ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 5 von H. Beam Piper Harry Bates Fritz Leiber Walter M. Miller
Ausgewählt und zu...
93 downloads
1252 Views
780KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 5 von H. Beam Piper Harry Bates Fritz Leiber Walter M. Miller
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2804 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN – WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bodo Baumann und Walter Spiegl
ERSTMALS IN DEUTSCHER SPRACHE Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1970 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3548028047
Yat-Zar hatte einen Rivalen bekommen: den Krokodilgott Muz-Azin, mit Fledermausflügeln und Appetit auf Menschenopfer. Im Tempel von Zurb beobachtete man die Entwicklung mit Besorgnis. Wertvolle Schürfrechte standen auf dem Spiel. Ein Wunder war fällig – von Menschenhand geplant und mit Hilfe einer überlegenen Technologie ausgeführt… MACHTKAMPF DER GÖTZEN von H. Beam Piper Für die Wissenschaft hätte Dr. Arthur Allison alles gegeben. Nur mit Frauen wollte er nichts zu tun haben. Aber gerade das verlangte von ihm der Mann vom anderen Planeten – und mit was für Frauen… EIN REST VON GRÖSSE von Harry Bates Der Krieg hatte schreckliche Narben hinterlassen – für alles Sichtbare in der Stadt, aber unsichtbare bei den Menschen… HINTER DER MASKE von Fritz Leiber Seit drei Jahren lebten keine Menschen in der Stadt. Aber noch immer ging abends die Straßenbeleuchtung an und morgens wieder aus, regelten Robotpolizisten den Verkehr, funktionierte eine bis in alle Einzelheiten mechanisierte Verwaltung – gesteuert von einem unterirdischen Computer… DIE STERBENDE STADT von Walter M. Miller
H. Beam Piper MACHTKAMPF DER GÖTZEN
Im wallenden Nebel des Weihrauchs und Altarfeuers saß YatZar im Hintergrund des düsteren Säulentempels und blickte auf das Opfer hinunter. Yat-Zar war ein Götze von gigantischer Größe, ein handwerkliches Meisterstück. Er hatte drei Augen im Kopf – Türkise von der Größe eines Türknaufs – und sechs Arme. In den rechten Händen – von oben nach unten – hielt er ein Schwert mit flammender Klinge, einen mit Edelsteinen besetzten Gegenstand, der vage an einen Penis erinnerte, und ein Karnickel; letzteres bei den Ohren. In den linken Händen – von oben nach unten – hielt er eine Bronzefackel mit blankgeputzten Kupferflammen, ein großes Trinkgefäß und eine Waage, die ein Hühnerei gegen einen Menschenschädel aufwog. Er hatte einen wallenden, zweigeteilten Bart aus Golddraht, Vogelfüße und andere anatomische Eigenheiten, die aus den verschiedensten Bereichen der Tierwelt stammten. Sein Thron stand auf einem ungefähr sechs Meter hohen Sockel, in den vorn eine Tür eingelassen war. Hinter ihm stand ein vergoldeter Wandschirm aus Holz. Unmittelbar vor dem Götzen kniete Ghullam, der Hohepriester, auf einem dicken blau-goldenen Kissen. Er trug ein dunkelblaues Gewand, mit Gold an den Säumen eingefaßt, eine kegelförmige Mitra, ebenfalls aus Gold, und einen falschen hellblauen Bart, der sich unten wie beim Götzen teilte. Er sprach ein feierliches Gebet und hielt mit beiden Händen ein langes, gebogenes Messer hoch, um es dem Götzen zu zeigen und seinen Segen zu erflehen. Ungefähr neun Meter hinter ihm ragte ein
viereckiger Altar aus Stein auf, an dem vier geringere Priester in hellblauen Gewändern und mit dunkelblauen falschen Bärten das Opfer zurechtmachten. Im beträchtlichen Abstand vom Altar – etwa in der Mitte des Tempels – hatten sich die Gläubigen versammelt, alles in allem etwa zweihundert Leute. Ein paar einflußreiche Bürger gehörten dazu, die goldeingefaßte Tuniken trugen; Handwerker in Tuniken ohne Goldbesatz; Soldaten in Kettenpanzern und einfachen Eisenhelmen; ein Offizier mit prächtig vergoldeter Rüstung; Bauern in einfachen Tuchgewändern und Frauen aller Klassen. Sie alle schickten sich an, auf dem Steinboden niederzuknien. Ghullam erhob sich vom Kissen, verneigte sich tief vor YatZar und hielt das Messer weit von sich gestreckt. Rückwärts gehend näherte er sich dem Altar. Ein Unterpriester griff in einen bestickten Sack und zog ein lebendiges Karnickel hervor – ein fettes Tier, das offensichtlich gemästet worden war. Er hielt es bei den Ohren, während ein anderer Priester es bei den Hinterbeinen packte. Ein dritter Priester nahm eine silberne Schale vom Altar, ein vierter fächelte die Flammen mit einem Wedel aus Silberblech. Während sie gemeinsam einen feierlichen Wechselgesang anstimmten, drehte sich Ghullam um und schnitt mit einer raschen Bewegung dem Karnickel die Kehle durch. Der Priester mit der Schall fing das Blut auf, und danach legte man das ausgeblutete Tier auf den Opferaltar. Während das Feuer das Opfer verzehrte, riefen Ghullam und seine vier Assistenten etwas im Chor, und die Gemeinde antwortete. Der Hohepriester wartete gerade so lange, wie es von der Gemeinde offenbar erwartet wurde, hielt dann das Messer wieder mit ausgestreckten Armen vor sich hin, ging im Bogen um das Gebetskissen herum und verschwand durch die Tür in das Allerheiligste unter dem Thron des Götzen. Ein Junge in der weißen Kleidung eines Novizen empfing ihn dort, nahm
ihm ehrfürchtig das Opfermesser ab und wusch es in einem Brunnen. Etwa neun oder zehn Unterpriester, die an einem langen Tisch saßen, standen auf und verbeugten sich vor dem Hohepriester; setzten sich dann wieder schweigend hin und aßen weiter. An einem anderen Tisch saß ein halbes Dutzend Oberpriester. Sie nickten dem Hohepriester nur kurz zu. Ghullam durchquerte den Raum und ging zum Dreifachen Vorhang vor dem Hause des Yat-Zar. Hier durften nur die höchsten Priester eintreten. Er teilte die Vorhänge und stand vor einer vergoldeten Tür. Er suchte etwas unter seiner Robe und zog einen länglichen Gegenstand hervor, der einem Drehbleistift ähnelte. Die Spitze steckte er in eine winzige Öffnung in der Tür und drückte. Die Tür schwang auf und schloß sich hinter ihm von selbst. Sogleich flammte Licht auf. Ghullam nahm die Mitra ab und den falschen Bart, warf beides auf einen Tisch und schlüpfte aus seinem Gewand. Nachdem er Schärpe und Gewand abgelegt hatte, stand er eine Weile in weißem Hemd und Hose da. Eine pistolenähnliche Waffe steckte in einem Schulterhalfter unter der linken Achselhöhle. Er war jetzt nicht mehr länger Ghullam, der Hohepriester des Yat-Zar, sondern Stranor Sleth, Beauftragter der Trans-ZeitBergbaugesellschaft auf dieser Zeittangente der Vierten Ebene des Vorarischen Sektors. Dann öffnete er eine zweite Tür am anderen Ende des Vorzimmers und trat hinein in den AntigravSchacht. Sobald er die Schwelle überschritten hatte, schwebte er sacht nach unten…
Tempel des Yat-Zar gab es auf jeder Zeittangente des Vorarischen Sektors; denn die Verehrung des Götzen Yat-Zar war ein uralter Brauch bei dem Volk der Hulguner, das in diesem Bereich der Para-Zeit lebte. Doch nur wenige Tempel hatten Einrichtung wie die eben beschriebene. Alle diese
Einrichtungen gehörten der Trans-ZeitBergbaugesellschaft, die für Betrieb und Wartung verantwortlich war. Denn die Gesellschaft besaß die Schürfrechte für uranhaltige Erze in diesem Sektor. In den letzten zehn Jahrhunderten, seitdem die Trans-ZeitGesellschaft in diesem Sektor mit dem Erzabbau begonnen hatte, war das Verfahren standardisiert worden. Beauftragte von der Ersten Ebene wechselten auf eine andere Tangente über und entführten einen Oberpriester von Yat-Zar – möglichst den Hohepriester des Tempels von Yolday oder Zurb. Man betäubte ihn und transponierte ihn auf die Erste Ebene, wo er hypnotisiert wurde und ihm geistliche Erleuchtungen widerfuhren. Während er so gedrillt wurde, nahm man an dem Bewußtlosen eine Operation vor, so daß er Töne hören konnte, die weit über dem normalen Hörbereich des menschlichen Ohres lagen. Er konnte später also die schrillen Schreie der Fledermäuse hören oder – was viel wichtiger war – Stimmen, die auf entsprechend hoher Frequenz von der Ersten Ebene aus gesendet wurden. Er wurde auch einer gnädigen Gehirnwäsche teilhaftig, der seine Erinnerung von dem Moment seiner Entführung an löschte. Man entschädigte ihn mit der Erinnerung an einen Besuch im Himmel des Yat-Zar, der natürlich weit hinter dem Horizont am entferntesten Ende der Welt lag. Dann brachte man den Priester wieder zurück auf seine eigene Zeittangente und ließ ihn dort auf einem Berggipfel aufwachen, weitab von seinem Tempel. Dort fand ihn dann prompt ein unbekannter Bauer, der seinen Esel vor sich hertrieb. Dieser Bauer brächte den Priester wieder in seinen Tempel zurück und verschwand hernach wie vom Erdboden verschluckt. Kaum in seinen Tempel zurückgekehrt, hörte der Priester seltsame Stimmen, wenn er am Altar zelebrierte. Diese Stimmen warnten vor zukünftigen Ereignissen und
Katastrophen. Selbstverständlich traf auch alles pünktlich ein, was er prophezeite. Oder er berichtete von Dingen, die an weit entlegenen Orten passierten und die natürlich erst nach Tagen oder Wochen bestätigt wurden, weil es noch keine drahtlose Nachrichtenübermittlung gab. Es dauerte nicht lange, und der heilige Mann, der lebendig in den Himmel von Yat-Zar erhoben worden war, wurde als heiliger Prophet verehrt. Eine Blitzkarriere zum höchsten Priester folgte, da man einen Mann mit so mächtigen Gaben unmöglich mit etwas Geringerem abspeisen konnte. Sodann empfing er zwei Gebote von Yat-Zar. Das erste Gebot lautete, daß alle Unterpriester von einem Tempel zum anderen ziehen mußten und nie länger als ein Jahr an ein und demselben Ort bleiben durften. Auf diese Weise konnte man ständig neue Leute auf die Zeittangente bringen, ohne die einheimischen Oberpriester mißtrauisch zu machen. Die meisten dieser pilgernden Unterpriester waren natürlich zeitreisende Bewohner der Ersten Ebene. Das zweite Gebot schrieb vor, daß hinter dem Tempel ein eigenes Haus für YatZar gebaut werden mußte. Die Maße des Hauses waren genau vorgeschrieben. Die Wände mußten aus Stein sein und durften keine Fenster haben. Eine Tür führte in die Sakristei. Ehe man das Dach aufsetzte, mußte die Tür von innen verriegelt werden. Draußen vor die Tür kam ein dreifacher Vorhang aus Goldbrokat. Manchmal lehnten sich die konservativ eingestellten Mitglieder des obersten Priesterkollegiums gegen diese Neuerungen auf. In solchen Fällen wurde der Sprecher der reaktionären Opposition von einer schrecklichen Seuche heimgesucht, von der er sich nicht eher erholte, bis er seinen Einspruch zurückgenommen hatte. War das Haus von Yat-Zar fertig, ließen sich eigenartige Geräusche hinter den dicken Mauern vernehmen. Nach einer Weile erklärte dann einer der
jungen Priester, er habe eine Traumvision gehabt. Darin sei ihm befohlen worden, an die Tür hinter dem heiligen Vorhang zu klopfen. Stand er dann hinter dem dreifachen Vorhang, holte er seinen Türöffner heraus und betrat das Haus von YatZar. Der Parazeit-Fahrstuhl brachte ihn auf die Erste Ebene zurück, wo er sich seines inzwischen wohlverdienten Urlaubs erfreuen durfte. Folgte der Hohepriester seinem jüngeren Bruder in Gott nach einer Weile hinter den Vorhang, blieb ihm nichts anderes übrig, als laut das Wunder zu verkünden, daß der junge Priester spurlos verschwunden sei. Eine Woche darauf geschah das zweite, weitaus größere Wunder. Der junge Priester kam wieder aus dem Allerheiligsten heraus – in Kleidern, die noch kein Sterblicher bisher erblickt hatte. Er brachte auch ein sonderbares Kästchen mit. Dann predigte er laut von Yat-Zars Herrlichkeit und daß er ihm befohlen habe, einen neuen Tempel in den Bergen zu bauen, an einem Ort, wo die Stimme des Gottes ihm anzuhalten gebiete. Denn die Stimme Gottes sei in diesem sonderbaren Kästchen. Dieses Mal gab es natürlich weder Opposition noch Zweifel seitens der einheimischen konservativen Priesterschaft. Sogleich wurde eine Prozession verfügt, angeführt von dem Propheten mit dem Kästchen. Wurde die Stimme Gottes laut und tickend vernehmbar, hielt die Pilgerschar an und markierte die Stelle. Kurz darauf begannen dann die Bauarbeiten. Den Bau solcher Tempel besorgten jedoch nie Arbeiter aus der Umgebung. Die Maurer und Zimmerleute kamen von weit her und sprachen eine seltsame Sprache. Nachdem der Tempel fertig war, sah man seine Erbauer nie wieder. Die Menschen in der Umgebung raunten sich dann zu, die Priester hätten sie umgebracht und unter dem Altar begraben, um das Geheimnis des Gottes vor den Sterblichen zu hüten. Und auf dem Sockel stand immer das gleiche Götzenbild von Yat-Zar – offenbar göttlichen Ursprungs; denn kein Einheimischer besaß die
Fertigkeit oder Werkzeug, ein so vollendetes Standbild zu erschaffen. Die Priester dieser neuerrichteten Tempel waren, kraft göttlichen Gebots, davon ausgenommen, jedes Jahr ihren Tempel zu wechseln. Keiner kam natürlich im entferntesten auf die Idee, daß unter dem Tempel ein Uranbergwerk in Betrieb war und das abgebaute Erz auf eine andere Zeittangente transferiert wurde. Die Hulguner wußten gar nicht, was Uran war – und daß es noch andere Zeittangenten gab, wäre ihnen nicht im Traum eingefallen. Das Geheimnis der Para-Zeit-Versetzung war das exklusive Eigentum der Bewohner der Ersten Ebene, die diese Wissenschaft entdeckt hatten. Sie hüteten sich wohlweislich, dieses Geheimnis preiszugeben. Stranor Sleth erreichte die Sohle des Antigrav-Schachtes und warf rasch einen Blick nach rechts, wo die Förderbänder arbeiteten. Ein Transport war eben abgegangen und brachte seine Ladung hinüber auf die Erste Ebene. Ein zweiter Transport kam soeben leer zurück, und ein dritter empfing seine Ladung von den Robotschürfern, die sich tief in das Gestein hineingefressen hatten. Zwei junge Männer und ein Mädchen – alle nach der Mode der Ersten Ebene gekleidet – saßen an einem Kontrollpult mit Monitoren und überwachten den Betrieb. Sechs oder sieben bewaffnete Wächter hatten soeben den leeren Förderzug darauf untersucht, ob sich unterwegs nichts Verdächtiges oder Feindliches eingeschmuggelt hatte. Nachdem das nicht der Fall war, traten die Wächter zur Seite und zündeten sich Zigaretten an. Drei Wächter trugen die grüne Uniform der Para-Zeit-Polizei. »Wann kamen denn diese Leute dort zu uns?« fragte Stranor Sleth die beiden Männer am Steuerpult für die Roboter und deutete mit dem Kopf auf die Grünuniformierten. »Ungefähr vor zehn Minuten – mit dem Personentransporter«, antwortete das Mädchen. »Der Chef ist
ebenfalls hier – Brannad Klav. Und ein Offizier von der ParaZeit-Polizei. Die Herren warten in Ihrem Büro auf Sie.« »Ah, ja. Ich hatte damit gerechnet«, murmelte Stranor Sleth und nickte. Er wendete sich nach links und verschwand in einem Korridor. Zwei Männer warteten im Büro. Der eine war klein und untersetzt und hatte ein ungeduldiges, verkniffenes Gesicht. Das war Brannad Klav, Bergwerksdirektor der Trans-ZeitBergbaugesellschaft. Ihm unterstanden die Förderanlagen. Der zweite Besucher war groß und schlank und hatte ein gut aussehendes, wenn auch verschlossenes Gesicht. Er trug die Offiziersuniform der Para-Zeit-Polizei mit dem blauen Abzeichen des Erbadels auf der Brusttasche. Im Gürtelhalfter steckte ein Sigma-Strahler. »Warten Sie schon lange auf mich, meine Herren?« fragte Stranor Sleth. »Ich mußte erst den Abendgottesdienst oben im Tempel halten.« »Nein. Wir sind eben erst eingetroffen«, antwortete Brannad Klay. »Das ist Verkan Vall, Mavrad von Nerros, Bevollmächtigter für Sonderaufgaben des Chefs der Para-ZeitPolizei. Stranor Sleth, unser hiesiger Betriebsleiter.« Stranor Sleth und Verkan Vall gaben sich die Hand. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Sir«, sagte Stranor Sleth. »Das hat natürlich jeder, der in Para-Zeit arbeitet. Es tut mir nur leid, daß sich hier eine Lage ergeben hat, die Ihr Eingreifen erfordert. Andererseits freue ich mich, daß Sie sich selbst darum kümmern wollen. Sie wissen, wovon ich spreche?« »Ich bin mit der Lage vertraut«, erwiderte Verkan Vall. »Polizeichef Tortha und Brannad Klav gaben mir einen Überblick. Ich möchte aber die Einzelheiten gern von Ihnen hören.« »Ich habe Ihnen doch schon alles berichtet«, unterbrach Brannad Klav ungeduldig. »Stranor hat König Kurchuk nicht
mehr in der Hand. Wenn ich…« Er brach ab und deutete auf das Schulterhalfter unter Stranor Sleths linker Achsel. »Haben Sie den Energiewerfer oben im Tempel getragen?« fragte er. »Darauf können Sie Gift nehmen, daß ich die Waffe oben getragen habe!« erwiderte Stranor Sleth gereizt. »Und wenn ich mich auf dieser Zeittangente nicht mehr zu meinem eigenen Schutz bewaffnen darf, können Sie sofort meine Kündigung bekommen. Ich lasse mich nicht ausmanövrieren wie die Kollegen in Zurb.« »Ereifern wir uns nicht darüber«, mischte sich Verkan Vall ein. »Natürlich hat Stranor Sleth das Recht, sich zu bewaffnen. Ich möchte mich auch nicht ohne Waffe auf dieser Zeittangente erwischen lassen. Und jetzt berichten Sie von Anfang an, welche Schwierigkeiten sich auf dieser Zeittangente ergeben haben, Stranor.« »Genau genommen, begann alles vor fünf Jahren, als Kurchuk, König von Zurb, eine chuldunische Prinzessin heiratete. Sie hieß Darith und stammt aus einem Land jenseits des Schwarzen Meeres. Kurchuk machte Darith zur Herrin über ein Dutzend Nebenfrauen, die er vorher geheiratet hatte – alles Töchter des einheimischen Adels. Als nächstes brachte er einen chuldunischen Schreiber ins Land und bestellte ihn zum Aufseher seines Königsreiches – zu seinem Premierminister sozusagen. Das erregte natürlich unliebsames Aufsehen im Land, und eine Weile lang sah es ganz so aus, als würde eine Revolution gegen den König ausbrechen. Doch dann holte er an die fünftausend chuldunische Söldner ins Land – Bogenschützen. Die Hulguner können mit einem Bogen so gut wie gar nichts anfangen. Also wagten die Unzufriedenen auch nicht mehr aufzumucken. Das gleiche Los ereilte die Anführer der Revolution. Dem Vernehmen nach soll Labdurg die Ehe zwischen Darith und Kurchuk gestiftet haben. Ich habe den Verdacht, daß der Kaiser von Chuldun plant, die hulgunischen
Königreiche seinem Machtbereich einzuverleiben. Zurb wird sein erstes Opfer sein. Diese Chulduner verehren einen Gott, den sie Muz-Azin nennen. Muz-Azin ist ein Krokodil mit Fledermausflügeln. Sein Schwanz ist mit Messern gespickt. Im Vergleich zu Muz-Azin ist Yat-Zar ein Adonis. Im Gegensatz zu Yat-Zar bevorzugt Muz-Azin Menschenopfer. Die Opfer werden an den Knöcheln an einem dreieckigen Rahmen aufgehängt und mit Stacheldraht-Peitschen zu Tode geprügelt. Wirklich ein unangenehmer Zeitgenosse aus dem Götterhimmel. Aber wir befinden uns hier auch auf einer barbarisch-brutalen Zeittangente. Die Leute hier erfreuen sich am Schauspiel der Menschenopferung. Es ist viel spannender als unsere Karnickelschlachterei. Die Opfer sind in der Regel Verbrecher, unverbesserliche oder gebrechliche Sklaven und Kriegsgefangene. Als die Chulduner sich im königlichen Palast einnisteten, brachten sie natürlich auch ihre Gottheit mit. König Kurchuk gestattete den Hauspriestern seiner Gemahlin, im Palast einen Tempel für den Krokodilgott einzurichten. Natürlich setzten wir uns sofort gegen diesen Götzendienst zur Wehr. Doch religiöse Intoleranz gehört nicht zu den sonst zahlreich vorhandenen Unvollkommenheiten dieses Zeitsektors. Jeder kann sich hier seinen Hausgott halten, wenn ihm danach zumute ist. Indifferentismus ist, glaube ich, der Fachausdruck für diese Einstellung. Nun, die Sache verlief trotzdem einigermaßen erträglich für uns, bis vor zwei Jahren plötzlich eine Pechsträhne begann.« »Pechsträhne!« brummte Brannad Klav. »Damit entschuldigt jeder seine Unfähigkeit.« »Fahren Sie fort, Stranor«, unterbrach Verkan Vall den anderen. »Zuerst hatten wir eine Trockenzeit im Frühsommer. Das Getreide verkümmerte auf dem Halm. Danach folgten schwere Regengüsse und Hagelschauer und Überschwemmungen. Das vernichtete natürlich den Rest des
Getreides. Als man die Ernte einbrachte, stand fest, daß eine verheerende Hungersnot das Land heimsuchen würde. Wir beschlossen deshalb, mit unseren Transportern Getreide heranzuschaffen und es an das Volk zu verteilen – als wunderbares Geschenk des Gottes Yat-Zar natürlich. Doch der Hauptverwaltung auf der Ersten Ebene kamen plötzlich Bedenken. Man fürchtete, die geheimnisvollen, unerklärlichen Getreidespenden könnten das Volk mißtrauisch machen. Die Lieferungen wurden eingestellt. Das Königreich Zurb war von der Hungersnot am schlimmsten betroffen. Deshalb mobilisierte König Kurchuk seine Armee und fiel in das Land der Jumduner ein, die südlich der Berge wohnen, um sich dort Getreide zu beschaffen. Seine Armee wurde vernichtend geschlagen, und nur ein Viertel seiner Streitmacht konnte sich retten – natürlich ohne Getreide. Wenn Sie mich fragen, wer dahintersteckte, würde ich auf Labdurg tippen. Er riet dem König zur Invasion. Er ist wahrscheinlich auch für die Niederlage verantwortlich. Ich erwähnte ja schon meinen Verdacht, daß Chombrog, der chuldunische Kaiser, die hulgunischen Königreiche seinem Machtbereich einverleiben will. Konnte ihm etwas Besseres widerfahren als eine Niederlage der Armee, die er jetzt nicht mehr zu besiegen braucht?« »War bei dieser Niederlage Verrat im Spiel?« fragte Verkan Vall. »Verdächtige Wunder oder dergleichen?« »Nichts, das man wirklich beweisen kann. Die Jumduner waren nur auffallend gut über Kurchuks Marschrouten und Schlachtpläne informiert. Vielleicht war aber auch die einfältige Strategie des Königs an der Niederlage schuld. Die Hulguner – besonders die Bewohner von Zurb – sind Speerkämpfer. Sie kämpfen in dünner, langgezogener Schlachtformation. Im ersten Glied kämpft die schwerbewaffnete Infanterie, dahinter steht die leichte
Infanterie mit Wurfspeeren. Die Adeligen kämpfen im Zentrum auf leichten Streitwagen. Dort befanden sie sich auch in der Schlacht von Jorm. Kurchuk hielt sich in der Mitte der Front auf, umgeben von seinen chuldunischen Bogenschützen. Das Schwergewicht der jumdunischen Armee liegt auf der Kavallerie. Sie ist mit Lanzen und Langschwertern ausgerüstet. Das Kernstück der Kavallerie sind die schweren Streitwagen, besetzt mit einem Wagenlenker und zwei Speerwerfern. Diese Kavallerie stürzte sich nicht etwa auf das Zentrum des Gegners, wo Kurchuk mit seinen Bogenschützen stand, sondern griff massiert den linken Flügel an, rollte ihn auf, wich dem Zentrum aus und griff den rechten Flügel von hinten an. Die chuldunischen Bogenschützen wichen nicht von der Stelle. Sie beschränkten sich darauf, jeden niederzuschießen, der sich dem König nähern wollte. Die Jumduner kümmerten sich nicht weiter um sie. Sie mähten die hulgunische Infanterie nieder, bis Kurchuk mit seinen Adeligen und seinen Bogenschützen gezwungen war, sich kämpfend zurückzuziehen. Ob nun Kurchuks Dummheit oder Labdurgs Verrat an der Niederlage schuld sind – auf jeden Fall mußten die hulgunischen Speerkämpfer die Zeche bezahlen, während die chuldunischen Bogenschützen mit leichten Verlusten davonkamen. Aber versuchen Sie mal, diesen Idioten mit logischen Argumenten zu kommen! Muz-Azin hat die Chulduner beschützt, und Yat-Zar hat die Hulguner im Stich gelassen. Basta. Der Tempel von Zurb verlor viele Gläubige, besonders die Familien jener Männer, die aus der Schlacht von Jorm nicht mehr heimkehrten. Diese Niederlage hätte uns noch nicht geschadet, wenn unsere Karnickel nicht plötzlich verendet wären«, fuhr Stranor Sleth fort, nahm eine Zigarre von seinem Schreibtisch, biß die Spitze ab und spuckte sie wütend auf den Boden. »Tularämie natürlich.« Er zündete die Zigarre an. »Als das passierte, liefen
die Gläubigen in Scharen zu Muz-Azin über – nicht nur in Zurb, sondern auch in den anderen fünf Königreichen. Sie hätten sehen sollen, wie wenig Gläubige zu unserem Abendopfer in den Tempel kamen. Knapp zweihundert! Früher hatten wir mehr als zweitausend. Früher brauchten wir zwei Männer dazu, um die Kiste mit den Spenden vom Boden aufzuheben. Heute hätte ich die Opfergaben in die Hosentasche stecken können!« Der Hohepriester schloß mit Kraftausdrücken, die selbst die barbarischen Ohren eines Hulgun beleidigt hätten. Verkan Vall nickte nachdenklich. Im Vorbereitungskursus für diesen Zeitsektor hatte er gelernt, daß das Hauskaninchen bei den vorarischen Hulgunen Hauptfleischlieferant war. Hulgunische Kaninchen wurden in beschränkter Anzahl sogar auf die Erste Ebene importiert, wo man sie in jedem besseren Restaurant auf der Speisekarte fand. Er erwähnte diese Tatsache. »Das wäre alles noch nicht so schlimm«, brummte Stranor Sleth. »Aber das Kaninchen ist das heilige Tier des Gottes YatZar. Mit einem geweihten Messer werden alle Kaninchen in diesem Land geschlachtet. Diese geweihten Messer sind seit jeher eine Haupteinnahmequelle der Tempel von Yat-Zar. Jeder muß ein Gebet sprechen, ehe er ein Kaninchen ißt. Wir hätten alle Rückschläge überwunden – die Hungersnot, die Niederlage von Jorm (natürlich Yat-Zars Strafe für den Abfall von seinem Glauben) – ; nur die Kaninchenseuche nicht. YatZar würde auf keinen Fall seine geheiligten Tiere mit einer Seuche bestrafen. Yat-Zar hat diese Tiere viel zu gern, um das zu tun. So etwas dürfen wir gar nicht erst predigen. Wir stecken in einer echten Klemme.« »Und ich behaupte, daß Ihre Unfähigkeit für diese Panne verantwortlich ist«, polterte Brannad Klav. »Sie sind nicht nur der oberste Priester dieses Tempels – Sie sind das anerkannte
Oberhaupt der Staatsreligion in den vereinigten hulgunischen Königreichen. Sie hätten Ihren Einfluß auf diese Leute besser nützen sollen!« »Einfluß auf diese Leute«, wiederholte Stranor Sleth, sich mühsam beherrschend, und sah Verkan Vall hilfesuchend an. »Wissen’ Sie überhaupt, was Religion in diesem Sektor bedeutet? Glauben Sie vielleicht, die Wilden hier hätten sich diesen sechsarmigen Götzen selbst ausgedacht? Meinen Sie, dieser Götze sei der Ausdruck ihrer Sehnsucht nach höheren Dingen, die Verkörperung ihres Moralgefühls, der mystische Notausgang aus der Zwangslage von Ursache und Wirkung? Nein, davon haben die Leute hier nicht die geringste Ahnung. In diesem Sektor sind die Götter kein höheres Prinzip, sondern beliebig austauschbare Wesen, die man nur nach ihrer Nützlichkeit beurteilt. Solange sie für ihre Gläubigen sorgen, bekommen sie auch Opfer. Versagen sie, müssen sie abtreten. Wissen Sie, wie die Chulduner, die in den Tälern des Kaukasus leben, zu ihrem Krokodilgott gekommen sind? Er wurde aus dem Niltal importiert. Händler brachten ihn von dort mit. Die Chulduner hatten früher einen Ziegenbock als Gott. Doch als sie unter der Schirmherrschaft des Ziegenbockes ein paar Schlachten verloren, mußte der Bock abtreten, und das Krokodil nahm seine Stelle ein. Ein Gott wird von diesen Barbaren also nur so lange verehrt, wie sie an seine Macht und Stärke glauben. Versagt er, wirft man ihn zum Tempel hinaus und importiert einen neuen, erfolgreichen Gott aus der Nachbarschaft.« Verkan Vall nickte und sagte: »Ich kenne die Entwicklungsgeschichte dieses Sektors.« Er wendete sich an Brannad Klav. »Hat Strenor Sie nicht von dieser Entwicklung unterrichtet, als sie sich abzuzeichnen begann?« fragte er. »Er muß es getan haben. Er spricht davon, daß er Getreidelieferungen erhalten hat, um seine Gläubigen mit
Nahrung zu versorgen. Warum haben Sie sich nicht sofort an die Para-Zeit-Polizei gewandt? Dafür sind wir doch da!« »Ja, natürlich. Aber ich hatte damals noch volles Vertrauen zu meinem Mitarbeiter. Ich glaubte, er könne die Lage allein meistern. Ich wußte nicht, daß er in seinen Anstrengungen nachließ…« »Hören Sie, ich kann das Wetter nicht beeinflussen«, verteidigte sich Stranor Sleth, »auch wenn meine Gläubigen das von mir erwarten. Ich kann aus einem Dummkopf, wie Kurchuk einer ist, kein militärisches Genie machen. Und ich kann auch nicht alle Kaninchen auf dieser Zeittangente gegen Tularämie impfen, selbst wenn ich mit dem Ausbruch einer Tularämie-Epidemie rechnen müßte. Ehrlich gesagt, habe ich nicht damit gerechnet, weil diese Krankheit bisher in diesem Zeitsektor unbekannt war. Das ist der erste Ausbruch einer derartigen Seuche in einer vorarischen Kultur. Auf dieser Zeittangente war sie so gut wie unbekannt.« »Nein. Aber ich kann Ihnen sagen, was Sie hätten tun können«, mischte sich Verkan Vall wieder ein. »Als dieser König Kurchuk anfing, sich von der angestammten Gottheit abzuwenden, hätten Sie eingreifen sollen. Sie hätten sich an die Spitze einer Priesterschar stellen müssen, die sich natürlich nur aus unseren Leuten zusammengesetzt hätte. Sie wären, mit Energiewerfern bewaffnet, vor den König getreten und hätten ihn auf seine religiösen Pflichten hinweisen müssen. Hätte er Ihnen widersprochen, hätten Sie Ihren Werfer gezogen und ihn niedergestrahlt. Dann hätten Sie gerufen: ›Seht, Yat-Zars Rache an diesem abtrünnigen König!‹ Ich wette meinen Kopf, sein Nachfolger hätte es sich zweimal überlegt, ehe er zum Glauben des Muz-Azin übergetreten wäre! Und die anderen Könige der Hulguner wären gar nicht erst auf den Gedanken gekommen!«
»Genau das wollte ich tun!« rief Stranor Sleth. »Wissen Sie, wer mich davon abgehalten hat? Zweimal dürfen Sie raten!« »Hm. Mir scheint, wenn jemand hier versagt hat, war es bestimmt nicht Stranor Sleth«, brummelte Verkan Vall und sah Brannad Klav vielsagend an. »Na, ich muß schon sagen!« verteidigte sich Brannad Klav. »Ich hätte nie erwartet, daß mich ein Offizier der Para-ZeitPolizei deswegen kritisiert, weil ich mich an die Para-ZeitVerordnung gehalten habe!« Verkan Vall setzte sich auf den Rand von Stranor Sleths Schreibtisch und richtete seine Zigarette wie einen Energiestrahler auf Brannad Klav. »Nun hören Sie mir mal gut zu, Brannad Klav. Es gibt nur ein einziges zwingendes Gesetz für jeden, der im Para-ZeitBereich operiert: das Geheimnis der Zeitverschiebung muß unter allen Umständen gehütet werden. Jede Handlung, die diese Geheimhaltung gefährdet, ist verboten. Deshalb gestatten wir auch nicht, daß Gegenstände außerirdischen Ursprungs auf eine Zeittangente gebracht werden, in der Raumfahrt weder bekannt noch theoretisch möglich ist. Es könnte durchaus sein, daß solche Gegenstände in die Hände der Einheimischen fallen, aufbewahrt werden und später, wenn die Einheimischen die Entwicklungsstufe der Raumfahrt erreicht haben, nachgeforscht wird, woher der Gegenstand stammt. Dann käme es zu gefährlichen Spekulationen und Theorien, wie dieser Gegenstand in so früher Zeit auf die Erde gelangt sein könnte. Vor kurzem wäre ich bei einem Unternehmen fast umgekommen, als ich versuchte, die Folgen eines solchen Verstoßes gegen dieses Gesetz zu beseitigen. Aus dem gleichen Grund gestatten wir auch nicht den Export von Konsumgütern, wenn diese Güter einen zu hohen Entwicklungsstand verraten und dem Stand der Eingeborenenkultur zu weit voraus sind. Deswegen verlangten
wir auch, daß die großen Yat-Zar-Statuen noch einmal mit der Hand überarbeitet werden mußten, um alle Spuren maschineller Herstellung zu beseitigen. Sonst graben vielleicht die Nachkommen dieser Einheimischen in ein paar tausend Jahren einen von diesen Götzen aus und entdecken, daß sie maschinell angefertigt worden sind, obgleich die Mechanik doch eben erst von ihnen aus der Taufe gehoben wurde. Wenn man aber diesen Dummkopf Kurchuk mit einem Energiewerfer niederschießt, verstößt man nicht unbedingt gegen das Gesetz. Diese Hulguner haben ja keine Ahnung von wissenschaftlichen Zusammenhängen. Sie hätten keine Vorstellung davon, was mit ihrem König passiert ist. Nur eine Erklärung würde ihnen einleuchten: Yat-Zar hat ihn niedergestreckt. Auf dieser Kulturstufe traut man den Göttern zu, daß sie so etwas können. Selbst wenn ein Einheimischer den Energiewerfer sieht, mit der der König niedergestrahlt wurde, weiß er mit dieser Beobachtung nichts anzufangen. Er wird die Waffe für ein Amulett oder einen sakralen Gegenstand halten.« »Doch Gesetz ist Gesetz…« fing Brannad Klav wieder an. Verkan Vall schüttelte energisch den Kopf. »Brannad, soviel ich weiß, wurden Sie zum Bergwerksdirektor ernannt, als Salvan Marth in den Ruhestand trat. Das liegt jetzt zehn Jahre zurück. Davor haben Sie in der Finanzabteilung Ihrer Firma gearbeitet. Sie waren an die Gesetze der Ersten Ebene gewöhnt. Alle Gesetze, die bei uns zu Hause auf der Ersten Ebene gelten, müssen buchstabengetreu eingehalten werden. Wir haben schon vor fünftausend Jahren entdeckt, daß Gesetze buchstabengetreu erfüllt werden müssen, weil sonst weitgehende Entwicklungsprognosen unmöglich sind. Da wir die Zeitebenen wechseln können, sind solche Voraussagen unumgänglich. Deshalb haben Sie sich auch daran gewöhnt, das Gesetz als etwas Starres, Unveränderliches aufzufassen. Doch in der Para-Zeit ist die Situation anders. Der Ghadron-
Hestor-Para-Zeit-Feldgenerator erreicht Zeittangenten bis zur hunderttausendsten Potenz. Mit anderen Worten: er ermöglicht uns den Zutritt zu ebenso vielen verschiedenen Welten-ZeitEbenen. In den vergangenen zehntausend Jahren haben wir nur einen winzigen Bruchteil dieser Welten besucht. Aber schon auf diesem winzigen Bruchteil entdeckten wir eine Vielfalt von Entwicklungsstufen, angefangen beim Affenmenschen bis hin zu den Zivilisationen der Zweiten Ebene, die uns in jeder Hinsicht gleich ist, nur daß ihren Bewohnern das Geheimnis der Zeit-Versetzung unbekannt sind. Wir wissen sogar von einer Kultur auf der Zweiten Ebene, die der Entdeckung des interstellaren Hyper-Raum-Antriebs sehr nahegekommen ist, von dessen Gesetzen wir keine Ahnung haben. Und dazwischen liegen alte nur denkbaren Entwicklungsstufen primitiver, barbarischer und zivilisierter Kulturen. Es ist nahezu unmöglich, allen diesen Bedingungen mit einem Universalgesetz gerecht zu werden. Wir können höchstens grobe Verstöße gegen den Sittenkodex unterbinden, wie den Sklavenhandel, neue narkotische Giftstoffe oder Piraterie großen Stils. Wenn Sie also nicht genau wissen, ob eine geplante Maßnahme legal ist oder nicht, brauchen Sie sich nur an die Rechtsabteilung der Para-Zeit-Kommission zu wenden und ein Gutachten einzuholen. Hier ist der Punkt, wo Sie versagt haben. Sie haben nicht nachgeprüft, wie weit Sie gehen können.« Er wendete sich wieder Stranor Sleth zu. »Ich kenne jetzt die Vorgeschichte. Nun erzählen Sie, was gestern in Zurb passiert ist.« »Vor einer Woche erließ Kurchuk eine Verordnung, daß unser Tempel zu schließen sei und alle seine Untergebenen von jetzt an nur noch Muz-Azin dienen sollten. Der Tempel in Zurb ist keine Tarnkulisse für ein Uranbergwerk. Die Stadt liegt viel zu weit südlich. Er dient nur als Public RelationsZentrale. Doch im Tempel befindet sich ebenfalls ein Haus von
Yat-Zar, ein Transportband, und die meisten höheren Priester sind unsere Leute. Einer von uns, Tammand Drav alias Khoram, widersetzte sich dem Befehl des Königs. Daraufhin sandte Kurchuk eine Kompanie chuldunischer Bogenschützen aus, die den Tempel schließen und die Priester verhaften sollten. Tammand Drav rief alle seine Leute, die sich im Tempel aufhielten, zusammen, schloß sich mit ihnen im Haus des Yat-Zar ein und transportierte sie zurück auf die Erste Ebene. Er hatte den Befehl bekommen, sich nicht zu widersetzen. Allerdings waren fünfzehn Unterpriester, die er auf die Erste Ebene mitnahm, hulgunische Eingeborene.« »Das ist nicht weiter schlimm«, sagte Verkan Vall. »Sie bekommen eine Pseudo-Gedächtnis-Behandlung. Allerdings hätte man dem Oberpriester die Erlaubnis geben sollen, ein rundes Dutzend von diesen chuldunischen Bogenschützen mit Energiewerfern zu zerstrahlen. Das würde die Kerle lehren, in Zukunft dem Gott Yat-Zar mit größerem Respekt zu begegnen. Und was ist aus den sechs Priestern geworden, die sich nicht mehr rechtzeitig in den Tempel retten konnten? Fünf davon sind unsere Leute. Wir müssen sie irgendwie aus Zurb herausholen.« »Das wird gar nicht so einfach sein«, sagte Stranor Sleth. »Und es muß geschehen, ehe morgen die Sonne untergeht. Sie liegen im Burgverlies der Zitadelle. Kurchuk wird sie morgen den Priestern des Muz-Azin übergeben. Sie sollen dem Krokodilgötzen geopfert werden.« »Woher wissen Sie das?« fragte Verkan Vall. »Wir haben einen Agenten in Zurb, der nicht zur Priesterkaste gehört«, antwortete Stranor Sleth. »Sein Name ist Crannar Jurth, von den Eingeborenen Kranjur genannt. Er arbeitet als Waffenschmied und beschäftigt ungefähr ein Dutzend einheimische Gesellen, die für ihn die Schwertklingen schmieden. So nebenbei importiert er erstklassige Stahlklingen
von der Ersten Ebene, mit denen man die eisernen Rüstungen der Einheimischen zerhauen kann wie Eierschalen. Die rüstet er mit Handgriffen aus, die einheimischen Ursprungs sind, und verkauft sie zu Spitzenpreisen an den Adel. Er ist Hoflieferant des Königs und nebenbei unser Spion am Hofe. Er gehörte natürlich zu den ersten, die den neuen Glauben annahmen und zu Muz-Azin überging. Er hat ein Geheimzimmer unter seiner Werkstatt mit Nachrichtenverbindung und Transportband zur Ersten Ebene. Folgendes hatte sich zugetragen: die sechs Priester besuchten eine Kaninchenfarm außerhalb der Stadt. Sie wußten nichts von dem Überfall auf den Tempel. Auf dem Rückweg wurden sie von den chuldunischen Bogenschützen umzingelt und gefangengenommen. Außer ihren geweihten Messern trugen sie keine Waffen.« Wieder warf er einen vorwurfsvollen Blick auf Brannad Klav. »Morgen abend werden sie als Opfer an den Füßen aufgehängt.« »Wir müssen sie also vor Sonnenuntergang befreien«, sagte Verkan Vall. »Sie gehören zu uns, und wir dürfen sie nicht im Stich lassen.« Er wandte sich Brannad Klav zu. »Wenn wir dulden, daß die Leute Muz-Azin geopfert werden, können Sie Ihren Laden hier dichtmachen, müssen Sie Ihre Geräte abbauen und die Schächte zuschütten. Dann ist Yat-Zar auf dieser Zeittangente erledigt, und von diesem Gott hängt auch das Schicksal Ihrer Firma ab. Schließlich laufen Ihre Schürfrechte im nächsten Jahr aus. Sie werden kaum erneuert werden, wenn hier ein Unglück passiert.« »Wirklich?« fragte Brannad Klav bestürzt. »Ich weiß, daß es so kommen wird. Denn ich würde gegen eine Verlängerung der Schürfrechte protestieren, wenn diese sechs Priester morgen abend zu Tode gefoltert werden«, sagte Verkan Vall drohend. »In den fünfzig Jahren, die ich im Polizeidienst stehe, wurden erst fünf Empfehlungen der Polizeitruppe von der Kommission verworfen. Sie wissen, daß
das Erzbergbau-Syndikat der Vierten Ebene Ihre Schürfrechte gern übernehmen möchte. Normalerweise hätte die Firma gar keine Chance. Doch wenn hier Unfähigkeit nachgewiesen werden kann, bekommt sie die Lizenz auch ohne Empfehlungen. Das ist dann allein Ihre Schuld, Brannad, weil Sie Stranor Sleths Vorschläge übergangen und seinen Männern nicht gestattet haben, Energiepistolen bei sich zu tragen.« »Wir wollten nicht gegen das Gesetz verstoßen«, verteidigte sich Brannad Klav. »Wenn es noch nicht zu spät ist, werde ich den Schaden gern wieder gutmachen. Sie können auf meine Unterstützung in jeder Hinsicht rechnen.« Er blätterte nervös in den Akten auf dem Tisch. »Sie brauchen mir nur zu sagen, was ich tun soll.« »Einen Augenblick«, erwiderte Verkan Vall und betrachtete die Landkarte an der Wand. »Wo sind die Verliese?« fragte er. »Können wir dort eindringen?« »Ich fürchte, nein«, sagte Stranor Sleth. »Nur durch einen Kampf von außen. Sie liegen unter der Zitadelle, gut dreißig Meter unter der Erde. Die Verliese befinden, sich räumlich auf der gleichen Stelle, wo wir auf der Ersten Ebene die Kühlanlagen für die Plutonium-Reaktoren eingerichtet haben. Wir können also über Zeittransfer nicht hineingelangen, weil die Zitadellenkerker auf den anderen Zeittangenten gar nicht existieren. Auf allen anderen Tangenten ist an dieser Stelle nur nacktes Gestein unter der Erde. Der Palast ist gleichsam eine befestigte Stadt in einer Stadt. Ich werde Ihnen das gleich demonstrieren.« Stranor Sleth ging um den Schreibtisch herum, suchte nach einer Zahl in der Kartei und stellte eine Kombination auf den Wähltasten ein. Ein Bild leuchtete auf dem Projektionsschirm auf. Es war eine Luftaufnahme von der Stadt Zurb – nachts mit einer Infrarot-Kamera aufgenommen. Das Bild zeigte eine typische Stadt aus dem prämechanischen Zeitalter mit engen
Straßen und Gassen und ein- oder zweistöckigen Häusern. In der Mitte ragte ein höheres, weitläufiges Gebäude mit Wall und Gräben auf. »Hier ist der Palast«, sagte Stranor Sleth und deutete auf den von Mauern umgebenen Komplex. »Und hier liegt der Tempel des Yat-Zar. Er ist vom Palast ungefähr eine halbe Meile entfernt. Dazwischen erstreckt sich eine Grünfläche mit Bäumen und Rasen. Eine breite Straße verbindet den Palast mit dem Tempel.« Er drückte wieder auf die Tasten, und ein neues Bild entstand auf dem Schirm. »Hier haben wir eine Ansicht des Palastes aus nächster Nähe. Die Straße vom Tempel her endet hier vor dem Haupttor. Links sehen Sie die Unterkünfte der Sklaven, die Ställe, Werkstätten und so weiter. Drüben, auf der rechten Seite, liegen die Wohnungen der Würdenträger und Adeligen. Und hier – «er deutete auf einen Turm an der Mauer – »ist die Zitadelle. Daneben schließen sich die Gemächer des Königs an. Dort ist die Empfangshalle. Hier, neben den Zimmern des Königs, der Harem. Die Zitadelle, die königlichen Gemächer und der Harem sind durch einen Wehrgang verbunden, der fünf Meter hoch über der Erde verläuft. Inzwischen – und das ist auf dem Bild nicht zu sehen – hat man den neuen Tempel Muz-Azin hier im Innenhof errichtet. Daneben stehen ein rundes Dutzend von diesen Dreiecken, ungefähr vier Meter hoch, an denen man die Opfer aufhängt, um sie zu Tode zu peitschen.« »Hm«, meinte Verkan Vall, »ich sehe nur eine Möglichkeit, in die Verliese einzudringen – nämlich durch ein Luftlandeunternehmen auf das Dach des Turmes. Von dort aus müßten wir uns den Weg mit Energiewerfern und Strahlern freikämpfen. Das gefällt mir nicht. Ich würde jede andere Lösung vorziehen. Denn trotz der Energiewerfer kann es uns passieren, daß wir bei dem Überfall Leute verlieren. Auch Pfeile können töten. Möglicherweise verlieren wir auch Geräte, die in die Hände der Eingeborenen fallen könnten. Sie
