zwangsläufig Sorgen machen. Oh, ich hoffe wirklich, es gefällt Ihnen«, fügte der Fremde hinzu, als Lukas in die Seifenblase hineinschritt. Sie sahen seine Mähne sich leicht heben wie von einem Bürstenstrich. Er hielt den Schlüssel hoch und klopfte. Nichts geschah. Der Fremde steckte den Kopf hinein und sagte etwas. Cleever wieherte. »Es muß ziemlich kraftvoll geschehen«, sagte der Fremde entschuldigend, als sein Kopf herauskam. »Dies ist ein gebrauchtes Modell. Aber wie ich Ihnen versichern kann, sehr zuverlässig.« »Sicher, sicher«, sagte Cleever. Sie konnten Lukas fest klopfen sehen. Auf einmal waren er und die Seifenblase nicht mehr da. »Heilige Mutter«, wisperte Whelan. »Geht es ihm gut?« fragte Marion atemlos, als sich die Tür öffnete und Miß Timmons Kopf hereinschaute. »Ist mit dem Professor alles in Ordnung? Doktor Lukas! Wo ist er?« »Er ist für eine Minute hinausgegangen«, sagte
Marty laut. »Ha ha ha!« Whelan grapschte nach ihm. »H-haben Sie ihn nicht vorbeikommen sehen?« fragte Marion. »Er sagte, er käme gleich zurück.« Das Telefon im Büro klingelte. Miss Timmons schaute wild hin und her und zog sich schließlich zurück. Cleever ging hinüber und lehnte sich gegen die Tür. »Das reicht, Sie. Holen Sie ihn zurück«, knurrte Cleever. »Oh, ich kann nicht –« Der Fremde warf einen Blick auf Cleever und versteckte sich hinter Marion. »Bitte, nicht –« Die Seifenblase und Lukas kamen plötzlich mit einem Puffen zurück in die Mitte des Zimmers. Lukas schritt langsam heraus, ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Jungfräulich –«, sagte er zu dem Fremden. »Sie ist jungfräulich, nicht wahr? Die Luft –« Er schniefte. »Ich wußte nicht, daß es hier so verpestet ist. Aber so einsam –« Er wandte sich an die anderen. »Ja. Man findet sich in einem großen, in einem sehr großen Pavillon wieder. Man blickt hinaus auf eine jungfräuliche Welt. Alles vollkommen leer.« »Das Empfangsgebiet. Wir haben es aufgestellt«, sagte der Fremde. »Hat es Ihnen gefallen?« »Lassen Sie mich, lassen Sie uns«, verlangten die anderen stürmisch. »Selbstverständlich!« Der Fremde teilte Schlüssel aus. »Darf ich vorschlagen, daß Sie in Paaren gehen? Die Blasen müssen an verschiedenen Stellen sein, verstehen Sie? Vielleicht, wenn wir den Schreibtisch beiseite schieben?«
Als sie schoben, begann Miss Timmons gegen die Tür zu hämmern. Lukas steckte den Kopf hinaus. »Elvira, seien Sie nicht beunruhigt. Alles ist vollkommen in Ordnung. Wir arbeiten an etwas.« Er wandte sich gerade rechtzeitig um, um Marion und Cleever mit einem Puffen der Seifenblase verschwinden zu sehen. In der nächsten Sekunde waren auch Whelan und Marty verschwunden. Lukas lehnte sich ein wenig außer Atem gegen den Schreibtisch. »Glauben Sie«, fragte er den Fremden, »Elvira – Miss Timmons arbeitet schon seit Jahren bei mir. Wäre es wohl möglich –?« »Oh, ich will, daß Sie Ihre Freunde bringen!« strahlte der Fremde. »Und Ihre Freunde sollen Freunde bringen, so viele wie möglich sollen die Erfrischung haben! Aber – Doktor Lukas, dies ist eine ernste Sache; Sie müssen ihnen, nachdem ich gegangen bin, einschärfen: Das Tor ist nur für gute Menschen da. Sehen Sie, es gibt eine Abtastvorrichtung, ich habe keine Ahnung, wie sie funktioniert. Sie ist für, nun, Gefühle empfänglich. Wenn eine Person, die Haß oder Grausamkeit oder Habgier ausstrahlt, versucht, es zu benutzen, wird sie null und nichtig. Ffft!« Er gestikulierte. »Schlüssel, Person, alles weg. Jetzt wissen Sie, warum ich Sie so sorgsam getestet habe.« »Das Nadelöhr«, schwärmte Lukas. »Gott im Himmel. Das ist das Nadelöhr.« Er schaute den Fremden scharf an. »O nein, nein!« sagte der Fremde und bewegte sich ein Stück zurück. »Ein ganz gewöhnliches Lebewesen, ich versichere es Ihnen. Eine bloße technische Annehmlichkeit.« »Ich verstehe –« Lukas rieb geistesabwesend seinen
Arm. »Nun, sicherlich, wenn ich durchginge, brauchte Elvira keine Angst zu haben. Aber wie kommt es, daß ein solcher Planet leer ist? Er schien ein Paradies zu sein.« »Keine Frempf«, erklärte ihm der Fremde. »Allzu viele sind so. Ihrer hier ist schon beinahe eine Ausnahme. Die Art der Magnetfelder«, erläuterte er, als Marion und Cleever zurück ins Zimmer pufften. Sie kamen beide gleichzeitig sprechend heraus. »Hat es Ihnen gefallen?« fragte der Fremde eifrig. Marion sagte nur immerzu: »O, o, o.« Cleever nahm einen tiefen Atemzug. »Yeah. Wann erscheinen die Städteplaner?« »Es ergibt sich zufälligerweise, daß sie nicht erscheinen!« Lukas erklärte ihnen, was der Fremde gesagt hatte, als Marty und Whelan in einer Ecke aufpufften. »Mensch«, sagte Whelan. »Habt ihr die Berge gesehen? Hatte fast keine Lust zurückzukommen.« »Und der große See!« rief Marty. »Ist das das Meer? He, Cleever, ich wette, daß Buffalo dort ist!« »Chippewas stehen nicht auf Buffalo«, erklärte ihm Cleever. Er schien ungewöhnlich beschwingt. »Und die Blumen, die Sonne«, seufzte Marion. »Ich wette, man könnte Zeug auf der Wiese wachsen lassen, einfach indem man Samen auswirft.« »Moment«, sagte Whelan. »Woher wissen wir, daß der Boden nicht für uns giftig ist? Oder das Wasser. Wie steht es damit?« »Vollkommen verträglich«, versicherte ihm der Fremde. »Natürlich haben wir nur hier und da Proben entnommen, aber Sie und ich sind einander sehr ähnlich. Haben viel gemeinsam. Ich habe ein paar
Früchte gegessen. Köstlich!« »Sie waren dort?« »Als wir die Pavillons bauten. Und jetzt bitte – Hat es Ihnen gefallen? Wird es für Erfrischung sorgen? Glauben Sie, es wird helfen?« »O ja! Ja! Ja!« Sie alle lachten, selbst Cleever. Marion umarmte den kleinen Fremden. »Sie haben etwas so Wundervolles für uns getan, wie können wir Ihnen jemals danken?« Der Fremde glühte, strahlte, zerrte an seinem Schnurrbart. »Oh, keine Ursache. Das meiste war Schaum. Sie werden das Dach befestigen müssen. Du liebe Güte«, er schaute auf Whelan. »Die Zeit! Können Sie mich zu meinem Schiff zurückbringen?« »Das muß ich sehen!« Doktor Lukas hob überraschend seine Stimme. »Miss Timmons! Elvira! Streichen Sie alle Termine für heute – und warten Sie!« Sie schwärmten alle hinaus, ihre Schlüssel fest umklammernd, und drängten sich zwischen Whelans Geräte und Stoßstangenpuffer. Als sie wieder die 101 hinaufgondelten, sagte der Fremde: »Jetzt darf ich nichts vergessen.« Und er erläuterte, was er Lukas über das Mitbringen von Freunden gesagt hatte und daß dabei achtzugeben sei. »Stellt euch vor!« sagte Marion. »Ein ganzer Planet mit guten Menschen.« »Bloß nicht zu verdammt viele«, sagte Whelan. »Kann ich meinen Waschbären mitbringen?« fragte Marty. »Dahin geht das ökologische Gleichgewicht«, stöhnte Whelan. Aber er grinste weiter. »Waschbären sind gute Burschen!« »Bevor wir die ethischen Qualitäten von Waschbä-
ren erörtern, sollten wir sehen, ob es noch etwas gibt, was er uns sagen sollte«, sagte Cleever. »Hätte ich beinahe vergessen«, sagte der Fremde. »Bei den Waschräumen ist ein Schlüsselspender. Ich denke, Sie sollten stets zwei mit sich führen, nicht wahr? Falls Sie einen verlieren.« »Was passiert, wenn der falsche Bursche einen Schlüssel findet?« »Oh, es ist höchst unwahrscheinlich, daß jemand den Kode durch Zufall herausfindet. Aber wenn er es täte, wäre es das Ende, fürchte ich.« »He«, sagte Marion. »Geben wir dem Sheriff einen.« Der Fremde schaute sie an. Sie fing seinen Blick auf, und ihr Kopf begann, sich vor und zurück zu bewegen. »Nein – es war bloß ein Gedanke.« »Achten Sie auf solche Gedanken«, sagte Cleever. »Ich würde es nicht besudeln!« sagte sie entrüstet. »Oh, ich kann warten. Ich werde Mrs. Kovacs ein paar von diesen Früchten mitbringen.« Der Fremde seufzte glücklich. »Ich freue mich so. Wenn nur der nächste Schritt genauso gutgeht.« »Wo? Wer?« fragten sie. »Wir dachten, eine Gruppe auf jeder größeren Landmasse, wissen Sie. Gerade noch Zeit. Ich gehe dorthin – Brasilien, nicht wahr? Und noch eine Stelle. Ich habe sie verschlüsselt.« »Das erklärt den afrikanischen Webkamm«, murmelte Cleever. »Sie werden nicht einsam sein, Doktor.« »Aber gute Menschen«, erinnerte ihn Marion. »Ich meinte eine Bewegung zu sehen, gerade als
wir fortgingen«, sagte Whelan. »Weit drüben auf der andern Seite.« »Tatsächlich! Oh, wie wundervoll, das bedeutet, einer meiner Freunde hat eine passende Gruppe gefunden. Welch gute Nachricht. Wir haben uns darüber Sorgen gemacht, wissen Sie.« Er lächelte tapfer. »Wir sind ziemlich verwundbar. Sie machen einem ein bißchen Angst, wissen Sie.« Marion umarmte ihn ein weiteres Mal, und sie verfielen abwechselnd in aufgeregtes Geschnatter, dann schwiegen sie und hingen aufregenden Gedanken nach, während Whelan sie zurück zur Autostraße fuhr und die Abkürzung zur Farm von Martys Vater entlangfegte. »Wir werden uns noch selbst ohrfeigen, daß wir Sie nicht eine Million Dinge gefragt haben«, sagte Cleever, als sie über den letzten Hügel brausten. »O Jesus. Auf dem Hof.« Sie spähten hinaus, als die Brumbacher-Farm vorbeizog. Neben dem Schweinestall stand der Streifenwagen des Sheriffs. »Weiter!« schrie Marty gellend. »Am Bach sind wir außer Sicht.« »Er wird in zwei Erdstößen hinter uns herstürzen.« Whelan fuhr weiter, dabei beobachtete er den Spiegel. »Da! Er rennt aus der Scheune.« »Schnell!« Der Fremde zappelte herum und zog Elektronenröhren aus seinem Anzug. »Wenn Sie mich nur da absetzen, wo wir herkamen. Ich kann meinen Unsichtbarkeitsinduzierer benutzen.« Er zog ein paar Gitter heraus. »Hoffe ich.« »Können Sie ein Ungeheuer machen?« fragte Mar-
ty, als sie den Hügel hinunterschossen. Der Fremde stellte krampfhaft Verbindungen her. »Ich bin so müde. Das hier ist viel einfacher – wenn es funktioniert.« Hinter sich hörten sie das Auto des Sheriffs. Wrruumm. »Wir werden Ihr Raumschiff nicht sehen«, sagte Lukas enttäuscht. »Wir werden Sie nicht wiedersehen!« schrie Marion. »Oh, Joe, Lieber! Bitte, kommen Sie zurück!« Der Fremde schob gerade einen Teil seiner Apparatur in den Mund. Er rollte flehend mit den Augen und versuchte zu nicken. Whelan machte eine Vollbremsung. Sie waren am Gatter beim Bach. Das Wrruumm wurde lauter. »Er kommt. Beeilung, Joe!« Der Fremde krabbelte heraus. Sein Unsichtbarkeitsding entfaltete sich um seine Schultern herum wie eine erschöpfte Tuba. Er richtete sich auf und begann verschiedene Knöpfe zu bearbeiten. Nichts geschah. »Beeilung, Joe! Beeilung!« Die Augen des Fremden traten aus den Höhlen, er fingerte herum, schlug fieberhaft um sich und versuchte das Gatter halb aufzustoßen. Eine Sirene heulte auf der Kuppe des Hügels. »Schaut, er schimmert! Er verschwindet!« »Oh, auf Wiedersehn, auf Wiedersehn! Lieber Joe, danke!« Der Wagen des Sheriffs raste heulend den Hügel hinunter. »Viel Glück, Joe! Oh, danke!« »He – sein Fuß!«
Der Fremde hatte sich bis auf einen Fuß in einen hitzeflimmernden Fleck in der Luft aufgelöst. Der Fuß ging in eine rötliche verschwommene Stelle über. Er stampfte einige Male auf, und sie hörten eine schwache, offenbar fluchende Stimme. Gerade als der Streifenwagen neben ihnen heranbrummte, wandte sich der Fuß um und begann durch das Gatter zu hüpfen. »Marty, du steigst besser aus«, sagte Whelan durch die Zähne. »Wir bringen ihn bloß nach Hause!« rief er dem Sheriff zu. Alle bemühten sich, nicht auf den einsamen Fuß zu schauen, der den Weidenpfad entlanghüpfte. »Bis später«, sagten sie zu Marty, als dieser hinauskletterte und zum Haus lief. Das Gesicht des Sheriffs beugte sich zum Fenster herab. »Ihr – der Kerl mit den Feuerwerkskörpern. Okay, raus.« »Ich bin Professor Lukas von der Universität, Abteilung für Humanwissenschaften«, sagte Lukas steif. »Mr. Whelan unterstützt mich bei einer wissenschaftlichen Forschungsangelegenheit.« »Professor, wie?« Des Sheriffs blauer Blick fuhr stechend umher. Dann, zur allgemeinen Überraschung, richtete er sich auf und schlug auf das Dach. »In Ordnung, weiterfahren. Fahren Sie weiter, Sie blockieren die Straße.« »Er wird schon in Matts Wirtshaus erwartet«, erklärte Whelan, als sie flott weiterfuhren. »O Mann. Wißt ihr, was ich mache? Sobald wir den Professor nach Hause gebracht haben, besorge ich mir ein paar Lebensmittel und bringe Helen zur alten Holzfäller-
straße. Keiner wird das Auto finden. Wir machen uns ein Wochenende im Himmel.« »Sie werden nicht allein sein«, lachten sie. »Ich hoffe bei Christus, daß diese Schlüssel besser funktionieren als sein Unsichtbarkeitsding«, sagte Cleever. »Wir werden nach Marty Ausschau halten müssen.« Marion schniefte ein wenig. »Oh, ich frage mich, wird er jemals zurückkommen? Er war eine so süße Person.« »Mir ist gerade eingefallen«, bemerkte Cleever nachdenklich. »Er hat das Ding niemals selbst benutzt.« »Oh, Cleever!« Auf der Weide summte der Fremde fröhlich, während er die Module seines kleinen Schiffes vor sich ausbreitete. Er dachte daran zurückzukommen. Sooft er konnte, stand er auf und zitterte, ließ die Frempf ihr Werk vollbringen. Als er alles versammelt hatte, stellte er seine Kommunikatorkreise ein, dabei behielt er ein neugierig gewordenes Ayshire-Rind im Auge. Eine aufgeregte Stimme antwortete ihm. »Du kannst dir nicht vorstellen, wo ich hineingeraten bin«, schnatterte die Stimme in seiner eigenen Sprache. »Eine ganze Stadt voller gewichtiger Abrüstungstypen. Der Ort heißt Genf. Einer von ihnen plant bereits, seine Familie herauszubringen. Wie ging es bei dir? He, ist die Frempf bei dir auch so gut?« »Phantastisch«, sagte der als Joe bekannte Außerirdische. »Meine Gruppe lief wunderbar, nette Leute.
Ich glaube bestimmt, daß sie und ihre Freunde sich entschließen werden, den Planeten nach sehr wenigen Besuchen auf Dauer zu verlassen.« »Meine auch.« Die Stimme gluckste. »Und wie wir immer sagen, wenn all die guten Leute gehen, Planet ade. Wie kommt Shushli voran? Wenn er genauso viel Glück hat, ist der Planet in kürzester Zeit reif.« »Hier Shushli«, sagte eine neue Stimme. »Bei mir geht's großartig, mir gehen doch tatsächlich die Schlüssel aus. Ein Ort, der Sibirien heißt. Rührend, nicht? Absolut reif. Ich sage euch, in ein paar ihrer lächerlich kurzen Generationen wird auf diesem Planeten kein normaler Mensch mehr übrig sein.« »Jawohl«, sagte Joe glücklich. »Ich hoffe nur, die Ekel versauen den Platz nicht zu arg, bevor sie sich selbst auslöschen. Schsch! – Nicht ihr, eine Kuh. Ein Tier.« Joe stand auf und ließ einen letzten Schauer über sich ergehen. »Hört zu, Jungs, wir fangen besser damit an, über unsere Werbebroschüren nachzudenken. Und vergewissert euch, daß ihr ein offizielles Siegel an eure Aufnahmegeräte heftet, ja? Ihr wißt doch – keiner kauft uns sonst die Frempf ab.«
Originaltitel: ANGEL FIX. Aus IF 8/74
Larry Niven SPIELZEUG Die Kinder spielten Sechspunkte-Overlord, wobei sie von Punkt zu Punkt über ein in den Sand gestricheltes, hexagonales Diagramm hüpften, als die Sonde die Atmosphäre über ihren Köpfen durchstieß. Sie hätten sie in diesem Moment wahrnehmen können, weil sie sich beim Eintritt in die Atmosphäre rasch erhitzte. Aber zufällig schaute niemand auf. Sekunden später feuerten die Bremsraketen. Der eisenhaltige Sand wurde in sanftes Infrarotlicht getaucht. Auf über Hunderten von Quadratmeilen der orangefarbenen Marswüste entrollten weiträumig verteilte Flächen schwarzen Grases die Blätter, um die Wärme einzufangen und zu speichern. Unter dem Sand vergrabene winzige stiellose Dinger fuhren fächerartige Sonden aus. Die Kinder hatten noch nichts bemerkt, aber ihre Ohren regten sich bereits. Sie waren eher für Hitze als für Geräusche empfindlich. Falls sie nicht gerade einer Wärmequelle lauschten, blieben sie gewöhnlich wie silberne Blumen gegen die Köpfe der Kinder gefaltet. Nun entkräuselten sie sich, erblühten wie Blumen, und ein schwarzer Mittelpunkt wurde sichtbar. Nun zuckten sie und flatterten auf und ab, auf der Suche. Eines fand, was es suchte. Einen weißen Lichtpunkt weit oben im Osten, der langsam niederging. Die Kinder verständigten sich mittels modulierter Wärmeimpulse. Dabei öffneten und schlossen sie die
Münder, um das warme Innere zu zeigen. Heh! Was ist das? Geh'n wir nachsehen! Sie hüpften über den eisenhaltigen Sand davon, vergaßen ihr Spiel und rannten auf das herabfallende Ding zu. Es war bereits gelandet, als sie ankamen, und war noch lautstark heiß. Die Sonde war riesig, so groß wie ein Wohnhaus. Ein dicker Zylinder mit einem abgerundeten Oberteil und einem gewaltigen heißen Mund unten. Ein schwarzweißer Anstrich im Schachbrettmuster gab ihm das Aussehen eines gigantischen Spielzeugs. Es ruhte auf drei merkwürdig gespreizten Metallbeinen, die in flachen, kreisrunden Füßen ausliefen. Die Kinder begannen ihre Körper an der metallenen Haut zu reiben, und während sie die Hitze in sich aufsogen, sendeten sie Impulse der Zufriedenheit aus. Die Sonde erzitterte von einer Bewegung im Innern. Die Kinder sprangen zurück, blieben stehen und schauten einander an, bereit davonzurennen, falls die anderen es taten. Keines wollte der erste sein. Plötzlich war es zu spät. Ein Segment der gekrümmten Wand der Sonde fiel nach außen und schlug dumpf im Sand auf. Ein Kind kroch darunter hervor, rieb sich den Kopf und ließ Hitze aus seinem Mund aufblitzen: böse Worte, die es eigentlich noch nicht kennen sollte. Die Wunde an seinem Schädel dampfte kurz, bevor sich ihre Ränder schlossen.
