ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 27 von Philip K. Dick Bob Shaw Roger Zelazny R. A. Lafferty Frederik Pohl Domnic...
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 27 von Philip K. Dick Bob Shaw Roger Zelazny R. A. Lafferty Frederik Pohl Domnic Plachten A. A. Valde Brian W. Aldiss
ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2976 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Elisabeth Böhm
Umschlagillustration: ACB Alle Rechte vorbehalten WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1967 © 1967 by Donald Wollheim und Terry Carr Übersetzung © 1973 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1973 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02976 0
Douglas Quail wollte unbedingt zum Mars fliegen, wollte nur einmal im Leben ausbrechen aus dem langweiligen Alltag. Aber Reisen zum Mars waren nur ganz wenigen Leuten vorbehalten, und zu denen gehörte Douglas nicht. Aber Memo Call Incorporated macht’s möglich. Man versprach Douglas einen kompletten Trip zum Mars mit allem, was dazu gehörte – in seiner Erinnerung. Nach der Behandlung würde er sich an alle Einzelheiten der Reise erinnern, besser und nachhaltiger, als wenn er tatsächlich auf dem Mars gewesen wäre. Douglas unterzog sich der Behandlung und erinnerte sich plötzlich, daß er wirklich schon einmal auf dem Mars gewesen war, nur unter ganz anderen Umständen: als Geheimagent einer Organisation, die es sich nicht leisten konnte, einen ehemaligen Mitarbeiter frei herumlaufen zu lassen, der sich an alles wieder erinnerte… ERINNERUNG ZUM EINSTANDSPREIS von Philip K. Dick, und sieben weitere Science-FictionStories bekannter Autoren.
Philip K. Dick ERINNERUNG ZUM EINSTANDSPREIS
Er wachte auf – und sehnte sich nach dem Mars. Die Täler, dachte er. Zwischen den Bergen schweben. Je wacher er wurde, desto deutlicher wurde der Traum. Desto größer die Sehnsucht. Er spürte es fast körperlich, wie ihn die andere Welt umgab, die bisher nur Geheimagenten und hohe Beamte besucht hatten. »Stehst du jetzt endlich auf oder nicht?« fragte seine Frau Kirsten gereizt. »Wenn ja, dann stell die Platte unter dem Kaffeetopf an.« »Okay«, sagte Douglas Quail und ging barfuß vom Schlafzimmer ihres Con-Aps in die Küche. Nachdem er pflichtschuldigst die Platte angestellt hatte, setzte er sich an den Küchentisch und holte die gelbe kleine Büchse aus der Schublade, machte den Deckel auf und nahm sich eine Prise. Sofort befreite die Beau Nash Mixture seine Nase und brannte an seinem Gaumen. Die Mixtur weckte ihn vollends auf und verlieh seinen nächtlichen Träumen und ungestillten Wünschen etwas, was an die Realität ziemlich nahe herankam. Ich werde es schaffen, dachte er. Bevor ich sterbe, erlebe ich den Mars. Daß es nicht möglich war, wußte er sogar in seinen Träumen. Aber das Tageslicht und die verhaßten, wohlbekannten Geräusche – seine Frau bürstete sich im Moment die Haare – alles erinnerte ihn daran, wer er war: ein ganz mieser Angestellter, der auch noch dazu ganz mies verdiente. Kirsten
rieb ihm diese Tatsache wenigstens einmal täglich unter die Nase, und er konnte ihr deshalb nicht einmal böse sein; es war schließlich die Aufgabe einer Ehefrau, den Mann auf den Boden der Wirklichkeit zurückzuholen. Wirklichkeit ist gleich Erde, dachte er und lachte. »Was kicherst du denn da herum?« fragte seine Frau, als sie in ihrem langen rosa Morgenrock in die Küche gefegt kam. »Ich möchte wetten, daß du schon wieder träumst. Nichts als Träume im Kopf.« »Ja«, sagte er und betrachtete durch das Fenster die Hovercars, die Bänder der Trafficrunnels und die zahllosen kleinen, energiegeladenen Menschen, die zur Arbeit hasteten. In ein paar Minuten würde auch er mitten drin sein. Wie immer. »Mir kannst du nichts vormachen, es hat mit einer anderen Frau zu tun«, stichelte Kirsten. »Nein«, sagte er. »Mit einem Gott. Dem Kriegsgott. Der Mars hat unbeschreiblich schöne Krater mit unbeschreiblich schölten Pflanzen.« »Jetzt hör mir einmal gut zu«, sagte Kirsten in dem schulmeisterlichen Ton, den sie so gerne bevorzugte. »Der Grund des Meeres – unseres Meeres – ist unendlich viel schöner, das weißt du ganz genau. Jeder weiß es. Nimm dir eine Woche Urlaub, miete eine automatische Kiemenapparatur, und wir tauchen in eines dieser Aquazentren hinab. Sie haben das ganze Jahr über Saison. Aber, davon abgesehen – « Sie brach ab. »Du hörst mir ja gar nicht zu. Ich verstehe dich einfach nicht. Du bist von diesem blöden Mars geradezu besessen. Mein Gott, Doug, du bist verloren. Was soll bloß aus dir werden?« »Ich gehe jetzt«, sagte er und stand auf. Das Frühstück war vergessen.
Sie musterte ihn. »Du wirst von Tag zu Tag schlimmer. Immer fanatischer. Wo soll denn das noch hinführen?« »Auf den Mars«, sagte er und machte die Schranktür auf, um ein frisches Hemd herauszuholen.
Douglas Quail stieg aus dem Taxi, ging langsam über drei überfüllte Runnels und blieb vor dem modernen Eingang mit der verführerischen Anziehungskraft stehen. Wie oft hatte er die Leuchtschrift, die alle zwei Sekunden die Farbe wechselte, schon gelesen. Aber nie hatte er sich so nahe herangewagt. Heute war alles anders. Bald würde etwas geschehen. MEMO CALL INC War das die Lösung? Eine Illusion, ganz gleich wie überzeugend, war und blieb schließlich eine Illusion. Wenigstens objektiv gesehen. Aber subjektiv gesehen – genau das Gegenteil. Ganz abgesehen davon war er bestellt. Er holte tief Luft und sog die smog-verpestete Luft von Chicago tief in die Lungen, dann ging er durch den polychromatischen Schein des Eingangs und meldete sich bei der Empfangssekretärin. »Guten Morgen, Mr. Quail«, begrüßte ihn die gepflegte Blondine, die natürlich topless war. »Guten Morgen«, sagte er. »Ich bin wegen einer Memo-CallSitzung hier. Aber Sie wissen ja sicher Bescheid.« »Natürlich«, sagte die Sekretärin und nahm den Hörer des Videophons ab. »Mr. Douglas Quail ist da, Mr. McClane«, sagte sie. »Kann ich ihn reinschicken, oder ist es noch zu früh?« »Ich lasse bitten«, kam es aus dem Apparat.
Die Sekretärin bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Mr. McClane erwartet Sie, Mr. Quail. Zimmer D, zu Ihrer Rechten.« Die Angst war nur kurz. Er fand Zimmer D. Die Tür stand offen, hinter einem echten Mahagonischreibtisch saß ein sympathisch aussehender Mann Anfang vierzig, in einem tadellos sitzenden Anzug aus Krötenhaut, was der letzte Schrei war. Allein seine Ausstrahlung war für Quail der Beweis, daß er sich an den richtigen Mann gewandt hatte. »Nehmen Sie Platz, Mr. Quail«, sagte McClane und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Sie möchten also auf dem Mars gewesen sein. Sehr gut.« Quail setzte sich. Er war nervös. »Ich weiß eben nicht, ob sich die Ausgabe lohnt«, sagte er. »Es kostet eine Menge, und letztlich bekommt man nichts für sein Geld.« »Da täuschen Sie sich, Mr. Quail«, sagte McClane. »Sie bekommen sehr wohl etwas für Ihr Geld. Handfeste und sogar erfaßbare Beweise – wenn ich so sagen darf. Hier – sehen Sie.« Er kramte in seinem immensen Schreibtisch herum und brachte allerhand zum Vorschein. »Einmal das Ticket, Hinund Rückflug, dann frankierte und abgestempelte Postkarten, ein Schmalfilm mit Szenen, die Sie mit einer geliehenen 8mm-Kamera aufgenommen haben, dazu die Namen von Leuten, die Sie kennengelernt haben, Souvenirs im Wert von zweihundert Poscred – die übrigens erst vier Wochen nach Ihrer Rückkunft zugeschickt werden. Dann ein Paß mit den entsprechenden Stempeln, ein Impfpaß mit den nötigen Eintragungen und so weiter.« Er sah stolz zu Mr. Quail auf. »Dazu kommt, daß Sie überzeugt sein werden, dort gewesen zu sein. Sie werden sich nicht an uns erinnern, an mich auch nicht. Sie werden sich nicht einmal daran erinnern, hier bei mir gewesen zu sein. Wir garantieren Ihnen einen absolut echten Trip und detaillierte Erinnerung an zwei volle Wochen.
Bedenken Sie: wenn Sie je auch nur im leisesten daran zweifeln, wirklich und höchstpersönlich auf dem Mars gewesen zu sein, bekommen Sie Ihr Geld zurück.« »Aber trotzdem werde ich nicht dort gewesen sein«, sagte Quail. »Ganz gleich, welche Beweise Sie mir liefern, ich werde nicht körperlich dort gewesen sein.« Er seufzte. »Und ein Geheimagent der Interplan werde ich auch nicht gewesen sein.« Er konnte sich einfach nicht vorstellen – da konnten die Leute erzählen, was sie wollten – daß die Memo Call, Inc. in der Lage war, einem Gedächtnis auch das noch einzupflanzen. »Mr. Quail«, sagte McClane geduldig, »Sie haben uns doch in Ihrem Brief erklärt, daß Sie keine Möglichkeit haben, je den Mars zu besuchen. Daß nicht die geringste Aussicht für Sie besteht, Ihren Traum zu verwirklichen. Erstens können Sie sich eine so weite Reise nicht leisten, und zweitens – was der ausschlaggebende Punkt ist – würden Sie bei der Interplan oder einer ähnlichen Organisation nie als Geheimagent ankommen. Wir, die Memo Call, Inc. sind also die einzigen, die Ihren… äh… Ihren Wunsch erfüllen können. Habe ich nicht recht, Sir? Die Dinge, die Sie nicht verwirklichen können, können Sie jedoch verwirklicht bekommen. Und der Preis ist angemessen. Das müssen Sie zugeben.« »Ist die Extrafactuale Erinnerung denn so überzeugend und nachhaltig?« fragte Quail. »Überzeugender und nachhaltiger als die tatsächliche Erinnerung, Sir. Wenn Sie wirklich als Geheimagent der Interplan auf dem Mars gewesen wären, hätten Sie bereits eine Menge Einzelheiten Ihres Aufenthaltes dort vergessen. Unsere Analysen echter Memo-Systeme – also authentische Erinnerung an gravierende Ereignisse im Leben eines Menschen – haben uns bewiesen, daß eine große Anzahl von Details erstaunlich schnell vergessen sind. Und zwar für
immer. Die Dosis der Memo-Inplantation, die wir Ihnen verabreichen, ist so stark, daß nichts vergessen werden kann. Sie wird Ihnen zugeführt, solange Sie komatosiert sind, und sie ist das Ergebnis jahrzehntelanger Forschungsarbeit von hochqualifizierten Wissenschaftlern, die ihre Erfahrungen auf dem Mars gesammelt haben. Natürlich auch Experimente angestellt. Mr. Quail, Sie haben sich ja noch ein sehr einfaches Extrafactual-System ausgesucht. Wenn Sie sich den Pluto ausgesucht oder den Wunsch hätten, der Präsident der Innerplanetarischen Allianz zu sein, hätten wir weitaus größere Schwierigkeiten… und die Kosten, die Sie dann zu tragen hätten, wären unvergleichlich viel höher.« Douglas Quail griff nach seiner Brieftasche. »Okay«, sagte er. »Mein ganzes Leben lang sehne ich mich nun schon danach und werde es nie verwirklichen können. Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben.« »So dürfen Sie nicht denken«, sagte McClane ernst. »Sie erhalten keinen zweitklassigen Service. Die echten Erinnerungen mit der ganzen Verschwommenheit, den Verdrängungen und Verdrehungen – das ist schlechte Qualität.« Er nahm das Geld, das ihm Quail über den Schreibtisch reichte, und drückte auf einen Knopf. »So, Mr. Quail«, sagte er, als zwei starke Männer in das Büro kamen. »Jetzt sind Sie als Geheimagent auf dem Weg zum Mars.« Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und schüttelte Mr. Quail die nervöse, feuchte Hand. »Beziehungsweise«, setzte er hinzu, »Sie waren auf dem Weg, denn heute nachmittag um vier Uhr dreißig landen Sie wieder auf der Erde. Ein Taxi wird Sie vor Ihrem Con-Ap abliefern, und Sie werden sich nicht daran erinnern, je hier bei uns gewesen zu sein. Sie werden sich nicht einmal daran erinnern, daß wir überhaupt existieren.«
Mit strohtrockenem Mund folgte Douglas Quail den beiden Technikern aus dem Büro. Alles weitere hing von diesen zwei Männern ab. Ob ich wirklich glauben werde, auf dem Mars gewesen zu sein? dachte er. Ob ich mir echt einbilde, den Traum meines Lebens verwirklicht zu haben? Er hatte das ungute Gefühl, daß etwas schiefgehen würde.
Das Intercom auf McClanes Schreibtisch, das ihn mit den Behandlungsräumen der Firma verband, meldete sich mit einem Surren. »Die Sedative«, sagte eine Stimme, »sind verabreicht und wirken hundertprozentig. Wollen Sie den Fall persönlich übernehmen, oder sollen wir anfangen?« »Eine reine Routineangelegenheit«, sagte McClane. »Machen Sie nur, Lowe. Es wird keine Komplikationen geben.« Die artifizielle Erinnerung an eine Reise auf einen anderen Planeten einzupflanzen – ob als Geheimagent oder nicht – war das tägliche Brot der Firma. »Gut, Mr. McClane«, sagte die Stimme, und das Gerät schaltete sich mit einem Klicken ab. McClane ging in die Stahlkammer hinter seinem Büro und holte eine Reise zum Mars mit Geheimagentenzusatz heraus und kehrte mit den beiden Paketen zu seinem Schreibtisch zurück. Er setzte sich wieder und breitete den Inhalt vor sich aus – Ware, die in Quails Con-Ap verteilt werden mußte, solange die Techniker damit beschäftigt waren, dem Kunden die falsche Erinnerung einzupflanzen. Diese blöde Geheimwaffe in Form einer Whiskyflasche kostet uns das meiste Geld, dachte McClane. Da muß ein billigerer Weg gefunden werden. Außerdem ist das Ding zu sperrig.