sagten doch, das Massenopfer findet morgen bei Sonnenuntergang statt, nicht wahr?« »Das kann eine Stunde vorher, aber auch nachher sein«, antwortete Stranor Sleth. »Die Einheimischen besitzen weder eine genau gehende Sonnenuhr noch haben sie astronomische Kenntnisse. Wenn der Himmel bewölkt ist, müssen wir mit einer noch größeren zeitlichen Toleranz rechnen. Das Fest geht nach der Opferung weiter. Man wird ein großes Standbild des Götzen Muz-Azin auf einen Wagen stellen. Nach der Opferzeremonie wird das Standbild bis zum Tempel des YatZar gezogen und dort aufgestellt. Unseren Tempel halten im Augenblick zwanzig chuldunische Söldner und sechs Priester des Muz-Azin besetzt. Das Allerheiligste des Yat-Zar haben sie natürlich nicht aufbrechen können. Die Tür besteht aus undurchdringlichem Stahl. Selbst mit unseren besten Atomschweißgeräten benötigten wir Stunden, um die Tür zu knacken. Die Mauern sind von innen mit dem gleichen Material bewehrt. Auf dieser Zeittangente gibt es kein Werkzeug, mit dem man die Tür auch nur ritzen könnte.« »Glauben Sie, daß man Ihre Leute bereits gefoltert hat?« fragte Verkan Vall. »Nein«, Stranor Sleth schüttelte entschieden den Kopf. »Man wird sie bis zur Opferung gut behandeln. Schließlich sollen sie ja die Marter so lange wie möglich aushalten. Der Gott MuzAzin liebt es, wenn seine Opfer langsam sterben. Das mögen auch die Zuschauer.« »Schön. Ich habe mir folgenden Plan zurechtgelegt. Wir werden gar nicht erst versuchen, die Gefangenen aus der Zitadelle zu befreien. Wir werden uns von der Ersten Ebene aus in den Tempel von Zurb versetzen. Dann marschieren wir zum Palast und erzwingen die Freigabe der Priester. Das geschieht mit einem Aufgebot von rund hundert Leuten. Sie
stehen doch in ständiger Funkverbindung mit allen anderen Tempeln auf dieser Zeittangente, nicht wahr?« »Selbstverständlich.« »Wunderbar. Schicken Sie folgenden Funkspruch hinaus. Befehl von Verkan Vall, Para-Zeit-Polizei, Sonderbeauftragter des Präsidenten. Ich fordere hiermit alle Mitglieder unserer Zivilisation auf, sofort auf die Erste Ebene zurückzukehren und sich dort so rasch wie möglich in der Abfertigungshalle des Zurb-Tempel-Transportbandes zu versammeln. Alle Förderarbeiten werden eingestellt. Die eingeborenen Unterpriester übernehmen die Betreuung der Tempel von YatZar. Zur Begründung dieser Maßnahme wird den einheimischen Priestern erklärt, daß sich die Hohepriester in die heiligen Häuser des Gottes Yat-Zar zurückziehen müssen, um für die Befreiung ihrer Brüder zu beten. Jeder hat seine Priestergewänder mitzunehmen, wenn er auf die Erste Ebene zurückkehrt.« Verkan Vall drehte sich zu Brannad Klav um. »Ich nehme an, Sie haben Bestände von solchen Priestergewändern auf der Ersten Ebene angelegt?« »Natürlich. Wir unterhalten dort ein großes Lager sakraler Gegenstände: Roben, Mitren, falsche Bärte, Opfermesser und so weiter.« »Und wie steht es mit den Götzen? Sie stellen doch diesen Yat-Zar auf der Ersten Ebene in einer Fabrik her. Haben Sie ein Standbild auf Lager? Ja? Gut. Ich brauche eins. Folgende Veränderungen müssen jedoch an der Statue vorgenommen werden: Sie wird mit einer dicken Schicht Nickel überzogen. Sie erhält einen Antriebsmechanismus. Drittens werden Fernsteuerung und Anti-Schwerkraftgeneratoren eingebaut. Viertens – der Götze bekommt einen Lautsprecher, damit er reden kann. Stranor, Sie setzen sich mit Crannar Jurth, dem Waffenschmied bei Hofe in Verbindung. Er soll von zwölf Uhr
mittags an seinen Empfänger auf die Wellenlänge des Tempels von Zurb schalten. Nein – ich weiß noch etwas Besseres. Sagen Sie ihm, er soll auf die Erste Ebene kommen und seine Zunftkleidung mitbringen. Ich brauche ihn für eine Sonderaufgabe. Haben Sie das alles mitbekommen? Gut, dann schicken Sie den Funkspruch hinaus. Sie bringen Ihre eigenen Leute mit auf die Erste Ebene – Priester, Bergbauingenieure und was sonst noch alles zu unserer Zivilisation gehört. Brannad, Sie begleiten mich jetzt gleich zurück auf die Erste Ebene. Wir haben eine Menge vorzubereiten.« Gegen Mittag des folgenden Tages versammelten sich mehr als hundert Männer in der Halle der Radioisotopenanlage von Jarnabar auf der Ersten Ebene, die räumlich mit dem Tempel von Yat-Zar in Zurb auf der Vierten Ebene synchron war. Verkan Vall musterte seine Schar. Es war gar nicht so leicht, die Männer voneinander zu unterscheiden; denn alle trugen das blaue Gewand und die goldene Mitra eines Oberpriesters von Yat-Zar und einen wallenden blauen Bart. Sie boten wirklich einen eigenartigen Anblick, dachte Verkan Vall – wie eine Betriebsversammlung von Weihnachtsmännern, wobei angemerkt sei, daß nur die Hulguner der vorarischen Zeit auf der Vierten Ebene an diese Weihnachtsmänner glaubten. Die Hälfte der Leute waren Priester, die von der Trans-ZeitBergbaugesellschaft bezahlt wurden. Die andere Hälfte gehörte zur Para-Zeit-Polizeitruppe. Alle trugen neben ihren heiligen Messern Sigma-Strahlenwerfer in einem Halfter unter der Achsel, dazu Ultraschall-Paralysatoren, die wie kleine Trommelstäbe aussahen. Einige von den Priestern waren mit Neutronenwerfern ausgerüstet. Verkan Vall trug im Gürtelhalfter einen Neutronenwerfer von hoher Durchschlagskraft. Die Leute von der Para-Zeit-Polizei hatten sich, etwas abseits von den anderen, zur Inspektion aufgestellt. Stranor Sleth,
Tammand Drav vom Zurb-Tempel und andere Priester vom heiligen Kollegium überprüften die Gewänder der Polizisten darauf, ob sie den sakralen Vorschriften der Priesterkaste entsprachen. Ein Polizist, der ebenfalls die Kleidung eines Hohepriesters trug, hatte ein viereckiges Kästchen vor den Bauch geschnallt und übte sich in der Bedienung der Knöpfe und Hebel der Fernsteuerung, mit der er ein großes Götzenbild von Yat-Zar durch die Halle schweben ließ. »He, Vall!« rief der Polizist seinem Vorgesetzten zu, »tanzt der Dicke nicht prima nach meiner Pfeife?« Das Götzenbild schwebte hinauf bis unter die Decke, drehte sich langsam im Kreis, flog ein paar Meter nach links und senkte sich sacht wieder auf den Boden herab. »Großartig, Horv«, sagte Verkan Vall. »Aber schalte bloß nicht den Schwerkraftausgleicher ab! Wir haben den Kerl mit so viel verdichtetem Nickel überzogen, daß er sich mindestens einen Meter tief in die Erde bohrt, wenn er abstürzt.« »Ich weiß ja nicht, weshalb Sie den Götzen mit Nickel überzogen haben«, sagte Brannad Klav, der neben Verkan Vall stand. »Ich will mich auch nicht einmischen – das steht mir nicht zu. Ich halte nur die Panzerung mit verdichtetem Nickel für eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme.« »Vielleicht haben Sie recht«, meinte Verkan Vall. »Ich hoffe sogar, daß diese Maßnahme überflüssig ist. Aber wir dürfen kein Risiko eingehen. Unsere Aktion muß ein hundertprozentiger Erfolg werden. Sind Sie fertig, Tammand? Gut – die erste Gruppe zum Transfer abrücken!« Er drehte sich um und ging auf eine große Kuppel aus Metalldraht zu. Sie war zehn Meter hoch, mit einem Durchmesser von zwanzig Metern an der Basis. Tammand Drav, seine zehn Para-Zeit-Oberpriester, Brannad Klav und zehn Para-Zeit-Polizisten folgten ihm in die Kuppel. Einer der Polizisten schloß die Tür. Verkan Vall ging zum Kontrollpult
in der Mitte des Kuppelraumes, hob eine Kugel, die ebenfalls aus Metalldraht bestand, von einem Gestell, öffnete sie und drückte im Innern der Kugel auf ein paar Knöpfe. Er legte die Kugel auf den Boden und nahm ein Steuergerät. »Sie gehen nicht das kleinste Risiko ein, wie?« fragte Brannad Klav, der dem Polizeioffizier neugierig zusah. »Wenn es sich vermeiden läßt – nein. Es gibt genug zufällige Gefahren, die man in meinem Beruf in Kauf nehmen muß.« Verkan Vall schaltete das Steuergerät ein und kontrollierte die Skalen. Plötzlich glühte die Kugel aus Metalldraht auf und verschwand. »Gestern wurden fünf von unseren Leuten verhaftet. Vielleicht hatte einer von ihnen den Schlüssel zum Allerheiligsten bei sich. Vielleicht sogar alle. Stranor Sleth meint, sie seien nicht gefoltert worden. Doch das ist eine Vermutung. Kann sein, daß man ihnen das Geständnis abgepreßt hat, wie der Energieschlüssel funktioniert. Deshalb möchte ich erst die Lage in der Transportkammer erkunden, ehe wir uns dorthin transponieren.« Verkan Vall legte das Steuergerät auf das Pult und zündete sich eine Zigarette an. Die anderen versammelten sich schweigend in einem Halbkreis um ihn. Jeder vermied es sorgfältig, auf die Stelle zu treten, wo die Metalldrahtkugel verschwunden war. Man unterhielt sich halblaut, rauchte, blickte auf die Uhr. Dreißig Minuten vergingen. Dann erschien die Metallkugel plötzlich wieder im Raum – sonderbar leuchtend, als habe man alle Farben des Spektrums über sie ausgegossen. Verkan Vall wartete zehn Sekunden, ehe er die Kugel wieder auf ihr Gestell setzte und sie öffnete. Er nahm einen kleinen viereckigen Kasten aus der Kugel, schob ihn in einen Rahmen am Kontrollpult und schaltete auf Wiedergabe. Ein dreidimensionales Bild leuchtete auf – das Innere eines Raumes, ungefähr dreißig Meter breit und zwanzig Meter
hoch. Ein langer Tisch stand darin, ein Sender und Empfänger, kleine Tische, Stühle, Sofas und ein Wandständer mit Waffen. In der Mitte des Raumes zeichnete sich auf dem Betonboden ein Kreis von etwa zehn Meter Durchmesser ab, der ein schwaches rotes Licht aussendete – wie eine riesige rotglühende Herdplatte. »Was sagen Sie dazu?« fragte Verkan Vall Tammand Drav. »Sehen Sie etwas Verdächtiges?« Der Hohepriester von Zurb schüttelte den Kopf. »Nein, es ist alles so, wie ich es verlassen habe. Niemand hat den Raum betreten.« Ein anderer Polizist löste Verkan Vall am Kontrollpult ab. Er überprüfte die Instrumente und drehte am Hauptschalter. Sofort baute sich, von kräftigem Summen begleitet, das paratemporale Transferfeld auf. Das Summen wurde immer lauter, ging in ein helles Pfeifen über und flachte dann zu einem leisen Dröhnen ab. In der Maschendrahtkuppel flackerte ein kaltes Licht. Das Licht verlöschte, und die Männer in der Kuppel blickten in die Halle einer Isotopentrennanlage auf einer anderen Zeittangente der Ersten Ebene. Die räumlichen Strukturen wechselten von Zeittangente zu Zeittangente. Gebäude erschienen und verschwanden, wie von Zauberhand weggewischt. Ein paar Sekunden lang befanden sie sich in einer künstlichen Blase mitten in einem See aus flüssigem Blei. Tammand Drav deutete um sich, ehe das flüssige Metall verschwand. »Davor habe ich jedesmal Angst«, sagte er. »Wäre eine Katastrophe, wenn hier das Feld nicht dichthielte. Bekomme jedesmal Zustände wie ein altes Weib, sobald ich beim Transfer hier durch muß.« »Das kann ich Ihnen nachfühlen«, erwiderte Verkan Vall. Jetzt ging es rascher vorwärts. Sie passierten die Zweite Ebene, dann die Dritte. Ein paar Sekunden lang waren sie mitten in einer Schlacht. Gepanzerte Kampfwagen umringten
sie. Im nächsten Moment kamen sie durch eine Straße, in der Bomben detonierten. Auf jeder Zeittangente fanden in diesem Sektor Kampfhandlungen statt. Dann sahen sie marschierende Kolonnen, die Fahnen schwangen und Transparente trugen. Sie hatten bereits die Vierte Ebene erreicht – den europäischrussischen Sektor. Dann wurde die Transfergeschwindigkeit herabgesetzt. Endlich waren sie am Ziel. Die Kuppel über ihnen wurde sichtbar. Am Kontrollpult flackerte ein grünes Licht auf. Verkan Vall öffnete die Maschendrahttür und verließ die Kuppel mit gezogener Waffe. Das Haus des Yat-Zar sah genauso aus wie das dreidimensionale Bild, das der automatische Zeitspion vorhin in die Zentrale zurückgebracht hatte. Die anderen drängten hinter dem Polizeioffizier in den Raum. Einer von den höheren Priestern nahm Mitra und falschen Bart ab und schnallte sich ein Kehlkopfmikrophon um. Verkan Vall und Tammand Drav schalteten die Beobachtungsschirme ein, um das Heiligtum des Yat-Zar einzusehen, das hinter der Tür mit den drei Vorhängen lag. Sechs Männer befanden sich in dem Raum. Sie saßen am Tisch der Oberpriester und tranken aus goldenen Bechern. Fünf von ihnen trugen die schwarze Robe mit der grünen Stickerei, die sie als Priester des Muz-Azin auswiesen. Der sechste war ein Offizier der chuldunischen Bogenschützen. Er trug eine vergoldete Rüstung. »He – die essen von den heiligen Tellern des Tempels!« rief Tammand Drav entrüstet. Dann lachte er. »Höchste Zeit, daß ich Urlaub mache. Ich nehme den ganzen Humbug schon viel zu ernst. Dieser Tempelfrevel geht mir doch tatsächlich an die Nieren!« »Nun, dann werden wir die Frevler für ihre Sünden bestrafen«, sagte Verkan Vall. »Ich glaube, dafür reichen die Ultraschallwerfer aus!«
Er nahm eine dieser stabförmigen Waffen vom Wandgestell und entsicherte sie. Dann schloß er die Tür auf. Tammand Drav und die anderen Priester stellten sich hinter ihn. Verkan Vall schob die Vorhänge auseinander, und die Gruppe betrat das Allerheiligste des Gottes Yat-Zar. Verkan Vall richtete seinen Ultraschallwerfer auf die Männer am Tisch und drückte auf den Auslöseknopf. Auch die Waffen der Priester, die neben ihm in den Raum drängten, sandten ihre Energieladung aus. Die sechs Männer am Tisch reagierten wie Marionetten, denen man die Drähte abschneidet. Der Offizier kippte bewußtlos vom Stuhl und rollte klirrend über den Boden. Die Priester ließen ihre Becher fallen und sanken in ihre Sessel zurück. »Verpaßt ihnen noch eine Ladung«, befahl Verkan Vall seinen Leuten. »Tammand, gibt es einen anderen Weg in den Tempel als die Tür dort drüben?« Tammand Drav deutete mit dem Finger. »Wir nehmen lieber die Treppe dort drüben. Sie führt auf die Galerie hinauf. Von dort können wir den ganzen Tempelraum übersehen.« »Gut, Sie nehmen Ihre Leute und besetzen die Galerie. Ich gehe mit einigen meiner Männer durch die Tür. Wir müssen mit mindestens zwanzig Bogenschützen rechnen, die den Tempel besetzt halten. Sie dürfen nicht zum Schuß kommen. Reichen drei Minuten?« »Das ist mehr als genug!« rief Tammand Drav. »Zwei genügen auch.« Tammand Drav stürmte mit seinen Priestern die Treppe hinauf und verschwand auf der Tempelgalerie. Verkan Vall ließ eine Minute verstreichen. Dann trat er in den hohlen Innenraum des Standbildsockels, begleitet von Brannad Klav und einigen Männern der Polizeitruppe. Vorsichtig spähten sie durch einen Spalt in der Tür. Sechs Bogenschützen hielten sich beim Altar auf. Sie trugen Eisenhelme und Lederkoller, die mit eisernen Ringen verstärkt waren. Sie kochten etwas in einem
Kessel über dem Feuer. Andere wieder lagen auf dem Boden und dösten vor sich hin. In einer Ecke hockten ein paar Soldaten und ließen Würfel über den Steinboden rollen. Die zwei Minuten waren um. Verkan Vall richtete seinen Paralysator auf die Männer neben dem Altar und drückte auf den Auslöser. Sie fielen um, als habe sie eine unsichtbare Faust getroffen. Im gleichen Moment betäubten Tammand Drav und seine Priester die Würfelspieler durch Energiestrahlen von der Galerie herab. Dann kamen die Männer an die Reihe, die auf dem Boden lagen und dösten. In weniger als einer halben Minute war die ganze Tempelbesatzung außer Gefecht gesetzt. »Gut so. Jetzt sorgt dafür, daß keiner vorzeitig erwacht«, befahl Verkan Vall. »Nehmt ihnen die Waffen ab. Tastet die Burschen ab, ob auch keiner ein Messer unter dem Koller versteckt hat. Wer hat die Spritzen und die Ampullen mit den Betäubungsmitteln?« Jemand hatte die Sachen bei sich, aber er war noch auf der Ersten Ebene und sollte mit dem zweiten Trupp nachfolgen. Verkan Vall fluchte leise. Solche Pannen passierten immer, wenn man ein Unternehmen durchführen mußte, an dem mehr als ein halbes Dutzend Leute beteiligt war. »Gut, dann bleiben eben zwei Leute so lange hier und passen auf die Bewußtlosen auf. Wenn einer auch nur einen Muskel bewegt, bekommt er eine Ladung. Verstanden?« Die Ultraschallwerfer waren eine wirksame Polizeiwaffe. Doch in ihrer Wirkung waren sie unberechenbar. Während manche eine gute Stunde lang bewußtlos blieben, wachten andere schon wieder nach zehn Minuten auf. Verkan Vall ging zurück ins Allerheiligste. Er blickte hinauf zu dem vergoldeten Wandschirm und überlegte, wie lange es dauern würde, bis der neue Götze Yat-Zar aus der Transferkuppel in den Tempel manövriert war. Die fünf Priester am Tisch und der Offizier der Bogenschützen waren
noch bewußtlos. Einer von Verkan Valls Leuten durchsuchte sie gerade nach Waffen. »Solche Waffen tragen diese Priester bei sich!« rief der Polizist und hob eine Kampfkeule hoch – einen kleinen Morgenstern mit kurzem Griff und einem kugelförmigen Kopf, der mit Eisennägeln gespickt war. Er warf die Waffe auf den Tisch und tastete den nächsten Priester ab. »Die Dinger tragen sie im Gürtel – he, schauen Sie mal, was der hier hat!« Er zog die Hand zurück, mit dem er dem Bewußtlosen unter die linke Achsel gegriffen hatte. Er hielt einen Sigmastrahler hoch. Verkan Vall betrachtete die Waffe und nickte mit grimmigem Gesicht. »Steckte in einem Schulterhalfter«, sagte der Polizist und reichte die Waffe seinem Vorgesetzten über den Tisch. »Was sagen Sie dazu?« »Haben Sie sonst noch etwas Verdächtiges bei ihm entdeckt?« »Augenblick mal«, der Polizist beugte sich wieder über den Bewußtlosen und zog ihm Robe und die Unterkleidung aus. Verkan Vall half ihm beim Entkleiden des Priesters, der zu den Anhängern des Krokodilgottes gehörte. Aber sie fanden nichts Verdächtiges mehr. »Er kann die Waffe natürlich einem unserer Leute abgenommen haben, die im Verlies unter der Zitadelle gefangen gehalten werden. Aber ich weiß nicht… Die Art, wie er das Halfter umgeschnallt hat, gefällt mir nicht.« Verkan Vall richtete sich auf. »Ist der Transporter schon wieder unterwegs?« Der Polizist nickte. »Gut – wenn er zurückkommt, schaffst du diesen Burschen auf die Erste Ebene. Dann läßt du dir einen Strato-Raketenwagen geben und bringst ihn nach Dhergabar. Paß auf, daß er die Reise lebendig übersteht. Er muß unter Narkohypnose verhört werden. Und zwar von einem Psychotechniker der Para-Zeit-Behörde. Sorge dafür, daß der Chef, Tortha Karf, und ein Bevollmächtigter der
Behörde bei dem Verhör anwesend sind. Ich glaube, wir sind da einer ganz bösen Sache auf der Spur!« Es dauerte eine Stunde, bis die ganze Einsatzgruppe im Tempel versammelt war. Der goldene Wandschirm ließ sich glücklicherweise leicht zur Seite schieben. Der präparierte Götze, den die Männer von der Ersten Ebene mitgebracht hatten, schwebte jetzt in der Mitte des Tempels. Verkan Vall blickte besorgt auf die Uhr. »Noch zwei Stunden Zeit bis Sonnenuntergang«, murmelte er und blickte Stranor Sleth an. »Aber Sie deuteten darauf hin, daß diese Hulguner nicht viel von Astronomie verstehen. Außerdem ist der Himmel bedeckt. Ich hoffe, Crannar Jurth wird uns rechtzeitig verständigen.« Weitere Minuten schlichen dahin – zehn, zwanzig. Dann kam der »Priester«, der am Funksprechgerät saß, in den Tempel gestürzt. »Es ist so weit!« rief er. »Der Verbindungsmann in Crannar Jurthens Waffenschmiede hat mich eben verständigt. Crannar Jurth ist im Palast und hat mit seinem Verbindungsmann über einen Minisender Kontakt, den er sich in den Kragen eingenäht hat. Die Opfer sind noch nicht aus dem Verlies geschafft worden. Doch der König ist bereits da. Kurchuk sitzt auf seinem Thron auf der Tribüne, die man vor der Zitadelle aufgebaut hat. Eine große Menge versammelt sich im Hof des Palastes. Auf den Straßen vor dem Palast drängen sich die Menschen. Die Palasttore stehen weit offen.« »Besser kann es gar nicht werden!« rief Verkan Vall. »Wir formieren uns! Brannad, Tammand, Stranor und ich – wir gehen in der ersten Reihe. Dahinter zehn Männer mit Paralysatoren. Dann folgt der Götze – ungefähr drei Meter über dem Boden schwebend. Der Rest formiert sich. Alles klar? Gut – ohne Tritt – marsch!« Sie gingen die Stufen vor dem Tempelportal hinunter und auf der breiten Allee weiter, die vom Tempel zum Palast führte. Zuerst begegneten sie nur wenigen Eingeborenen. Die meisten waren schon vor dem
Palast versammelt. Wenige hatten Platz im Innenhof gefunden; die meisten mußten sich damit begnügen, das Schauspiel von der Straße aus zu verfolgen. Wer noch zum Palast eilte, gaffte die Männer in den Priestergewändern des Yat-Zar mit offenem Mund an, warf sich auf die Knie und flehte den Gott um Verzeihung für seine Sünden und seinen lästerlichen Abfall von der angestammten Religion. Andere wieder – die überwiegende Mehrzahl der Gaffer – begriffen sofort, daß Gott Yat-Zar den Palast heimsuchte, um mit seinen sechs Händen über König Kurchuk herzufallen. Sie drehten sich um und rannten davon, um nicht bei dem Strafgericht des Gottes das eigene Leben zu verlieren. Je näher die Prozession den Palasttoren kam, desto größer wurde das Getümmel. Viele wurden niedergetrampelt und verletzt, als die Menge entsetzt auseinanderstob. Die »Priester« mußten ihre Paralysatoren einsetzen, um dem Götzen einen Weg freizumachen. Die Panik wuchs. Denn alle waren davon überzeugt, daß Yat-Zar rücksichtslos nach links und rechts Schläge austeilte, um die Sünder vor seinem Angesicht von der Erde zu tilgen. Glücklicherweise waren die Palasttore hoch genug, daß der Gott sich nur wenige Zentimeter zu ducken brauchte, um hindurchzuschweben. Im Innern des Hofes wich die Menge an die Mauern zurück und gab der Prozession den Weg frei. Unaufhaltsam rückte sie zur hölzernen Tribüne vor, wo der König auf seinem Thron saß, umgeben von seinen Höflingen und den schwarzgekleideten Priestern des Muz-Azin. Vor der Tribüne hatte ein Trupp chuldunischer Bogenschützen Aufstellung genommen. »Horv, lasse Yat-Zar ungefähr dreißig Meter weiterschweben und auf fünfzehn Meter Höhe steigen!« befahl Verkan Vall. »Rasch!« Als der sechsarmige Götze senkrecht in die Luft stieg und sich seinem Rivalen, dem Krokodilgott, näherte, zog
Verkan Vall seinen Sigmastrahler und beobachtete wachsam die Schar der Höflinge und Priester neben dem Thron. »Wo versteckt sich der verfluchte König?« grollte eine Stimme – die Stimme von Stranor Sleth, der leise in ein kleines Mikrophon sprach, das mit den Lautsprechern im Götzen drahtlos verbunden war. »Wo ist der Gotteslästerer und Tempelschänder Kurchuk?« »Der dort, in der roten Tunika, der neben dem Thron steht, ist Ladburg«, flüsterte Tammand Drav Verkan Vall zu. »Und neben ihm steht der Hohepriester des Gottes Muz-Azin, Ghromdur.« Verkan Vall nickte nur und ließ die Männer auf der Tribüne nicht aus den Augen. Ghromdur, der Hohepriester des Muz-Azin, zog sich vorsichtig einen Schritt zurück und griff mit der Hand unter seine Robe. Im gleichen Moment gab ein Offizier den Bogenschützen einen Befehl. Die Soldaten holten Pfeile aus ihren Köchern und legten sie auf die Bogensehnen. Sogleich reagierten die Polizisten der Para-ZeitTruppe und die Priester. Die Phalanx der Söldner geriet ins Wanken. »Werft eure Waffen weg, ihr Dummköpfe!« donnerte die Stimme des Gottes Yat-Zar. »Weg damit, wenn ihr nicht auf der Stelle tot umfallen wollt! Wer seid ihr, ihr elenden Wichte, daß ihr wagt, eure Pfeile wider mich zu richten?« Wer von den Bogenschützen noch nicht betäubt war, senkte den Bogen, warf ihn auf die Erde und wich an die Mauer des Palastes zurück. Vor dem Thron türmten sich die Leiber der bewußtlosen Schützen. Verkan Vall beobachtete immer noch gespannt den Hohepriester des Muz-Azin. Ghromdur hob den Arm. In der nächsten Sekunde zuckte ein Blitz auf den Götzen zu, und eine Rauchwolke hüllte die Stirn Yat-Zars ein. Der Farbanstrich über der Nickelschicht zog Blasen und verbrannte. Doch sonst war dem Götzen nichts geschehen.
Verkan Vall zielte mit seinem Strahlenwerfer und tötete Ghromdur mit einem Energiestrahl. Als der Mann mit der grünbestickten Robe zu Boden stürzte, rollte ein Sigmastrahler hinunter auf die Steinplatten des Hofes. »Ist das alles, was du vermagst, Muz-Azin?« kam dröhnend die Stimme aus dem Lautsprecher des Gottes Yat-Zar. »Wo ist dein oberster Priester? Hast du ihm nicht helfen können?« »Horv, schwenke Yat-Zar so herum, daß er seinen Rivalen anblickt«, rief Verkan Vall mit halblauter Stimme über die Schulter. Im gleichen Augenblick zog er mit der linken Hand seinen Neutronenwerfer. Während der schwerelos schwebende Götze sich bedächtig um seine Achse drehte, um den Rivalen mit seinen Türkisaugen anzufunkeln, zielte Verkan Vall mit seinem Neutronenwerfer. An einer winzigen Stelle – nicht größer als ein Millimeter im Durchmesser – in der Schuppenhaut des Krokodilgottes fraß sich der Neutronenstrahl in die Atomstruktur des Steines, aus dem der Götze angefertigt war. Seine Energie brach Neutronen aus den Atomkernen heraus, setzte ungeheure Kräfte frei und lösten eine Kettenreaktion aus. Aus den schweren Atomkernen wurden Wasserstoffatome. Ein greller Blitz, ein Knall – und das Götzenbild war verschwunden. Yat-Zar lachte dröhnend, drehte dem jetzt leeren Wagen den Rücken zu, der wie eine Pechfackel verbrannte, und funkelte mit seinen Augen die Menge auf der Tribüne an. »Hände hoch – sofort!« befahl Verkan Vall in der Sprache der Ersten Ebene, während er beide Waffen auf die Menge auf der Tribüne richtete. »Kommt herunter!« Labdurg hob als erster die Hände und kam von der Tribüne herunter. Zwei Priester des Muz-Azin folgten seinem Beispiel. Sie wurden von den Polizisten in Empfang genommen und durchsucht. Die anderen Polizisten schwärmten auf der Tribüne aus und entwaffneten die Leute. Die zwei Priester
waren mit Sigmastrahlern ausgerüstet. Labdurg trug sogar einen Neutronenwerfer im Gürtel. King Kurchuk klammerte sich entsetzt an die Armlehnen seines Thrones. Er war ein großer, kräftiger Mann mit breiten Schultern und schwarzem Vollbart. Unter »normalen« Umständen hätte er in seiner vergoldeten Rüstung bestimmt eine gute Figur gemacht. Doch jetzt war er aschfahl im Gesicht und kaute nervös auf seiner Unterlippe. Die Höflinge und einheimischen Priester des Muz-Azin auf der Tribüne waren in einem noch viel schlimmeren Zustand als ihr Herrscher. Die hulgunischen Höflinge drängten sich zusammen wie Hühner und versuchten ängstlich, von ihrem König und den Priestern des Muz-Azin so weit abzurücken, wie es der Platz auf der Tribüne erlaubte. Die Priester starrten wie betäubt auf den brennenden Wagen, wo eben noch der Koloß des Krokodilgottes gestanden hatte. Die Priestergehilfen neben den dreieckigen Rahmen, die mit ihren Drahtpeitschen die Opfer des Muz-Azin zu Tode geißeln sollten, hatten ihre Folterinstrumente weggeworfen und zitterten vor Angst. Yat-Zar, geschickt ferngesteuert und manipuliert, schwebte jetzt direkt über dem Thron. Kurchuk starrte zu dem Gott hinauf. Seine Knöchel wurden weiß, so heftig klammerte er sich an die Lehnen. Er hielt auch trotzig stand, bis er das Gewicht des Gottes auf seinem Kopf spürte. Erst dann warf er sich mit einem heiseren Schrei nach vorn und fiel dabei fast von der Tribüne. Yat-Zar schwebte elegant zur Seite, stieß den Thron zur Seite und ließ sich dann an dieser Stelle auf der Tribüne nieder. Kurchuk, der sich vorsichtig auf Hände und Knie aufstützte, blickte das Götterbild ängstlich an. Der Gott schien verächtlich auf ihn herabzublicken. »Wo sind meine Priester, Kurchuk?« sprach Stranor Sleth in das Mikrophon am Ärmel. »Laß sie vor mein Angesicht bringen! Und wehe, es ist ihnen auch nur ein Haar gekrümmt worden! Du müßtest den
Tag verfluchen, an dem du das Licht der Welt erblicktest!« Im gleichen Augenblick wurden die sechs Priester des Yat-Zar bereits auf die Tribüne geführt. Einer von Kurchuks Höflingen hatte sie inzwischen befreit. Dieser Adelige – Yorzug war sein Name – wußte sofort, auf wessen Seite er stehen mußte, als er die Wunder des Yat-Zar beobachtete. Es genügte ihm schon der Anblick des Götzen, als er durch die Palasttore schwebte, um zu begreifen, welcher Gott der stärkere war. Er hatte sein Gefolge zusammengerufen, war in das Verlies des Palastes geeilt und hatte befohlen, die Gefangenen freizulassen. Jetzt führte er sie auf die Tribüne und versicherte mit lauter Stimme, daß er immer ein treuer Diener von Yat-Zar gewesen sei und den Abfall seines Herrschers außerordentlich bedauert habe. »Höre meine Worte, Kurchuk«, sprach Stranor Sleth über den Lautsprecher des Götzen. »Du hast dich schwer gegen mich versündigt. Wäre ich ein grausamer Gott, müßtest du Qualen erleiden, wie sie noch kein Sterblicher ertragen hat. Doch ich bin ein barmherziger Gott. Also wisse, daß du Verzeihung durch Buße erlangen kannst. Dreißig Tage lang sollst du weder Wein trinken noch Fleisch essen. Du darfst weder Gold noch kostbare Kleider tragen. In Sack und Asche gehüllt, sollst du jeden Tag im Tempel vor mein Angesicht treten und mich um Verzeihung bitten. Und am einunddreißigsten Tag sollst du barfuß und im Gewande eines Sklaven von hier aufbrechen und zu meinem Tempel pilgern, der in den Bergen über Yoldav liegt. Dort werde ich dir vergeben, nachdem du mir geopfert hast. Ich, dein Herr, Yat-Zar, habe gesprochen.« Der König richtete sich auf, Dankesworte stammelnd. »Stehe nicht eher aufrecht vor mir, bis ich dir vergeben habe!« donnerte der Gott ihn an. »Krieche im Staub und entferne dich auf dem Bauch aus meinem Angesicht, Unglückseliger!« Der Rückweg zum Tempel ging durch eine ruhige Nebenstraße in lockerer Formation. Yat-Zar schien guter
Laune zu sein. Die Einwohner von Zurb atmeten auf. Die Priester des Muz-Azin und ihre Folterknechte hatte man in das Verlies unter dem Zitadellenturm gesperrt. Yorzuk, der blitzschnell schaltende Edelmann, war für die Zeit der Thronvakanz – denn der König konnte als Büßer seine Regierungsämter nicht wahrnehmen – zum Reichsverweser ernannt worden. Er hatte sofort alle verfügbaren hulgunischen Speerkämpfer und chuldunischen Bogenschützen, die sich rasch zum neuen Glauben bekannt hatten, aufgeboten, um Ruhe und Ordnung im Land wiederherzustellen. So nebenbei entledigte er sich seiner gefährlichsten politischen Feinde und persönlichen Gegner, wie das bei jedem Umsturz üblich ist, wenn der Wind plötzlich aus der entgegengesetzten Richtung bläst. Die Priester des Yat-Zar, deren Gott mit triumphierender Miene vorausschwebte, zogen frohlockend in ihren Tempel ein. Die drei Gefangenen, die mit Waffen ausgerüstet gewesen waren, die eindeutig von der Ersten Ebene stammten, führten sie mit sich. Ein paar gläubige Anhänger des Yat-Zar wollten ebenfalls in den Tempel hinein; doch man wies sie zurück. Erst müsse man mit einem geheimen Ritual den entweihten Tempel reinigen, sagten die Priester des Yat-Zar. Vorher dürfe kein Laie den Tempel betreten. Verkan Vall, Brannad Klav und Stranor Sleth betraten mit den übrigen Priestern und den Beamten der Trans-Zeit-Polizei die Transferkammer hinter dem Allerheiligsten. Dort sollten die Gefangenen einem ersten Verhör unterzogen werden. Verkan Vall nahm seinen falschen Bart ab und drehte sich zu den Gefangenen um. Man sah ihren Gesichtern an, daß sie ihn erkannten. »Ihr steckt in einer bösen Klemme«, sagte Verkan Vall. »Ihr habt gegen drei Gesetze verstoßen – gegen das Para-Zeit-Transfergesetz, das Handelsgesetz und das Strafgesetzbuch der Ersten Ebene. Wenn ihr wißt, was euch guttut, packt ihr auf der Stelle aus. Sonst geht es euch allen dreien an den Kragen.«
»Ich mache keine Aussage ohne meinen Anwalt«, erwiderte der Gefangene, der unter dem Namen Labdurg als Berater des Königs aufgetreten war. »Und ich verlange mein Eigentum zurück – meine Zigaretten und mein Feuerzeug.« »Sie können eine von meinen Zigaretten rauchen«, erwiderte Verkan Vall. »Ich weiß nicht, ob in Ihren Zigaretten nicht noch etwas anderes steckt außer Tabak.« Er reichte dem Gefangenen sein Zigarettenetui und gab ihm dann Feuer. »Ich werde schon dafür sorgen, daß ihr lebendig zur Ersten Ebene zurückkehrt.« Der frühere Minister des Königs von Zurb zuckte die Achseln: »Ich werde trotzdem nicht reden.« »Ist ja auch nicht nötig. Wir holen in der Narkohypnose doch alles aus Ihnen heraus«, meinte Verkan Vall. »Außerdem haben wir schon einen von Ihren Leuten vorausgeschickt, den wir hier im Tempel überrumpelten, als wir das Allerheiligste stürmten. Er wird zur Zeit gründlich in die Mangel genommen, da er offensichtlich zur Vierten Ebene gehörte, aber eine Waffe von unserer Ebene besaß. Wenn Sie jetzt reden, wird die Strafe für Sie milder ausfallen.« Der Gefangene warf die Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Schuh aus. »Wenn Ihr Polypen von mir was wissen wollt, müßt ihr euch schon anstrengen«, brummte er. »Ich habe gute Freunde auf der Ersten Ebene. Die werden mich in Schutz nehmen.« »Das bezweifle ich sehr. Die haben alle Hände voll zu tun, um sich selbst zu schützen, wenn diese Schweinerei publik wird.« Verkan Vall wendete sich den beiden Männern in der schwarzen Robe zu. »Habt ihr noch was zu sagen?« Die beiden schüttelten nur stumm den Kopf. Verkan Vall gab seinen Leuten ein Zeichen. Diese führten die Gefangenen ab in die Transferkuppel. »Haltet sie in der Abfertigungshalle auf der Ersten Ebene so lange fest, bis ich nachkomme!« rief Verkan Vall seinen Leuten nach. »Ich fahre mit der zweiten Gruppe!«
Die Transferkuppel glitzerte im kalten Licht und verschwand. Brannad Klav starrte einen Moment auf den glühenden Kreis im Beton. Dann sah er Verkan Vall an. »Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte er heiser. »Diese Kerle sind Leute von der Ersten Ebene. Ghromdur, der Priester, den Sie im Palast getötet haben, gehörte ebenfalls dazu!« »Natürlich. Sie arbeiteten im Auftrag Ihrer Konkurrenz, des Erzsyndikats der Vierten Ebene. Die Firma hatte sich um Ihre Schürfrechte für uranhaltige Erze im vorarischen Sektor beworben. Außerdem arbeitet sie bereits in diesem Sektor. Sie besitzt die Förderrechte für Erdöl auf chuldunischem Territorium östlich des Kaspischen Meeres. Wie Sie wissen, sind die letzten Kriege im EuropäischAmerikanischen Sektor um den Besitz der Erdölfelder ausgefochten worden. Doch inzwischen haben die Europäer und Amerikaner in diesem Sektor die Kernspaltung entdeckt. Radioaktives Erz ist jetzt wichtiger als Erdöl. In spätestens hundert Jahren wird die Kernenergie das Erdöl verdrängt haben. Kein Wunder, daß das Erzsyndikat sich eine gute Ausgangsposition verschaffen will. Ihre Schürfrechte im vor arischen Sektor stach ihnen in die Augen. Sie wollten diese Förderrechte gern an sich reißen. Mir kam der erste Verdacht, als Stranor erwähnte, daß Tularämie normalerweise auf diesem Sektor in Eurasien unbekannt ist und nirgends als Seuche auftrat. Deshalb mußten die Krankheitserreger aus einem anderen Sektor eingeschleppt worden sein. Ich wußte auch, daß das Erzsyndikat einen Agenten am Hofe des Kaisers Chombrog von Chuldun hatte, denn die Firma beutet die Ölfelder an der östlichen Grenze seines Reiches aus. In der vergangenen Nacht habe ich dann die Archivfilme der ParaZeit-Kommission in der Bibliothek von Dhergabar eingesehen. Dabei stellte ich fest, daß es einen König Kurchuk von Zurb
auf jeder Zeittangente vor und nach dieser Zeit gab und geben wird – die Dynastie stirbt erst nach hundert Parajahren aus –, daß aber nur auf dieser Zeittangente eine Heiratsverbindung mit der chuldunischen Dynastie erfolgt – nämlich mit Prinzessin Darith – und auch nur in diesem Parajahr ein chuldunischer Schreiber namens Labdurg eine Rolle bei Hofe spielt. Deshalb habe ich auch den Götzen Yat-Zar mit Nickel überziehen lassen. Denn sollten sich Leute unserer eigenen Ebene als Priester des Muz-Azin im Palast des Königs Kurchuk aufhalten, würden sie natürlich versuchen, unseren Gott mit einem Neutronenwerfer zu zerstören, sobald er im Palast auftauchte. Ich hatte besonders Ghromdur und Labdurg in Verdacht. Als Ghromdur sich verriet, weil er seinen Sigmastrahler zog, schoß ich ihn nieder. Der Rest war einfach.« »Haben Sie deshalb auch den automatischen Spion vorausgeschickt?« »Ja. Es hätte ja sein können, daß unsere Rivalen eine Bombe im Hause des Yat-Zar versteckt hatten. Ich wußte, daß sie zwei Möglichkeiten zur Auswahl hatten: entweder den Tempel sprengen oder ihn unbeachtet lassen. Ich vermute, daß die Burschen so sehr davon überzeugt waren, ihr Plan würde gelingen, daß sie den Tempel und die Transferkammer verschonten. Sie wollten die Anlagen für ihre Firma übernehmen.« »Begreiflich. Was wird die Kommission jetzt in dieser Sache unternehmen?« fragte Brannad Klav. »Eine Menge. Zuerst einmal wird man dem Erzsyndikat die Lizenz wegnehmen. Es darf also nicht mehr außerhalb unserer Zeitlinie arbeiten. Alle Direktoren der Firma, die von den kriminellen Umtrieben ihrer Agenten Bescheid wußten,
werden natürlich bestraft. Schließlich ist das kein kleines Vergehen, was die Leute hier angerichtet haben.« »Das kann man nur unterstreichen!« sagte Stranor Sleth. »Haben Sie die Peitschen gesehen, mit denen sie unsere Leute zu Tode foltern wollten? Einen Zentimeter lange Stahlspitzen, an dünnen Stahlruten befestigt!« »Ich habe sie gesehen. Sie bekommen freie Hand; wie Sie die Priester des Muz-Azin bestrafen wollen, ist Ihre Sache. Ich meine natürlich damit die einheimischen Priester. Die Erste Ebene wird sich darum nicht kümmern. Und da fällt mir noch etwas ein. Sie müssen so rasch wie möglich ein politisches Konzept entwickeln, wie es hier weitergehen soll.« »Gut. Was die einheimischen Priester und ihre Folterknechte anlangt, werde ich dem Verweser Yorzuk empfehlen, sie als Galeerensklaven an die Ghunguner zu verkaufen. Dieses Volk im Osten sucht ständig nach Besatzungen für seine Schiffe«, sagte Stranor Sleth. Dann wandte er sich Brannad Klav zu. »Und von Ihnen brauche ich sechs goldene Kronen, hulgunischer Stil, mit den religiösen Symbolen des Gottes YatZar darauf. Sie sollen sehr kunstvoll und prächtig aussehen, aber sich in Einzelheiten voneinander unterscheiden. Ich brauche diese Kronen so rasch wie möglich. Wenn ich Kurchuk Absolution erteile, möchte ich ihn gleichzeitig vor dem Altar des Yat-Zar zum König krönen. Dann lade ich die anderen fünf hulgunischen Könige ebenfalls in den Tempel des Yat-Zar ein, halte ihnen eine Predigt über ihre religiösen Pflichten, nehme ihnen die Beichte ab, vergebe ihnen ihre Sünden und kröne sie ebenfalls. Von da ab können sie ihre königlichen Rechte von der Gnade des Gottes Yat-Zar ableiten.« »Und von diesem Augenblick an fressen sie Ihnen aus der Hand«, ergänzte Verkan Vall lächelnd. »Wahrscheinlich geht dieser Tag als denkwürdiges Ereignis in die hulgunische
Geschichte ein. Ich habe mich schon immer gefragt, ob die Theorie vom Gottesgnadentum der Könige von den Königen erfunden wurde, um ihre Herrschaft über das Volk zu festigen, oder von den Priestern, um ihre eigene Herrschaft über die Könige zu zementieren. Ich glaube, es hilft beiden.« »Eines kann ich immer noch nicht begreifen«, meldete sich Brannad Klarv wieder zu Wort. »Ich habe Stranor Sleth verboten, Waffen oder Geräte von der Ersten Ebene zu verwenden, weil ich nicht gegen das Para-Zeit-Gesetz verstoßen wollte. Sonst hätte er ja mit allerlei Wunder das Volk schon längst an sich binden können. Das Erzsyndikat hat nun gegen dieses Gesetz verstoßen, indem es in unser Schürfgebiet eingedrungen ist. Warum hat die Konkurrenz nicht mit diesen ›übernatürlichen‹ Tricks gearbeitet, um die Eingeborenen einzuschüchtern und auf ihre Seite zu ziehen?« »Ganz einfach – weil ihre Agenten hier illegal arbeiteten«, antwortete Verkan Vall. »Nehmen wir an, sie hätten tatsächlich solche ›Wundermittel‹ eingesetzt – Sigmastrahler, Neutronenwaffen, Antischwerkraft und Atomenergie. Die Eingeborenen hätten natürlich geglaubt, Muz-Azin, der Krokodilgott, habe alle diese Wunder vollbracht. Aber was hätten wir wohl geglaubt? Sie hätten sofort gewußt, daß Kollegen von der Ersten Ebene gegen Sie arbeiten und in Ihr Schürfgebiet eingedrungen sind. Sie hätten sofort die Kommission verständigt und ihr die Sache vorgetragen. Im Nu hätte es auf dieser Zeittangente von Para-Zeit-Polizeikräften gewimmelt. Ihre Konkurrenz mußte sich also nicht nur vor den Einheimischen tarnen – wie Sie das ja ebenfalls tun –, sondern auch vor uns. Deshalb hüteten sich die Agenten davor, bei ihrer Tätigkeit technische Mittel von der Ersten Ebene einzusetzen, die sofort unseren Verdacht erregt hätten. Als wir aber mit dem Götzen den Palasthof betraten, wußten die Männer von der Konkurrenz sofort, was gespielt wurde.