Die kleine, intensiv weiße Sonne, noch halbhoch am Himmel, warf undurchlässige schwarze Schatten quer über die Öffnung in der Sonde. Im Schatten regte sich etwas. Die Kinder beobachteten, von Scheu ergriffen. ABEL hielt in der Öffnung kurz inne, rollte dann heraus, wobei er die herausgeklappte Wandöffnung als Rampe benutzte. ABEL war ein Wirrwarr aus Metall und Kunststoff auf einer niedrigen Plattform. Die Plattform selbst war zwischen sechs Ballonreifen aufgehängt. Als ABEL den Sand berührte, zögerte er, als wüßte er nicht, wohin er sich wenden sollte. Dann rollte er ruckweise auf den Mars hinaus, sich seinen Weg ertastend. Das Kind, dem die Rampe auf den Kopf gefallen war, sprang vor, um das Ding mit den Füßen zu treten. ABEL hielt sofort an. Das Kind wich zurück. Plötzlich war ein Erwachsener unter ihnen. WAS MACHT IHR HIER? Nichts, sagte ein Kind. Wir spielen bloß, sagte ein anderes. GUT, ABER SEID VORSICHTIG. Der Erwachsene hätte der Zwilling eines jeden der sechs Kinder sein können. Der Gaumen seines Mundes war wärmer als der ihre. Aber die Autorität in seiner Stimme war etwas anderem zuzuschreiben als bloßer Lautstärke. ES MAG JEMANDEM GROSSE MÜHE BEREITET HABEN, DIESEN GEGENSTAND ZU BAUEN. Jawohl, Sir. Etwas gedämpft scharten sich die Kinder um das Automatische Biologische Laboratorium ABEL. Sie beobachteten, wie sich an der Seite eines tromme-
lähnlichen Behälters, der die Hälfte von ABELs Konstruktion ausmachte, eine Klappe öffnete. Eine Kanone im Innern feuerte eine dünne Schnur hoch in die Luft. Das Ding hätte mich fast getroffen. Geschieht dir recht. Das Ende der Schnur kam schlitternd zurück, eingehüllt in Sand und Staub. Bevor es in ABELs Seite verschwand, leckte eines der Kinder daran und stellte fest, daß es mit etwas Klebrigem und Geschmacklosem bedeckt war. Zwei Kinder kletterten auf die sich langsam bewegende Plattform, dann auf den Zylinder. Sie stellten sich aufrecht und wedelten mit den Armen, wobei sie unsicher auf ihren flachen dreieckigen Füßen balancierten. ABEL wandte sich plötzlich ruckartig seitwärts in Richtung auf eine Fläche schwarzen Grases, und beide Kinder purzelten hinab in den Sand. Eines stand auf und machte Anstalten wieder hinaufzuklettern. Der Erwachsene beobachtete das Geschehen unschlüssig. Ein zweiter Erwachsener tauchte an seiner Seite auf. DU HAST DICH VERSPÄTET. WIR HATTEN EINE VERABREDUNG BEI XAT BNORNEN CHIP. HATTEST DU DAS VERGESSEN? ICH HATTE ES. DIE KINDER HABEN ETWAS ENTDECKT. IN DER TAT. WAS TUT ES? ES HAT BODENPROBEN ENTNOMMEN UND MÖGLICHERWEISE VERSUCHT, SPOREN EINZUSAMMELN. JETZT INTERESSIERT ES SICH FÜR
DAS GRAS. ICH FRAGE MICH, WIE ENTWICKELT SEINE INSTRUMENTE SIND. WENN ES EMPFINDUNGSFÄHIG WÄRE, WÜRDE ES INTERESSE FÜR DIE KINDER ZEIGEN. VIELLEICHT. ABEL stoppte. Ein Kasten wurde von einem Teleskopbein in die Höhe gehoben und begann Filmaufnahmen von der Landschaft zu machen. Von der niedrigen, düsteren Linie des Mare-AcidaliumHochlandes am Nordosthorizont schwang die Kamera herum, bis das Objektiv geradewegs auf die verlassene, orangefarbene Tracus-Albus-Wüste zeigte. In dieser Stellung standen sich Objektiv und das auf der Plattform mitfahrende Kind Linse in Auge gegenüber. Das Kind flatterte mit den Ohren, schnitt Grimassen, rief unsinnige Worte und schnellte dem Objektiv die lange Zunge entgegen. DAS SOLLTE IHNEN EINIGES ZU DENKEN GEBEN. WER, MEINST DU, HAT DEN APPARAT GESCHICKT? DIE ERDE, WÜRDE ICH SAGEN. BEACHTE DIE QUARZGLASSCHEIBE IM KAMERAGEHÄUSE. SIE IST FÜR LICHTFREQUENZEN DURCHLÄSSIG, DIE GEEIGNET SEIN SOLLTEN, DIE DICHTE ATMOSPHÄRE DIESES PLANETEN ZU DURCHDRINGEN. DAS KÖNNTE ZUTREFFEN. Wieder feuerte die Kanone. Das schwarze Gras war diesmal ihr Ziel. Gleich darauf begann sie, die abgeschossene Leine wieder einzuholen. Ein weiterer Kasten schob einen gekrümmten Deckel zurück. Das Kind auf der Plattform spähte hinein, während die
anderen Kinder von unten bewundernd zuschauten. Einer der Erwachsenen rief: ZURÜCK, DU DUMMKOPF! Das Kind wandte sich um, um frech mit den Ohren zu flattern. In diesem Moment schoß ABEL einen dicht gebündelten, rubinroten Laserstrahl ab, am Ohr des Kindes vorbei. Einen Augenblick lang war er als langgezogener Strich gegen den marineblauen Himmel zu sehen. Das Kind krabbelte hastig von der Plattform herunter und rannte um sein Leben. DIE ERDE LIEGT NICHT IN DIESER RICHTUNG, stellte einer der Erwachsenen fest. TROTZDEM MUSS DER STRAHL EINE BOTSCHAFT GEWESEN SEIN. VIELLEICHT AN EIN SCHIFF IN EINER UMLAUFBAHN? Die Erwachsenen schauten zum Himmel auf. Sofort stellten sich ihre Augen auf die Veränderung ein. AUF DEM INNEREN MOND. KANNST DU ES SEHEN? JA. ZIEMLICH GROSS ... UND WAS SIND DAS FÜR WINZIGE BEWEGLICHE PÜNKTCHEN DARUM HERUM? DAS IST KEINE AUTOMATISCHE RAUMSONDE, SONDERN EIN BEMANNTES SCHIFF. ICH DENKE, WIR MÜSSEN BALD MIT BESUCHERN RECHNEN. WIR HÄTTEN SIE SCHON VOR LANGEM VON UNSERER ANWESENHEIT UNTERRICHTEN SOLLEN. MIT EINEM GROSSEN RADIO-LASER HÄTTE MAN ES SCHAFFEN KÖNNEN. WARUM SOLLTEN WIR DIE ARBEIT MACHEN, WÄHREND SIE DIE METALLE, DAS SONNENLICHT UND DIE RESSOURCEN HABEN?
Nachdem ABEL mit dem Gras fertig war, setzte er sich schwankend in Bewegung und rollte auf die dunkle Linie eines erodierten Ringwalles zu. Die Kinder schwärmten hinterdrein. Das Labor feuerte einen weiteren klebrigen Strang ab, ließ ihn herabfallen und fing an, ihn zurückzuspulen. Ein Kind packte ihn und zog. Labor und Marsianer wurden in ein Tauziehen verwickelt, das endete, als die Leine riß. Ein anderes Kind steckte einen langen dünnen Finger in die Öffnung. Als es ihn zurückzog, war er mit etwas Nassem bedeckt. Bevor es verdampfen konnte, steckte das Kind den Finger in den Mund. Es sandte eine Welle des Vergnügens aus und steckte die Zunge in das Loch, hinein in den Nährboden, der dazu bestimmt war, marsianische Mikroorganismen aufzunehmen. HÖRT AUF! DAS GEHÖRT EUCH NICHT! Die Stimme des Erwachsenen wurde ignoriert. Das Kind ließ die Zunge in der Nährlösung stecken. Es rannte neben dem Labor her, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Die anderen Kinder fanden plötzlich heraus, daß Sie ABEL lenken konnten. Jedesmal wenn sie sich vor ihn hinstellten, pflegte er seinen Kurs zu ändern, um das vermeintliche Hindernis zu umgehen. VIELLEICHT WERDEN SICH DIE FREMDEN MIT DEN INFORMATIONEN, DIE DIE SONDE GESAMMELT HAT, ZUFRIEDENGEBEN UND HEIMKEHREN. UNSINN. DIE KAMERAS HABEN DIE KINDER AUFGENOMMEN! JETZT WISSEN SIE, DASS WIR EXISTIEREN. WÜRDEN SIE IHR LEBEN BEI EINER LANDUNG RISKIEREN, BLOSS WEIL SIE DITHTA GESEHEN
HABEN? DITHTA IST EIN HÄSSLICHES KIND, SELBST IN MEINEN AUGEN, UND ICH BIN VIELLEICHT SEIN VATER. SCHAU, WAS SIE JETZT TUN. Indem sie rechts und links neben dem Labor herliefen und Hindernisse bildeten, dirigierten die Kinder ABEL auf eine steil abfallende Klippe zu. Eines ritt noch immer auf ABEL und tat so, als würde es ihn lenken, indem es gegen seine metallenen Seiten trat. WIR MÜSSEN SIE AUFHALTEN. SIE WERDEN ES KAPUTT MACHEN. JA ... ERWARTEST DU WIRKLICH, DASS DIE FREMDEN EIN BEMANNTES SCHIFF SCHICKEN WERDEN? DAS IST OFFENSICHTLICH DER NÄCHSTE SCHRITT. HOFFEN WIR, DASS DIE KINDER ES NICHT IN DIE HÄNDE BEKOMMEN.
Originaltitel: Plaything. Aus IF 8/74
Fritz Leiber GESPENSTERSCHACH Schachweltmeister zu sein (gekrönter oder ungekrönter) ist ein aufreibenderer Streß als Präsident der Vereinigten Staaten zu sein. Wir haben ein hervorragendes Beispiel, das gerade entthront wurde. Mehr als zehn Jahre lang war der gegenwärtige Weltmeister unbestritten der größte Schachspieler der Welt, aber während dieser Zeit stellte er ein so halsstarriges und selbstzerstörerisches Verhalten zur Schau – er weigerte sich, kreuzförmige Turnierräume zu betreten, verließ sie mit wunderlichen Begründungen, während er klar in Führung lag, litt an etwas, das viele paranoide Wahnvorstellungen nannten, glaubte, daß die ganze Welt sich gegen ihn verschworen hätte, um ihn am Erreichen der Spitze zu hindern –, daß viele eingeweihte Experten ihn als Bewerber für die höchsten Ehrungen abschrieben. Selbst seine treuesten Anhänger litten quälende Zweifel, bis er schließlich seine Gegner zum Schweigen brachte und seine Freunde aufs höchste zufriedenstellte, indem er vehement die letzte entscheidende Partie auf einer polaren Insel gewann. Selbst geringere Spieler, die vom Fieber der Schachweltmeisterschaft gepackt werden, erleben einen Hauch dieser Bürde, bisweilen in einer sehr seltsamen und sogar unheimlichen Art und Weise. Stirf Ritter-Rebil huldigte einer seiner zahlreichen schöpferischen Betätigungen – er spazierte aufs Ge-
radewohl durch sein innig geliebtes Geschäftsviertel von San Francisco mit den manchmal schwindelerregend schrägen Gehsteigen, den ausweichenden schmalen Hintergäßchen und Gängen und dem Kaleidoskop der stets wechselnden Laden- und Restaurantfronten, unter denen solche waren, die hartnäckig als Orientierungspunkte ausharrten. Um seinen Blick zu zerstreuen, gab es mandelbraune und schwarze Gesichter unter den blasseren. Es gab die gefährliche Woge des Verkehrs, die drohte, über die Gehsteige zu fluten. Der Himmel war ein unbekümmertes silbriges Grau, wie der teure Nerzmantel einer Hure, der bizarre Gewänder oder Nacktheit verbarg. Es gab sogar, der Buchtlage verdankt, vereinzelte Dunstfetzen. Es gab Bankiers und Hippies, Betrüger und Behördenangestellte, Blüten in aller Vielfalt, Bettler und anständige Kerle, Mörder und Heilige (zumindest in Ritters blühender Phantasie). Und gewiß gab es da verlockende Mädchen im Überfluß in einer erstaunlichen Vielzahl von Verpackungen – und hübsche Mädchen sind das essentielle Gewürz in einem wirklich schmackhaften Ragout von Leuten. Tatsächlich hätten auch Marsianer und Zeitreisende darunter gewesen sein können. Ritters Bummel hatte einen noch träumerischen, schrulligeren und unvorhersehbaren Zug angenommen als gewöhnlich – mit der unermüdlichen Vorahnung von Geheimnis, Überraschung und erotischem oder diamantverziertem Abenteuer gleich um die nächste Ecke. Er pflegte von sich selbst als Ritter, seinem Mittelnamen, zu denken, denn er war ein sporadisch hitzi-
ger Schachspieler, nun in der Mitte seines Alters. Im Deutschen bedeutet Ritter soviel wie knight im Englischen. Trotzdem nennen die Deutschen einen knight nicht Ritter, sondern Springer (wegen seiner hüpfenden Um-die-Ecke-Bewegung), ein Anlaß für unerschöpfliche philologische, historische und soziokulturelle Spekulationen. Ritter hatte sich desgleichen dem intensiven Studium der Schachgeschichte verschrieben, sowohl unter seinen ernsthaften als auch anekdotenhaften Gesichtspunkten. Er war ein hochgewachsener, weißhaariger Mann, eher hager; der Ausdruck des Alters wurde durch zerfurchte Stattlichkeit gemildert, eine insgesamt jugendliche, wenn auch abgeklärte und sympathische zynische Neugier lag in seinem Blick (wenn er nicht gerade mit offenen Augen träumte), und er besaß eine entschiedene, wenn auch bescheidene theatralische Haltung. Er war auf diesem speziellen Bummel mehr in seinen Tagtraum verloren als gewöhnlich, trotzdem war er sich lebhaft des Treibens, der verrückten, wundervollen und grotesken Neuheiten bewußt. Später erinnerte er sich, daß er dem Portsmouth Square ziemlich nahe gekommen und nicht allzu weit von der California-Montgomery-Kreuzung entfernt gewesen sein mußte. Jedenfalls schaute er fasziniert in das Schaufenster eines Antiquitätenladens, den schon einmal vorher gesehen zu haben er sich nicht entsinnen konnte. Es mußte ein neues Geschäft sein, denn er kannte alle Läden in der Gegend. Trotzdem hatte es den Staub und die Schäbigkeit eines alten Geschäfts – sein Besitzer mußte eingezogen sein, ohne die Räumlichkeiten zu verändern oder ohne sie überhaupt zu
säubern. Er bemerkte mit einem ersten forschenden Blick und mit wachsen dem Entzücken einen Säbel aus dem Bürgerkrieg, eine StandardWerbereproduktion des Sternenschiffes Enterprise, ein brandneues Tarockspiel, einen authentischen Schrumpfkopf, der wie eine schwarze Kugel Abfall aus der Nase eines Riesen aussah, mehrere phantasievolle Rotaugenspangen, einen silbernen Sahnegießer, einen Sony-Kassettenrekorder, einen Whiskykrug des letzten Jahres in der Form einer Gondel, eine Ansammlung Knöpfe von Gene McCarthy und Nixon, einen einzelnen Messingscheinwerfer ›King of the Road‹ von einem Rolls-Royce, eine elektrische Zahnbürste, ein Radio von 1920, eine Ausgabe des Phoenix vom letzten Monat und drei spottbillige Kunststoffschachspiele. Und dann plötzlich wurden all diese Dinge aus seinem Bewußtsein ausgelöscht. Unbemerkt blieben die fernen Nebelhörner, das klagende Schleichen des langsamen Verkehrsflusses, die Gesprächsfetzen menschlicher Stimmen, die sich hinter ihm zu dem Mosaik-Singsang von Chinatown zusammensetzten, die Spiegelung eines Mädchens im Omakostüm in der Schaufensterscheibe, das Blumen verkaufte, und das Aufspannen von Regenschirmen, als Regentropfen aus dem Dunst herabzusprühen begannen. Denn jedes Atom von Ritters Bewußtsein war brennend auf eine kleine Gestalt konzentriert, die Anonymität zwischen den wahllos hingesetzten Schachfiguren des einen Kunststoffspiels suchte. Es war ein gedrungener angelaufener Schachbauer in der Form eines barbarischen Kriegers. Ritter wußte, daß es ein Bauer
war – und was wichtiger war, er wußte, zu welchem sagenhaft historischen Spiel er gehörte, denn er hatte einen seiner Brüder auf einem seltenen Polizeifoto gesehen. Er wußte, er stand ohne jede Warnung vor einem einzigartigen Ereignis in seinem Leben. Klopfenden Herzens, aber das Gesicht hinter einer verbindlichen Maske verborgen, schlenderte er in das Ladeninnere. In Situationen wie dieser war es überaus wichtig, den Verkäufer nicht merken zu lassen, daß man an etwas interessiert war oder daß man überhaupt Interesse hatte. Das dämmrige Innere des Geschäfts entsprach dem Schaufenster. Da war dieselbe reizvolle Unordnung von verstaubten Denkwürdigkeiten, unter ihnen eine Reihe von Glasvitrinen, die vermutlich Liebhaberstücke beherbergten. Hinter einer von ihnen stand ein hagerer, jedoch kräftiger älterer Mann, den Ritter für den Besitzer hielt, aber nicht zu bemerken vorgab. Er war so auf den angelaufenen Silberbauern konzentriert, daß er eine betäubende Überraschung erlebte, als sein automatisch umherschweifender Blick an einem zweiten und sogar noch wundervolleren einmaligen Gegenstand haften blieb. Er befand sich in der Glasvitrine, hinter der der Besitzer stand. Es war eine schäbige goldene Taschenuhr altmodischer Machart, deren Zifferblatt nicht mit römischen Ziffern beschriftet war, wie es eigentlich hätte der Fall sein sollen bei einem so ehrwürdigen Stück, sondern die Form mattgoldener und silberner Schachfelder besaß. Ein dünner achteckiger Goldschlüssel war mit einem Bindfaden an der Uhr befestigt. Ritter erstarrte geradezu vor Erregung. Hier war der große Bruder des feigen barbarischen Bauern.
Hier war, ihr wahrer Wert ihrem Besitzer aller Wahrscheinlichkeit nach unbekannt, eine der außerordentlichsten Raritäten aus der Welt der SchachDenkwürdigkeiten. Hier war nichts Geringeres als jene goldene Uhr, die Paul Morphy, meteorhaft kurz regierender König des amerikanischen Schach, am 25. Mai 1859 nach dem Triumphzug von London und Paris, der ihn als das vielleicht größte Schachgenie aller Zeiten erwiesen hatte, in New York City von einer bewundernden Öffentlichkeit verehrt worden war. Ritter wandte sich wie durch Zufall in Richtung der Vitrine, den Blick fest auf ein mattsilbernes Henkelkreuz gerichtet. Er hielt inne wie ein Schlafwandler vor dem Besitzer des Ladens und nach einer, wie ihm schien, angemessenen Pause – in der Hoffnung, daß das Pochen seines Herzens nicht zu hören war – stellte er einige belanglose Fragen über das Henkelkreuz. Der Besitzer antwortete beiläufig, nahm jedoch jedes Stück heraus, damit er es genauer betrachten konnte. Ritter grübelte eine Weile über dem silbernen Liebeskreuz, schüttelte dann den Kopf, erkundigte sich über einen weiteren Gegenstand und noch einen und arbeitete sich heimlich auf die Morphy-Uhr zu. Der Besitzer beantwortete seine Fragen mit leiser, gelangweilter Stimme, obwohl er in jedem Fall den Gegenstand pflichtschuldig herausnahm und ihn Ritter zeigte. Er war ein sehr alter und vollständig kahler Mann, dessen zerfurchte Gesichtszüge einen Zug ins Baltische aufwiesen. Er erinnerte Ritter vage an jemanden. Schließlich erkundigte sich Ritter nach der alten silbernen Eisenbahnersuhr, die neben derjenigen lag,
die direkt anzuschauen Ritter sich noch immer weigerte. Dann wandte er sich einer weiteren alten Uhr zu, die auf der anderen Seite derjenigen stand, die sein Herz zum Hämmern brachte. Sie besaß ein kompliziertes Zifferblatt mit winzigen Fenstern, die den Monat und die Phasen des Mondes anzeigten. Sein Spiel funktionierte. Der Besitzer nahm schließlich die Morphy-Uhr heraus und sagte sanft. »Hier ist ein ungewöhnliches altes Stück, das Sie interessieren könnte. Das Gehäuse ist aus massivem Gold. Es könnte Ihr Interesse wecken, nicht wahr?« Ritter gönnte sich schließlich einen zweiten verschlingenden Blick. Er bestätigte den Eindruck des ersten. Jenseits aller Schatten eines Zweifels war dies das wirkliche Relikt, das seine Gedanken zwei Drittel eines Lebens lang verfolgt hatte. Was er sagte, war: »Es ist ungewöhnlich, das stimmt. Was sind das für lustige kleine Figuren, die es anstelle von Ziffern hat?« »Schachfiguren«, erklärte der andere. »Schauen Sie, das ist ein König bei sechs Uhr, ein Bauer bei fünf, ein Läufer bei vier, ein Springer bei drei, ein Turm bei zwei, eine Dame bei eins, ein anderer König bei Mitternacht und dann das Ganze wiederholt, von elf bis sieben, rund um das Zifferblatt.« »Warum Mitternacht statt Mittag?« fragte Ritter. Er wußte, warum. Der Besitzer deutete mit einem runzeligen Finger auf ein kleines Fenster über der Mitte des Zifferblattes. Darin standen die Buchstaben P.M. »Das ist eine weitere Besonderheit«, erklärte er. »Ich habe sehr wenige Uhren gesehen, die den Unterschied zwischen
Tag und Nacht machten.« »Oh, und ich nehme an, diese Vierecke, auf denen die Schachfiguren sind und die in zweieinhalb Kreisen rund um das Zifferblatt laufen, sollen eine Art Damebrett darstellen?« »Schachbrett«, korrigierte der andere, »Zufällig sind es genau vierundsechzig Vierecke, die genaue Zahl.« Ritter nickte. »Ich nehme an, Sie verlangen ein Vermögen dafür«, bemerkte er beiläufig. Der andere zuckte die Schultern. »Nur tausend Dollar.« Ritters Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte mehr als das Zehnfache auf dem Bankkonto. Eine Bagatelle, wenn man den Einsatz bedachte. Aber um den Schein zu wahren, feilschte er. Er argumentierte: »Aber die Uhr funktioniert doch nicht, nehme ich an.« »Aber sie hat noch ihre Zeiger«, konterte der Balte mit dem so bekannten Gesicht, das ihn nicht losließ. »Und sie hat noch ihr Uhrwerk, wie man am Gewicht feststellen kann. Es könnte repariert werden, denke ich. Ein französisches Werk. Sehen Sie, der achteckige Schlüssel zum Aufziehen ist auch noch vorhanden.« Sie einigten sich schließlich auf einen Preis von siebenhundert Dollar. Er zahlte die fünfzig Dollar, die er stets bei sich trug, und schrieb über den Rest einen Scheck aus. Nach einem Anruf bei seiner Bank wurde er akzeptiert. Die Uhr wurde in eine Schachtel mit Watte gepackt. Ritter steckte sie in die Jackentasche, die er zuknöpfte. Er fühlte sich benommen. Die Morphy-Uhr, die
Paul Morphy sein ganzes kurzes Leben lang behalten hatte, trotz seines wachsenden Hasses auf das Schachspiel, die Uhr, die er seinem französischen Bewunderer und bevorzugten Gegner Jules Arnous de Riviere vermacht hatte, die Uhr der Uhren – gehörte jetzt ihm! Er fühlte sich gleichermaßen schwerelos und schwindelig, als er auf die Straße zuging, die ein wenig verschwamm. Gerade als er aus dem Laden treten wollte, bemerkte er im Schaufenster etwas, das er vergessen hatte – er schrieb, ohne zu feilschen, einen Scheck über fünfzig Dollar aus für den silbernen barbarischen Krieger. Er war auf der Straße und fühlte sich wundervoll und sehr erschöpft. Gesichter und Regenschirme waren wie verschwommene Flecken. Regen prasselte unbemerkt auf sein Gesicht, aber plötzlich durchfuhr ihn wie ein Dolchstoß die Angst. Er verharrte und nahm sehr vorsichtig die linke Hand, um die schwere kleine Schachtel – und den Bauern in einem Papierknäuel – in seine Hosentasche zu überführen, wo er die Hand um sie geschlossen hielt. Danach fühlte er sich sicher. Er winkte einem Taxi und nannte die Adresse. Die vorbeiziehende Szenerie begann klarer zu werden. Er erkannte Riminis Restaurant wieder, wo sein eigenes Schachspiel jetzt gerade eine kleine Renaissance erlebte nach den fünf Jahren, in denen er auf Turnierschach verzichtet hatte, weil er wußte, daß er zu alt dafür war. Ein vom Schachfieber gepackter junger Koch hatte dort, vom Besitzer geduldet, ein Turnier organisiert. Die Teilnehmer waren überwie-
gend junge Leute. Ein hochgewachsenes, niedergeschlagen wirkendes Mädchen, das er insgeheim die Zarin nannte und das ein bemerkenswertes Spiel spielte, und ein liebenswürdiger lauthalsiger jüdischer Rechtsanwalt, den er Rasputin nannte, und der ein beinahe ebenso gutes Spiel spielte und beim Reden noch besser war, beide stachen hervor. Auf einen Impuls hin hatte Ritter an einem Turnier teilgenommen, weil es so läppisch zu sein schien, daß er nicht wirklich mit seinem Grundsatz brach, nur noch seriöses Schach zu spielen. Und seine alte Geschicklichkeit lebte zu seiner Zufriedenheit auf. Er erholte sich gut genug, um einen sicheren dritten Platz zu erlangen, gleich hinter Rasputin und der Zarin. Aber nun, da er die Morphy-Uhr besaß ... Warum zum Teufel sollte er glauben, daß der Besitz der Morphy-Uhr sein Schachspiel verbessern sollte? fragte er sich. Das war so albern wie auf die Fähigkeiten von Reliquien zu vertrauen. Die Uhr in seiner Hand in der linken Tasche vibrierte heftig, als enthielte sie ein großes lebendes Insekt, eine goldene Biene oder einen Käfer. Aber das war natürlich nur in seiner Einbildung. Stirf Ritter-Rebil (ein passender Name, wie er stets aufs neue fühlte, für einen Schachspieler, wenn es so ausgefallene gab, von Euwe zu Znoskow-Borowsky, von Noteboom zu Dus-Chotimirsky) lebte in einem Ein-Zimmer-Appartement mit Bad, fünf Querstraßen westlich vom Union Square, das vollgepackt war mit Aktenordnern, Büchern und auch, wo immer freie Wände es erlaubten, mit Bildern seiner toten Frau und Eltern und seines Sohnes. Jetzt, wo er älter war, liebte er es, Erinnerungen an sein früheres Leben im
Blickfeld zu haben. Er hatte eine großartige Aussicht auf den Pazifik und das Golden Gate mit ihren Nebeln im Westen, hinter einem Meer von Dächern. Auf den überladenen, jedoch ordentlichen Tischen standen zwei geschmackvolle Schachspiele mit aufgestellten Figuren. Ritter machte neben dem einen etwas Platz für die Schachtel und das Päckchen. Nach einer kurzen Pause – als ob er ein Dankesgebet spräche, sagte er sich ironisch – packte er die Morphy-Uhr behutsam aus und legte sie in die Mitte des freien Raums, den ausgewickelten Silberbauern stellte er dahinter. Dann wischte er seine Brille ab, setzte sie auf und untersuchte, von Zeit zu Zeit ein Vergrößerungsglas benutzend, beide Schätze eingehend. Der äußere Rand des Zifferblattes war von einem Ring oder Kranz aus 24 Quadraten, abwechselnd 12 hellen und 12 dunklen, umgeben. Auf den hellen Vierecken befanden sich die Schachfiguren, die die Stunden anzeigten. Sie waren in derselben Reihenfolge, die der alte Balte angegeben hatte. Die schwarzen Felder gingen von Mitternacht zu fünf Uhr und waren aus Silber, besetzt mit winzigen Smaragden oder glänzender Jade, wie das Vergrößerungsglas bestätigte. Die weißen Felder gingen von sechs bis elf Uhr und waren aus Gold, besetzt mit winzig kleinen Rubinen oder Amethysten. Er entsann sich, daß Beschreibungen der Uhr stets erwähnten, die Figuren seien farbig. Daran schloß sich ein zweiter Kreis von 24 hellen und dunklen Quadraten an, innerhalb dessen schließlich, unterhalb der Mitte, sich ein Zweidrittelkreis mit 16 Vierecken befand.