Dazu kam ein Sender in Form einer Pille, die von den Agenten im Notfall einfach geschluckt wurde. Dann das CodeBuch, das erstaunlich echt wirkte. Die einzelnen Modelle der Firma waren äußerst gut ausgefeilt. In den meisten Fällen fehlerlose Kopien der Gegenstände, die der Secret Service der Vereinigten Staaten wirklich benutzte. Zur Standardausrüstung gehörten außerdem Dinge, die eigentlich keinen richtigen Sinn ergaben, die den Kunden aber als wohlbekannte Gegenstände erschienen, wenn sie ihre Memo-Plantationen hinter sich hatten: ein Fünfzig-Cent-Stück aus Silber, mehrere schnell hingekritzelte Zitate aus John Donnes Reden, jedes auf einem einzelnen hauchdünnen Zettel, einige Streichholzbriefchen von Bars auf dem Mars, ein Edelstahllöffel, in den Besitz des Nationalen Donne-Mars Kibbuzim eingraviert war, ein Telegramm, auf dem – Das Gerät auf dem Schreibtisch surrte. »Mr. McClane, verzeihen Sie, wenn ich störe, aber hier stimmt etwas nicht. Quail hat sehr gut auf das Narkidrine reagiert, er ist völlig betäubt und aufnahmefähig, aber – « »Ich komme sofort.« McClane stürzte aus dem Büro und war kurz darauf in dem Behandlungsraum, in dem Quail auf einer Hygienecouch lag. Sein Atem ging langsam und regelmäßig. Seine Augen waren geschlossen, aber trotzdem schien er die beiden Techniker und jetzt auch McClane zu erkennen, wenn auch nur sehr verschwommen. »Kein Platz, um falsche Memo-Strukturen einzupflanzen?« fragte McClane kurz. »Dann nehmen Sie doch einfach zwei Wochen Alltagsleben raus. Er ist Angestellter einer Einwandererbehörde und hat als Lohnempfänger des Staates ein Recht auf zwei Wochen Urlaub. Das müßte doch hinhauen.« Details dieser Art ärgerten McClane.
»Das ist nicht das Problem«, sagte Lowe und beugte sich über Quail. »Berichten Sie Mr. McClane, was Sie uns eben erzählt haben.« Er wandte sich wieder an seinen Vorgesetzten. »Hören Sie gut zu, Mr. McClane.« Die graugrünen Augen des Mannes, der auf der Couch angeschnallt war, richteten sich auf McClanes Gesicht. Sie wurden plötzlich hart und bekamen etwas Anorganisches. Wie Halbedelsteine. »Was wollen Sie wissen?« fragte Quail unfreundlich. »Sie haben mich entlarvt. Machen Sie, daß Sie rauskommen, bevor ich Sie auseinandernehme. Besonders Sie, McClane. Sie sind schließlich verantwortlich für diese Gegenoperation.« »Wie lange waren Sie auf dem Mars?« fragte Lowe. »Vier Wochen«, sagte Quail mit zusammengebissenen Zähnen. »Und der Grund Ihres Aufenthalts?« Quail kniff die schmalen Lippen zusammen und antwortete nicht. Dann huschte ein verächtliches, bösartiges Lächeln über sein Gesicht. »Ich war Geheimagent der Interplan. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Nehmen Sie denn nicht alles auf Band auf? Spielen Sie es Ihrem Boss vor und lassen Sie mich in Ruhe.« Er machte die Augen zu, und McClane atmete erleichtert auf. »Ein komplizierter Fall, Mr. McClane«, sagte Lowe. »Ach wo«, sagte McClane. »Wir müssen lediglich seine Memo-Kette durchbrechen. Dann ist er genauso friedlich wie vorher.« Er beugte sich über Quail. »Deshalb also Ihr dringender Wunsch, auf dem Mars zu sein.« »Ich wollte nie hin«, sagte Quail, ohne die Augen zu öffnen. »Ich wurde gezwungen. Gut, ich gebe zu, daß ich neugierig gewesen bin. Das ist schließlich normal.« Er machte plötzlich die Augen auf und fixierte die drei Männer, besonders McClane. »Die Droge, die Sie einem hier einverleiben, ist gar
nicht schlecht. Sie hat Dinge aus der Versenkung heraufgeholt, die ich total vergessen hatte.« Er runzelte die Stirn. »Ich frage mich bloß«, sagte er wie zu sich selbst, »ob Kirsten auch mit drinsteckt. Vielleicht als Kontaktperson, die auf mich aufzupassen hat… die dafür zu sorgen hat, daß ich mich nicht erinnere. Deshalb ist sie so dagegen und erzählt immer vom Meeresboden.« Er lächelte schwach. »Bitte, glauben Sie mir, Mr. Quail«, sagte McClane, »daß wir durch reinen Zufall dahintergekommen sind. In unserer Firma – « »Ich glaube es Ihnen«, schnitt ihm Quail das Wort ab. Er schien plötzlich sehr müde zu sein. Die Droge zog ihn immer tiefer hinunter. »Wo habe ich gesagt, bin ich gewesen? Auf dem Mars? Auf dem Mars, meinen Sie? ich kann mich kaum daran erinnern… ich weiß, daß es mich interessieren würde, wie es dort aussieht. Aber das geht wahrscheinlich jedem so. Das ist normal. Aber ich – « Seine Stimme wurde immer schwächer. »Bloß ein mieser kleiner Angestellter.« Lowe richtete sich wieder auf. »Er will eine falsche Erinnerung eingepflanzt bekommen, die der Reise entspricht, die er tatsächlich gemacht hat. Und einen falschen Anlaß, der in Wirklichkeit der echte Anlaß ist, beziehungsweise war. Er hat die Wahrheit gesagt. Das Narkidrine beherrscht ihn vollkommen. Die Erinnerung an seinen Aufenthalt auf dem Mars ist voll da. Wenigstens unter Einwirkung der Droge. Normalerweise scheint er sich allerdings nicht daran zu erinnern. Irgendeine Organisation, wahrscheinlich die Versuchslaboratorien der Regierung, haben ihm die Erinnerung ausgelöscht; er wußte lediglich, daß es für ihn etwas ganz Besonderes bedeutete, auf den Mars zu fliegen. Speziell deshalb, weil die Voraussetzung dazu der Geheimagent ist – oder war. Das auszulöschen ist ihnen nicht
gelungen, denn es hat mit Erinnerung nichts zu tun. Es ist eine Art Geltungsbedürfnis.« »Und was machen wir jetzt?« fragte der zweite Techniker, ein gewisser Keeler. »Sollen wir eine falsche Erinnerung auf die richtige packen? Was dabei herauskommt, kann man allerdings nicht voraussagen. Möglicherweise erinnert er sich trotzdem an den echten Aufenthalt auf dem Mars, und es kann zu einem psychotischen Zwischending kommen. Er wird sich möglicherweise gleichzeitig einbilden, auf dem Mars gewesen und nicht dort gewesen zu sein. Meiner Meinung nach sollten wir ihm die Gegendroge verpassen und ihn einfach wegschicken, ohne an ihm herummemoriert zu haben. Der Fall ist zu gefährlich.« »Einverstanden«, sagte McClane, als ihm noch ein Gedanke kam. »Können Sie voraussagen, was er von der Angelegenheit wissen wird und was nicht, wenn er wieder bei sich ist?« »Unmöglich«, sagte Lowe. »Wahrscheinlich kommen ihm ein paar Erinnerungsfetzen an seinen tatsächlichen Aufenthalt auf dem Mars, er wird aber stark daran zweifeln. Er wird sich einreden, daß er Scharlatanen zum Opfer gefallen ist. Er wird sich natürlich daran erinnern, daß er bei uns gewesen ist. Das bleibt – es sei denn, Sie wünschen, daß wir diese Erinnerung auslöschen.« »Je weniger wir an diesem Mann herumlaborieren, desto besser«, sagte McClane. »Lassen wir lieber die Finger davon. Es ist peinlich genug, daß wir das Pech hatten, einen echten interplanetarischen Spion auf diese Couch zu bekommen. Ein Spion, dessen Tarnung noch dazu so gut war, daß er selbst nicht einmal wußte, wer er war oder ist.« »Dann wird also auch nichts in seinem Con-Ap hinterlegt?«
»Nicht ein Stück«, sagte McClane. »Er bekommt sogar die Hälfte seines Geldes zurück.« »Die Hälfte? Wieso bloß die Hälfte?« »Weil mir das angemessen erscheint«, sagte McClane.
Als ihn das Taxi zu seinem Con-Ap im Wohngebiet von Chicago zurückbrachte, war Douglas Quail wirklich froh und erleichtert, wieder gesund auf die Erde zurückgekehrt zu sein. Der Vierwochen-Aufenthalt auf dem Mars verblaßte bereits in seiner Erinnerung. Seine Vorstellung von dem anderen Planeten bestand nur noch aus tiefen, gähnenden Kratern, aus unendlichen Hügelketten, aus Vitalität und ständiger Bewegung. Eine Welt des Staubs, wo sich wenig ereignete, wo ein Großteil des Tages damit verging, die Sauerstoffausrüstung zu überprüfen. Im Grunde absolut lächerlich, diese graubraunen Kaktus- und Kropfwürmer. Er hatte übrigens einige typische Beispiele der Marsfauna mitgebracht; er hatte sie durch den Zoll geschmuggelt. Sie bedeuteten schließlich keine Gefahr, denn in der schweren Atmosphäre der Erde konnten sie ja doch nicht überleben. Er griff in die Tasche und wollte den kleinen Container mit den Kropfwürmern herausholen, hatte aber plötzlich einen Briefumschlag in der Hand. Er machte ihn auf. Fünfhundertsiebzig Poscreds in kleinen Cred-Noten. Wo habe ich denn das her? fragte er sich. Ich habe doch alles – bis auf den letzten Cred – ausgegeben. Zwischen den Geldscheinen steckte ein Zettel mit dem Satz: Die Hälfte des Honorars zurück – McClane. Darunter stand das Datum. Das heutige Datum! »Memo-Call!« sagte Douglas Quail laut.
»Wen soll ich rufen. Sir oder Madam?« fragte der Roboter, der das Taxi bediente. »Haben Sie ein Phon-Buch?« fragte Quail. »Natürlich, Sir oder Madam.« Eine schmale Klappe öffnete sich, und ein Micro-Phon-Buch mit automatischer Sucheinrichtung kam heraus. Quail hatte die Adresse im Bruchteil einer Sekunde gefunden. »Bitte, zur Memo Call, Inc.«, sagte Quail zu dem Roboter. »Ich habe es mir anders überlegt. Ich will nicht nach Hause.« »Ja, Sir oder Madam.« Einen Moment später fuhr das Taxi in entgegengesetzter Richtung zurück. »Könnte ich einmal Ihr Phon benutzen?« fragte Quail. »Selbstverständlich«, sagte der Roboter, und ein nagelneues 3-D-Farbphon glitt aus der Armlehne neben Quail. Er wählte die Nummer seines Con-Aps. Nach einem Moment sah er das winzige, aber erschreckend realistische Abbild seiner Frau Kirsten auf dem Bildschirm, der nicht größer war als eine Briefmarke. »Ich war auf dem Mars«, sagte er zu ihr. »Du bist betrunken.« Vorwurfsvoll verkniffener Mund. »Es stimmt aber.« »Wann?« fragte sie. »Das weiß ich nicht.« Er war plötzlich verwirrt. »Wahrscheinlich bloß eine simulierte Reise. Mit Hilfe eines dieser artifiziellen oder extrafaktualen oder wie diese Erinnerungsinstitute auch heißen. Es hat nicht funktioniert.« »Natürlich bist du betrunken«, sagte Kirsten und unterbrach an ihrem Ende die Verbindung. Mit hochrotem Kopf legte Quail auf. Immer dasselbe, dachte er wütend. Von vornherein erst einmal vorwurfsvoll, und dann tut sie prinzipiell so, als wüßte
sie alles und ich gar nichts. Ist das ein Leben? Nein! Scheiße ist das. Einen Moment später hielt das Taxi an der Ecke vor einem modernen, sehr ästhetischen Gebäude mit einer Leuchtschrift über dem Eingang, die alle zwei Sekunden die Farbe wechselte: MEMO CALL INC. Die Empfangssekretärin, topless natürlich, sah ihn erstaunt an, hatte sich aber schnell wieder unter Kontrolle. »Oh, hallo, Mr. Quail«, sagte sie, eine Spur zu nervös. »Wie geht es Ihnen? Haben Sie etwas vergessen?« »Ich will den Rest«, sagte er. »Den Rest?« wiederholte sie. »Sie müssen sich irren, Mr. Quail. Sie wollten doch, daß man Ihnen – « »Ich erinnere mich an alles, Miss«, schnitt ihr Quail das Wort ab. »Ich habe dieser Firma einen Brief geschrieben – damit fing es an. Und dann war ich persönlich hier, bei Mr. McClane. Und anschließend war ich in einem Raum, wo mich zwei Techniker angeschnallt und mir eine Droge gegeben haben und so weiter und so fort.« »Mr. Quail«, sagte das Mädchen. »Sie sind zwar bloß ein kleiner Angestellter, aber Sie sind ein sehr gutaussehender Mann, und schlechte Laune entstellt Ihre Züge. Falls es Ihre Laune hebt, bin ich gern bereit, mit Ihnen auszugehen und – « Jetzt kam ihm erst richtig die Wut. »Auch an Sie erinnere ich mich ganz genau«, sagte er. »Ihre blau gesprayten Brüste, zum Beispiel, sind mir im Gedächtnis geblieben. Und ganz genauso das Versprechen Mr. McClanes, daß ich mein ganzes Geld zurückbekomme, wenn ich mich an die Memo Call Inc. erinnere. Wo ist McClane?« Nach der größtmöglichen Verzögerung, die die Sekretärin hatte herausschinden können, saß Quail wieder vor dem beeindruckenden Mahagonischreibtisch, genau wie vor einer Stunde oder zwei.