Wahrscheinlich wollten sie unseren Gott nur atomisieren, um ein allgemeines Durcheinander zu erzeugen. Das wollten sie dann wahrscheinlich ausnützen, um aus dem Palast zu fliehen und sich in neuer Verkleidung zur nächsten Niederlassung des Erzsyndikats zu retten. Dort hätten sie die Transferkuppel zur Ersten Ebene genommen. Ich sah diesen Schachzug voraus und ließ deshalb das Götzenbild mit Nickel überziehen. Deshalb konnte der Neutronenstrahl dem Götzenidol auch nichts anhaben. Die Agenten des Syndikats machten nur einen entscheidenden Fehler: sie erlaubten König Kurchuk, unsere Leute zu verhaften, und bestanden darauf, daß diese dem Gott Muz-Azin geopfert werden sollten. Wenn sie nicht das Leben von Bürgern der Ersten Ebene bedroht hätten, hätte die ParaZeit-Polizei keinen Anlaß gehabt, auf dieser Zeittangente einzugreifen. Ich sehe, Sie werden schon ungeduldig. Die Pflichten eines Hohepriesters rufen Sie in den Tempel zurück. Brannad und ich werden zur Ersten Ebene zurückkehren. Meine Frau und ich sind heute abend zu einem Festbankett nach Dhergabar eingeladen. Ich muß mich beeilen. Mit einem schnellen Stratowagen schaffe ich es vielleicht noch bis sieben Uhr nach Dhergabar.«
Originaltitel: TEMPLE TROUBLE. Copyright © 1951 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION April 1951. Übersetzt von Bodo Baumann
Harry Bates EIN REST VON GRÖSSE 1
Obwohl er sich fühlte, als sei sein Schädel mit Watte gefüllt, konnte er sich doch mit deutlicher Klarheit an jene nächtliche Szene in seinem New Yorker Labor erinnern. Mitternacht war längst vorüber; er hatte seit Stunden an seiner Monographie gearbeitet, die die Mutrantischen Titanen zum Thema hatte. Er wollte nämlich den wissenschaftlichen Nachweis liefern, daß die Riesen auf dem dritten Satelliten des Saturn mit dem Homo sapiens auf der Erde biologisch verwandt waren und den gleichen Ursprung hatten. Er war so sehr vertieft in seine Arbeit, daß er den gedämpften Lärm der Großstadt nicht hörte. Dann zwang ihn aber etwas, aufzusehen – der Reflex einer Bewegung vielleicht oder ein fremdartiges Geräusch. Er blickte also auf, und vor ihm stand die seltsamste Gestalt, die ihm jemals unter die Augen getreten war. Was bei seinem Beruf als Ethnologe schon etwas heißen wollte. Sein Besucher stand vor dem Schreibtisch. Er trug Sandalen und eine lose herabhängende blaue Robe. Er schien sich ein wenig unbehaglich zu fühlen. Ein rätselhaftes Lächeln spielte um seine Lippen. Was für eine Gestalt! Er konnte ihn jetzt wieder vor sich sehen – so deutlich, als stünde er noch im Lichtkegel seiner Arbeitslampe. Der Mann hatte einen massigen Kopf, eine ovale Schädeldecke, die nicht ein einziges Härchen zierte. Unter den kräftigen Stirnwülsten fiel das Gesicht in einem sanften Bogen nach hinten ab, an der gedrungenen Nase vorbei bis hinunter zu der fliehenden
Andeutung eines Kinns. Der Hals war überlang, die Schultern schmal und herabhängend, die ganze Erscheinung eine Groteske. Dennoch reizte ihn diese Gestalt nicht zum Lachen. Keiner hätte dem Mann ins Gesicht sehen und über ihn lächeln können. Die Augen – große, helle, durchdringende Augen – verhinderten das. »Sie sind Doktor Arthur Allison«, sagte der Mann. »Ich bin sehr, sehr weit gereist, um Sie zu besuchen.« »Das heißt, daß Sie nicht von der Erde stammen«, stellte Allison fest und bekam den Mund nicht mehr zu. »Richtig.« »Dann« – er konnte die Frage nicht unterdrücken – »verraten Sie mir nur eines, um Himmels willen: sind Sie eine Laune der Natur oder typisch?« Der andere lächelte. »Immer den Wissenschaftler herauskehren, wie? Ich bin typisch.« Allison stand auf und ging um den Tisch herum. »Aber, aber… das kann doch gar nicht sein!« rief er verblüfft. »Das Sonnensystem ist doch systematisch erforscht worden, und so etwas wie Sie haben wir nirgendwo entdeckt!« Das Lächeln des Fremden erlosch. »Diese Entdeckung war Ihnen vorbehalten«, sagte er anzüglich und legte eine kleine Pause ein. »Darf ich jetzt zum eigentlichen Anliegen meines Besuches kommen?« »Aber bitte. Ich bin schrecklich neugierig. Wollen Sie sich setzen?« »Nein – vielen Dank. Ich habe nicht viel Zeit.« Er blickte dem Ethnologen fest in die Augen. »Ich bin der Abgesandte eines Volkes, das Sie nicht kennen«, fing er an. »Unsere Heimat ist das Sonnensystem, obwohl eine beträchtliche Entfernung zwischen meinem Planeten und dem Ihren liegt. Aus gewissen Gründen vermeiden wir es, uns neugierigen Blicken irdischer Besucher auszusetzen. Keiner von Ihrer Generation wird dazu Gelegenheit bekommen. Sie
sind die einzige Ausnahme. Der Abstammung nach sind wir Vettern der Erdbewohner; doch unsere Wissenschaft und Zivilisation ist Ihrer um mehr als 40000 Jahre voraus. Unsere Möglichkeiten sind für Sie unvorstellbar. In der Terminologie der Vernichtung ausgedrückt: wir könnten zum Beispiel innerhalb von vierzehn Tagen jedes Leben auf der Erde und ihren Satelliten zerstören oder in der gleichen Zeit jedes Wirbeltier in einen willenlosen Sklaven verwandeln. Doch so etwas würden wir natürlich nicht tun. Wir haben das weder nötig, noch fühlen wir uns dazu gedrängt. Wir sind weder unmenschlich noch blöde. Unser selbstgewählter Entwicklungszyklus wird uns frühestens in zehn- oder zwanzigtausend Jahren mit den Erdbewohnern in Berührung bringen. Inzwischen bleiben wir das, was wir sind: unzugänglich, erhaben, glücklich und mehr oder weniger uns selbst genügend. Sie hören meine Einschränkung heraus. Alle fünfundzwanzig Jahre laden wir einen sorgfältig ausgewählten Erdbewohner zu uns ein, der uns einen Gefallen tun soll. Ohne es zu wissen, sind Sie seit Ihrem Examen unser bevorzugter Anwärter. Seit mehr als sieben Jahren werden Sie von uns beobachtet, haben wir Ihre Vorfahren bis zur zehnten Generation zurückverfolgt und Ihre Erbanlagen, Männlichkeit, Leistungen und Ihren Intellekt studiert. Sie sind genau das, was wir brauchen. Deshalb ergeht an Sie als einziger Ihrer Generation unsere Einladung. Das ist die höchste Ehre, die einem Mann in Ihrem Zeitalter überhaupt gewährt werden kann. Ich möchte Ihnen jetzt nicht verraten, was für einen Gefallen Sie uns tun sollen. Sie können mir blind vertrauen, mir ungefragt gehorchen. Sie werden weder einer Gefahr ausgesetzt noch werden Sie Schaden nehmen. Sie müssen sofort abreisen und werden auf einem Weg in meine Heimat gelangen, den ich Ihnen nicht verraten darf. Alles in allem werden Sie vier Monate
wegbleiben. Diese vier Monate werden der Höhepunkt in ihrem intellektuellen, wissenschaftlichen und emotionalen Leben darstellen. Sind Sie bereit?« »Das ist ja eine ganz ausgefallene Einladung«, erwiderte der Ethnologe, nachdem er sich von seiner Verblüffung erholt hatte. »Wir sind auch eine außerordentliche Rasse.« »Und wenn ich ablehne?« »Ich könnte Sie natürlich zwingen. Wir würden das gleiche Ziel erreichen – ob Sie uns nun freiwillig dienen oder unfreiwillig. Aber ich werde Sie nicht unter Druck setzen. Sie werden sich nicht weigern. Nicht ein einziger Mensch, an den wir bisher herangetreten sind, hat unsere Einladung ausgeschlagen.« »Hat dieser ›Gefallen‹, den ich Ihnen tun soll, etwas mit meinem Beruf zu tun?« Ein amüsiertes Lächeln spiegelte sich in den Augen des Fremden. »Ich würde das bejahen«, erwiderte er. »Es handelt sich um einfache, praktisch angewendete Ethnologie.« »Und wenn ich Ihnen den Gefallen getan habe – kehre ich dann unverzüglich wieder hierher zurück?« »Selbstverständlich. Und als Gegenleistung bringen Sie alles Wissen und alle Erfahrungen mit, die Sie sich in dieser kurzen Zeit bei uns haben aneignen können.« Allison dachte eine Weile nach. Dann fragte er: »Darf ich mal Ihre Füße betrachten?« Der Mensch aus dem All lächelte. Er setzte sich auf einen Stuhl, streifte die Sandalen ab und zeigte einen Fuß vor, den kein Erdbewohner jemals hätte sein eigen nennen können. Der große Zeh war sehr groß und wurde von einem zweiten flankiert, der ihm an Größe nur wenig nachstand. Die drei äußeren Zehen waren verkümmert. Diese Füße waren ein lebendiges Beispiel dafür, wie die Menschen in ein paar tausend Jahren auf der Erde aussehen würden.
Allison traten die Augen aus den Höhlen. Was für wissenschaftliche Erkenntnisse standen ihm auf dem fremden Planeten bevor! Als könne der Fremdling seine Gedanken lesen, sagte er: »Ihr geschätzter Mr. Wells hat das schon vor einiger Zeit festgestellt: ›Denk an den Schatz von Erfahrungen, den du gewinnen kannst!‹« Diese Worte zündeten wie ein Blitz in Allisons Bewußtsein. Er wendete sich ab, während der Fremde seine Sandalen anzog. Er stand auf. »Denk an den Schatz«, wiederholte er. Der Ethnologe drehte sich um. »Wie heißen Sie?« fragte er. Der Fremde lächelte. »Man nennt mich manchmal Jones«, erwiderte er. Und das waren die letzten Worte, die zwischen ihnen gewechselt wurden. Allison erinnerte sich nur noch, daß das Lächeln auf ihn übersprang, daß er dem anderen spontan die Hand hinstreckte, als Zeichen schweigenden Einverständnisses, und daß er den schmerzhaften Stich einer Nadel spürte, als der andere in die dargebotene Hand einschlug. Dann verließen ihn die Sinne, und er versank in die Dunkelheit des Vergessens. Anderthalb Stunden lang – nach irdischer Zeitrechnung – lag Allison wie festgeleimt auf einer makellos weißen Couch. Nur die wechselnden Eindrücke, die seine offenen Augen aufnahmen, verrieten ihm, was für einem Chaos er ausgesetzt war. Langsam, fast unmerklich, ging sein Delirium in ein mehr körperliches Empfinden über. Er bäumte sich gegen das breite Tuchband auf, das ihn auf die Couch bannte, warf sich hin und her, redete wirres Zeug in drei Fremdsprachen. Tausend Schreckgespenster bekämpften ihn auf seinem langen Weg zurück in das Bewußtsein – jedes ein Alptraum für sich, gezeugt aus unbekannten Ängsten in der chaotischen Tiefe der Besinnungslosigkeit. Zu zweit und zu dritt drangen sie auf ihn ein – schwarze Polypenarme, feurige Augen, Schuppenwesen und amorphe Gebilde. Am schlimmsten waren
jene Erscheinungen, die weder Namen noch Substanz hatten und ihn mit unsagbarer Beklemmung heimsuchten. Das Ganze war schrecklich unfair; denn keiner der Zweikämpfe wurde bis zu einer Entscheidung ausgefochten. Immer wichen ihm seine Gegner aus. Und sie wechselten ständig ihre Gestalt, wenn er sie stellte. Nie blieben sie sich gleich. Nur drei von diesen Erscheinungen bildeten eine Ausnahme. Die drei hielten sich etwas abseits, tauchten jedoch immer wieder auf und zeigten scharfe, klare Konturen. Eine dieser Erscheinungen war der Fremde aus dem All. Die zweite ein Mädchen mit blauen Augen. Und schließlich eine unendlich lange Reihe von Puppengesichtern, die alle seine Züge trugen. Jede dieser Puppen war er selbst. Während die Stunden verrannen und er sich aus der Tiefe der Bewußtlosigkeit emporkämpfte, wurde es immer dringlicher, diese wiederkehrenden Erscheinungen zu identifizieren. Sie waren von großer Wichtigkeit. Sie hingen mit seinem Leben zusammen, waren damit verknüpft gewesen oder würden es in Zukunft sein. Es blieb dunkel, was davon zutraf. Auf jeden Fall waren sie alle Geheimnis und Drohung zugleich. Um ihnen ihr Geheimnis zu entlocken, errichtete er gewaltige Gebäude metaphysischer Gedankengänge, flocht unendlich lange Beweisketten, während er gleichzeitig Meere durchschwamm, durch Feuer watete, in bodenlose Sümpfe versank, um den schrecklichen Dämonen zu entgehen, die ihn ständig bedrängten. Doch jedesmal, wenn die Wahrheit schon zum Greifen nahe schien, vergaß er wieder, wonach er eigentlich suchte, und er mußte mit seinen Überlegungen wieder von vorn anfangen. Wer war der Fremde aus dem All? Wer das blauäugige Mädchen? Diese Puppengesichter – waren sie Abbilder von ihm? Warum trugen sie immer nur sein Gesicht?
Er versuchte es mit neuen Tricks. Er schloß die Augen. Erst nach einer Weile würde er sie wieder öffnen – ganz plötzlich. Dann würde er die Wahrheit wissen.
Der Mann auf der makellos weißen Couch schloß die Augen und lag ganz still. Ein langer, langer Schlaf brachte ihn wieder zu sich selbst zurück. Allison erwachte sanft, lag eine Weile still da und fragte sich, wie er hierher in dieses Zimmer gekommen war. Es hatte quadratische Wände, und aus den langen Röhren dicht unter der Decke drang ein eigenartiges, doch wohltuendes Licht. Von einem Fenster war nichts zu sehen; doch in der Wand zu seiner Rechten war eine Metalltür zu erkennen. Er wendete sich ihr zu – und merkte, daß er festgehalten wurde. Die Angst rüttelte ihn auf. Er war jetzt hellwach. Er bäumte sich auf und sah, daß ein breites Tuchband seinen Oberkörper und seine Schenkel bedeckte. Seine Arme konnte er ungehindert bewegen. Er tastete mit den Händen an den Bändern entlang und fand eine Schließe, die sich leicht öffnen ließ. Er setzte sich auf, befreite seine Beine und schwang sich von der Couch herunter. Doch die Tür war versperrt. »Nicht sehr angenehm«, dachte er, schob sein blondes Haar aus der Stirn und betrachtete wieder das Zimmer. Am Kopfende der Couch stand ein kleiner Tisch. Andere Möbel gab es hier nicht. In der Wand gegenüber war ein Gitter unter der Decke eingelassen. Wahrscheinlich die Klimaanlage. Die Wände sahen wie gelber Marmor aus. Bestimmt irgendein synthetisches Material. Er drehte sich wieder der Tür zu, hämmerte mit den Fäusten dagegen, rief: »He – Jones!« Er horchte. Er glaubte ein schwaches Echo hinter der Tür zu hören. Wieder rief er nach Jones. Doch es kam niemand. Verwirrt und ärgerlich ging er zur Couch zurück, setzte sich
darauf, stützte den Kopf in die Hände. Er mußte so lange Geduld haben, bis »Jones« kam und ihn befreite. Ohne Zweifel hatte man ihn betäubt, und er hatte eigentlich kein Recht, sich darüber zu beklagen. Schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, daß Reiseweg und Bestimmungsort geheim bleiben sollten. Doch wie unglaublich schnell hatte der Fremde gehandelt! Und seine Bewußtlosigkeit mußte sehr lange gedauert haben. Einen halben Zentimeter lange Bartstoppeln bedeckten sein Gesicht. Kein Zweifel – er war am Zielort seiner Reise. Der Ethnologe stand wieder auf und lief im Zimmer auf und ab. Er machte sich jetzt Vorwürfe, daß er so widerstandslos wie ein Schaf auf die Bedingungen des Fremden aus dem All eingegangen war. Eine Reihe von Fragen fielen ihm ein, die vorher hätten geklärt werden müssen. Wichtige Angelegenheiten standen an, die er vor dem Verlassen der Erde noch hätte regeln müssen. Nichts war geschehen. Er hatte Jones die Hand gegeben – und dieser hatte prompt gehandelt. Verdammt überstürzt, das alles. Und wo war er jetzt überhaupt? Wieder trommelte er gegen die Tür und rief nach Jones. Vergeblich. Er konnte nichts anderes tun, als im Zimmer aufund abzuwandern. »Jones?« Bestimmt der letzte Name für einen Mann aus dem All. Aber verdammt zweckmäßig. In Wirklichkeit hieß er natürlich Ugkthgubx oder so ähnlich. Bestimmt hatte er einen Namen, bei dem man sich die Zunge verrenkte. Paßte zu seinem Gesicht… Der Mann von der Erde blieb plötzlich stehen. In seinem Bewußtseinsstrom war ein Bild aufgetaucht, das er nicht identifizieren konnte. Irgendein Mädchen – blauäugig und schön. Und noch etwas – das mit ihr verbunden war – Reihen um Reihen – schrecklich – er selbst – Das Bild verschwand.
Er setzte sich wieder auf die Couch. Geduldig suchte er, das Bild wieder in sein Bewußtsein zu heben. Es kam – ging – kam wieder. Unendlich lange Reihen von Puppengesichtern. Aber warum waren sie alle Abbilder von ihm? Warum glichen sie ihm aufs Haar? Es lief ihm eiskalt über den Rücken. Hatte man ihm etwas angetan, während er bewußtlos auf der Couch gelegen hatte? Später: Warum dieses starke Gefühl, weshalb diese Angst, sobald er sich an die Puppen erinnerte? Noch später: Warum immer dieser Gedankenblitz, man hätte mir etwas angetan, als ich bewußtlos war? Er ließ den Kopf hängen, suchte nach Antworten, die nicht kommen wollten. Schließlich verschwanden die Bilder wieder und ließen nur ein unbestimmtes Gefühl der Niedergeschlagenheit zurück. Er stand auf, um die depressive Stimmung abzuschütteln. »Gott gnade Jones, wenn er mir etwas angetan hat!« murmelte er. Ein Geräusch schreckte ihn auf. Er drehte sich zur Tür um. Er sah den massigen Schädel, den er wohl nie mehr vergessen würde. Jones trat ins Zimmer und lächelte. »Sie haben sich wieder erholt?« fragte er höflich. Ein ärgerliches Wort drängte sich Allison auf die Lippen. Doch er sprach es nicht aus. Hinter dem Mann aus dem All stand ein Mädchen. Sie war mit einer einfach geschnittenen, locker sitzenden scharlachroten Robe bekleidet. Sie hatte blaue Augen und war wunderschön. Jones winkte ihr zu. »Doktor Allison«, sagte er, »darf ich Ihnen Miss CB-301 vorstellen?«
2 Allison zeichnete sich nicht gerade durch sein unbefangenes Benehmen aus, als er dem Mädchen vorgestellt wurde. Es war ihm unbegreiflich, daß er jetzt das Mädchen zum erstenmal sah
und sie ihm doch als Bild seiner Erinnerung bereits vertraut war. Seine Verlegenheit war auf keinem Fall auf ein romantisches Gefühl zurückzuführen, als habe er sich in das Mädchen »verknallt«. Nein, eine solche Spekulation war bei Allison nicht angebracht. Ein Dutzend Mädchen hatten ihn bereits getestet und feststellen müssen, daß er immun war – obgleich ein Psychoanalytiker seine angebliche »wissenschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Sex« wahrscheinlich auf die absurde Tatsache reduziert hätte, daß er sich einfach ein bißchen vor den Mädchen fürchtete. Der Ethnologe murmelte irgend etwas, als er hörte, daß diese Miss Soundso ihn auf konventionelle irdische Art mit »Hallo!« begrüßte. Jones strahlte über sein breites, haarloses Gesicht, wich an die Tür zurück, entschuldigte sich, daß er mit Arbeit überhäuft sei, und sagte: »Miss CB-301 spricht Ihre Muttersprache. Sie wird Ihnen alles erklären, soweit es nicht der Geheimhaltung unterliegt. Ich lasse mich später wieder sehen.« Die Tür fiel ins Schloß. Zurück blieb ein etwas verwirrter jugendlicher Ethnologe und ein unbefangenes junges Mädchen mit Sommersprossen auf der Nase. Allison verharrte steif und unbehaglich auf der Stelle. So etwas hatte er bestimmt nicht erwartet. Und schon gar nicht so rasch. Zum Kuckuck mit diesem Jones. Was sollte er nur zu dem Mädchen sagen? Hübsches Wetter heute? Nein. Schmeicheleien hörten die lieber. Er lobte sie, weil sie eine akzentfreie Aussprache hatte. Wahrscheinlich weil sie ungewöhnlich begabt sei. »Aber nein doch – ich bin entsetzlich dumm!« gestand das junge Ding mit entwaffnender Offenherzigkeit. »In der vierdimensionalen Geometrie bin ich ein glatter Versager. Aber Englisch ist einfach. Glauben Sie nicht auch?« Ja, da war er ganz ihrer Meinung. Er taute ein bißchen auf. »Dann möchte ich Ihnen zu Ihrer Aufrichtigkeit gratulieren«,
sagte er. »Die wenigsten geben ihre Dummheit zu. Und gerade die Frauen zeichnen sich in diesem Punkt meistens nicht durch Bescheidenheit aus. Ich muß gestehen, ich finde Ihre Bemerkung ganz reizend.« Das Mädchen lächelte vergnügt, und Allison lächelte auch. Dann überkam sie ein unangenehmer Gedanke. Ihr Gesicht wurde traurig. »Ich bin ein Atavismus.« Was für eine Artigkeit ließ sich wohl darauf erwidern? Der Ethnologe in Allison regte sich. »Zeigen Sie mir mal Ihre Füße!« sagte er energisch. »Oh – nein! Bitte, tun Sie mir das nicht an!« Sie wich vor ihm zurück. »Aber weshalb denn nicht?« fragte er. »Weil sie so häßlich sind!« erwiderte das Mädchen zerknirscht. »Sie dürfen meine Füße nicht sehen! Niemals!« »Setzen Sie sich hin und streifen Sie die Sandalen ab!« befahl er. Schließlich war sie doch noch ein Kind, und ihre Weigerung war töricht und ungerechtfertigt. Zitternd gehorchte das Mädchen. Allison erblickte das schönste Paar fünfzehiger Füße, das ihm jemals unter die Augen gekommen war. Außerordentlich interessant – so eine totale Abweichung von dem hier vorherrschenden Phänotyp. Er lächelte. Sie sah es, fühlte sich schon viel besser und zog rasch wieder ihre Sandalen an. »Immerhin«, sagte sie, »könnten wir beide prächtig miteinander auskommen, auch wenn ich ein Atavismus bin. Sie sind ein Primitiver.« Sie sah ihn an – erwartungsvoll, schmachtend. Allison lachte. Er hatte sein Gleichgewicht wiedergefunden und war vollkommen Herr der Lage. Schließlich war er immun; das sollte man nicht vergessen. »Das klingt ja, als würden Sie mir einen Antrag machen«, sagte er. »Wir sollen verheiratet werden«, gestand sie ihm. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
Das war ja eine überraschende Eröffnung. Ein schrecklicher Verdacht überkam ihn. »Hat man mich deswegen von der Erde hierher gebracht – damit ich Sie heiraten soll?« fragte er ärgerlich. »Oh, nein! Nicht nur mich!« antwortete sie. Doch sofort schien sie zu spüren, daß sie einen Fehler gemacht hatte; denn sie fügte rasch hinzu: »Ich sah Sie, als man Sie einlieferte, und fragte die Leute. Sie müssen das verstehen – Sie sind der erste Mann, der zu mir paßt, weil Sie so gebaut sind wie ich. Bei keinem anderen hatte ich ein so komisches Gefühl wie bei Ihnen.« Das beruhigte ihn wieder. Aber er mußte ihr noch einen Korb geben. Er hatte sich in keiner Weise kompromittiert. Es war wirklich ihr Pech, wenn sie »komische Gefühle« für einen Mann entwickelte, der immun war. Ein hoffnungsloser Fall. Er mußte Reif auf die Knospen streuen, ehe sie sich zu Blüten entfalteten. »Lady, ich mag Sie recht gern«, sagte er. »Aber meine Interessen sind ausschließlich ethnologischer Natur. Tut mir leid, aber mehr kann daraus nicht werden. Ich – ich werde – ich werde wie ein großer Bruder zu Ihnen sein«, schloß er unbeholfen. Das Mädchen war verletzt. Sie senkte den Kopf. Es war eine peinliche Situation. Allison zwang sich zu einer Munterkeit, die er gar nicht empfand. »Erzählen Sie mir etwas von den Leuten, die hier leben«, forderte er sie auf. »Sehen sie alle so aus wie der Mann, der mich hierhergebracht hat? Sind Sie die einzige, die von der Norm abweicht?« Ihre Miene hellte sich wieder etwas auf. »Ja«, antwortete sie, »ich bin die einzige, die so aussieht wie Sie. Sehen Sie – ich werde es Ihnen zeigen.« Sie hob das linke Handgelenk. Sie trug etwas daran, das wie eine emaillierte Armbanduhr aussah. Doch das Gehäuse dieser »Uhr« war ziemlich groß, besaß statt eines Ziffernblattes nur
eine matte Scheibe und war mit fünf korkenzieherartigen radialen Sprossen versehen. »Habt ihr so etwas auch auf der Erde?« fragte sie. Er verneinte. »Schauen Sie!« sagte sie, drehte sich in eine bestimmte Richtung und drehte an den Sprossen. Allison stand dicht neben ihr und beobachtete die Mattscheibe. Sie leuchtete auf, bunte Schlangen und Punkte erschienen, die sich schließlich zu einem Bild zusammenfügten. Köpfe und Gestalten wurden sichtbar. Ein paar Frauen bewegten sich im Bildausschnitt. »Fernsehempfänger«, sagte er. »Sie empfangen den Ortssender.« »Nein«, verbesserte sie ihn. »Tragbares Suchgerät. Bis zu einer gewissen Entfernung kann ich das Gerät auf jeden beliebigen Gegenstand oder Vorgang einstellen. Die Strahlen durchdringen fast jedes Hindernis.« Allison staunte. »Doch darum geht es jetzt gar nicht«, sagte sie. »Schauen Sie sich einmal die Frauen an. Glauben Sie, daß sie hübscher sind als ich?« Sie waren ganz bestimmt nicht hübscher. Jede von ihnen war das feminine Gegenbild von Jones: lange, säulenartige Hälse; herabhängende Schultern; widerliche Köpfe, wenn man berücksichtigte, daß es sich hier um Vertreter des »schönen Geschlechts« handelte. Die Gesichter waren breitflächig, mit fliehendem Kinn, vorspringender Stirn und einem dünnen Haarkranz um den kahlen Schädel; wie Ostereier, die man mit einem Sträußchen garniert. Allison schüttelte sich. »Vielen Dank«, sagte er. »Sehen Sie?« rief das Mädchen triumphierend, als ob seine Bemerkung ihre Ehe bereits besiegelt hätte. »Das ist ein Ausschnitt aus einer langen Reihe wartender Bräute. Sie müssen eine von uns heiraten!« »Nun – ich werde ganz bestimmt keine von denen heiraten«, erwiderte der Ethnologe unwillig. »Wie kommen Sie zu dieser
Behauptung?« fragte er, während ihn wieder ein böser Verdacht beschlich. »Weshalb? Warum?« fragte er und folgte ihr, während sie zurückwich. Das Mädchen konnte kaum mehr die Tränen zurückhalten. »Ich kann es Ihnen nicht sagen! Ich will nicht!« rief sie. »Aber es ist eine Schande! Denn ich dachte, es ginge alles ganz leicht und würde so nett sein! Weil Sie ein Primitiver sind!« Allison wendete sich wieder ab. Von ihr bekam er bestimmt keine befriedigende Auskunft. Sie war Atavist – ohne Zweifel. Er mußte unbedingt mit diesem Mann Jones sprechen. Er war ihm eine ganze Reihe von Erklärungen schuldig. Bisher hatte man ihn recht schäbig behandelt. Er wendete sich wieder dem Mädchen zu. »Miss… Miss – « er brach ab. »Verzeihen Sie – wie war Ihr Name doch gleich?« »Miss CB-301.« »Ah – ja. Darf ich Sie vielleicht Miss Brown nennen? Äh – Miss Brown – könnten Sie liebenswürdigerweise Mr. Jones ausrichten, er möchte hierherkommen? Ich meine den Mann, der uns gegenseitig vorgestellt hat. Ich muß ihn dringend sprechen.« Etwas kühner setzte er hinzu: »Oder vielleicht kann ich selbst zu ihm gehen?« »Oh, nein, das können Sie nicht. Ich werde ihn hierherbringen.« Sie schien sich jetzt ein bißchen vor ihrem Primitiven zu fürchten. »Ich glaube, ich muß auch mit ihm reden.« »Können Sie mir inzwischen das Suchgerät überlassen, während Sie Jones holen?« Sie zögerte ein bißchen, als ob sie so etwas nicht tun dürfe. Doch dann schnallte sie es ihm um das linke Handgelenk – mit einer impulsiven Bewegung, als wolle sie ihm zeigen, wie gern sie ihm einen Gefallen tat. Sie ist wirklich schön, dachte er. Üppiges Haar – kräftig, geschmeidig und geschmackvoll im
Nacken mit einer juwelenbesetzten Spange festgehalten. Was für ein Kontrast zu jenen anderen Frauen! Sie klopfte gegen die Tür, und ein Mann in brauner Robe öffnete. Einen Augenblick sah sie Allison zärtlich an. Dann verschwand sie. Was wollte sie damit andeuten, als sie sagte, daß er »eine von uns« heiraten müsse? Ja, Jones war ihm wirklich eine Erklärung schuldig! Der Ethnologe setzte sich wieder auf den Rand der Couch und hielt die »Armbanduhr« in die Höhe. Was für eine technische Leistung dieses Gerät doch darstellte! Vorsichtig drehte er an der Sprosse, die das Mädchen benutzt hatte. Die Mattscheibe leuchtete auf, und bedeutungslose Schatten huschten darüber hin. Bei der kleinsten Körperdrehung änderte sich auch das Bild. Er probierte die anderen Sprossen aus. Irgendeine Wand schob sich in das Bild. Sachte drehte er an den Sprossen, versuchte das Hindernis zu überwinden. Die verzerrte Gestalt eines Mannes erschien, kam näher, wurde deutlicher. Und dann bekam Allison einen Schock. Die Gestalt auf der Mattscheibe war er selbst. Er fuhr zusammen. Sofort war das Bild weg. Mit jagenden Pulsen suchte er das Bild wieder herbeizuholen. Es bestand nicht der geringste Zweifel – die Ähnlichkeit war überzeugend. Er selbst – Größe, Schultern, Kopf, Maße, Kleidung. Selbst das Zimmer, in dem sich die Gestalt befand, war mit seinem identisch. Auf dem Bild lehnte er mit verschränkten Armen an der Wand, sah zornig geradeaus, und auf seinem Gesicht sproßte ein halber Zentimeter langer blonder Stoppelbart… Aus Allisons Unterbewußtsein stieg wieder die Erinnerung auf: die Erinnerung an die Puppengesichter. Eine lange Reihe davon, immer nur das gleiche Gesicht. Sein Gesicht. Geheimnis, ein bedrückendes Geheimnis umgab ihn. Jones’ eigenartiger Besuch mitten in der Nacht. Sein ungewöhnliches Angebot. Die plötzliche Reise, die er ohne Bewußtsein
zurücklegen mußte. Die unbekannte Welt, die ihn umgab und einschränkte. Die lange Reihe der Puppengesichter, auf denen sich die Angst spiegelte. Dieser Mann, der so aussah wie er selbst. Was für ein Teufelswerk ging hier vor? Auf der schimmernden Mattscheibe bewegte sich etwas. Die Tür ging auf. Der Mann, den er unter dem Decknamen Jones kannte, trat ein. Ein anderer Mann in weißer Robe und einem Helm auf dem Kopf folgte ihm und schob einen Tisch aus Gummirädern vor sich her. Im gleichen Augenblick stieß sich der Mann mit dem blonden Bart von der Wand ab und nahm eine drohende Haltung ein. Jones verhandelte im verbindlichen Ton mit ihm. Dann war plötzlich alles vorüber. Jones ging auf den Mann zu und berührte ihn leicht an der Schulter. Der Mann glitt zu Boden, wurde wieder aufgehoben, auf den Tisch gelegt und aus dem Zimmer gefahren. Allison starrte verblüfft die Scheibe an. Das war der gleiche Trick, mit dem sie ihn überwältigt hatten. Nur war es diesmal die Schulter und nicht die Hand. Die Männer waren von der Bildfläche verschwunden. Rasch machte er sich an die Arbeit, sie wieder auf die Scheibe zu bannen. Eine kleine Körperdrehung verhalf ihm dazu. Die Männer standen jetzt vor der Tür. Sie setzten sich wieder in Bewegung, wurden undeutlich. Eine Korrektur mit einer anderen Sprosse – und das Bild wurde wieder scharf. Es ging einen langen Korridor hinunter, von dem in regelmäßigen Abständen Türen abgingen. Während die Männer sich vom Bildschirm wegzubewegen schienen, schrumpften sie zur Größe von Stecknadelköpfen zusammen. Doch er entdeckte die Sprosse, mit der er die Gestalten wieder dichter heranholen konnte. Andere Männer kamen jetzt ins Bild, zwei davon in weißen Roben und Helmen. Wieder andere trugen farbige Umhänge und zeigten ihre entblößten, widerlichen Eierköpfe. Während Allison sich
durch diese Gestalten ablenken ließ, verschwand der Tisch mit den Gummirädern vom Bildschirm. Ein banger Augenblick, dann fand er die Gruppe wieder. Sie waren jetzt etwas tiefer, am linken Bildschirmrand. Sie benutzten einen Fahrstuhl. Weg – wieder verloren! Das Herz schien ihm stillzustehen, während er verzweifelt suchte. Es kam ihm so vor, als ob der bewußtlose Mann auf dem Tisch er selbst wäre. Wohin brachten sie ihn? Was sollte mit ihm geschehen? Er konnte sich doch nicht wehren! Dann kam eine bange Minute, in der er nichts anderes sah als eine endlose Hürde von Wänden, Schatten, Leute, seltsame Geräte, verzerrte Objekte. Einmal fing er auch einen kugelförmigen Strauch oder einen Baum ein. Dann – aus purem Zufall – fand Allison die Gruppe wieder. Ein imposanter Anblick bot sich jetzt auf der Scheibe, nachdem er die Schärfe korrigiert hatte. Die Gruppe stand hinter einer niedrigen Barriere in einem riesigen Auditorium. Gegenüber stiegen lange Sitzreihen bis zur Decke hinauf, dicht besetzt von Männern und Frauen jener seltsamen Rasse, deren Gefangener er war. Vor ihnen – und der Mittelpunkt aller Blicke – war ein schimmernder Käfig, in dem zwei Stühle standen. Sie waren mit Drähten verbunden, die mit einer komplizierten Apparatur gekoppelt waren. Was diese Apparate zu bedeuten hatten, konnte sich Allison nicht erklären. Die folgende Szene entfaltete sich mit glänzend organisierter Präzision. Der Tisch mit dem bewußtlosen Mann wurde in den Käfig gerollt. Man hob ihn vom Tisch und setzte ihn auf einen der beiden Stühle. Zur gleichen Zeit betrat eine Frau jener fremden Rasse das Auditorium durch eine Seitentür, begleitet von einem Mann, der sie in den Käfig führte und dort auf dem zweiten Stuhl Platz nehmen ließ. Jones trat jetzt auf sie zu, legte ihr die Hand auf die Schulter, und sofort sank sie bewußtlos zusammen. Metallbänder, die über der Stuhllehne
hingen, wurden jetzt den beiden Bewußtlosen um den Kopf gelegt. Dann verließen alle wieder den Käfig, und die Tür wurde geschlossen. Jones ging zu einem Schaltpult neben dem Käfig und legte einen Hebel um. Einen Moment lang erfüllte vielfarbiges Licht den Käfig. Sobald es wieder erlosch, betraten Jones und seine Gehilfen erneut den Käfig, banden die beiden Bewußtlosen los und brachten sie auf eine Art, die Allison nicht ganz deutlich verfolgen konnte, wieder zu Bewußtsein. Dann gingen der hübsche blonde Mann und die häßliche Frau mit dem Eierkopf und dem winzigen Haarkranz zusammen aus dem Käfig auf einen Tisch zu, der an die Barriere gerückt war. Dort blickten sie sich tief in die Augen und umarmten sich vor den vielen tausend Zuschauern wie ein glühendes Liebespaar. Sie küßten sich ununterbrochen. Was für ein Paar! Allison wurde es flau in der Magengrube. Es würgte ihm im Hals, ihm wurde schlecht. Denn der junge blonde Mann, der ihm auf so beunruhigende Weise ähnlich war, war auf eine geheimnisvolle Weise – er selbst. Auch er spürte die Küsse. Eine Weile lang konnte er nicht auf die Mattscheibe sehen. Als er sich doch wieder dazu überwand, waren die beiden Hauptdarsteller verschwunden. Doch die Zuschauer waren geblieben, und die meisten von ihnen lächelten. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Der Ethnologe ließ die Hand sinken und versuchte, seine Gedanken zu konzentrieren. Sollte er Jones gestehen, was er mitangesehen hatte? Wenn er in diesen Vorgängen selbst eine Rolle spielen mußte, würde er das als Wissenschaftler tun und nicht als Studienobjekt. Und trotz des bedrückenden Gefühls im Unterbewußtsein konnte es logischerweise nicht möglich sein, daß er in irgendeiner näheren Beziehung zu dem blonden Mann stand, den er auf der Mattscheibe gesehen hatte.
Offenbarte er sich Jones, bedeutete das Ärger für das Mädchen. Während er so noch über sein Dilemma nachdachte, trat Jones in seiner raschen, ruhigen Art ins Zimmer. Allison erhob sich von der Couch, verbarg geschickt sein linkes Handgelenk. »Doktor Allison«, sagte der Mann aus dem All ohne jede Einleitung, »darf ich Sie fragen, ob Sie irgendeine – äh – sentimentale Neigung zu der Dame haben, die ich Ihnen vorgestellt habe?« »Zufälligerweise nicht«, erwiderte der Ethnologe scharf. Die Frage irritierte ihn. »Darf ich Sie ebenfalls etwas fragen? Wann kann ich dieses Zimmer verlassen?« Der andere machte eine beschwörende Geste. »Aber ich bitte Sie – Sie haben sich doch noch gar nicht von Ihrer Ohnmacht erholt!« Dann gab er Allison ein Versprechen. »Ich werde dafür sorgen, daß Sie in fünfzehn Minuten den Raum verlassen können.« »Es scheint, daß meine Ankunft auf Ihrem Planeten durchaus nicht so sehnlich erwartet wurde, wie Sie das in meinem Laboratorium behaupteten«, sagte Allison bitter. Der Mann aus dem All lächelte. »Ganz im Gegenteil«, widersprach er. »Sie haben hier viel Aufsehen erregt. Die Aufregung ist groß. Tausende bereiten sich vor, Sie zu empfangen.« Spielte er vielleicht auf die Szene im Auditorium an? Wie konnte er Jones aushorchen, ohne das Mädchen zu verraten? Da sah er keine Möglichkeit. »Sagen Sie mir lieber endlich, was für einen Gefallen ich Ihnen tun soll«, fuhr er fort. Jones stand schon wieder unter der Tür. »Das verrate ich Ihnen, wenn ich wiederkomme«, versprach er. »Doch so viel kann ich Ihnen schon andeuten – Sie werden von entscheidender Bedeutung für die Fortpflanzung unserer Rasse sein.«
Und mit diesen rätselhaften Worten schloß Jones die Tür, ehe Allison sich zu einer neuen Frage aufraffen konnte…
3 Allison saß auf der Couch und versuchte seine wirren Gedanken zu ordnen. Er spürte, daß seine Lage von Mal zu Mal gefährlicher wurde, aber woher dieses Gefühl kam, konnte er nicht erklären. Jones hatte bisher nur eine höflichfreundliche Haltung eingenommen und nichts getan, was man als Vertragsbruch auslegen konnte. Der Bursche war zwar nicht sehr sympathisch; aber schließlich war er ja ein Angehöriger einer fremden Rasse, dessen Merkmale ihm nicht gefielen. Allison wußte nur zu gut, wie oberflächlich es war, den Charakter nach Äußerlichkeiten zu beurteilen. Er war zwar ein bißchen hochmütig und zu direkt gewesen, hatte aber die Grenze der Höflichkeit nie überschritten. Das Mädchen konnte man ihm nicht zur Last legen, weil es seinen eigenen Impulsen gefolgt war. Allison mochte sie. Sie war immerhin sympathisch. Und was gehörte noch zu seiner Bestandsaufnahme? Die Szene, die er auf seinem Suchgerät verfolgt hatte. Auch hier war nichts Gefährliches zu entdecken gewesen. Für den Zuschauer war sie sogar amüsant gewesen, nur für den bedauernswerten blonden Mann nicht, der die Hauptrolle gespielt hatte. Wahrscheinlich lag es an der verblüffenden Ähnlichkeit mit ihm selbst, daß er eine unbewußte Gefahr spürte. Nichts als Gefühlsduselei. Denn wenn er die Szene logisch interpretierte, hatte ein Fremder, der ihm sehr ähnlich sah, in einer Art von wissenschaftlicher Zeremonie eine Frau umarmt und das Experiment mit einem Kuß beendet. Doch das war kein gleichgültiger Kuß gewesen – ganz und gar nicht. Er war schamlos gewesen – glühend.
Konnte es sich hier um Liebe handeln – um Beischlaf – von zwei so entgegengesetzten Wesen? Vielleicht um eine Hochzeit, da die Zeremonie in aller Öffentlichkeit stattfand? Eine Hochzeit! Jones’ letzte Worte, die sich auf seinen »Gefallen« bezogen, klangen ihm noch in den Ohren nach. »Von entscheidender Bedeutung für die Fortpflanzung unserer Rasse.« Eine erzwungene Heirat mit einer dieser eierköpfigen Damen – oder selbst mit Miss Brown – würde ihn bestimmt nicht dazu bewegen, ihnen diesen »Gefallen« zu tun. Noch eine Bemerkung von Jones. Sein »Dienst« hatte mit »angewandter, sehr, sehr einfacher Ethnologie« zu tun. Am schlimmsten für ihn waren zweifellos jene lange Reihe von Puppengesichtern. Er konnte sie in Wirklichkeit ja gar nicht gesehen haben. Es mußte sich um Symbole des Unterbewußten handeln, die etwas ganz anderes ausdrückten. Aber was drückten sie nun als Symbole aus? Und weshalb glich der junge Mann ihm bis aufs Haar – und damit auch den Puppengesichtern? Das konnte kein Zufall sein. Allison gab auf. Er spürte nur die namenlose Angst im Herzen. Er, der sehr selten Furcht gekannt hatte, hatte jetzt tatsächlich Angst. Ein leises Klopfen an der Tür schreckte ihn hoch. Er erhob sich von der Couch. Miss Brown kam herein. Und noch jemand, in brauner Robe, der die Tür hinter ihr schloß. Sie strahlte ihn an und hielt eine sonderbar geformte Frucht mit beiden Händen empor. Man konnte sie mit einer Sapotillbaumfrucht vergleichen. »Essen Sie das«, sagte sie. »Die Frucht ist sehr nahrhaft und wohlschmeckend.« Allison dankte ihr, brach die Frucht in der Mitte auseinander und gab ihr eine Hälfte davon. Sie schmeckte tatsächlich sehr gut. Er hatte gar nicht gewußt, wie hungrig er war. Sie sah ihm mit freudestrahlendem Gesicht beim Essen zu.