In dem verbleibenden Zwischenraum oberhalb der Mitte war ein kleines Fenster, das PM anzeigte, die Zeit zwischen Mittag und Mitternacht. Die Zeiger der Uhr waren auf 11 Uhr 57 stehengeblieben – drei Minuten vor Mitternacht. Mit einem Brieföffner öffnete er vorsichtig den aufklappbaren Deckel der Uhr, auf den die verschnörkelten Initialen PM eingraviert waren – die, wie ihm plötzlich auffiel, auch für Paul Morphy standen. Auf die Innenseite des Deckels waren die Worte ›France H&H‹ eingraviert – wieder hatte der alte Balte recht –, und ein halbes Dutzend Zahlenreihen – er nahm wieder die Lupe – waren sehr fein darin eingekratzt. Die Sieben hatte einen französischen Schnörkel. Markierungen eines Pfandleihers. Hatte Arnous de Riviere das Kleinod versetzt? Oder spätere europäische Besitzer? Ja, natürlich, Schachspieler waren ein mittelloses Volk. Die Uhr besaß eine Öffnung, durch die sie mit dem hexagonalen Schlüssel aufgezogen werden konnte. Vorsichtig zog er sie auf, aber natürlich geschah nichts. Er klappte den Deckel zu und brütete über dem Zifferblatt. Die 64 Felder – 24 plus 24 plus 16 – ergaben ein phantastisches kreisförmiges Schachbrett. Eine der vielen Schachvarianten, die er ein-, zweimal gespielt hatte, war zylindrisch gewesen. »Les echeques fantastiques«, zitierte er. »Das ist das zynische Gleichnis eines Geisteskranken mit seinem tattrigen Monarchen, der Vampirdame, Gangsterspringern, zweigesichtigen Läufern, rammenden Türmen und geistlosen Bauern, deren höchster Ehrgeiz es ist, ihr Geschlecht zu ändern, um das Bett des Tatterers zu teilen.«
Mit einem bedauernden Seufzer riß er den Blick von der Uhr und dem Bauern dahinter los. Er ist ein grimmiger kleiner Kämpfer, dachte er und hielt die angelaufene Silberfigur dicht an die Brille. Das blanke Langschwert mit festem Griff gegen die Brust gedrückt, die eiserne Kappe tief in die Stirn gezogen, das Gesicht gnadenlos wie der Tod. Ritters Gesichtsausdruck wurde ebenfalls grimmig, als er sich zu etwas entschloß, das ihm in den Sinn kam, seit er den barbarischen Bauern im Schaufenster gesehen hatte. Er streckte den Arm aus und griff nach einem Aktenordner, aus dem er ein Heft hervorzog, betitelt ›Der Tod Aljochins‹. Das Licht wurde dämmrig. Er schaltete die große Tischlampe ein. Kurz darauf betrachtete er eingehend eine einzelne, eigentümliche Photographie. Sie zeigte einen alten leeren Lehnstuhl mit einem aufgestellten Schachspiel, das auf einer der hölzernen Armlehnen befestigt war. Hinten auf dem Schachspiel stand eine winzige Figur. Mit Hilfe des Vergrößerungsglases fand er bestätigt, was er erwartet hatte. Die Abbildung zeigte ein genaues Gegenstück des barbarischen Bauern, den er heute gekauft hatte. Er überflog ein anderes Dokument aus dem Heft – einen alten Brief auf Luftpostpapier in einer fremdartigen Schrift mit Cedillen unter der Hälfte der Buchstaben C und Tilden über der Hälfte der Buchstaben A. Er stammte von seinem portugiesischen Freund, der mitteilte, daß das Photo eine Reproduktion eines im Lissabonner Polizeiarchiv befindlichen Photos war. Das Photo zeigte den Sessel, in dem Alexander Al-
jochin tot aufgefunden worden war, nachdem er einen Herzanfall im Dachgeschoß eines billigen Lissabonner Logierhauses erlitten hatte. Das war 1946 gewesen. Aljochin hatte 1927 die Schachweltmeisterschaft von Capablanca gewonnen. Er hatte den Weltrekord über die größte Anzahl von simultan und blind gespielten Partien gehalten – zweiunddreißig. 1946 bereitete er sich auf ein Turnier mit dem russischen Großmeister Botwinnik vor, obwohl er während des Zweiten Weltkrieges Schach entlang der Achse Berlin-Rom-Tokio gespielt hatte. Obwohl er zeitweise am Rand einer Psychose stand, wurde er als der tiefsinnigste und brillanteste Schachspieler angesehen, der je gelebt hatte. War er gleichfalls einer derjenigen Spieler gewesen, fragte sich Ritter, die das silber-goldene MorphySchachspiel und die Morphy-Uhr besessen hatten? Er griff nach einem anderen Heft, betitelt: ›Der Tod von Steinitz‹. Diesmal fand er eine bräunliche Daguerreotypie, die ein leeres, schmales, altmodisches Krankenbett eines Hospitals zeigte mit einem Schachbrett und Figuren auf einem kleinen Tisch daneben. Ritters Vergrößerungsglas entdeckte unter den Schachfiguren einen weiteren der unverwechselbaren barbarischen Bauern. Wilhelm Steinitz, Vater des modernen Schach genannt, der die Weltmeisterschaft achtundzwanzig Jahre lang gehalten hatte, bis er 1894 von Emanuel Lasker besiegt worden war. Steinitz, der zwei psychotische Episoden durchgemacht und deswegen die letzten Jahre seines Lebens in einem Krankenhaus zugebracht hatte. Während der zweiten Periode sei-
nes Wahnsinns hatte er geglaubt, die Schachfiguren mittels Elektrizität ziehen zu können, und er hatte Gott zu einer Partie herausgefordert, in der er Gott die Vorgabe von Bauer und Anzug anbot. Es war nach dieser zweiten Episode gewesen, daß die Daguerreotypie gemacht wurde. Ritter hatte sie vor vielen Jahren von dem betagten Emanuel Lasker erworben. Ritter lehnte sich matt vom Tisch zurück, nahm die Brille ab und rieb sich die müde gewordenen Augen. Es war später, als er geglaubt hatte. Er dachte daran, wie Paul Morphy sich im Alter von einundzwanzig Jahren vom Schach zurückgezogen hatte, nachdem er jeden nennenswerten Gegner geschlagen und die nie angenommene Herausforderung geäußert hatte, es mit jedem Meister bei Vorgabe von Bauer und Anzug aufzunehmen. Nach dieser Geste der Geringschätzung 1859 hatte er fünfundzwanzig Jahre lang gegrübelt, meist als Einsiedler in seinem Elternhaus in New Orleans, aus dem er nur in eleganter Kleidung und mit Umhang zu einem Nachmittagsspaziergang und zum regelmäßigen Besuch der Oper herauskam. Er erlitt paranoide Episoden, in denen er glaubte, seine Verwandten versuchten ihm das Glück und, ausgerechnet, die Kleider zu stehlen. Und weder sprach er je von Schach noch spielte er es, ausgenommen eine gelegentliche Partie mit seinem Freund Maurian bei Vorgabe von Springer und Anzug. Fünfundzwanzig Jahre des Brütens in aller Abgeschiedenheit, ohne den Trost des Schachspiels, aber mit dem Morphy-Schachspiel und der Morphy-Uhr im selben Raum, Zeugen seiner Weltmeisterschaft.
Ritter fragte sich, ob diese Umstände – mit einem Paul Morphy, der ständig an Schach dachte, so glaubte er zu wissen – nicht ideal waren für eine Übertragung der Schwingungen von Gedanken und Gefühlen auf unbelebte Gegenstände, in diesem Fall das goldene Morphy-Spiel und die Uhr. Materielle Gegenstände, die nicht meßbar mit den Schwingungen von fünfundzwanzig Jahren der großartigsten Schachideen erfüllt waren und dann durch einen seltsamen Zufall (nur durch Zufall?) in die Hände zweier anderer zeitweise wahnsinniger Schachmeister fielen, wie die Photographien vermuten ließen. Eine absurde Vorstellung, sagte sich Ritter. Und dennoch eine, deren Verfolgung er keinen geringen Teil seines Lebens gewidmet hatte. Und jetzt waren die stark vibrierenden Gegenstände in seinen Händen. Welche Wirkung würde das auf sein Spiel haben? Aber derartige Spekulationen waren doppelt absurd. Eine Welle der Müdigkeit überkam ihn. Es war kurz vor Mitternacht. Er machte sich noch ein schnelles Abendessen zurecht, verzehrte es, zog die Fenstervorhänge zu und zog sich aus. Er schlug die Decke der großen Couch neben dem Tisch zurück, schaltete das Licht aus und schlüpfte ins Bett. Es war ein Trick von Ritter, sich schläfrig zu machen, indem er in Gedanken eine Schacheröffnung durchspielte. Wie jeder talentierte Spieler konnte er ohne weiteres eine Partie blind bestreiten, obwohl er
sich nicht das gesamte Brett bildlich vorstellen konnte und oft die Züge Feld um Feld nachzählen mußte, besonders bei den Läufern. Er wählte Breuers Gambit aus, eine seiner alten Lieblingspartien. Er machte ein halbes Dutzend Züge. Dann plötzlich, als wäre ein Licht eingeschaltet worden, war das Schachbrett hell erleuchtet in seinem Bewußtsein. Er mußte erst die Augen öffnen, um sich zu vergewissern, daß das Zimmer noch so schwarz wie die Nacht war. Es gab nur das hell erleuchtete Schachbrett in seinem Kopf. Das Gefühl von Scheu verlor sich in überschwenglichem Entzücken. Er zog die inneren Figuren in rascher Folge, dennoch sah er tief in die Möglichkeiten der jeweiligen Stellungen. Weit im Hintergrund hörte er die Kirchenglocke auf dem Franklin, wie sie die Dutzend Schläge um Mitternacht schlug. Kurz darauf sagte er Schachmatt in fünf Zügen für Weiß an. Schwarz studierte die Stellung vielleicht eine Minute lang und gab dann auf. Er lag auf dem Rücken und holte mehrmals tief Atem. Nie zuvor hatte er so brillant blind gespielt – eine Partie, bei der er trotzdem sehen konnte. Daß es eine Partie mit sich selbst war, schien keine Rolle zu spielen – seine Persönlichkeit hatte sich in zwei Spieler aufgespalten. Er studierte die letzte Stellung ein letztes Mal, schob die Figuren in seinem Kopf auf die Ausgangsposition zurück und ruhte ein wenig, bevor er eine neue Partie begann. Es war in diesem Moment, daß er das Ticken hörte, ein nervöses Geräusch, fünfmal so schnell wie die
ferne Glocke geläutet hatte. Er hielt seine Armbanduhr ans Ohr. Ja, sie tickte ebenfalls schnell, aber da war ein anderes Ticken, lauter. Er setzte sich still im Bett auf, lehnte sich über den Tisch, knipste das Licht an. Die Morphy-Uhr. Von ihr kam das laute Ticken. Die Zeiger standen auf zehn nach zwölf, und das kleine Fenster zeigte AM, die Zeit zwischen Mitternacht und Mittag. Eine lange Zeit blieb er in dieser Stellung – stumm, bewegungslos, verwundert, ängstlich, zweifelnd; Träume gingen ihm im Kopf herum, die kein Sterblicher vor ihm zu träumen gewagt hätte. Mal sehen. Edgar Allan Poe war gestorben, als Morphy zwölf Jahre alt war und seinen Onkel, Ernest Morphy, schlug, damaliger Schachkönig von New Orleans. Es schien unmöglich, daß eine Uhr mit einem Mechanismus, der gut über hundert Jahre alt war, plötzlich zu ticken beginnen sollte. Doppelt unmöglich, daß sie zur annähernd richtigen Zeit zu laufen beginnen sollte – die Armbanduhr und die Morphy-Uhr wichen um nicht mehr als eine Minute voneinander ab. Zwar mochte das Uhrwerk in besserem Zustand sein, als er und auch der alte Balte angenommen hatten; Uhren konnten so bockig sein wie ein störrischer Esel. Und ein zufälliges Zusammentreffen von Ereignissen war nur ein zufälliges Zusammentreffen. Dennoch fühlte er sich zutiefst beunruhigt. Er kniff sich in den Arm und machte die anderen kindischen Tests.
Er sagte laut: »Ich bin Stirf Ritter-Rebil, ein alter Mann, der in San Francisco wohnt und Schach spielt und der gestern eine ungewöhnliche Kuriosität entdeckt hat. Aber sonst ist alles völlig normal ...« Trotzdem hatte er plötzlich ein Gefühl wie ›Ein Mann, der Löwe ißt, ist ein Herumtreiber‹. Es war die kindische Form, die die Angst bei seltenen Gelegenheiten für ihn annahm. Für eine Minute oder so schien alles zu still zu sein, trotz des Tickens. Eine Bewegung der Vorhänge am Fenster jagte ihm einen Schauer über den Rücken, die Wände erschienen ihm plötzlich dünn, ihre Fähigkeit, als Bollwerk zu dienen, gleich null. Allmählich schwand das Gefühl, daß ein Löwe draußen herumstreifte, und seine Nerven beruhigten sich. Er schaltete das Licht aus, das helle innere Schachbrett kam wieder, und das Ticken war nun eher beruhigend als das Gegenteil. Er begann eine neue Partie gegen sich selbst. Er spielte für Schwarz die klassische Ruy-Lopez-Verteidigung. Diese Partie war so leuchtend und stechend scharf wie die erste. Er hatte den Eindruck, daß eine schimmernde schlanke Männergestalt neben dem hell erleuchteten Schachbrett in seinem Innern stand. Nach einer Weile wurde die Gestalt amorph und verblaßte ein wenig, dann teilte sie sich in drei. Das beunruhigte ihn jedoch wenig; und als er schließlich Matt in drei Zügen für Schwarz ansagte, fühlte er große Befriedigung und tiefe Müdigkeit. Am nächsten Tag war er besonders guter Stimmung. Sonnenlicht verscheuchte allen Schrecken der Nacht,
als er seinen gewöhnlichen Haus- und Schreibarbeiten nachging. Von Zeit zu Zeit vergewisserte er sich, daß er sich noch immer ein Bild von dem Schachbrett in seinem Innern machen konnte; und dann und wann dachte er über das Geheimnis nach, das er im Begriff war zu lösen. Das Ticken der Morphy-Uhr erhielt einen erregenden, heftigen Klang. Gegen Ende des Nachmittags erkannte er, daß er Riminis Restaurant aufsuchen würde, um seine neuentdeckte Fertigkeit vorzuführen. Er holte eine alte goldene Uhrkette und ein Uhrtäschchen hervor, befestigte die Morphy-Uhr, die er vorsichtig aufzog, daran, verstaute alles in seiner Weste und machte sich auf zu Rimini. Es war ein großartiger Tag – angenehm frisch, strahlender Sonnenschein und luftig. Sein Schritt war flott. Er dachte nicht an all die seltsamen Ereignisse, sondern an Schach. Es wird behauptet, daß man beim Schachspielen die Frau an einem Tag verlieren und sie noch in derselben Nacht vergessen kann. Riminis Restaurant war ein gutes, dämmriges, nach Knoblauch riechendes Lokal. Als er den langen Lförmigen Raum betrat, wurde sich Ritter freudig der Reihen von Schachbrettern, Schachfiguren und der darüber gebeugten aufmerksamen, meist jungen Gesichter gewahr. Dann grinste ihn Rasputin berechnend an und begann munter drauflos zu schwatzen. Ihr Turnierspiel war fällig. Sie wählten ein Brett aus, und kurz darauf saßen sie darüber. Neben ihnen bestritt auch die Zarin eine entscheidende Partie; ihr betrübtes Gesicht war so schräggestellt, daß es beinahe so aussah, als wäre ihr Genick gebrochen; ihre schlanken Finger
deuteten rasch auf die Felder, als sie Kombinationen berechnete, als wäre sie eine Zauberin, die ihnen einen Bann auferlegte. Ritter war sich ihrer bewußt, aber nur am Rande. Denn das helle innere Schachbrett war zurückgekehrt, nur daß es jetzt von dem wirklichen Brett vor ihm überlagert wurde. Kombinationen sprudelten ihm geradezu ins Gehirn. Er schlug Rasputin wie ein Kind. Die Zarin erhaschte den Sieg aus den Augenwinkeln und gab ein schwaches zustimmendes Brummen von sich. Sie war dabei, das eigene Spiel zu gewinnen, Ritters Sieg über Rasputin brachte sie auf den ersten Platz. Rasputin war auf einmal sehr still. Ein jüngerer Mann mit einem schwarzen Schnurrbart sah sich Ritters Sieg genauer an. Es war Martinez, Meister des Bundesstaates Kalifornien, der unlängst eine Simultanpartie bei Rimini gespielt hatte, fünfzehn Siege, keine Niederlage, nur eine Partie gegen die Zarin unentschieden. Er schlug Ritter jetzt eine zwanglose Partie vor, der ein wenig geistesabwesend nickte. Sie bestritten zwei äußerst haarige Partien – eine Sizilianische Verteidigung von Martinez, bei der Ritter alle Bauern vor seinem rochierten König zu einem stürmischen Angriff vormarschieren ließ; und ein Ruy Lopez von Martinez, das Ritter mit einer klassischen Verteidigung beantwortete und das sich über weite Strecken darum drehte, seinen starken Königsläufer vor dem Abtausch zu bewahren. Das innere Schachbrett blieb mit dem wirklichen überlagert, und Ritter vermeinte sogar einen schwachen Schein über der Figur zu bemerken, die er als nächste ziehen oder schlagen mußte. Zu seiner gelinden Überraschung
gewann er beide Partien. Eine kleine Gruppe schachkundiger Zuschauer hatte sich um ihr Brett versammelt. Martinez betrachtete ihn spekulativ, als wolle er sagen: Wo kommst du bloß her, alter Mann, mit deinem machtvollen Spiel? Ich kann mich nicht entsinnen, jemals von dir gehört zu haben. Ritters Zufriedenheit wäre vollkommen gewesen, hätte bei den Zuschauern im Hintergrund nicht ein schlanker junger Mann gestanden, dessen Gesicht stets überschattet war, wenn Ritter es erblickte. Ritter sah ihn an drei verschiedenen Stellen, wenn auch niemals in Bewegung und nie für länger als einen Augenblick. Irgendwie schien er ein Zuschauer zuviel zu sein. Das störte Ritter auf eine unbestimmte Weise, und sein Gesicht hatte einen nachdenklichen, geistesabwesenden Ausdruck, als er schließlich das Lokal verließ und auf die abendliche Straße in den schwachen Nieselregen hinaustrat. Einen Block weiter schaute er sich um, aber soweit er feststellen konnte, wurde er nicht verfolgt. Diesmal ging er den ganzen Weg zu seiner Wohnung zu Fuß. Allmählich schlug seine Stimmung unter den feinen Regentropfen mehr und mehr in Begeisterung um. Er hatte gerade ein wundervolles Schach gespielt, er stand mitten in einem erstaunlichen geschichtlichen Schachgeheimnis, das zu ergründen er sich immer gewünscht hatte, und irgendwie arbeitete die Morphy-Uhr für ihn – er konnte sogar ihr gedämpftes Ticken hier auf der Straße hören, wie es aus der Westentasche an seine Ohren drang. Diese Nacht war sein Appartement ein höchst willkommener Zufluchtsort, sein Raum, wie eine Erweite-
rung seines Geistes. Er stillte seinen Hunger. Dann überdachte er mit einem Sherlock-Holmes-Lächeln, was er, wie er fand, ›Den seltsamen Fall des MorphyChronometers‹ nannte. Er wünschte, Dr. Watson wäre hier, um seinen Erörterungen zu lauschen. Zunächst das Erscheinen der Uhr auf der Persia 1859, nachdem Morphy nach New York zurückgekehrt war. Über Jahre des Wahnsinns hinweg hatte Morphy sie mit psychischer Energie und unermeßlichen Schachweisheiten durchtränkt. Wenn er nicht – vermerken Sie das, Doktor – Umstände geschaffen hatte, die nachfolgende Besitzer der Uhr annehmen ließen, er hätte dies getan, denn das Übernatürliche ist nicht unser täglich Brot, Watson. Danach (nach de Riviere) war der große Steinitz in ihren Besitz gekommen und hatte Gott herausgefordert und war in Wahnsinn gestorben. Dann, nach einer Unterbrechung, hatte der paranoide Aljochin sie besessen und teuflisch brillante, hypermorphynianische Angriffsstrategien ersonnen und war schließlich nach tausendfachem Verrat ganz allein in einer elenden Lissabonner Absteige mit einem Schachspiel und dem verräterischen barbarischen Bauern an seiner Seite gestorben. Schließlich, nach einer Lücke von beinahe dreißig Jahren (wo waren die Uhr und das Spiel während dieser Zeit gewesen? Wer hatte sie in Obhut gehabt? Wer war der alte Balte?) waren Chronometer und ein Bauer in seinen eigenen Besitz gekommen. Ein einzigartiger Fall, Doktor. Es gibt nicht einmal in Prag 1863 eine Parallele. Der nächtliche Nebel drängte gegen die Fensterscheibe, und bisweilen prasselte der Regen dagegen. San Francisco war wie London und besaß seinen ei-
genen ortsansässigen großen Detektiv. Eines von Dashiell Hammetts Hobbies war Schach gewesen, wenn es auch keine Aufzeichnungen darüber gab, ob Sam Spade das Spiel gespielt hatte. Von Zeit zu Zeit studierte Ritter die Morphy-Uhr, wie sie auf der Tischstelle, die er dafür freigeräumt hatte, glühte und tickte. Wieder AM, beobachtete er. Die Zeit: Weiße Dame mit glitzernden Rubinen hinter schwarzem, mit mikroskopisch kleinen Smaragden besetztem König – ich meine fünf Minuten nach Mitternacht, Doktor. Die Geisterstunde, wie die Abergläubischen sagen würden. Aber zu Bett, zu Bett, Watson. Wir haben morgen viel zu tun – und, paradoxerweise, heute nacht. Ritter war ehrlich erleichtert, als das goldene Glühen vom Zifferblatt der Uhr verschwand, wenn auch das Ticken nicht aufhörte. Er schlängelte sich in sein Couchbett und bereitete sich vor auf das, was kommen würde. Das innere Schachbrett flammte erneut auf, und er begann zu spielen. Zuerst ließ er die besten Partien, die er je gespielt hatte, Revue passieren – es gab ihrer nicht viele – und entdeckte Varianten, an die er nicht einmal im Traum gedacht hätte. Dann spielte er alle bevorzugten Partien der Schachgeschichte durch, von MacDonnell – La Bourdonnais bis Fischer – Spasski, sowie Steinitz – Zukertort und Aljochin – Bogoljubow. Es waren meisterhafte Partien, tiefgründiger als jemals zuvor – das innere Schachbrett sah tief in die Positionen. Schließlich spaltete er seinen Geist auf und forderte sich selbst zu einer achtfachen Blindpartie heraus. Entgegen aller Erwartung gewann Schwarz drei von ihnen, verlor zwei und spielte in dreien Remis.