»Sie arbeiten mit seltsamen Methoden, mein Lieber«, sagte Quail, dessen Enttäuschung und Zorn mittlerweile beachtlich waren. »Meine sogenannte Erinnerung an einen Aufenthalt als Geheimagent auf dem Mars ist nebulös, zerrissen und voll von Widersprüchen. Dazu kommt, daß ich mich ganz genau an unser Gespräch hier erinnere. Man sollte den Fall wirklich der zuständigen Aufsichtsbehörde unterbreiten.« Quail kochte vor Wut. Er gehörte nicht zu denen, die sich übers Ohr hauen ließen. Schon gar nicht von solchen Typen. »Gut, Mr. Quail«, sagte McClane mit schuldbewußter und gleichzeitig sehr vorsichtiger Miene. »Wir kapitulieren. Sie bekommen den Rest Ihres Geldes zurück, weil wir einsehen müssen, daß wir nichts für Sie tun konnten.« »Sie haben mir ja nicht einmal die versprochenen Beweise geliefert, daß ich auf dem Mars gewesen bin. Erst große Reden schwingen und dann nichts. Rein gar nichts. Nicht einmal ein Ticket. Keine Postkarte, kein Paß, kein Impfpaß und auch keine – « »Moment, Mr. Quail«, fiel ihm McClane ins Wort. »Angenommen, ich würde Ihnen – Ach, lassen wir es.« Er schaltete sein Intercom ein. »Shirley, bitte einen Barscheck über fünfhundertsiebzig Cred auf den Namen Douglas Quail. Vielen Dank.« Er sah Quail wieder an. Der Scheck wurde schon nach wenigen Sekunden vor McClane auf den Schreibtisch gelegt. Die Sekretärin verschwand sofort wieder. »Ich möchte Ihnen aber doch noch einen Rat geben, Mr. Quail«, sagte McClane, während er den Scheck unterschrieb. »Sprechen Sie mit niemand über Ihren… äh… Flug zum Mars.« »Über welchen Flug zum Mars?« »Tja, das ist es ja gerade. Ich spreche von dem Flug, an den Sie sich nur zum Teil erinnern können. Tun Sie so, als würden
Sie sich gar nicht daran erinnern. Als hätte diese Reise nie stattgefunden. Fragen Sie mich nicht warum, sondern befolgen Sie meinen Rat.« Der Schweiß stand Mr. McClane auf der Stirn. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Mr. Quail. Ich habe noch zu tun. Kunden warten auf mich.« Er stand auf und brachte Quail zur Tür. »Eine Firma«, sagte Quail boshaft, »die so schlechten Service bietet, sollte gar keine Kunden haben.« Hocherhobenen Hauptes ging er an der Sekretärin vorbei. Auf seinem Heimweg überlegte er sich den Text seines Beschwerdebriefes an die zuständige Behörde. Nicht mit ihm! Außerdem mußten auch andere gewarnt werden und sollten nicht auf den Schwindel hereinfallen. Zu Hause in seinem Con-Ap setzte er sich vor seine tragbare Hermes Rocket, zog die Schubladen des Tisches darunter auf und suchte nach Kohlepapier. Dabei fiel ihm ein kleiner wohlbekannter Container in die Hand. Natürlich! Er erinnerte sich, ihn durch den Zoll geschmuggelt zu haben. Quail machte den Deckel auf und sah zu seinem Erstaunen sechs tote Kropfwürmer in dem Behälter liegen. Sie waren staubig und völlig vertrocknet. Einen ganzen Tag hatte er zwischen großen, schwarzen Gesteinsbrocken herumgesucht, bis er die Beute gefunden hatte. Es war ein sehr aufregender Tag gewesen. Voll von Abenteuern. Aber ich war ja gar nicht auf dem Mars, dachte er. Aber andererseits – Seine Frau Kirsten erschien in der Tür, zwei dicke Einkaufstüten in den Armen. »Was machst du denn mitten am Tag zu Hause?« fragte sie mit der üblichen vorwurfsvollen Stimme.
»War ich auf dem Mars?« fragte er. »Du weißt doch immer alles, dann mußt du auch wissen, ob ich auf dem Mars gewesen bin oder nicht.« »Du warst natürlich nicht auf dem Mars«, sagte sie gereizt. »Das weißt du selbst ganz genau. Sonst würdest du ja nicht pausenlos davon reden, daß du auf den Mars willst.« »Ich fürchte, ich war doch schon dort.« Er schüttelte den Kopf. »Und gleichzeitig denke ich, daß ich nicht dort gewesen bin.« »Bist du nun dort gewesen oder nicht?« »Das ist es ja gerade – ich weiß es nicht«, sagte er, mittlerweile auch ziemlich gereizt. »Ich habe Erinnerungen an beides, weiß aber nicht, welche Erinnerung gilt und welche nicht. Auf dich ist auch kein Verlaß. Haben sie dich vielleicht auch in der Mangel gehabt?« »Doug, wenn du dich nicht zusammenreißt, dann sind wir miteinander fertig. Dann verlasse ich dich.« Ihr Ton war kalt. »Merkst du denn nicht, daß ich der Verzweiflung nahe bin?« sagte Quail mit zitternder Stimme. »Wahrscheinlich bin ich nicht mehr ganz normal – vielleicht ist das der Grund. Zumindest wäre es eine Erklärung.« Kirsten stellte die Einkaufstüten auf den Boden und machte den Wandschrank auf. »Es war keine leere Drohung, Doug«, sagte sie, holte ihren Mantel heraus, zog ihn an und ging zur Tür. »Ich gehe. Ich rufe dich dann irgendwann einmal an. Ich hoffe, du kommst eines Tages wieder zu dir. Ich hoffe es wirklich.« »Bitte, Kirsten!« Quail hätte am liebsten losgeheult. »Sag mir doch wenigstens noch, ob ich auf dem Mars gewesen bin oder nicht?« Die Tür fiel ins Schloß. Seine Frau hatte ihn verlassen. »Das wäre erledigt«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Hände hoch, Quail. Und umdrehen.«
Quail drehte sich automatisch um, die Hände hob er allerdings nicht. Der Mann vor ihm trug die dunkelviolette Uniform der Interplan Police. Die Waffe in seiner Hand stammte aus UNO Beständen. Irgendwie kam ihm der Mann nicht fremd vor, aber woher er ihn kennen sollte, wußte Quail auch nicht. In seiner Not hob er nun doch die Hände. »Sie erinnern sich an Ihren Flug zum Mars«, sagte der Beamte. »Wir wissen, was Sie heute unternommen und gedacht haben – vor allem auf dem Weg von der Memo Call Inc. nach Hause. Wir haben einen Telep-Sender in Ihren Schädel eingepflanzt und sind damit über jeden Ihrer Gedanken informiert.« Einen telepathischen Sender; mit Hilfe eines Plasmas, das man auf Luna entdeckt hatte. Quail schauderte zusammen. Im Moment ekelte es ihn vor sich selbst. Das Zeug lebte in seinem Hirn, spionierte ihn aus und denunzierte. »Warum denn ausgerechnet ich?« fragte Quail. Was hatte er denn getan oder gedacht, was ihnen nicht paßte? Und was hatte das alles mit der Memo Call Inc. zu tun? »Mit der Memo Call Inc. hat es im Grunde nichts zu tun«, sagte der Beamte und tippte an sein rechtes Ohr. »Ich höre Ihre Gedanken ab, Quail.« Jetzt erst bemerkte Quail den kleinen weißen Plastikknopf im Ohr des Mannes. »Ich muß Sie warnen, Quail«, fuhr der Beamte fort. »Jeder Gedanke, den Sie denken, kann Ihnen zum Nachteil werden.« Er lächelte. »Aber jetzt ist das auch schon egal. Sie haben bereits zu viel gedacht und gesagt. Sie sind verloren. Das Unangenehme ist bloß, daß Sie unter dem Einfluß von Narkidrine bei der Memo Call Inc. dem Besitzer der Firma und seinen zwei Technikern gesagt haben, daß Sie auf dem Mars gewesen sind, warum Sie dort waren und für wen. Aber dem
nicht genug, Sie haben auch noch ausgeplaudert, was Ihre Mission gewesen ist. Die Leute sind zu Tode erschrocken. Sie würden etwas darum geben, Sie nie zu Gesicht bekommen zu haben.« »Aber ich bin doch gar nicht auf dem Mars gewesen«, sagte Quail. »Es handelt sich nur um falsche Erinnerungen, die mir von McClanes Technikern eingepflanzt worden sind.« Und der Container mit den vertrockneten Kropfwürmern, dachte er. Ich erinnere mich genau daran, wie mühsam ich die kleinen Viecher zusammengesammelt habe. Oder stammen sie auch von McClane? Sind sie ein Teil des Beweismaterials, von dem McClane geredet hat? Die Erinnerung an meinen Aufenthalt auf dem Mars ist nicht überzeugend, dachte er. Wenigstens für mich nicht, aber für die Interplan Police offensichtlich schon. Sie glauben, daß ich wirklich auf dem Mars gewesen bin und mich, zumindest teilweise, daran erinnere. »Wir wissen nicht nur, daß Sie auf dem Mars gewesen sind«, fing der Beamte seinen Gedanken auf, »sondern auch, daß Sie sich an Dinge erinnern, die für uns gefährlich werden können. Wir fangen gar nicht erst damit an, das auslöschen zu wollen, was in Ihrer Erinnerung aufgetaucht ist, denn dann würden Sie sofort wieder zur Memo Call Inc. laufen, und alles würde von vorn anfangen. Gegen McClane und seine Leute können wir nichts unternehmen, denn wir haben keine Rechtsgewalt gegen ihn. Ganz abgesehen davon hat dieser McClane nichts verbrochen.« Er bedachte Quail mit einem schiefen Blick. »Sie eigentlich auch nicht. Es ist uns völlig klar, daß Sie sich nicht an die Memo Call Inc. gewandt haben, um ihre Erinnerung wiederzubekommen, sondern eben einfach so – aus Abenteuerlust. Leider haben Sie aber das Abenteuer schon hinter sich, und die Lust sollte gestillt sein. Ihr Besuch bei Memo Call war nicht nur völlig unnötig, er war
selbstmörderisch. Absolut tödlich. Für Sie selbst, für uns und für McClane.« »Aber«, sagte Quail, »warum ist es denn für Sie so unangenehm, daß ich mich an meinen Aufenthalt auf dem Mars erinnere?« »Weil Sie sich auch daran erinnern, was Sie auf dem Mars getan haben, und das, was Sie getan haben, nicht zu unserem Image paßt. Sie haben für uns das erledigt, was man uns nie zutrauen würde. Der kleine Container mit den toten Kropfwürmern liegt seit Ihrer Rückkehr, also seit sechs Monaten, in dieser Schublade. Bis zum heutigen Tag war Ihnen der Container völlig gleichgültig. Wir wußten nicht einmal, daß er existiert, bis Sie sich auf dem Rückweg von der Memo Call Inc. daran erinnert haben. Wir haben sofort sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, Ihnen zuvorzukommen. Leider war die Zeit gegen uns, und Sie haben den Container gefunden.« Ein zweiter Beamter der Interplan Police kam herein und beriet sich kurz mit dem ersten. Quail überlegte fieberhaft. Er erinnerte sich an immer mehr Details. Verfluchtes Narkadrine. Wahrscheinlich benutzte es die Interplan Police ebenfalls. Wahrscheinlich? Er wußte nur zu gut, daß es der Fall war. Hatte er doch mit eigenen Augen gesehen, wie sie einem Gefangenen die Droge verpaßt hatten. Aber wo? Wo war das gewesen? Auf Luna? Plötzlich erinnerte er sich auch daran, warum sie ihn auf den Mars geschickt hatten und was er dort erledigt hatte. Kein Wunder, daß sie ihm die Erinnerung ausgelöscht hatten. »Verdammt«, sagte der Beamte, der zuerst dagewesen war und Quails Gedanken immer noch verfolgte. »Das Problem wird immer komplizierter.« Er richtete die Waffe auf Quails Brust. »Wir müssen Sie liquidieren. Und zwar auf der Stelle.«
»Wieso denn auf der Stelle?« fragte der zweite Beamte nervös. »Können wir ihn nicht an die Zentrale in New York abschieben? Sollen die doch – « »Er weiß, warum es auf der Stelle sein muß«, sagte der andere, der inzwischen sehr nervös war, aber aus einem ganz anderen Grund. Quail erinnerte sich mittlerweile fast an alles und verstand die Nervosität des Beamten nur zu gut. »Ich habe«, sagte er mit gespannter Stimme, »auf dem Mars einen Mord begangen. Ich habe ein Attentat ausgeführt. Die fünfzehn Leibwächter haben meinem Opfer auch nichts genützt.« Fünf ganze Jahre lang hatte man ihn zum Berufsmörder ausgebildet. Zum Killer. Bewaffnete Gegner aus dem Feld zu schlagen, war für ihn kein Problem. Auch solche wie diese beiden Be amten, von denen der mit dem Plastikknopf im Ohr die Situation voll erfaßt hatte. Wenn er schnell genug reagierte – Die Waffe ging los, aber Quail war schon zur Seite gesprungen und hatte gleichzeitig den Beamten mit einem trockenen, wohlgezielten Schlag zu Boden geschickt. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er die Waffe an sich gebracht und bedrohte damit den anderen, der noch nicht begriffen hatte, was passiert war. »Er hat meine Gedanken abgehört«, sagte Quail keuchend. »Er wußte, was ich vorhatte, konnte aber nichts gegen mich unternehmen.« Der Beamte, den Quail niedergeschlagen hatte, setzte sich mühsam auf und schüttelte wie ein nasser Hund den Kopf. »Du brauchst keine Angst zu haben, Sam«, sagte er. »Ich entnehme seinen Gedanken, daß er nicht auf dich schießt. Los, Quail!« Er stand mit zitternden Knien auf und lehnte sich an die Wand. »Her mit der Waffe. Sie sind am Ende. Das wissen
Sie ganz genau, und ich weiß es auch. Wenn Sie mir die Waffe geben, verspreche ich Ihnen, Sie nicht zu töten. Man wird Ihnen die Möglichkeit geben, zu reden und sich zu verteidigen, und dann wird man entscheiden, was mit Ihnen geschehen soll. Sie sind ein Fall für die höheren Stellen – nicht für mich. Vielleicht gelingt es, Ihre Erinnerung noch einmal wegzuräumen. Ich für meine Person konnte Sie nicht daran hindern, auch die letzten und schwerwiegendsten Punkte in Ihr Gedächtnis zurückzuholen, deshalb ist mein Grund, Sie liquidieren zu wollen, eigentlich schon überholt.« Quail, die Waffe fest in der Hand haltend, stürzte aus dem Con-Ap und war mit einem Satz im Lift. Wenn ihr mir folgt, dachte er, bring ich euch um. Ich warne euch! Er drückte auf den Knopf, die Tür des Lifts glitt zu. Die Beamten folgten ihm nicht. Der eine hatte Quails Gedanken aufgenommen und hielt den Kollegen zurück. Sie waren doch nicht blöd. Ihr Leben riskieren? Nein! Der Lift glitt nach unten. Quail hatte es geschafft, seiner Hinrichtung zu entkommen. Oder sie wenigstens aufzuschieben. Aber – was nun? Wohin sollte er sich wenden? Der Lift hielt. Quail stieg aus und war einen Moment später schon in dem Strom der Passanten untergetaucht, die über die Runnels hasteten. Sein Kopf schmerzte, sein Magen vibrierte. Aber dem Tod war er wenigstens entkommen. Fast hätten sie ihn in dem eigenen Con-Ap abgeknallt. Liquidiert – wie sie es nannten. Aber ablassen von dir werden sie nicht, dachte er. Mit diesem Sender in deinem Hirn haben sie dich schnell wieder. Irgendwie ein bösartiger Witz: er hatte genau das bekommen, was er von der Memo Call Inc. gefordert hatte. Abenteuer, Gefahr, die Interplan Police auf den Fersen, einen Geheimauftrag auf dem Mars, der sein Leben gefährdete –
alles, was er sich als künstliche Erinnerung hatte erkaufen wollen. Nur die Vorteile, die eine künstliche Erinnerung gebracht hätte, blieben ihm versagt.