»Weshalb sind Sie so vergnügt?« fragte er. »Sie waren doch gar nicht so guter Laune, als Sie sich vorhin verabschiedeten.« Sie lachte, schüttelte den Kopf und schwieg. Plötzlich ging etwas Seltsames mit Allison vor. Er setzte sich auf die Couch und zog das Mädchen neben sich. Das Suchgerät war immer noch auf das Auditorium eingestellt. Vorsichtig drehte er sein Handgelenk hin und her, bis er den Saal scharf im Bild hatte. »Was ist das für ein Auditorium?« fragte er. Sie sah ihn ängstlich an. »Bitte, fragen Sie mich nicht!« bettelte sie. »Ich kann es Ihnen nicht sagen! Ich – ich bekomme entsetzliche Schwierigkeiten!« »Meinen Sie Jones?« Sie nickte. Er schwankte, ob er sie um eine Erklärung bitten sollte, was die Szene bedeutete, die er auf dem Schirm verfolgt hatte. Doch er hielt sich zurück. Er betrachtete stumm den Bildschirm. Sie legte ihm sanft die Hand auf das Handgelenk, um ihn abzulenken. Er ließ es nicht zu, stellte das Bild nur noch schärfer ein. Wieder sah er die langen Reihen der Bänke mit den Zuschauern. Der Platz zwischen den Barrieren war zwar frei, doch im gleichen Moment traten zwei ihm vertraute Gestalten durch eine Tür an der linken Saalwand und schoben einen Tisch auf Gummirädern vor sich her. Jones und sein weißgekleideter Gehilfe brachten ein neues Opfer in den Saal. Das Mädchen versuchte wieder, das Bild mit der Hand zu verdecken. »Bitte – tun Sie das nicht!« bat sie leise. »Ich hätte Ihnen das Gerät nicht überlassen dürfen – aber – aber…« »Nur noch eine Sekunde!« rief er ärgerlich und schob ihre Hand weg. Die beiden Männer rollten den Tisch in den Käfig. Wieder wurde der Mann auf den einen Stuhl gesetzt, während eine eingeborene Frau aus einer Seitentür kam und auf dem zweiten Stuhl Platz nahm. Sie wurde betäubt und mit dem Mann und
den Geräten mit den metallenen Kopfbändern verbunden. Dann verließen die Männer den Käfig. Jones legte den Schalter am Pult um, und wieder erfüllte das vielfarbige Licht den Käfig. Allison hing mit den Blicken wie gebannt am Bildschirm. Er konnte den bewußtlosen Mann auf der Scheibe nicht genau erkennen; doch tief im Herzen hatte er eine grauenvolle Angst, ihn vielleicht wiederzuerkennen. Jones und seine Gehilfen betraten erneut den Käfig, erweckten den Mann und die Frau wieder zum Bewußtsein, banden sie los und traten ab. Allison erlebte in seinem kleinen Zimmer einen zweiten Schock. Der Mann, der aus dem Käfig kam und die Frau auf den Mund küßte – sah ebenfalls so aus wie er! Eine Gänsehaut lief dem Mann von der Erde über den Rücken. »Wer ist dieser Mann?« fragte er das Mädchen. »Wer ist das?« wiederholte er rauh und packte sie am Arm. Sie schüttelte den Kopf, schluchzte und wagte nichts zu sagen. Er ließ sie los und lief im Zimmer auf und ab. Nach einer Weile trat sie zu ihm. »Sei nicht böse mit mir«, bat sie ihn leise. »Ich werde dir etwas verraten – ein bißchen was wenigstens.« Sie hielt inne, schöpfte neuen Mut und fuhr dann fort: »Mit diesem Gerät bringen wir die Leute dazu, sich ineinander zu verlieben. Es verändert etwas in ihrem Kopf.« Allison blieb stocksteif stehen, verblüfft, wie erstarrt. Sie zupfte ihn am Ärmel, nahm seine Hand. »Arthur«, sagte sie sanft, »Arthur.« Er blickte sie an. »Sei nicht böse mit mir«, fuhr sie fort und zeigte wieder ein Lächeln. »Aber wir werden heiraten. Du wirst mich Heben. Ich habe da$ eben mit Mr. Jones abgemacht. Er kommt gleich wieder und holt uns. Obgleich ich nicht erst zur Liebe programmiert werden muß. Arthur – hörst du mir denn gar nicht zu? Wir werden so glücklich sein, und du mußt nicht erst
eine von diesen häßlichen Frauen heiraten. Du wirst nie mehr auf deine schreckliche Erde zurückkehren wollen! Niemals!« Allison sah das Mädchen eine Weile sprachlos an. Dann löste er seine Hände aus ihrem Griff und ging zur Tür. »Schwester, ich verdufte von hier!« Sie ahnte die Bedeutung der Worte. »Was willst du denn jetzt tun?« rief sie. »Du kannst nicht fort von hier! Mr. Jones wird das nicht zulassen!« »Miss 891-X – Sie haben keine Ahnung, wie gut ich mit Leuten seines Schlages umgehen kann. Ich bin ein Primitiver – vergessen Sie das nicht!« Er fühlte sich schon viel besser. Das Warten, der Zustand der Hilflosigkeit als Gefangener einer fremden Welt, hatten ihn so bedrückt. Doch jetzt hatte er einen Entschluß gefaßt. Die Aussicht, aktiv eingreifen zu können, sich vielleicht sogar in einem Konflikt bewähren zu müssen, gab ihm seine alte Spannkraft zurück. Aber das Mädchen wollte sich nicht so leicht geschlagen geben. Es warf sich an seine Brust, bettelte und flehte. »Arthur, es wird dir gefallen, wenn man dich verwandelt hat. Alles bleibt doch beim alten. Nur die Liebe zu mir kommt dazu. Begreifst du denn das nicht?« Er hielt sie von sich weg. »Miss Brown, es tut mir leid; aber ich möchte gar nicht anders sein, als ich im Augenblick bin. Sie können sich ja von dieser verdammten Maschine programmieren lassen, damit Sie sich in einen von diesen hübschen Eierköpfen verknallen können.« Von der Tür hörte man ein Geräusch. Er stürzte dorthin, stellte sich in den toten Winkel neben den Türstock. »Verstecken Sie sich!« flüsterte er. »Rasch – unter das Bett! Sie kommen! Vielleicht gibt es eine Schlägerei!« Zitternd gehorchte das Mädchen. Allison verbarg sich hinter der Tür, als Jones hereinkam, begleitet von seinem
Assistenten, der den Tisch mit den Gummirädern vor sich herschob. Der Ethnologe trat vor. »Jones«, sagte er, »ich kündige den Vertrag. Sie werden gütigerweise dafür sorgen, daß ich sofort zur Erde zurückkehre.« Der Mann aus dem All schien gar nicht so überrascht, wie Allison erwartet hatte. »Aber, mein lieber Doktor Allison«, widersprach er. »Sie können doch jetzt nicht mehr Ihren Entschluß ändern! Sie sind auf unserem Planeten, Tausende von Wissenschaftlern sind bereits versammelt. Jetzt ist der Moment gekommen, uns den Gefallen zu tun, den Sie mir mit Handschlag versprochen haben.« Jones kam auf ihn zu. Allison beobachtete ihn wie ein Falke, der seine Beute rüttelnd beobachtet. Jones fuhr mit freundlicher Stimme fort: »Ihre Angstgefühle sind unnötig, aber ganz natürlich. In ein paar Minuten werden Sie sich ausschütten vor Lachen, daß Sie solche Gefühle überhaupt empfanden. Warten Sie ab.« Er hob die rechte Hand, um Allison kameradschaftlich auf die Schulter zu klopfen. Doch seine Hand erreichte die Schulter nicht mehr. Geschmeidig wie eine Katze glitt der Mann von der Erde zur Seite und packte Jones’ Handgelenk. Jones wollte sich mit Gewalt durchsetzen – er war stark; doch Allison war noch stärker. Er faßte mit dem linken Arm Jones um die Taille und drückte mit der rechten Jones Arm zurück. In kurzen, energischen Stößen drängte er Jones rechte Hand gegen dessen eigene Brust. »Nehmen – Sie – mal – Ihre – Medizin – selbst – ein –, Doktor!« Die Hand wurde schlaff. Jones glitt ohnmächtig zu Boden. Sofort sprang Allison auf den Assistenten in der weißen Robe zu. Ehe der Bursche begriff, wie ihm geschah, lag er ebenfalls besinnungslos auf dem Boden. Der Ethnologe ging kein Risiko
ein. Er nahm Jones rechte Hand und preßte sie gegen den Arm des Assistenten. Der Mann wurde schlaff. Allison stand auf und rieb sich die Hände. »Zweiter Akt«, sagte er zufrieden, »und zwei Vorhänge.« Er blickte unter die Couch. Er mußte lachen, als er die großen, verängstigten Augen des Mädchens sah. »Kommen Sie nur wieder heraus, Miss 23-PDQ«, sagte er, »der Krieg ist vorüber.« Sie kroch unter der Couch hervor und stand auf. Allison beugte sich über Jones. »Ihr tragt ja recht gefährliche Dinger mit euch herum«, meinte er, als er einen dünnen, gummiartigen Beutel betrachtete, der wie eine zweite Haut in Jones rechter Handfläche klebte. Ein kurzes Röhrchen ging von dem Beutel aus, das in einer Hohlnadel endete. Er entfernte die selbstklebende Betäubungsspritze und befestigte sie in seiner eigenen Handfläche. »Sie werden dich umbringen!« rief das Mädchen mit Tränen in den Augen. »Das hoffe ich nicht«, erwiderte er ungerührt. »Ich bin ein guter Sprinter.« Er lachte. »Sie hätten mal sehen sollen, wie ich den Mutrantischen Titanen entwischt bin!« Er deutete auf die Tür. »Steht da noch einer draußen?« Sie nickte. Er ging wieder zur Tür stellte sich neben der Klinke an die Wand und klopfte gegen die Füllung. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und eine Hand erschien. Allison berührte sie nur leicht mit dem Handballen – und zog dann eine bewußtlose, weißgekleidete Gestalt ins Zimmer. Er legte den Bewußtlosen neben die anderen und betrachtete sein Werk. »Sehr praktisch und bequem.« »Wie willst du denn hier ‘rauskommen?« fragte das Mädchen. Er stellte eine Gegenfrage: »Wo ist euer Raumschiffhafen?«
»Oh – am anderen Ende der Stadt. Bis dahin haben sie dich längst.« »Habt ihr denn keine Lufttaxis?« Sie nickte. »Wo kann ich mir so ein Ding besorgen? Steht eines vielleicht oben auf dem Dach?« »Ja«, sagte sie zögernd. »Vom Korridor aus führen Treppen hinauf.« Sie deutete die Richtung an. Das schien ein günstiger Ausweg zu sein. Allison traute es sich ohne weiteres zu, jeden Flugapparat in Gang zu setzen. Er durchsuchte die drei bewußtlosen Männer. Sie hatten keine Waffen bei sich. Dann bat er Miss Brown, sich umzudrehen, und wechselte dann die Kleidung mit dem weißgekleideten Assistenten. Der Helm war zwar ein bißchen zu groß; aber mit einem weißen Stück Stoff, den er vom Innensaum der Robe abriß, machte er ihn passend. Den Helm in der Hand, stand er jetzt vor dem Mädchen. Er erinnerte sich an das Suchgerät, das er immer noch am Handgelenk trug. Er entfernte es und befestigte es wieder an ihrer Hand. Sie verhielt sich überraschend passiv. »Du mußt ebenfalls verschwinden!« warnte er sie. Ihre Augen glänzten vor Tränen. Er nahm sie in die Arme und küßte sie auf den Mund. »Auf Wiedersehen, meine Kleine«, murmelte er. »Und noch alles, alles Gute.« Dann setzte er den Helm auf. Nur seine breiten Schultern konnten ihn jetzt noch verraten. Er würde sich so schmal wie möglich machen. Erst als er schon auf die Tür zuging, fand sie ihre Sprache wieder. »Arthur«, rief sie schluchzend, »sei vorsichtig! Paß auf dich auf! Aber vergiß mich nicht! Komme eines Tages wieder zu mir zurück! Ich werde auf dich warten – immer auf dich warten!« Allison drückte ihr noch einmal stumm die Hand. Süßes Mädchen, dachte er. Er hatte sie sehr gern…
4 Nur ein Mann befand sich im Korridor. Er trug die gleiche weiße Robe wie der Wärter, den er bewußtlos ins Zimmer gezogen hätte. Die Augen stur geradeaus gerichtet, ging er an ihm vorbei, ohne Verdacht zu erregen. Der Korridor war ihm schon vertraut, weil er ihn auf der Mattscheibe des Suchgerätes oft genug betrachtet hatte. Dutzende von Türen gingen rechts und links vom Korridor ab. Dort vorn mußte irgendwo der Fahrstuhl sein. Er täuschte sich nicht. Doch dort erlebte er einen kritischen Moment. Der Fahrstuhl hielt gerade, als er die Lifttür erreichte. Zwei Männer traten heraus, gekleidet wie er, und schoben einen Tisch mit Gummirädern auf den Korridor. Einer rief ihm irgendeinen barbarisch klingenden Satz zu. Doch Allison ging weiter, als habe er nicht gehört, schielte hinüber nach links, wo eine Wendeltreppe nach oben führte. Erleichtert steuerte er darauf zu, stieg die ersten Stufen hinauf. Am liebsten wäre er gerannt, doch er beherrschte sich. Während er die Treppenspirale hinaufkletterte, dachte er an die armen Opfer auf den fahrbaren Tischen. Wie viele von ihnen wurden wohl betäubt, um auf dem Altar von Gott Hymen eine klinische Hochzeit zu feiern! Mit welchem Feuer hatten die armen Kerle mit diesen scheußlichen Frauen geturtelt! Er konnte ihre Liebesraserei geradezu hören: »Wie herrlich sich die Sterne in deiner lieblichen Glatze spiegeln!« – »Wie erregend sind deine Küsse, wie schön dein langer Schwanenhals!« Brrr… Er schüttelte sich und beschleunigte das Tempo. Hinter dem nächsten Treppenabsatz stieß er auf eine Gittertür. Sie war unverschlossen. Dann breitete sich das flache Dach vor ihm aus. Helles Tageslicht empfing ihn. Eine kleine Sonne stand
am Himmel. Das Dach war mit rosa Marmor bedeckt. In regelmäßigen Abständen waren Luken und Türen darin eingelassen. Direkt vor ihm stand eine lange Reihe von durchsichtigen Flugkörpern. Das mußten die Lufttaxis sein. In der Nähe lungerte ein Mann in roter Robe und massigem Schädel herum. Allison zwang sich zur Ruhe, ging gemächlich auf das nächstbeste Taxi zu. Wie die anderen Taxis war es nur mäßig groß, höchstens ein Meter fünfzig hoch, ohne Türen, stromlinienförmig und aus einem glasartigen Werkstoff gebaut. Vor einem durchgehenden Sitz waren drei Hebel angeordnet, die in einem Kasten am Boden endeten. Das ganze Gerät ruhte auf einem Dreifuß. Ein Propeller oder eine Düse waren nicht zu sehen. Auch Flügel besaß das Ding nicht. Allison war zwar nicht sehr glücklich, einen Zeugen in der Nähe zu wissen. Aber er setzte sich ohne Zögern in das nächstbeste Taxi und drückte den Hebel nach oben, der den Auftrieb zu kontrollieren schien. Er hatte sich nicht getäuscht. Sacht hob das Taxi vom Dach ab. Ein kleiner Ruck am nächsten Hebel, und der Flugkörper drehte die Nase nach rechts. Mit dem dritten Hebel kontrollierte man den Antrieb in horizontaler Richtung. Ein äußerst einfaches System. Der Mann auf dem Dach kümmerte sich nicht um ihn. Er blickte nicht einmal in seine Richtung. Selbstbewußt stellte Allison jetzt die Kontrollhebel ein und schwebte bald darauf über die Dächer dahin, umgeben von anderen Lufttaxis, die wie bunte Seifenblasen in der Luft hingen. Unter ihm breitete sich die Stadt aus. Wie breite Bänder dehnten sich die weißen Straßen in alle Richtungen aus. Dazwischen lagen niedrige Häuser, kreisförmig oder rechteckig gebaut, alle in hellen Pastelltönen gehalten. Achtecke in Rosa lagen neben grünen, blauen, gelben und scharlachroten Vierecken, gesäumt von grünen Parks und
hübschen Anlagen. Die Stadt war nicht groß, doch so angelegt, wie man es auf der Erde sehnlichst erträumte. Am Rande der Stadt sollte der Raumschiffhafen liegen, hatte das kleine arme Mädchen mit der Codenummer als Namen gesagt. Allison hielt angestrengt Ausschau, konnte aber nirgends die schlanken, silberfarbenen Rümpfe von Raketen erkennen. Nur rechts drüben auf einer breiten, offenen Fläche blitzte es silbern auf; aber für ein Raumschiff war der Gegenstand viel zu groß. Trotzdem wollte er ihn sich näher ansehen. Er drehte das Taxi in die gewünschte Richtung und beschleunigte. Als er näher herankam, erkannte er, daß es sich tatsächlich um ein raketenförmiges Raumschiff handelte. Was ihn noch mehr erstaunte: er kannte das Schiff sogar. Es gehörte eigentlich den Mutrantischen Titanen. Vor zwei Jahren hatte die Erde ihre ersten Annäherungsversuche an den Satelliten III des Saturn gemacht, dessen Kultur noch etwas rückständig war. Um freundliche Beziehungen zu den Titanen herzustellen, hatte man auf der Erde ein Raumschiff von gigantischer Größe konstruiert, um es der Regierung von Satellit III zu schenken. Es war eine riesige Ausführung des RV-3-Modells, das auf der Erde als privater Raumkreuzer außerordentlich populär war. Zweifellos handelte es sich bei diesem Raumschiff um das Geschenk für die Mutrantische Regierung. Aber was hatte das Raumschiff hier zu suchen? Weilten auch Titanen auf diesem Planeten, um als Versuchskaninchen bei der Bevölkerungsplanung herzuhalten? Allison schwebte jetzt genau über dem Raumschiff. Es stand in der Mitte einer kreisrunden Fläche, an deren Rand sich ein paar niedrige, braune Gebäude zusammendrängten. Also doch der Raumschiffhafen. Die Gebäude waren Hangars, in denen die Flugapparate der Einheimischen abgestellt sein mußten. Er ging auf niedrigere Höhe und umkreiste das Raumschiff.
Niemand war zu sehen; alles schien friedlich. Doch er hatte großen Respekt vor den wissenschaftlichen Möglichkeiten dieser Rasse. Unbekannte Gefahren konnten überall lauern. Er mußte kaltblütig und sehr vorsichtig vorgehen. Wie sahen die Raumschiffe in den Hangars aus? War er nicht ein bißchen zu selbstherrlich, wenn er glaubte, so ein Ding navigieren zu können? Vielleicht arbeiteten sie nach einem ganz anderen Prinzip als das Lufttaxi, mit der er aus seinem Gefängnis geflohen war. Vielleicht stand er hilflos wie ein Kind vor einer Atommaschine, für deren Bedienung man drei Ingenieure brauchte. Plötzlich kam ihm ein kühner, geradezu vermessener Gedanke. Er wies ihn sofort wieder von sich, doch er kehrte hartnäckig wieder. Warum eigentlich nicht, überlegte er. Weshalb sollte er sich nicht das Mutrantische Raumschiff aussuchen? Er kannte die technische Ausrüstung ganz genau. Die Steuerung war vollautomatisch, die Bedienung geradezu narrensicher. Das einzige Problem war die Größe. Es war zehnmal so groß wie das RV-3-Modell, dem es nachgebaut war. Durchaus möglich, daß er als Mann von zwergenhafter Größe – gemessen an den Proportionen des Raumschiffes – nicht einmal die Bedienungsknöpfe erreichen konnte. In der kühlen Stille, fünfzehnhundert Meter über dem Boden, lachte Allison schallend. Er hatte die Lösung gefunden. Er würde das Schiff der Titanen entführen. Es war seine beste Wahl. Aber erst einmal mußte er an Bord sein. Da konnte es noch große Schwierigkeiten geben – besonders, wenn sich ein Titane in der Kabine aufhielt. Er schaltete den Antrieb aus und schwebte senkrecht nach unten…
Selbst aus einer Höhe von tausend Metern konnte er nirgends einen Wächter oder Hafenpersonal entdecken, Der Hafen sah verlassen und leer aus. Ich kann mir schon denken, weshalb,
überlegte Allison. Großer Empfang in der Stadt. Tausende strömen zusammen, um einen gewissen Doktor Arthur Allison von der Erde als Zuchtbullen zu bestaunen! Er ging noch tiefer, schwebte jetzt nur noch fünfzehn Meter über dem gigantischen Raumschiff. Es war mindestens dreihundert Meter hoch und maß hundert Meter im Durchmesser. In einer flachen Kurve umkreiste er den schimmernden Raketenkörper bis zu der Stelle, wo eine Gangway an die offene Luke herangeschoben war. Immer noch rührte sich nichts in der Nähe. Die Luke war mindestens zehn Meter breit. Vorsichtig schwebte er mit seinem kleinen Lufttaxi hindurch und setzte in der Kabine auf. Er war jetzt im Schiff, aber noch lange nicht in Sicherheit. Vielleicht hatten die Mutrantischen Titanen eine Wache zurückgelassen. Er mußte das Innere des Schiffes erkunden. Zehn Minuten lang erforschte er die Räume des Schiffes. Als er wieder in die Kabine zurückkehrte, zerrte er eine Gestalt hinter sich her. Er schob den Bewußtlosen hinaus auf die Gangway. Die Titanen hatten tatsächlich eine Wache zurückgelassen. Ein paar Sekunden später kehrte er zu seinem Lufttaxi zurück und schwebte damit an der Wand hinauf. Endlich sah er, was er suchte. Er hielt das Taxi unbeweglich an der gleichen Stelle, beugte sich hinaus und drückte mit aller Kraft auf einen Knopf in der Wand von der Größe eines Suppentellers. Hinter ihm glitten die massiven Schleusentore zu, hüllten ihn in pechschwarzes Dunkel. Vorsichtig, unendlich vorsichtig steuerte er das Taxi auf ein schwaches Licht zu, das aus dem Steuerraum zu ihm drang. Er stieg höher durch einen langen, senkrechten Schacht, bis er das Steuerpult mit den riesigen Hebeln und Schaltern erreichte. Wieder schwebte er auf der Stelle, hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an die Hebel und zog drei davon nacheinander herunter. Der Boden der Steuerzentrale kam mit großer
Geschwindigkeit auf ihn zu. Das Raumschiff hob vom Planeten ab. Mit äußerster Konzentration setzte er sein Taxi auf dem Boden des Steuerraumes auf…
5 Allison brach nicht in einen Freudentaumel aus, weil ihm der Start gelungen war. Noch hatte er das Schwerefeld des Planeten nicht verlassen und zweifelte sehr, daß ihm das vergönnt sein würde. Immerhin würden Tausende von Eingeborenen den Start des Raumschiffes beobachtet haben. Gegenmaßnahmen waren unausbleiblich. Er hatte zwar keine Vorstellung davon, mit welchen Waffen die Leute dieses Planeten kämpften. Im schlimmsten Fall holten sie ihn mit einem Energiestrahler wieder herunter. Doch er vertraute auf die Tatsache, daß er bei den Eingeborenen als unersetzliches Wertstück galt – als Vertreter einer Gattung, dessen Leben unter Naturschutz stand. Wahrscheinlich würden sie ihn schonen, um ihn lebendig einzufangen. Er hatte keine Zeit gehabt, vor dem Start die Vorratslager zu besichtigen. Als Zwerg in diesem titanenhaften Schiff konnte er die Anlagen nur im Detail überblicken. Doch gerade seine Größe schränkte auch das Risiko auf ein Minimum ein. Er war so klein, daß der vorhandene Sauerstoff für eine lange Reise ausreichen mußte, auch wenn er die Luftreinigungsanlage nicht in Betrieb setzen konnte. Die Temperatur wurde automatisch geregelt. Was die Nahrungs- und Wasservorräte betraf, so war das Schiff mindestens mit einer eisernen Reserve ausgerüstet, wie es von der interplanetarischen Kontrollkommission vorgeschrieben war. Daß das Schiff genügend Energie besaß, war bereits bewiesen. Es hatte einwandfrei abgehoben und beschleunigte noch immer. Das Schiff hatte einen
Ionenantrieb, der Sonnenenergie als Kraftquelle benutzte, und sobald er den luftleeren Raum erreichte, brauchte er sich um den Energievorrat keine Sorgen mehr zu machen. Die Navigation war vollautomatisch. Um sie brauchte er sich ebenfalls nicht zu kümmern. Er brauchte als erstes Licht. Und um das Licht einzuschalten, mußte er wieder sein Lufttaxi besteigen – sein Schiff im Raumschiff. Wieder mußte er lachen über seine glänzende Idee, das Lufttaxi als fliegenden Rollstuhl mit in das Raumschiff zu nehmen. Vorsichtig hob er wieder vom Boden ab. Ein Fehler, eine falsche Einstellung, und er würde an einer Wand oder an einem Instrumentenbrett zerschellen. Er hatte zwar eine ungefähre Vorstellung, wo der Lichtschalter liegen mußte; doch die ungeheure Ausdehnung des Schiffes und die Dunkelheit erleichterten ihm die Suche nicht gerade. Er mußte mit der einen Hand die Steuerung bedienen, während er sich mit der anderen die Wand hinauftastete. Endlich fand er den richtigen Schalter. Als der riesige Steuerraum im grellen Licht vor ihm lag, empfand er doppelt stark, auf was für ein waghalsiges Abenteuer er sich eingelassen hatte. Die Kabine maß mindestens hundert Meter im Durchmesser und ungefähr fünfundsiebzig Meter vom Boden bis zur Decke. Er hatte bei den Mutrantischen Titanen gelebt und war mit den riesigen Raummaßen vertraut. Doch einen so großen Steuerraum hatte er noch nie gesehen. Allein der Kartentisch hatte eine Höhe von zehn Metern. Ohne das Lufttaxi wäre er hier verloren gewesen. Als nächstes mußte er sich umsehen, ob genügend Vorräte vorhanden waren. Vorsichtig drehte er sein Lufttaxi um die eigene Achse und ließ sich hinunter, bis er nur noch drei Meter über dem Boden schwebte. Durch die offene Schottentür warf er einen Blick hinaus in den Korridor, schwebte durch den
Verbindungsgang bis zur Mitte des Raumschiffes, wo sich der Lagerraum mit den Vorräten befand. Hier hatte er zum erstenmal Schwierigkeiten. Der Lagerraum war zu, und der Griff an der Tür – ein langes, gewundenes Ding von ungefähr einem Meter Länge – ließ sich trotz größter Anstrengung nicht bewegen. Sorgfältig manövrierend, benutzte er die Bugnase seines Lufttaxis als Hebel, und so gelang es ihm endlich, die Tür zu öffnen. »Köpfchen, Köpfchen«, sagte er selbstzufrieden und benutzte das Taxi jetzt als Türschieber, wie man einen Elefanten im Zirkus für schwere Lasten verwendet. Schier endlose Reihen riesiger Konservenbüchsen schimmerten im Licht. Synthetische Nahrungstabletten, in Kunststoff verpackt, stapelten sich wie Getreidesäcke. Unten waren die Kanister mit Frischwasser verstaut. Er fühlte jetzt eine unendliche Erleichterung. Mit Essen und Trinken war er reichlich versorgt. Wieder wendete er seinen fliegenden Rollstuhl um hundertachtzig Grad. Die letzte Aufgabe mußte wieder drüben im Steuerraum erfüllt werden. Bisher war das Raumschiff blind in den Raum hinausgeflogen. Er mußte es jetzt auf den richtigen Kurs zur Erde bringen. Er schwebte hinüber zum Kartentisch, wo das Nervenzentrum des Schiffes in einer Reihe von Skalen und Knöpfen zusammengefaßt war. Ein Blick auf eine Skala, die so lang war wie sein Taxi, belehrte ihn, daß der Sauerstoffgehalt draußen die Nullgrenze erreichte. Deshalb bewegte er sein Lufttaxi zehn Meter weiter nach rechts und schwebte dann wie ein Kolibri vor einem grünen Knopf mit der Zahl 3. Mit einer Mischung aus Heimweh und wehmütigem Abschied beugte er sich vor und drückte auf den Knopf. Dann kam ein anderer Knopf an die Reihe, der das Schiff auf seine maximale Beschleunigung
brachte. Anschließend ließ er sich wieder hinunter auf den Kartentisch. Was nun kam, konnte er der automatischen Steuerung des Schiffes überlassen. Alles rollte jetzt automatisch und mit größter Präzision ab. Die ultrasensitiven Empfänger des Autopiloten orteten jeden größeren Himmelskörper, jagte die Daten durch einen Computer, in dem alle Navigationsdaten gesammelt waren und ausgewertet wurden – Ort, Raumrelationen, Gravitationsimpulse, Geschwindigkeit und Eigenbeschleunigung, planetarische Eigenbewegung und Umlaufbahn, Winkelgeschwindigkeiten und Bestimmungsort und so weiter von Sekunde zu Sekunde neu berechnet, koordiniert und als Kurswert an den Autopilot weitergegeben wurden. Und zur rechten Zeit würde er dann mit der Verzögerung beginnen, die Bremsaggregate einschalten und das Schiff sanft auf dem großen Raumschiffhafen von New York aufsetzen. Das einzige, was Allison dabei zu tun hatte, war die Bedienung zweier Knöpfe – einen für die Beschleunigung und einen für den Bestimmungsort. Der Ethnologe fühlte sich jetzt wie zerschlagen vor Müdigkeit. Er hatte alles getan, was in seiner Möglichkeit stand. Wenn seine Feinde ihm folgten, um ihn zu vernichten, konnte er das jetzt nicht mehr verhindern. Dieses Raumschiff war weder mit Schutzschirmen noch mit Waffen ausgerüstet. Außerdem zog er den Tod einem Leben vor, das ihn zu einem Lustsklaven verdammte, indem man mit einer teuflischen Apparatur seine normalen Instinkte veränderte. Jeder Mensch hatte ein unveräußerliches Recht auf seine eigene Persönlichkeit, und als freier Bürger der Weltföderation ließ er sich dieses Recht nicht beschneiden. Miss Brown war gar kein so übles Mädchen; doch was passierte, wenn man ihn an eines von diesen haarlosen Weibern verkuppelte? Was wurde dann
aus seiner Karriere als Ethnologe, die so glänzend begonnen hatte? Er war überrascht, wie schwach er sich fühlte. Er war auch hungrig und durstig, doch er hatte keine Kraft mehr, eine von diesen riesigen Konservendosen anzubohren, um sich Nahrung zu verschaffen. Und ihn graute auch vor der Dunkelheit in der Mannschaftskabine, wo die großen Schlafkojen standen. Er würde schlafen, wo er gerade war. So legte er sich also auf den Kartentisch – zehn Meter über dem Boden. Allison erwachte zwar mit steifen Gliedern und schmerzenden Muskeln, aber erholt und guter Dinge. Der Ionenantrieb arbeitete einwandfrei. Niemand hatte versucht, das Schiff mit einem Energiestrahler in Atome aufzulösen oder ihn mit einem Hitzestrahl zu Asche zu verwandeln. Vor ihm lag ein Abenteuer, wie es noch kein Mensch vor ihm erlebt hatte. Er flog nach Hause. Er würde sicher heimkehren. Und er würde mit dem größten Raumschiff auf der Erde landen, das je gebaut worden war. Drei Milliarden Menschen würden über seine Abenteuer staunen und das eigenartige Taxi bewundern, dessen Antrieb ein Geheimnis war. Die Wissenschaftler der Erde würden sich darüber hermachen, bis sie jedes Detail studiert und für die Erde nutzbar gemacht hatten. Bis dahin würde er sich mit viel Witz und Einfallsreichtum mit den Problemen befassen, die seine zwergenhafte Größe in diesem Raumschiff mit sich brachten. Dazu gehörte auch die Aufgabe, die vier Meter hohen Konservenbüchsen zu öffnen, was ihm nur mit Hilfe der Werkzeuge im Lufttaxi gelang. Er brauchte drei Stunden für diese Aufgabe, und das Lufttaxi leistete ihm dabei unschätzbare Dienste. Ohne es hätte er mitten im Überfluß an Nahrungsmitteln verhungern müssen. Nachdem er Hunger und Durst gestillt hatte, legte er sich auf
dem Kartentisch wieder zum Schlafen nieder. Danach begann die endlos lange, tödlich-monotone Routine… Er hatte eigentlich nichts zu tun. Die Navigation war automatisch. Der Inhalt der zwei Konservenbüchsen, die er geöffnet hatte, reichten wahrscheinlich für die ganze Reise. Er hatte keine Aufgaben zu erfüllen. Und er konnte auch* nirgends ein Buch entdecken, um sich die Zeit mit Lesen oder Übersetzen zu vertreiben. Allison schlief die meiste Zeit; streckte seine Rationen aus geschmacklosen, nach Sand schmeckenden Nahrungstabletten so sehr, wie es nur ging; baute sich aus den grobgewebten Laken der Mutrantischen Titanen ein Bett unter dem Kartentisch. In der übrigen Zeit machte er auf dem Boden Ausflüge durch das Raumschiff, um die Energiereserven seines Lufttaxis zu schonen. Wie eine Ratte untersuchte er jeden Winkel und jede Ritze. Er rannte im Dauerlauf, um sich in Form zu erhalten, lief stundenlang auf und ab und dachte über ethnologische Probleme nach. Dann träumte er wieder von der Stunde, wo das Raumschiff auf der guten alten Erde landen würde. So vergingen Tage und Wochen. Das Raumschiff hatte längst damit begonnen, die Geschwindigkeit herabzusetzen. Der Wunsch, sich wieder in vertrauter Umgebung bewegen zu können, wurde fast zu einer Zwangsvorstellung. Wieder an einem Tisch sitzen; von Freunden umgeben, eine ordentliche Mahlzeit essen! Er sehnte sich nach seinen Büchern, dem Theater, menschlichen Stimmen, Federkernmatratzen – nach Werkzeugen, die man anfassen und richtig bewegen konnte! Manchmal überkam ihn auch die Erinnerung an die wenigen Stunden, die er unter Wesen einer fremden Zivilisation verbracht hatte. Er dachte an Jones und das hübsche Mädchen mit der Codenummer. Sie hatte ihn wirklich geliebt. Er hoffte, sie hatte seinetwegen keine Schwierigkeiten bekommen.
Manchmal wurden seine Gedanken auch schwermütig. Was war mit den beiden Männern geschehen, die ihm so ähnlich sahen. Hätte er versuchen sollen, sie zu retten oder aus ihrer merkwürdigen Sklaverei zu befreien? Vielleicht waren noch mehr Männer hinter den Türen, die von den Korridoren abzweigten, gefangengehalten worden! Wie kam es überhaupt, daß die Männer ihm bis aufs Haar glichen? Und weshalb wurde er immer noch von dem Alptraum der Puppengesichter heimgesucht? Endlose Reihen von Puppen. Jede trug sein Gesicht. Jetzt würde er nie mehr erfahren, was für ein Geheimnis sich hinter allem verbarg. Als er einmal in einer Ecke des Steuerraumes saß und diesen Gedanken nachhing, ging eine leise Erschütterung durch das Schiff, und der Ionenantrieb schaltete aus. Allison sprang auf. Das Schiff landete! Die Reise war zu Ende! Das riesige Schiff hatte ihn sicher auf die Erde zurückgebracht! Er lief zu seinem kleinen Lufttaxi und schwang sich hinein. Er würde der wartenden Menge draußen eine kleine Sondereinlage geben. Er würde die Schleuse öffnen und in einem eleganten Bogen über ihre Köpfe hinwegfliegen. Sekunden später flog er den Quergang hinunter zu der Stelle, wo der Knopf zum öffnen der Ausstiegsluke angebracht war. Er öffnete beide Schleusen, erst die innere, dann die äußere. Die gewaltigen Metalltüren glitten auseinander. Draußen war es Nacht. Doch helles Licht flutete durch die Schleuse herein. Fünfzig Fuß über der Erde, hoch über den Köpfen der Männer, die draußen warten würden, schwirrte er hinaus ins Freie. Doch das Willkommen auf der Erde fiel ganz anders aus, als er sich das vorgestellt hatte. Eine riesige Gestalt trat ins Licht und schnitt ihm den Weg ab. Eine Hand von fast drei Metern Durchmesser schoß vor und fischte sein Lufttaxi aus der Luft. Ein riesiger Finger und ein mächtiger Daumen schnappten zu
und zogen ihn aus seinem Flugkörper wie eine Sardine aus der Büchse. Eine Sekunde lang flog er wie ein Trapezkünstler durch die Luft, ehe er in der Seitentasche des Jacketts eines Riesen weich und dunkel landete…
6 Allison war vor Schrecken wie betäubt. Er konnte nur einen einzigen klaren Gedanken fassen – er war auf dem dritten Satelliten des Saturn gelandet und befand sich in den Fängen der Mutrantianischen Titanen. Das Raumschiff hatte dem Befehl des Programmierknopfes nicht gehorcht und hatte ihn auf den Planeten zurückgebracht, wohin das Schiff gehörte. Er befand sich in den Händen seiner Feinde. Sie hatten bestimmt nicht vergessen, was für einen Schaden er bei ihnen angerichtet hatte, als er vor ein paar Monaten unter spektakulären Umständen vom Satelliten III zur Erde geflohen war. Er weinte vor Wut. Das war also das Ende seiner beschwerlichen Reise. Man hatte offenbar auf ihn gewartet und brachte ihn jetzt vor ein Gericht, um Rache an ihm zu nehmen. Er kannte die Mutrantianer. Ihre Rache würde grausam sein. Er konnte kaum hoffen, ihnen ein zweites Mal zu entwischen. Doch sein Selbsterhaltungstrieb war stark, und er überlegte fieberhaft, welcher Ausweg aus diesem Dilemma ihm noch offenstand. Die Jackentasche war ziemlich tief. Selbst mit ausgestreckten Händen und auf Zehenspitzen konnte er ihren oberen Rand nicht erreichen. Trotzdem versuchte er es, indem er die Schuhspitzen in die groben Maschen des Innenfutters stemmte und sich wie ein Bergsteiger an den Fäden emporzog. So arbeitete er sich Zentimeter um Zentimeter nach oben, bis er den oberen Rand endlich zu fassen bekam und die Arme durch die Klappe schieben konnte. Als er so weit gekommen
war, drückte etwas mit unwiderstehlicher Gewalt gegen die Taschenblende und warf ihn wieder hinunter in die Tiefe. Eine Weile lang holte er erschöpft Luft. Dann versuchte er das Ganze noch einmal. Doch der Titan war auf der Hut. Wieder gab es einen gewaltsamen Sturz in die Tiefe. Jetzt ergriff ihn zum erstenmal die Panik. So gut es ging nahm er sich zusammen und dachte über einen Fluchtweg nach. Welche Möglichkeiten hatte er schon – als kleiner Däumling, winzig, unbedeutend und schwach? Wenn es ihm auch gelang, aus der Tasche zu klettern – wie wollte er sicher den Boden erreichen? Mit einem Messer hätte er vielleicht etwas gegen den Riesen unternehmen können, ihm wenigstens eine kleine Verletzung beibringen können. Doch er hatte kein Messer. Trotzdem suchte er aus alter Gewohnheit, ganz automatisch, nach einem geeigneten Gegenstand. Ja, er hatte ja noch die Injektionsnadel. Die ganze Zeit hatte sie in seiner Tasche gesteckt, eingerollt in ein Stück Tuch, das er von einem Bettlaken im Raumschiff abgerissen hatte. Das war vielleicht ein Ausweg! Vorsichtig zog er den Beutel mit der Nadel aus der Tasche und untersuchte ihn. Alles schien ganz in Ordnung. Es fragte sich nur, ob das Gift auch einen solchen Koloß betäuben würde. Er nahm den Beutel in seine rechte Hand. Er konnte mit der Nadel nicht einfach durch den Stoff hindurchstechen, um den Körper des Riesen zu erreichen. Das Jackett saß lose, die Tasche schwang hin und her. Er mußte den Riesen dazu bringen, die Hand in die Tasche zu stecken. Deshalb fing er in seinem kleinen Gefängnis zu toben an. Er wälzte sich hin und her, warf die Arme nach links und nach rechts und keilte mit den Füßen aus. Wie er es erwartet hatte, legte der Riese die Hand gegen die Tasche, versuchte ihn mit einem sanften Druck zu beruhigen. Jetzt war seine Zeit
gekommen! Mit dem rechten Arm stieß er zu wie mit einem Degen, drückte dreimal die Nadel gegen die Stelle, wo der Stoff des Innenfutters sich nach innen wölbte. Sofort ließ der Druck von außen nach. Die Tasche neigte sich, kam ins Wanken. Er hatte das Gefühl, als fiele er aus großer Höhe nach unten. Dann bekam er einen kräftigen Stoß und verlor dabei fast die Besinnung. Er befreite sich aus dem Stoff, der ihn unter sich begraben hatte wie eine kleine Lawine, und horchte. Der Riese bewegte sich nicht. Vorsichtig kroch er bis zum Rand der Tasche und kletterte hinaus. Er sah, daß er den Titanen auf dem Gehsteig einer riesigen Straße zu Fall gebracht hatte. Zu seinem Unglück lag der Kerl auf der linken Seite, auf der Tasche, in der sein kleines Lufttaxi steckte. Ohne dieses Fluggerät waren seine Chancen, dem Riesen zu entkommen, sehr gering. Aber er sah keine Möglichkeit, das Lufttaxi zu bergen. Er mußte es also zu Fuß versuchen; sich so rasch wie möglich von der Stelle entfernen, wo der Riese auf dem Gehsteig lag, ehe dieser wieder zur Besinnung kam. Das Raumschiff war seine letzte Rettung. Er mußte es wiederfinden. Sonst gab es kein Entrinnen von diesem Planeten. Aus der Lage des gefällten Riesen konnte er schließen, aus welcher Richtung er gekommen war. Ohne sich noch länger aufzuhalten, lief er in die entgegengesetzte Richtung davon. Die Straße hatte phantastische Ausmaße. Trotz seiner Erfahrungen, die er mit den Mutrantianischen Titanen gemacht hatte, staunte er immer wieder über die gigantischen Proportionen und Maße seiner Umgebung. Die Straße maß mindestens hundertfünfzig Meter von Bürgersteig zu Bürgersteig. Und der Gehsteig, auf dem er sich befand, war ebenfalls gut fünfzig Meter breit. Links von ihm ragte ein Gebäude auf, das mit der Spitze bis in den Himmel reichte, und auf der anderen Seite stand ein dreißig Meter hoher Zaun,
dessen Planken einen Durchmesser von mindestens drei Metern hatten. Die Straßenlaternen hingen wie Fixsterne über ihm; und dort, wo eine Querstraße einmündete, hing ein ganzes Milchstraßensystem aus weißen und farbigen Leuchtröhren über der breiten Asphaltfläche. Allison ging jetzt langsamer. Etwa hundert Meter vor ihm war die Eingangshalle eines Gebäudes, von zwei Bogenlampen flankiert. Das Licht leuchtete den Bürgersteig in seiner ganzen Breite aus. Das war gefährlich. Er mußte den Gehsteig verlassen und versuchen, im Schutze des Bordsteins die gefährliche Stelle zu überwinden. Er wich an den Rand des Gehsteigs aus und blickte hinunter. Eine zweieinhalb Meter hohe Felswand fiel steil zur Gosse hinunter. Er setzte sich auf den Rand des Bordsteins und ließ sich vorsichtig hinunter. Dann drängte er sich dicht an den Basaltstein und lief geduckt unter dem grellen Lichtkegel hindurch. Doch als er den Schritt wieder verlangsamte, fragte er sich besorgt, wie er wohl unbeobachtet die Kreuzung überqueren konnte, über der die vielen Bogenlampen brannten. Wenn er doch wenigstens sein Lufttaxi bei sich gehabt hätte!
Zwei feurige Augen lenkten Allisons Aufmerksamkeit auf sich. Sie näherten sich mit rasender Geschwindigkeit, nahmen alarmierende Formen an. Was für ein gigantisches Tier war das! Er versuchte, den Bordstein wieder hinaufzuklettern. Aber es gelang ihm nicht. So duckte er sich tief und preßte sich fest gegen den Stein, während die Augen so groß wie Scheunentore wurden und ihn mit grellem Licht überschütteten. Mit hoher Geschwindigkeit brauste das Ungetüm an ihm vorbei, und der Windsog war so kräftig, daß er sich ein paarmal im Rinnstein überschlug. Mit Knien und Händen stemmte er sich wieder
hoch und sah dem Ungetüm nach, dessen böse glühende rote Lichter in der Ferne verschwanden. Ein Auto! Das war seltsam. Die Mutrantianer hatten sehr wenige Autos. Immerhin hatte er Glück gehabt. Das Auto hatte nicht angehalten, als es an dem bewußtlosen Titanen vorbeigefahren war. Wahrscheinlich hatte der Fahrer ihn gar nicht gesehen. Er lief weiter, wechselte zwischen Dauerlauf und Schrittempo. Sein Opfer konnte jeden Augenblick wieder zu sich kommen. Die paar Tropfen des Betäubungsmittels, das er dem Riesen injiziert hatte, würden wohl nicht lange wirken. Und weit war er noch nicht gekommen. Als er sich der Kreuzung näherte, fuhren mehrere Autos an ihm vorbei. Die Form der Karosserie kam ihm sehr bekannt vor. Eine schlimme Ahnung überfiel ihn. Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter, als er die Kreuzung erreichte. Das war unmöglich, konnte nur eine schreckliche Halluzination sein. Doch dann sah er ein riesiges Stück Papier auf der Straße liegen. Und die großen schwarzen Buchstaben darauf bildeten eine Schlagzeile in englischer Sprache! Leute hasteten vorbei, kolossale Gestalten. Doch ihre Kleider hatten jenen modischen Schnitt, der für die Erde typisch war. Und dort drüben hing ein Schild über einem mächtigen Fenster, das er mühelos entziffern konnte. Restaurant stand darauf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals hinauf, als er das Eckgebäude an der Kreuzung erreichte. Über ihm, unter den Bogenlampen, hingen Straßenschilder, die er schon unzählige Male gesehen hatte. Er stand an der Ecke der 49. Straße und First Avenue. Er war auf der Erde, mitten im Herzen von New York City. In einem New York, das sich für ihn ins Riesenhafte vergrößert hatte, während er… Nein, seine Umgebung hatte sich nicht verändert. Er war zu einem Zwerg zusammengeschrumpft! Was hatte Jones mit ihm angestellt? Und weshalb? Wie versteinert vor Schreck stand er
eine Weile im Rinnstein. Dann kam ihm sein tragisches Schicksal erst so richtig zu Bewußtsein. Er legte das Zeitungsblatt wie ein Schutzschild über den Kopf, setzte sich in die Gosse und weinte. Impulsiv und gutgläubig hatte er das Angebot des Mannes aus dem All angenommen. Er hatte ihm vertraut. Als er Verdacht schöpfte, daß man sein Zutrauen mißbraucht hatte, hatte er sich befreit und war mit dem großen Raumschiff zurück zur Erde geflogen. Und jetzt mußte er erkennen, daß seine Situation damit nur noch schlimmer geworden war. Die Ironie der Sache schnitt ihm wie ein Messer ins Herz. Er mußte jetzt wie eine Maus unter seinen Mitmenschen leben. Die Schande war unerträglich. Der Verkehr wurde schwächer. Die Beleuchtung in den Schaufenstern wurde abgeschaltet. Die Tränen trockneten auf dem Gesicht des Ethnologen, der sich vor seinen Artgenossen unter einem armseligen Fetzen Papier verstecken mußte, weil er nur noch so groß wie ein Däumling war. Eine kalte Wut und Entschlossenheit überkam ihn jetzt. Allison wußte, was er zu tun hatte. Er würde Jones töten. Daß Jones zur Erde zurückkehren würde, um nach ihm zu suchen, stand für ihn außer Zweifel. Er wußte zuviel, und deswegen mußte der Mann aus dem All ihn entweder wieder einfangen oder beseitigen. Einen ersten Versuch dazu hatte er bereits unternommen. Denn der Mann, der vor dem Raumschiff gewartet hatte, um ihn abzufangen, war bestimmt ein Agent von Mr. Jones gewesen. Jones würde wieder in Allisons Labor kommen. Allison würde sich diesmal auf seinen Besuch gut vorbereiten. Inzwischen durften ihn nur zwei Menschen in seiner lächerlich kleinen Gestalt zu Gesicht bekommen – Doktor Heiler, sein bester Freund, und Jack Peyton, ein Schriftsteller, den er noch vom College her kannte. Doktor Heiler bewohnte
die andere Hälfte des Stockwerkes in der Zweiundzwanzigsten Straße, wo er sein Labor eingerichtet hatte, und Jack Peyton wohnte ganz in der Nähe der First Avenue – in der Fünfzigsten Straße. Peyton mußte er zuerst aufsuchen, damit er ihn zu Heiler bringen konnte; denn allein schaffte er es nie bis dahin. Außerdem mußte er damit rechnen, daß Mr. Jones aus dem All bereits vor seiner Wohnung auf der Lauer lag, um ihn wieder einzufangen. Schon der Weg bis zu Peytons Wohnung war beschwerlich genug. Zwar lag das Mietshaus gleich um die Ecke; aber für ihn bedeutete das jetzt einen Fußmarsch von einer halben Meile. Der Verkehr auf der First Avenue war noch beträchtlich. Lastwagen waren unterwegs. Doch Allison biß die Zähne zusammen. Er mußte es schaffen. Allison bohrte ein kleines Loch in das Zeitungsblatt, das ihm als Tarnung diente, um den Bürgersteig beobachten zu können. Vorsichtig marschierte er um die große Kurve – den Randstein, der hier wie eine Halbinsel in die Kreuzung hineinragte. Nur wenige Passanten waren unterwegs; dafür um so mehr Lastwagen, die ein Erdbeben erzeugten und einen Lärm machten, der für seine empfindlichen Ohren fast unerträglich war. Er hielt jedesmal an, wenn über ihm ein Fußgänger am Rand des Gehsteiges auftauchte oder ein Laster heranbrauste. Jeder, der zufällig einen Blick in den Rinnstein warf, sah nichts anders als ein weggeworfenes Stück Zeitung, das der Nachtwind langsam vor sich hertrieb. Er konnte nicht darauf achten, wo seine Füße hintraten. Ein paarmal stolperte er über ein Hindernis – über einen Stein oder eine leere Zigarettenschachtel. Sobald er auf einen Wägen stieß, der am Bordstein geparkt war, nützte er die Deckung aus und legte die Strecke bis zur anderen Stoßstange in einem langen Sprint zurück. Die Anstrengung hatte ihn hungrig
gemacht. Als er eine weggeworfene Bananenschale in der Gosse entdeckte, schob er mit viel Mühe die lederartigen Schalen auseinander und kratzte mit den Händen den Rest des Fruchtfleisches heraus. Er brauchte genau siebenunddreißig Minuten, bis er den Randstein der nächsten Querstraße erreichte; und als er die Strecke mit dem Blick abschätzte, die er noch zurücklegen mußte, stöhnte er leise. Peyton verdiente nicht viel mit seiner Schriftstellerei. Er war arm und wohnte in einem jener alten, unverputzten Backsteinhäuser, die man hier und da in New York noch entdecken konnte. Das Haus lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er pumpte seine Lungen voll Luft und überquerte die hundertvierzig Meter breite Straße in einem langgezogenen Sprint. Als er sich dort erschöpft gegen den Bordstein lehnte, tauchten oben auf dem Bürgersteig ein junger Mann und ein junges Mädchen auf. Der Mann ragte wie ein Turm in die Höhe, maß mindestens zwanzig Meter, und das Mädchen stand ihm in der Größe nicht viel nach. Die beiden blieben unter einer Laterne stehen, und der Mann redete lange auf das Mädchen ein. Seine großen Lippen öffneten und schlossen sich im Zeitlupentempo; doch Allison konnte keine Worte hören. Die Tonfrequenz war viel zu niedrig für sein winziges Trommelfell. Er hörte nur ein dumpfes, polterndes Geräusch und ein scharrendes Kratzen – Obertöne und Nebengeräusche, die durch Reibung der Luft an den Lippen und Zähnen erzeugt wurde. Das war ein weiterer Schock. Er würde sich nicht mitteilen können und keine Sprache verstehen. Wenn Doktor Heiler kein Gerät erfand, um die Sprechfrequenz zu verändern… Er wartete, bis die beiden weitergegangen waren. Wahrscheinlich ein Liebespaar, überlegte er bitter. Liebe – das war ihm nun für immer verwehrt. Für die meisten Menschen würde er in Zukunft nur noch eine Zirkusattraktion sein, über die man gemeine Witze riß. Ein paar würden ihn bedauern.