Aber nicht die ganze Nacht brachte einfallsreiches und schöpferisches Entzücken. Zweimal gab es Perioden unheimlicher Stille, die vom Ticken der Uhr nur unterstrichen wurden, und zweimal nervöse Zustände, während derer er sich von dem mörderischen Löwen verfolgt glaubte und die ihn das Haar zu Berge stehen ließen. Wieder wurde das schwache Glühen einer schlanken Männergestalt neben dem geistigen Schachbrett schwach sichtbar und wollte nicht verschwinden. Schlimmer noch, zwei weitere schwach glühende Männergestalten gesellten sich zu ihr, eine untersetzt und kräftig, mit einem Hinken, die andere ziemlich groß, ebenfalls kräftig und ruhelos. Diese inneren Eindringlinge beunruhigten Ritter in steigendem Maße. Wer waren sie? Und war da nicht ein viertes Glühen? Er entsann sich des schattenhaften schlanken jungen Beobachters seiner Partien gegen Martinez und fragte sich, ob da wohl eine Verbindung bestand. Eine beunruhigende Sache – und am meisten beunruhigend war die Ahnung, daß sein Verstand zugrunde gerichtet und in tausend Teile zerfetzt werden konnte, daß sein Geist sich bereits über geheimnisvolle Adern von einem schachspielenden Planeten zum anderen fortbewegte, bis an die Grenzen des Universums. Er war zutiefst erleichtert, als zum Ende der Partie gegen sich selbst sein Gehirn abzustumpfen und gefühllos zu werden begann. Das letzte, woran er sich erinnerte, war der Versuch, ein Spiel zu erfinden, das auf dem kreisförmigen Brett des Uhrenzifferblattes gespielt werden konnte. Er meinte, es würde ihm gelingen, aber schließlich versank er in tiefe Bewußtlo-
sigkeit. Am nächsten Tag erwachte er nervös, innerlich zerkratzt und voll Eifer – und mit dem Gefühl, daß die drei oder vier schattenhaften Gestalten die ganze Nacht um sein Bett herumgestanden hatten, pulsierend wie Stroboskoplichter zum Rhythmus der Morphy-Uhr. Kaffee erhöhte seine geistige Regsamkeit. Er kleidete sich rasch an, hakte die Morphy-Uhr an ihre Kette, steckte den silbernen Bauern ein und machte sich auf die Suche nach dem Laden, in dem er beides erstanden hatte. Er fand ihn nie, obwohl er Montgomery, Kearny, Grant, Stockton, Clay, Sacramento, Californie, Pine, Bush und all die andern Straßen durchstreifte und sorgfältig absuchte. Was er schließlich und endlich fand, war ein Schaufenster, in dem der Staub ein groteskes Muster bildete. Er war sicher, daß es dasselbe war, in dem er vorgestern den barbarischen Bauern entdeckt hatte. Nur daß der Ausstellungsraum dahinter und auch der ganze Laden jetzt leer waren bis auf einen hochgewachsenen schlaksigen Schwarzen mit einem fabulösen Afro-Haarschnitt. Der Mann fegte den Laden aus. Ritter knüpfte ein Gespräch mit dem Mann an, während dieser bei der Arbeit war, und indem er langsam sein Vertrauen gewann, erfuhr er, daß er einer von drei Geschäftspartnern war, die hier ein Geschäft eröffnen würden, das ausschließlich afrikanische Importe führen sollte. Dann, nachdem der Schwarze einen großen dampfenden Eimer Seifenwasser und einen langstieligen Mop herbeigeholt hatte und anfing, die staubige Landkarte, auf der Ritter den Ort wiedererkannt hatte,
für immer auszulöschen, wurde der Mann schließlich vertraulich. »Also«, sagte er, »das war vielleicht ein komischer Vogel, der hatte einen Antiquitätenladen hier bis gestern und jedes verrückte Ding zu verkaufen, das man sich nur vorstellen kann, manches Trödel, manches wirklich märchenhaft. Dann räumte er alles in großer Eile in zwei große Lastautos, während ich ihm dauernd im Nacken lag, weil er das schon einen Tag vorher hätte tun müssen. Aber er war ein sagenhafter Typ, trotzdem«, erinnerte sich der Schwarze grinsend, während er die letzten Halbinseln und Archipele von der Landkarte aus Staub wegwischte. »Einmal hat er zu mir gesagt, ›Entschuldigen Sie mich, während ich mich etwas ausruhe‹, und – Sie werden es nicht glauben – er ging in eine Ecke und stellte sich auf den Kopf. Ich sage Ihnen, das machte er, Mann. Ich meinte, ich spinne. Ich dachte, er bekäme einen Schlaganfall – und er wurde ein bißchen blaß-lila im Gesicht –, aber nach drei Minuten – ich hab die Zeit genommen – sprang er glatt auf die Füße und machte mit der Arbeit doppelt so schnell weiter wie vorher, dabei trieb er die Möbelpacker an, daß ihnen Hören und Sehen verging. Mensch, das war eine Sache.« Ritter ging ohne Kommentar fort. Er hatte den letzten Hinweis über die Identität des alten Balten bekommen, der die vierte und schattenhafteste der Gestalten war, die sein inneres Schachbrett heimsuchten. Wie er zwanglos einen Kopfstand gemacht, wie er gesagt hatte: ›Es könnte Ihr Interesse wecken‹ – ja, natürlich, das mußte Aaron Nimzowitsch gewesen sein, der exzentrischste Spieler von ihnen allen, Vater
des hypermodernen Schach, der Aljochins gefährlichster, aber stets gemiedener Herausforderer gewesen war. Natürlich, der alte Balte hatte genau wie ein gealterter Nimzowitsch ausgesehen daher auch Ritters ständiges Gefühl, daß ihm das Gesicht bekannt vorkam. Natürlich war Nimzowitsch angeblich in den dreißiger Jahren in seiner Heimatstadt Riga gestorben, aber was bedeuteten Leben und Tod jenen Kräften, die Ritter jetzt in ihren Bann zogen? Während er trotz des Lärms das Ticken der Morphy-Uhr an seiner Seite hören und spüren konnte, hatte er das Gefühl, daß die vier düsteren Gestalten sich in diesem Moment unbarmherzig wie Löwen in dem Gedränge von Chinatown an ihn heranpirschten. Er floh in die Dänische Küche beim St.-FrancisHotel und trank eine Tasse guten Kaffees und bestellte eine doppelte Portion Benediktinereier, während das innere Schachbrett in seinem Kopf ständig wie eine Stroboskoplampe aufblitzte und er sich fragte, ob er die Morphy-Uhr nicht einfach in die Bucht schleudern sollte, um dem verderblichen Einfluß zu entkommen, der seinen Realitätssinn zerstörte und seinen Verstand zugrunde richtete. Aber dann, als sich der Abend näherte, wurde das Verlangen nach Schach immer drängender, und er machte sich auf den Weg zu Riminis Restaurant. Rasputin und die Zarin waren da und auch Martinez. Bei ihm war ein distinguiert aussehender Herr mit silbergrauem Haar, den Martinez als den südamerikanischen Meister Pontebello vorstellte. Er schlug vor, daß Pontebello und Ritter eine Partie spielen sollten. Das Schachbrett glühte wieder, auch die leuchten-
den Kreise über den Figuren stellten sich ein, und Ritter siegte wie gegen einen Anfänger. Angesichts des leichten Sieges packte ihn das Schachfieber, und er schlug vor, sofort vier Simultanpartien mit verbundenen Augen gegen die beiden Meister, die Zarin und Rasputin zu spielen, dabei sollte Pontebello gleichzeitig als Schiedsrichter fungieren. Alle blickten ihn ungläubig an, aber er hatte zwei Partien gegen Martinez und eben die gegen Pontebello gewonnen, also wurden die nötigen Vorbereitungen rasch getroffen. Ritter bestand darauf, daß die Partie tatsächlich blind gespielt wurde. Alle anderen Spieler drängten sich heran, um zuzusehen. Die Partie begann. Jetzt waren es vier Schachbretter, die vor Ritters innerem Auge leuchteten. Es spielte – zumindest jetzt – keine Rolle, daß vier dunkle Gestalten bei ihnen waren, eine bei jedem. Ritter spielte brillant, Kombinationen sprudelten nur so aus ihm heraus. Er machte seine Züge entschlossen und mit Unfehlbarkeit. Und so schlug er rasch die Zarin und Rasputin. Bei Pontebello dauerte es ein wenig länger, und er spielte Remis gegen Martinez. Es herrschte Schweigen, als er die Augenbinde abnahm und forschend in einen Kreis von erstaunten Gesichtern und den vier schattenhaften dahinter blickte. Er genoß das Gefühl absoluter Schachmeisterschaft. Das einzige Geräusch, das er hörte, war das ihm donnernd erscheinende Ticken der Morphy-Uhr. Pontebello war der erste, der sprach. An Ritter gewandt sagte er: »Wissen Sie, Meister, was Sie gerade getan haben?« Zu Martinez: »Haben Sie die Züge von allen vier Partien?« Wieder zu Ritter: »Verzeihen Sie,
aber Sie sehen blaß aus, als hätten Sie gerade einen Geist gesehen.« »Vier«, berichtigte ihn Ritter gelassen. »Die von Morphy, Steinitz, Aljochin und Nimzowitsch.« »Verständlich, wenn man die Umstände bedenkt«, kommentierte Pontebello, während Ritter wieder nach den schattenhaften Gestalten im Hintergrund suchte. Sie waren noch immer da, wenn auch nicht mehr an derselben Stelle. Sie hatten sich in eine der vielen dunklen Ecken von Riminis Restaurant zurückgezogen. Inmitten des Pläneschmiedens für eine neue Simultanschachveranstaltung und des Aufsetzens eines von vielen unterzeichneten Briefs an die U.S.Schachförderation, der die heutige Simultanpartie beschrieb – ganz zu schweigen von Pontebellos forschenden Fragen nach Ritters Schachvergangenheit –, riß er sich los und machte sich durch die dunklen Straßen auf den Weg nach Hause. Er war sich gewiß, daß die vier schattenhaften Gestalten hinter ihm herschlichen. Der Ruf nach Schach in seinen eigenen vier Wänden konnte nicht überhört werden. Ritter vergaß keinen Augenblick dieser Nacht, denn er fand keine Minute Schlaf. Das leuchtende Schachbrett vor seinem inneren Auge war wie ein unersättliches Fanal, eine allesfordernde Mandala. Er spielte alle bedeutenden Partien der Schachgeschichte durch und fand überall neue Züge. Er bestritt zwei Partien gegen sich selbst, dann je eine gegen Morphy, Steinitz, Aljochin und Nimzowitsch. Die beiden ersten gewann er, die dritte brachte er zu einem Remis, und das letzte Spiel verlor er knapp. Nimzowitsch war der einzige, der etwas sagte. »Ich bin gleicher-
maßen tot und lebendig, wie du sicher weißt. Bitte rauche nicht und versuche es auch nicht.« Er stellte acht innere Schachbretter auf und spielte zwei Partien dreidimensionales Schach. Schwarz gewann beide. Er reiste zum Ende des Universums und traf überall, wohin er kam, auf Schach. Und er bestritt eine langandauernde Partie, verwickelter als 3-DSchach, von der das Schicksal des Universums abhing. Er spielte Remis. Und die ganze lange Nacht hindurch waren die vier bei ihm in seinem Zimmer, und der menschenfressende Löwe starrte mit einer schwarzweiß karierten Maske und einer silberfarbenen Mähne durchs Fenster. Währenddessen tickte die Morphy-Uhr wie eine Henkerstrommel. Die Gestalten verschwanden mit der Morgendämmerung, doch das innere Schachbrett blieb weiter hell erleuchtet und gegenwärtig. Es ließ nicht erkennen, daß es jemals verschwinden würde. Ritter fühlte überwältigende Müdigkeit, sein Verstand schien in Atome zerfetzt, er selbst dem Tod nahe. Aber er wußte, was er zu tun hatte. Er holte eine kleine Schachtel hervor, legte sie mit Watte aus und legte den silbernen barbarischen Schachbauern, die alte Photographie und die Daguerreotypie und ein Blatt Papier hinein, auf das er nur kritzelte: Morphy, 1859–1884 de Riviere, 1884–? Steinitz, ?–1900 Aljochin, ?–1946 Nimzowitsch, 1946–jetzt Ritter-Rebil, 3 Tage
Dann, als er die Uhr ebenfalls in die Schachtel legte, hörte sie zu ticken auf, die Zeiger standen schließlich still, und das Schachbrett vor Ritters geistigem Auge wurde dunkel. Er warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das ungewöhnliche glitzernde Zifferblatt. Dann schloß er die Schachtel, packte sie in Packpapier ein und verschnürte sie. Mit schwarzer Tinte schrieb er deutlich: ›An den Schachweltmeister‹, und fügte die Anschrift hinzu. Er brachte sie zum Postamt auf der Van Ness und schickte sie per Einschreiben ab. Dann ging er nach Hause und schlief wie ein Toter. Ritter erhielt niemals Antwort. Auch bekam er niemals die Schachtel zurück. Manchmal fragt er sich, ob die nachfolgenden seltsamen Ereignisse im Leben des Schachweltmeisters etwas mit dem Geschenk zu tun gehabt haben mochten. Und bei seltenen Gelegenheiten fragte er sich, was geschehen wäre, wenn er die tödliche Herausforderung angenommen hätte und seinen Verstand vollends in Stücke hätte reißen lassen. Aber im großen und ganzen ist er zufrieden. Fragen von Martinez und den andern tut er mit absichtlich vagen Bemerkungen ab. Er spielt noch immer Schach in Riminis Restaurant. Nur einmal hat er noch eine Partie gegen Martinez gewonnen, als dieser eine Simultanpartie gegen dreiundzwanzig Spieler bestritt. Originaltitel: MIDNIGHT BY THE MORPHY WATCH. Aus IF 8/74
Jeffrey S. Hudson & Isaac Asimov TITANENKAMPF (Prolog) Lieber Isaac! Beigefügt ein kurzes Werk, daß Sie vielleicht amüsant finden werden. Natürlich ist der Schluß ein bißchen mangelhaft, aber nun ... Wenn Sie, Dr. A., die letzten drei Abschnitte oder so überarbeiten würden, würden Sie a) dazu beitragen, eine echte literarische Kuriosität zu schaffen, b) einem aufrichtigen Fan dazu verhelfen, in die Reihen der publizierten Schriftsteller aufgenommen zu werden, und c) totgeglaubte Fans dazu bringen, die Schaufenster der Buchhandlungen auszuräumen! Übrigens ist Ihr Forum für die Juliausgabe von Galaxy noch besser, als ich erwartet hatte! Alles Gute (gezeichnet) Jim Baen Lieber Jim! Okay, hier ist das Zeug, das Sie mir geschickt haben, zusammen mit einem anderen Schluß, den ich mir ausgedacht habe. Vielleicht können Sie auch Bob Silverberg dazu bringen, einen anderen Schluß zu schreiben – oder sich zumindest vergewissern, daß er nicht verrückt wird. (Er ist nicht verrückt geworden. Der Herausg.) Und als wie jung sich J. S. Hudson auch erweisen sollte, ich glaube, es wäre nett, wenn Sie ihn ein we-
nig bremsen würden. Aus Gefälligkeit. Selbstverständlich erwarte ich kein Honorar. Wenn Sie es veröffentlichen, geben Sie das ganze Geld Hudson. Der Ihre (gez.) Isaac Asimov Lieber Jeff! Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Ihre Geschichte als Gemeinschaftsarbeit von Ihnen und Dr. Isaac Asimov veröffentlicht wird? Mit besten Empfehlungen (gez.) Jim Baen Lieber Jim! Sie machen Witze!!!! Natürlich!!!! Mit allen Vorbehalten der Ihre (gez.) Jeff Hudson (Ende des Prologs) Ein gluckerndes Wogen erschütterte die New York Bay. Die neblige Luft wirbelte und teilte sich. Sie gab den Blick frei auf einen gewaltigen Metallbogen, der in seichtem Wasser lag. Ein paar Meter weiter peitschte das Wasser auf, und ein riesiges weißes Blatt Papier trieb an die Oberfläche. Die Navy, Küstenwache und das NYPD brachen auf, um nachzusehen. Als sich die letzten Nebel lichteten, machten die Luftwaffe und die Fernsehanstalten Luftaufnahmen. Der glänzende Metallbogen wuchs langsam zu einem niedrigen Hügel empor und sank dann rasch in
die Bucht zurück. Er hatte eine leichte Delle. Alles in allem ähnelte er einem Buckel. Das Peitschen hielt an und schickte gelegentlich Wasserfontänen hoch in die Luft. Das Blatt Papier blieb bemerkenswert steif. Das Pentagon konnte weder Kopf noch Schwanz des Dinges ausmachen, versicherte aber jedem, daß es nicht die Russen wären. Dann passierte es. Als wäre etwas unter ihm losgeschnitten worden, hob sich der Bogen in die Luft, enthüllte, daß es ein flacher, gewölbter Kasten war, doch nein, das eine Ende hatte Ähnlichkeit mit überhaupt nichts. Zwei riesige Randauslöser richteten die Köpfe über das Wasser, und dann tauchte das Ding ganz auf. Wasser lief von der Walze, plätscherte in den Schlitten, strömte in Kaskaden über die Tasten, und die mächtige Schreibmaschine hob sich ins Sonnenlicht. Die riesigen Schrifttypen bogen sich himmelwärts und schlugen gegen das Papier, die Tabulatortaste wurde gedrückt, und die Zylinderknöpfe rasten durch die Luft, warfen dabei die Freiheitsstatue um. Auf der Rückseite der mächtigen Maschine war folgende Legende zu lesen: ›Die Fruchtbarste oder Büste der Welt!‹ Und unten, zwischen den Tasten in manischer Raserei auf Reihen von Laufstegen hin und her rennend. Dr. Isaac Asimov. Der Präsident war außer sich vor Wut. Der Verleger war überglücklich. Die Öffentlichkeit reagierte hysterisch. In der Zwischenzeit tippte der gute Doktor einen Endlosbogen aus ›Papier‹, der hundert Meter breit war und aus der Maschine selbst zu kommen schien.
In der Tat schien kein Teil der Maschine jemals ersetzt zu werden brauchen, sie schien selbsterneuernd zu sein. Dr. Asimov inbegriffen. Der einzige Anhaltspunkt für die geheimnisvolle Funktionsweise der Schreibmaschine war ein langes elektrisches Kabel, das in den Atlantik führte. Isaac hämmerte seine Botschaft vierundzwanzig Stunden am Tag. Seine papierenen Ergüsse hatten bereits den Hafen von New York verstopft und häuften sich jetzt auch am Ufer. Das Endlosmanuskript ringelte sich um die Docks, der Geschenkpapierberg wuchs. Die Straßen wurden mit dem scheinbar unzerstörbaren Papier gepflastert. Die Buchstaben verwischten sich weder noch verblaßten sie; ganze Scharen von Menschen wurden beobachtet, wie sie, fasziniert lesend, die Papierstraße entlangspazierten. Die Arbeit umfaßte jedes nur erdenkliche Thema. Wissenschaft: Eine neue Relativitätstheorie. Humor: Die Stadt New York erstickte fast vor Lachen. Roman: Eine neue Trilogie (Science Fiction, natürlich). Der Bürgermeister ruderte in einem Schlauchboot hinaus, um zu protestieren, erreichte jedoch nichts. Freunde und Verwandte, Wissenschaftler- und Schriftstellerkollegen, alle versuchten, ihn von seinem Tun abzubringen, aber es war zwecklos. Enorme Geldsummen wurden ihm angeboten, und er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Die Science Fiction Writers of America kündigten an, ihren Beruf en masse aufzugeben. Sinnlos. Die World Science Fiction Convention offerierte ihm einen speziellen Hugo Award als ›Größter und Fruchtbarster Schriftsteller der Welt und Nettester Bursche im Kosmos‹. Quatsch, sagte Asimov.