Quail saß allein auf einer Bank im Park und hing seinen Gedanken nach. Vielleicht schaffe ich es, auf den Mars zu fliehen, dachte er. Und dort? Würde es dort nicht noch schlimmer sein? Die politische Organisation, deren Anführer er ermordet hatte, wäre hinter ihm her, noch ehe er einen Fuß auf den Planeten gesetzt haben würde. Sie und die Interplan Police obendrein. Ob sie mich schon wieder abhören? Am Ende dieser Einbahnstraße wartete der Verfolgungswahn auf ihn. Bereits hier auf der Bank spürte er es: denken, abhören, aufzeichnen, diskutieren… Er schauderte zusammen, stand auf und ging ziellos durch die Straßen, die Hände tief in die Taschen vergraben. Ganz gleich, wo ich mich hinwende, dachte er, sie sind dabei. Das Ding in meinem Kopf ist mein größter Feind. Der Verräter schlechthin. Ich schlage ihnen einen Handel vor, dachte er für sich selbst – und für die anderen. Könnt ihr mir nicht noch einmal eine falsche Erinnerung einpflanzen? Könnt ihr nicht ein zweites Mal einen ganz normalen miesen kleinen Angestellten aus mir machen, der noch nie auf dem Mars gewesen ist? Der noch nie eine Interplan Police Uniform gesehen und noch nie eine von diesen gefährlichen Waffen in der Hand gehabt hat? Man hat Ihnen bereits auseinandergesetzt, daß das nicht möglich ist, antwortete etwas in seinem Gehirn. Erschreckt blieb Quail stehen.
Die Kommunikation mit Ihnen fand früher nur auf diese Weise statt, sagte die Stimme in seinem Gehirn. Als Sie noch im Einsatz waren. Auf dem Mars. Seit sechs Monaten allerdings haben wir uns nicht mehr bei Ihnen gemeldet, weil wir es für unnötig hielten. Wo sind Sie? »Ich gehe«, sagte Quail. »Meinem Tod entgegen… Woher wissen Sie, daß es nicht möglich ist? Haben Sie so wenig Vertrauen zur Memo Call Inc.?« Der Fall liegt anders, kam die Antwort. Wenn man Ihre Erinnerung an die tatsächlichen Ereignisse noch einmal löscht und Ihnen ganz, normale, durchschnittliche Erinnerungen eingibt, befällt Sie wieder Ihre alte Ruhelosigkeit, und Sie suchen die Memo Call Inc. oder ein ähnliches Institut auf, und das Ganze fängt von vorn an. »Moment«, sagte Quail, »was heißt hier ganz normale, durchschnittliche Erinnerungen? Sie müssen mir eben außergewöhnliche Erinnerungen eingeben. Solche, die keine Ruhelosigkeit aufkommen lassen und meine Sensationslust befriedigen. Wenn ich nicht ein Mensch wäre, der den Drang hat, etwas zu erleben, was aus der Norm fällt, dann hätten Sie mich nie zum Agenten ausgebildet. Sie müßten doch etwas auf Lager haben, was dem entspricht. Zum Beispiel könnte ich der reichste Mann auf Terra sein und mein ganzes Vermögen dem Erziehungswesen zur Verfügung gestellt haben. Oder ich könnte ein berühmter Raumforscher sein. So etwas. Wäre das nicht eine Möglichkeit? Durchführbar ist es doch, oder?« Stille. »Versuchen Sie es doch«, drängte Quail. »Sie müssen einen von diesen Militärpsychiatern einschalten und meine Psyche prüfen lassen. Er soll herausfinden, was mein stärkster Wunsch ist.« Er dachte nach. »Frauen vielleicht. Unzählige Frauen – wie bei Don Juan. Ein Interplanetarischer Playboy mit einer Geliebten in jeder Stadt auf Terra, Luna und Mars. Oder
vielleicht lieber ein Interplanetarischer Playboy im Ruhestand. Sie müssen es versuchen.« Das heißt, daß Sie sich freiwillig stellen würden, wenn wir uns bereit erklären, diese Lösung zu versuchen? »Ja«, sagte Quail nach kurzem Zögern. Ich muß das Risiko eingehen, dachte er. Dann handeln Sie, sagte die Stimme in seinem Kopf. Kommen Sie auf der Stelle zu uns. Wir werden sehen, was sich machen läßt. Wenn das Experiment allerdings nicht gelingt, und Ihre echten Erinnerungen wieder aus der Versenkung auftauchen, dann… dann müssen wir Sie liquidieren. Sie müssen das verstehen, Quail. Also, wollen Sie es trotzdem versuchen? »Ja«, sagte Quail. Dann melden Sie sich so schnell wie möglich in der Zentrale in New York. Man wird sofort mit dem Experiment beginnen. Persönlichkeitstests und dergleichen werden den dringlichsten Wunsch, den Sie ein Leben lang verdrängt haben, in Ihr Bewußtsein holen. Wenn das erledigt ist, wird man Memo Call hier in Chicago beauftragen, Ihnen die entsprechenden Erinnerungen einzupflanzen – was hoffentlich gelingen wird. Wir auf alle Fälle wünschen es Ihnen, denn wir schätzen Sie insofern, als Sie ein brauchbares Instrument für uns gewesen sind. Die Organisation hatte also Mitleid mit ihm. Wenigstens das. »Vielen Dank«, sagte Quail und suchte sofort nach einem Taxi. »Mr. Quail«, sagte der ältliche Interplan Psychiater mit ernstem Gesicht. »Ich muß Ihnen Dinge eröffnen, die Sie nicht für möglich halten werden. Der hervorstechendste und intensivste Ihrer verdrängten Wunschträume ist recht außergewöhnlich. Ich hoffe, Sie werden sich nicht allzu sehr
aufregen, wenn ich Ihnen auseinandersetze, worum es sich handelt.« »Er kann es sich gar nicht leisten, sich allzusehr aufzuregen«, spottete der Interplan-Offizier, der an der Besprechung teilnahm, »sonst ist es nämlich um ihn geschehen.« »Ganz im Gegensatz zu dem Wunsch, ein Interplanetarischer Geheimagent zu sein«, fuhr der Psychiater fort, »ist Ihr stärkster Wunsch kein Produkt von Reife und Erwachsen sein, sondern ein Produkt von geradezu grotesker Kindlichkeit. Kein Wunder also, daß Sie ihn so erfolgreich verdrängt haben. Es handelt sich um Folgendes: Sie sind ein Junge von neun Jahren und gehen einen Feldweg entlang. Plötzlich landen mehrere Raumschiffe von einem fremden Planetensystem direkt vor Ihren Augen. Außer Ihnen, Mr. Quail, merkt niemand auf der ganzen Erde etwas davon. Die Kreaturen, die aus den Raumschiffen strömen, sind sehr klein und verwundbar – man könnte sie vielleicht mit Feldmäusen vergleichen. Trotz ihrer Hilflosigkeit haben sie aber vor, die Erde in ihren Besitz zu bringen, was insofern kein Irrwahn ist, weil es Milliarden und Abermilliarden dieser Kreaturen gibt und diejenigen, die vor Ihren Augen gelandet sind, nur die Vorhut bilden.« »Und ich verhindere die Invasion«, sagte Quail halb amüsiert, halb verächtlich. »Ganz allein und ohne fremde Hilfe. Ich trete sie einfach tot.« »Nein«, sagte der Psychiater geduldig. »Sie verhindern zwar die Invasion, aber nicht, indem Sie die Kreaturen zerstören, sondern indem Sie freundlich zu ihnen sind und Gnade walten lassen, obwohl Sie durch Telepathie – das einzige Kommunikationsmittel dieser Kreaturen – wissen, warum sie auf der Erde gelandet sind. So menschliche Züge, wie Sie sie an den Tag legen, Mr. Quail, sind den Kreaturen noch nie begegnet, und sie sind so fassungslos, daß sie zum Dank einen Kompromiß mit Ihnen eingehen.«
»Sie versprechen mir«, sagte Quail, »die Erde nicht in ihren Besitz zu nehmen, solange ich am Leben bin.« »Genau«, sagte der Psychiater und wandte sich an den Offizier. »Sehen Sie, wie stark dieser Wunschtraum seiner Persönlichkeit entspricht – womit wieder einmal bewiesen sein dürfte, daß erlernte Talente – wie in seinem Fall das Morden – nicht als fester Bestandteil in den Charakter eingehen.« »Allein durch meine Existenz also«, sagte Quail, der in seiner Freude überhaupt nicht zugehört hatte, »allein durch die Tatsache, daß ich am Leben bin, bewahre ich die Erde vor Knechtschaft. Ich bin also, wenn man ehrlich ist, die wichtigste Person auf Terra. Und das, ohne auch nur einen Finger zu rühren.« »Genauso ist es, Sir«, sagte der Psychiater. »Es steckt so tief in Ihnen drin, daß nichts, aber auch gar nichts diesen Wunschtraum in Ihnen zerstören oder von Ihrer Psyche lösen könnte.« Der Interplanetarische Offizier wandte sich an McClane, den man auch zugezogen hatte. »Sind Sie in der Lage, diesem Mann eine extrafaktuale Erinnerung einzupflanzen, die diesem absurden Wunschtraum Wirklichkeit verleiht?« »Ich habe schon absurdere Dinge erlebt«, sagte McClane arrogant. »Natürlich sind wir dazu in der Lage. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wird sich Mr. Quail nicht nur wünschen, die Erde gerettet zu haben, er wird hundertprozentig davon überzeugt sein, daß er tatsächlich der Erlöser ist, der Messias sozusagen.« »Dann fangen Sie sofort an«, sagte der Offizier. »Zur Vorsorge haben wir die Erinnerung an seinen Aufenthalt auf dem Mars bereits wieder gelöscht.« »Welchen Aufenthalt auf dem Mars?« fragte Quail.
Seine Frage wurde nicht beantwortet, und Quail wagte nicht, sie zu wiederholen. Außerdem stand bereits alles auf und ging hinaus, wo die Limousine wartete, die ihn in Begleitung von McClane und dem Offizier nach Chicago zur Memo Call Inc. bringen sollte. »Ich warne Sie«, sagte der Offizier zu dem nervösen Mr. McClane. »Diesmal darf Ihnen kein Fehler unterlaufen.« »Ich wüßte nicht, was schiefgehen sollte«, sagte McClane, dem der Schweiß auf der Stirn stand. »Diese Sache hat weder mit dem Mars noch mit Interplan etwas zu tun. Quail bewahrt die Erde vor einer Invasion.« Er schüttelte den Kopf. »Puh, was sich Kinder so ausdenken können!« Er tupfte sich die Stirn mit einem blütenweißen Taschentuch ab. Schweigen. »Irgendwie rührend«, sagte McClane. »Aber reichlich vermessen und arrogant«, sagte der Interplan Offizier. »Um so mehr, als die Invasion stattfindet, sobald er stirbt.« Er bedachte Quail mit einem schiefen Blick. »Und ausgerechnet so jemand bilden wir zum Agenten aus.«
Bei der Memo Call Inc. angekommen, begrüßte Shirley die Delegation atemlos. Ihre melonenförmigen Brüste – heute orangefarben gesprayt – hüpften auf und ab. Lowe und Keeler wurden gerufen und übernahmen Quail. Sie führten ihn in einen der Behandlungsräume, während McClane den Offizier in sein Büro bat. »Haben wir Zubehör für so einen Fall vorrätig, Mr. McClane?« fragte Shirley und stieß in ihrer Aufregung mit dem Chef zusammen. »Ich denke schon«, sagte McClane und versuchte, sich zu erinnern, aber ohne Erfolg. Er holte den Katalog aus dem Schreibtisch. »Wir nehmen eine Kombination«, sagte er
schließlich. »System einundachtzig, System zwanzig und System sechs.« Er holte die Pakete selbst aus der Stahlkammer hinter seinem Büro und stellte sie auf den Schreibtisch. »Aus einundachtzig nehmen wir den Zauberstab«, sagte er. »Er ist ein Geschenk der Dankbarkeit und wurde ihm von den Feldmäusen in aller Feierlichkeit überreicht.« »Funktioniert das Ding?« fragte der Offizier mißtrauisch. »Es hat einmal funktioniert«, antwortete McClane. »Aber mittlerweile ist der Stab – wie Sie sehen – reichlich abgenützt.« Er lachte krampfhaft und machte das System zwanzig auf. »Hier das Dankesschreiben des Generalsekretärs der UNO. Das Schreiben ist nicht ganz passend, weil sich Quail ja einbilden wird, der einzige zu sein, der von seiner guten Tat weiß, aber aus Gründen der Wahrscheinlichkeit sollten wir es ruhig benutzen.« Er machte das letzte Paket auf. Was es enthielt, wollte ihm um nichts in der Welt einfallen. Mit gerunzelter Stirn griff er in die Plastiktüte. »Die Schrift«, sagte Shirley in dem Moment sehr passend, »ist eine seltsame Sprache.« »Aha«, sagte McClane und atmete erleichtert auf. »Hiermit wissen wir, wer diese Kreaturen sind und woher sie kommen. In diese Karte des Sternenhimmels ist die genaue Flugbahn eingezeichnet – natürlich mit Hilfe ihres Koordinatensystems, das Quail nicht entschlüsseln kann, aber er erinnert sich daran, es von den Feldmäusen erklärt bekommen zu haben.« Er legte die drei Artefakte mitten auf den Schreibtisch. »Diese Dinge müssen in Quails Con-Ap hinterlegt werden.« In dem Moment surrte das Intercomgerät auf dem Schreibtisch. »Mr. McClane – « es war Lowes Stimme – »verzeihen Sie, wenn wir Sie stören müssen, aber wir stoßen schon wieder auf
seltsame Dinge. Vielleicht könnten Sie sich in den Behandlungsraum bemühen. Wie auch beim erstenmal reagiert Quail ausgezeichnet auf die Droge. Er ist nicht mehr bei Bewußtsein, ist ruhig und aufnahmefähig, aber – « McClane stürzte in den Behandlungsraum. Quail atmete langsam und regelmäßig. Seine Augen waren halb geschlossen. Er schien seine Umgebung verschwommen wahrzunehmen. »Wir haben damit angefangen, ihn auszufragen«, berichtete Lowe mit bleichem Gesicht. »Schließlich müssen wir wissen, in welchem Zeitabschnitt seines Lebens wir die falsche Erinnerung an seine gute Tat einpflanzen sollen. Und zu unserem Schrecken – « »Sie haben mir ausdrücklich gesagt, daß es niemand erfahren darf«, schnitt Douglas Quail dem Techniker das Wort ab. »Auf Grund meines Versprechens kam ja der Vertrag erst zustande. Ich hätte mich nicht einmal daran erinnern dürfen. Aber wie kann man denn ein so gravierendes Ereignis vergessen?« Großer Gott, dachte McClane. »Sie haben mir sogar ein Geschenk gemacht, das mir ihre Dankbarkeit beweisen sollte«, fuhr Quail mit benommener Stimme fort. »Es handelt sich um ein Schriftstück. Ich habe es in meinem Con-Ap versteckt. Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen.« McClane drehte sich zu dem Offizier um, der ihm gefolgt war und nun hinter ihm stand. »Ich würde Ihnen raten«, sagte er und hielt dabei die Hand vor den Mund, »den Mann nicht zu liquidieren, sonst überfallen sie uns wirklich.« »Und dann«, fuhr Quail fort, »haben sie mir noch einen Zauberstab geschenkt. Mit Hilfe dieses Zauberstabs habe ich den Mann auf dem Mars getötet. Er liegt in der Schublade
neben dem kleinen Container mit den vertrockneten Kropfwürmern, die ich durch den Zoll geschmuggelt habe.« Der Interplan Offizier verließ wortlos den Behandlungsraum. McClane folgte ihm. Dagegen komme ich mit meinen Artefakten natürlich nicht an, dachte er. Sogar das Schreiben vom Staatssekretär der UNO ist nutzlos, denn das echte wird sicher bald zugestellt werden.