Das würde er nie ertragen können; denn er war stolz und auch ein wenig eitel. Er mußte sich behaupten, bis er das Ziel erreichte, das er sich gesetzt hatte. Er mußte sich mit seiner Rolle als lächerliche Karikatur, als lebendiges Maskottchen, abfinden, bis er diesem grausamen Spiel selbst ein Ende setzen konnte. Er dachte an das Mädchen mit der Codenummer. Sie hatte ihn geliebt. Irgendwo auf einem unbekannten Planeten im Sonnensystem, unerreichbar für ihn, wartete sie jetzt auf ihn. Sie allein konnte ihm Zuflucht bieten und ihm einen Platz in ihrem Herzen reservieren. Sie paßten zusammen, hatten die gleiche Größe. Er verweilte bei diesem Gedanken. Es gab ihm Trost und neuen Mut. Doch vorläufig lag nichts anderes vor ihm als Plackerei und Entbehrungen. Er warf das Zeitungsblatt weg und rannte in der Gosse am Bürgersteig entlang, bis er das Haus erreichte, wo Peyton wohnte. Er nahm einen kleinen Anlauf, zog sich am Bordstein hoch und rollte auf den Gehsteig. Die Haustür war nur angelehnt; doch bis dahin mußte er fünf Treppenstufen überwinden, jede ein Hindernis von zwei Meter fünfzig Höhe. Und sein Freund wohnte im ersten Stock! Er war ja nur 15 Zentimeter groß, maß also ein Siebzehnhundertundachtundzwanzigstel seiner früheren Größe. Im gleichen Verhältnis hatte seine Kraft und sein Gewicht abgenommen. Er wog nur noch 4 5 Gramm.
7 Allison brauchte eine Leiter. Dazu benötigte er zwei Stangen von mindestens zwei Meter Länge, ein paar Holzstücke, die als Sprossen dienen konnten, und eine Schnur. Sofort machte er sich auf die Suche, spähte in jede Ritze zwischen den
Gehsteigplatten, ob er nichts Passendes entdecken konnte. Das Haus war nicht beleuchtet, und im Schatten der Mauer und Treppe war es stockdunkel. Doch er war so klein, daß er jeden Gegenstand erkennen konnte, der sich in der Farbe vom dunklen Pflaster abhob. Achtzig Meter von der Treppe entfernt entdeckte er ein langes, gerades Stück Holz, das ihm als Leitersprosse dienen konnte. An einem Ende hatte es eine kugelförmige Verdickung aus einer porösen schwarzen Masse. Ein Zündholz, das jemand weggeworfen hatte. Ungefähr hundert Meter weiter fand er ein zweites Zündholz in der Nähe des Bordsteins. Er lud sich die beiden Zündhölzer auf die Schulter und trug sie bis zur Treppe. Dann machte er sich erneut auf die Suche. Zehn Minuten später entdeckte er neben einem Gully noch zwei Zündhölzer. Er hatte jetzt genügend Leitersprossen. Jetzt brauchte er nur noch die Holme und Schnur. Doch trotz seiner Ausdauer und Hartnäckigkeit hatte er diesmal kein Glück. Wahrscheinlich wurde der Bürgersteig vor dem Haus jeden Tag gekehrt. Die Reinlichkeit des Hausmeisters machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Verzweifelt suchte er auch den Gehsteig vor den Nachbarhäusern ab. Mit den Fingerspitzen tastete er in jede Ritze und Spalte, kroch auf allen vieren an den Hauswänden entlang und bewältigte in einer Stunde und zwanzig Minuten eine Fläche von gewaltiger Ausdehnung – die Straßenfront von vier Häusern. Wenn man seine Leistung richtig einschätzen wollte, mußte man sie in ein menschliches Maß übersetzen. Welcher Straßenkehrer hätte wohl einen ganzen Flugplatz in einer Stunde und zwanzig Minuten nach Streichhölzern abgesucht? Diesmal wurde er für seine Mühe belohnt. Er hatte ein Stück Schnur und drei Haarnadeln gefunden.
Jetzt begann die anstrengende Arbeit, die Haarnadeln geradezubiegen. Er hätte es nicht geschafft, wenn er nicht eine geeignete Ritze gefunden hätte, um dort die Haarnadeln festzuklemmen und sie dann mit Hebelkraft auseinanderzubiegen. Die Spitze der kürzesten Haarspange bog er zu einem Haken zurecht. Im Osten zeigte sich der erste rosige Hauch beginnender Morgenröte. Endlich hatte er sein Material zusammen. Da er keine Möglichkeit hatte, die Schnur zu zerschneiden, wand er sie zuerst um die Sprossen auf der linken Seite, führte sie dann hinüber zum rechten Holm und band dort das andere Ende der Sprossen fest. Als er mit seiner Arbeit fertig war, hatte er eine Leiter von anderthalb Meter Länge und vier Sprossen von dreißig Zentimeter Breite. Keuchend schleppte er die Leiter zur ersten Treppenstufe und lehnte sie dagegen. Er konnte zwar den oberen Rand der Stufe nur mit Mühe erreichen; doch dafür hatte er die kurze Haarnadel als Hilfsmittel vorgesehen. Er schob sie auf die Trittfläche der ersten Stufe, hakte sie dort fest, schwang sich hinauf und zog dann die Leiter mit Hilfe des Widerhakens am Ende der Haarnadel zu sich herauf. Die erste Stufe hatte er überwunden. Eine Viertelstunde später erreichte er das Treppenhaus. Er lud sich Leiter und Haarnadel auf die Schulter und legte den langen Weg bis zur nächsten Treppe zurück. Allison würde sein Leben lang die Plackerei nicht mehr vergessen, die ihn jetzt erwartete. Ausgelaugt, müde und erschöpft von den überstandenen Anstrengungen, mußte er noch achtzehnmal mit Leiter und Haken die zwei Meter fünfzig hohen Wände der Stufen überwinden. Durch das schmutzige Fenster im ersten Stock fiel graues Tageslicht, beleuchtete eine schweißgebadete, weißgekleidete Puppe, die mühsam einen Berg erstieg. Oben auf der letzten Stufe lehnte Allison sich gegen den Geländerpfosten und ruhte sich aus. Er
hatte die Ruhepause verdient. Seit er das Raumschiff verlassen hatte, hatte er »Übermenschliches« geleistet. Dazu kam noch der beschleunigte Grundumsatz. In seinem winzigen Körper liefen die Lebensvorgänge viel rascher ab als in einem Menschen normaler Größe. Mit steifen Muskeln erhob er sich wieder. Er legte die Leiter und die Haarnadel über die Schulter und trottete über die hölzernen Dielen zum Ende des Korridors, wo sich das Zimmer seines Freundes befand. Er klopfte gegen die Tür. Sogleich wurde ihm bewußt, wie erbärmlich schwach das Geräusch sein mußte. Deshalb drehte er sich herum, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und trommelte mit dem Absatz gegen die Füllung. Alles blieb still. Auch dieser Lärm reichte nicht aus, einen Schlafenden zu wecken. Doch dann sah er den Spalt unter der Tür. Er war zwar nur knapp drei Zentimeter breit, doch für ihn groß genug, um sich hindurchzuzwängen. Im grauen Zwielicht lag das Zimmer vor ihm. Die Couch, die sein Freund als Bett benutzte, war leer. Die Tagesdecke war darüber gebreitet. Wieder ein unerwarteter Nackenschlag. Er hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß sein Freund nicht zu Hause sein könnte. Er ließ Leiter und Haarnadel neben der Tür liegen und sah sich um. Das eine Fenster, das auf den Hinterhof hinausführte, stand einen Spalt offen. Der Raum war unaufgeräumt. Schmutziges Geschirr stand auf dem Brett über dem Ausguß. Der Stuhl war unter den wackligen Tisch geschoben, der Peyton als Schreibpult diente. Allison ging hinüber zum Küchenschrank, dessen Tür einen Spalt offenstand. Er war ganz schwach vor Hunger. Er hoffte, daß irgend etwas Genießbares in einem Fach lag, das er mit Hilfe seiner Leiter erreichen konnte.
Das untere Fach war leer. Auf dem Brett darüber standen Konservenbüchsen – Bohnen in Tomatensoße und Ölsardinen. Jede dieser Büchsen war für ihn so groß und schwer wie ein Güterwagen. Und die Wände so dicht wie ein Panzerschrank. Wie er den Anblick von Konservenbüchsen haßte! Er kroch in den hintersten Winkel des Küchenschrankes und kam mit ein paar Brotkrumen und einem kleinen Stück Käse wieder hervor. Er hatte eine mit Käse gespickte Mausefalle entdeckt. Noch nie in seinem Leben hatte ihm ein Stück Chester so gut geschmeckt. Während er aß und die steinharten Brotkrumen mit den Zähnen zerkleinerte, überlegte er, was er jetzt anfangen sollte. Im Raumschiff war wenigstens seine Nahrung gesichert gewesen. Jetzt hatte er nicht einmal genügend zu essen: Was sollte er tun?
Allison lehnte sich gegen die vordere Stütze der Couch. Plötzlich bewegte sich etwas in seiner Nähe, und als er erschrocken herumfuhr, blickte er in zwei große, gelbe Scheiben, in denen ein kaltes Feuer loderte. Das Haar sträubte sich ihm im Nacken, und mit einem Ruck stand er auf den Füßen. Er hatte vollkommen vergessen, daß Peyton eine Katze hatte! Die Katze schlich näher. Ihr Schwanz zuckte aufgeregt hin und her. Sie betrachtete ihn als Beutetier! Und was für eine leichte Beute er für eine Katze darstellte! Er reichte der Katze höchstens bis an die Schulter, wog nur ein Fünfzigstel ihres Körpergewichts. Jede Maus hätte sich besser gegen eine Katze verteidigen können als er. Verzweifelt versuchte er, sich an den Namen der Katze zu erinnern. Der Schreck lähmte ihn, schaltete sein Gedächtnis aus. Geduckt schleichend kam die Katze näher. Er versuchte es
mit schmeichelnden, beruhigenden Worten. Früher hatte er damit die Katze immer zum Schnurren gebracht. Doch jetzt hatten seine Worte nicht die geringste Wirkung. Es war grotesk! Wie oft hatte er das Tier auf den Schoß genommen und gekrault. Sie hatte ihn gern gehabt. Doch jetzt orientierte sie sich an seiner Größe, kannte ihn nicht wieder, bereitete sich darauf vor, ihm das Leben zu nehmen. Trotz seiner menschlichen Intelligenz war er hilfloser als eine Maus. Doch da fiel ihm plötzlich ein, daß er nicht ganz wehrlos war. Blitzschnell zog er den Beutel mit der Betäubungsnadel aus der Tasche und befestigte ihn in der rechten Handfläche. Die Katze mit ihren blitzschnellen Bewegungen war ihm natürlich weit überlegen. Aber er wollte sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Tapfer rückte er vor. Er wußte, daß ihm die Flucht in den Küchenschrank bestimmt nicht gelungen wäre. Die Katze wäre ihm auf den Rücken gesprungen. So blieb nur der Angriff als bestes Mittel der Verteidigung. Er hatte das richtige Mittel gewählt. Die Katze wich überrascht zurück, kauerte sich zusammen, zog sich erneut zurück. Er folgte ihr. Die Katze stellte sich nicht, floh bis an die Tür. Allison hätte sich durch den Spalt in Sicherheit bringen können. Doch das hätte ihm nur eine kurze Schonzeit eingebracht, bis die anderen Mieter, die hier auf dem Korridor wohnten, auf ihn aufmerksam wurden. Ein neues Gefühl überkam ihn – Jagdfieber, die Lust zu erobern. Er war jetzt davon überzeugt, daß er mit der Betäubungsnadel die Katze besiegen konnte. Wieder rückte er vor. Die Katze schien ganz verwirrt von diesen Bewegungen, die sie von einem Beutetier nicht gewohnt war. Sie wand sich, duckte sich, zog sich unter den Tisch zurück. Dort, den Rücken zur Wand, erwartete sie seinen Angriff. Allison spürte, daß es hier zur entscheidenden Auseinandersetzung kommen würde. Er ging weiter, bis er nur
noch eine dreifache Armlänge von der Katze entfernt war. Dann blieb er stehen, hob den rechten Arm, bereit, sofort mit der Nadel zuzustoßen. Die Katze öffnete den Rachen und fauchte leise. Einen Moment lang war er in den heißen, feuchten Atem der Bestie eingehüllt. Er winkte ihr mit dem anderen Arm zu. Die Katze richtete sich auf, die Ohren flach an den Kopf gelegt, und schlug blitzschnell mit der Tatze nach seiner linken Hand. Mit der Rechten stieß er zu. Die Nadel bohrte sich in das Fell. Sie taumelte, fiel zur Seite und lag still. Allison betrachtete seine rechte Hand. Sie war betäubt von der Wucht des Schlages, den er mit der Nadel aufgefangen hatte. Zwei tiefe Risse zogen sich vom Handgelenk bis zu den Knöcheln. Blut quoll heraus. Doch die Verletzung an der Hand war lange nicht so schlimm wie die Wunden, die er erlitten hätte, wenn die Katze ihn mit voller Wucht angesprungen hätte. Er fesselte die Katze mit einem Stück Schnur, die er unter dem Ausguß fand. Wieder überkam ihn die Erschöpfung. Er taumelte, zitterte am ganzen Körper. Das war die Nachwirkung des tödlichen Zweikampfes, den er mit knapper Not zu seinen Gunsten entschieden hatte. Er hatte entsetzlichen Durst. Außerdem mußte er die Wunde auswaschen, um keine Blutvergiftung zu bekommen. Er seufzte tief vor Erleichterung, als er neben dem Küchenschrank eine Untertasse voll Wasser entdeckte, die sein Freund für die Katze hingestellt hatte. Er beugte sich über den Rand der Tasse wie über einen Brunnen und trank. Dann stieg er in das Wasser, wusch sich Gesicht und Hände und die Kratzwunden. Anschließend legte er sich auf dem Ruhekissen der Katze zum Schlafen nieder.
Es war später Nachmittag, als er wieder erwachte. Seine Glieder waren wie zerschlagen, als er sich steif erhob, um nach der Katze zu schauen. Sie war immer noch bewußtlos. Er dachte eine Weile nach; dann machte er sich an die Arbeit. Er unternahm viele seltsame Dinge, alle tausendfach erschwert durch seine winzige Größe und erbärmlich schwachen Kräfte. Er entdeckte eine kleine Pappschachtel, die früher eine Tube Zahnpasta enthalten hatte. Er entfernte die innere Verkleidung aus Wellpappe und zog an beiden Enden die Faltdeckel heraus, so daß man die Schachtel zu einem flachen Stück Karton zusammenlegen konnte. Er schob die Wellpappe und den zusammengelegten Karton durch den Türspalt der Eingangstür. Dann holte er einen Bausch Watte und schob ihn hinterher. Als nächstes folgten ein ungespitzter Bleistift, ein Stück Schnur, an der er ein paar Heftklammern befestigt hatte, und eine Rasierklinge. Schließlich malte er ein paar riesige Buchstaben auf einen Bogen Papier, beklebte ihn mit einer Briefmarke und schob auch diesen durch den Spalt zwischen Tür und Schwelle. Dann zwängte er sich ebenfalls hinaus, blieb eine Stunde fort und kehrte erschöpft zurück. Inzwischen war die Sonne untergegangen. Allison aß Käse und Brotkrumen und legte sich auf dem Kissen der Katze schlafen. Es war stockdunkel, als Allison wieder erwachte. Er stand auf, befreite die immer noch bewußtlose Katze von ihren Fesseln, trank das letzte Wasser in der Untertasse und schob sich unter den Türspalt hindurch, hinaus in den Korridor. Draußen erkundete er die Lage. Nichts bewegte sich. Es mußte bereits nach Mitternacht sein. Das war die richtige Zeit, um erneut an die Arbeit zu gehen. Er lud sich die Zahnpastaschachtel auf den Rücken und trug sie bis zur Treppe. Er hatte sie inzwischen wieder zusammengesteckt und nur den einen Faltdeckel offen gelassen. Sie war jetzt in Papier
eingewickelt, und in ihrem Innern befanden sich außer der Wellpappfüllung der Wattebausch, die Rasierklinge, das Stück Schnur mit den Papierklammern und der lange, ungespitzte Bleistift. Stufe um Stufe schob er seine schwere Last die Treppe hinunter, wälzte sie durch den Hausgang und spähte vorsichtig hinaus auf die Straße. Draußen war alles ruhig. Ab und zu kamen ein Taxi oder ein Lastwagen vorbei. Allison nickte zufrieden und beförderte die Schachtel Stufe um Stufe hinunter auf den Gehsteig. Fünfzehn Minuten später tauchte er mit seiner Schachtel unter einem Briefkasten auf, der sich ungefähr in der Mitte zwischen der First und Second Avenue befand. Das war das Ziel seines beschwerlichen Gepäckmarsches. Zuerst zog er den Bleistift aus der Schachtel und legte ihn auf den Boden. Dann entfernte er die Schnur mit den Papierklammern, band das eine Ende unten an der Säule des Briefkastens fest und warf das andere Ende mit den Papierklammern wie ein Lasso über das Dach des Briefkastens hinweg, so daß es drüben, beschwert von der Last der Klammern, wieder herunterkam. Dann kletterte er an der improvisierten Strickleiter hinauf. Oben auf dem schrägen Dach des Briefkastens ruhte er sich erst einen Moment aus – ein bärtiger, mit Blut verschmierter kleiner Gnom im schmutzig-weißen Umhang. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, band er die Mitte des Strickes an der Briefkastenklappe fest und ließ sich am Strick wieder zum Boden hinunter. Jetzt war der Strick auf der einen Seite an der Säule befestigt, führte von dort über das Dach zur Briefkastenklappe und führte schließlich bis zum Boden hinunter. Er band die in Papier eingewickelte Schachtel an dem losen Ende fest. Dann steckte er den Bleistift in eine vorbereitete
Schlinge über der Stelle, wo er das andere Ende des Stricks an der Säule festgebunden hatte. Er begann den Bleistift zu drehen, als müsse er einem Verletzten eine Aderpresse anlegen. Unzählige Male drehte er den Bleistift, wickelte so den Strick auf, bis er ganz straff war und die Klappe des Briefkastens in die Höhe hob. Er zwängte den Bleistift zwischen Säule und Strick, damit sich das Knäuel nicht aufwickeln konnte, und hantelte dann an den Papierklammern wieder nach oben. Dann zog er die Schachtel langsam hinauf, bis sie neben ihm im Briefkastenschlitz steckte. Er holte die Rasierklinge aus der Schachtel, hielt sich mit der Linken daran fest, während er mit der Rechten die beiden Schnüre kappte. Die Stricke fielen nach unten, die Briefkastenklappe schlug zu und warf ihn und die Schachtel hinunter auf eine federnde Unterlage eingeworfener Briefe. Fünfzehn Minuten später lag er auf der Watteunterlage in der verschlossenen Zahnpastaschachtel. Er hatte sich selbst zum Briefkasten getragen. Nur die Post konnte ihn jetzt noch zu seinem Freund Doktor Heiler bringen… Er war geborgen und warm, dachte über die erstaunlichen Ereignisse in den letzten vierundzwanzig Stunden nach – dachte an Jones’ Agenten, den er in der Neunundvierzigsten Straße betäubt zurückgelassen hatte – an den schrecklichen Schock, als er sich zu einer Spielzeugpuppe reduziert sah – seine titanischen Anstrengungen, in Doktor Heilers Wohnung zu gelangen. Er hatte Dinge vollbracht, die er früher für unmöglich gehalten hätte. Sein Freund würde ihn beschützen und sein Geheimnis bewahren. Er würde ihm auch ein Mittel geben, mit dem er Jones umbringen konnte, sobald dieser Verräter es noch einmal versuchen sollte, ihn aus seiner Wohnung zu entführen.
Was für ein Glück, daß Doktor Heiler im gleichen Stockwerk wie er wohnte. Er würde ihm nicht nur Schutz gewähren, sondern ihm auch helfen, seine Arbeit im Labor wieder aufzunehmen. Langsam überkam ihn der Schlaf. Er träumte von Jones und einem entzückenden Mädchen, das so groß war wie er, und das er nie wiedersehen würde. Auch die endlose Reihe der Puppengesichter tauchte wieder auf, die ihn mit seinen eigenen Zügen vorwurfsvoll anstarrten. Und dann zwei Männer, die auf einem fahrbaren Tisch in einen Käfig geschoben wurden – seine Doppelgänger… Ein unsanfter Stoß weckte ihn. Der Briefkasten wurde geleert. Es mußte jetzt sechs Uhr morgens sein. Danach konnte er keinen rechten Schlaf mehr finden. Er wurde geschüttelt, sortiert, in ein Fach gelegt. Dann eine neue Erschütterung, als der Briefträger ihn übernahm. Schließlich wurde er ausgehändigt. Das mußte das Dienstmädchen von Doktor Heiler sein, die ihn jetzt in das Arbeitszimmer seines Freundes brachte. Es wurde still um ihn her. Nichts regte sich mehr. Die Schachtel lag ruhig. Allison konnte sich nicht länger beherrschen. Er schob Watte und Wellpappe beiseite, drückte die Faltklappe nach außen und kroch heraus. Er befand sich auf dem Schreibtisch in seinem eigenen Labor. Er rieb sich die Augen und sah sich verstohlen um. Die hohe, steife Lehne seines Drehstuhls wirbelte herum. Ein Riese saß darin. Er erkannte das Gesicht des Kolosses sofort wieder. Es war sein Entführer aus dem All – der Mann, der sich Jones nannte…
8 Einen Moment blieb Allison wie versteinert stehen. Das breitflächige Gesicht über ihm verzog sich zu einem Lächeln. Das erlöste ihn aus seinem Bann. In wilder Panik rannte er zum Rand des Schreibtisches, suchte nach einer Möglichkeit, den Boden zu erreichen. Jones’ Hand fuhr durch die Luft, stieß wie ein Habicht auf ihn hinunter. Verzweifelt wagte Allison einen Hechtsprung, bekam die Verlängerungsschnur der Tischlampe zu fassen, rutschte an der Plastikisolierung hinunter und landete mit blutenden, verbrannten Händen unten auf dem Parkett. Sofort suchte er nach einem Loch – einem Winkel –, wo er sich verkriechen konnte. Doch nichts stand in der Nähe, was ihm Schutz bieten konnte. Der Schreibtisch war fast vierzig Meter von der Wand entfernt. Und das nächste Möbelstück, unter dem er sich verkriechen konnte, war ein hoher, schwerer Aktenschrank in der Ecke neben dem Fenster. Wenn er es rechtzeitig bis dorthin schaffen konnte… Die mächtigen Füße unter dem Schreibtisch bewegten sich. Jones’ Kopf und Arme tauchten über dem Tischrand auf. Allison nützte seine Chance und rannte auf den Aktenschrank in der Ecke zu. Jones eilte hinter ihm her. Doch Allison war schneller und tauchte im Schatten zwischen den eisernen Füßen des Schrankes unter. Er wich bis zur Wand zurück. Wenn er sich reckte, stieß er mit dem Scheitel gegen den Boden des Aktenschrankes. Das Möbelstück hatte gerade so viel Abstand vom Boden, daß er sich aufrecht darunter bewegen konnte. Er zog den Beutel mit der Betäubungsnadel aus der Tasche und befestigte ihn in der rechten Handfläche. Er saß zwar in der Falle, doch sobald Jones versuchen sollte,
ihn mit der ungeschützten Hand unter dem Schrank hervorzuziehen, war er erledigt. Allison wartete. Er zitterte am ganzen Körper. Was würde sein Feind jetzt unternehmen? Würde er ihn mit einem Besenstiel unter dem Schrank hervorkehren wie eine Maus? Oder würde er ihn einfach gegen die Wand drücken und zerquetschen wie eine Küchenschabe? Er beobachtete die Füße des Mannes. Sie bewegten sich aus dem Gesichtsfeld, wichen zurück zum Schreibtisch. Eine Weile lang geschah nichts, dann kamen die Füße wieder auf den Schrank zu. Die Beine knickten ein, ein Knie erschien, das zweite. Riesige Hände schwebten herunter, legten sich auf das Parkett. Schließlich kam auch der Kopf des Mannes ins Blickfeld. Er trug eine Art Kehlkopfmikrophon um den Hals geschnallt. Dann hörte Allison zum erstenmal wieder einen verständlichen Satz. – Seit er mit dem Raumschiff aus seiner Gefangenschaft entflohen war, hatte er keine menschlichen Laute mehr gehört. Doch die Worte klangen seltsam gepreßt. Jones’ Stimme war nicht mehr wiederzuerkennen. »Kommen Sie heraus, Allison«, sagte die gepreßte Stimme. »Ich tue Ihnen nichts!« »Holen Sie mich doch!« höhnte der Ethnologe. Hoffentlich nahm Jones die Herausforderung an. Er wartete nur darauf, ihm das ganze Betäubungsgift auf einmal unter die Haut zu jagen. »Gern – aber erst möchte ich die Nadel wiederhaben«, kam die Antwort durch das eigenartige Kehlkopfmikrophon. »Das könnte Ihnen so passen!« rief Allison wütend. Jones war auf der Hut! Er wußte Bescheid! Die Verzweiflung überwältigte ihn wieder. Er war verloren. Er wartete, was Jones als nächstes tun würde. Zunächst geschah gar nichts. Jones zog sich wieder zum Schreibtisch zurück. Dort blieb er stehen und beugte sich vor. Was er dort mit den Händen tat, konnte Allison von seinem Versteck aus
nicht erkennen. Dann kam Jones wieder zum Schrank und kniete zum zweitenmal vor Allisons Versteck nieder. »Also gut, Nummer 372 – wenn Sie es wagen wollen!« sagte Jones. Das waren rätselhafte Worte. Was sollten sie nur bedeuten? Allison wartete mit klopfenden Pulsen, was jetzt geschehen sollte. Jones’ Hände kamen erneut ins Blickfeld. Er stützte sie diesmal nicht auf den Boden, sondern hielt sie übereinander, bildete einen improvisierten Käfig. Er öffnete die Hände, und ein winziger Mann sprang hinunter auf das Parkett. Er war genauso groß wie Allison, trug eine saubere grüne Robe, war frisch gewaschen und rasiert. Allison starrte den Zwerg an. Es war in Figur, Gesicht und Haltung er selbst! Sein Doppelgänger bückte sich unter den vorderen Rand des Schrankes und spähte suchend ins Dunkel. Allison wich ängstlich noch weiter an die Wand zurück. Auch Jones, die Wange gegen den Boden gepreßt, beobachtete ihn. »Hallo, Allison, wie geht es dir?« rief sein Doppelgänger und ging auf ihn zu. »Wer bist du überhaupt!« fragte Allison. Der Bursche hatte genau die gleiche Stimme wie er. »372«, erwiderte der andere lachend. »Du bist Nummer 793 – obgleich dir das noch niemand mitgeteilt hat. Aber, gütiger Himmel, wie siehst du denn aus!« Allison blickte rasch an sich herab. Sein weißer Kittel war zerrissen und blutbefleckt. Seine Hände waren verbrannt und geschwollen. Die Wunde, die ihm die Katze beigebracht hatte, war erneut aufgebrochen. Und im Gesicht hatte er einen blonden Stoppelbart. »Wer bist du?« fragte Allison noch einmal. Mit blutunterlaufenen Augen sah er seinen Doppelgänger an. Alle seine Muskeln waren angespannt, um blitzschnell reagieren zu können – bereit zum Angriff oder zur Flucht.
»Komm doch endlich heraus, damit ich dir alles erklären kann«, erwiderte der Doppelgänger freundlich und streckte den Arm aus, um ihm auf die Schulter zu klopfen. »Wenn du mich anrührst, stirbst du!« warnte Allison. Jones mischte sich ein: »Paß auf – er hat eine Betäubungsnadel in der rechten Hand!« »Oh!« machte der Doppelgänger und bewegte sich jetzt ein bißchen vorsichtiger. »Allison«, fuhr er mit ernster Stimme fort, »du hast dich wie ein Narr aufgeführt. Wir sind nicht hierhergekommen, um dir wehzutun. Im Gegenteil…« »Mach, daß du fortkommst!« unterbrach ihn Allison und duckte sich wie ein Tier, das verzweifelt einen Ausweg sucht. »Pack dich!« rief Allison mit schriller Stimme. Er war am Ende seiner Kraft. Sein Doppelgänger wich einen Schritt zurück. »Ich glaube, er hat den Verstand verloren!« rief er Jones über die Schulter zu. Dann maßen sich die beiden Zwerge mit den Blicken. Zwei identische Personen, doch mit dem Unterschied, daß die eine selbstsicher, ausgeruht und wohlgenährt war, während die andere abgezehrt, verzweifelt und vollkommen ausgepumpt schien. Allison glich einer Ratte, die ihren Peiniger noch einmal beißen will, ehe sie von ihm getötet wurde. »Gib mir die Nadel!« befahl der Doppelgänger. Allison senkte den Kopf noch etwas tiefer. Dann griff er ohne Warnung an. Wie ein Mungo, der dem Biß der Kobra ausweicht, sprang Allisons Doppelgänger einen Schritt zur Seite, packte dann blitzschnell zu und schloß die Rechte um Allisons Handgelenk. Allison bot seine letzte Kraft gegen seinen ausgeruhten Doppelgänger auf. Alle Vorteile lagen natürlich auf der Seite des anderen. Er drehte Allison das Handgelenk herum; beide fielen zu Boden. Allison lag unten, der Doppelgänger auf ihm. Vorsichtig, das Handgelenk bis zum kritischen Punkt umbiegend, nahm ihm der Doppelgänger die Betäubungsnadel ab und warf sie Jones zu. Dann zog er seinen sich verzweifelt
wehrenden Gefangenen unter dem Schrank hervor. Jones stand schon bereit, um ihm den Gefangenen abzunehmen. Vorsichtig, um den kleinen Körper nicht zu verletzen, schloß er die eine Hand um Allison, die andere um dessen Doppelgänger, und trug die beiden Zwerge hinüber zum Schreibtisch. Dort stellte er sie ab, hielt die Hände wie einen Wall um sie herum und setzte sich dann. Allison wich sofort vor seinem Doppelgänger zurück. »Ich bewundere Sie, 793«, sagte Jones. »Aber Sie haben uns das Leben sehr sauer gemacht.« Der Ethnologe blickte zu Jones hinauf. »Sehen Sie doch, was Sie mir angetan haben!« rief er schrill. »Ich habe Ihr Angebot in gutem Glauben angenommen. Ich sollte keinen Schaden nehmen. Und das erste, was Sie mir dann zumuteten, war eine Gehirnwäsche, eine gewaltsame Veränderung meiner Seele! Ich war nichts anderes als ein Beuteobjekt, ein Opfer unter vielen anderen. Jones, Sie sind das gemeinste, hinterlistigste Stinktier des ganzen Sonnensystems!« Der Mann aus dem All lächelte nur. Allison konnte Jones’ Gedanken nicht von dessem Gesicht ablesen. Es war viel zu groß. Er konnte es gar nicht mit einem Blick überschauen. »Nein, Sie haben ja keinen Begriff davon. Hören Sie mir in aller Ruhe zu.« »Ich soll mir ruhig anhören, weshalb Sie mich in einen Zwerg verwandelt haben? War das unsere Abmachung?« erwiderte Allison verbittert. »Was sind Sie nur für ein Wesen!« »Erklären Sie ihm alles«, forderte der Doppelgänger Jones auf. »Werden Sie mir jetzt zuhören, bis ich zu Ende gesprochen habe?« fragte der Mann aus dem All. »Ich habe wohl keine andere Wahl«, erwiderte Allison giftig. Es entstand eine Pause. »Ich muß weit ausholen«, begann der Riese aus dem All. »Vor fünfundvierzigtausend Jahren war die menschliche Rasse
noch auf der Erde vereinigt. Ein Teil von ihr, der auf einem warmen Kontinent im Pazifik wohnte, entwickelte eine mächtige Zivilisation. Ihr Menschen von heute glaubt in einem wissenschaftlichen Zeitalter zu leben; aber ihr seid erst am Anfang einer Zivilisation, die eure Vorväter schon vor vierzigtausend Jahren besaßen. Damals hatte die menschliche Rasse auch schon die Technik der Raumfahrt entwickelt und flogen mit ihren Raumschiffen ins All. Sie errichteten auf geeigneten Planeten Kolonien. Und als der Tag kam, den die Geologen seit Jahrhunderten vorausgesagt hatten, waren unsere Vorfahren gut darauf vorbereitet. Sobald der große Kontinent im Pazifik zu versinken begann, starteten Tausende von Raumschiffen – die einen zu anderen Planeten im Sonnensystem, die anderen zu den ungefährdeten Landstrichen der Erde. Alle Menschen stammen von den gleichen Vorfahren ab. Die Mutrantianischen Titanen, die Sie in Ihrer Arbeit als Vettern der Menschen bezeichnen, sind die Nachkommen einer Kolonie, die vor fünfundvierzigtausend Jahren gegründet wurde. Ihre gigantische Größe ist eine Folge der Umweltbedingungen. Ich will sie nicht näher beschreiben. Ich stamme von einer Rasse ab, die Sie als Zwerge bezeichnen würden. Doch wir haben uns absichtlich zu zwergenhaftem Wuchs entwickelt. Wir hielten das für vorteilhaft und hatten schon lange die wissenschaftlichen Formeln entdeckt, mit denen sich das erreichen ließ. Um mich unter die Menschen auf der Erde zu mischen, mußte ich mich auch ihrer Größe anpassen. Das war ganz einfach. Ich kehrte den Prozeß um, mit dem wir uns in Zwerge verwandeln. Trotzdem sind wir – ich und meine Stammesgenossen – Abkömmlinge der menschlichen Rasse. Wir sind die Nachkommen von Auswanderern, die im Weltall eine Kolonie gegründet haben. Wir sind immer eine kleine Kolonie gewesen; denn unsere Umgebung war für die Fortpflanzung
unserer Rasse nur bedingt geeignet. Wir konnten uns nur durch eine Beschränkung der Kinderzahl auf dem Planeten halten. Das barg allerdings die Gefahr der Inzucht in sich. Dagegen wehrten wir uns auf natürlich-logische Weise. In gewissen Zeitabständen importierten wir frisches Blut aus unseren Geschwisterkolonien – Männer mit verschiedenartigen und wertvollen Erbanlagen. Und dieses neue Erbgut impften wir nach einem wissenschaftlichen Schlüssel unserer Rasse ein. Damit bewahrten wir die Fruchtbarkeit und Widerstandsfähigkeit unserer Kolonie…« »Jones«, unterbrach Allison wütend, »Sie sind eine ganz niederträchtige Person, wenn Sie mich und meine Rassegenossen als Deckhengste mißbrauchen, um Ihr verdammtes Blut aufzufrischen!« Der Mann aus dem All schien diese Antwort keineswegs übelzunehmen. »Von einem Mißbrauch als Deckhengst, wie Sie sich ausdrücken, kann gar nicht die Rede sein«, erwiderte er. »Außerdem waren Sie, Allison, der einzige Mann von der Erde, den wir uns für diese Aufgabe ausgesucht haben.« »Ich habe Beweise dafür, daß Sie auch andere Männer von der Erde mit Ihren Frauen zusammengebracht haben«, widersprach ihm der Ethnologe. »Ich weiß schon, daß Sie sich Beweise verschafft haben«, antwortete Jones gelassen. »Miss CB-301 kam zu mir und hat mir alles gebeichtet. Trotz allem, was Sie durch das Suchgerät beobachtet haben, sind Sie der einzige Mann von der Erde, der in diese Sache verwickelt ist.« »Und Sie sind ein Lügner!« rief Allison wütend. Aber der Mann aus dem All ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Gelassen fuhr er fort: »Sie haben aus Ihren Beobachtungen Schlüsse gezogen – nur nicht die richtigen Schlüsse. Als Sie aus Ihrer Wohnung ausbrachen, mußten wir Ihnen folgen und Sie zurückholen. Denn wir konnten es uns nicht leisten, daß
Sie falsche Behauptungen über uns verbreiten – oder, genauer gesagt, irgendwelche Behauptungen. Der einfachste Plan war, Sie bei Ihrer Ankunft auf der Erde abzupassen. Denn es war uns klar, daß Sie auf Ihrer Flucht Kurs auf die Erde nehmen würden. Deshalb sorgte ich dafür, daß Sie auf meinem privaten Raumflughafen landeten, wo einer meiner Leute auf Sie wartete. Sie wissen ja, was dann passierte. Sie konnten meinem Agenten entkommen und hielten sich versteckt. Doch wir konnten zuverlässig damit rechnen, daß Sie wieder in Ihre Wohnung zurückkehren würden. Deshalb kam ich hierher und wartete auf Sie. Natürlich ließ ich auch Ihren Freund, Doktor Heiler, beschatten. Deshalb gelang es uns auch, Ihr geheimnisvolles Päckchen abzufangen. Und jetzt«, schloß er, »werde ich Sie auf unseren Planeten zurückbringen.« »Lieber sterbe ich, als dorthin zurückzukehren!« »Sie werden Ihre Meinung rasch ändern.« »Verdammt noch mal – was wollen Sie dort mit mir anfangen!« »Ich werde Sie dazu anhalten, Ihren Vertrag zu erfüllen.« »Das heißt, ich soll mich mit einer unbegrenzten Anzahl von Ihren Weibern ins Bett legen! Und dann zwingen Sie mich auch noch dazu, diese abscheulichen Wesen mit den Eierköpfen zu lieben!« »Sie werden sich nur mit einer verbinden.« »Eine ist schon zu viel! Ich werde niemals zu Ihrem Planeten zurückkehren – wenigstens nicht lebendig!« »Wir werden Sie gut beobachten«, erwiderte der Riese lächelnd. »Außerdem habe ich bereits meine Entscheidung getroffen. Ich habe Sie Miss CB-301 versprochen. Tut Ihnen das wirklich so weh, sich mit ihr zu vereinigen? Sie liebt Sie. Wenn Sie in Ihrem Herzen eine Neigung für sie entdecken, können wir eine Ausnahme in Ihrem Fall machen. Wir werden
Sie nicht mit wissenschaftlichen Mitteln dazu zwingen, das Mädchen zu heiraten.« Allison war Jones hilflos ausgeliefert. Warum machte Jones Konzessionen? Das schien ihm verdächtig. »Jones«, sagte er, »ich traue Ihnen nicht. Noch mehr – ich glaube Ihnen auch nicht. Meine Verbindung mit diesem Mädchen – oder mit einer beliebigen anderen Frau Ihrer Rasse – hätte auf das Erbgut Ihrer Kolonie gar keine Einwirkung. Und wenn aus der Verbindung noch so viele Kinder hervorgingen.« Jones lächelte. »Doktor Allison, Sie haben sich bereits mit 1722 von unseren Frauen geschlechtlich vereinigt.« Einen Moment lang wollte der Ethnologe seinen Ohren nicht trauen. Das war unmöglich. Er wies die Behauptung ärgerlich zurück: »Sie reden irre, Mr. Jones.« »Sie wissen doch«, erwiderte der Mann aus dem All gelassen, »daß es theoretisch möglich ist, alle Moleküle eines Gegenstandes in zwei identische Teile zu trennen und sie dann wieder zusammenzubauen, so daß zwei gleiche Gegenstände entstehen, die sich nur durch die Größe von ihrem ›Vater‹ unterscheiden? Eines Tages werden Sie auch auf der Erde dieses Verfahren beherrschen. Wir kennen es schon seit langem. Wir können einen Gegenstand beliebig teilen – in fünfzig, hundert identische Objekte. Und wir können das auch mit dem lebendigen menschlichen Körper vollbringen! Kurz nachdem Sie, Doktor Allison, bei uns eintrafen, haben wir Sie, einen 178 Pfund schweren Mann, in 1728 kleine, identische Doktor Allisons aufgeteilt. Das heißt – identisch, bis auf die Größe und das Gewicht. Sie sind einer von diesen vielen Allisons. Mister 372 neben Ihnen ist ebenfalls ein identischer Teil von Ihnen. Jeder von den Allisons wiegt ungefähr fünfundvierzig Gramm.« Jetzt kam eine große Erleuchtung über Allison. Wieder sah er im Geiste die endlose Reihe der Puppengesichter, die alle seine Züge getragen hatten. Diese
endlose Reihe von Puppen war – er selbst! Er starrte den Mann aus dem All mit offenem Mund an. Die großartigen Möglichkeiten, die Mr. Jones ihm eben eröffnet hatte, überwältigten ihn. Jones lächelte. »Jawohl«, wiederholte er, »1728 kleine Allisons haben wir aus Ihnen gemacht. Und 1722 von diesen Allisons sind bereits mit unseren Frauen verheiratet.« Er wurde ernst. »Es tut mir leid, daß fünf von ihnen gestorben sind. Aus Gründen, die wir leider nicht verhindern konnten. Wenn wir Sie am Ende wiedervereinigen, Doktor Allison, werden Sie etwas an Gewicht verloren haben. Ich glaube, darüber werden Sie nicht allzu böse sein. Sie können den Verlust mit einer guten Mahlzeit wieder wettmachen.« Allison schien immer noch wie zu Stein verwandelt. Dieser Mann sagte anscheinend doch die Wahrheit. Er mußte es von Anfang an gut und ehrlich mit ihm gemeint haben. »Sie werden sich erinnern, Doktor Allison«, fuhr Mr. Jones fort, »daß ich Ihnen versprochen habe, Sie würden nach vier Monaten unverletzt und gesund auf die Erde zurückkehren. Das wird auch geschehen. Alle Ihre – äh – Brüder, die jetzt so glücklich verheiratet sind, werden den umgekehrten Prozeß durchlaufen, mit dem wir sie zur Liebe programmierten. Dann werden alle wieder zu einem Körper zusammengesetzt. Sie werden einer von diesen Teilen sein, Allison. Und ich bin moralisch dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, daß kein Teil ausgelassen wird.« Der Riese lächelte wieder. »Natürlich – falls einer von Ihnen es wünscht –, werden wir auch für eine ordentliche Scheidungszeremonie sorgen.« Das Lächeln verschwand wieder. Nach einer Pause fuhr der Riese fort: »Ist Ihnen eigentlich schon aufgefallen, daß ich vernünftig mit Ihnen verhandle, statt Sie einfach gewaltsam zu entführen? Vielleicht stimmt Sie das ein bißchen
versöhnlicher. Könnte das nicht ein Beweis sein, daß ich doch die Wahrheit sage?« Allison zweifelte daran nicht länger. Seine Gedanken waren ganz woanders. 1723 geschlechtliche Verbindungen! So viele Wohngemeinschaften – Umweltseindrücke – soziale Verhältnisse! Das alles würde später in einer Person integriert! »Denken Sie an die vielen neuen Erkenntnisse, die Sie gewinnen können!« sagte Jones. Lächelte Jones? Machte er sich über ihn lustig? »Warum hat dann keiner meiner Vorgänger von seinen Eindrücken und Erlebnissen auf Ihrem Planeten berichtet? Warum weiß die Erde nichts von Ihnen?« fragte Allison mit wiedererwachendem Mißtrauen. »Wir haben die Erinnerung an unseren Planeten aus dem Gedächtnis Ihrer Vorgänger gelöscht«, erwiderte Jones freimütig. »Wir werden das auch mit Doktor Allison tun.« Aha! Doch er würde dieser Gehirnwäsche widerstehen. Wenn er wieder zu einer Person vereinigt sein würde, konnte man ihm sein Wissen nicht so leicht entreißen. Er würde es auf die Erde zurückbringen – irgendwie… Er zögerte noch immer, wie betäubt von der Vorstellung, daß dieser Riese, den er für seinen Feind gehalten hatte, sich über den Operationstisch beugte, um ihn in eine endlose Reihe kleiner Puppen zu verwandeln. Dann spürte er eine Hand auf seinem Arm. 372 redete ihm gut zu: »Laß dich nicht von dem Gedanken abschrecken, daß du diese häßliche junge Mißgeburt heiraten mußt. Sie haben viele schöne Frauen für dich auf Lager.« Ein strahlendes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich, zum Beispiel, habe großes Glück gehabt. Ich weiß natürlich, daß man mit der Maschine ein bißchen nachgeholfen hat. Doch ich spüre es – da drin in meinem Herzen – daß KS-971 und mich mehr verbindet als der Schaltkreis eines Computers. Man kann es mit Worten nicht
ausdrücken. Wenn ich sie nur sehe, werde ich schon schwach. Ihr Mund! Ihr Kopf – nicht ein Fläumchen darauf! Ihre große, mächtige, wunderschöne Stirn!« Der arme Kerl. Die Maschine hatte ihn gründlich umgekrempelt. Allison zögerte noch immer. Das war also das Ergebnis seiner unmenschlichen Anstrengungen! Er mußte ihnen ihren Wunsch erfüllen – angewandte, sehr simple Ethnologie betreiben. Er war ein vielseitig verwendeter Ethnologe im wahrsten Sinne des Wortes! Doch dann dachte er wieder an das hübsche Mädchen mit der Codenummer. Das Mädchen liebte ihn. Selbst Jones hatte das bestätigt. Er war verletzt, müde, zerschlagen. Er brauchte jemand, der ihm zur Seite stand – ein hübsches, warmherziges, freundliches Mädchen… »Schließlich haben Sie ja gar keine andere Wahl«, unterbrach Jones seinen Gedankengang. 793 zuckte die Achseln. »Also gut«, sagte er seufzend. »Unter einer Bedingung. Sie müssen mir versprechen, Miss CB-301 später auf menschliches Maß zu vergrößern und ihr zu gestatten, mich auf die Erde zu begleiten.« Jones lächelte. »Das verspreche ich Ihnen«, sagte er. Er stand auf, nahm die beiden Zwerge vom Schreibtisch, legte sie in eine Schachtel, schob diese in seine Jackentasche und verließ das Zimmer.