Mittlerweile hatte sich das Endlosmanuskript über den Bundesstaat New York in breiten Schwaden ausgebreitet – was hochinteressante Auswirkungen auf die Niagarafälle hatte –, überquerte den Eriesee (wenn der es nicht aufhalten konnte, was dann?) und schlug Detroit in Bande – buchstäblich. Ungefähr um diese Zeit: Ein mächtiges Tosen, ein kolossales Plätschern, und aus der San Francisco Bay tauchte eine zweite Riesenschreibmaschine auf. Als die Gischt sich gelegt hatte, stand dort die Gestalt von Robert Silverberg, ein düsteres Glitzern in den gen Osten gerichteten Augen. Wasser tropfte von seinem langen Haar und Bart. In der Hand hielt er eine lange Stange, und er erklärte (indem er es gleichzeitig demonstrierte), daß er Asimov mittels Stabhochsprungs zwischen den Tasten zu überholen hoffte. Ein weiterer Satz Schrifttypen schlug vierundzwanzig Stunden am Tag gegen Kilometerbahnen unzerstörbaren Papiers. Dieses Mal war es die BayBrücke, die umgeworfen wurde. Und so begann das Große Rennen. Hank Aaron wurde über Nacht vergessen, und die Amerikaner, als sportliches Volk, begannen den einen oder anderen anzufeuern. Beschwichtigungsversuche wurden aufgegeben – denn welche einzigartige Ehrung konnte zweimal verliehen werden? Geringere Ehrungen regneten jedoch herab, um Zuneigung und Vertrauen zu jeweils einem der beiden anzuzeigen. Silverberg wurde zum bestangezogenen Science-fictionSchriftsteller gewählt. Asimov schlug eine Einladung des Präsidenten aus. Keiner zollte dem ganzen Unsinn mehr als ein Blinzeln, und beide fuhren fort, mit
enormem Tempo zu tippen. Asimov schuf, um seine Arbeit zu beschleunigen, das tarzanische System. Aber dadurch mußte er wertvolle Zeit an Silverberg abgeben, dessen Stabhochspringen vorzüglich war. Asimovs Manuskript hatte mittlerweile den Mississippi überquert und begrub gegenwärtig den Mount Rushmore unter sich. Silverbergs Ergüsse tobten sich, nach anfänglichen Schwierigkeiten am Grand Canyon, in den Great Plains aus. Dann, aus Gründen, die der Menschheit verborgen blieben, änderten sie die Richtung und gingen auf Kollisionskurs. Es wurde bald klar, daß das gesegnete Ereignis im Cornhusker State Nebraska stattfinden würde. Wetten wurden abgeschlossen auf den Ausgang der Begegnung der Giganten. Die Große Frage war »Wer würde stärker sein?« Verleger schlugen Kapital aus der kostenlosen Publizität. Sie druckten Auflage um Auflage, so rasch wie die ausverkauften Buchläden es verlangten. Riesige Fanclubs bildeten sich, die falsche Bärte und Perücken anboten (wie die von Silverberg!). Die Fans von Asimov neigten dazu, sich als Roboter zu verkleiden, und trugen bei weniger formellen Anlässen Eselsohren. Schluß wie überarbeitet von Dr. Asimov Der große Tag kam. Die beiden Papierschlangen näherten sich einander, hoben die Köpfe und rollten sich zusammen. Einen Tag lang hielten sie zitternd aus in einer Doppelhelix aus Papier, während sich darunter im-
mer mehr Papier anhäufte. Dann zogen sich die zwei Schlangen auseinander, scherten aus, und aus den Molekülen der umgebenden Luft bildete jede eine neue Papierschlange. Wo vorher eine Doppelhelix existiert hatte, gab es jetzt zwei in perfekter Reproduktion. Reporter ließen die Mikrofone fallen. Regierungsagenten ließen die Abhörvorrichtungen fallen. Die amerikanische Öffentlichkeit ließ ihr kollektives Kinn fallen. Im Atlantik und Pazifik stießen die Riesenschreibmaschinen in horrendem Tempo noch immer endlose Ströme Papier aus. Die Tasten einer jeden tippten mit donnerndem Schnappen. Asimov fiel kauderwelschend zurück, Silverberg taumelte jammernd vorwärts. In Nebraska fuhren die Papierschlangen fort, sich zu teilen und zu reproduzieren. Das Monster brauchte seine Frankensteine nicht mehr. Die NASA schätzt, daß in weniger als zwei Moneten die ganze Erde voll Papier sein wird. Vielleicht wird es als nächstes nach dem Mond greifen.
Originaltitel: HALF-BAKED PUBLISHER'S DELIGHT. Aus IF 8/74
Colin Kapp HINAB INS FLAMMENMEER Er schaute, als eine der Stewardessen des Schiffs sich ihm näherte. Er wußte bereits, warum sie kam. »Doktor Lisbon?« »Ja?« »Der Kapitän möchte Sie sprechen.« Es war ihrem Gesicht anzusehen, daß sie eine leise Ehrfurcht für ihn hegte. Nicht jedermanns Bedeutung rechtfertigte es, ein interstellares Linienschiff wegen eines Notfalls aus der Raumkrümmung zu reißen. Noch gab es derer viele im Weltall, die nicht seinen Ruf als ›der Ionenforscher‹ kannten. Peter Lisbon stellte den Gedichtband mit Bedauern zurück in das Bücherregal und folgte ihr. So weit war die Reise angenehm gewesen. Unglücklicherweise würde sie ihr Ende in einer Begegnung mit der Angst finden. Er hoffte, daß ihm sein Schrecken nicht anzumerken war. In der Kabine des Kapitäns wurde er den ranghöchsten Offizieren des Schiffes vorgestellt. Alle waren erfreut, seine Bekanntschaft zu machen, obwohl die Natur seiner Mission nicht erwähnt wurde. Dann wurde er mit einiger Feierlichkeit zur Hangarluke geleitet, wo ihn eine streng funktionale Raumfähre erwartete, die ihn zu dem Observatoriumskomplex, der Mephisto in einer Umlaufbahn umkreiste, bringen sollte. Sie komplimentierten ihn von Bord, als wäre er ein Held. Lisbon empfand Abscheu vor seiner eigenen Doppelzüngigkeit. Er wußte, daß er ein Feigling war.
Als er die finstere metallene Luftschleuse passierte, wurde ihm klar, daß dies mehr war als das Ende einer Reise. Es war auch die Rückkehr in ein Leben, von dem er gehofft hatte, daß es tot und vergessen sei. Zwölf Monate lang war er solchen Episoden und ihren Nachwirkungen entgangen. In dieser Zeit hatte er vermutlich seinen letzten Rest an starken Nerven verloren. Die Fähre machte an die Bequemlichkeit ihrer Passagiere keine Zugeständnisse. Sicherheit und Leistungsfähigkeit waren oberstes Gebot. Er wurde mit grobem Gurtzeug festgeschnallt, und man bedeutete ihm zu warten. Die Warnung kam nicht verfrüht. Die Fähre vollzog eine Serie halsbrecherischer Manöver, als sie von der gigantischen Masse des Linienschiffes abhob, und verlangsamte die Geschwindigkeit, als sie auf die niedrige Umlaufbahn des Raumobservatoriums zufiel. Obwohl er schon hunderte Male zuvor in ähnlichen Situationen gewesen war, war es Lisbon nie gelungen, seine Abneigung dagegen zu bezwingen. Der unmittelbare physische Kontakt mit dem Weltraum war nirgendwo augenscheinlicher als in einer Raumfähre. Er erschreckte und demütigte ihn. Er bewunderte uneingeschränkt die Männer, die den größten Teil ihres Arbeitslebens unter diesen gefährlichen und undankbaren Bedingungen zubrachten. Schließlich näherte sich ihm ein Besatzungsmitglied und salutierte. »Doktor Lisbon – Sie haben vorrangige Landegenehmigung. Würden Sie sich bitte fertig machen und sich sofort beim Projektleiter im Observatorium melden, sobald die Plomben der Luftschleusen kontrol-
liert worden sind.« »Bestätigt!« sagte Lisbon ohne Enthusiasmus. Er befreite sich von den Gurten. Er haßte das Gefühl der Schwerelosigkeit. Die Aufforderung war unnötig gewesen. Er hatte das Erreichen der Umlaufbahn um Mephisto und das Ankoppeln an den Observatoriumskomplex bereits geschlußfolgert. Wenn die Reise auch unangenehm gewesen war, so bedauerte er jetzt doch ihr Ende. Zumindest wenn er sich vorstellte, was ihn erwarten mochte. Er hatte jede Sekunde des Annäherungsvorgangs ausgekostet und versucht, die Sekunden zu dehnen, um noch einige kostbare Augenblicke der Unbeschwertheit zu gewinnen, bevor die Zerreißprobe begann. Karl Reinspringer, der Projektleiter, erwartete ihn im Observatorium. Beide Männer verband eine langdauernde Bekanntschaft und große gegenseitige Hochachtung. Reinspringer, der selbst einmal Flammenreiter gewesen war, kannte die Ängste genau, die sich hinter Lisbons prekärer Pose der Ruhe verbargen. Dieses Wissen schuf ein einzigartiges Band zwischen Flammenreitern. Es war etwas, was Leute, die nicht selbst durch die Ionenbarriere gedrungen waren, niemals richtig verstehen konnten. »Also hast du meine Botschaft erhalten, Peter?« Reinspringers Erleichterung, Lisbon zu sehen, war offensichtlich. »Ein interstellares Linienschiff aus d e r Raumkrümmung zu reißen wegen einer kurzfristigen Kursänderung, deutet auch ohne Botschaften auf große Schwierigkeiten hin. Aber ich kann dir nicht helfen, Karl. Man hat mich vor einem Jahr von der Liste gestrichen.«
»Es gibt gute Flammenreiter und außergewöhnliche.« Reinspringers kahler Schädel bekam einen grünlichen Schimmer vom fluoreszierenden Licht der Instrumententafel. Es sah fast so aus, als wäre der Kopf selbst mit Flaschenglas überzogen. »Die guten, die ich hatte, waren Mephisto nicht gewachsen. Jetzt brauche ich einen außergewöhnlichen, um sie herauszuholen.« »Ich habe es dir gesagt, Karl – ich bin aus dem Verkehr gezogen worden. Ausgestrichen.« »Meine Ohren haben dich gehört, aber mein Gehirn will nicht ganz folgen. Zwei meiner besten Leute befinden sich in ionisiertem Zustand auf der Oberfläche. Sie sitzen in der Patsche – und ich habe alle vier Männer des Rettungsteams, das sie herausholen sollte, verloren. Jetzt sind sechs Leute dort unten, Peter, und ein paar von ihnen könnten noch am Leben sein. Es kümmert mich einen Dreck, daß du von der Liste gestrichen bist. Ich will, daß du hinuntergehst und etwaige Überlebende birgst.« »Wieso glaubst du, ich könnte Erfolg haben, wo das Rettungsteam versagt hat?« »Weil Überleben im Ionen-Weltraum bei dir nicht bloß Gewohnheitssache ist – sondern ein Instinkt. Darum hast du es geschafft, der älteste Flammenreiter zu werden.« »Du weißt, warum sie mich gestrichen haben?« »Sie sagten, du würdest anfangen, schlechte Eintritte in den Ionenraum zu haben. Sieh mal, Peter, ich habe jahrelang mit dir zusammengearbeitet. Ich weiß, daß du immer schlechte Eintritte hattest. Darum geht es nicht. Auf die Austritte kommt es an – die Fähigkeit zurückzukehren.«
»Erzähl mir von Mephisto«, sagte Lisbon unglücklich. Lisbons erster Ausblick auf Mephisto war überwältigend. Hinter den Sichtöffnungen des Observatoriums hing der riesige, von Flammen umzüngelte Ball Mephistos. Selbst aus der Entfernung der Umlaufbahn füllte er den größten Teil des sichtbaren Himmels aus. Er hing dort draußen, gewaltig, schrecklich und rätselhaft – wie ein gigantisches Kohlenfeuer, das im Weltall schwebte. Wenn man in diesen großen Kessel blickte, war es nicht schwer sich vorzustellen, die Hitze fühlen und das Zischen und Heulen der Flammen hören zu können. Dieses Gefühl berührte einen quälenden Impuls in den primitiven tiefverwurzelten Instinkten des Menschen. Dennoch würde die Wirklichkeit im Ionen-Weltraum zweifelsfrei erweisen, daß selbst diese Ängste noch als Untertreibung anzusehen waren. Zu heiß, um ein Planet zu sein, viel zu kalt für eine Sonne Mephisto war ein kosmisches Rätsel. Er hatte keinen Platz im Hertzsprung-Russel-Diagramm. Er ließ sich in keines der bekannten Klassifizierungsschemata einordnen, weder was den Typ noch was die Natur seiner Reaktionen anbetraf. Vielleicht war er eine Rückentwicklung zu einem Materiezustand, der existiert hatte, bevor das Universum entstanden war. Oder vielleicht war er eine Laune der Evolution, ein Ding jenseits des Schicksals von Zwerg- und Neutronensternen. Vielleicht war er auch etwas ganz anderes. »Ich weiß, was du denkst, Peter«, sagte Reinspringer und trat hinter ihm hervor. »Du fragst dich, was
uns besessen hat, daß wir Leute dort hinunter geschickt haben.« »Ich habe schlimmere Höllen gesehen«, sagte Lisbon. »Aber zumindest waren ihre physikalischen Eigenheiten gut bekannt, bevor jemand hineinging. Wie kommt es, daß dein Team so unvorbereitet hinunterging?« »Offen gesagt, wir konnten ihnen die Antworten nicht geben. Mephisto ist ein Rätsel. Vier Jahre lang haben wir hier gehockt, ihn angestarrt und theoretisiert. Zu guter Letzt mußte jemand das Risiko einer Landung auf sich nehmen, selbst bei einem solchen Durcheinander von Unbekannten.« »Wer war beim ersten Team?« »Andre Beriov und Loya Tremain.« »Beriov ist ein guter Mann. Erstklassiger theoretischer Physiker. Aber als Flammenreiter halte ich ihn für nicht so gut. Was Loya angeht – ich dachte, ich hätte ihr beigebracht, sich nicht auf derartige Risiken einzulassen.« »Sie ist auf Sonnenfackelarbeit spezialisiert. Ist das nicht Empfehlung genug?« »Es gibt einen gottverdammten Unterschied zwischen der Art, wie man mit Sonnenfackeln umgeht, und wie man das auf den Ionenbrei anwendet, der auf Mephisto herrscht. Auf interstellaren Reisen hat man nicht das Problem, wie man seine Ionenidentität wechselt, um sich fortbewegen zu können. Was ist mit dem Rettungsteam? Waren das keine erfahreneren Leute?« Reinspringer biß sich auf die Lippen. »Alles neue Gesichter vom TEC. Spitzenabsolventen des Umgebungstrainings mit einiger Erfahrung in Sonnenarbeit.«
»Ich finde es irritierend, daß man soviel Wert auf Sonnenarbeit legt. Was immer er sein mag, Mephisto ist keine Sonne.« Reinspringer runzelte die Stirn. »Willst du damit sagen, daß ich das falsche Team geschickt habe?« »Das Team war in Ordnung. Mephisto ist falsch.« Lisbons Arm umfaßte in einer Geste die große Kugel, die den Himmel ausfüllte. »Ich habe ein wenig die Wechselwirkungen zwischen diesen Flammen dort unten studiert. Die meisten Reaktionen ergeben einen Sinn, aber einige haben eine eigentümliche Chemie, die nicht in den Büchern steht.« »Deswegen unser anfängliches Interesse für Mephisto.« »Sicher – aber was passiert, wenn ein Flammenreiter zufälligerweise eines dieser parachemischen Elemente als Identität benutzt? Welche Sorte Chemie soll er anwenden, um da wieder herauszukommen?« Reinspringer war beeindruckt von Lisbons schnellem Erfassen des Problems. »Es war ein kalkuliertes Risiko. Bedauerlicherweise sieht es so aus, als hätten wir unsere Vorarbeiten nicht allzu gut gemacht.« Lisbon fühlte einen Kloß im Hals, der ihm die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Er wußte instinktiv, wann ein Risiko unannehmbar war. Im Ionenraum hatte ihn sein Instinkt öfter sicher zurückgebracht als sein Training oder die Erfahrung. Wäre er von Anfang an bei dem Projekt gewesen, davon war er überzeugt, säßen jetzt nicht sechs Seelen dort unten in diesem Vorhof zur Hölle. Gewiß hätte ihn bei solch unvollständigem Wissen über die Umgebung nichts dazu gebracht, selbst einen Abstieg zu wagen. An diesem Punkt wurde ihm die Entscheidung je-
doch abgenommen. Ungeachtet des Risikos war es seine Pflicht, hinunterzugehen und den Beistand zu leisten, den er geben konnte. Die Vorahnung, daß er in eine solche Situation hineingeraten könnte, war schuld gewesen an seinen Alpträumen, die wiederum verantwortlich waren für die Serie von schlechten Eintritten, welche schließlich dazu geführt hatte, daß er aus dem IEC-Register gestrichen worden war. Insgeheim war er darüber froh gewesen. Die Alpträume hatten zwar nicht aufgehört, aber es bestand nicht mehr die Gefahr, daß sie eines Tages Wirklichkeit würden. Das war, bevor Reinspringer ihn aus einem Raumschiff mitten im Übergang hatte holen lassen, damit er in einem Notfall Hilfe leistete ... Als er um drei Trommeln bat, brachten sie ihm drei, eingepackt in schimmernde Vakuumbehälter. Jede einzelne war mehr wert, als Lisbon zeit seines Lebens verdienen konnte. In der staubfreien, sterilen Atmosphäre der Vorbereitungsräume nahm er die schönen achtflächigen Instrumente aus ihrer Verpackung und untersuchte sie sorgfältig. Sie waren richtig eingestellt und in tadellosem Zustand. Seine Finger strichen liebevoll über die Membranen, um ihre Empfindlichkeit zu prüfen. Durch das dreifache Glas der Kontrollraumfenster beobachtete Reinspringer besorgt sein Hantieren, wagte aber nicht einzuschreiten. Schließlich war Lisbon befriedigt und nickte zustimmend. Reinspringer druckte die Spektralanalyse des Gases in der Ionisationskammer aus, das der Flammenreiter als Ausgangsidentität gewählt hatte. Blaugrünes Argon. Lisbon lehnte sich auf der weichen Couch zurück, die kostbaren Trommeln fest an
sich gepreßt. Er war so bereit zu gehen, wie er es je sein würde. Er näherte sich dem Punkt, den er am meisten zu fürchten gelernt hatte. Der Übergang in die Ionenidentität. Die Metamorphose selbst war relativ einfach; sich psychisch darauf einzustellen, war eine andere Sache. »Wie fühlst du dich?« Reinspringers Stimme klang metallisch hart durch die Sprechanlage. »Elend!« sagte Lisbon. »Hast du etwas anderes erwartet?« Der Satz war nicht humorvoll gemeint. Trotzdem lachten alle, was die fühlbare Spannung für einen Moment linderte. Lisbon stählte sich für die Aufgabe, die vor ihm lag. Er hoffte, es war ihm nicht anzumerken, daß er nicht länger daran glaubte, er könne die moralische Kraft aufbringen, die Belastungen durchzustehen, ohne zusammenzubrechen. Wenn er erst einmal sicher durch die Ionenbarriere gekommen war und sich zwingen konnte, die Situation zu akzeptieren, würde er sich besser fühlen – würde er eher mit den Problemen, die sich stellten, fertig werden als jetzt. Im Rückblick sah es immer wie eine Herauforderung aus. Aber vorher ... Als die Elektrodenkäfige sich um ihn schlossen, fragte er sich zum millionensten Mal, warum er ausgerechnet Flammenreiten zu seinem Beruf gemacht hatte. Es war eine sinnlose Frage. Seine erste Reise im Zustand der Ionenidentität hatte ihm so phantastische und vielfältige Perspektiven eröffnet, daß ihm keine andere Wahl geblieben war. Nachdem er dies einmal ausgekostet hatte, hatte es für ihn keinen anderen Weg gegeben. Tief in der menschlichen Psyche verwurzelt gab es
Faktoren, die in der molekularen Welt nur schattenhafte Entsprechungen hatten. Herausforderung, Erregung und völliges Aufgehen mit der Umwelt waren Worte, die wenig aussagten über das, was ein Flammenreiter empfand. Es gab einfach keine Begriffe, die die Totalität der Wahrnehmungen, die jeder Ionenforscher so gut kannte, auch nur annähernd beschrieben hätten. Das änderte jedoch nichts daran, daß jede Reise in den Ionenraum ein Wagnis war. Mephisto versprach das gefährlichste von allen zu werden. Selbst ein so hochtrainiertes und erfahrenes Team wie das, das Reinspringer hinuntergeschickt hatte, war seiner Aufgabe nicht gewachsen gewesen. Die lange Liste allein der bekannten Gefahren lag Lisbon wie ein Stein im Magen. Über die, die unvermeidlicherweise noch unbekannt waren, wagte er nicht einmal zu spekulieren. Schließlich waren die letzten Vorbereitungen getroffen. Durch das Kontrollraumfenster signalisierte Reinspringer, daß die letzten Kontrollen beendet waren. Wie jedesmal, wenn die Luft abgepumpt wurde, klangen die Geräusche im Raum seltsam gedämpft, nur das scharfe Klicken der Pumpen war unvermindert zu hören. Lisbon sammelte seine Kräfte und wartete darauf, daß der Übergang anfing. Er vermied es, die Gesichter am Fenster anzuschauen. Er wünschte, sie würden ihn nicht beobachten. Das erste Stadium der Transionisierung war immer ein bißchen wie eine Hinrichtung. Glücklicherweise war die Übergansperiode kurz. Wenn das Feld erst einmal sein Maximum erreicht hatte, war kein Körperteil mehr in der Lage, Schmerz
zu übermitteln oder zu empfangen. Innerhalb einer Pikosekunde wurde sein Körper vollständig zerstört und dann wiederaufgebaut, umgeformt zu einem empfindungsfähigen, gasförmigen, plasmatischen Zustand, wo die Elektronen ihre Kreisbahnen verließen und sich Ionen bildeten. Desorientierung ... das Trauma der Vernichtung und Wiedergeburt ... Schwindelgefühl. Besonders Schwindelgefühl. Noch Sekunden zuvor hatte er auf der Couch gesessen. Nun war die Couch verschwunden. Observatorium und Couch waren bereits Tausende von Kilometern über ihm. Zwischen ihm und dem Schmelzofen am Himmel war – nichts. Er war substanzlos, ein lebensfähiges Plasma in einem Vakuum, das noch zu leer war, als daß der gebündelte Mikrowellenstrahl in der Lage gewesen wäre, einen Schimmer sichtbaren Lichts hervorzurufen. Er fiel ... Der Fall war schrecklicher als in seinen schlimmsten Alpträumen. Und es würde kein Kopfkissen da sein, mit dem er sich bedecken konnte, wenn die Furcht die Grenze dessen, was er ertragen konnte, überschritt. Er würde einfach weiter fallen. Panik stieg in ihm auf, und er bekämpfte sie, wie er es viele Male vorher getan hatte. Es gab nichts in ihm, das einer Beherrschung der Situation fähig gewesen wäre. Er würde weiter in das Feuer unter ihm fallen und ein untergeordneter Bestandteil dieses fremdartigen Schmelzofens werden. »Nimm dich zusammen, Peter!« Reinspringers Stimme klang eindringlich über den Strahl. Lisbon fragte sich, ob er geschrien hatte oder