Originaltitel: WE CAN REMEMBER IT FOR YOU WHOLESALE
Bob Shaw DAS LICHT BESSERER ZEITEN
Wir ließen das Dorf hinter uns und fuhren über die kurvenreiche Straße in das Tal hinein, in dem es Retardglas gab. Ich hatte noch nie eine von diesen Formen gesehen und fand sie im ersten Moment recht unheimlich, was vielleicht aber auch durch die Umstände bedingt war. Die Turbine unseres Wagens schob uns lautlos durch die klamme Luft, und ich hatte den Eindruck, durch eine unnatürliche Stille getragen zu werden. Zu beiden Seiten des makellosen Tales zeitloser Sehnsucht erhoben sich sanfte Hügel, an deren Hängen große Rahmen mit Retardglas standen, die das Licht aufsaugten. Ein gelegentlicher Lichtstrahl der Nachmittagssonne auf einer der riesigen Scheiben, und schon bildete ich mir wieder ein. Bewegung gesehen zu haben. Aber ich wußte, daß niemand da war. Die unzähligen Fenster standen seit Jahren an den Hängen und sahen ins Tal hinunter. Sie wurden nur nachts geputzt, wenn das Auftauchen des Menschen keinen Einfluß auf das durstige Glas hatte. Sie waren faszinierend, diese Fenster, aber Seiina und ich sprachen nicht darüber. Ich glaube, wir haßten uns gegenseitig so abgrundtief, daß wir nichts in den Nexus unserer Emotionen eindringen lassen wollten. Die Idee, ein paar Tage Urlaub zu machen, war völlig idiotisch – das wurde mir immer klarer. Ich hatte mir eingebildet, daß damit alles aus der Welt geschaffen sein würde, aber das war natürlich nicht der Fall. Seiina war und
blieb schwanger, und die Wut über ihren Zustand wuchs von Stunde zu Stunde. Irgendwann hätten wir schon ein Kind haben wollen, aber doch nicht ausgerechnet jetzt. Seiinas Schwangerschaft hatte uns ihren ausgezeichnet bezahlten Job gekostet, und nun war nicht mehr an den Hauskauf zu denken. Womit auch? Vielleicht mit meinen lächerlichen Einkünften als Schriftsteller? Aber der eigentliche Grund unserer Verstimmung war ein anderer: wie alle Menschen, die behaupteten, sie seien wohl kinderlieb, wollten aber mit dem Kinderkriegen noch eine Weile warten, wollten auch wir im Grunde gar keine Kinder – was wir uns jetzt gezwungenermaßen hatten eingestehen müssen. Dazu kam der Zorn über die Tatsache, daß wir die wir uns für so einzigartig gehalten hatten, genauso in jene biologische Falle gegangen waren wie die primitivsten aller Kreaturen. Die Straße stieg leicht an, und plötzlich sahen wir in der Ferne den grauen Atlantik. Ich ging mit der Geschwindigkeit herunter, um den Ausblick besser genießen zu können, und dabei fiel mir ein Schild am Straßenrand auf. RETARDGLAS – BESTE QUALITÄT – NIEDRIGSTE PREISE – J. R. HAGAN Ich drückte auf den Bremsknopf, und der Wagen blieb am Straßenrand stehen. »Warum hältst du?« Seiinas platinblonder Kopf wandte sich mir erstaunt zu. »Hast du das Schild nicht gesehen? Gehen wir doch einmal hin und schauen nach. Vielleicht ist es hier wirklich billiger.« Seiina weigerte sich mit schriller, vorwurfsvoller Stimme, aber ich ließ mich nicht davon abbringen. Ich war irgendwie
überzeugt davon – warum, weiß ich selbst nicht –, daß es sich für uns lohnen würde. »Komm«, sagte ich. »Etwas Bewegung tut uns beiden gut. Wir sitzen schon den ganzen Tag im Wagen.« Mit gelangweilter Miene zuckte Seiina mit den Schultern – was mich schon wieder ärgerte – und stieg aus. Wir gingen einen schmalen Pfad hinauf, in den immer wieder Lehmstufen eingehauen waren. Er führte uns durch eine Baumgruppe, hinter der das niedrige Farmhaus stand. Hinter dem bescheidenen Steinbau entdeckten wir in schnurgeraden Reihen riesige Scheiben Retardglas, die das Licht der Landschaft tranken. Die meisten waren durchsichtig, einige allerdings waren schwarz wie Ebenholz. Als wir über den mit Katzenkopfsteinen gepflasterten Hof gingen, kam uns ein großer Mann von ungefähr vierzig Jahren entgegen. Er hatte auf dem niedrigen Steinmäuerchen gesessen, das den Hof umgab, hatte seine Pfeife geraucht und auf das Haus gestarrt. In dem Fenster neben der schmalen Eingangstür stand eine junge Frau in einem geblümten Kleid. Sie hatte einen kleinen jungen auf dem Arm und wandte sich desinteressiert ab, als sie uns näherkommen sah. »Mr. Hagan?« fragte ich. »Der bin ich«, sagte der Mann. »Wollten Sie sich Glas anschauen? Da sind Sie an der richtigen Stelle.« Sein Akzent war typisch für einen Mann aus dem Hochland. Er hatte eines dieser verzweifelten Gesichter, wie man sie oft bei Straßenarbeitern und Philosophen findet. »Ja«, sagte ich. »Wir haben Ihr Schild am Straßenrand gesehen.« Seiina, normalerweise ein sehr kontaktfreudiger Mensch, sagte keinen Ton. Sie stierte mit leicht verwundertem Gesicht in das mittlerweile leere Fenster.
»Sie sind wohl aus London, was?« fragte Hagan. »Wie gesagt, bei mir sind Sie richtig – und zur richtigen Zeit sind Sie auch gekommen. Meine Frau und ich sehen wenig Fremde zu dieser Jahreszeit.« Ich lachte. »Heißt das, daß wir etwas Glas kaufen können, ohne uns gleich in Schulden stürzen zu müssen?« »Das ist wieder einmal typisch für mich«, sagte Hagan und lächelte ein schiefes, hilfloses Lächeln. »Der Handel hat noch nicht angefangen, und schon bin ich wieder im Nachteil. Rose, das ist meine Frau, hat recht. Sie sagt immer, daß ich es nie lerne. Aber – setzen wir uns erst einmal.« Er deutete auf das Steinmäuerchen und warf im selben Moment einen etwas genierlichen Blick auf Seiinas dicken Bauch unter dem blauen Rock. »Einen Augenblick, bitte«, sagte er. »Ich hole schnell eine Decke.« Er lief ins Haus und zog die schmale Tür hinter sich zu. »Vielleicht war es doch keine so fabelhafte Idee, hierherzukommen«, flüsterte ich Seiina zu. »Aber freundlicher könntest du trotzdem zu dem Mann sein. Man weiß ja nie.« »Was weiß man nie?« fragte Seiina gereizt und gleichzeitig giftig. »Ob er uns nicht ein Stück Glas schenkt? Schau dir doch bloß den abgerissenen Fetzen an, den seine Frau trägt.« »War das seine Frau?« »Natürlich war das seine Frau.« »Mir soll’s recht sein«, sagte ich, über ihren aggressiven Ton erstaunt. »Also bitte, sei etwas freundlicher zu dem Mann. Ich möchte mich nicht für dich entschuldigen müssen.« Seiina zog ein Gesicht, lächelte aber süßlich, als Hagan zurückkam, und ich atmete auf. Seltsam, wie man einen Menschen lieben und sich gleichzeitig aus tiefster Seele wünschen kann, daß er überfahren wird. Hagan breitete eine karierte Wolldecke auf dem Mäuerchen aus, und wir setzten uns darauf, wobei wir beide in dieser
ländlichen Umgebung etwas befangen waren. In der Ferne, auf dem Atlantik, zog ein Schiff langsam einen Streifen schaumiges Kielwasser hinter sich her. Die kernige Luft des Tales mit seinen saftigen Hügeln schien unsere Lungen richtig zu überfallen und ihnen mehr Sauerstoff zu bieten, als sie brauchten und wollten. »Die meisten der Glasfarmer in diesem Tal«, sagte Hagan, »erzählen Fremden wie Ihnen nur die üblichen Werbesprüche. Sie erzählen ihnen, wie traumhaft schön die jeweilige Jahreszeit bei uns hier ist – ganz gleich, ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Ich mache das nicht. Es weiß doch jeder Idiot, daß eine Landschaft, die im Sommer nicht schön ist, auch sonst nicht schön sein kann. Oder?« Ich nickte zustimmend. »Ich kann Ihnen bloß einen Rat geben, Mister…« »Garland.« »Ich kann Ihnen also bloß einen Rat geben, Mr. Garland. Schauen Sie sich unsere Landschaft gut an, denn die kaufen Sie, falls Sie von mir Glas kaufen. Besser wie in diesem Moment schaut sie nie aus. Und das Glas hat im Moment genau die richtige Reife. Nicht eine meiner Scheiben ist weniger als zehn Jahre dick. Der Quadratmeter kostet zweihundert Pfund.« »Zweihundert Pfund?« Seiina war außer sich. »So viel verlangen sie ja in der Bond Street.« Hagan lächelte geduldig, dann sah er mich fragend an. Offensichtlich überlegte er, ob ich wenigstens genug von Retardglas verstand, um zu begreifen, was er als Ware anbot. Sein Preis lag weit über dem, womit ich gerechnet hatte – aber: zehn Jahre dick! Das billige Glas, das man in Vistaplex oder Panorama Läden bekam, bestand meistens aus ganz ordinärem Fensterglas, das man mit einer hauchdünnen, höchstens zehn bis zwölf Monate dicken Schicht Retardglas überfangen hatte.