Originaltitel: A MATTER OF SIZE. Copyright © 1934 by Harry Bates. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION April 1934. Übersetzt von Bodo Baumann
Fritz Leiber HINTER DER MASKE
Wie der zähnebewehrte Rachen eines Alptraumungeheuers schob sich der mit angelähnlichen Haken besetzte Kotflügel des Wagens über den Gehsteig hinauf, geradewegs auf das Mädchen zu. Entsetzen hatte sie gelähmt, hatte ihr Gesicht hinter der Maske zur Fratze verzerrt. Diesmal ließen mich meine Reflexe nicht im Stich. Ich machte einen hastigen Schritt auf sie zu, packte sie beim Ellbogen und riß sie zurück. Der Ruck war so heftig, daß sich ihr schwarzes Kleid um die Beine bauschte. Mit sirrender Turbine schoß der große Wagen vorbei. Ich hörte Stoff reißen. Drei fahle Gesichter starrten mich aus dem Wageninneren an. Dann spürte ich die Hitze des Auspuff Strahls an meinen Unterschenkeln. Der Wagen fuhr vom Gehsteig herunter auf die Straße. Aus dem Heck quoll eine Wolke. Wie eine giftige schwarze Blüte sah sie aus. An den Angelhaken flatterte ein schwarzer Stoffetzen. »Was passiert?« fragte ich das Mädchen. Sie hatte sich zur Seite gebeugt. Die Kotflügelhaken hatten ihr Kleid aufgeschlitzt. Darunter trug sie Strumpfhosen. »Die Haken haben mich nicht erwischt«, antwortete sie. »Nochmal Glück gehabt.« Ich vernahm Stimmen in unmittelbarer Nähe: »Diese Halbstarken! Möchte wissen, was die sich demnächst noch alles einfallen lassen.« »Die sind ja gemeingefährlich. Hinter Schloß und Riegel sollte man sie setzen.«
Sirenen begannen zu heulen. Zwei Motorrad-Polizisten mit eingeschaltetem Düsenaggregat kamen auf uns zugeschossen. Aber die schwarze Rauchwolke hatte inzwischen einen dichten Nebelvorhang über die Straße gelegt. Die Motorrad-Polizisten schalteten die Bremsdüsen ein und hielten vor der Nebelwand an. »Sind Sie Brite?« fragte das Mädchen. »Sie sprechen mit einem britischen Akzent.« Ihre Stimme, durch die schwarze Seidenmaske gedämpft, bebte. Ich konnte mir vorstellen, daß ihre Zähne klapperten. Die Augen, die mich durch die Schlitze der Maske musterten, mochten blau sein. Ich konnte es nicht feststellen. Eine dünne, aber undurchsichtige Gazeschicht verdeckte die Augenschlitze. Ich bestätigte ihre Vermutung. Sie kam ganz nah an mich heran. »Wollen Sie heute abend zu mir kommen?« fragte sie schnell. »Hier kann ich Ihnen nicht danken. Und da ist eine Sache, bei der Sie mir helfen könnten.« Ich hatte meinen Arm leicht um ihre Taille gelegt und fühlte, wie sie zitterte. »Gern«, sagte ich. Sie nannte eine Straße südlich von Inferno, die Nummer der Wohnung und die Zeit. Sie fragte nach meinem Namen, und ich sagte ihn ihr. »He, Sie da!« Beim Ruf des Polizisten drehte ich mich um. Er scheuchte die paar Neugierigen weg, die sich eingefunden hatten, maskierte Frauen und nacktgesichtige Männer. Er hatte den schwarzen Rauch eingeatmet und mußte husten. Dann verlangte er meine Papiere. Ich gab sie ihm. Er prüfte sie, sah mich an. »Engländer? Wie lange werden Sie in New York bleiben?« Am liebsten hätte ich geantwortet, nur so lange, wie unbedingt nötig, aber ich besann mich rechtzeitig und sagte: »Etwa eine Woche.«
»Könnte sein, daß wir sie als Zeugen brauchen«, erklärte er. »Von Halbstarken lassen wir uns nicht einnebeln. Wenn die so weit gehen, holen wir sie uns.« Für ihn schien die Sache mit der Nebelwand wichtiger zu sein als das andere. »Die wollten diese junge Frau hier umbringen«, erlaubte ich mir festzustellen. Er schüttelte nur weise den Kopf. »Die tun immer nur so, als wollten sie das. Tatsächlich sind sie nur auf Stoffetzen von den Kleidern aus. Ich habe schon Burschen festgenommen, die hatten bis zu fünfzig solcher Kleiderfetzen an den Wänden ihrer Bude. Natürlich passiert es manchmal auch, daß sie ein wenig zu nahe ‘rankommen.« Ich wies darauf hin, daß die Haken nicht nur ihr Kleid erwischt hätten, wenn ich sie nicht zurückgerissen hätte. Aber er unterbrach mich und sagte: »Wenn sie es für einen Mordversuch gehalten hätte, wäre sie bestimmt hiergeblieben.« Ich sah mich um. Tatsächlich, sie war weg. »Sie hatte entsetzliche Angst«, sagte ich. »Wer hätte die nicht«, meinte er philosophisch. »Diese Kerle verstehen es, selbst dem Abgebrühtesten das Fürchten zu lehren.« »Sie hatte mehr Angst als nur vor den Halbstarken. Und wie Halbstarke sahen die auch gar nicht aus.« »Wie denn?« Ohne großen Erfolg versuchte ich, die drei Gesichter zu beschreiben. Aber mit der Bezeichnung »bösartig« und »degeneriert« konnte er nicht viel anfangen. »Na ja, vielleicht irre ich mich«, meinte er schließlich. »Kennen Sie das Mädchen. Wissen Sie, wo sie wohnt?« Ich beantwortete seine Frage mit nein, was nur zum Teil eine Lüge war; denn ich kannte sie wirklich nicht.
Der zweite Polizist schaltete sein Funkgerät aus und kam zu uns herüber. Mißmutig trat er mit dem Fuß nach den am Boden wallenden Nebelschwaden. Der schwarze Rauch hatte sich verzogen und verhüllte nicht länger die schmutzigen Gebäudefassaden mit ihren fünf Jahre alten Spuren von Strahlungsverbrennungen. In der Ferne sah ich das Empire State Building wie ein fauliger Zahnstumpf die Häuser von Inferno überragen. »Noch nicht erwischt«, murrte der zweite Polizist. »Haben die Straße auf fünf Blocks Länge eingenebelt, sagt Ryan.« Der erste Polizist schüttelte den Kopf. »Schlimm.« Ich fühlte mich nicht ganz wohl in meiner Haut. Außerdem schämte ich mich ein bißchen. Ein Engländer sollte nicht lügen, zumindest nicht impulsiv. »Scheinen üble Burschen zu sein«, fuhr der erste Polizist grimmig fort. »Wir werden Zeugen brauchen. Sie werden wahrscheinlich länger in New York bleiben müssen als geplant.« Ich verstand. »Ich habe vorhin vergessen, Ihnen alle meine Papiere zu zeigen«, sagte ich und reichte ihm noch einige weitere Ausweise, zu denen ich einen Fünf dollarschein steckte. Als er mir die Papiere kurz darauf zurückgab, klang seine Stimme schon nicht mehr so unheilschwanger. Meine Schuldgefühle verflogen. Um die Stimmung noch weiter zu verbessern, unterhielt ich mich mit den beiden über ihren Beruf. »Ich kann mir vorstellen, daß die Masken Ihre Arbeit ganz wesentlich erschweren«, bemerkte ich. »Drüben in England lesen wir bisweilen Berichte über das Zunehmen von Überfällen durch maskierte weibliche Banditen.« »Das ist übertrieben«, versicherte mir der erste Polizist. »Erschwert wird uns die Arbeit hauptsächlich durch Männer, die sich als Frauen maskieren. Aber ich kann Ihnen sagen,
wenn wir diese Kerle erwischen, ist’s aus und vorbei mit dem Mummenschanz.« »Und mit der Zeit kriegt man so viel Erfahrung, daß man Frauen von Männern unterscheiden kann, als hätten sie nackte Gesichter«, erklärte der zweite ergänzend. »An den Händen und so.« »Besonders an dem und so«, sagte sein Kollege und grinste. »Sagen Sie mal, stimmt es, daß die Engländerinnen keine Masken tragen?« »Einige machen die Mode mit«, sagte ich. »Aber nur ein paar. Die machen jede Mode mit, und sei sie noch so ausgefallen.« »Aber wenn man Fernsehberichte aus England sieht, tragen alle Frauen Masken.« »Ich glaube, das geschieht nur aus Rücksicht auf die amerikanischen Zuschauer«, gestand ich. »Nur sehr wenige maskieren sich wirklich.« Der zweite Polizist dachte darüber nach. »Mädchen, die in aller Öffentlichkeit oberhalb des Halses nackt herumlaufen.« Es ließ sich nicht genau erkennen, ob er daran Gefallen fand oder sich darüber moralisch entrüstete. Wahrscheinlich beides. »Einige unserer Abgeordneten versuchen das Parlament dazu zu bewegen, kraft Gesetzes das Maskentragen zu verbieten«, fuhr ich fort. Vielleicht hatte ich schon zu viel gesagt. Der zweite Polizist schüttelte den Kopf. »Einfälle haben die. Wissen Sie, Masken sind eine recht gute Einrichtung. In ein, zwei Jahren werde ich von meiner Frau verlangen, daß Sie auch zu Hause maskiert herumläuft.« Der erste zuckte die Achseln. »Falls die Frauen damit aufhören sollten, Masken zu tragen, würde einem das sechs Wochen später gar nicht mehr auffallen. Man gewöhnt sich doch an alles, wenn es nur genug Leute tun oder lassen.«
Dem mußte ich beipflichten, wenn auch widerstrebend. Dann verabschiedete ich mich. Ich folgte dem Broadway weiter nach Norden und beschleunigte den Schritt, bis Inferno hinter mir lag. Man hat ein unangenehmes Gefühl, wenn man durch eine radioaktiv verseuchte Gegend kommt. Gott sei Dank gab es so etwas in England noch nicht. Die Straßen waren fast menschenleer. Nur zwei Bettler sprachen mich an, auf deren Gesichtern die H-BombenExplosion tiefe Furchen hinterlassen hatte. Ob die Narben echt waren oder nur Make-up, vermochte ich nicht zu sagen. Ein fettes Weib hielt mir ein Kleinkind entgegen mit Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen. Ich redete mir ein, daß es auch ohne Strahlungsschäden als Mißgeburt auf die Welt gekommen wäre und daß die alte Vettel unsere Angst vor Strahlungsmutationen nur zu ihrem finanziellen Vorteil auszunutzen versuchte. Dennoch gab ich ihr eine Siebeneinhalb-Cent-Münze. Und da auch sie eine Maske vor dem Gesicht trug, kam es mir so vor, als zolle ich einem afrikanischen Dämon Tribut. »Mögen alle Ihre Kinder mit nur einem Kopf und zwei Augen gesegnet sein, Herr«, murmelte sie. »Danke«, sagte ich, schüttelte mich innerlich und eilte weiter. »… hinter der Maske doch nur Dreck, drum dreh dich um und schau weg: Laß die Finger – laß die Finger – laß die Finger von den Frau’n!« Was ich da hörte, war der Schlußrefrain eines Anti-SexLiedes, das religiöse Fanatiker ein paar Häuser weiter angestimmt hatten. Die Gruppe stand nur wenige Schritte von einem Tempel mit dem Kreuz-im-Kreis-Zeichen entfernt. Die Leute erinnerten mich ein bißchen an die unbedeutende Mönchssekte bei uns daheim in England. Über ihren Köpfen hing eine riesige Anschlagtafel an der Hauswand mit Werbung für vorverdaute Lebensmittel, Kurse für Selbstverteidigung,
Radiohändchen und dergleichen mehr. Ich las die Slogans mit Interesse und Abscheu. Seit man den weiblichen Körper aus der amerikanischen Werbung verbannt hatte, mußte man sich mit der Typographie als Sexsymbol begnügen. Die Buchstaben des Alphabets waren ordinär überzeichnet. Da waren das dickbäuchige, vollbrüstige große B, das wollüstig ausgelegte O. Ich mußte jedoch zugeben, daß es in erster Linie die Einführung der Maske war, die dem Sex in Amerika diesen pervertierten Akzent verliehen hatte. Ein englischer Anthropologe hatte vor kurzem erklärt, fünftausend Jahre seien erforderlich gewesen, um die sexuelle Bedeutung, die den weiblichen Hüften zugemessen wurde, auf die Brüste zu übertragen. Der nächste Schritt von den Brüsten zum Gesicht habe dagegen nur fünfzig Jahre gebraucht. Die gegenwärtige amerikanische Mode allerdings mit den Gebräuchen des Islam zu vergleichen, wäre falsch; während Religion und Brauchtum den mohammedanischen Frauen das Schleiertragen vorschrieben, dessen Sinn die Verhüllung ist, zwingt die Amerikanerinnen nur die Mode, und sie tragen die Masken, um geheimnisvoller zu wirken. Doch zurück zu den Tatsachen. Die Ursprünge dieses Modetrends müssen in der Strahlenschutzkleidung des dritten Weltkriegs gesucht werden. Zuerst erfand man Ringkämpfe mit maskierten Ringern – heute übrigens ein ungemein populärer Sport –, was wiederum zur gegenwärtigen Damenmode überleitete. Was zunächst nur als exzentrische Moderichtung galt, wurde schon bald genauso unentbehrlich wie Lippenstift und Büstenhalter es anfangs des 21. Jahrhunderts noch waren. Allmählich erkannte ich, daß mich nicht die Masken im allgemeinen interessierten, sondern das, was sich hinter einer ganz besonderen verbarg. Das ist ja gerade das Teuflische an der Sache; man weiß nie genau, ob die Trägerin der Maske nur
den Reiz ihrer Schönheit erhöhen, oder ihre Häßlichkeit verbergen möchte. Ich begann mir ein schönes Frauengesicht vorzustellen, mit großen, furchtsamen Augen. Dann erinnerte ich mich an ihr blondes Haar, in seiner Fülle noch heller wirkend durch das Schwarz der seidenen Maske. Sie hatte mir gesagt, ich solle zur zweiundzwanzigsten Stunde kommen, also abends um zehn. Ich ging zu Fuß zu meiner Wohnung hinauf. Sie lag in der Nähe des Britischen Konsulats. Der Aufzug war seit der Explosion außer Betrieb. So etwas war lästig, besonders in Hochhäusern. Bevor mir einfiel, daß ich ja doch wieder ausgehen würde, hatte ich gewohnheitsmäßig ein Stückchen von dem Plastikstreifen abgetrennt, den ich unter dem Hemd trug. Ich entwickelte ihn, um ganz sicher zu gehen. Er zeigte mir, daß die heute aufgenommene Strahlungsmenge unterhalb des kritischen Punktes lag. Diese Probe hatte bei mir noch keine krankhaften Formen angenommen, wie bei so vielen Leuten heutzutage, aber ich wollte auch kein Risiko eingehen. Ich warf mich auf die Liege und starrte auf den Bildschirm des Fernsehers. Wie jedesmal mußte ich wieder mit Bitterkeit an die beiden mächtigsten Nationen der Welt denken. Nach der gegenseitigen Zerfleischung waren beide immer noch stark genug, verkrüppelte Riesen, die die Welt mit ihren nicht realisierbaren Vorstellungen von Gleichheit oder Erfolg vergifteten. Gelangweilt schaltete ich den Ton ein. Der Berichterstatter erläuterte mit aufgeregter Stimme die Aussichten auf eine Rekord-Weizenernte, die man in einem Wüstengebiet mittels künstlich erzeugten Regens einzubringen hoffte. Ich hörte mir die Sendung bis zum Schluß an. Sie war erstaunlich frei von russischen Störgeräuschen. Aber etwas Interessantes hörte ich nicht mehr. Und natürlich auch kein Wort über den Mond, obwohl jedermann wußte, daß Amerika wie auch Rußland gewaltige Anstrengungen unternahmen, die
Stützpunkte auf dem Erdtrabanten zu Festungen auszubauen, die imstande waren, sich nicht nur gegenseitig zu beschießen, sondern Alphabet-Bomben zur Erde zu schicken. Ich wußte genau, daß die elektronischen Anlagen, die in England hergestellt worden waren und die ich gegen Weizen eintauschen sollte, für amerikanische Raumfahrzeuge bestimmt waren. Ich stellte das Gerät ab. Das Bild verblaßte, und wieder hatte ich ein zartes, angsterfülltes Mädchengesicht vor Augen, hinter einer Maske verborgen. Seit ich nach New York gekommen war, hatte ich mich mit keiner Frau getroffen. In Amerika ist es außerordentlich schwierig, die Bekanntschaft einer Frau zu machen. Ein harmloses Lächeln genügt bisweilen, und sie fangen an, nach der Polizei zu schreien. Ganz abgesehen von den zunehmend puritanischer werdenden Moralbegriffen und den Banden, denen keine Frau in die Hände fallen wollte. Nur wenige Frauen trauten sich nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße. Ein weiterer Grund waren natürlich die Masken, die gewiß keine Erfindung kapitalistischer Dekadenz sind, wie die Sowjets behaupten, sondern ein Ausdruck akuter psychologischer Unsicherheit. Die Russen haben zwar nicht die Maske, dafür aber andere Probleme. Ich trat ans Fenster und wartete ungeduldig, daß es Nacht wurde. Eine innere Unruhe hatte mich ergriffen. Nachdem ich eine Weile am Fenster gestanden hatte, sah ich, wie im Süden eine gespenstisch violett schimmernde Wolke entstand. Meine Nackenhaare sträubten sich. Dann lachte ich. Im ersten Augenblick hatte ich doch tatsächlich geglaubt, es sei die Strahlung aus dem Krater der Höllenbombe. Natürlich war es nur der Widerschein der Lichter des Vergnügungsparks und der Wohngebiete südlich von Inferno.
Pünktlich um zweiundzwanzig Uhr stand ich vor der Wohnungstür meiner unbekannten Bekanntschaft. Der elektronische Butler fragte, wer ich sei. Deutlich sagte ich: »Wynsten Turner«, und fragte mich, ob sie dem Minicomputer meinen Namen eingegeben hatte. Offensichtlich, denn die Tür ging auf. Ich schritt durch das kleine Wohnzimmer. Mein Herz klopfte schneller als sonst. Die Möbel hatten viel Geld gekostet: moderne, pneumatische Sitzkissen und Liegen. Auf dem Tisch lagen einige Minibücher. Ich hob eines auf. Einer der üblichen harten Krimis, in dem zwei weibliche Mörder Jagd aufeinander machen. Der Fernseher war eingeschaltet. Eine grüngekleidete, maskierte Sängerin sang ein Lied. Mit der rechten Hand hielt sie etwas fest, das im Vordergrund des Bildschirms unscharf verschwamm. Ich bemerkte, daß das Gerät im Raum ein Händchen hatte, was es bei uns in England noch nicht gab, und schob meine Hand in die Händchen-Öffnung neben dem Bildschirm. Ich hatte erwartet, meine Hand in einen pulsierenden Gummihandschuh zu stecken, aber so war es nicht. Es war, als hielte ich die Sängerin tatsächlich bei der Hand. Hinter mir ging eine Tür auf. Ich riß die Hand zurück. Mir war in diesem Augenblick, als hätte man mich beim Schlüssellochgucken überrascht. Sie stand in der Tür zum Schlafzimmer. Ich glaubte, sie zittere. Sie trug einen grauen, weißgepunkteten Pelzmantel, dazu eine Abendmaske aus grauem Samt mit Spitzenbesatz um Augenschlitze und Mundpartie. Ihre Fingernägel schimmerten wie blankes Silber. Ich war nicht darauf gekommen, daß sie würde ausgehen wollen. »Ich hätte es Ihnen sagen sollen«, meinte sie mit sanfter Stimme. Die Maske schwenkte herum, schien in Richtung der Bücher, des Bildschirms und der
dunklen Ecken des Raumes zu blicken. »Aber ich kann unmöglich hier mit Ihnen sprechen.« »Es gibt ein Lokal in der Nähe des Konsulats«, sagte ich unschlüssig. »Ich weiß schon, wo wir hingehen und uns unterhalten können«, sagte sie rasch. »Falls es Ihnen nichts ausmacht…« Als wir den Lift betraten, sagte ich: »Zu dumm, aber ich habe mein Taxi vorhin weggeschickt.« Aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund wartete das Taxi aber noch. Grinsend stieg der Fahrer aus und hielt den vorderen Wagenschlag auf. Ich sagte ihm, wir würden lieber hinten sitzen. Mürrisch riß er die hintere Tür auf, knallte sie zu, nachdem wir eingestiegen waren, rutschte hinter das Steuer und knallte auch seine Tür zu. Meine Begleiterin beugte sich vor. »Himmel«, sagte sie nur. Der Fahrer schaltete die Turbine und den Fernsehschirm ein. »Warum fragten Sie, ob ich britischer Staatsangehöriger sei?« begann ich die Unterhaltung. Sie neigte sich zur Seite, weg von mir, und drückte die Maske an die Fensterscheibe. »Sehen Sie nur – der Mond«, sagte sie verträumt. »Warum war das so wichtig?« drängte ich. Ich war leicht gereizt, aber das hatte nichts mit ihr zu tun. »Er steht gerade im roten Streifen des letzten Abendrots.« »Und wie heißen Sie?« »Das Abendrot macht das Gelb intensiver.« Ich merkte, warum ich plötzlich so gereizt war. Der Grund war das zuckende weiße Viereck vorn neben dem Fahrer. Ich habe nichts gegen Ringkämpfe, abgesehen davon, daß sie mich langweilen. Aber ich finde es einfach scheußlich, wenn ein Mann mit einer Frau ringt. Und die Tatsache, daß die Kämpfe üblicherweise fair ausgetragen werden, wobei der Mann der meist attraktiven Ringerin an Gewicht und Reichweite unterlegen ist, macht diese Veranstaltungen in meinen Augen
nur noch schlimmer. »Bitte, schalten Sie das Gerät aus«, bat ich. Ohne sich umzudrehen, schüttelte er den Kopf. »Nee, Mister«, sagte er. »Die haben die Kleine wochenlang auf diesen Kampf mit dem kleinen Zirk vorbereitet.« Verärgert langte ich nach vorn, aber meine Begleiterin ergriff meinen Arm. »Bitte!« flüsterte sie erschrocken und schüttelte den Kopf. Unzufrieden mit mir selbst lehnte ich mich zurück. Sie war etwas näher herangerückt, sagte aber nichts mehr, und eine Weile lang beobachtete ich den sich verfärbenden Himmel und die Zuckungen des kräftigen, maskierten Mädchens auf dem Bildschirm und ihres männlichen Gegners. Er erinnerte mich an eine Spinne, wie er verzweifelt um sie herumschlich. Ich wandte den Kopf, sah meine Begleiterin an. »Warum wollten die drei Männer Sie töten?« fragte ich unvermittelt. Die Augenschlitze ihrer Maske waren auf den Bildschirm gerichtet. »Weil sie eifersüchtig sind«, flüsterte sie. »Warum sind sie eifersüchtig?« Sie sah mich noch immer nicht an. »Wegen ihm.« »Wegen wem?« Keine Antwort. Ich legte den Arm sacht um ihre Schultern. »Haben Sie Angst, es mir zu sagen?« fragte ich. »Was ist eigentlich los?« Sie blickte starr geradeaus. Ihr Parfüm gefiel mir. »Schauen Sie«, sagte ich und lachte ein bißchen. Ich mußte es auf andere Weise versuchen. »Erzählen Sie mir doch etwas über sich selbst. Ich weiß ja noch nicht einmal, wie Sie überhaupt aussehen.« Ohne böse Absicht näherte ich meine Hand ihrem Halsansatz. Blitzschnell schlug sie zu. Ich spürte den plötzlichen Schmerz und riß die Hand zurück. Vier kleine Punkte waren auf dem Handrücken. Aus einem quoll ein Tropfen Blut, während ich noch hinsah. Ich richtete den Blick auf ihre silberglänzenden Fingernägel und stellte fest, daß es hauchdünne, aber nadelspitze Metallkappen waren.
»Bitte, seien Sie nicht böse«, hörte ich sie sagen, »aber Sie haben mich erschreckt. Ich dachte im ersten Augenblick, Sie wollten…« Endlich wandte sie mir den Kopf zu. Ihr Pelzmantel war vorn aufgegangen. Sie trug ein Abendkleid nach Renaissance-Schnitt, mit einem Spitzenjäckchen darunter, das den Brüsten Halt verlieh, ohne sie zu verhüllen. »Seien Sie bitte nicht böse«, sagte sie wieder und legte ihre Arme um meinen Hals. »Sie haben mir heute nachmittag sehr geholfen.« Der weiche Samt ihrer Maske berührte meine Wange. Ihre feuchte, warme Zunge kam durch den Spitzenbesatz und berührte mein Kinn. »Ich bin nicht böse«, antwortete ich. »Ich weiß nur nicht, woran ich bin und möchte Ihnen doch helfen.« Das Taxi hielt an. Zu beiden Seiten sah ich nur dunkle Fensterhöhlen mit geborstenen Scheiben. Im geisterhaft purpurnen Licht der Nacht erkannte ich einige zerlumpte, finstere Gestalten, die sich uns näherten. »Defekt an der Turbine, Mister«, murmelte der Fahrer. »Wir hängen fest.« Er saß nach vorn gelehnt da und rührte sich nicht. »Zu dumm, daß es gerade hier passieren mußte.« Meine Begleiterin flüsterte: »Geben Sie ihm fünf Dollar. Das ist üblich.« Sie blickte zu den dunklen Gestalten hinaus und erschauerte so sehr, daß ich meinen Zorn hinunterschluckte und ihren Rat befolgte. Wortlos nahm der Fahrer den Geldschein. Beim Anfahren streckte er die Hand aus dem Fenster, und ich hörte ein paar Münzen auf die Straße fallen. Meine Begleiterin schmiegte sich wieder an mich, aber die Maske blieb auf den Fernsehschirm gerichtet. Die kräftige Ringerin hatte den verzweifelt um sich schlagenden kleinen Zirk auf die Bretter geworfen und kniete über ihm. »Ich hab ja solche Angst«, hauchte sie.
Der Stadtteil, den sie Himmel genannt hatte, bestand ebenfalls fast nur aus Ruinen. Aber es gab hier einen Nachtklub mit Baldachinvordach und Portier in Uniform, der wie ein Raumfahrer aussah, nur viel bunter. Meine Stimmung hatte sich inzwischen so weit gebessert, daß ich sogar Gefallen daran fand. Wir verließen das Taxi. Eine alte Frau kam den Gehsteig entlang. Ihre Maske war verrutscht. Ein Mann und eine Frau, die vor uns waren, wandten den Kopf ab, um das halb entblößte Gesicht nicht ansehen zu müssen, als sei dieser Anblick so unästhetisch wie ein häßlicher Körper am Badestrand. Wir folgten den beiden in den Klub und hörten den Portier sagen: »Mach, daß du weiterkommst, Oma, und sei bloß vorsichtig.« Drinnen herrschte Düsternis, aufgehellt von einem bläulichen Glühen. Meine Begleiterin hatte gesagt, hier würden wir uns unterhalten können, was ich allerdings bezweifelte. Abgesehen von dem ununterbrochenen Husten und Niesen (heutzutage sollen fünfzig Prozent aller Amerikaner gegen irgend etwas allergisch sein) spielte eine Gruppe Musiker ohne Pause im neumodischen Robot-Beat, bei dem ein KompositionsComputer wahllos ein Thema vorspielte, in das die Musiker mit kleinen, unmelodischen Soli einfielen. Der größte Teil der Gaste saß in den Wandnischen. Die Kapelle befand sich hinter der Bar. Auf einer kleinen Plattform neben der Band tanzte ein bis auf die Gesichtsmaske splitternacktes Mädchen. Sie wurde von den Männern an der Bar überhaupt nicht beachtet. Wir gingen die in Goldschrift an die Wand gemalte Speisenkarte durch und bestellten mittels Druckknöpfen auf unserem Tisch: Hühnerbrust, gebratene Krabben und zwei Scotch Whiskys. Kurz darauf schlug schon die Tischglocke an. Ich öffnete die Wandklappe und nahm unser Essen heraus. Die Gruppe Männer an der Bar machte Anstalten zu gehen. Sie sahen sich eingehend im Raum um. Meine Begleiterin
hatte den Pelzmantel über die Schultern herabrutschen lassen. Die Blicke blieben auf unserer Wandnische haften. Es waren drei Männer, die besonders lange herüberstarrten. Jemand von der Kapelle jagte das Go-Go-Girl vom Podium. Ich reichte meiner Begleiterin einen Trinkhalm, und wir nippten an unseren Drinks. »Sie wollten, daß ich Ihnen helfe«, sagte ich. »Ich weiß zwar nicht, bei welcher Sache, aber, davon abgesehen, finde ich sie bezaubernd.« Sie nickte, blickte sich um, lehnte sich vor. »Würde es schwierig für mich sein, nach England zu gehen?« fragte sie. »Nein«, antwortete ich. Damit hatte ich nicht gerechnet. »Vorausgesetzt, Sie haben einen amerikanischen Reisepaß.« »Sind die schwer zu bekommen?« »Ziemlich«, antwortete ich. Mich wunderte, daß sie so mangelhaft unterrichtet war. »Ihre Regierung hat es nicht gern, daß ihre Staatsbürger ins Ausland reisen, obwohl sie dabei nicht so streng ist wie beispielsweise Rußland.« »Könnte mir das Englische Konsulat helfen, einen Paß zu bekommen?« »Das gehört nicht zu den Aufgaben…« »Könnten Sie mir helfen?« Ich merkte, daß wir beobachtet wurden. Ein Mann mit zwei Begleiterinnen war an unserem Tisch stehengeblieben. Die Mädchen waren groß, fast raubtierhaft in ihrer Art. Sie trugen straßbesetzte Masken. Der Mann in ihrer Mitte kam mir vor wie ein Fuchs auf den Hinterläufen. Meine Begleiterin würdigte sie keines Blickes, lehnte sich aber zurück. Mir fiel auf, daß das eine Mädchen einen großen gelben Druckfleck am Unterarm hatte. Dann gingen die drei weiter und setzten sich in eine Wandnische im düsteren Hintergrund des Raumes.
»Bekannte von Ihnen?« fragte ich. Sie antwortete nicht. Ich trank meinen Whisky aus. »Ich weiß nicht, ob Ihnen England gefallen würde«, fuhr ich fort. »Unser Sparprogramm unterscheidet sich wesentlich vom Elend amerikanischer Prägung.« Sie lehnte sich wieder vor. »Aber ich muß hier raus«, flüsterte sie. »Warum?« Langsam wurde ich ungeduldig. »Weil ich mich fürchte.« Wieder läutete die Tischglocke. Ich griff in den Wandbehälter und reichte ihr den Teller mit den Krabben. Die Soße zu meiner Hühnerbrust war köstlich, eine Kombination aus Mandelsplittern, Soya und Ingwer. Aber der Elektronikofen, der die Speisen auftaute und erhitzte, mußte einen Defekt haben; denn ich biß auf ein Eisstückchen in meinem Fleisch. Diese komplizierten Geräte müssen ständig gewartet werden, und es gibt einfach nicht genügend Mechaniker. Ich legte meine Gabel auf den Tisch. »Wovor haben Sie eigentlich Angst?« fragte ich. Die Augenschlitze ihrer Maske starrten mich an. Während ich auf ihre Antwort wartete, fühlte ich die namenlose Angst beinahe körperlich: winzig kleine schwarze Teilchen, die durch die Nacht schwärmten, sich auf den radioaktiven Krebsgeschwüren New Yorks sammelten und am Rand des Purpurrot entlanghuschten. Ein Gefühl des Mitleids mit dem Mädchen überkam mich und das Verlangen, sie zu beschützen. Ich muß zugeben, daß daran ihre Zärtlichkeit im Taxi nicht ganz schuldlos war. »Vor allem«, sagte sie schließlich. Ich nickte und berührte ihre Hand. »Ich fürchte mich vor dem Mond«, sagte sie, und ihre Stimme wurde so verträumt wie vorhin im Taxi. »Kann man ihn ansehen, ohne an die Raketenbomben zu denken?«
»Der Mond über England ist derselbe«, erinnerte ich sie. »Aber er gehört nicht England. Er gehört uns und den Russen. Ihr tragt keine Verantwortung.« Ich drückte ihre Hand. »Ja, und außerdem habe ich Angst vor den Autos, den Banden, der Einsamkeit und Inferno. Ich fürchte mich vor den gierigen Blicken, die hinter die Maske schauen wollen. Und – « ihre Stimme wurde ganz leise – »ich habe Angst vor den Ringern.« »Ja, und?« drängte ich behutsam. Ihre Maske kam näher heran. »Wissen Sie etwas über die Ringer? Die mit den Frauen kämpfen, meine ich. Die unterliegen häufig. Und dann brauchen sie eine Frau, um ihre aufgestauten Frustrationen abzureagieren. Sie nehmen sich Frauen, die weich und schwach sind und entsetzliche Angst haben. Das brauchen sie, um sich als Männer zu bestätigen. Wieder andere Männer wollen nicht, daß die Ringer sich mit Frauen einlassen. Die sind an den Ringern interessiert und wollen nur, daß sie mit den Frauen ringen und Helden sind. Aber dennoch brauchen sie eine Frau. Und das ist entsetzlich für die Frau.« Ich drückte ihre Hand, als ließe sich auf diese Weise Zuversicht und Mut übertragen – vorausgesetzt, ich hatte beides. »Ich glaube, ich kann Sie mit nach England nehmen«, sagte ich. Schatten schoben sich über den Tisch und verweilten. Ich blickte auf und erkannte die drei Männer, die vorhin an der Bar gestanden und herübergesehen hatten. Es waren die gleichen Männer, deren Gesichter ich in dem großen schwarzen Wagen gesehen hatte. Sie trugen schwarze Pullover und enge schwarze Hosen. Sie hatten ausdruckslose Gesichter – wie Süchtige. Zwei standen dicht neben mir, der dritte hatte sich neben das Mädchen gestellt. »Hau ab, Mann«, wurde mir beschieden. Und ich hörte, wie der andere zu dem Mädchen sagte: »Kämpfen wir eine Runde, Kleine. Was soll’s sein? Judo, Slapsie oder Kill-who-can?« Da stand ich auf. Es gibt
Augenblicke, wo auch ein Engländer aus seiner Reserve herausgeht. Aber just in diesem Augenblick kam der Mann, der vorhin in Begleitung der beiden Frauen vorbeigegangen war, an unseren Tisch. Ich konnte nur staunen, wie die anderen darauf reagierten. Die Situation war ihnen im höchsten Grade peinlich. Er lächelte sie dünn an. »Mit Scherzen wie diesem erringt ihr niemals meine Gunst«, sagte er. »Aber so war es doch gar nicht gemeint, Zirk«, entschuldigte sich einer von ihnen. »Hoffentlich nicht«, antwortete Zirk. »Sie hat mir erzählt, was ihr heute nachmittag versucht habt. Ganz egal, wie das gemeint war – es paßt mir nicht. Verschwindet!« Betroffen wichen sie zurück. »Gehen wir«, sagte der eine laut, als sie sich der Tür zuwandten. »Ich kenne ein Lokal, da kämpfen sie nackt mit Messern.« Der kleine Zirk lachte musikalisch und setzte sich neben meine Begleiterin. Sie wich zurück, aber nur ein wenig. Ich setzte mich ebenfalls und lehnte mich nach vorn. »Wer ist dein Freund, Baby?« fragte er, ohne sie dabei anzusehen. Mit einer kleinen Handbewegung gab sie diese Frage an mich weiter. Ich sagte es ihm. »Ah, Engländer«, meinte er. »Hat sie Sie gefragt, ob Sie sie mitnehmen wollen? Wegen Reisepässen und so?« Er lächelte freundlich. »Vorbereitungen zum Weglaufen trifft sie für ihr Leben gern. Nicht wahr, Baby?« Mit seiner kleinen, zierlichen Hand begann er ihr Handgelenk zu streicheln. Seine Finger zogen sich zusammen, die Handrückenknochen traten leicht hervor, so als wollte er jeden Augenblick zupacken und ihr das Handgelenk herumdrehen. »Also schon«, sagte ich mit Schärfe in der Stimme. »Ich muß Ihnen dankbar sein, weil Sie diese Schläger weggeschickt haben, aber…«
»Oh, keine Ursache«, entgegnete er. »Die sind nicht weiter gefährlich, solange sie nicht hinter dem Steuer eines Wagens sitzen. Ein guttrainiertes vierzehnjähriges Mädchen könnte jeden einzelnen von ihnen zum Krüppel machen. Ja, sogar Theda hier, wenn sie dafür etwas übrig hätte…« Er wandte sich ihr zu und schob die Hand, mit der er ihr Handgelenk gehalten hatte, in ihr Haar. Er streichelte es und ließ die Strähnen langsam durch die Finger gleiten. »Du weißt doch sicher, daß ich heute abend verloren habe, Baby«, sagte er leise. Ich stand wieder auf. »Kommen Sie«, sagte ich zu ihr. »Wir gehen.« Sie blieb sitzen. Ich kann nicht einmal sagen, ob sie zitterte. Ich versuchte, durch die Schlitze der Maske in ihren Augen zu lesen, ob sie mir vielleicht etwas andeuten wollte. »Ich nehme Sie mit«, fuhr ich fort. »Ich kann es und werde es.« Er grinste mich an. »Sie würde auch gern mit Ihnen gehen«, sagte er. »Nicht wahr, so ist es doch, Baby?« »Also wollen Sie nun oder wollen Sie nicht?« sagte ich zu ihr. Sie saß da und reagierte noch immer nicht. Langsam ballte er die Finger zwischen ihrem Haar zur Faust. »Du kleine Wanze!« fuhr ich ihn an. »Nimm die Pfoten weg!« Er kam von der Sitzbank hoch wie eine zustoßende Schlange. Ich bin weder Ringer noch Boxer. Ich weiß nur, je größer meine Angst, desto härter und treffsicherer schlage ich zu. Und der Schlag saß. Als er auf dem Sitz zusammensank, spürte ich einen Schlag und einen Schmerz wie von vier Stichen auf der Wange. Ich legte die Hand darauf, spürte die vier Kratzwunden von ihren metallspitzenbewehrten Fingernägeln und das Blut, das zu fließen begonnen hatte. Sie sah mich nicht an. Sie hatte sich über den kleinen Zirk gebeugt, seine Wange gegen ihre Gesichtsmaske gepreßt und
sprach zu ihm wie zu einem hilflosen Kind: »Sei nicht traurig, es wird alles wieder gut, du kannst mir ja nachher wehtun.« Ich konnte die Geräusche hören, die um uns waren, aber sie kamen nicht näher. Ich beugte mich vor und riß ihr die Maske vom Gesicht. Ich weiß nicht, warum ich erwartet hatte, daß ihr Gesicht anders aussah. Es war natürlich sehr blaß, und sie trug auch keine Spur von Make-up. Vermutlich ist das sinnlos, wenn man eine Maske trägt. Die Augenbrauen waren ungepflegt, die Lippen rauh und aufgesprungen. Aber womit ich im Traum nicht gerechnet hatte war der Gesichtsausdruck, waren die erkennbaren Zeichen ihrer Gefühle, die an ihren Zügen zupften und zerrten… Haben Sie schon einmal einen Stein aufgehoben und umgedreht, der mehrere Tage bei Regen auf der nackten Erde gelegen hat? Haben Sie schon einmal gesehen, was sich unter so einem Stein an widerwärtigem Gewürm alles versammelt? Ich blickte hinab auf sie, sie zu mir auf. »Ja, du hast ja solche Angst«, sagte ich sarkastisch. »Angst vor ihm und was er nachts alles mit dir anstellt. Todesängste – daß ich nicht lache!« Und dann ging ich… hinaus in die purpurn leuchtende Nacht, die Hand noch immer gegen die blutende Wange gepreßt. Niemand verstellte mir den Weg, auch die Ringerinnen nicht. Am liebsten hätte ich ein Stück von der Folie unter meinem Hemd abgerissen, um an Ort und Stelle nachzusehen, ob ich eine zu große Strahlungsmenge abbekommen hatte. Dann hätte ich nämlich einen Grund gehabt, die Erlaubnis einholen zu dürfen, den Hudson zu überqueren, hinüber nach New Jersey zu gehen, vorbei an dem Reststrahlungsring der Narrows Bombe und weiter bis Sandy Hook.
Dort hätte ich auf den verrosteten alten Frachter warten können, der mich mitgenommen hätte über den Atlantik, heim nach England.
Originaltitel: COMING ATTRACTION. Copyright © 1950 by Galaxy Publishing Corporation for GALAXY SCIENCE FICTION November 1950. Übersetzt von Walter Spiegl
Walter M. Miller DIE STERBENDE STADT
Er fuhr auf einem verrosteten Fahrrad und pfiff leise eine Melodie vor sich hin. Die Autobahn, von Granateinschlägen narbig, wand sich zwischen die Hügel hindurch. Die heiße Augustsonne brannte auf seine Stirn, und ihre Strahlen brachen sich in den Schweißperlen, die sich am Kinn in dem sprossenden, eine Woche alten Bart sammelten. Er trug eine ausgewaschene Khakihose und ein zerschlissenes Hemd; doch seine Kleidung war nicht schlechter als die der andern, denen er gelegentlich auf der Straße begegnete. Er hielt die Lider halb geschlossen, weil ihn der flirrende Sonnenglast auf der Betondecke blendete, und bewegte den Kopf im Takt der Melodie. Aus der Ferne drangen die dumpfen Abschüsse einer Flakbatterie herüber, und am nördlichen Horizont tauchten schwarze Rauchpilze auf. Der junge Mann auf dem Fahrrad gönnte ihnen kaum einen Blick. Die Bomber kamen aus dem Osten. Von den Flughäfen in den Vorstädten schnellten sich Düsenjäger in den Himmel. Sie griffen an, spien stählerne Zähne aus und schossen fauchend ihre Raketen auf die Bomber ab. Der Himmel brüllte und zerfleischte sich selbst. Die Bomberpulks kamen in Wellen, verloren ab und zu eine Maschine aus ihrer Mitte, die qualmend zu Boden trudelte. Die Bomber gingen in den Gleitflug und öffneten die Schächte. Die Klappen klafften über der Stadt auseinander. Die Bombenschützen zielten, Auslöser klickten. Keine Bomben fielen. Die Bomber schlossen ihre Bombenschächte wieder und drehten auf Heimatkurs. Die
Jäger verfolgten sie noch eine Weile und drehten ebenfalls ab. Die Flak schwieg. Die schwarzen Pilze verwehten im Wind. Der junge Mann fuhr weiter auf die Stadt zu. Er pfiff immer noch die gleiche Melodie. Fußgänger standen am Straßenrand, um die Luftschlacht zu beobachten. »Man sollte meinen, sie lernten es eines Tages«, sagte ein dicker Mann knurrig. »Man sollte meinen, sie wüßten, daß sie gar nichts abladen. Begreifen die denn nicht, daß sie keine Bomben mehr haben?« »Sind doch nur Maschinen, Eduard«, sagte eine pummelige Frau, die neben ihm stand. »Woher sollen die das wissen?« »Ich dachte, Maschinen denken auch. Sie sind so konstruiert, daß sie dazulernen.« Die Stimmen verklangen hinter ihm. Ein paar Fußgänger kehrten der Stadt den Rücken. Sie hatten genug gesehen und wandten sich schaudernd ab. Leute, die bis in die Vorortbezirke vorgedrungen waren, kamen wieder zurück. Andere, die in die Stadt gehen wollten, wurden von den Zurückkommenden in ein Gespräch verwickelt und machten ebenfalls kehrt. Je weiter man an die Stadt herankam, desto geringer wurde der Verkehr. Einige Leute riefen dem Radfahrer nach, er solle umkehren; aber er fuhr trotzdem weiter. Er hatte eine lange Reise hinter sich. Er wollte heim in die Stadt – für immer. Auf einer Anhöhe traf er eine alte Frau. Sie saß in einem Sessel mitten auf der Autobahn und starrte nach Norden. Der Sessel war antik und aus Kirschholz geschnitzt. Ein Strickkorb stand neben dem Sessel auf der Fahrbahn. Leise murmelte sie vor sich hin: »Verrückte Maschinen! Der Krieg ist vorbei. Verrückte Maschinen! Sie hören nicht auf zu kämpfen. Jemand sollte ihnen…« Er räusperte sich leise, als er, das Rad schiebend, neben sie trat. Sie blickte ihn mit leeren Augen an. »Hallo!« rief er freundlich.