ob der Projektleiter richtig geschlußfolgert hatte, was in ihm vorging. Wahrscheinlich traf letzteres zu. Lisbon griff verzweifelt nach diesem Bindeglied mit der Normalität. Dankbar fühlte er die Beherrschung zurückkehren. Er war durch! »Alles in Ordnung, Karl. Bloß ein schlechter Eintritt.« »Ich will dir mal was sagen. Dein Eintritt war nicht schlechter als der der anderen. Ihnen erging es genauso, als ihnen klar wurde, worauf sie sich eingelassen hatten.« Lisbon gab keine Antwort. Das ungeheure Inferno unter ihm nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Reinspringers Aufmunterungsversuche waren jetzt nebensächlich. Er begann erste Spuren von Helium zu erkennen, die aus dem äußersten Rand von Mephistos Atmosphäre aufstiegen. Er tastete nach den Trommeln und fand sie beruhigend nahe. Das Annehmen der Ionenidentität in einer eigens dafür ausgesuchten Trainingsumgebung war eine Sache. Eine andere war es, kopfüber durch den Weltraum auf einen Hexenkessel wie Mephisto zuzustürzen. Lisbon mußte sich ständig in Erinnerung rufen, daß die gewaltige Anziehungskraft des Planeten – oder war er eine mißgebildete Sonne? – für ihn nicht notwendigerweise eine unentrinnbare Gravitationsfalle darstellte, jetzt, da er ein geeignetes Ionenstadium angenommen hatte. Umgekehrt war es ihm unmöglich zu vergessen, daß selbst die Theoretiker sich darüber uneins waren, was Mephisto nun eigentlich darstellte. Er fühlte den leichten Stoß des Mikrowellenstrahls
und korrigierte den Kurs. Reinspringers Hand an den Steuergeräten im Observatorium weit über ihm war eine ständige Ermahnung, daß Sachlichkeit lebenswichtig war. Nicht einen Moment lang durfte er vergessen, daß er ein Geschöpf war, dessen normale Identität eine molekulare war – der sogenannte Zustand der Mol-Identität. Ionenidentität war ein vorübergehender und künstlich geschaffener Zustand. Ihr Vorteil war, daß eine plasmatische Identität unter Bedingungen existieren konnte, die kein normales Lebewesen überleben würde. Die Kehrseite war, daß ein Bewußtsein in ionisiertem Zustand sich leicht im Universum verlieren konnte. Rasch erreichte er die Strahlungszone von Mephistos äußerer Atmosphäre. Hier war es notwendig, seinen Körperkomplex zu verdichten, um ein Abtrudeln lebenswichtiger Ionen zu vermeiden. Glücklicherweise verstand er sein Handwerk. Mit Leichtigkeit behielt er eine ausreichende Plasmakohäsion bei und durchquerte sicher und ohne übermäßig zu ermüden den gefährlichen Strahlungsgürtel. Es gab andere Strahlenzonen weiter unten, aber die meisten von ihnen würden nicht so schwierig und gefährlich sein. Es gab keine ernstzunehmende Gefahr, in unkontrollierbare Plasmareaktionen hineinzugeraten, abgesehen von der M1- und M2-Schicht. Als er auf dem Mikrowellenstrahl durch die zunehmend dichter werdende obere Atmosphäre entlangritt, gewann Lisbon mehr und mehr die Geschicklichkeit zurück, mit der er im Ionenraum zu operieren verstand. Lisbon begann erste Anzeichen sichtbarer Strahlung zu erkennen, die seinem Ionenkörper und den Trommeln Umriß verliehen. Die In-
tensität des Strahls, auf dem er entlangritt, machte es ihm leichter, die fein verteilten Atome zu identifizieren, die in dem ständig dichter werdenden Vakuum vorkamen. Von hier an mußte er sehr auf der Hut sein. Er würde jeden Splitter Information, den er sammeln konnte, benötigen, wenn er jemals lebend zum Observatorium zurückkehren wollte. Lisbon war ein konservativer Mensch. Erfahrung und Alter hatten ihn gelehrt, daß Vorsicht sich auszahlte. Er hatte auf Beweglichkeit im Ionenraum zugunsten des für seine chemische Inaktivität bekannten Gases Argon verzichtet. Steigende Ionisierung ließ ein blaugrünes Plasma entstehen, das, obwohl es mit dem hellen Glanz von ionisiertem Natrium nicht konkurrieren konnte, nichtsdestoweniger gut genug unterscheidbar war, um eine Beobachtung seiner Reise durch die Teleskope des Observatoriums zuzulassen. Die Stabilität der Wellenlängen seiner eigenen Leuchtgestalt gab ihm einen Bezugspunkt, an dem er die spektralen Botschaften anderer Substanzen, an denen er interessiert war, zu messen versuchte. Solche Abschätzungen ohne die Zuhilfenahme von Instrumenten waren seine Spezialität. In vielen Fällen hatte ihm diese Fähigkeit das Leben gerettet. Seine Reise durch die zunehmend dichter werdende Ionosphäre Mephistos wurde mehr und mehr zu einem Triumphzug für ihn. Die fokussierten Mikrowellen der Laser des Observatoriums schufen ein breites Band der Leitfähigkeit und setzten ihn in ein flackerndes Licht, das örtlich leuchtender war als Mephistos eigene Strahlung. Für einen Moment verspürte er einen Anflug purer Heiterkeit, als er aus
dem Himmel fiel. Als er auf die M1-Schicht traf, nahmen die Dinge eine entschieden ernstere Wendung. Reinspringer, der seinen Kurs mit dem Spektroskop verfolgte, stieß eine hastige Warnung aus. Der Mikrowellenstrahl würde wahrscheinlich erhebliche Schwächungen hinnehmen müssen, was der Absorption durch aufsteigende Gaswolken zuzuschreiben war. Die Sprechverbindung zur Basis würde in Zwischenräumen aufrechterhalten werden können, aber was das lonisierungspotential anging, würde Lisbon seine Energie direkt von den auf Mephisto vorhandenen Quellen beziehen müssen. Dies war ein erstes deutliches Anzeichen dafür, daß die Rettungsaktion in Schwierigkeiten geriet. Lisbon war weit davon entfernt, zufrieden zu sein. Die Übernahme einheimischer Ionen- und Energiequellen war zwar ein übliches, aber mangelhaft erforschtes Hilfsmittel und sicherlich keines, auf das man in einer so frühen Phase zurückgreifen sollte. Es war eigentlich nur zulässig, wenn der Flammenreiter genaue Kenntnis der Abfolge der chemischen Ionenreaktionen hatte. Normalerweise wurden solche Abfolgen geplant und durchgespielt, so daß der Flammenreiter in der Lage war, die gewählte Route optisch zu überwachen, indem er sich ausschließlich nach der Farbe der Flammen richtete. Wenn der Schlüssel zur Identifizierung von Elementen jenseits des Sehbereichs des menschlichen Auges lag, wurde gewöhnlich Hilfestellung von den Breitbandspektrokopen des Observatoriums gegeben. Im gegenwärtigen Fall würde zuverlässige Sprechverbindung mit dem Weltrau-
mobservatorium bestenfalls gelegentlich zustande kommen. Schlimmstenfalls würde sie vollkommen ausbleiben. Lisbon war zuversichtlich, die meisten Elemente im Spektralbereich zwischen vierhundert und siebenhundert Nanometern zutreffend bestimmen zu können. Aber ohne Bestätigung durch die Spektroskope gab es reichlich Gelegenheit, Fehler zu machen. Der Bereich des sichtbaren Spektrums war zu eng, um zu mehr als partieller Orientierung zu dienen. Die schlimmste Aussicht war, daß Mephisto chemische Verbindungen – und selbst Elemente – zu beherbergen schien, die auf der Erde unbekannt waren. Es hatte quälende Ausblicke auf eine komplette Liste von neuen Elementen mit stabilem Kern gegeben, die jenseits des vom Fabeln umwobenen ›Meeres der Instabilität‹ lag, das die Grenzen der in der Natur vorkommenden und von Menschenhand erzeugten Elemente markierte. Es gab sogar Hinweise auf eine spiegelbildliche Verkehrung des bekannten periodischen Systems, eine wohlgeordnete parachemische Serie mit Eigenschaften jenseits aller Spekulation. Beim Passieren der M2-Schicht wurden Reinspringers Befürchtungen vollauf bestätigt. Aufsteigende Gase, die teilweise ionisiert wurden, riefen phantastische morgenrotähnliche Schleier hervor, die von Mephistos Magnetfeldern zu merkwürdigen Vorhängen gewebt wurden. Die Fluktuationen dieser instabilen Schichten verursachten wahllose Schwankungen des Mikrowellenstrahls. Lisbon konnte mit eingeschränkter Sprechverbindung fertig werden, aber der Verlust der Energiequelle, die der Strahl für ihn bedeutete, war in einem so frühen Stadium wirklich ei-
ne Gefahr. Zur Durchdringung der Chemosphäre benötigte er ein ausreichendes Ionisierungspotential, das es ihm gestattete, den Zusammenhalt des Plasmas, das seine Identität ausmachte, zu gewährleisten. Wenn der Strahl in dem Moment, wo er auf die Chemosphäre traf, ausblieb, würden seine Ionen vermutlich weit über den Globus verstreut werden, was gleichbedeutend wäre mit seinem Tod. Das Haupthindernis bildete die hydroxyle Zone. Hier offenbarte sich Lisbons gewohnter Vorausblick, den er bewiesen hatte, als er eine Argonidentität gewählt hatte. Argon besaß keine hydroxyle Radikale, über die man hätte beunruhigt sein müssen. Er durchquerte die Chemosphäre in einem günstigen Augenblick maximaler Strahlintensität. Welches Glück er gehabt hatte, wurde augenblicklich durch ein drastisches Ausbleiben des Strahls unterstrichen, nur Sekunden, nachdem er den sicheren Durchbruch gemacht hatte. Von diesem Punkt an würde er gezwungen sein, seine Identität aus den Ionen der unteren Atmosphäre auszuwählen und das lebenswichtige lonisierungspotential aus den Energiequellen Mephistos zu beziehen. Er war nun befreit von den Beschränkungen des Strahls und würde in der Lage sein, jedes Element zu bewohnen, das die geeigneten angeregten Verhältnisse aufwies, die nötig waren, um Identität und Empfindungsvermögen aufrechtzuerhalten. Dies hätte eigentlich ein befreiendes Erlebnis für ihn sein sollen. In diesem Fall war es jedoch die tödlichste aller technologischen Fallen. Ohne gesichertes Wissen über die chemischen Reaktionsabläufe, die hier im Spiel waren, konnte er nur allzu leicht ein Gefangener der
verwirrenden Vielfalt der auf keiner Karte verzeichneten Ionenfluten werden. Wenn er sich darauf einließ, mochte es keinen Weg zurück geben. Lisbon entschloß sich anzuhalten und sich über die Situation klarzuwerden. Die aufsteigende Strahlenflut versorgte ihn mit genügend Energie, um seine Identität während des periodischen Ausbleibens von Reinspringers Strahl intakt zu erhalten. Der Ausblick unter ihm zog ihn in seinen Bann. Gigantische federartige Wolken vielfarbiger Flammen sprangen von Mephistos Oberfläche in die Höhe und wurden Dutzende von Kilometern weit in die Atmosphäre geschleudert. Unterhalb der Wolken war ein wahrhaftiger See aus vielfarbigem Feuer, der in dem Wechselspiel fremdartiger Reaktionen brodelte und wallte. Als die Strahlintensität wieder ausreichend war, übermittelte er Reinspringer einen kurzen Bericht, in dem er die phantastischen Abgründe und Gebirgsketten aus Feuer unter ihm beschrieb und klassifizierte. Wo es möglich war, fügte er provisorische Identifizierungen der reagierenden Elemente hinzu, wie er sie von der Farbe der ionisierten Spektren her einschätzte. Dabei war er sich der Beengtheit des Fensters, durch das das menschliche Auge beobachten konnte, bewußt. Wenn der Strahl ausblieb, hing er im Raum und überlegte, wie er seine begrenzten Ressourcen am sinnvollsten für den Rettungsversuch einsetzen sollte, von dem er jetzt sicher war, daß er fehlschlagen würde. Schließlich entschied er, daß es Zeit war aufzubrechen. Reinspringer hatte alle nützlichen Daten aufgenommen, und es gab nichts, was durch weiteres Ab-
warten gewonnen werden konnte. Indem er den Pfad, den der Strahl schuf, als Wegweiser nahm, machte sich Lisbon auf den Weg hinab zu dem jetzt verlassenen ›Lagerplatz‹. Dies war ein Plateau aus solidem Felsgestein, etwa dreihundert Meter lang und ungefähr fünfzig Meter breit. Der Ausdruck Lagerplatz war ein wenig schmeichelhafter Scherz. In Begriffen des Mol-Universums hatte er eine Temperatur, die ausgereicht hätte, ihn vor Hitze kirschrot werden zu lassen, und seine geborstenen und rissigen Ränder wurden periodisch von Flammen weißglühenden Wasserstoffs leergefegt. Für die Flammenreiter war er jedoch ein nützlicher Treffpunkt gewesen und eine Basis, von der aus man sich orientieren konnte. »Wie ist die Lage auf der Oberfläche, Peter?« Reinspringers Stimme wurde von Störungen überlagert und gedämpft. »Schlimm!« sagte Lisbon. »Um mich herum erheben sich Flammen wie Gebirgszüge. Ich habe keine Ahnung, ob brennen eine passende Beschreibung des Vorgangs ist, und die Feuer sind sicherlich nicht nuklear in dem Sinn, wie wir den Begriff verstehen.« »Kannst du bis zur Basis der Flammen hinuntersehen?« »Nein. Sie liegt zu weit unten. Und der Glanz ist zu stark an der Oberfläche. Der Lagerplatz ist offenbar der höchste Punkt einer abgesunkenen Gebirgskette. Aber einige der Felsspalten, die ich sehe, müssen um die fünf Kilometer tief sein. Das erzeugt ein unheimliches Gefühl.« Schwindel überkam ihn. Er zog sich von der unsicheren Umrandung des Lagerplatzes, auf der er gestanden hatte, zurück und verwünschte sich wegen
seiner Unfähigkeit, den Höhenkoller zu überwinden. Auf dem Weg hinab auf die Oberfläche hatte er sich in viel größerer Höhe befunden, ohne daß ihm schwindlig geworden war. Er war sich dieser Widersinnigkeit bewußt, aber machtlos, ihrem Zugriff zu entkommen. »Noch keine Anhaltspunkte, was die Reaktionsmechanismen angeht?« Reinspringer war hartnäckig. »Ich sage dir, Karl, es gibt nichts in der Physik, das Mephisto erklärt. Wenn du einen Fingerzeig willst, wonach Ausschau zu halten ist, denk über die chemische Trennung der Flammen nach. Es muß eine Art Mechanismus geben, der die Oberflächenbindung aufhebt. Da ist eine Flamme aus purem Kalzium, die mindestens zwanzig Kilometer hoch ist und die hartnäckig fortdauert, seit ich das Observatorium verlassen habe. Wie erklärst du dir die Entstehung einer Quelle puren Kalziums aus einer Mischung so vieler reaktiver Bestandteile?« »Eine Art Massenspektrometer riesigen Ausmaßes?« spekulierte Reinspringer. »Ich lege das mal unseren Theoretikern vor. Aber was ist mit meinem Ionenteam. Kannst du etwas von ihnen erkennen?« Um diese Frage zu beantworten, stellte Lisbon die Trommeln auf. Niedergekauert trommelte er ein Signal, hielt dann inne, um zu horchen. Es kam keine Antwort. Unverdrossen fuhr er fort, in Intervallen zu trommeln, dazwischen horchte er auf die geringsten Anzeichen einer Antwort. Zusammengekrümmt wie ein Dämon auf einem rotglühenden Felsen in einer wirbelnden Hölle, ließen seine Finger die Trommel in einer Sprache sprechen, die, wenn sie auch von den ätzenden Gewalten rund um ihn herum teilweise ver-
schluckt wurde, dennoch eine große Reichweite hatte. Pämm ... Pämm ... Pämm ... Seine Finger verfielen in einen regelmäßigen Ein-Schlag-Rhythmus. Keine Antwort. Pämm ... Pämm ... Pämm ... Dann Stille. Oder war da ein fernes Echo, während seine Finger über der mikrodünnen Membran zögerten? Pämm ... Pämm ... Pämm ... Irgendwo draußen in der schrecklichen brennenden Wildnis gab eine andere Trommel Antwort. Pämm ... Pämm ... Pämm ... Millionenfach durch Resonanz verstärkt nahm die Antworttrommel das Signal auf. »Ich habe Antwort bekommen«, sagte Lisbon. »Schwach, aber eindeutig.« »Also ist zumindest einer noch am Leben!« Reinspringer schien selbst dafür dankbar zu sein. »Halte den Strahl auf den Lagerplatz gerichtet«, sagte Lisbon. »Ich werde mich entfernen müssen, und ich brauche einen Bezugspunkt. Ich bezweifle, daß du mir mit dem Strahl folgen könntest, wenn ich in die Flammen hinabsteige. Ich lasse ein paar Trommeln im Lager und halte über sie Verbindung mit dir.« »Bestätigt.« Lisbon ließ zwei Trommeln auf dem Fels liegen, nahm die dritte an sich und richtete seine Aufmerksamkeit nach außen. Seine feinfühligen Finger klopften eine Serie fragender Impulse. Dann hielt er die Membran an sein Ohr und horchte auf die Antwort. »Wer ist es?« fragte der Projektleiter. »Andre Beriov. Er ist auf einem Plateau etwa zwei Kilometer unterhalb des Lagerplatzes. Er tauschte seine Identität gegen etwas, das er erst für vierdreißig Nanometer Eisen hielt und dann merkte, daß
das nicht stimmte. Er kann in seiner Umgebung keinen reaktiven chemischen Austausch finden, und die Gastasche, in der er sich befindet, ist statisch. Ich werde hinuntergehen müssen, um zu sehen, ob ich ihn herausholen kann.« »Sei vorsichtig, Peter«, sagte Reinspringer ernst. »Wir können es uns nicht leisten, dich auch noch zu verlieren.« Lisbon schlug die Trommel und erkundete die Nachbarlandschaft um den Lagerplatz. Seine scharfen Ohren und die raffinierte Konstruktion des Instruments ließen ihn rasch die ungefähre Richtung bestimmen, in der Beriov sich aufhalten mußte. Eine gewaltige Luftbö weißglühenden Wasserstoffs fegte hier gegen den soliden Fels und bildete eine scheinbar undurchdringliche Barriere. Lisbon nahm soviel lonisierungspotential auf, wie er erlangen konnte, stemmte sich vorsichtig gegen den rotglühenden Wind und war überrascht, als sich herausstellte, daß seine Geschwindigkeit so gering war, daß er einen leichten Abstieg wagen konnte. Klettern war im Ionenraum nicht dasselbe wie auf der zum Mol-Weltraum gehörenden Erde. Gewicht war eine relative Sache, die hauptsächlich davon abhing, wie dicht das Plasma in der Energiepackung, die seine Identität ausmachte, konzentriert war. Er konnte weite Strecken gefahrlos fallen, wenn es ihm gelang, seine Geschwindigkeit niedrig zu halten. Die Beendigung des Falls war jedoch kritisch, und Trägheitseffekte konnten leicht die Fähigkeit, seine Identität intakt zu erhalten, übersteigen. Wenn physikalische oder thermische Kräfte zu groß wurden, konnten sie Atome von seiner empfindlichen Energieschale
abreißen und sie sehr gründlich in alle Winde verstreuen. Deshalb ging er mit großer Vorsicht zu Werk und nutzte jeden dürftigen Halt, um seinen nahezu gewichtslosen Körper zu stützen, fast in der Manier eines im Mol-Weltraum befindlichen Bergsteigers unter der Schwerkraft der Erde. Etwa zwei Kilometer weiter unten, wo die gewaltigen Feuermassen über ihn hinwegströmten wie vertikale Wände, stieß er auf Andre. In einer Felsspalte war eine Flamme aus violettem Feuer eingeschlossen, und gut sichtbar in dieser Umgebung stand Andre Beriov, der gegen seine Trommel schlug und Ausschau hielt. Sein Gesicht trug einen Ausdruck schwacher Hoffnung. Seine Erleichterung, als er Lisbon erblickte, war grenzenlos. »Dem Himmel sei Dank, daß du gekommen bist, Peter! Ich dachte, ich säße hier bis in alle Ewigkeit gefangen.« »Bleib ruhig«, sagte Lisbon. »Du bist in diese Identität hineingeraten, folglich muß es einen Weg heraus geben.« »Glaub mir, Peter, ich wäre längst nicht mehr hier, wenn ich ihn finden könnte.« »Und du dachtest, deine Identität wäre vier-dreißig Nanometer Eisen?« »Ich habe mein Leben darauf gesetzt.« Lisbon, der noch immer seine Argongestalt hatte, glitt um den Rand der Gastasche herum zu der Stelle, wo die leckenden Zungen mit dem weißglühenden Wasserstoff verschmolzen. Als er zurückkehrte, war sein Gesicht von einem schiefen Grinsen verzogen. »Komm schon, Andre. Du willst mich auf den Arm nehmen.«
»Du meinst, du hast einen Weg gefunden?« »Ja. Du bist überhaupt nicht in einer Eisenidentität. Du bist von deiner eigenen Genauigkeit in Spektralanalyse gefangen worden. Sicher warst du in der vier-dreißig Nanometer Gegend – aber es ist Kalziumidentität, nicht Eisen. Schau dir die roten Ränder an. Die Bandbreite von Eisen reicht nicht weiter als bis zu fünf-zwanzig-sieben. Und außen ist Wasserstoff. Du kannst die Hydridroute direkt zum Wasserstoff nehmen und auf der Flamme bis hinauf zum Lagerplatz reiten. Der Strahl ist auf den Lagerplatz gerichtet; das ist dein Weg zurück zum Observatorium.« Die Unkompliziertheit der Falle, die ihn fast das Leben gekostet hätte, verblüffte Beriov einen Moment lang. Er setzte zu einem Protest an, folgte dann aber den Anhaltspunkten, die Lisbon ihm gegeben hatte, und grinste plötzlich mit großer Erleichterung. »Danke, Peter. Jetzt weiß ich, warum sie dich den ›Ionenforscher‹ nennen. Kommst du mit rauf?« »Noch nicht. Es sind noch fünf weitere von euch irgendwo hier unten. Das Observatorium hat ein Rettungsteam geschickt, als sie von dir und Loya nichts mehr hörten. Mit ein bißchen Glück könnte ich noch einen oder zwei finden, die in keiner schlimmeren Lage sind, als du es warst. Hast du etwas von den anderen bemerkt?« Beriov war betroffen. »Überhaupt nichts, fürchte ich. Nur Loya und ich waren hier unten, als ich in die Falle geriet.« Lisbon sah nachdenklich zu, wie Beriov den Hydridübergang in das Rot der sechs-fünfzig-sechs Nanometer Wasserstoffidentität machte und, mit einem
Winken der Hand, hinaufschoß durch die gewaltige Flamme zur Oberfläche. Beriov war auf dem Heimweg. Wenn Beriov in seinem Beruf weiterarbeiten wollte, würde er einen zweijährigen Auffrischungskurs in Umgebungstraining machen müssen, bevor er einer anderen Expedition zugeteilt werden würde. Lisbons Finger trommelten eine Nachricht für Reinspringer. Er stellte die Verbindung über die Trommeln her, die er im Lager gelassen hatte. »Beriov kommt rauf. Er könnte derjenige sein, der Glück gehabt hat.« Nachdem er dies getan hatte, wandte Lisbon seine Aufmerksamkeit wieder dem Problem zu, die anderen Mitglieder der Expedition zu lokalisieren. Endlose Stunden lang klopfte seine Trommel hinaus in das Reich der Feuer, ohne auch nur einmal Antwort zu erhalten. Während dieser Zeit stieg er langsam an der Felswand hinab. Schließlich erreichte er den Fuß des flammenertränkten Berges, dessen Gipfel den Lagerplatz bildete, und sah neues Territorium vor sich. Wieder war Wasserstoff das vorherrschende Element, aber helle Flammen aus Natrium, Kalium und anderen auf der Erde selten vorkommenden Elementen waren zum Teil reichlich vorhanden. Das Übergewicht der auf der Erde seltenen Elemente erinnerte Lisbon daran, daß die Verteilung der Elemente auf Mephisto verglichen mit dem, was man normalerweise von galaktischen Himmelskörpern zu erwarten hatte, atypisch war. Mephisto war ein Ding für sich und barg zweifellos eine Menge Überraschungen. Auf kein Beobachtungsergebnis, wie schlüssig es auch zu sein schien, war dem äußeren Anschein nach Verlaß.