»Du täuschst dich, Darling«, sagte ich, bereits fest entschlossen, zu kaufen. »Das Glas von Mr. Hagan hält zehn Jahre lang und ist ausgereift.« »Na und?« fragte Seiina von oben herab. Hagan hatte begriffen, daß er sich um mich nicht mehr zu kümmern brauchte. »Sie müssen schon entschuldigen, Mrs. Garland«, sagte er zu Seiina, »aber Sie scheinen nicht zu wissen, daß es ein Geschenk des Himmels ist und gleichzeitig ein Wunder der Präzisionstechnik, wenn es einem gelingt, ein ausgereiftes Stück Retardglas zu produzieren. Wenn ich sage, daß das Glas zehn Jahre dick ist, dann meine ich damit, daß zehn Jahre lang Licht in dieses Glas eingedrungen und durch es hindurchgegangen ist. Jede dieser Scheiben – « Er deutete in weitem Bogen über die schnurgeraden Reihen hinter seinem Haus – »ist zehn Lichtjahre dick – was zweimal der Entfernung zum nächsten Stern entspricht. Ein Millionstel Zentimeter…« Er brach mitten im Satz ab und sah verträumt auf sein Haus. Die junge Frau stand wieder am Fenster. In Hagans Blick lag etwas, was mir ein Schaudern über den Rücken laufen ließ, und gleichzeitig war ich überzeugt davon, daß Seiina nicht recht hatte. Nach meiner Erfahrung sahen Männer ihre Frauen nicht so an. Zumindest nicht ihre eigenen. Die junge Frau blieb kurz am Fenster stehen, dann verschwand sie wieder im Innern der Hütte. Plötzlich war ich auf mir völlig unerklärliche Weise überzeugt davon, daß sie blind war. »Verzeihen Sie«, sagte Hagan. »Ich dachte, Rose will etwas von mir. Wo war ich stehengeblieben, Mrs. Garland? Zehn Lichtjahre in zwei Zentimeter starkes Glas gepreßt, das bedeutet…« Ich hörte nicht mehr zu. Einmal, weil ich bereits beschlossen hatte, zu kaufen, und zum anderen, weil man schon so oft
versucht hatte, mir die Prinzipien der Retardglasherstellung zu erklären und ich den Prozeß beim besten Willen nicht begriff. Ein Freund von mir, der in den Naturwissenschaften zu Hause war, wie ich in meiner Muttersprache, hatte einmal folgendes zu mir gesagt: »Du mußt dir eine Scheibe Retardglas als Hologramm vorstellen, das kein Licht von einem Laserstrahl zur Rekonstitution seiner visuellen Information braucht, sondern in dem jedes Photon ganz gewöhnlichen Lichts durch einen spiralenförmigen Tunnel auf den Fangradius jedes einzelnen Atoms trifft.« Dieser einzige Satz allein hatte mir genügt, meinen Freund zu bitten, keine Perlen vor die Säue zu werfen. Ich verstand nun einmal nichts von Technik und wollte auch gar nichts davon verstehen. Ich war mit dem Ergebnis zufrieden. Was man tun mußte, um zu dem Ergebnis zu kommen, war mir egal. Ich wußte nur, daß Retardglas im Urzustand schwarz und undurchsichtig war – war es reif, dann hatte es die Landschaft in sich aufgenommen, in die es hingeblickt hatte. Baute man eine zwölf Monate dicke Scheibe Retardglas in das Fenster seiner trüben, finsteren Stadtwohnung ein, so hatte man ein ganzes Jahr lang den Ausblick auf die Landschaft, in der die Scheibe ausgereift war, wobei es sich um kein totes Bild handelte, wie bei einem Foto, sondern in der Scheibe bewegten sich zum Beispiel die Baumkronen im Wind, kräuselte sich das Wasser eines Sees, flogen Vögel über den Himmel und folgte die Nacht dem Tag und der Frühling dem Winter. Und eines Tages, nach genau einem Jahr, war die gespeicherte Schönheit verbraucht, und man sah wieder auf die triste Umgebung hinaus. Von der sensationellen Neuheit abgesehen, basierte der kommerzielle Erfolg von Retardglas auf der Tatsache, daß es ein emotionelles Äquivalent zu Grundbesitz auf dem Lande
bot. Aus der gräßlichsten, feuchtesten Kellerwohnung konnte man den Ausblick in eine gepflegte, sonnige Parklandschaft haben – und wer hatte das Recht, daran zu zweifeln, daß die Parklandschaft den Kellerbewohnern gehörte? Jemand, der tatsächlich einen Park mit gestutzten Hecken besitzt, verbringt auch nicht seine Zeit damit, zu beweisen, daß er der Eigentümer ist, indem er auf allen vieren über seinen Rasen kriecht, ihn beschnüffelt und betastet und vielleicht auch noch davon ißt. Alles, was er von seinem Park hat, ist der Ausblick. Nur ein paar Jahre waren nötig gewesen, um aus wissenschaftlicher Neugier eine blühende Industrie zu machen. Und zum größten Erstaunen von musischen Menschen, die immer noch glaubten, daß sich die Schönheit der Natur nur im Auge des Betrachters widerspiegeln und nur in ihm leben kann, unterschieden sich die Produkte dieser neuen Industrie in nichts von anderen Waren, die man käuflich erwerben konnte. Für viel Geld bekam man einen guten und dauerhaften Ausblick aus seinem Fenster, und für weniger Geld eben schlechtere, weniger dauerhafte Ware. Die Dicke des Glases, in Jahren gemessen, spielte im Preis natürlich eine große Rolle, dazu kam aber noch die Dichte, die auch Reife genannt wurde. Trotz raffiniertester Techniken war die Dichte nicht genau abmeßbar, und dadurch ergaben sich immer wieder Fehlerquellen, die allerdings nicht ohne Reiz waren. Eine Scheibe mit einer angeblichen Dichte von fünf Jahren, zum Beispiel, konnte die tatsächliche Dichte von fünfeinhalb Jahren haben – mit dem Erfolg, daß Licht, das im Sommer eingedrungen war, im Winter wieder ausgestrahlt wurde. Es kam auch vor, daß um Mitternacht die Sonne den höchsten Stand erreicht hatte, was für einen Menschen, der nachts arbeitete, natürlich sehr erfreulich sein konnte.
Nachdem Hagan seinen Vortrag beendet hatte, machte Seiina immer noch dasselbe mißtrauische Gesicht. Sie schüttelte verständnislos den Kopf, was mir bewies, daß der Mann die Sache völlig falsch angegangen hatte. Von der einen Sekunde zur anderen sah Seiinas platinblondes Haar aschgrau aus, und schon fielen die ersten dicken Tropfen aus einem Himmel, der sich ganz plötzlich zugezogen hatte. »Ich bezahle mit Scheck, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte ich, und Seiina sah mich wütend aus grünen Augen an. »Können Sie mir die Ware zustellen?« »Das ist kein Problem«, sagte Hagan und stand auf. »Aber wollen Sie das Glas nicht gleich mitnehmen?« »Doch – gern natürlich«, sagte ich und war fast beschämt, daß mir der Farmer so blind traute. »Dann schneide ich Ihnen ein Fenster heraus. Wenn Sie sich nur einen Moment gedulden. Es ist schnell verpackt.« Hagan verschwand hinter dem Haus. Seiina zog den Kragen ihrer Bluse fester um den Hals. »Er hätte uns wenigstens ins Haus bitten können«, sagte sie. »So viele Kunden scheint er nicht zu haben, daß er es sich leisten könnte, sie schlecht zu behandeln.« Ich versuchte, nicht auf ihre Sticheleien zu hören, und schrieb den Scheck aus. Ein dicker Regentropfen fiel auf meine Hand. »Komm«, sagte ich, »stellen wir uns an die Hauswand, bis er kommt.« Du miese Ziege, dachte ich, denn langsam verging auch mir die Laune. Nur ein Idiot wie ich konnte dich heiraten – und jetzt, wo du auch noch ein Stück von mir in deinem dicken Bauch hast, komme ich nie mehr von dir los. Mit zusammengekrampftem Magen stellte ich mich neben Seiina unter das überhängende Dach. Das gemütliche Wohnzimmer mit dem Kaminfeuer hinter dem Fenster war leer. Auf dem Fußboden lagen die Spielsachen des kleinen
Jungen. Kleine Holzklötzchen mit Buchstaben darauf und ein winziger Schubkarren in der Farbe frisch geriebener Karotten. Wie ich so durch das Fenster sah, kam der kleine Junge aus dem Nebenzimmer gewackelt und stieß unbeholfen gegen die Klötzchen. Mich sah er nicht. Einen Moment später kam die junge Frau und klemmte sich lachend und fröhlich das strampelnde Kerlchen unter den Arm. Wie vorhin schon trat sie ans Fenster, und ich lächelte verlegen, aber weder sie noch das Kind reagierten darauf. Der kalte Schweiß trat mir auf die Stirn. Waren sie beide blind? Ich wandte den Blick ab. »Mein Gott!« rief Seiina in dem Moment. »Die Wolldecke wird ja ganz naß.« Sie lief über den Hof, zog die Decke von dem Mäuerchen und lief damit zur Tür des bescheidenen Hauses. Plötzlich war mir speiübel. »Seiina!« rief ich. »Mach die Tür nicht auf!« Aber es war schon zu spät. Sie hatte sie bereits aufgestoßen und stand fassungslos auf der Schwelle. Ich ging zu ihr, nahm ihr die Decke aus der Hand und zog die Tür wieder zu. Der kurze Blick in das Innere des Hauses gab mir den Rest. Das gemütliche Wohnzimmer mit den Spielsachen, der Frau und dem Kind war in Wirklichkeit ein gräßlicher, unordentlicher Verhau mit schäbigen Möbeln, achtlos hingeworfenen Kleidern, Haufen von alten Zeitungen und unabgewaschenem Geschirr. Feuchte, stickige Luft – – und keine Menschenseele im Raum. Ich versuchte, das Bild aus meinem Gedächtnis zu wischen. Nicht jeder, der allein lebt, ist ordentlich, dachte ich. Seiina war kreidebleich. »Das verstehe ich nicht«, stammelte sie. »Ich verstehe das einfach nicht.« »Retardglas«, sagte ich bloß. »Ja, glaubst du denn…«
»Ich weiß es nicht, und es geht uns auch nichts an. Bitte, reiß dich zusammen. Da kommt Hagan mit unserem Glas.« Er brachte ein großes, in Styropor verpacktes Rechteck. Ich hielt ihm den Scheck entgegen, aber er starrte nur in Seiinas Gesicht. Er schien sofort gespürt zu haben, daß wir mit unseren plumpen Fingern in seiner Seele herumgewühlt hatten. Seiina mied seinen Blick. Sie sah alt und verbraucht aus. »Geben Sie mir die Wolldecke, Mr. Garland«, sagte Hagan. »Sie hätten sie ruhig liegen lassen können.« »Hier – Ihr Scheck, Mr. Hagan«, sagte ich. »Vielen Dank.« Er sah Seiina immer noch mit fast flehentlichem Blick an. »Ich muß mich bei Ihnen bedanken«, sagte ich in meiner Verlegenheit, nahm das verpackte Fenster unter den Arm und führte Seiina zu dem Pfad. »Mr. Garland!« rief Hagan, als wir gerade in dem Wäldchen verschwinden wollten. Ich drehte mich um. »Es war nicht meine Schuld«, sagte der Mann. »Sie sind auf der Landstraße überfahren worden. Und dann auch noch Fahrerflucht. Mein Sohn war damals erst sieben. Habe ich da nicht das Recht, wenigstens das zu behalten?« Ich nickte, hielt meine Frau fest im Arm und führte sie den mittlerweile glitschigen Pfad hinunter. Von der Landstraße aus sah ich noch einmal zu dem Haus hinauf. Hagan saß wieder auf seinem Mäuerchen und starrte auf das Fenster des Hauses.
Originaltitel: LIGHT OF OTHER DAYS
Roger Zelazny DIE ERSCHAFFUNG EINES GOTTES
In Übereinstimmung mit den Bedingungen für Katzen formen, Kaltwelt, Klasse 3.2 – E – GMI – modifiziert durch Alyonal – von Mann und Frau gezeugt, konnte Jarry Dark nicht einfach irgendwo im Universum leben, sondern nur dort, wo die Umwelt so beschaffen war, daß sie seine Existenz nicht gefährdete. Ob man diese Tatsache als Segen oder Fluch betrachtet, ist eine Frage des Blickwinkels. Welchen Blickwinkel Sie wählen, ist Ihre Angelegenheit. Hier die Geschichte!
Man darf vermuten, daß sich seine Eltern das Temperaturkontrollgerät hätten leisten können, aber auch nicht viel mehr. Um sich wohlfühlen zu können, mußte die Temperatur für Jarry bei mindestens – 50° Celsius liegen. Daß seine Eltern sich das Luftdruckkontrollgerät und die absolut lebensnotwendige Ausrüstung zur präzisen Mischung der gasförmigen Elemente hätten leisten können, darf angezweifelt werden. 3.2 – E Grav-Simulation gab es nicht, also waren tägliche Medikation und Physiotherapie erforderlich. Diese hätten sich seine Eltern unter Garantie nicht leisten können. Demzufolge kümmerte sich die viel bekrittelte Option um ihn. Sie wachte über seine Gesundheit. Sie sorgte für seine Erziehung. Sie sicherte seinen finanziellen und seelischen Zustand.
Man könnte natürlich argumentieren, daß die General Mining Incorporated, die die Option hatte, daran schuld war, daß Jarry Dark die heimatlose Existenz einer Kaltwelt Katzenform führen mußte – modifiziert durch Alyonal – aber wenn man das tut, muß man auch bedenken, daß die Katastrophe, die Alyonal zerstört hatte, nicht vorauszusehen war. Als sich seine Eltern an das Zentrum für geplante Elternschaft gewandt und um Rat bezüglich der Medikation für den sich noch in der Fruchtblase befindlichen Nachkömmling gebeten hatten, hatte man sie informiert, welche Welten und welche dazugehörigen Körperformen zur Verfügung standen. Sie hatten sich für Alyonal entschieden, das gerade von der General Mining Incorporated zu Zwecken der Ausschöpfung aufgekauft worden war. Klugerweise hatten sie die Option erworben. Das heißt, sie, hatten für den Nachkömmling einen Vertrag unterzeichnet, in dem er sich verpflichtete, bis zu seiner Volljährigkeit als Angestellter für die General Mining Incorporated zu arbeiten. Als Gegenleistung hatte sich die General Mining Incorporated verpflichtet, sich so lange um den zu erwartenden Bürger zu kümmern – und zwar in allen Bereichen – solange er ihr Angestellter war. Als dann aber Alyonal Feuer fing und sich in Nichts auflöste, war die General Mining Incorporated natürlich für diejenigen Kaltwelt Katzenformen verantwortlich, mit denen sie Verträge abgeschlossen hatte. Deshalb war Jarry aus der überfüllten Galaxis geholt und in einen hermetisch abgeschlossenen Raum gebracht worden, in dem sich die für ihn lebensnotwendigen Kontrollgeräte befanden. Man hatte ihm eine erstklassige kurzgeschlossene Erziehung zukommen lassen, wie auch die entsprechenden physiotherapeutischen und medizinischen Behandlungen. Jarry hatte Ähnlichkeit mit einem schwanzlosen grauen Ozelot. Er hatte Schwimmhäute zwischen den Fingern und konnte den
Raum nur dann verlassen, wenn er einen mit Temperaturregler versehenen Druckanzug trug und zusätzliche Medikamente einnahm. Aus allen Teilen der überfüllten Galaxis hatte man sich an die Zentren für geplante Elternschaft gewandt, und viele hatten den Rat befolgt, den auch Jarrys Eltern angenommen hatten. Um exakt zu sein, waren es genau 28.566. Unter 28.566 Individuen gibt es natürlich ein paar talentierte. Jarry war eines davon. Er hatte die Gabe, Geld verdienen zu können. Den größten Teil seines Einkommens legte er in Aktien an, die laufend Dividende abwarfen. Und als der Mann von der Galactic Civil Liberties Union gekommen war und erklärt hatte, er halte die Alyonalen Katzenformen für sehr testgeeignet, hatten Jarrys Eltern sich auf nichts eingelassen, denn sie hatten den monatlichen Unterhalt der General Mining Incorporated nicht aufs Spiel setzen wollen. Als man dann später an Jarry persönlich herangetreten war, hatte dieser ebenfalls abgelehnt. Zu einer EWelt Normform hätten sie ihn doch nicht umbauen können, und außerdem war er nicht nachtragend, geschweige denn rachsüchtig. Dazu kam, daß er mittlerweile ein beachtliches Aktienpaket der General Mining Incorporated besaß. Er aalte sich in seinem Methan-Tank, schnurrte vor sich hin – was ein Zeichen war, daß er nachdachte – und ließ seinen Cyro-Computer arbeiten, bis das Gesamtvermögen des vor kurzem erst gegründeten December Clubs feststand. Dann schickte er durch seine Kommunikationsröhre eine Nachricht an Sanza Barati, die Präsidentin des Clubs, und sämtliche Mitglieder: Geliebte Sanza, nachdem, wie vermutet, die nötigen Mittel aufgebracht sind, besteht kein Grund zu längerem Aufschub. Bitte unterbreite meinen Vorschlag dem Finanzrat, berichte von meinen Qualifikationen und versuche, sofortiges Einverständnis zu erhalten. Genaue Darstellung an
die Clubmitglieder liegt bei. Wenn 80 Prozent von ihnen hinter mir stehen, wird es fünf bis zehn Jahre dauern. Bitte, tu Dein Bestes, Liebling. Ich würde Dich so gern unter purpurrotem Himmel treffen. Für immer Dein Jarry Dark. P. S. Ich freue mich, daß dich mein Anruf gefreut hat.