Sie betrachtete ihn mißgelaunt. »Wie heißt du, mein Junge?« »Mitch Laskell, Großmutter. Wollen Sie in die Stadt? Sie können gern hinten drauf sitzen.« »H-m-m«, murmelte sie. »Ich möchte lieber in die andere Richtung. Wenn du Verstand hast, möchtest du das auch.« Mitch schüttelte energisch den Kopf. »Ich bin schon viel zu lange in die andere Richtung gefahren. Ich kehre zurück – für immer.« »In die Stadt? Verrückt! Du bist noch verrückter als die Maschinen.« Sein Gesicht wurde ernst. Er blickte zu Boden und stellte den Fuß auf das Pedal. »Du hast recht, Großmutter.« »Wieso?« »Maschinen – die sind nicht verrückt. Nur die Menschen sind es.« »Na – dann los!« rief sie ärgerlich, schob ihr Gebiß wieder in den Mund und klemmte es fest. Mühsam stand sie auf und packte ihren Strickkorb. Dann ging sie nach Süden davon. Mitch sah ihr nach. Ein schweres Leben, dachte er. Seine Reise ging weiter nach Norden. Die Autobahn war mit Abfällen übersät. Hier gab es längst keine Autos mehr. Doch aus der Stadt trug der Wind den Lärm des Verkehrs herüber. Er lächelte. Das klang wie Musik in seinen Ohren, wie ein Heimatlied, das man leise vor sich hinsummt. Von der nächsten Anhöhe aus beobachtete ihn ein Mann. Er saß auf einer Apfelkiste am Rand der Autobahn, eine Schrotflinte über den Schenkeln. Es war ein kräftiger Mann mit einem roten Gesicht, Er hatte die Augen zu Schlitzen zusammengezogen – wegen der Sonne –, das Unterhemd war naß vor Schweiß. Er ließ den Radfahrer nicht aus den Augen, stand dann schwerfällig auf, als wolle er dem Jüngeren den Weg verstellen. »Hallo – du da!«
Mitch hielt an und nickte freundlich, während er sich das Gesicht mit einem Taschentuch abtrocknete. Doch das Schrotgewehr mahnte ihn zur Vorsicht. »Wenn das ein Überfall sein soll…« Der andere lachte. »Nein, ganz im Gegenteil. Will nur mal mit dir reden. Ich heiße Frank Ferris.« Er streckte dem Radfahrer eine kräftige, behaarte Hand hin. »Mitch Laskell – angenehm.« Sie schüttelten sich kräftig die Hände und musterten sich gegenseitig. »Warum fahren Sie nach Norden, Laskell?« »Ich will in die Stadt.« »Die Luftkämpfe dauern immer noch an – wissen Sie das?« »Weiß ich. Auch, daß keine Bomben mehr da sind.« »Aber die Geigerzähler in der Stadt ticken immer noch.« Mitch runzelte unwillig die Stirn. »Sie registrieren noch? Was soll das bedeuten! Die Radioaktivität kann nicht mehr stark sein. Es ist jetzt drei Jahre her, daß die Stadt mit radioaktivem Staub verseucht wurde. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, Ferris. Die Halbwertszeit von diesem Zeug beträgt fünf Monate. Die Radioaktivität kann also nur noch knapp ein Prozent…« Der kräftige Mann lachte. »Okay – Sie haben gewonnen. Trotzdem ist die Stadt nicht sicher. Der Zentralcomputer arbeitet noch.« »Na und?« »Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, was passiert, wenn die Stadt menschenleer ist und trotzdem alle Verordnungen in Kraft bleiben?« Mitch dachte kurz nach und nickte dann. »Ich verstehe. Vielen Dank für den Tip.« Er schob das Rad wieder an. Frank Herris hielt die Lenkstange fest. »Bleiben Sie!« knurrte er. »Ich habe noch nicht zu Ende geredet!«
Der Jüngere warf einen schrägen Blick auf die Schrotflinte und schluckte seinen Ärger hinunter. »Vielleicht bin ich nicht daran interessiert, zuzuhören«, erwiderte er mit kalter Verachtung. »Regen Sie sich ab und hören Sie mir zu. Es wird noch interessanter.« »Kaum.« Ferris sah ihn finster an. »Ich suche Leute für die SugartonBande, Laskell. Wir brauchen gute Männer.« »Dann brauchen Sie mich nicht. Ich bin ein Wrack.« »Laß die Witze, mein Junge. Ich meine es ernst. Bis jetzt sind wir vierundzwanzig. Wir brauchen aber doppelt so viele. Haben wir genügend beisammen, rücken wir in die Stadt ein und sprengen die Computeranlage in die Luft. Danach räumen wir auf.« »Sprengen? Weshalb?« Bestürzung malte sich jetzt auf Mitch Laskells Gesicht. »Weshalb? Damit die Menschen wieder in der Stadt leben können! Deshalb! Damit wir uns Lebensmittel besorgen können, ohne von diesen Robotpolizisten verfolgt zu werden, wenn wir einen Laden aufbrechen.« »Wieviel hat der Zentralcomputer gekostet?« fragte Mitch rauh. Eine rein rhetorische Frage. Ferris schüttelte verärgert den Kopf. »Hat das jetzt noch was zu sagen? Nein. Geld hat ohnehin keinen Wert mehr. Wir können den Zentralcomputer nicht mal als Schrott verkaufen. He, wach auf, Junge!« Der Radfahrer schluckte, während seine Wangenmuskeln zuckten. Doch seine Stimme blieb ganz ruhig. »Haben Sie an der zentralen Computeranlage mitgebaut, Ferris? Kennen Sie die Konstruktionspläne?« »Hm – natürlich nicht. Was soll denn diese Frage?«
»Wissen Sie überhaupt, was darin steckt? Welches System? Wie der Computer alle Unterabteilungen überwacht? Wissen Sie das?« »Nein, ich…« »Wissen Sie, wieviel Schweiß vergossen wurde, ehe die ersten Skizzen auf dem Papier entworfen wurden? Wie viele Ingenieure sich damit abrackerten? Wie viele schlaflose Nächte diese Anlage den Fachleuten bereitet hat? Wie viele Experten sie verfluchten und sich betranken, als sie ihre Aufgabe endlich gelöst hatten?« Ferris grinste spöttisch. »Sie wissen wohl Bescheid, wie?« »Ja.« »Schade, aber daran ist jetzt nichts mehr zu ändern. Jetzt ist die Anlage nur noch jedem im Weg – gefährdet unser aller Leben. Man kann ja keinen Schritt in der Stadt machen, ohne daß…« »Die Anlage ist eine Maschine, Ferris. Eine sehr komplizierte Maschine. Man macht ein Werkzeug nicht kaputt, nur weil man es eine Weile lang nicht mehr braucht.« Sie starrten sich an. »Hören Sie zu, die Menschen haben den Zentralcomputer gebaut. Die Menschen haben auch das Recht, ihn wieder zu zerstören.« »Ich kümmere mich nicht um Rechte«, gab Mitch gereizt zurück. »Ich spreche von der Vernunft. Niemand hat das Recht, sich unvernünftig zu benehmen.« Ferris fuhr hoch. »Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen!« »Ich habe Sie nicht um diese Unterhaltung gebeten.« Ferris ließ die Lenkstange los. »Steig vom Rad!« befahl er drohend. »Warum? Wollen Sie mit den Fäusten austragen, wer von uns beiden recht hat?«
»Nein. Wir beschlagnahmen nur dein Fahrrad. Du kannst von hier aus gern zu Fuß in die Stadt gehen. Die Sugarton-Bande braucht dringend Fahrräder. Gute Leute ebenfalls – aber zu denen zählst du wohl nicht. Steig ab und geh zu Fuß!« Mitch zögerte einen Moment. Dann zuckte er die Achseln und schwang sich auf der von Ferris abgewandten Seite vom Stahlroß. Der andere hielt die Schrotflinte lässig in der Armbeuge und beobachtete Mitch mit spöttischem Grinsen. Mitch packte die Lenkstange mit beiden Händen und rammte das Vorderrad Ferris zwischen die Beine. Der Stoff zerriß am Schutzblech, und die Schrotladung ging in den Himmel, während der Schütze nach hinten taumelte. Stöhnend fiel er auf die Straßendecke. Die Flinte rutschte scheppernd über den Beton. Verzweifelt griff Ferris danach. Mitch holte mit dem Fuß aus und trat zu. Er spürte die Zähne des anderen durch das Leder. Ferris fiel auf die Seite, spuckte Blut und abgebrochene Schneidezähne. Mitch holte die Patronen aus den Taschen des anderen, hängte sich die Flinte auf den Rücken und strampelte davon. Als er eine halbe Meile zurückgelegt hatte, zirpte neben ihm eine Gewehrkugel über den Beton. Er blickte über die Schulter. Drei Gestalten bewegten sich jetzt neben Ferris. Die Sugarton-Bande war in Aktion getreten. Mitch trat fest in die Pedale; aber die Männer verschwendeten auf diese Entfernung ihre Munition nicht mehr. Es wurde ihm unbehaglich bei dem Gedanken, daß er mit der Bande ein zweites Mal zusammenstoßen könnte, falls sie in die Stadt einrückte, um den Zentralcomputer in die Luft zu jagen. Ferris würde sich die Chance nicht nehmen lassen, ihn umzulegen – falls sich die Gelegenheit noch einmal bot. Mitch glaubte nicht, daß Ferris ernstlich verletzt war. Aber er hatte den Mann gedemütigt. Ferris würde davon träumen, wie er ihn, Mitch, umbrachte, ganz langsam und mit Genuß…
Mitch war das Pfeifen vergangen. Stumm fuhr er auf der leeren Autobahn der Stadt entgegen, die sich vor ihm im gleißenden Sonnenlicht ausbreitete. Für einen Stadtbewohner, der zwischen Stahlbeton aufgewachsen war, der dem Reiz der Technik nie widerstehen konnte, war die Silhouette der Stadt ein verheißungsvoller Anblick – selbst wenn diese Silhouette gelitten hatte. Hier und da waren Lücken gerissen, doch der Schaden war nicht sehr groß, weil die Stadt hauptsächlich dem radioaktiven Staub ausgesetzt gewesen war. Die Luftverteidigung der Stadt war außerordentlich stark – kein Wunder, da es sich um die Hauptstadt handelte. Die Regierung hatte mit Ausgaben zum Schutz der Stadt nicht gegeizt. Trotzdem schien es paradox, daß der Zentralcomputer noch arbeitete. Warum hatten die Ingenieure nicht die unterirdischen Kernspeicher außer Betrieb gesetzt, um den Zentralcomputer wenigstens vorübergehend lahmzulegen? Erst jetzt fiel ihm ein, daß die unterirdischen Anlagen sich ja selbst verteidigten. Wahrscheinlich waren nur wenige Spezialisten übriggeblieben, die wußten, wie man das Ding abschalten konnte. Ingenieure und Mechaniker arbeiteten in Industriebezirken, die im Kriegsfalle zuerst aufs Korn genommen wurden. Bauern hatten in einem Krieg immer die größte Überlebenschance. Mitch hatte in einer Fabrik für Flugzeugcomputer gearbeitet, ehe das Werk aufs Land verlegt wurde. Aber der Zentralcomputer einer Millionenstadt war natürlich mit solch simplen Apparaten, wie er sie gebaut hatte, gar nicht zu vergleichen. Zentralcomputer stellte man nicht in einem Stück her. Sie wuchsen im Lauf der Jahre. Zuerst hatte man kleine Einheiten gebaut – für die Elektrizitätswerke und Wasserspeicher, zur automatischen Regelung der Stromverteilung und des Spitzenbedarfs. Kleine Roboter hatten Telefonvermittlungen bedient, die Verkehrsdichte gemessen und die Ampelphasen und die Geschwindigkeitsanzeiger
gesteuert. Kleine Computer hatten die Buchhaltung übernommen. Sie hatten die Stadtomnibusse und die Taxis bedient, die täglichen Routinefahrten der Dienstwagen erledigt. Nach und nach war der Zentralcomputer zu einem immer komplizierteren Gebilde geworden. Je mehr Roboter für Spezialaufgaben eingesetzt wurden, um so dringender wurde das Problem der Koordinierung. Man verband sie mit besonderen Schaltkreisen, die über einen zentralen Datenspeicher liefen, damit ein Verkehrsregler im Norden sich entsprechend einstellen konnte, wenn im Süden die Hauptverkehrsstraßen überlastet waren. Als schließlich das Mikro-Lern-Relais erfunden wurde, bauten die Ingenieure den eigentlichen Zentralcomputer, der mit den zentralen Datenspeichern verbunden wurde. Denn die Lern-Relais entlasteten die Stadtverwaltung weitgehend von den Routineaufgaben. Die erledigte der Zentralcomputer selbständig, ohne daß ein menschlicher Vorgesetzter einzugreifen brauchte. Dieses System hatte sich bewährt. Offensichtlich arbeitete es immer noch reibungslos, obwohl die Menschen vor drei Jahren vor der radioaktiven Verseuchung aus der Stadt geflohen waren. In einer Beziehung hatte Ferris durchaus recht: eine Stadt, in der die Roboter so weiterarbeiteten, als sei nichts geschehen, konnte für einen einsamen Fußgänger sehr gefährlich werden. Aber Dynamit war die falsche Lösung dieses Problems, überlegte Mitch. Die meisten technischen Einrichtungen der Menschheit waren zerstört oder stillgelegt. Hunderttausend Jahre hatte die Menschheit gewartet, ehe sie sich dazu entschloß, eine technologische Zivilisation aufzubauen. Zerstörte der Mensch jetzt diese Zivilisation bis auf die Grundsteine, würde er sich wohl nie mehr dazu aufraffen, eine neue Technologie aufzubauen.
Manche Menschen glaubten, man solle zur Scholle zurückkehren. Sie wälzten ihre Schuldgefühle auf die Maschinen ab, stempelten sie zu Sündenböcken ihrer eigenen Dummheit und wollten sich dann mit Sprengladungen Absolution verschaffen. Doch Mitch Laskell gehörte zu den Männern, die Schraubenschlüssel und Lötkolben höher bewerteten als Steinaxt oder hölzerne Pflugschar. Und das Schnurren eines stecknadelgroßen Atomgenerators klang ihm lieblicher in den Ohren als das laute Plärren eines Esels. Er war fest entschlossen, jeden zu töten, der den letzten Rest dieser Zivilisation auch noch zerstören wollte – ob er nun Frank Harris hieß oder sonst wie. Nur wurde er sich mit Sorge des Problems bewußt: was kann ich ausrichten, wenn alle anderen das Gegenteil wollen? Hatte er dann das Recht, zu verhindern, was alle anderen wünschten, nämlich die Zivilisation zu vernichten? Bei Sonnenuntergang erreichte er die Stadtgrenze. Drei Häuserblocks von ihm entfernt bewegte sich ein dreirädriger Robotpolizist auf der Kreuzung und regelte den spärlichen Verkehr. Seine Arme waren längsgestreift lackiert, und sein Körper, so rund und dick wie ein Ölfaß, war feuerrot angemalt. Die »Augen« wechselten ständig die Farbe – wie eine Verkehrsampel. Nur der Kopf war nach menschlichem Vorbild geformt. Eine kurze Radarantenne ragte aus dem Kopf. Sie verband ihn mit dem Zentralcomputer. Mitch betrachtete den Roboter mit wehmütigem Lächeln. Es wurde ihm warm ums Herz, obwohl er wußte, daß die »Polizei« ihm erhebliche Scherereien machen konnte, sobald er in die Innenstadt vordrang. Die »Roller« kannten keine Gnade, wenn man gegen eine Stadtverordnung verstieß. Sobald das Zwielicht einen bestimmten unteren Grenzwert erreichte, benachrichtigten photonische Zellen den Zentralcomputer, und die Straßenbeleuchtung schaltete sich ein. Mitch beobachtete, wie ein Wagen ohne Schlußlichter die
Kreuzung passierte. Eine Sirene heulte im Leib des »Polizisten« auf. Er rollte dem Verkehrssünder nach wie ein Bulle, der ein rotes Tuch sieht. Der Wagen hielt an. Der Roboter schrieb ein Strafmandat aus und reichte es durchs Fenster. Doch drin saß niemand, um es entgegenzunehmen. Nach einer Weile zog der Polizist die Hand wieder zurück, steckte das Mandat in einen Schlitz in seinem Körper, lernte die Zulassungsnummer des Wagens auswendig und rollte auf die Kreuzung zurück, wo die Fahrzeuge sich automatisch nach der Stadtverordnung gerichtet hatten, die für »nicht von Verkehrspolizisten geregelten Verkehr« galt. Die Wagen waren alle leer. Sie wurden von Computern gesteuert. Sie hatten immer noch das gleiche Ziel wie damals, als die Menschen aus der Stadt flohen: festgelegte Routineziele wie die Wohnung eines Unternehmers, das Büro eines Inspektors, den Warteplatz eines Taxis. Mitch Laskell erschauerte. Die Stadt schien fast wie ausgestorben und doch voll Leben. Autos fuhren, Maschinen liefen. Doch wohin er auch blickte – nirgends bewegte sich ein Mensch. Die Stadt war entvölkert. Neben ihm hing ein Geigerzähler an einem Laternenmast. Aus dem Lautsprecher kamen tickende Geräusche. Es herrschte keine radioaktive Gefahr mehr. In diesem Hinblick war die Stadt also für Menschen wieder bewohnbar. Doch das unheimliche, gespenstische Treiben auf den Straßen stimmte ihn nachdenklich. »Das kann bis morgen warten«, murmelte er und bog in eine Straße ab, die durch einen Wohnbezirk unmittelbar vor der Stadtgrenze führte. Hier hatte der Zentralcomputer nichts zu »sagen«, sorgte nur für die Straßenbeleuchtung und die Zufuhr von Strom und Wasser. Er wollte die Nacht in einem verlassenen Haus verbringen und mit Anbruch der Dämmerung in die Stadt vordringen.
Hier und da brannte Licht hinter einem Fenster. Er war also nicht der einzige, der in die Stadt zurückgekehrt war. Doch der Gehsteig war mit rostigen Granatsplittern übersät, die von den anhaltenden Luftkämpfen zeugten, die sich fast täglich ereigneten. Viele Dächer waren beschädigt. Obwohl die Bomber ohne Bomben kamen, konnte man von den Splittern der eigenen Flak und von den Trümmern abgeschossener Flugzeuge getötet werden. Aus diesem Grund zogen es die meisten Evakuierten vor, auf dem Land zu bleiben. Aus einem Haus drang leise Musik. Er horchte. Die Musik war von dünnen, kratzenden Nebengeräuschen begleitet – eine abgenützte Schallplatte also. Als sie abgespielt war, herrschte einen Moment Stille, dann setzte die gleiche Melodie wieder ein. Ein Plattenautomat, der die letzte Schallplatte immer wieder abspielte. Abgesehen davon machte das Haus einen verlassenen Eindruck. Mitch runzelte die Stirn. Hier schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Er schob das Fahrrad an den Rand des Bürgersteigs. »Ich wohne hier«, sagte eine Frauenstimme aus dem Schatten eines Baumes. Sie trat ins Licht der Straßenlaterne. Es war ein schlankes, dunkelhaariges Mädchen mit großen, verschreckten Augen. Sie hielt ein Baby im Arm. »Warum stellen Sie Ihren Plattenspieler nicht ab?« fragte er. »Oder drehen die Platte um?« »Mein Mann ist im Haus«, erwiderte sie. »Er hört zu – kann nicht genug von der Platte hören. Er heißt George. Warum gehen Sie nicht hinein und sagen ihm guten Tag?« Mitch spürte ein leises Unbehagen. Die ruhige Stimme des Mädchens klang so seltsam. Trotzdem hätte er gern mit jemand gesprochen, der sich wie er in die Stadt zurückgewagt hatte. Er nickte und lächelte dem Mädchen zu. »Das tue ich gern.« »Dann gehen Sie ruhig hinein. Ich bleibe hier draußen. Das Baby braucht frische Luft.«
Er dankte ihr und ging die Stufen zur Haustür hinauf. Der Plattenspieler hörte auf, versuchte die Platte zu wechseln und setzte von neuem ein. Mitch klopfte einmal gegen die Tür. Keine Antwort. Er drückte die Tür nach innen und ging durch den Flur zur Küche, wo Licht brannte. Plötzlich blieb er stehen. Das Haus roch muffig. Doch das war es nicht allein. Er kannte den süßlich-schalen Geruch des Todes viel zu gut. Er wagte noch einen Schritt. Er sah die Tischplatte, mit Kacheln eingelegt. Darauf eine Hand. Sie war bereits stark angeschwollen, und die Lache, in der sie lag, braun verfärbt und eingetrocknet. Die Hand lag neben einem Fleischermesser. Bereits einige Tage tot, dachte er – und wich eilig zurück. Ehe er das Haus wieder verließ, schaltete er den Plattenspieler im Wohnzimmer aus. Das Mädchen stand am Rande des Bürgersteigs und starrte auf sein Fahrrad. Es blickte auf, lächelte und sagte: »Ich bin froh, daß du den Plattenspieler abgestellt hast, George. Gerade kam ein Mann vorbei und wollte wissen, warum du dauernd die gleiche Platte spielst. Du mußt wohl eingeschlafen sein.« Mitch gab es einen Riß. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und betrachtete sie eindringlich. »Ich bin nicht…« Er unterbrach sich selbst und stotterte dann: »Sind Sie denn gar nicht im Haus gewesen?« »Doch, aber du hast gerade in der Küche geschlafen. Hat der Mann, der mit dir sprechen wollte, dich geweckt?« »Hören Sie, ich bin nicht…« Er stockte wieder. Das Baby sah ihn mißtrauisch an. Er griff nach dem Fahrrad und schwang das linke Bein über die Querstange. »George – wo willst du denn hin?« »Nur ein bißchen spazierenfahren.« »Mit dem Fahrrad des Fremden?«
Der Ruck ging jetzt durch seine Eingeweide. Er starrte in die großen braunen Augen des Mädchens und sagte: »Das geht schon in Ordnung. Er schläft auf dem Küchentisch.« Ihr Mund öffnete sich bebend. Einen Moment drohte die Vernunft zurückzukehren. Sie schwankte benommen hin und her. Dann, nach einem tiefen Seufzer, richtete sie sich gerade auf. »Bleib nicht lange fort, George.« »Nein. Paß inzwischen gut auf das Kind auf!« Er strampelte davon, von Panik getrieben. Dann verfluchte er sich und den Mann, der einen bequemen Ausweg gewählt hatte und seine Frau hilflos und allein zurückließ, Mitch fragte sich, ob er nicht besser hätte dableiben und sich um die Frau kümmern sollen. Doch er konnte eigentlich nichts für sie tun – nichts, was in seiner Macht lag. Eine hilfreiche Geste konnte nie wieder gutzumachenden Schaden anrichten. Sie hatte immerhin noch das Kind.
Ein paar Straßen weiter entdeckte er ein Haus mit unversehrtem Dach und beschloß, hier zu übernachten. Er schob das Fahrrad in den Flur und drehte das Licht an. Staub lag auf dem Fußboden und den Möbeln. Die Polster waren zerschlissen. Er machte einen kurzen Rundgang. Vor kurzem hatten hier noch Leute gewohnt. In der Küche gab es einen kleinen Vorrat an Konservenbüchsen, und ein Bett war sogar noch bezogen. Er aß kalt zu Abend, rasierte sich und zog sich zurück. Ein gefährlicher Tag stand ihm bevor. Doch der Schlaf ließ lange auf sich warten. Und als er endlich kam, folgten ihm heulende Düsenjäger, krepierende Flakgranaten, sich duckende Menschen, die die waidwunde Stadt verließen, wimmernde Babies und Frauen, die leise in die Kissen schluchzten. Das Wimmern und Weinen hatte aufgehört. Es war viel später. War er wach? Oder träumte er nur, daß er wach sei? Er sonnte sich
in goldener Wärme, spürte ein ruhiges Behagen. Etwas – etwas war in seiner Nähe. Etwas, das atmete. »Was…!« »Pst!« schnurrte eine leise Stimme. »Nicht sprechen?« Ein leichter Schauer vertrieb etwas von dem warmen Behagen. Er öffnete die Augen. Der Raum war dunkel. Er schüttelte benommen den Kopf und stotterte. »Pst!« flüsterte sie wieder. »Was ist denn?« sagte er keuchend. »Wie sind Sie…?« »Sei ruhig, George. Du weckst sonst das Baby.« Vollkommen verwirrt sank er zurück auf das Kissen. Ein eisiger Hauch zog über seine Wirbelsäule herauf. Die Nacht war voller Träume. Dann kam die Dämmerung, gab den schwarzen Schatten graue Säume. Er öffnete nur kurz die Augen und versank wieder in Schlaf. Als er sie zum zweiten Mal öffnete, flutete Sonnenlicht durch das Zimmer. Er setzte sich auf. Er war allein. Natürlich! Es war alles nur ein Traum gewesen. Er murmelte ärgerlich vor sich hin, während er sich anzog. Er schlenderte in die Küche, um sich etwas zum Frühstück zu machen. Warme Brötchen standen im Ofen bereit! Der Tisch war gedeckt! Auf seinem Teller lag ein Zettel. Er las ihn, und tiefe Röte überzog sein Gesicht. »In der Anrichte ist Marmelade. Hoffentlich schmecken dir die Brötchen. Ich weiß, daß er tot ist. Ich glaube, jetzt kann ich mich auch allein durchschlagen. Vielen Dank für Gewehr und Fahrrad. Marta.« Er murmelte einen Fluch und rannte auf die Veranda. Das Fahrrad war weg. Er stürzte ins Schlafzimmer. Die Flinte ebenfalls. Er lief auf die Straße und schrie – aber die Straße war leer. Die Spatzen flatterten um den Giebel. Die Fassaden der Innenstadt ragten einsam in den Morgenhimmel. Eichhörnchen spähten neugierig aus dem Laub der Bäume im Garten. Auf den gepflasterten Höfen, wo früher die Kinder spielten, wucherte das Unkraut. Haustüren hingen schief in den
Angeln und klapperten im Wind. Balkone sackten durch. In der ausgebrannten Ruine eines Hauses lag ein Stück von einem Flugzeugrumpf. Er rieb sich nachdenklich die Wange. Das war nicht die richtige Umgebung für eine Mutter und ihr Kind. Das Baby würde in den Drahtkorb auf der Lenkstange passen. Und die Flinte gewährte ihr einen gewissen Schutz vor den menschlichen Hyänen, die in dieser Zeit überall durch das Land streiften. »Kleine Diebin!« knurrte er. Aber er war nur mit halbem Herzen dabei. Würden die Menschen aufhören, zum Schutz ihrer Nachkommenschaft zu stehlen, stand es wirklich schlecht um ihre Oberlebenschancen. Er zuckte nur die Achseln und ging zurück in die Küche. Dort aß er die Brötchen mit großem Appetit. Eines wußte er: George hatte sich bestimmt nicht die Kehle durchgeschnitten, weil Marta nicht kochen konnte. Die Brötchen schmeckten ausgezeichnet.
Er mußte sich also am späten Vormittag zu Fuß und unbewaffnet in die Innenstadt wagen. Er wählte den Weg durch Hinterhöfe und Gassen. Die verkehrsreichen Kreuzungen, wo die Autos ohne Menschen fuhren und die Robot-Polizisten den Verkehr regelten, mied er. An jeder Ecke blickte er erst in beide Richtungen, ob keine mechanischen Spione ihn beobachteten, ehe er rasch über die Straße lief. Die Geigerzähler an den Laternenmasten tickten hier rascher. Zweimal hielt er an, um die Skalen abzulesen. Die Radioaktivität erreichte zwar noch keinen gefährlichen Grad, war aber intensiver, als er erwartet hatte. Wahrscheinlich hatte man noch nach dem Auszug der Einwohner die Stadt mit radioaktivem Staub eingedeckt. Er schlich sich in ein leeres Haus mit angrenzender Werkstatt. Dort entdeckte er eine
Taschenlampe, eine Kiste mit Werkzeug und eine Brechstange. Er hatte keine bestimmten Pläne; doch ohne Werkzeug kam er nicht aus, wenn er die Tätigkeit des Zentralcomputers vorübergehend lahmlegen wollte. Immerhin war es gefährlich, irgendein Haus zu betreten, wenn man keinen triftigen Grund dafür angeben konnte. Die Zentrale kam sonst zu dem Schluß, es handle sich um einen Einbrecher. Er brauchte also einen Ausweis. Er mußte eine Reihe von Gebäuden durchsuchen, ehe er auf eine Brieftasche stieß, in der noch Papiere steckten. Dazu gehörte eine Mitgliedskarte der Gewerkschaft und ein Ausweis, ausgestellt auf einen gewissen Willie Jesser, von Beruf Mechaniker für Kühlanlagen und Klimaaggregate. Er war bei der Howard Cooler Company angestellt und berechtigt, eine Anzahl Gebäude in der Innenstadt zu betreten, die für das normale Publikum nicht zugänglich waren. Er überlegte kurz und steckte dann die Papiere zu sich. Vielleicht gab sich der Zentralcomputer damit nicht ganz zufrieden. Aber besser als nichts, dachte Mitch seufzend. Am frühen Nachmittag erreichte er endlich die City. Immer noch keine Spuren menschlichen Lebens. Der Verkehr war spärlich, spulte sich reibungslos ab – ohne Menschen, versteht sich. Einmal traf er einen Arbeitstrupp von Robotern, der Leitungen ausbesserte. Die Koordinationsleitungen für das Stadtnetz der Computer liefen zum Teil durch die Telefonkabel. Er mußte einen Umweg um mehrere Häuserblocks machen, um den Robotern auszuweichen. Und dann merkte er, daß er sich verlaufen hatte. Die Sirene kam für ihn ganz überraschend. Mitch blieb mitten auf der Fahrbahn stehen und sah sich ängstlich um. Ein Robotpolizist kam auf ihn zugerollt! Mitch drehte sich um und rannte, was die Beine hergaben.
»Bleiben Sie stehen – bitte!« krächzte die mechanische Stimme des Polizisten. »Der Fußgänger mit der Werkzeugkiste soll stehenbleiben!« Mitch blieb am Bordstein stehen. Flucht war unmöglich. Wenn der Roboter wollte, konnte er auch mit einer Geschwindigkeit von sechzig Kilometer pro Stunde hinter ihm herjagen. Die Stahlräder kamen einen Meter neben ihm zum Stehen. Der Kopf nickte höflich. Mitch starrte in die Augen des Roboters, obwohl er wußte, daß die Augen nur Attrappen waren. Der Polizist registrierte die infraroten Ausstrahlungen seines Körpers und tastete ihn mit Radar ab. »Sie werden beschuldigt, die Straße an unerlaubter Stelle überschritten zu haben, Sir. Ich muß Ihnen ein Strafmandat ausstellen. Ihren Ausweis, bitte.« Mitch zog die Brieftasche heraus und gab dem Polizisten den gefundenen Ausweis. Der Polizist nahm das Papier mit zangenartigen Klauen entgegen und registrierte den Text. »Dieser Ausweis ist ungenügend. Haben Sie nicht noch andere Papiere bei sich?« »Nein. Das ist alles, was ich bei mir habe. Was stimmt denn mit dem Ausweis nicht?« »Die Gültigkeit Ihrer Papiere ist 1987 erloschen.« Mitch schluckte nur und sagte nichts. Genau das hatte er befürchtet. Jetzt konnte man ihm sogar mit einer Anklage wegen Landstreicherei kommen. »Ich werde den Coordinator um Anweisungen bitten. Einen Moment, Sir«, krächzte der Polizist. Ein Dynamotor summte leise im zylindrischen Körper des Polizisten. Mitch hörte das leise Rattern des Computer-Codes, als der Polizist über Funk mit der Zentrale sprach. Es folgte eine Pause von mehreren Sekunden. Dann kam summend die Antwort. Der Polizist sagte noch immer nichts. Doch er zog
jetzt ein Formular aus einer Tasche, steckte es in einen Schlitz seines Körpers und verursachte Geräusche wie eine kleine Setzmaschine. Dann zog er das Formular wieder heraus. Es war sauber gedruckt. Vorladung, die einen gewissen Willi Jesser vor das Verkehrsgericht zitierte. Er hatte sich dort am 29. Juli 1989 wegen vorschriftswidriger Überschreitung einer Verkehrsstraße zu verantworten. Mitch nahm die Vorladung verwirrt entgegen. »Ich glaube, ich habe ein Recht darauf, um eine Erklärung zu bitten«, murmelte er. Der Polizist nickte energisch. »Zentralorgane müssen Auskunft geben, wenn ihre Entscheidungen in Zweifel gezogen werden.« »Warum betrachtet die Zentrale meinen Ausweis als zufriedenstellend?« »Augenblick, bitte. Ich muß die Anweisung der Zentrale erst übersetzen!« Er stand eine Weile da, während es in seinem Körper klickte und summte. Dann: »Betrifft Festnahme von Willie Jesser durch Roboter Sechs-Baker. Keine Untersuchungshaft notwendig. Frühere Ermittlungen haben ergeben, daß kein menschlicher Fußgänger im Besitz eines Ausweises war, der länger als bis Mai 1987 Gültigkeit hatte. Die Daten basieren auf hundert ermittelten Fällen. Vermutung der Zentrale: Es ist menschlichen Lebewesen derzeit unmöglich, sich zufriedenstellend auszuweisen. Daher wird die Bestimmung über zufriedenstellenden Nachweis der Person vorläufig so abgeändert, daß die Gültigkeitsdauer nicht entscheidend ist, solange keine neuen Anweisungen von der autorisierten menschlichen Behörde eintreffen.« Mitch nickte nachdenklich. Dieser Beschluß deutete darauf hin, daß die Zentrale immer noch in der Lage war, zu lernen – Daten zu speichern und daraus Schlüsse zu ziehen. Doch die Schwierigkeit war auf der anderen Seite nicht zu übersehen. Die Zentrale konnte nur in untergeordneten, nebensächlichen Dingen aufgrund ihrer Schlüsse eigene Entscheidungen treffen.
Obgleich sich die zentrale Computeranlage über die Situation in der Stadt durchaus im klaren war, waren ihr trotzdem »die Hände gebunden«, wenn sie von der autorisierten menschlichen Behörde keine neuen Anweisungen bekam. Diese autorisierte Behörde war eine Abteilung im Rathaus gewesen, die seit drei Jahren nicht mehr existierte. Der Polizist krächzte ein höfliches: »Guten Tag, Sir!« und rollte rasch zurück auf die Kreuzung. Mitch starrte auf die Vorladung. Termin war in vier Tagen. Wenn er bis dahin nicht die Stadt verlassen hatte, mußte er mit Haft rechnen, weil er kein Geld hatte, um die Strafe zu bezahlen.
Er ging jetzt auf der Straße weiter, statt durch die Hinterhöfe; daß man seinen ausgeliehenen Identitätsnachweis anerkannte, stimmte ihn zuversichtlich. Er wußte natürlich, daß die Zentrale ihn durch tausend Augen beobachtete. An jeder Straßenecke standen Zähler, die den Fußgängerverkehr registrierten. Sie gaben ihre Daten an die Zentrale weiter und halfen somit, Menschenansammlungen oder Stauungen zu verhindern. Da Mitch der einzige Fußgänger in der Stadt war, registrierten die Zähler genau seinen Weg. Und da die Daten der Zähler auch den Rechnern zugeführt wurden, konnte die Zentrale vielleicht ein paar unangenehme Schlüsse ziehen, weshalb er sich in der Stadt befand. Dreistigkeit ist die halbe Miete, überlegte er. Er blieb an der nächsten Ecke stehen und fragte einen anderen mechanischen Polizisten, wo das Rathaus sei. Doch der Polizist sprach erst mit der Zentrale, ehe er Auskunft gab. Mitch bereute jetzt seine Frage. Der Polizist rollte langsam an den Bürgersteig.
»Sechs Straßen weit nach Westen, dann vier Querstraßen weit nach Norden, Sir«, krächzte der Roboter. »Die Zentrale bittet um folgende Auskunft, die Sie verweigern können, wenn Sie wollen: wie kommt es, daß Sie als Einwohner der Stadt nicht wissen, wo das Rathaus ist, Mr. Jesser?« Mitch wurde blaß und stotterte: »Nun – ich war drei Jahre fort. Ich – ich habe es glatt vergessen.« Der Polizist gab diese Auskunft weiter und nickte: »Die Zentrale bedankt sich. Die Auskunft wurde registriert.« »Warte mal«, murmelte Mitch. »Gibt es eine direkte Leitung zur Zentrale im Rathaus?« »Jawohl.« »Ich möchte mit der Zentrale sprechen. Kann ich die Direktleitung benutzen?« Der Computer-Code ratterte kurz. »Negativ. Sie gehören nicht zu dem Kreis der Personen, die sich mit dem Zentralcomputer direkt in Verbindung setzen dürfen. Die Zentrale schlägt vor, daß Sie die öffentliche Leitung benutzen. Sie befindet sich in der Halle des Rathauses im Erdgeschoß.« Mitch ging weiter, leise vor sich hinschimpfend. Die öffentliche Leitung half ihm gar nichts. Hätte er aber Zugang zu einer direkten Kontrolleitung gehabt, hätte er vielleicht die starren Schemata, mit denen die Zentrale die Stadt verwaltete, beeinflussen können. Über die öffentliche Leitung war dies unmöglich. Sie wurde abgehört und war deshalb natürlich sorgfältig abgeschirmt. Ein paar Minuten später stand er in der Eingangshalle des Rathauses. Das riesige Gebäude hatte bei den Luftangriffen auch etwas abbekommen. Ein Flügel war vollkommen ausgebrannt. Doch in den unbeschädigten Teilen des Hauses lief der Betrieb wie immer auf vollen Touren. Ein ServoSekretär – eine Maschine ohne Kopf – rollte an ihm vorüber, einen Stoß rosa Briefe auf einem Tablett tragend.
Wahrscheinlich rückständige Strom- und Wasserrechnungen, überlegte Mitch. Die Zentrale schickte sie jeden Tag hinaus; doch es gehörte natürlich eine menschliche Behörde dazu, die Stromlieferungen für die Kunden einstellen zu lassen. Der Servo-Sekretär steckte die Briefe in einen Briefkasten neben der Eingangstür und rollte zurück in sein Büro. Mitch sah sich in der düsteren Halle um. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Pult. In einer Nische dahinter befand sich ein Mikrofon, ein Lautsprecher und die Linsen einer Fernsehkamera. Ein Schild hing über dem Pult und wies das Publikum darauf hin, daß man sich hier über Gemeinderechnungen, die Müllabfuhr, die Strom- und Wasserversorgung, die Gewerbesteuerbescheide und über falsche Wettervorhersagen beschweren könne. Man konnte hier auch jede in der Zentrale gespeicherte Auskunft verlangen, abgesehen von Informationen, die sich auf die Verteidigung oder die Akten der Polizei bezogen. Mitch ging quer durch die Halle und setzte sich vor das Pult. Auf dem Schirm vor ihm leuchtete ein Licht auf. Im Lautsprecher knackte es. Dann kam die Frage: »Ihr Name, bitte?« »Willie Jesser.« »Welche Auskünfte wollen Sie, bitte?« »Ich möchte eine direkte Leitung zur zentralen Datenbank.« »Es steht eine überwachte Leitung zur Datenverarbeitung zur Verfügung. Aus Sicherheitsgründen ist es Unbefugten nicht erlaubt, direkt mit der Zentrale zu verkehren. Ihre Leitung wird durch diesen Computer überwacht.« Mitch zuckte die Achseln. Genau das hatte er erwartet. Die zentrale Datenanlage hörte zu und gab die Antworten; aber die automatische Überwachungsanlage der öffentlichen Leitung war dazwischengeschaltet und würde sich bei jedem verdächtigen Wort einmischen.
»Schön«, brummte er. »Ich möchte eines wissen: ist sich die Zentrale darüber im klaren, daß die Stadt von der Bevölkerung aufgegeben wurde? Daß keine Menschen mehr in der Stadt leben?« »Zensiert, zensiert, zensiert«, ratterte der Lautsprecher. »Diese Frage bezieht sich auf die zivile Verteidigung der Stadt.« »Ist sich die Zentrale darüber im klaren, daß ihre Tätigkeit im Augenblick den menschlichen Interessen zuwiderläuft?« Es folgte eine kurze Pause. »Soll Ihre Frage eine Beschwerde darstellen?« »Ja«, erwiderte er eisig. »Das ist eine Beschwerde.« »Eine Beschwerde über mangelhafte Versorgung durch die Stadtwerke, Mr. Jesser?« Mitch unterdrückte einen Fluch. »Versorgung!« bellte er. »Die Zentrale sollte sofort alle Dienstleistungen in der Öffentlichkeit einstellen, bis die Datenverarbeitung neue Anweisungen bekommt.« »Das wird unmöglich sein, Sir.« »Warum?« »Es liegt dazu keine Genehmigung der Stadtverwaltung vor.« Er schlug mit der flachen Hand auf das Pult und stöhnte. »Es gibt ja gar keine Stadtverwaltung mehr! Es gibt keine Stadträte und keinen Bürgermeister! Die Stadt wurde aufgegeben!« Der Lautsprecher schwieg. »Nun?« rief Mitch gereizt. »Zensiert«, antwortete die Maschine. »Hör zu«, knurrte er, »zensierst du jetzt, was ich sage, oder blockierst du einfach die Antworten der Zentrale?« Wieder eine Pause. »Ihre Angaben werden in der Zentrale gespeichert. Die Antworten auf bestimmte Fragen müssen aus Sicherheitsgründen blockiert werden.« »Der Krieg ist doch vorbei!« »Zensiert.«
»Ihr wollt eine zivile Ordnung aufrechterhalten, die seit drei Jahren nicht mehr besteht! Könnt ihr denn nicht eure Lerncomputer einsetzen, damit sie die Zentrale der jetzigen Lage anpassen?« »Selbstkorrektur, die der Zentralanlage erlaubt ist, unterliegt den Beschränken nach Paragraph…« »Schon gut, schon gut!« »Haben Sie noch weitere Fragen?« »Ja! Was werdet ihr unternehmen, wenn fünfzig Männer mit Sprengstoffpaketen kommen, um die zentrale Datenanlage in die Luft zu blasen?« »Das Beschädigen von Gemeindeeigentum ist strafbar nach Paragraph…« Mitch stand auf und verließ das Pult mit bitteren Gefühlen. Es war sinnlos. Doch er hatte kaum zehn Meter zurückgelegt, als zwei Roboter aus ihren Nischen rollten. »Einen Augenblick, Sir!« krächzten sie im Chor. »Ja?« »Die Zentrale wünscht Sie im Zusammenhang mit einem angeblich geplanten Attentat auf städtische Anlagen zu vernehmen. Sie können selbstverständlich jede Auskunft verweigern. Wenn Sie sich jedoch weigern und das angebliche Attentat tatsächlich stattfindet, können Sie wegen Mitwisserschaft angeklagt werden. Werden Sie uns in das Verhörzimmer begleiten?« Wieder war er dem Gefängnis einen Schritt nähergekommen, überlegte er düster. Doch was hatte er schon zu verlieren? Er knurrte etwas Zustimmendes und begleitete die rollenden Wächter durch einen Nebenausgang eine Rampe hinunter und an einer Reihe vergitterter Fenster vorbei. Dann betraten sie die Vorhalle des Polizeipräsidiums, wo ein Polizeicomputer hinter seinem Pult vor sich hinklickte. Ein paar ServoSekretäre und mechanische Polizisten warteten auf Befehle.
Mitch blieb plötzlich stehen. Seine Begleiter warteten höflich. »Wollen Sie bitte nähertreten, Sir?« Er sah sich suchend in dem großen Raum um – betrachtete die Gittertüren, die zu den Zellen führten. »Ich höre jemand weinen – eine Frau«, murmelte er. Die Polizisten schwiegen. »Ist jemand in der Zelle eingesperrt?« »Wir dürfen Ihnen darauf eine Antwort geben.« »Wenn ich aber Kaution stellen will«, knurrte er, »habe ich das Recht, es zu erfahren!« »Sie können sich bei der Aufnahme erkundigen, ob eine gewisse Person in Haft genommen wurde. Doch Auskünfte allgemeiner Art können nicht erteilt werden.« Mitch ging auf das Pult zu, wo der Aufnahmecomputer tickte. »Haben deine Leute eine Frau eingeliefert?« »Zensiert.« Er hatte nur einen vagen Verdacht. Er sagte: »Eine Frau namens Marta.« »Den ganzen Namen bitte.« »Den weiß ich nicht. Kannst du mir das nicht sagen?« »Zensiert!« »Nun hör mal gut zu! Ich habe einer Frau namens Marta mein Fahrrad geliehen. Wenn ihr das Fahrrad habt, möchte ich es wiederhaben!« »Zulassungsnummer bitte!« »Zugelassen 1987 – Nummer sechs Zebra fünf null.« »Fragen Sie bitte im Fundbüro nach.« Mitch zwang sich zur Ruhe: »Du fragst – ich warte.« Der Computer schwieg einen Moment. »Ein Fahrrad mit dieser Nummer ist beschlagnahmt worden. Können Sie sich als Eigentümer ausweisen?« »Als Eigentümer meines Fahrrads? Ich kannte die Nummer. Ist das nicht genug?« »Beschreibung, bitte?«
Mitch beschrieb es seufzend. Er verstand allmählich Ferris Groll auf die Zentrale und seinen Wunsch, die Anlage mit Gewalt aus dem Verkehr zu ziehen. Er hätte jetzt selbst am liebsten ein paar von diesen Robotern zu Schrott verwandelt. »Also«, sagte der Aufnahmecomputer, »wenn das Fahrrad Ihnen gehört, können Sie es wiederhaben, wenn Sie gleichzeitig eine neue Zulassung beantragen und die erforderliche Gebühr dafür bezahlen.« »Gib das an die zentrale Datenanlage weiter!« knurrte Mitch. Der Aufnahmecomputer schwieg, um sich mit dem Koordinator zu verständigen. »Die Entscheidung gilt, Sir.« »Aber es gibt ja gar keine neuen Zulassungen mehr!« brüllte Mitch. »Vor einer Weile entschied die Zentrale – ach, lassen wir das.« »Die frühere Entscheidung bezog sich auf Ihren Personalausweis, Sir. Wir reden jetzt von Zulassungen für Fahrzeuge. Es sind noch keine ausreichenden Daten gesammelt worden, die die Zentrale zu neuen Schlüssen veranlassen könnten.« »Klar. Also gut, was muß ich machen, damit die Frau aus der Haft entlassen wird?« Wieder besprach sich der Roboter mit der Zentrale. Dann: »Die Frau wird zum Verhör festgehalten. Die Untersuchungshaft dauert zweiundsiebzig Stunden. Früher kann sie nicht freigelassen werden.« Mitch ließ die Werkzeugkiste fallen, die er seit Stunden mit sich herumschleppte. Mit einem wütenden Fluch rammte er die Brechstange durch eine Öffnung des Aufnahmecomputers. Ein Gewitter blauer Funken entlud sich. Mitch stieß einen Schrei aus, als ihn ein elektrischer Schlag traf, und ließ die Brechstange los. Stählerne Finger schlossen sich um seine Handgelenke.
Fünf Minuten später führte man ihn durch die Gittertür in den Zellenblock. Man beschuldigte ihn der mutwilligen Zerstörung städtischen Eigentums. Er verfluchte sich, daß er die Nerven verloren und sich wie ein Narr benommen hatte. Sie behielten ihn jetzt hier, bis das Schwurgericht zusammentrat. Das konnte bis zum Jüngsten Tag dauern. Während er durch die vergitterten Korridore zu seiner Zelle geführt wurde, wurde das Schluchzen und Weinen des Mädchens lauter. Er kam an drei Zellen vorbei und blickte durch die Stäbe. Sie waren besetzt – mit menschlichen Skeletten. Wie kam das? Die Rückwand des Zellenblocks war stark beschädigt, auf dem Boden lagen Ziegelsteine und Mörtelstücke. Waren die Gefangenen einem Luftangriff zum Opfer gefallen? Oder hatte man sie vergast? Man führte ihn zur fünften Zelle und entriegelte die Gittertür. Mitch betrachtete die Rückwand und grinste. Die Mauer war von der Druckwelle einer Bombe zum Teil eingerissen. Die Mauerbresche war breit genug, um sich hindurch ins Freie zu zwängen. Auch die Zwischenwand zur Nachbarzelle war beschädigt, und durch die Risse sah er das blasse, verängstigte Gesicht einer Frau – Marta. Die Robotwärter schoben ihn sacht durch die Tür. Die Talente des Zentralcomputers versagten offensichtlich, wenn es galt, Mauern zu reparieren. Die Roboter sahen nicht, wie wenig sich die Zelle dafür eignete, einen Gefangenen festzuhalten. Die Gittertür fiel hinter ihm ins Schloß. »Marta!« rief er. »Laß mich in Ruhe«, kam die tränenerstickte Antwort. »Ich bin dir wegen des Fahrrads nicht böse.« Er ging zu dem Mauerloch in der Trennwand und spähte hinüber in die Nachbarzelle. Sie kauerte in einer Ecke und sah ihn mit von Tränen geröteten, furchtsamen Augen an. Sein Blick glitt zu der Bresche in der Rückwand. »Warum bist du nicht geflohen?« fragte er. Sie lachte hysterisch auf. »Warum
siehst du nicht nach?« Er ging zur Mauerbresche. Ein Abgrund von acht Metern gähnte vor ihm. Unten lag ein betonierter Hof. Er wich zurück und starrte sie an. »Wo ist dein Kind?« »Sie haben es mir weggenommen«, wimmerte sie. Mitch kniff die Lider zusammen. Er dachte nach. »Sie brachten es in die Kinderkrippe, weil du im Gefängnis sitzt.« »Sie versorgen es nicht! Es muß sterben!« »Schrei nicht so. Es wird ihm bestimmt nichts geschehen.« »Roboter geben keine Milch!« »Nein. Aber es gibt schließlich auch Milch in Flaschen«, erwiderte er. »Tatsächlich?« Ihre Augen waren riesengroß. »Was geben sie ihm, wenn in den Flaschen keine Milch mehr ist?« flüsterte sie. »Nun…« Er brach ab. Die Zentrale bewirtschaftete bestimmt keine Bauernhöfe. »Warte, bis man uns das Essen bringt«, sagte sie. »Dann wirst du mich verstehen.« »Essen?« »Leere Schüsseln«, zischte sie. »Leere Teller, leere Plastikbecher, saubere Papierserviette. Aber kein Essen.« Mitch schluckte. Die Logik der Zentrale war manchmal wirklich schwer zu begreifen. Die Servo-Köche und Roboter führten wahrscheinlich alle programmierten Handgriffe durch: mischten und rührten; schöpften mit leeren Kellen aus leeren Kesseln; füllten Tassen aus leeren Kaffeemaschinen. »Deswegen also… die Skelette… in den anderen Zellen«, murmelte er. »Sie werden uns verhungern lassen!« »Schrei nicht so. Wir kommen schon raus. Wir brauchen nur ein Seil – irgend etwas, womit wir uns hinunterlassen können.« »Wir haben kein Bettzeug!« »Aber was Anzuziehen. Daraus können wir ein Seil drehen. Und wenn es ums Leben geht, können wir notfalls springen.«
Sie schüttelte benommen den Kopf und starrte auf ihre Fingerspitzen. »Es hat keinen Zweck. Sie fangen uns wieder ein.« Mitch setzte sich auf die Pritsche und dachte nach. Irgendwo im Gebäude mußte es ein Waffenlager geben. Wahrscheinlich im Keller. Robotpolizisten trugen keine Waffen. Deshalb mußte es eine von Menschen geleitete Abteilung geben, die für den Waffeneinsatz zuständig war: zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen, Aufruhr und dergleichen. Wenn man sich einem Verkehrspolizisten widersetzte, würde er dem Widerstand Leistenden Handschellen anzulegen versuchen und menschliche Unterstützung anfordern, wenn ihm das nicht gelang. Irgendwo im Gebäude lagerten also Waffen, und mit einem gutgezielten Gewehrschuß konnte man die dünne Stahlwand der Roboter durchschlagen. Der Gedanke, diese Roboter zu zerstören, gefiel ihm nicht. Aber wenn er ein paar mechanische Hilfskräfte – verhältnismäßig einfach gebaute Maschinen – vernichten mußte, um die Zentrale zu retten, hatte das einen Sinn. Er mußte sich also auf irgendeine Weise zu den Gewölben Zutritt verschaffen, wo die zentrale Speicheranlage und die Koordinatoren standen. Er mußte sie erreichen, ehe Ferris mit seiner Bande die gesamte Anlage in die Luft sprengen konnte, um die Stadt ungestört plündern zu können.