Auf der anderen Seite des Gebirgszuges stellte Lisbon eine weitere Verbindung her. Seine ständig dringlicher werdenden Trommelbotschaften erhielten eine unerwartete Erwiderung, die zu bestätigen er sich beeilte. Sein Bericht an Reinspringer war knapp. »Kem Radshorn wahrscheinlich in parachemischer Identität gefangen. Rettungsprognose zweifelhaft.« Die neuen Trommelschläge konnten in der tröstlichen Solidität des Lagerplatzberges gut lokalisiert werden. Lisbon wußte, wenn er dieses Gebiet durchqueren wollte, würde er seine kostbare Argonidentität aufgeben und eine Ionenform annehmen müssen, die in dieser Region heimisch war. Er wählte diesen Weg mit großem Widerwillen, wegen der Reaktivität der hier heimischen Ionen und der starken Aussicht, in irreversible chemische Reaktionen hineinzugeraten. Weil ihm anderweitige Unterstützung versagt war, gab es jedoch keinen anderen Ausweg. Schließlich entschied er sich für blauen Wasserstoff bei vier-achtzig-sechs Nanometern, was die in diesem Falle sicherste Wahl war. Der Argon-WasserstoffUmtausch war nicht einfach, weil es keine reaktive Schnittstelle gab. Er mußte hoch in die Atmosphäre aufsteigen, wo die Ionendichte niedrig war, und den Umtausch zur selben Zeit zu einem wirklichen molekularen machen. Unten in der Strömung wäre ein solches Manöver unmöglich gewesen. Die einseitigen Belastungen waren dort so stark, daß die Energie, die erforderlich war, um den schwierigen Prozeß zu steuern, unzureichend gewesen wäre, um seine Identität zu wahren. Es hatte lange gedauert, bis Lisbon in eine gewaltige Wasserstoffflamme hineingeschwommen und ein
Teil von ihr geworden war. Beim Umgebungstraining war es einst sein großes Hobby gewesen, mit den Launen einer solchen beweglichen Fackel auf und ab zu schweben. Jetzt war sogar die Beweglichkeit selbst ein Erschwernis und eine Gefahr für ihn. Nur durch sorgfältiges Beherrschen seiner Plasmaform konnte er die Reise überhaupt wagen. Einen Kilometer weiter draußen stieg eine federartige Wolke gasartiger Ionen auf, deren Schönheit bewundernswert war. Blaue, grüne und orangefarbene Ionenkomponenten tanzten in einer Flamme, deren Pracht bei weitem die relative Durchsichtigkeit von Wasserstoff übertraf. Es war diese Wolke gewesen, von der die Trommelschläge gekommen waren. Sobald er in ihrer Nähe war, stellte er fest, daß einiges nicht stimmte. Weil der Sehbereich nur einen begrenzten Teil des Spektrums umfaßte, sagte ihm seine Intuition, daß kein solches Element existieren dürfte. Dies war eine Chemikalie jenseits des Bereichs menschlichen Wissens. Lisbon, der in einem Meer weißglühenden Wasserstoffs schwamm, machte einen weiten Bogen um diese einzigartige Wolke und untersuchte sie von allen Seiten. Er konnte Verdünnung, aber keine Wechselwirkung mit Wasserstoff feststellen noch konnte er viel über die drei Ionenströme aussagen, die sich dort vermischten. Er versuchte Verbindung zu Reinspringer aufzunehmen und ihn um eine Spektralanalyse der Region zu bitten, aber zweifellos traf er auf eine Periode der Nachrichtenunterbrechung, denn der Projektleiter antwortete nicht, und wahrscheinlich war seine Botschaft gar nicht durchgedrungen. Zweifelnd begann Lisbon einen spiraligen Abstieg
um die Wolke herum und hielt Ausschau nach dem Flammenreiter, dessen Trommelschläge ihm verraten hatten, daß dieser in seinen eigenen feurigen Gliedmaßen gefangen war. Er mußte nahezu einen Kilometer tief fallen, bevor er ihn fand. Kem Radshorn, einer vom Rettungsteam, gehörte zu einem neuen Schlag von Flammenreitern, die gerade das IEC-Training absolviert hatten. Seine Einführung in den Ionenweltraum war sicherlich langatmig und sehr wissenschaftlich gewesen; dabei hatte man bestimmt weitgehend auf den Erfahrungen der älteren Flammenreiter, wie Lisbon einer war, aufgebaut. Lisbon rechnete es dem jungen Flammenreiter hoch an, daß er nicht in Panik geraten war und die Auflösung seines Plasmakörpers riskiert hatte. Statt dessen hatte er sich darauf konzentriert, seine Energieschale intakt zu erhalten, während er versucht hatte, einen Weg durch die widerspenstige Chemie zu finden, die ihn an seine gegenwärtige Lage fesselte. Radshorn beobachtete Lisbon aus seinem feurigen Gefängnis mit beharrlichem Unglauben. Anders als bei Beriov und Loya, die in der Vergangenheit mit Lisbon zusammengearbeitet hatten, war Lisbon für den jungen Flammenreiter nur ein Name in einem Lehrbuch. Radshorn wußte, daß auf Hilfe von seinem eigenen Team kaum zu hoffen war – Hilfe im Ionenraum von einem völlig Fremden grenzte an ein Wunder. Lisbon zog die Trommel eng an sich und fragte: »Wie bist du in diese Identität hineingeraten?« Radshorn deutete nach unten. »Am Boden. Ich hörte Loyas Trommel und folgte ihr. Ich nahm an, ich
ginge in multispektrales Mercurium, aber das kann es nicht gewesen sein.« »Es gab einen Weg hinein. Es muß einen Weg heraus geben.« »Zu der Zeit war da eine Natriumfackel. Ich dachte, Loya wäre irgendwo dort unten und stöberte etwas auf. Ich kam glatt durch die Natriumidentität in diese hier; dann starb die Fackel, und ich konnte nicht mehr heraus. Ich habe seitdem keine reaktive Schnittstelle finden können.« »Ich gehe hinunter, um nachzuforschen«, sagte Lisbon. »Wenn Loya Natrium gefunden hat, finde ich vielleicht auch welches. Wenn du eine Chance siehst, nimm sie wahr. Warte nicht auf mich.« »Verstanden! Wer bist du überhaupt?« »Peter Lisbon.« Der Flammenreiter wartete nicht, um weitere Erklärungen abzugeben. Von irgendwo tiefer unten hörte er den Schlag einer Trommel. Pämm ... Es war nur ein einzelner Schlag. Wenn dort eine Trommel war, würde ein weiterer Flammenreiter nicht allzu weit entfernt sein. Möglicherweise Loya ... Pämm ... Wenn er den Ton richtig deutete, schlug die Trommel eher gegen etwas Solides, als daß sie von einer Hand geschlagen wurde. Er gab rasch Antwort, erhielt aber keine Erwiderung. Er tauchte hinab, aber mit Bedacht, schließlich wußte er nicht, wieweit er gefahrlos fallen konnte, bevor er auf dem Boden auftraf. Dies war eine weise Entscheidung, denn es waren nur zweihundert Meter, bis er auf den Skelettwald stieß.
Der Anblick war so faszinierend und unerwartet, daß Lisbon anhalten mußte. Er befand sich in einem Tal am Fuß zweier weitläufiger Gebirgszüge. Auf dem einen befand sich der Lagerplatz. Die Atmosphäre bestand größtenteils aus weißglühendem Wasserstoff, aber wie sich zeigte, war das Tal von einem Wald aus skelettähnlichen, schwammartigen Bäumen bevölkert, deren aschfahle Oberflächen schwach in jeder Farbe glühten, die das Spektrum hervorbringen konnte. Sein erster Gedanke war, daß dies Felsverwerfungen waren, die von wirbelnden Wasserstoffwinden von dem sie umgebenden Material freigelegt worden waren. Die Regelmäßigkeit ihrer Formen veranlaßte ihn jedoch, nach einer anderen Erklärung zu suchen. Der einzige Gedanke, der ihm kam, war, daß dies lebende, sich reproduzierende Pflanzen waren. Die Vorstellung eigenständigen Lebens unter diesen Bedingungen bedrückte ihn. Er stellte sich ihre Vermehrung eher als Vervielfältigung vor, wie Kristalle wuchsen, denn als Fortpflanzung in der Art lebender Organismen; und schließlich fragte er sich, ob es wohl einen fundamentalen Unterschied zwischen Lebensformen gab, bei denen ein Same die Merkmale dessen, was aus ihm wuchs, bestimmte. Die Grenze zwischen Leben und Nichtleben war in der Tat schmal. Er streifte ein Stück skelettartigen Schwamms, als er an einem Baum vorüberschritt, und löste eine überraschende Fackel aus blauem vier-sechzig-drei Nanometer Neodym aus, die aufloderte, wo die schlaffe, aschenartige Oberfläche des Baums beschädigt worden war. Erstaunt versuchte er es bei einem
anderen Baum und erhielt das Grün von fünfhundertzwanzig Nanometer Cer. Er begann zu vermuten, daß diese Einzelpflanzen sich aus den im Wasserstoffwind in Spuren vorhandenen Verunreinigungen ernährten und daß sie der selektiven Auslese der Ionen fähig waren, die ihre Spezialität waren. Dieser Faktor stellte für ihn keine große Überraschung dar. Pflanzen und Bakterien der Erde waren in der Lage, atmosphärischen Stickstoff zu binden, und viele Arten – einschließlich des Menschen – verarbeiteten Kohlenstoff, Kalzium und viele andere Elemente in ihrer Umgebung. Ionenaustauschharze besaßen ebenfalls einen Selektionsmechanismus. Die Grenze zwischen Leben und Nichtleben war haarbreit und sehr subjektiv. Bisher hatte es kein Signal von der Trommel, die er in der Tiefe gehört hatte, gegeben. Die Flamme, in der Radshorn eingeschlossen war, schien ihren Ursprung in einer Felsspalte nahe des Randes des Gebirgszuges mit dem Lagerplatz zu haben. Er benutzte dieses Luftloch als Ausgangspunkt seiner Suche und bewegte sich darum herum durch den skelettartigen Wald. Er hielt Ausschau nach einem Hinweis, daß ein anderer Flammenreiter hier gewesen war. Nach kurzer Zeit fand er eine Spur. Von jedem der Bäume, an denen er vorbeikam, war ein kleines Stück abgebrochen. Selbst jetzt noch gaben die Bruchstellen ein charakteristisches Leuchten ab – Lithiumrot, Europiumblau, Cergrün und das prächtige Violett von Holmium. Er war sich nicht sicher, ob die Markierungen absichtlich angebracht worden waren oder ob der Flammenreiter, der vor ihm diesen Weg gegangen war, aus reiner Neugierde Stücke von den Bäumen
abgebrochen hatte. Jedenfalls hatte er keine Schwierigkeiten, der Prachtentfaltung aus farbigem Feuer zu folgen. Auf dem Berghang gegenüber des Lagerplatzes veränderte sich die Vegetation beträchtlich. Hier waren die Schwämme weitaus größer und bildeten mißglückte Inseln wie weitläufige skelettartige Äpfel im Schlafrock. Die Natur der von ihnen vorzugsweise absorbierten Ionen hatte sich ebenfalls geändert. Der erste wies eine Bruchstelle mit den flammenden Zungen des Kalziums in Violett und Rot auf. Ein Stück weiter oben an der Bergflanke leuchtete das wunderschöne Purpur von Kalium über einem breiten Kratzer entlang einer Seite der Pflanze. Die offensichtlich willkürliche Natur der Beschädigung und Position des Elements im periodischen System veranlaßten Lisbon innezuhalten und nachzudenken. Er wußte plötzlich, was er suchte – einen Natriumbaum. Als er ihn fand, war es weniger ein Baum als eine Anpflanzung. Ein ganzes Gebiet weißglühenden Felsgesteins war mit den weißen Skeletten vereinzelter Schwämme bewachsen, und einer davon war beinahe vollständig zerstört worden. Bedeutungsvoll, leicht bewegt vom Wasserstoffwind, lag dort eine achtflächige Trommel. Versuchsweise trat Lisbon gegen ein Stück des Schwamms und löste eine prächtige Natriumfackel aus. Dann nahm er die eigene Trommel und richtete eine Botschaft an den Flammenreiter, der in der Feuerwolke oben gefangen war. »Kem – hältst du Kontakt?« »Ich höre.« »Kannst du deine Position aus meinen Trommelschlägen bestimmen?«
»Bestätigung.« »Ich habe eine Natriumquelle ausgemacht. Ich glaube, ich kann aus ihr eine Fackel machen. Du bist über eine Natriumroute in dein Gefängnis hineingelangt, also muß es eine reaktive Schnittstelle mit Natrium geben. Bist du bereit, es zu versuchen?« »Bestätigung. Wird die Fackel an derselben Stelle sein?« »Mit einer Abweichung von einigen Metern.« »Laß mir etwas Zeit, um mich in Position zu bringen. Ich sage dir, wenn ich bereit bin. Hast du eine Idee, worauf ich achten soll?« »Falls du genügend Sauerstoff finden kannst, die hydroxyle Route ist sicherer. Andernfalls geh durch bis zum Natriumhydrid. Aber was immer du versuchst, geh direkt durch zu einer Wasserstoffidentität.« »Verstanden! Ich bin jetzt so weit.« Lisbon betrachtete den zerstörten Natriumbaum und entschied, daß genügend unbeschädigtes Material übrig geblieben war, um eine kräftige Fackel zu gewährleisten. Längsseits war jedoch ein noch größerer Schwamm, der, wie eine Berührung mit dem Fuß ihm mitteilte, Natrium enthielt. Dieser schien noch bessere Ergebnisse zu versprechen und lag glücklicherweise noch näher an der Wolke, die Kem Radshorn gefangen hielt. Auf diese Weise war die Gefahr gering, daß die Fackel außerhalb Radshorns Reichweite liegen würde. Sobald er den gefangenen Flammenreiter in dem Grün und Orange der Wolke sehen konnte, schritt er in die Mitte des Natriumbaumes und begann, ihn mit den Füßen zu zertrampeln. Das war eine Tat, die leichter gedacht als ausge-
führt war. Die geringe Dichte seiner ionisierten Plasma-Identität verlieh ihm kaum genügend Gewicht, um die aschenartigen, leicht zerbrechlichen Schwammfragmente zerstören zu können. Irgendwie gelang es ihm, genügend von ihnen zu zerquetschen und eine breite und hohe Fackel aus Natrium zu erzeugen, die zu einem lebendigen gelben Feuer um ihn herum wuchs und hungrig am Fuß der unbestimmbaren Wolke leckte. So groß waren die Strahlungsgegensätze, daß er unfähig war, den Fortschritt seiner Rettungsaktion zu verfolgen. Seine Erleichterung war groß, als ein paar Augenblicke später Kem Radshorn, jetzt in einer orthodoxen Wasserstoffidentität, neben ihm auftauchte. »Es hat funktioniert! Es hat funktioniert!« Radshorns Erleichterung war geradezu ekstatisch. »Dafür schulde ich dir eine Menge, Peter.« »Vergiß es!« sagte Lisbon. »Du kannst dich am ehesten revanchieren, indem du bei deiner nächsten Tour nicht wieder in Schwierigkeiten gerätst. Und jetzt möchte ich, daß du zum Lagerplatz hinaufgehst und von dem Planeten verschwindest, bevor du von etwas anderem eingefangen wirst.« Radshorns Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Bei allem Respekt, aber ich glaube, ich wäre hier nützlicher, wenn ich dir die anderen suchen helfe.« »Nein. Du wärst nur eine Verantwortung. Dein Training ist zu wissenschaftsorientiert, und es gibt hier zu viele Unbekannte. Die einzige Möglichkeit, mit Mephisto fertig zu werden, besteht darin, bis hart an die Grenzen der eigenen Courage zu gehen. Und das können sie dir in der Trainingsumgebung nicht beibringen.«
»Gewiß!« Radshorn schluckte die Belehrung, ohne sich zu beklagen. »Wahrscheinlich haben wir alle noch einiges zu lernen.« Er verabschiedete sich widerwillig und begann, durch die gewaltigen Wasserstoffflammen hindurch in die Höhe zu schwimmen. Er machte einen weiten Bogen um die unbekannte Wolke, die sein feuriges Gefängnis gewesen war. Lisbon beobachtete, wie er ging, und klopfte auf seiner Trommel eine Botschaft an Reinspringer. »Radshorn auf dem Weg nach oben. Ein paar Theorien über Ionentrennung kommen allmählich zum Vorschein.« Beinahe augenblicklich begann die Trommel mit einer Botschaft des Missionsleiters zu vibrieren. »Gute Arbeit, Peter! Andre Beriov hat zwei weitere Mitglieder des Rettungsteams, die unter Desorientierungsschock standen, in der Nähe des Lagerplatzes gerettet. Nur Loya und Ray Lockett vom Rettungsteam befinden sich noch auf Mephisto.« DESORIENTIERUNGSSCHOCK! Die Neuigkeiten amüsierten Lisbon auf grimmige Weise. Desorientierungsschocks erlitten häufig Anfänger, wenn man sie gemischten Ionenströmen in einer Trainingsumgebung aussetzte. Früher einmal hatte das als ein allgemein akzeptiertes Wagnis gegolten, das eingegangen werden mußte, um den Umgang mit der Ionenidentität zu lernen. Später jedoch, als das Umgebungstraining ausgeklügelter und dem Menschen besser angepaßt wurde, war Orientierungsschock beim Training zu einem seltenen Ereignis geworden. Lisbons Ansicht nach würde jeder Flammenreiter, der
eine sinnvolle Arbeit in natürlichen Ionenumgebungen verrichten wollte, eines Tages einer Situation gegenüberstehen, wo vielfältige Wahlmöglichkeiten ihn desorientieren und seine Sinne überlasten würden. Es war besser, in der relativen Sicherheit der Trainingsumgebung daran gewöhnt zu werden, als in einem potentiell tödlichen und auf keiner Karte verzeichneten Ionenmeer, wie es die Oberfläche von Mephisto darstellte. Der Gedanke gab ihm jedoch eine neue Methode des Herangehens an sein Problem ein. Ein Flammenreiter, der unter Desorientierungsschock stand, war unfähig, auf einen Trommelruf zu antworten. Aus diesem Grund konnte sein Standort nicht auf übliche Weise geortet werden. Der wahrscheinlichste Ort, ein desorientiertes Mitglied einer Rettungsmannschaft zu finden, war die Wasserstoffackel um den Lagerplatz. Bezeichnenderweise war dies der Ort, wo Beriov bereits zwei von ihnen ausgemacht hatte. Lisbon hoffte, die noch fehlenden mit Hilfe eines alten Trommeltricks zu finden. Er ließ sich von der gewaltigen Wasserstoffackel auf den Berg tragen. Vorsichtig reduzierte er die Dichte seines Plasmakörpers, um sich die richtige und sichere Geschwindigkeit zu geben. Er erreichte die Oberfläche in einem ungeheuren Flammengürtel, der rasch in sich zusammenfiel. Früher einmal wäre er überglücklich gewesen, sich in einer Flammenzunge zu befinden, die frei durch die Atmosphäre schnellte. Jetzt war diese Erfahrung für ihn eine Gefahr und eine Störung. Wenn es menschlichen Wesen zugedacht gewesen wäre, wie Flammen zu leben, dachte er, dann hätte der Schöpfer ihnen eine Ionenidentität gegeben. Die willkürliche Aneignung des Io-
nenzustandes war eine der großen Unverfrorenheiten des Menschen, der glaubte, es den Göttern gleichtun zu können. Das Problem war, daß der Mensch sich in kläglicher Weise darüber im unklaren war, wie wenig er über das Universum wußte. Lisbon benutzte den Lagerplatz als Ausgangspunkt seiner Suche. Er ritt auf den riesigen, federartigen Wolken bis zu etwa drei Kilometer Entfernung hinaus. Dann begann er sich in einem weiten Kreis zu bewegen, der den Lagerplatz als Mittelpunkt hatte. Alle Augenblicke hielt er die Trommel ans Ohr und schlug sie mit den Fingern. Pämm ... Pämm ... Pämm ... Die Trommel im Lager wiederholte das Klopfen laut und deutlich. Pämm ... Pämm ... Pämm ... Trommelnd bewegte er sich im Kreis. Er wählte den Weg über die mit gewaltigen Flammen verhangenen Hänge, um soviel Energie wie möglich zu sparen. Als er nahezu die Hälfte des Kreises zurückgelegt hatte, hörte er etwas, worauf er gehorcht hatte. Eine Trommel zwischen ihm und der im Lager verriet die Richtung, in der sie sich befand. Päm-äm ... Pämäm ... Päm-äm ... Systematisch suchte er im Zickzack weiter und arbeitete sich zurück zum Lagerplatz. Weniger als fünfzig Meter davon entfernt fand er den vermißten Flammenreiter. Er hatte gleichfalls einen Desorientierungsschock erlitten. Glücklicherweise war die Energieschale seiner Stickstoffidentität intakt geblieben. Lisbon benutzte die Trommel, um Verbindung mit Reinspringer herzustellen. Er gab die Anweisung,
daß der Mikrowellenstrahl auf seine gegenwärtige Position gerichtet wurde. Die Bewegung des Strahls wurde sofort ausgeführt. Bald eröffnete der breite Energiestrahl einen prächtigen, leuchtenden Weg in den Himmel. Weil der Flammenreiter noch immer bewußtlos war, blieb Lisbon nichts anderes übrig, als die Identitätsschale mindestens bis in die Höhe der Ionosphäre zu schaffen, bevor er sie dem Strahl zur Aufbewahrung übergeben und wo er sie später abholen konnte. Er trat den Weg hinauf mit großem Widerwillen an. Er wußte, wenn er erst einmal die verschiedenen Bänder und Schichten der oberen Atmosphäre überwunden hatte, würde er nur sehr ungern umkehren. Aber Loyas Trommel lag dort unten im Skelettwald am Fuß des Wasserstoffsees. Wenn Loyas Trommel dort lag, bestand die Möglichkeit, daß sie selbst nicht weit weg war. Er durfte und konnte einen erfahrenen Flammenreiter wie Loya nicht aufgeben, solange noch Hoffnung auf ihre Rettung bestand. »Karl – ich hab Ray Lockett hier. Bewußtlos wie die anderen. Ich werde ihn bis in die Ionosphäre hinaufbringen müssen, aber ich komme nicht gleich zurück zum Observatorium. Ich muß noch ein weiteres Mal nach Loya sehen.« Die Absorption durch aufsteigende Gaswolken ließen den Strahl für eine Weile schwächer werden, und Reinspringer wartete mit seiner Erwiderung klugerweise, bis die volle Energie des Strahls wieder hergestellt war. »Ich stimme dir zu, Peter. Radshorn ist in guter Verfassung und drängt darauf, daß man ihm gestattet, dir zu helfen. Ich schicke ihn hinunter. Er kann
Lockett heraufbringen.« »Gute Idee! Und fang damit an, einen Bericht für die IEC-Trainingsexekutive vorzubereiten. Daß drei von vier Rettungsmannschaftsmitgliedern einen Desorientierungsschock erleiden, ist schon beinahe kriminell. Theorie allein genügt nicht. Es ist das menschliche Tier, das trainiert werden muß, den Streß auszuhalten.« »Ich habe die Absicht, noch weiter zu gehen. Ich verlange eine vollständige Katastrophenuntersuchung. Diese Schreibtischtheoretiker daheim haben keine Ahnung von den Bedingungen der Arbeit im tiefen Weltraum. Es ist an der Zeit, daß ihnen jemand Feuer unter dem Hintern macht.« Besänftigt machte sich Lisbon daran, die Probleme des Aufstiegs zu überdenken. Weil Lockett bewußtlos war, gab es keine Möglichkeit, seine Identität gegen eine weniger gefährliche, wie sie beispielsweise ein Edelgas darstellte, umzutauschen. Stickstoff war eigentlich nur angemessen, wenn die Strahlenergie stark genug blieb, um die Identität gegen die hohen Temperaturen und die niedrigen Luftdrücke, die man in den oberen Schichten antraf, zu schützen. Lisbons eigene Wasserstoffidentität war ebenfalls ein Risikofaktor. Die hydroxyle Zone war das Haupthindernis. Wenn der Strahl zur falschen Zeit aussetzen sollte, konnte das Resultat völlige Auflösung bedeuten. Aber es gab keine Alternative. Sie hatten Glück. Durch Zufall fielen die periodischen Schwankungen des Strahls beinahe genau mit ihrem Vorstoß durch die weniger kritischen Zonen zusammen. Durch alle gefährlichen Regionen blieb der
Strahl stark und unverfälscht. In weniger als zwanzig Minuten erreichten sie eine Höhe, die frei war von den meisten der planetenabhängigen Effekte. Lisbon konnte anhalten und die Ankunft Radshorns vom Observatorium abwarten. In der schwachen Ionisierung dieser verdünnten Luftschicht war Radshorn beinahe unsichtbar. Was man sehen konnte, war ein breites Willkommenslächeln auf seinem Gesicht und ein Ausdruck aufrichtiger Sorge, als er den bewußtlosen Kameraden in Obhut nahm. Lisbon stellte erfreut fest, daß der junge Mann sich für eine Argonidentität entschieden hatte. Der Junge war offensichtlich eifrig, solche technischen Raffinessen zu lernen, und dies war ein Trick, den er sehr schnell übernommen hatte. Plötzlich hatte Lisbon ein weniger böses Gefühl, was die Zukunft des Flammenreitens anbetraf. Nachdem er von seiner Fracht befreit worden war, machte sich Lisbon noch einmal an den Abstieg zur Oberfläche Mephistos. Dieses Mal hatte er kein Glück. Seine Wasserstoffidentität war schlecht gerüstet für ein Überleben angesichts solch unzuverlässiger Strahlenergie. Mehr als einmal wurde er nur durch die Launen des Zufalls vor der völligen Auflösung bewahrt. Vollkommen unzufrieden mit seinem Vorwärtskommen, bog er bei der ersten Gelegenheit von dem Pfad ab, den der Strahl schuf, und versorgte sich hungrig mit den willkommenen Energien von Mephistos freigiebigen Feuern. Die kritische Lage, in der er sich befand, ließ ihn seine natürliche Vorsicht vergessen. Wo er Energie finden konnte, nutzte er sie – und baute, als er zum Lagerplatz hinunterschwebte, ein starkes rotes Was-
serstoffplasma auf unter leichtsinniger Vernachlässigung eines möglichen Verschleißes seiner Identität. Über den Strahl hörte er Reinspringer pfeifen. Kein weiterer Kommentar war notwendig. Sie beide wußten, daß Lisbons Vorwärtskommen atypisch für ihn war und durch stärkere Motive als die einer bloßen Rettungsoperation im Ionenweltraum hervorgerufen wurde. Im Lager kniete sich Lisbon wieder über seine Trommeln. Pämm ... Pämm ... Pämm ... Vergeblich sandte er den Ruf hinaus, in der schwachen Hoffnung auf eine Antwort. Pämm ... Pämm ... Pämm ... Trotz allem keine Antwort. Kein Grund anzunehmen, daß es eine geben würde. Er nahm die Trommel, ging zum Rand des Lagerplatzes und schaute hinunter in Richtung auf den Skelettwald, wo er Loyas Trommel gefunden hatte. Pämm ... Pämm ... Pämm ... Wenn jemals ein Finger einem Trommelschlag die Schwingungen besorgter Anfrage verliehen hatte, war dies jetzt der Fall. Er hob das Instrument an sein Ohr und horchte in der Erwartung, nichts zu hören, und wurde von einem einzelnen antwortenden Schlag überrascht. Pämm ... Das war unmöglich, dennoch hatte er es gehört. Vielleicht wurde Loyas Trommel wieder vom Wasserstoffwind bewegt und gegen etwas Festes geschlagen. Vielleicht ... Lisbon wußte, er hatte keine andere Wahl. Er würde
wieder in den Abgrund steigen müssen, hinunter zu dem Skelettwald, und mit aller Verschlagenheit und Geschicklichkeit und Vorstellungskraft suchen müssen, die nur Jahre des Flammenreitens verleihen konnten. In solch einem unendlichen Meer waren seine Aussichten, Loya zu finden, gering, besonders weil sie jetzt ohne ihre Trommel war. Er fühlte sich jedoch genötigt herauszufinden, was ihr zugestoßen war und warum. Flammenreiter wie Loya gingen nicht ohne guten Grund verloren. Die federartige Wolke, die Radshorn gefangengehalten hatte, brannte noch immer hell. Die Natriumflamme, die an ihrem Saum freigesetzt worden war, war jetzt ausgebrannt. Lisbon nahm einen weiten spiraligen Kurs um die Wolke herum, tauchte immer tiefer hinab durch die Wasserstoffflamme und hielt erst an, als die weißen, mürben Knochen des Skelettwaldes unter ihm erschienen. Die beiden zermalmten Bäume waren Zeugen der früheren Anwesenheit von Menschen. Es lag etwas wie ein stummer Vorwurf in der Art, wie diese zwei zerbrochenen Organismen ihr Los erduldet hatten und bereits wieder versuchten, den Schaden zu reparieren. Die Geschwindigkeit, mit der das spröde Flechtwerk erneuert wurde, ließ ihn verwundert innehalten – innehalten –, in wenigen Tagen würden die Wunden vollständig geheilt sein. Wenn das ganze Natrium aus den Spuren im Wasserstoffwind herausgezogen wurde, dann hatte er sowohl seine Konzentration in der Atmosphäre als auch die Leistungsfähigkeit des Absorptionsprozesses, die massive Gestalt des Elements wiederzuerschaffen angesichts einer solch feindlichen Umgebung, falsch eingeschätzt.