Zwei Jahre später hatte Jarry das Kapital des Clubs verdoppelt. Und eineinhalb Jahre danach hatte er dieses wiederum verdoppelt. Als er die entscheidende Nachricht von Sanza erhielt, sprang er auf sein Trampolin, hüpfte in die Luft und gebärdete sich wie wild. Atemlos ging er schließlich zu seinem Gerät zurück und spielte die Botschaft noch einmal ab: Mein lieber Jarry, beiliegend Spezifikationen und Preise für fünf weitere Welten. Das Forschungsteam tritt für die letzte ein. Ich ebenfalls. Und du? Was hältst du von Alyonal II? Wenn einverstanden, wie steht es mit den Finanzen? Wann können wir uns eine so hohe Summe leisten? Das Team ist der Überzeugung, daß an die hundert Weltveränderungseinheiten nötig sind, um diese Welt unseren Wünschen entsprechend alterieren zu können, und wir dazu fünf bis sechs Jahrhunderte brauchen. Kosten Voranschlag für die entsprechenden Anlagen folgt baldigst. Ich sehne mich danach, in einer Welt ohne Wände mit dir zusammenzuleben und von dir geliebt zu werden, Sanza. Noch ein Jahr, antwortete Jarry, und ich schenke dir diese Welt. Bitte schicke mir den Kostenvoranschlag so bald wie möglich.
Als die Zahlen kamen, weinte Jarry eisige Tränen. Einhundert Maschinen zur Veränderung der Ökologie einer Welt, plus
28000 Kaltschlafbunker, plus Transportkosten für die Maschinen und Individuen, plus… es war zuviel! Jarry machte eine Überschlagrechnung. Weitere fünfzehn Jahre Wartezeit, mein Schnurrkätzchen, das halte ich nicht aus – Jarry umklammerte die Kommunikationsröhre. Laß dir die Zeitspanne für nur zwanzig Weltveränderungseinheiten ausrechnen. Ich liebe Dich und küsse Dich, Jarry. Während der darauffolgenden Tage ging er in seinem Raum auf und ab. Aufrecht zuerst, dann auf allen vieren. Ungefähr 3000 Jahre, lautete die Antwort. Meine Hände sehnen sich nach deinem glänzenden Fell – Sanza. Es mußte abgestimmt werden.
Schnellbeschreibung einer Welt in dreihundert Wörtern… Eine Masse Land mit drei schwarzen, teerigen Seen. Graue und gelbe Ebenen und sandfarbene Himmel. Niedrige Wälder mit pilzähnlichen jodgetupften Bäumen. Keine Berge, nur Hügel. Braune, gelbe, weiße und lavendelfarbene Hügel. Grüne Vögel mit Fallschirmflügeln, mit Sichelschnäbeln, mit Eichenblattfedern und einem Umkehrschirm am Schwanz. Sechs sehr entfernte Monde, Schneeflocken während der Nacht und Blutstropfen zur Morgen- und Abenddämmerung. In den feuchten Tälern Senfgras. Nebel wie weißes Feuer an windlosen Morgen, Albinoschlangen, wenn sich die Luft regt. Fluoreszierende Erdspalten wie gesprungenes Eisglas, versteckte Höhlen wie eine Kette dunkler Blasen. Siebzehn bekannt gefährliche Raubtiere zwischen einem und sechs Metern Größe und mit dichtem Fell. Plötzliche Hagelstürme wie tausend Hammer aus klarem Himmel. Auf den beiden plattgedrückten Polen Eiskappen wie Baskenmützen. In den Wäldern nervöse Zweifüßler von eineinhalb Metern Größe, mit
verkümmertem Gehirn. Die gigantische Raupe, das blinde Wühltier und die aasfressende Düsterbestie. Siebzehn mächtige Flüsse, Wolken wie trächtige, purpurrote Kühe, die sich über das Land wälzen, um sich im Osten zusammenzuballen. Haufen von windversengten Steinen wie erstarrte Musik. Nächte schwarz wie Ruß. Schwebende Täler wie Frauenleiber. Im Schatten ewiger Frost, am Morgen der Gesang berstender Eisschollen, zitternden Zinns, klickender Stahlstrände… Sie wußten, daß ein Paradies daraus gemacht werden konnte.
Die Vorhut landete in Gefrieranzügen, installierte zehn Weltveränderungseinheiten in jeder Hemisphäre und richtete in den größeren Höhlen Kaltschlafbunker ein. Dann kamen die Mitglieder des December Clubs aus dem sandfarbenen Himmel herunter. Sie kamen, sahen und fanden, daß das Paradies nicht mehr fern war. Sie verschwanden in den Bunkern und schliefen. Über 28000 Kaltweltzehengänger – durch Alyonal modifiziert – kamen in ihre eigene Welt und schliefen den Schlaf von Eis und Stein, um das neue Alyonal zu erben. Traumlos war ihr Schlaf. Aber – hätten sie geträumt, dann wären ihre Träume wie die Gedanken derer gewesen, die noch wachten. »Es ist hart, Sanza.« »Schon, aber abzusehen.« »Endlich zusammen in einer eigenen Welt, aber gezwungen, wie Taucher auf dem Meeresgrund zu leben. Kriechen müssen, wenn man springen will.« »Doch nur für eine gewisse Zeit, Jarry.« »Dreitausend Jahre! Während wir schlafen, wird eine Eiszeit kommen. Unsere alten Welten werden sich bis zur
Unkenntlichkeit verändern, und niemand dort wird sich an uns erinnern.« »Na und? Laß uns doch diese Welten, in denen wir geboren sind, vergessen, wie sie uns vergessen sollen. Wir sind anders und haben endlich unsere eigene Welt gefunden.« »Du hast recht. Noch ein paar Jahre, und wir werden zusammen wachen.« »Und wann wird das sein?« »In zweieinhalb Jahrhunderten kommen die ersten drei Monate Wachsein.« »Und wie wird das sein?« »Das weiß ich auch nicht. Weniger warm auf alle Fälle.« »Dann laß uns schlafen. Eine bessere Zukunft wartet auf uns.« »Ja.« »Sieh doch! Der grüne Vogel. Er schwebt wie ein Traum.« Bei ihrem ersten Wachsein blieben sie in der Weltveränderungsanlage im Totenland. Die Temperatur war bereits beträchtlich gefallen, und die Kanten des Himmels leuchteten rosa. Die Metallmauern der großen Anlage waren schwarz, und der Frost nagte an ihnen. Die Atmosphäre war allerdings noch tödlich. Deshalb gingen sie nur dann hinaus, wenn Tests gemacht und die Struktur ihrer neuen Heimat inspiziert werden mußten. Totenland… Fels und Sand. Keine Pflanzen, kein Lebenszeichen. Die Zeit grausamer Winde lag noch auf dem Land, und die Welt wehrte sich gegen das Kraftfeld der Maschinen. Nachts verformten große Erdwolken die Gesteine, und wenn die Winde abzogen, glänzte die Wüste wie frischgestrichen, und die Felsen standen wie Flammen im Morgen und seinem Gesang. Wenn die Sonne am Himmel emporkroch und eine
Weile dort stand, kamen die Winde zurück, und ein dünenfarbener Schleier vernebelte den Tag. Und wenn die Morgenwinde abgezogen waren, dann gingen Jarry und Sanza in den dritten Stock hinauf und sahen aus dem Ostfenster, und der Stein winkte ihnen zu. Sie legten sich auf die grüne Liege und liebten sich, bis die Winde wieder kamen. Dann sang Sanza, und Jarry trug seinen Bericht ein und blätterte zurück und las, was unbekannte Fremde aufgezeichnet hatten. Er verfolgte die Gedanken durch die Jahrhunderte, die kein Lachen gehört hatten, denn die Kaltwelt Katzenformen kannten kein Lachen. Eines Morgens sahen sie einen Zweifüßler aus den Jodwäldern über das Land streifen. Plötzlich brach er zusammen, rappelte sich auf, machte noch ein paar Schritte und fiel wieder, um endgültig liegenzubleiben. »Warum hat er sich so weit von zu Hause entfernt?« fragte Sanza. »Um zu sterben«, sagte Jarry. »Komm, gehen wir hinaus.« Sie stiegen in ihre Schutzanzüge und verließen die Station. Die Kreatur hatte sich wieder aufgerichtet und stolperte weiter. Sie war mit ochsenblutrotem Flaum bedeckt, hatte dunkle Augen, eine lange, breite Nase und keine Stirn. An den Händen und Füßen vier kurze Zehen. Als der Zweifüßler Sanza und Jarry aus der Anlage kommen sah, blieb er stehen und starrte sie an. Dann brach er wieder zusammen. Sanza und Jarry traten neben ihn und betrachteten ihn. Er sah zu ihnen auf. Er zitterte am ganzen Leib. »Wenn wir ihn hier liegen lassen«, sagte Sanza, »stirbt er.« »Wenn wir ihn mit hineinnehmen, stirbt er auch«, sagte Jarry. Die Kreatur hob schwach die Vorderpfoten und ließ sie wieder sinken. Ihre Augen wurden schmal und fielen langsam zu.
»Er ist tot«, sagte Jarry. »Und was machen wir jetzt?« fragte Sanza. »Wir überlassen es den Winden, ihn mit Sand zu bedecken.« Sie gingen in ihre Anlage zurück, und Jarry trug das Ereignis ein. »Wird außer uns alles sterben?« fragte Sanza im letzten Moment ihres Wachseins. »Die grünen Vögel und die großen Aasfresser? Die lustigen kleinen Bäume und die haarigen Raupen?« »Ich hoffe nicht«, sagte Jarry. »Nach der Meinung der Biologen wird sich das Leben anpassen. Wenn einmal irgendwo ein Anfang gemacht ist, wird das Leben mit allen Mitteln versuchen, zu überleben. Für die Kreaturen dieser Welt ist es wahrscheinlich die Rettung, daß wir uns nur zwanzig Weltveränderungseinheiten haben leisten können. Jetzt bleiben ihnen wenigstens dreitausend Jahre, in denen sie ein dichteres Fell bekommen und lernen können, unsere Luft zu atmen und unser Wasser zu trinken. Mit hundert Einheiten hätten wir sie wahrscheinlich total ausgerottet und wären gezwungen gewesen, unsere eigenen Kreaturen zu importieren oder zu züchten.« »Komisch«, sagte Sanza, »aber mir kommt gerade der Gedanke, daß wir hier dasselbe tun, was mit uns getan worden ist. Sie haben uns für eine Welt gemacht, die zerstört worden ist. Die Kreaturen da draußen sind für diese Welt hier gemacht, und wir nehmen sie ihnen weg. Wir machen sie zu dem, was wir selbst gewesen sind – Ausgestoßene.« »Mit dem Unterschied«, sagte Jarry, »daß wir uns Zeit lassen und ihnen die Chance geben, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen.« »Trotzdem«, sagte Sanza. »Dieses Totenland wird ein Land der Toten werden.«
»Das war es schon vorher. Wir haben keine neuen Wüsten geschaffen.« »Die Kreaturen ziehen nach Süden. Die Bäume werden sterben. Aber auch in Süden fallen die Temperaturen, und irgendwann wird alles aus sein.« »Nein, denn sie werden sich anpassen. Die Bäume haben schon eine dickere Rinde. Das Leben wird es schon schaffen.« »Ich weiß nicht so recht…« »Möchtest du lieber schlafen, bis alles vorbei ist?« »Nein. Ich möchte immer an deiner Seite sein.« »Dann mußt du dich mit der Tatsache abfinden, daß bei jeder Veränderung jemand leidet. Wenn dir das klar ist, wirst du selbst nicht leiden.« Und dann lauschten sie den aufkommenden Winden. Drei Tage später, in der Stille des Sonnenuntergangs, zwischen den Winden des Tages und den Winden der Nacht, rief sie ihn ans Fenster. Er stieg in den dritten Stock hinauf und stellte sich neben sie. Ihre Brüste waren rosa im Licht der scheidenden Sonne, das Fell darunter silbern und dunkel. Der Pelz auf ihren Schultern und Schenkeln war wie Rauch. Ihr Gesicht war ausdruckslos, und ihre großen, grünen Augen waren nicht auf ihn gerichtet. Er sah hinaus. Die ersten großen Schneeflocken fielen durch die gläserne Luft. Sie fielen auf die Wüste und blieben wie Cyanidblüten liegen. Sie schwebten wie Schmetterlinge an dem Quarzglasfenster vorbei und setzten sich auf die Gesteinsformen. Das Seufzen des Abends streifte das Land.