Eine Stunde später hörte er die quietschenden Angeln der Korridortür. Er stand rasch von der Pritsche auf. Sie kamen, um ihn wegen des geplanten Attentats gegen die Stadt zu vernehmen. Er konzentrierte sich, faßte rasch einen Entschluß und zwängte sich durch die Bresche in die Nachbarzelle, ehe der Roboter auf seinen Rollen die Zellentür erreicht hatte. »Was – was willst du?«
»Pst!« machte er. »Vielleicht gelingt dieser Plan…« Die Rollen hielten vor der Nachbarzelle an, während Mitch sich neben der Bresche an die Wand lehnte. »Willie Jesser, bitte«, krächzte – die Stimme des Roboters. Stille. Er hörte, wie nebenan die Zellentür aufging. Der Roboter fuhr in der Zelle umher, wiederholte immer wieder den Namen und räumte den Schutt zur Seite, um sich besser bewegen zu können. Hoffentlich blickte er nicht herüber in die Nachbarzelle! Plötzlich heulte eine Sirene. Der Roboter raste den Korridor hinunter. Mitch blickte durch die Bresche. Der Roboter hatte die Gittertür offen gelassen. Mitch packte das Mädchen bei der Hand. »Los!« sagte er rauh. Sie zwängten sich durch die Bresche und rannten auf den Korridor hinaus. Die Korridortür versperrte ihnen die Flucht aus dem Zellengang. Das Mädchen wimmerte. Hier gab es keine Stelle, wo man sich verstecken konnte. Die Türschlösser der Zellen waren einzeln ferngesteuert. Die Fernsteuerung befand sich jeweils in einem Gehäuse an der der Zelle gegenüberliegenden Wand. Mitch zog das Mädchen rasch zu einer anderen Zelle, öffnete die Gehäuseklappe und sperrte die Zellentür auf. Sie glitten hinein. Mitch zog vorsichtig die Tür hinter sich zu, ließ das Schloß aber nicht einschnappen. Das Mädchen stöhnte leise, als es über ein Skelett stolperte. »Leg dich in eine Ecke und rühr dich nicht!« flüsterte er. »Sie kommen. Diesmal mit Verstärkung.« »Was passiert, wenn sie entdecken, daß das Schloß offen ist?« »Dann sind wir erledigt. Ich hoffe, sie konzentrieren sich auf unsere Zellen. Und jetzt sei still.« Sie versteckten sich unter den eisernen Bettgestellen und wagten kaum zu atmen. Die Roboter kamen zu dritt. Man hörte das leise Rattern des Computercodes. Die Roboter rasten an
der Zelle vorbei und bremsten vor Mitchs alter Zelle. Er hörte, wie sie darin umherrollten. Er kroch zur Tür und spähte auf den Korridor hinaus. Dann stieß er die Tür auf und stahl sich hinaus. Er winkte dem Mädchen zu, gab ihm flüsternd Anweisungen. Auf Zehenspitzen schlichen sie zu ihren alten Zellen. Als sie die Gittertür erreichten, drehten sich die Roboter um. Mitch warf schnell die Gittertür zu. Das Schloß sperrte, als Marta die Fernsteuerung bediente. Drei Metallkörper warfen sich gleichzeitig gegen die Eisenstangen, prallten zurück, drehten sich dreimal um die eigene Achse, ehe sie zum Stehen kamen. »Öffnen Sie das Schloß, bitte.« Mitch drückte das Gesicht grinsend gegen die Stäbe. »Warum bedienen Sie sich nicht der Bresche in der Zellenwand?« fragte er spöttisch. Einer der Roboter wirbelte herum, begann zu rollen und segelte durch die Mauerbresche ins Leere. Von unten hörte man einen berstenden Aufprall. Metallteile rollten über den Beton. Eine Sirene wimmerte, Bremsen knirschten. Die anderen Roboter beugten sich hinaus, blickten hinunter in den Hof und fingen an zu summen und zu rattern. Dann drehten sie sich um. »Sie werden sich ergeben, bitte. Wir haben bewaffnete Wachen angefordert, um Sie zu überwältigen, wenn Sie sich wehren.« Mitch lachte und legte dem schluchzenden Mädchen die Hand auf die Schulter. »Wo – wohin…« stammelte sie. »Zur Korridortür. Los, komm!«
Sie liefen den Korridor hinunter. Die Zellenblocktür stand offen, um die »bewaffneten Wachen« durchzulassen. Natürlich ließen sich keine uniformierten Wachen sehen, da es keine
mehr gab. Das Mädchen schien nicht zu begreifen. Er erklärte es ihr, während sie weiterrannten. »Programmiertes Schema. Die Zentrale muß sich daran halten, auch wenn der Computer weiß, daß keine menschlichen Wachen mehr Dienst tun.« Zwei Service-Roboter arbeiteten an dem von Mitch beschädigten Aufnahmecomputer, als die beiden vorbeirannten. Die Roboter sahen auf, gaben einen Codebericht an die Zentrale, und arbeiteten weiter. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis sie das Waffenlager im Keller gefunden hatten. Der mechanische Waffenwart hatte auf Anforderung zwei Maschinenpistolen auf den Korridor gestellt, um die Uniformierten zu bewaffnen. Mitch riß eine von ihnen hoch und feuerte auf den Metallkörper des Waffenwarts. Der Roboter rollte wie ein Kreisel gegen die Wand, stand summend still, während das Metall um die Einschußstellen sich feuerrot färbte. Mit einem leisen, krächzenden Husten stieß er eine Rauchwolke aus und stand still. Mitch sprang über die Barriere in den Waffenraum und nahm sich noch zwei Maschinenpistolen. Doch das Mädchen wich vor ihm zurück und schüttelte den Kopf. »Ich konnte nicht einmal mit deiner Flinte umgehen«, stöhnte sie. Er zuckte die Achseln und legte die Maschinenpistolen auf einen Tisch. »Dann steck wenigstens so viel Munition zu dir, wie du tragen kannst.« Überall schrillten jetzt die Alarmglocken, als sie wieder hinaus in den Korridor eilten. Die Lautsprecher forderten alle menschlichen Angestellten auf, sich an der Jagd auf die beiden entflohenen Häftlinge zu beteiligen. Dann erreichten sie den Ausgang. Mitch schob Marta zur Seite und feuerte auf zwei Roboter, die auf dem Bürgersteig heranrasten. Der eine prallte gegen einen Feuerhydranten, der andere fiel auf die Straße und blieb liegen.
»Zum Parkplatz!« rief Mitch über die Schulter. Keine Antwort. Das Mädchen kauerte auf dem Randstein des Bürgersteigs. Er unterdrückte einen Fluch und eilte zu ihr. Ihr Gesicht war eine weiße, verzerrte Maske. Sie zitterte wie im Schüttelfrost. »Was hast du denn?« Sie gab keine Antwort. Die Angst hatte sie wahrscheinlich wieder in einen halbirren Zustand versetzt. »George«, formten ihre Lippen. Mitch murmelte etwas Unschmeichelhaftes, steckte ein Magazin mit fünfzig Schuß in den Gürtel, ein zweites zwischen die Zähne. Er hob das Mädchen auf und warf es sich über die Schulter. Er konnte sich noch rechtzeitig umdrehen, um einen weiteren Robotpolizisten mit einer Salve zu empfangen. Die Schüsse gingen daneben. Dennoch hielt der Roboter an, drehte sich um und flüchtete. Mitch sah ihm verblüfft nach. Das Quäken der Lautsprecher brachte die Lösung: »An alle menschlichen Angestellten. Die Ausfallquote für einsatzfähige Roboter ist erreicht. Der Auftrag, Gesetzesbrecher zu verhaften, kann nur erfüllt werden, wenn Genehmigung erteilt wird, weiteren Ausfall mechanischer Hilfskräfte in Kauf zu nehmen. Wir bitten um Anweisung. An den Polizeipräsidenten – wir bitten um Anweisung! Wir warten! Wir warten!« Mitch grinste. Mit dem Mädchen über der Schulter schwankte er auf einen Wagen auf dem Parkplatz zu. Er schob das Mädchen auf den Rücksitz und setzte sich neben es. Aus dem Lautsprecher im Armaturenbrett kam Protest: »Unbefugten ist das Betreten dieses Wagens verboten! Dies ist der Wagen von Bürgermeister Sarquist. Unbefugte dürfen ihn nicht benutzen! Bitte, suchen Sie sich einen anderen Wagen!« Mitch sah sich um. Auf dem Parkplatz standen keine anderen Wagen. Und hätte er einen gefunden, wäre das Spiel
von vorn losgegangen. Er gehörte nicht zur Stadtverwaltung; also hatte er auch keinen Anspruch auf einen Wagen.
Der Wagen von Bürgermeister Sarquist gab jetzt eine Beschwerde an die Zentrale durch. Mitch beugte sich über das Steuergerät und riß das Verbindungskabel zur Antenne heraus. Sofort quäkte der Lautsprecher eine Beschwerde wegen Sabotage. Mitch entdeckte einen Werkzeugkasten hinter dem Rücksitz, demontierte einige Teile des Steuercomputers und schnitt ein Kabel durch. Der Lautsprecher verstummte. Er riß noch einen Draht heraus. Ein paar Lampen gingen aus. Mitch steuerte den Wagen selbst. Das Mädchen auf dem Rücksitz fand allmählich wieder in die Gegenwart zurück. Es setzte sich auf und blickte durch das Fenster auf den schwachen Verkehr. Die Sonne ging gerade unter. Die große Stadt lag in goldenem Zwielicht. »Du taugst nicht für diese Welt!« brummte Mitch. »Wenn sie dir wehtut, springst du in deinen geistigen Sarg und nagelst den Deckel zu. Wie willst du mit dieser Einstellung dein Kind großziehen?« Sie gab keine Antwort, starrte nur durch das Seitenfenster. Der Wagen bog um eine Ecke, riß fast einen Polizisten um. Der Roboter stellte die Sirene an und verfolgte sie drei Straßen weit. Dann gab er auf. »Du bist eins von den Kindern, die durch das Maschinenzeitalter verwöhnt wurden«, schimpfte Mitch. »Die Technologen gaben dir alles, was du dir wünschtest. Drück auf einen Knopf – schon ist es da. Anstatt sich mit den Problemen dieser Welt zu beschäftigen, hast du dich nur von ihr bedienen lassen. Du hast dich verwöhnen lassen. Und jetzt spielt diese Welt verrückt, und du machst ihr das nach. Weil du dich nie daran gewöhnen wolltest, die Technik zu beherrschen. Du hast dich treiben lassen. Gedankenlos.« Sie schien ihm gar nicht
zuzuhören. Er bog um eine weitere Ecke und hielt am Bürgersteig. Neben ihnen ragte ein hoher Eisenzaun auf, der eine Grünfläche umschloß. Ein dreistöckiges Gebäude stand etwa in der Mitte des Grundstücks. Das Mädchen hob den Kopf, den sie auf die Hände gestützt hatte. »Das städtische Waisenhaus!« rief sie plötzlich und sprang aus dem Wagen. Sie schlug mit den Fäusten gegen das Gittertor. Mitch folgte ihr, öffnete wortlos das Tor. Sie rannte auf die Treppe zu, doch ein Wärter rollte herbei, um ihr den Weg abzuschneiden. Er hatte die stählernen Klauen geöffnet, um ihr Handgelenk zu packen. »Auf den Boden!« brüllte Mitch. Sie duckte sich und warf sich seitwärts auf den Rasen. Die Leuchtspurmunition zog ein helles Band durch die Dämmerung. Der Roboter drehte sich taumelnd, knisterte und spuckte Funken. Das Töten eines Roboters konnte gefährlich sein. Wenn die Kugel den winzigen Nuklearreaktor traf, gab es eine Explosion. Sie schlugen einen Bogen um den Wärter und eilten in das Gebäude. Irgendwo im ersten Stock wimmerte ein Baby. Eine Servo-Kinderschwester saß hinter einem Pult in der Halle. Sie begrüßte die beiden Menschen, als seien sie Gäste des Hauses. »Guten Abend, gnädige Frau, guten Abend, der Herr. Wollen Sie eines von den Kindern besuchen?« Marta eilte schon auf die Treppe zu. Mitch packte sie am Arm. »Laß mich hinauf. Dich erwartet kein schöner Anblick!« Aber sie riß sich wütend los und eilte die Treppe hinauf. Mitch zuckte die Achseln und wartete. Der Roboter protestierte gegen die Eigenmächtigkeit, unternahm aber nichts. »Nein…!« Ein entsetzter Ausruf von Marta. Er blickte hinauf zum Treppenabsatz. Er wußte, was sie so erschreckt hatte, konnte ihr aber nicht helfen. Er hörte, wie sie sich übergab. Er wartete. Ein paar Minuten später kam sie schwankend die Treppe herunter. Weinend preßte sie das Kind an sich. Sie starrte
Mitch an, schüttelte wie irre den Kopf und plapperte hysterisch: »Die Krippen – voller winziger Skelette! Kleine Knochen – überall auf dem Fußboden – Knochen!« »Sei still!« befahl er. »Danke Gott, daß dein Kind heil und gesund ist! Und jetzt nichts wie weg!« Nachdem Mitch einen weiteren mechanischen Aufpasser mit der Maschinenpistole erledigt hatte, erreichten sie den Wagen und fuhren hinaus in die Vorstadt. Das Mädchen hörte auf zu schluchzen, summte ein Wiegenlied vor sich hin und wiegte das Kind. Mitch tat es leid, daß er vorhin so grob zu dem Mädchen gewesen war. Sie hatte immer noch einen gesunden Mutterinstinkt, wenn sie sich auch nicht der Wirklichkeit einer zerstörten Welt anpassen konnte. »Marta?« »Ja?« »Du kannst dich nicht allein durchs Leben schlagen.« Er sagte es schonend. Sie sah ihn nur an, während er den Wagen steuerte. »Du mußt jemand finden, der dein Kind betreut.« »Nein.« »Ist ja nur ein Vorschlag. Es geht mich nichts an. Du willst doch dein Baby durchbringen, nicht wahr?« »George versprach, er würde für uns sorgen. George hat immer für uns gesorgt.« »George hat sich selbst getötet.« Sie stieß ein leises Wimmern aus. »Warum hat er das getan? Warum hat er das nur getan? Warum? Ich ging fort, um Nahrungsmittel zu besorgen. Ich kam zurück – und er war tot. Warum, warum?« »Wahrscheinlich, weil er ähnlich veranlagt war wie du. Was hat er denn gemacht – vor dem Krieg, meine ich?« »Innenarchitekt. Er war tüchtig, ein wirklicher Künstler auf seinem Gebiet.« »Sicher.«
»Warum sagst du das so ironisch? Er war tatsächlich ein Künstler.« »War er fähig, in einer mechanisierten Kultur zu leben?« »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Ich meine – beherrschte er sein Gebiet wirklich? War er Herr seiner mechanisierten Hilfskräfte – oder beherrschten sie ihn?« »Ich weiß nicht…« »War er ein Mann, der nur auf den Knopf drückte und am Hebel zog? Oder kümmerte er sich auch darum, was hinter den Knöpfen und Hebeln steckte? Die Menschen mißbrauchen oft ihre Werkzeuge, weil sie die Prinzipien nicht verstehen, nach denen ihre Werkzeuge arbeiten. Ein Mann, der nicht weiß, wie ein Uhrwerk funktioniert, wird möglicherweise versuchen, das Werk mit einem Hammer zu reparieren. Falls die Uhr Gemeineigentum ist, darf er sich nicht daran vergreifen. Ein technologischer Laie hat kein Recht darauf, an einer technologischen Zivilisation teilzuhaben. Er benimmt sich wie ein Elefant im Porzellanladen. Genau das passierte in unserer Epoche. Die Politiker bekamen eine gewaltige Waffe in die Hand. Sie verstanden aber nicht, wie diese Waffe wirkt. Sie vernichteten damit unsere Kultur.« »Willst du, daß ein Naturwissenschaftler Präsident wird?« »Wenn alle Menschen eine technische Ausbildung bekämen, könnte man nie den Falschen wählen – oder?« »Technokraten…« »Nein. Eine reine Erziehungsfrage.« »Die Menschen sind nicht intelligent genug.« »Falsch. Sie kümmern sich zu wenig darum, wolltest du sagen. Jeder Mensch mit einem halbwegs durchschnittlichen Verstand kann die Grundlagen der Physik, der Mechanik und Elektronik verstehen. Die meisten fühlen sich nur nicht herausgefordert, diese Grundbegriffe zu lernen. Der Verstand
ist ein Werkzeug, kein Abfalleimer für gemischte Nachrichten. Dein Baby zum Beispiel – es sollte bereits mit zehn Jahren die Logik der Symbole verstehen. Man muß ihn dazu erziehen, wie er sein Werkzeug zu gebrauchen hat – den Verstand. Wir haben eben erst wieder gelernt, wie man denken soll. Wenn der Durchschnittsmensch in den wissenschaftlichen Methoden der Logik geschult wird, lösen wir unsere Probleme im Handumdrehen.« »Was hat das mit uns zu tun?« »Es hat sehr viel mit uns zu tun. Dein George drehte durch, weil er sein Gebiet in der mechanisierten Kultur nicht beherrschte. Er konnte aber auch nicht ohne die Technik leben. Er vermochte das zerstörte Werkzeug nicht zusammenzuflicken; litt jedoch noch mehr unter seinem Verlust. Und du steckst in der gleichen Klemme. Ich bin mir nur noch nicht schlüssig, ob du nur an einer Neurose leidest oder den Verstand vollkommen verloren hast.« Sie starrte ihn eisig an. »Sag mir Bescheid, wenn du dir darüber im klaren bist.«
Sie verließen jetzt die City, fuhren durch die Randbezirke auf die Vorstadt zu. Er mußte sich mit dem Licht der Straßenbeleuchtung begnügen. Der Wagen besaß keine Scheinwerfer. Als Selbststeurer genügte ihm Radar zur Orientierung. Mitch dachte bedrückt daran, daß er versagt hatte. Er hatte sich in die Stadt geschlichen – ohne festen Plan, ohne Ausweichmöglichkeiten. Und was hatte er erreicht? Nichts. Er hatte die Zentrale alarmiert und war in der Speicheranlage als Gesetzesbrecher registriert. Statt seine Aufgabe zu vereinfachen, hatte er sie hoffnungslos verpatzt. Sooft sie an einer Kreuzung an einem mechanischen Polizisten vorbeikamen, zog sich dieser auf den Bürgersteig
zurück und gab der Zentrale ihre Position durch. Doch niemand machte den Versuch, sie aufzuhalten. Da die Ausfallquote für mechanische Hilfskräfte erreicht war, verließ sich die Zentrale jetzt auf die Hilfe der nichtvorhandenen menschlichen Polizei, die Flüchtlinge festzunehmen. »Das Haus von Bürgermeister Sarquist«, murmelte das Mädchen plötzlich. »Wie? Wo?« »Dicht vor uns. Das große Haus zur Rechten, mit dem durchhängenden Dachstuhl.« Mitch drehte an einer Skala in der Mitte des Steuercomputers, und der Wagen hielt am Bürgersteig. Der Ruck war so stark, daß das Mädchen nach vorn geworfen wurde. »Du hast das Kind aufgeweckt«, beklagte sie sich. »Warum halten wir hier? Wir sind noch innerhalb der Stadtgrenze.« »Ich weiß nicht«, murmelte er und starrte nachdenklich auf das zweistöckige Haus, halb verborgen hinter hohen Eichenbäumen. »Es geschah instinktiv.« Eine lange Pause folgte, Mitch kaute auf der Unterlippe, betrachtete das verwaiste Haus. »Ich höre das Telefon im Haus klingeln«, sagte Marta. »Die Zentrale ruft Bürgermeister Sarquist. Wer weiß – vielleicht klingelt es schon drei Jahre lang.« Sie blickte durch das Rückfenster. »Mitch…?« »Ja?« »Auf der Kreuzung ist ein Polizist aufgetaucht.« Er schien gar nicht hinzuhören. Er öffnete die Tür und sagte: »Komm, wir gehen hinein. Ich will mich mal umsehen. Bring die Maschinenpistole mit.« Langsam gingen sie auf das verlassene Haus zu. Der Wind flüsterte in den Eichen, und die Stufen knarrten unter ihren Füßen. Die Tür war abgeschlossen. Mitch schlug eine Scheibe
in der Tür ein. Kurz darauf standen sie in dem riesigen Wohnzimmer. Mitch schaltete das Licht ein. »Der Polizist muß das Klirren des Glases gehört haben«, murmelte Marta besorgt. Die Gewißheit kam in Gestalt zweier rollender Füße, die vor der Haustür knirschend anhielten. Der Polizist war gekommen, um zu ermitteln, weshalb die Scheibe eingeschlagen worden war. Mitch kümmerte sich nicht um ihn und schlich durch das Haus. Das Telefon klingelte ununterbrochen. Doch er konnte nicht abheben, solange er nicht den persönlichen Erkennungscode von Bürgermeister Sarquist kannte. Das Mädchen rief aus der Bibliothek: »Was ist denn das, Mitch?« »Was – das?« »Schreibmaschinentasten, aber keine Schreibmaschine. Nur ein paar Drähte daran und ein Bildschirm.« Sein Mund blieb offenstehen. Er kehrte um und rannte in die Bibliothek. »Eine direkte Leitung zur zentralen Speicheranlage!« flüsterte er und starrte die Schalttafel mit den Tasten und den Entzerrern an. »Warum steht das Ding hier im Haus?« Er dachte kurz nach. »Muß… hm… ah, ich erinnere mich. Kurz vor der Evakuierung bekam Sarquist außerordentliche Vollmachten, um die Verteidigung zu organisieren. Er konnte anfordern und beschlagnahmen, was er für die Verteidigung brauchte. Bei einem Luftangriff hatte er unbeschränkte Verfügungsgewalt über alle Einwohner der Stadt.« Mitch trat auf das Schaltpult zu. Er legte den Schalter für die Stromzufuhr um, und die Kontrollknöpfe glühten auf. Er setzte sich vor die Tasten und schrieb: Sarquist an Zentrale. Alle Daten betreffend Verwaltung der Stadt löschen. Neue Verordnungen abwarten. Alle Anordnungen der städtischen Behörden werden hiermit widerrufen.
Er wartete. Nichts geschah. Es kam auch keine Bestätigung. Die eingetastete Schrift erschien nicht einmal auf dem Kontrollschirm. »Kaputt?« fragte Marta. »Vielleicht.« Mitch knirschte mit den Zähnen. »Vielleicht auch nicht. Ich glaube, ich weiß, was das Ding blockiert.« Der mechanische Polizist hatte seine Roller in das Fahrgestell eingezogen, stieg die Treppe hinauf und hämmerte gegen die Haustür: »Bürgermeister Sarquist, bitte!« rief er. »Bürgermeister Sarquist, bitte!« »Laß ihn poltern«, murmelte Mitch und sah sich in der Bibliothek um. Ein Schreibtisch aus Mahagoni, mehrere Ledersessel, Bücherregale an der Wand, ein Safe… Ein großer Safe! »Sarquist hatte wohl wichtige Papiere, die er nur in seinem Privathaus aufheben durfte«, murmelte er. »Was willst du jetzt mit Papieren?« rief das Mädchen gereizt. »Warum verlassen wir nicht die Stadt, solange wir noch können?« Er streifte sie mit einem kalten Blick. »Willst du den Rest des Weges allein gehen?« Sie öffnete den Mund, schloß ihn wieder und runzelte die Stirn. Sie trug schließlich die Maschinenpistole. Er trat an den Safe und drehte an der Zahlenscheibe. »Versperrt«, murmelte er. »Man braucht ein paar Stangen Dynamit, um das Schloß… nein…« »Nein?« »Die Zentrale.« Er lachte. »Vielleicht öffnet die Zentrale den Safe für uns.« »Bist du verrückt?« »Absolut nicht. Geh zur Tür, laß den Polizisten herein.« »Nein!« schrie sie. Mitch schnaufte kurz. »Also gut. Dann mach ich das. Wirf mir die MP herüber.«
»Nein!« Sie richtete die Mündung der Waffe auf ihn und wich zur Wand zurück. »Gib das Ding her!« »Nein!« Sie legte das Baby auf das Sofa, wo es friedlich weiterschlief. Mitch setzte sich neben das Kind. »Zielst du auch gut genug?« Sie hielt den Atem an. Mitch hob das Kind vorsichtig auf seinen Schoß. »Gib mir die Waffe zurück!« »Du wagst es nicht!« »Ich übergebe das Kind dem Polizisten.« Sie wurde blaß und reichte ihm rasch die MP. Mitch bemerkte, daß die Waffe gar nicht entsichert war, legte das Baby zurück auf das Sofa und stand auf. »Schau mich nicht so an!« sagte sie nervös. Er ging langsam auf sie zu. »Wage nicht, mich anzurühren!« Er nahm ein Lineal vom Schreibtisch und langte blitzschnell nach ihr. Kurz darauf lag sie über seinem Knie, hämmerte mit den Fausten gegen seine Schienbeine und schrie, während er ihr den Hintern versohlte. Dann ließ er sie auf den Teppich fallen, klemmte die Maschinenpistole unter den Arm und ging zur Tür, um den mechanischen Polizisten hereinzulassen. Mensch und Maschine starrten sich an. Der Polizist gab eine Bildbeschreibung von Mitch an die Zentrale durch und bekam sofort Antwort. »Ich bitte Sie, sich auf der Stelle zu ergeben.« »Werde ich jetzt des Einbruchs beschuldigt?« fragte Mitch eisig. »Richtig.« »Du willst die Verhaftung selbst durchführen?« Wieder besprach sich der Polizist mit der Zentrale. »Wenn Sie die Stadt sofort verlassen, gewähren wir Ihnen freien Abzug.« Mitch wölbte die Augenbrauen. Die Zentrale hatte also inzwischen die eingelieferten Daten nicht nur gespeichert, sondern auch interpretiert. Sie hatte »gelernt« und die
städtischen Vorschriften entsprechend geändert. Er grinste den Polizisten an und schüttelte den Kopf. »Ich habe Bürgermeister Sarquist in seinen Safe eingesperrt«, sagte er. Der Roboter rief die Zentrale. Es folgte ein langes Rattern und Summen. Dann sagte der Polizist: »Das ist eine falsche Information.« »Wie du meinst, Konservenjunge. Mir ist es egal, ob du mir glaubst oder nicht.« Wieder folgte ein Palaver in Codesprache mit der Zentrale. Dann befahl der Polizist: »Treten Sie zur Seite, bitte.« Mitch gab dem Roboter den Weg frei. Mit Hilfe seiner vier Zahnräder kletterte er über die Schwelle und glitt dann wieder auf Rollen in die Bibliothek. Mitch folgte und lächelte. Trotz der unbeschränkten »Intelligenz«, über die die Zentrale verfügte, war sie doch naiv wie ein Kind. Er lümmelte sich in den Türrahmen und sah zu, wie der Roboter die Zahlenkombination einstellte. Er winkte Marta zu, sich auf den Boden zu werfen, und sie gehorchte. Die Riegel klickten, dann kam ein dumpfes Zischen. Langsam schwang die Tür auf. »Augenblick!« rief Mitch. Der Roboter drehte sich um. Die MP ratterte. Die Garbe riß dem Roboter die Antenne vom Kopf. Mitch senkte die Waffe und grinste. Der Polizist stand reglos da, ohnmächtig, weil er die Zentrale nicht mehr verständigen und keine Befehle mehr empfangen konnte. Mitch ging durch die weiße Staubwolke, die sich beim Einschlagen der Kugeln in die Wand ausgebreitet hatte, und schob den Roboter zur Seite. Das Mädchen seufzte erleichtert und stand auf. Der Polizist summte und ratterte ununterbrochen, versuchte vergeblich, die Zentrale zu erreichen. Mitch blickte ihn kurz an und rief dann Marta zu sich.
»Such mir ein paar Werkzeuge zusammen – in der Garage, im Speicher oder im Keller. Ich brauche einen Schraubenzieher, Lötkolben, Lötzinn, Kombizangen – was du findest.« Sie ging schweigend aus dem Zimmer.
Mitch räumte den Safe aus und legte den Inhalt auf den Schreibtisch: Dokumente, Banknoten, Wertpapiere. Er sortierte das Unwichtige aus und fand einige Planskizzen des ZentralcomputerGewölbes, die aus der Zeit seiner Entstehung stammten. Er entdeckte Blaupausen des Leitungsnetzes, das die Roboter und untergeordneten Computer mit der Kommandozentrale verband. Seine Hände flogen, als er die Skizzen durchblätterte. Endlich! Hier waren Daten, hier waren unbezahlbare Papiere, auf denen man den Wiederaufbau stützen konnte. Bis jetzt war er nahezu planlos auf sein Ziel losgegangen. Kein Wunder, daß er gescheitert war. Es brauchte Zeit, die enormen Kräfte der Zentrale in neue Bahnen zu lenken. Das Mädchen tauchte wieder auf, eine Kiste mit Werkzeugen unter dem Arm. Sie stellte sie auf den Teppich und starrte Mitch finster an. »Vor dem Haus haben sich noch mehr Polizisten versammelt«, sagte sie. »Es ist umstellt. Die warten auf uns.« Er ging nicht darauf ein. Der Erkennungscode von Sarquist mußte irgendwo im Haus sein. »Ich sagte dir schon – wir sollten so rasch wie möglich die Stadt verlassen!« maulte sie. »Halt den Mund.« Mitch suchte immer noch zwischen den Dokumenten. Das Mädchen sah ihm dabei zu. »Was ist denn das?« fragte sie. »Anweisungen, die er per Fernschreiber an die Zentrale gegeben hat.« »Wofür sind die jetzt noch gut?«
Er zeigte ihr eines der gelben Fernschreibformulare. Darauf stand: Roboter 6I – BJ wegen Reparatur vorübergehend außer Betrieb. In einer Ecke stand eine Nummer: 5.00326. »Na und?« »Auf diese Nummer kam es an. Das war seine persönliche Erkennungsnummer, die damals galt.« »Meinst du, die Nummer änderte sich von Tag zu Tag?« »Noch schlimmer – ich befürchte, sie änderte sich jeden Augenblick. Der Code basiert offensichtlich auf einer Gleichung, dessen Variable die Zeit ist. Von dieser Variablen hingen die Codenummern ab.« »Wie blöd!« »Absolut nicht blöd. Man kann die Codenummer mit einem Kombinationsschloß vergleichen, dessen Kennziffern sich laufend ändern. Ich muß nur die Gleichung finden, die diese Veränderung in Symbolen festhält. Dann kann ich die Zahlen einsetzen und mich mit dem zentralen Koordinator in Verbindung setzen.« Sie ging ruhelos im Zimmer auf und ab, während er weitersuchte. Eine halbe Stunde später stützte er den Kopf in die Hände und starrte mutlos auf die Schreibtischplatte. Der Schlüssel zum Code stand nicht in den Papieren. »Was ist denn jetzt wieder?« fragte sie. »Sarquist. Ich hatte geglaubt, er müsse sich irgendwo den Code notiert haben. Offenbar hat er ihn auswendig gelernt. Oder vielleicht besorgte das seine Sekretärin für ihn. Ich hatte einem Politiker so etwas nicht zugetraut. Meistens sind sie zu dumm dazu, in eine einfache Gleichung Zahlen einzusetzen.« Das Mädchen ging schweigend zum Bücherregal und zog einen Band heraus. Sie legte ihn ebenso schweigend auf den Tisch. Der Titel lautete: Höhere Mathematik für Ingenieure und Physiker. »Hm – ich habe mich getäuscht«, brummte er. »Und was jetzt?«
Er blätterte in den Papieren, während er über das Problem nachdachte. »Insgesamt habe ich elf Codenummern gefunden. Dazu die Zeitangabe, als diese Codenummern gültig waren. Kann sein, daß sich daraus die Gleichung ableiten läßt.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich muß einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Codenummern und den entsprechenden Zeiten, in denen sie galten, herstellen. Daraus läßt sich dann die Codenummer für den gegenwärtigen Zeitpunkt errechnen.« »Wird das klappen?« Er grinste. »Es gibt eine unbeschränkte Zahl von Gleichungen, die mir die gleichen elf numerischen Antworten liefern würden, wenn ich die Zahlen einsetze. Aber vielleicht haut es hin, wenn ich von der Voraussetzung ausgehe, daß die Gleichung relativ einfach war.« Wieder schritt sie ruhelos hin und her, während er eine Skizze anfertigte. Er zeichnete die Zeit als Abszisse ein, die Codenummern als Ordinate. Doch die Schnittpunkte lagen unregelmäßig über das Blatt verstreut, und die Verbindungslinie stellte keine Kurve dar. »Wahrscheinlich handelte es sich um eine wiederkehrende Funktion«, murmelte er. »Etwas, das die Zentrale mit einer unregelmäßig geformten Nockenwelle leicht nachprüfen konnte. Wie stellt man einen Code in einer Maschine ein? Meistens mit einer Nockenwelle, die von einem Uhrwerk angetrieben wird. Die Höhe des von der Nocke angehobenen Stiftes oder Zeigers bestimmt die Codenummer für diesen Zeitpunkt.« Er versuchte es jetzt mit polaren Koordinaten, versuchte, daraus die Form der Nocke zu errechnen. Doch die miteinander verbundenen Koordinaten ergaben eine Form, die so unregelmäßig war, daß sich keine Gesetzmäßigkeit daraus ergab. Es war unmöglich, auf diese Weise die sich
wiederholende ergründen.
Funktion
in
ihrer
Gesetzmäßigkeit
zu
»Das ist die verrückteste Uhr, die mir bisher unter die Augen gekommen ist«, sagte Marta. »Was?« Er blickte rasch auf. »Diese elektrische Wanduhr. Geht jetzt fünf Minuten vor, wenn man die elektrische Uhr im Wohnzimmer damit vergleicht. Doch als wir hierher kamen, ging sie sogar zwanzig Minuten vor.« »Wahrscheinlich ist sie stehengeblieben.« »Schau doch auf den Sekundenzeiger!« Der rote Sekundenzeiger lief unermüdlich. Mitch betrachtete ihn eine Weile und ging dann zur Wand hinüber. Er nahm die kleine Uhr vom Haken und drehte sie herum. Das Kabel aus der Wand endete im Uhrengehäuse. Man konnte die Uhr also nicht entfernen, ohne daß sie stehenblieb. Jetzt schien der Sekundenzeiger noch langsamer zu laufen. Schweigend entfernte Mitch die Schrauben und nahm die Gehäuserückwand ab. Er brummte überrascht. »Das ist die erste Uhr mit elliptisch geformten Zahnrädern, die ich je gesehen habe.« »Wie?« »Schau dir diese beiden Zahnräder an! Ellipsen. Das ist es! Eine Weile lang läuft diese Uhr schneller als eine normale, dann wieder langsamer.« Er betrachtet das Werk aufgeregt. »Das ist es, Marta – der Schlüssel. In der Zentrale muß eine ähnliche Uhr stehen. Die Differenz an Zeiteinheiten, um die diese Uhr von der Normaluhr abweicht, in Minuten ausgedrückt, ist wahrscheinlich der Code!« Er ging zum Fernschreiber. »Sag mir die Zeit, wie sie die Normaluhr jetzt angibt!«
Sie lief ins Wohnzimmer und rief: »Zehn Uhr siebzehn und vierzig Sekunden… fünfundvierzig Sekunden… fünfzig…« Die andere Uhr ging fünf Minuten und fünfzehn Sekunden vor. Er drückte 5,250 in die Tasten. Nichts geschah. »Hast du dich auch nicht geirrt?« rief er hinüber. »Es ist jetzt zehn Uhr – achtzehn Minuten – zehn Sekunden… fünfzehn Sekunden… zwanzig…« Die andere Uhr ging zunehmend langsamer. Er versuchte es mit 5,230 – wieder ohne Erfolg. Der Fernschreiber weigerte sich, anzusprechen. Verärgert ging er in der Bibliothek auf und ab. »Es muß noch etwas dazugehören«, murmelte er. »Noch ein Faktor. Diese Uhr ist als Code viel zu einfach. Aber was für einen Faktor kann man variabel messen – welchen Faktor außer der Zeit?« »Dort – das auf dem Schreibtisch – ist das auch eine Uhr?« »Nein, ein Barometer. Er mißt…« Er brach ab und grinste. »Das ginge! Die atmosphärischen Druckabweichungen von der Normalen, bezogen auf Meereshöhe, kann man natürlich mechanisch ohne Schwierigkeiten den Zeitwerten dieser ausgefallenen Uhr hinzufügen oder von ihnen abziehen. Man stelle sich das bildhaft vor. In der Zentrale laufen zwei miteinander gekoppelte Uhrwerke. Die Differenz zwischen ihren Zeigern ist die Codenummer. Diese Differenz wird jedoch durch ein Barometer modifiziert. Das ist einfach und erfüllt trotzdem seinen Zweck.« Sie schüttelte nur den Kopf. Mitch nahm das Barometer mit zum Fernschreiber. Der Luftdruck stand jetzt auf 1,03 über Normal. Er dachte nach. Wahrscheinlich spielte kein weiterer Faktor in der Codegleichung eine Rolle, sonst wurde die Sache zu kompliziert. Sarquist brauchte also nur auf seine Armbanduhr, die elektrische Wanduhr und das Barometer zu blicken und den Code mit einer einfachen
Kopfrechnung zu bestimmen: Wanduhrzeit minus Normalzeit plus Barometerstand. Er schickte das Mädchen wieder hinüber zur Wohnzimmeruhr. Der Zeitunterschied betrug jetzt nur noch etwas über vier Minuten. Wieder drückte er auf die Tasten des Fernschreibers. Es gab ein lautes Klicken, als die Relais ansprachen. Der Kontrollschirm leuchtete auf, flimmerte ein bißchen im fluoreszierenden Licht und gab die Zahlen dann in hellen Leuchtsymbolen wieder. »Wir haben es!« jubelte Mitch. Sie kam herüber und kauerte sich auf den Teppich. »Ich begreife immer noch nicht, was wir eigentlich erreicht haben.« »Schau dir das an!« Es begann, rasch zu tippen, und die Wörter erschienen auf dem Schirm. SARQUIST AN ZENTRALE – ALLE ANWEISUNGEN LÖSCHEN AUSSER ANWEISUNG, NEUE ANWEISUNGEN ZU SPEICHERN UND DURCHZUFÜHREN – NEUE DATEN FOLGEN. Er stellte auf Empfang, aber die Antwort ließ auf sich warten. »Funktioniert nicht!« rief Marta und starrte auf den leeren Schirm. »Der Computer weiß, daß du nicht Sarquist bist. Die Roboter auf der Straße haben uns ja gesehen.« »Was verstehst du unter wissen und unter sehen? Die Zentrale ist eine Maschine, kein Mensch.« »Sie weiß und sieht!« Er nickte. »Das stimmt, wenn du diese Begriffe in einem mechanischen Sinn verstehst. Wenn du also voraussetzt, daß sich die Zentrale nicht darum kümmert, was sie weiß und sieht. Denn die Maschine kümmert sich erst darum, ob ich Sarquist bin oder nicht, wenn man ihr das befohlen hat – durch Anweisungen oder Verordnungen.« Dann flimmerte die Antwort über den Bildschirm: ZENTRALE AN SARQUIST – WIDERSPRÜCHLICHE ANWEISUNGEN. VERORDNUNG 36-J BEZÜGLICH
SPEICHERUNG NEUER ANWEISUNGEN BESTIMMT, DASS SIE NICHT ALLE VERORDNUNGEN LÖSCHEN DÜRFEN AUSSER BEI FLIEGERALARM. »Siehst du?« zischelte das Mädchen. Er tippte die Antwort: UMREISSE MEINE VOLLMACHTEN IN GEGENWÄRTIGER LAGE. DARF ICH BESTIMMTE ANWEISUNGEN WIDERRUFEN? SIE DÜRFEN BESTIMMTE ANWEISUNGEN WIDERRUFEN, WENN SIE DAFÜR GRÜNDE ANGEBEN. GRÜNDE MÜSSEN FÜR JEDE VERORDNUNG, DIE WIDERRUFEN WIRD, NEU ANGEGEBEN WERDEN. Mitch grinste über das ganze Gesicht. Er tippte: BRAUCHE DIE REGISTRIERNUMMERN ALLER VERORDNUNGEN BETREFFEND STRAFGESETZ UND STRASSENVERKEHRSRECHT. Diesmal kam die Antwort sofort. Nummern huschten in rascher Folge über den Schirm. »Schreib mit!« rief Mitch dem Mädchen zu. Ein paar Sekunden später unterbrach eine Leuchtschrift die Nummernfolge: UNTERBRECHUNG DURCH KATASTROPHENFALL. Mitch runzelte die Stirn. Das Mädchen blickte vom Notizblock auf. Dann kam es. Ein dumpfes Rollen, daß die Fensterscheiben klirrten. »Hoffentlich nicht schon wieder ein Luftangriff!« sagte Marta. »Nein – das scheint etwas anderes…« Buchstaben leuchteten auf dem Schirm in rascher Folge auf: KATASTROPHENMELDUNG AN SARQUIST. ZIVILVERTEIDIGUNGSKOORDINATOR ZERSTÖRT. LUFTABWEHRKOORDINATOR ZERSTÖRT. ERWARTE ANWEISUNG. »Was ist geschehen?« »Frank Ferris!« rief Mitch. »Die Sugarton-Bande mit ihren Dynamitladungen! Sie sind in der Stadt!«
Er tippte schnell: SARQUIST AN ZENTRALE – WO BEFINDEN SICH DIE ZERSTÖRTEN KOORDINATOREN? UNTERIRDISCHE GEWÖLBE IM KARTENPLANQUADRAT K-81. »Also außerhalb der Stadt.« Mitch seufzte. »Sie sind noch nicht an die Hauptdatenspeicher herangekommen.« MIT AUFSTELLUNG DER REGISTRIERNUMMERN FORTFAHREN, befahl er der Zentrale.
Eine halbe Stunde später waren sie alle durchgegeben. Dann begann Mitch mit der zeitraubenden Aufgabe, alle Registriernummern zu wiederholen und hinter jeder die Anweisung zu setzen: WIDERRUFEN – STADT IST EVAKUIERT. »Ich höre Gewehrschüsse«, unterbrach ihn Marta und eilte ans Fenster. Die Straßen waren nur spärlich beleuchtet. Sie preßte das Gesicht gegen die Scheibe. Mitch arbeitete mit grimmiger Entschlossenheit. Die Bande würde Stunden brauchen, bis ins Herz der Stadt vorzudringen. Außer es gelang den Leuten, ein Roboterfahrzeug zu erwischen, es so einzustellen, daß sie damit fahren konnten. Doch wenn die Kerle genug Gewehre bei sich hatten, konnten sie die Roboter zerstören, bis die Zentrale aufgab und die Verteidigung einstellte. Dann würden sie ungehindert bis zu den Koordinatoren vordringen und sie in die Luft sprengen. Danach hörte natürlich das mechanische Leben der Stadt auf – das Licht erlosch, das Wasser versiegte. Die Bande würde die Stadt plündern und zerstören, die auf die Rückkehr der Menschen gewartet hatte. »Ich glaube, sie kommen durch diese Straße!« rief das Mädchen. »Dann dreh das Licht aus«, sagte er, »und verhalte dich ruhig!«
»Die Männer werden die vielen Polizisten vor dem Haus sehen. Sie werden sich fragen, was die hier alle wollen!« Seine Finger rasten. Er mußte alle Kennzahlen durch den Fernschreiber gejagt haben, ehe die Bande das Haus erreichte. Er untersagte der Zentrale jetzt alles, was sie bisher getan hatte. Wenn er alle Verordnungen widerrufen hatte, war der Computer nur noch ein hilfloses Stück Elektronik, das sich gegen Ferris Bande nicht wehren konnte – es sei denn, Mitch gelang es, die widerrufenen Verordnungen rechtzeitig durch neue Anweisungen zu ersetzen. »Bist du noch nicht fertig?« rief Marta am Fenster. »Sie sind nur noch ein paar Häuserblocks entfernt. Die Polizisten wehren sich nicht; aber die Männer schießen trotzdem auf sie.« »Ich bin fertig!« rief er und hämmerte wieder auf die Tasten. DIE WIDERRUFENEN ANWEISUNGEN WERDEN DURCH FOLGENDE NEUEN BESTIMMUNGEN ERSETZT: 1.: ROBOTER WERDEN IN UNBESCHRÄNKTER ZAHL EINGESETZT. 2.: MENSCHLICHE LEBEWESEN DÜRFEN KÖRPERLICH NICHT GESCHÄDIGT WERDEN. DAS GILT NICHT, WENN DIE ZENTRALEN KOORDINATOREN UND DATENANLAGEN VERTEIDIGT WERDEN MÜSSEN! 3.: DIE STRASSEN SIND SOFORT VON MECHANISCHEM VERKEHR ZU RÄUMEN. 4.: DIE ZENTRALEN KOORDINATOREN UND DATENSPEICHER WERDEN MIT ALLEN MITTELN VERTEIDIGT. 5.: DER MENSCH, DER IN DEINEM GEDÄCHTNISSPEICHER UNTER DEM NAMEN WILLIE JESSER REGISTRIERT IST, ERHÄLT ZU DEN
DATENSPEICHERN UND KOORDINATOREN UNBESCHRÄNKTEN UND UNBEFRISTETEN ZUTRITT. 6.: DIE ZENTRALE WIRD, SOWEIT ES IHR ÜBERHAUPT MÖGLICH IST, SELBSTÄNDIG. ALLE STÄDTISCHEN EINRICHTUNGEN FUNKTIONSTÜCHTIG ERHALTEN. 7.: DIE ZENTRALE WIRD ALLE MENSCHLICHEN LEBEWESEN VERHAFTEN, DIE BRÄNDE LEGEN, PLÜNDERN UND SACHWERTE ODER ANDERE MENSCHLICHE LEBEWESEN ANGREIFEN UND BESCHÄDIGEN. DIE VERHAFTETEN SIND UMGEHEND AUS DER STADT ZU ENTFERNEN. 8.: DIE ZENTRALE SETZT ALLE MITTEL UND KRÄFTE EIN, UM WILLIE JESSER ZU SCHÜTZEN UND ZU UNTERSTÜTZEN… »Sie sind da!« rief das Mädchen. »Sie kommen in den Garten!« … DIE STADT WIEDER AUFZUBAUEN. DIE ZENTRALE UNTERSTÜTZT WEITERHIN ALLE PERSONEN, DIE WILLIE JESSER DABEI HELFEN WOLLEN. Das Mädchen rüttelte an seiner Schulter. »Sie sind da – sie sind da!« Mitch drückte auf den Knopf: »Datenübermittlung.« Er lehnte sich zurück und lächelte sie an. Auf der Straße wurden Rufe laut, jemand hämmerte gegen die Tür. Dann hörte man die Stahlrollen der Robotpolizisten auf dem Asphalt. Sie waren noch zwei Straßen weit weg – aber es klang, als näherte sich eine gewaltige Streitmacht. Die Stimmen draußen verstummten. Gewehrfeuer knatterte. Doch die Roboter ließen sich nicht aufhalten. Die Rufe der Menschen wurden verzweifelt. »Jetzt schlägt unsere letzte Stunde«, flüsterte Marta. Mitch grinste nur und zündete sich eine Zigarette an. Fünfzig Männer konnten nicht lange ein paar
tausend Robotern widerstehen, die keine Rücksicht auf Ausfälle mehr zu nehmen brauchten. Er tippte eine letzte Anweisung in den Fernschreiber: WENN DIE PLÜNDERER VERHAFTET SIND, STELLT DIE ZENTRALE SIE VOR DIE WAHL: ENTWEDER BLEIBEN UND DIE STADT WIEDERAUFBAUEN ODER SICH ENTFERNEN UND NIE WIEDER ZURÜCKKOMMEN. Von jetzt an würde es niemand in der Stadt geben, der sich nicht aktiv am Wiederaufbau beteiligte. Mitch schaltete das Befehlsgerät aus und trat vor die Tür, um den ungleichen Kampf zwischen Banditen und Robotern zu beobachten. Jetzt fing seine Arbeit erst richtig an…
Originaltitel: DUMB WAITER. Copyright © 1952 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION April 1952. Übersetzt von Bodo Baumann