Abgesehen von der Trommel gab es keine Hinweise auf das, was Loya zugestoßen sein konnte. Die Beschädigung der Bäume hörte an der Stelle auf, wo der erste Natriumbaum zerstört worden war, in der vergeblichen Hoffnung, er könnte der Fährte in der falschen Richtung gefolgt sein, ging Lisbon den Weg zurück bis zu der Stelle, wo er zuerst gelandet war, und begann dann, das Terrain dahinter zu sondieren. Dieser Weg führte ihn über einen Bergrücken zu einer Stelle, wo der Erdboden allmählich in eine weite Schlucht überging. Der Skelettwald war selbst schon ein Ort der Wunder gewesen, aber diese Schlucht war ein Ort reinsten Entzückens. Von Felswand zu Felswand war jeder freie Raum von skelettartigen Blumen bedeckt, aber von Blumen solch gewaltigen Ausmaßes und wundervoller Proportionen und ätherischer Strahlung, wie Lisbon sich keinen schöneren Ort hätte vorstellen können. Hier, ertränkt unter einem Meer weißglühenden Wasserstoffs, war der Beweis, daß Leben unter Bedingungen überleben und gedeihen konnte, die weit jenseits allem lagen, was er vorher für glaubwürdig gehalten hätte. Er bezweifelte nicht, daß diese Lebensformen ›organisch‹ waren, aber nun ging sein Begriff des Organischen über die erdgebundene, an die Kohlenstoffchemie geknüpfte Bedeutung hinaus. Hier gab es eine vielseitigere Lebensform, die sich in einzigartiger Weise den Bedingungen, unter denen sie sich entwikkelt hatte, anpaßte. Was den Pflanzen die Selektionsfähigkeit verlieh, nur Ionen eines einzigen Elements zu absorbieren, konnte er nicht sagen. Er vermutete, daß es etwas mit den schlaffen, aschenartigen Häuten zu tun hatte. Wenn er die Zeichen richtig las, besaßen
die Pflanzen wahrscheinlich die Fähigkeit, selbst einzelne Isotope eines Elements zu absorbieren, was zu Reinheiten konzentrierter Isotope führte, in einem Ausmaß, von dem man auf der Erde nur träumen konnte. Unter solchen Bedingungen, wo Abströmen und Veredelung miteinander ständig abwechselten, war es für ihn kein Wunder, daß Mephisto seine eigene Chemie hatte. Der beharrliche Druck von Lebensformen, die um einen Platz in der Ökologie wetteiferten, konnte zu bizarren Formen der Spezialisierung führen. Ständiger Rückfluß und Veredelung von Elementen gaben reichlich Spielraum für eine zufällige Verunreinigungsrate von einem auf hundert Millionen Atome, was in einen Bereich jenseits der naiven Zwänge des periodischen Systems fiel. Mephisto führte in einer Sekunde mehr chemische Reaktionen aus, als der Mensch in tausend Jahren vollbringen konnte. Wenn Loya diesen Weg genommen hatte, hatte sie keine Zeichen ihrer Anwesenheit in dieser Schlucht zurückgelassen. Anders als bei der Spur in dem Skelettwald gab es hier keine leuchtenden Wegweiser, denen er folgen konnte. Es war natürlich möglich, daß sie sich dem Wasserstoffwind anvertraut hatte und in die Höhe geschwommen war, um die Szene von oben zu betrachten. Um diese Möglichkeit zu prüfen, schwamm Lisbon hinauf bis zum Gipfel der ›Vegetation‹. Er war verblüfft über ihre Vielfalt, erfuhr aber nichts über das Schicksal oder den Verbleib der vermißten Flammenreiterin. Die Vielfalt begann ihn zu beunruhigen. Irgendwo unterhalb oder in den neuen Wäldern, die er auf fer-
nen Hügeln erkennen konnte, war eine Pflanze oder eine Gruppe von Pflanzen, die der selektiven Absorption eines wirklich jeden Elementes fähig waren, das ein Flammenreiter als Identität benutzen konnte. Die einzige Ausnahme war wahrscheinlich der Wasserstoffträger selbst. Es gab keinen Grund, die Fähigkeit der Pflanzen, das ausgewählte Element aus widerspenstigen Verunreinigungen herauszuzwingen, anzuzweifeln. Was, wenn sie auch die Fähigkeit besaßen, ausgewählte Ionen aus einer Ionenidentität herauszuziehen? Sich selbst verwünschend, weil er nicht schon früher an diese beklemmende Möglichkeit gedacht hatte, ergriff er die Trommel und sandte eine dringende Botschaft an Reinspringer. »Muß Loyas letzte Ionenidentität wissen.« Reinspringers Antwort kam prompt. »Anfrage bestätigt. Wird jetzt geprüft.« Lisbon bewegte sich jedoch bereits durch die Schlucht zurück; seine Miene war düster. Er hatte überlegt, wie die Antwort lauten mußte. Loyas bevorzugte Identität war die klassische D-Resonanzlinie von Natrium. Es bereitete ihr großes Vergnügen, aus dem Himmel herabzubrennen wie ein glorreiches, sonnenbeschienenes Fanal. Die Deutlichkeit des Natriumplasmas war so groß, daß selbst die Strähnen ihres Haars sichtbar zu werden pflegten, wenn sie wie eine goldene Göttin hinabstieg. Er hatte immer den Verdacht gehabt, daß sie Natrium weniger wegen seiner ionischen Eigenschaften auswählte als des prächtigen Glanzes wegen, den es ihrer Identität verlieh. Und Loya war auf einen Natriumbaum gestoßen ...
Abrupt ertönte Reinspringers Stimme. »Loya ging in einer fünf-achtzig-neun Nanometer Natriumidentität hinunter. Andre war der letzte, der sie gesehen hat, und zu der Zeit war sie noch immer in Natrium.« »Das dachte ich mir«, sagte Lisbon. »Wenn sie in Natrium geblieben ist, habe ich nicht viel Hoffnung.« »Kommt in die Aufzeichnungen. Paß auf dich auf, Peter.« Lisbon hatte beinahe den halben Weg durch die Schlucht zurückgelegt, als ein Ereignis eintrat, das Reinspringers Sorge weniger als Platitüde erscheinen ließ. Ohne jegliche Warnung traf ihn eine mächtige Woge hocherhitzten Wasserstoffs von unten. Die Geschwindigkeit der Druckwelle war so groß, daß er wie ein Blatt Papier im Wind hin und her gewirbelt wurde und darum kämpfen mußte, die kostbare Energieschale zu bewahren, die seine Identität enthielt. Es kam noch schlimmer. Der Wasserstoffschockwelle folgte eine massive gelbgrüne Flamme, die er sofort als fünf-vierzig-acht Nanometer Bor identifizierte. Angesichts solch massiver Ionengewalten verteidigte er sich und verlor beinahe den Kampf um seine Wasserstoffidentität. Eine so allumfassende Konzentration war ihm bisher auf keiner seiner Reisen begegnet. Sie deutete darauf hin, daß ein höchst ungewöhnliches Ereignis unter ihm stattgefunden hatte. Vor einer Weile noch war er über die friedlichen und wunderschönen Blumenfelder in der Schlucht dahingeglitten. Nachdem er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, fühlte er sich veranlaßt, zur Quelle des Geschehens
hinabzutauchen, um zu sehen, ob er die Ursache für den gefährlichen Ionensturm feststellen konnte. Das war eine Entscheidung, die ihn fast das Leben kostete. Als er an den Rändern der Borflamme hinabstürzte, wurde er von einer zweiten Fackel verschlungen, dieses Mal aus Sauerstoff, deren Farben von Rot bis Purpur reichten und die explosionsartig mit dem Wasserstoff, in dem er schwamm, reagierte. Glücklicherweise war er knapp außerhalb der Hauptreaktionssphäre, aber die Kraft war ausreichend, um ihn leicht zu erschüttern, und ließ ihn einen Moment lang hilflos auf den Talboden zutreiben. Das Aufsetzen auf solidem Fels trug dazu bei, ihn wieder zur Besinnung zu bringen. Er schaute umher und war verblüfft zu sehen, daß eine weite Fläche dessen, was vorher einmal blumenbewachsene Hügel gewesen waren, von einer gewaltigen chemischen Reaktion völlig vernichtet worden war. Er war zunächst erschüttert und hatte beinahe Angst, nach einer Erklärung zu suchen, geschweige denn hätte er weiterforschen können. Ausgedehnte Flächen, die vorher von Blumen bevölkert gewesen waren, waren blankgefegt worden, und nur die weiße, träge Asche, die noch dabei war, auf die Felsen herabzusinken, gab Zeugnis, daß die Pflanzen je existiert hatten. Die konzentrierten Elemente, aus denen sich die ›Vegetation‹ zusammengesetzt hatte, waren in einer explosiven Fackel freigesetzt worden, die sie zerstört hatte. Der Vorfall lehrte ihn viel über Mephisto. Die Lebensart der Pflanzen war faszinierend genug. Ihre Todesart war traumatisch. An einem Punkt ihrer Entwicklung pflegten die Lebensbedingungen solcherart zu werden, daß eine Reaktion mit der Atmo-
sphäre oder den Nachbarpflanzen unvermeidlich war. Katastrophale Vernichtung war die Folge, wahrscheinlich mit einem ähnlichen Effekt auf die andersartige Vegetation der unmittelbaren Umgebung. Auf solche Weise wurden die hellen Ionenflammen erzeugt, die für die Oberfläche Mephistos charakteristisch waren und das Rätsel schufen. Nun hatte er den Todeskampf einiger von Mephistos phantastischen Pflanzen erlebt. Er wäre gern noch geblieben, um zu sehen, welcher geheimnisvolle Same die Erneuerung brachte. Irgendein primärer Katalysator, vermutlich in der weggeblasenen Asche, würde die Geburt einer neuen Pflanzengeneration auslösen. Aus dieser würden Nachkommen heranwachsen, die aus den Wasserstoffwinden jene kostbaren Elemente herausfiltrieren konnten, für die allein die Saat programmiert war. In diesem Punkt war die Natur um keinen Deut wundervoller oder mysteriöser als auf seinem Heimatplaneten Erde, aber es war eine Lektion im Begreifen des Universums. Das Verständnis des Menschen von der Beschaffenheit des Lebens war in der Tat skizzenhaft. »Alles in Ordnung, Peter?« Reinspringers Stimme wurde von der Trommel übertragen. »Wir haben ein paar große neue Fackeln in deiner Richtung gesehen.« »Ich hatte Glück«, sagte Lisbon. »Ein Teil der heimischen Vegetation hat seine Elite in die Luft geblasen. Ich werde später einen Bericht darüber machen. Aber ich glaube, ich weiß, wie Mephisto funktioniert.« »Noch immer kein Zeichen von Loya?« »Ich gehe gerade zu der Stelle zurück, wo ich ihre
Trommel gefunden habe. Ich habe eine Theorie, was mit ihr geschehen sein könnte. Ich werde versuchen, es herauszufinden.« Als er die Schlucht durchquerte, stellte er fest, daß etwa ein Drittel der Vegetation von der Explosion zerstört worden war. Er konnte nur vermuten, welche chemische Reaktion der Auslöser gewesen war, aber es war klar, daß das Ereignis nichts Ungewöhnliches darstellte. Es war einfach Bestandteil des natürlichen Lebenszyklus. Jenseits der Schlucht, im Skelettwald, war die Lage unverändert. Die mächtigen Schwammbäume, die nur auf Spuren ihrer eigenen charakteristischen Elemente ansprachen, waren unberührt von dem Geschehen geblieben, das jenseits des Bergrükkens stattgefunden hatte. Tatsächlich machten die beiden Natriumbäume gute Fortschritte bei ihrer Regeneration. Lisbon hob Loyas Trommel auf und warf sie mitten in den ersten zerstörten Baum. Sie landete auf einer konvexen Oberfläche und bewegte sich leicht im Wasserstoffwind. Pämm ... Dann nahm er die eigene Trommel und sandte eine letzte verzweifelte Bitte. Pämm ... Pämm ... Pämm ... Er erhielt nichts außer einem einzigen Trommelschlag. Er ließ Loyas Trommel liegen, wo sie in den Baum gefallen war, wandte sich traurig ab und machte sich auf den Weg zurück durch den Wasserstoffsee in Richtung Lagerplatz. Es gab nichts, was er noch tun konnte. Entweder war Loya von dem Baum absorbiert worden oder sie war von der Fackel aufgelöst
worden, die Radshorn eingefangen hatte. Was immer der Fall war, ihre Identität war jenseits alle Möglichkeiten der Wiederherstellung. Im Lager nahm er die Reservetrommel zu seiner eigenen, ließ aber die dritte in einer Felsspalte liegen, wo sie nicht von den Flammenzungen des Wasserstoffwindes erreicht werden konnte. Er wußte, diese Handlung war ein wenig irrational, aber Reinspringer war selbst einmal Flammenreiter gewesen und würde das Motiv verstehen. »Mission beendet«, signalisierte er dem Projektleiter. »Es gibt nichts, was hier unten noch erreicht werden könnte.« »Verstanden«, sagte Reinspringer über den Strahl. »Sei vorsichtig in der Chemosphäre. Dort herrscht ein starker atmosphärischer Ionensturm.« Lisbon wartete, bis der Strahl auf voller Kraft stand, und begann dann seine Reise entlang der Straße, die der Strahl wies, in den Himmel, zurück zu seiner Mol-Identität. Als er über den mächtigen Feuern Mephistos in die Höhe stieg, schaute er zurück und spürte plötzlich keine Angst mehr. Im Rückblick war es eine weitere Herausforderung in einer langen und bemerkenswerten Karriere gewesen. »Loya?« fragte Reinspringer. Er wußte bereits, wie die Antwort lauten mußte, aber er wollte sie hören. »Sie ist gegangen. Keine Hoffnung mehr.« Der Projektleiter sah Lisbon ernst in die Augen, dann wandte er sich wieder dem Bericht zu. Als er die Eintragung ins Logbuch machte, zitterten seine Hände. Das war das einzige äußere Zeichen seiner Anspannung. Dennoch teilte er die Zweifel, die Lis-
bon heimsuchten. Der Projektleiter langte nach dem Fach für die Todesurkunden und begann das schicksalhafte Dokument auszufüllen. Als er zur Hälfte damit fertig war, ließen seine zitternden Finger den Schreibstift fallen, und er schaute anklagend auf seine Hände. Lisbon ging fort. Es gab nichts, was er tun konnte, um Reinspringer zu helfen. Er hatte seine eigenen Gespenster, mit denen er zurechtkommen mußte. Tod im Ionenraum war ein Kunstgriff, dazu bestimmt, die Öffentlichkeit zu beschwichtigen. Er trat nicht wirklich ein. Im Ionenstadium war das einzige Ende Verdünnung – die Zerstreuung der Identitätsionen auf eine so große Anzahl von Trägern, daß sie zu dünn verstreut wurden, um jemals eine Wiederherstellung möglich zu machen. Der Flammenreiter wurde buchstäblich Teil der rastlosen Atmosphäre, die welche fremde Sonne oder welchen fremden Planeten auch immer umkreiste, den sie versucht hatten zu erforschen. Aber was geschah mit dem Bewußtsein? Starben die Glücklosen jemals wirklich? Die Gebräuche verlangten, daß eine Todesurkunde ausgestellt wurde, sobald eine Rettung nicht mehr möglich war. Theoretiker postulierten, daß das Bewußtsein im Verhältnis zum Grad der Verdünnung schwand. Lisbon, mit mehr Erfahrung im Ionenweltraum als jede andere lebende Person, war sich dessen nicht so sicher. Manchmal, wenn er auf einer Rettungsmission war, zusammengeduckt auf einem fremden Planeten, die Trommeln in den Händen, war er sicher, daß er die Stimmen von Flammenreitern hören konnte, die sich vor langer Zeit aufgelöst hatten. Gelegentlich tanzten
fremde Finger einen zögernden Rhythmus auf der Trommel, fremdartige Finger, Pioniere anderer Rassen und aus anderen Zeiten, die in derselben Ewigkeit gefangen waren. In dem ruhelosen Tanz der Flammen, in dem beängstigenden Heulen von Hurrikanen, oder in der Gelassenheit des riesigen Himmels konnte Lisbon sie wahrnehmen. Und was Loya anging, würde die Zerreißprobe sogar noch eine schicksalhaftere Wendung nehmen. Wie ein Phoenix sich immer wieder im Feuer erneuert, würde ihre Natriumidentität von den Bäumen des Skelettwaldes aufgesaugt und angehäuft werden. Und dann, in der Wut eines fremdartigen Sturms, würden ihre Ionen freigegeben werden, um einen neuen phantastischen Tanz zu beginnen mit den Flammen eines Planeten, der kein Planet war. Den Kreis endlos wiederholen. Dies war der Grund, warum er ihre Trommel im Natriumbaum und die andere im Lager zurückgelassen hatte. Irgendwo unten auf Mephisto, das wußte er, war Loya noch am Leben, hoffnungslos verstreut, aber empfindungsfähig. Oder war es nur der Wind gewesen, der ihre Trommel gegen den Baum geschlagen hatte? Es waren Betrachtungen wie diese, die an seinen schlechten Eintritten schuld waren ...
Originaltitel: MEPHISTO & THE ION EXPLORER. Aus IF 8/74