Die Maschine schweigt nie, schrieb Jarry in das Logbuch. Manchmal glaube ich, in ihrem Innern Stimmen zu hören. Ich
bin allein auf der Station. Seit unserer Ankunft sind fünf Jahrhunderte vergangen. Ich habe es für besser gehalten, Sanza nicht zu wecken, auch wenn sie mir böse sein wird. In meinem Halbschlaf heute morgen habe ich mir eingebildet, die Stimmen meiner Eltern im Nebenraum zu hören. Keine Worte, nur die Stimmen. Trotz aller Fortschritte in der Geriatrie sind sie bestimmt schon tot. Ob sie manchmal an mich gedacht haben? Ein seltsames Gefühl, so mutterseelenallein zu sein. Jeden Nachmittag rufe ich die anderen Stationen. Ob ihnen das lästig ist? Morgen oder übermorgen werde ich sie in Ruhe lassen. Ich bin heute früh für einen Moment ohne Gefrieranzug draußen gewesen. Es ist immer noch unerträglich heiß. Ein Atemzug dieser Glutluft, und man muß husten. Unser Tag liegt noch in weiter Ferne. Wie wird es sein, wenn wir fertig sind? Welcher Art werden meine Funktionen als Wirtschaftsberater in einem neuen Alyonal sein? Aber – Hauptsache Sanza ist glücklich. Der Wetterveränderer stottert und stöhnt. So weit mein Blick reicht, ist das Land jetzt blau. Die Felsen stehen noch, aber ihre Form ist anders geworden. Der Himmel ist dunkelrosa und wird am Abend rot wie Wein. Die Bäume sind nicht gestorben. Ihre Stämme sind robuster geworden, ihre Rinde dicker und die Blätter größer. Auch sollen sie angeblich schon viel höher sein, hat man mir gesagt. Ich selbst kann es nicht bezeugen, weil hier im Totenland keine Pflanzen gedeihen. Die Raupen leben noch. Sie sehen größer aus, aber bloß deshalb, weil sie wolliger geworden sind. Überhaupt alle Tiere scheinen mittlerweile ein dichteres Fell zu haben. Einige haben es sich angewöhnt, einen Winterschlaf zu halten. Übrigens etwas Seltsames: Station sieben war der Meinung, daß die Kreaturen inzwischen auch ein dickeres, zottigeres Fell tragen, aber bei genauerer Betrachtung und Beobachtung hat sich
herausgestellt, daß sie entweder trächtig oder in Felle anderer Tiere gehüllt sind. Sind sie möglicherweise intelligenter, als wir glauben? Dabei hat das Bio Team doch sämtliche Versuche angestellt, die nur denkbar sind. Trotzdem – es ist mehr als seltsam. Die Winde sind immer noch sehr stark. Manchmal verdunkeln sie den Himmel mit Asche. Im Südwesten beachtliche Vulkanausbrüche. Station vier mußte deshalb verlegt werden. Durch das Rattern der Maschinerie hindurch höre ich auf einmal Sanza singen. Das nächste Mal lasse ich sie mit mir wachen. Bis dahin hat sich alles besser eingespielt. Nein, das ist nicht der Grund. Der Grund ist meine Selbstsüchtigkeit. Ich möchte sie bei mir haben. Ich komme mir wie der einzig Lebende auf dieser Welt vor. Die Stimmen, die mich von den anderen Stationen erreichen, sind Geister. Die Uhr tickt laut, und die Stille zwischen jedem Ticken ist angefüllt vom Brummen der Maschine, was auch wiederum einer Stille gleichkommt, denn es ist ja konstant. Manchmal bilde ich mir ein, es nicht zu hören. Dann strenge ich meine Ohren an und weiß trotzdem nicht, ob sie brummt oder nicht. Vielleicht stimmt auch mit den Indikatoren etwas nicht, obwohl alles in Ordnung zu sein scheint. Nein, es liegt an mir. Und das Blau des Totenlandes ist wie visuelles Schweigen. Am Morgen sind sogar die Felsen mit einer blauen Frostschicht überzogen. Ob das schön ist oder häßlich? Ich habe keine Antwort darauf. Es gehört zu der unendlichen Stille. Vielleicht wende ich mich eines Tages der Mystik zu. Vielleicht entwickle ich okkultische Kräfte oder komme zu etwas Außergewöhnlichem, Befreiendem, während ich hier am Nabel der großen Stille sitze. Vielleicht habe ich irgendwann Gesichter. Stimmen höre ich jetzt schon. Gibt es Geister im Totenland? Nein, hier hat es nie etwas gegeben, was es wert gewesen wäre, als Geist weiterzuleben. Außer dem kleinen
Zehengänger vielleicht. Warum er wohl unser Totenland durchstreift hat? Warum war das Zentrum der Zerstörung sein Ziel? Warum hat er sich nicht davon abgewandt wie die anderen? Ich werde es nie wissen. Es sei denn, ich habe eine Eingebung. Es ist wohl an der Zeit, in meinen Anzug zu steigen und einen Spaziergang zu machen. Die polaren Eiskappen sind schwerer und dicker geworden. Die Vereisung hat eingesetzt. Bald werden die Verhältnisse besser sein. Bald wird die Stille zu Ende sein. Das hoffe ich wenigstens, obwohl ich mich gleichzeitig frage, ob die Stille nicht der wahre Zustand des Universums ist und unsere kleinen Laute und Lärmereien nur dazu dienen, sie zu unterstreichen. Alles war einmal Schweigen und wird wieder zu Schweigen werden. Werde ich je echte Geräusche hören, oder immer nur Geräusche, die aus der Stille kommen? Sanza singt wieder, und es fängt an zu schneien. Sanza wachte am Abend vor der Jahrtausendwende auf. Sie lächelte und streichelte seine Hand, während er ihr erklärte, warum er sie hatte schlafen lassen. »Nein, ich bin dir ganz bestimmt nicht böse«, sagte sie. »Ich habe es das letzte Mal ja ganz genau so gemacht.« Jarry war zuerst äußerst erstaunt, dann fing er an zu begreifen. »Ich werde es nie wieder tun«, sagte Sanza, »und du auch nicht. Das weiß ich. Die Einsamkeit ist unerträglich.« »Ja«, sagte er. »Das letzte Mal haben sie uns beide aus dem Schlaf gewärmt«, sagte Sanza. »Ich bin zuerst aufgewacht und habe ihnen befohlen, dich wieder einzuschläfern. Ich habe es schnell bereut, denn meine Sehnsucht nach dir wuchs von Stunde zu Stunde.« »Aber jetzt bleiben wir immer zusammen«, sagte Jarry. »Ja. Immer und immer.«
Sie flogen mit dem Flugkörper aus der Schlafhöhle in die Weltveränderungseinheit Totenland hinauf, lösten die anderen ab, und die grüne Liege kam wieder in den dritten Stock hinauf. Die Luft draußen war zwar immer noch schwül, konnte aber für kurze Zeit eingeatmet werden. Allerdings folgten jedesmal sehr starke Kopfschmerzen. Die Hitze war nach wie vor drückend, die Winde hingegen waren weniger heftig. Am vierten Tag entdeckten sie eine Fährte, die von einem größeren Raubtier stammen mußte. Sanza freute sich. Eines Morgens wagten sie sich ein beachtliches Stück zu Fuß ins Totenland hinein. Ungefähr hundert Meter von der Station entfernt stießen sie auf drei Riesenraupen. Sie waren tot. Ihre haarigen, wurstförmigen Körper waren steif und sahen nicht erfroren, sondern eher ausgedörrt aus. Um die Kadaver herum lauter kleine Spuren. »Was sagst du dazu?« fragte Sanza. »Ich kann es mir auch nicht erklären«, sagte Jarry. »Wir müssen es fotografieren.« Das taten sie. Als Jarry am Nachmittag mit Station elf sprach, erfuhr er, daß Ähnliches von anderen Einheiten beobachtet worden war. Allerdings nicht allzu oft. »Das verstehe ich nicht«, sagte Sanza. »Und ich will es nicht verstehen«, sagte Jarry. Während dieser Wachperiode kam es nicht mehr vor. Jerry hielt das Ereignis im Logbuch fest und schrieb außerdem noch einen genauen Bericht. Den Rest der Zeit verbrachten sie damit, sich zu lieben, Aufzeichnungen zu machen und sich ab und zu zu betrinken. Vor zweihundert Jahren hatte ein Biochemiker seine Schicht dazu benutzt, Experimente mit organischen Verbindungen zu machen, die in Katzenformen dieselben Reaktionen hervorriefen wie Whisky in
Normformen. Er hatte sich so in seine persönlichen Versuche hineingesteigert, daß man ihn wegen Trunkenheit im Dienst hatte abberufen müssen, aber er hatte nichtsdestoweniger eine gut assortierte Bar und ein Handbuch des Mixens hinterlassen, dem inzwischen von anderen unzählige Rezepte hinzugefügt worden waren. Jarry und Sanza wollten natürlich nicht hintan stehen und das ihre dazu beitragen. Sie mixten und tranken und tranken und mixten, bis sie den Schneeflockenpunsch erfunden hatten, der die Eingeweide wärmte und das Zwerchfell hüpfen ließ – womit sie auch das Lachen gelernt hatten. Sie feierten die Jahrtausendwende mit einem großen Krug Schneeflockenpunsch, und Sanza bestand darauf, alle anderen Stationen anzurufen und ihnen das Rezept des Gebräus durchzugeben, denn alle sollten sie fröhlich und ausgelassen sein. »Die grünen Vögel sterben«, sagte Sanza und legte den Bericht zur Seite, den sie gerade gelesen hatte. »Wirklich?« fragte Jarry. »Offensichtlich haben sie sich angepaßt, soweit es ging, aber es ging eben nicht weiter.« »Ein Jammer.« »Mir kommt es wie erst ein Jahr vor. Dabei sind es tausend Jahre.« »Die Zeit vergeht im Flug.« »Ich habe Angst, Jarry.« »Wovor?« »Das weiß ich auch nicht. Aber ich habe Angst.« »Warum denn?« »Weil unser Leben seltsam ist. In jedem Jahrhundert lassen wir ein Stückchen von uns zurück. Noch vor ganz kurzer Zeit war hier Wüste. Wenn du jetzt aus dem Fenster schaust, blickst du auf ein Eisfeld. Erdspalten tun sich auf und schließen sich wieder. Schluchten entstehen und verschwinden. Flüsse
trocknen aus und neue Quellen sprudeln aus dem Stein. Alles ist so vergänglich. Die Dinge scheinen einem unter der Berührung zu zerrinnen. Sie scheinen vor einem zu fliehen und sich in Rauch aufzulösen. Man greift durch den Rauch und trifft auf… vielleicht auf Gott. Niemand weiß, was sein wird, wenn wir am Ende sind. Wir ziehen in ein unbekanntes Land und haben uns den Rückweg abgeschnitten. Wir ziehen durch einen Traum und unser Ziel ist eine Idee… Manchmal sehne ich mich nach meinem hermetisch abgeschlossenen Raum mit den Maschinen und Kontrollgeräten, die sich um mich gekümmert haben. Vielleicht kann ich mich nicht anpassen. Vielleicht bin ich wie der grüne Vogel…« »Nein, Sanza, du bist nicht wie der grüne Vogel. Du bist echt. Ganz gleich, was draußen passiert, wir werden überleben. Alles ändert sich, weil wir wollen, daß es sich ändert. Wir sind stärker ais die Welt und formen sie und krempeln sie um, bis sie genauso ist, wie wir sie haben wollen. Und dann nehmen wir sie und übersäen sie mit Städten und Kindern. Gott willst du sehen? Schau in den Spiegel. Gott hat spitze Ohren und grüne Augen. Er trägt ein weiches graues Fell, und wenn er seine Hand hebt, sind Schwimmhäute zwischen seinen Fingern.« »Ich bin froh, daß du so stark bist, Jarry.« »Komm, holen wir den Düsenschlitten heraus und machen wir eine kleine Rundfahrt.« Kreuz und quer fuhren sie an diesem Tag durch das Totenland, in dem die dunklen Gesteinsbrocken wie Wolken in einem anderen Himmel standen.
Zwölfmal hundert Jahre und ein halbes. Mittlerweile konnten sie ohne Respirator atmen. Für kurze Zeit.
Mittlerweile konnten sie die Temperatur ertragen. Für kurze Zeit. Mittlerweile waren die grünen Vögel tot. Und seltsame, befremdliche Dinge ereigneten sich. Die Zweifüßler kamen während der Nacht und hinterließen ihre Fährten und ihre Toten. Sie kamen von weit her und trugen Felle, die ihnen nicht am Leib festgewachsen waren. Jarry durchforschte das Archiv und las sämtliche Berichte über die Kreaturen. »Lichterschein in den Wäldern«, sagte er eines Tages. »Station sieben meldet Lichterschein in den Wäldern.« »Was?« »Das kann nur Feuer sein«, sagte er. »Was machen wir, wenn sie das Feuer entdeckt haben?« »Dann sind sie keine Tiere.« »Sie waren Tiere.« »Aber sie tragen Kleider. Sie bringen unseren Maschinen Opfer. Sie sind keine Tiere mehr.« »Wie hat das nur geschehen können?« »Durch unser Zutun. Sie wären bestimmt primitiv geblieben, wenn wir sie nicht gezwungen hätten, klüger zu werden. Wir haben ihre Entwicklung beschleunigt. Sie waren gezwungen, sich anzupassen, wenn sie überleben wollten, und sie haben sich angepaßt.« »Meinst du, das hätten sie auch geschafft, wenn wir nicht gekommen wären?« fragte Jarry. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Jarry ging zum Fenster und sah auf das Totenland hinaus. »Das muß ich herausfinden«, sagte er. »Wenn sie intelligent sind und – menschlich, wie wir, dann müssen wir ihre Reaktionen mit in Betracht ziehen.« »Und wie willst du das machen?«
»Wir müssen erst einmal herausfinden, ob wir uns mit ihnen verständigen können.« »Ist das denn noch nicht versucht worden?« »Doch, natürlich.« »Und mit welchem Ergebnis?« »Man ist geteilter Meinung. Die einen behaupten, daß sie viel Verständnis aufbringen, und die anderen sind überzeugt davon, daß sie unendlich weit weg sind von der Schwelle, bei der die Humanität erst anfängt.« »Vielleicht tun wir etwas ganz Fürchterliches«, sagte Sanza, »indem wir Menschen machen und sie dann wieder zerstören. Wie ich einmal sehr deprimiert gewesen bin, hast du gesagt, daß wir die Götter dieser Welt sind und die Macht haben, nach unserem Gutdünken zu gestalten und zu vernichten. Gut, wir haben tatsächlich die Macht, zu gestalten und zu vernichten, aber ich fühle mich nicht göttlich. Was machen wir denn, wenn es den Kreaturen so ergeht wie den grünen Vögeln? Wenn sie den letztmöglichen Punkt der Anpassungsfähigkeit erreicht haben, dieser aber nicht ausreicht. Was würde dann ein Gott in dem Fall tun?« »Das, was ihm gerade in den Kopf kommt«, sagte Jarry. An diesem Tag überquerten sie das Totenland in ihrem Flugkörper, sahen aber außer sich selbst keine Lebewesen. An den darauffolgenden Tagen suchten sie weiter nach Kreaturen, aber ohne Erfolg. Zwei Wochen später jedoch, im Purpurlicht des Morgens, passierte es. »Sie waren hier«, sagte Sanza. Jarry sah hinaus. Fährten im Schnee. Sie führten zu dem Kadaver eines kleinen toten Tieres. Und davon weg. »Sie können noch nicht weit sein«, sagte Jarry. »Nein«, sagte Sanza.
»Am besten nehmen wir den Schlitten.« Sie fuhren über den Schnee und über das Land, Sanza lenkte den Schlitten, und Jarry studierte die Fährten in dem frostigen Blau. Der aufkommende Morgen begleitete sie, der Wind strich wie ein Fluß an ihnen vorbei, und um sie herum der Gesang berstender Eisschollen, zitternden Zinns, klickender Stahlstrände. Die blaufrostigen Steine waren wie erstarrte Musik, und der lange Schatten ihres Schlittens, schwarz wie Tinte, flog vor ihnen her. Ein Hagelschauer trommelte auf das Dach ihres Gefährts, und das Totenland senkte sich und hob sich wieder. Jarry legte Sanza eine Hand auf die Schulter. »Dort!« Sie nickte und ging mit der Geschwindigkeit herunter. Sie schlugen mit Stöcken und Prügeln auf ihn ein, deren Enden feuergehärtete Spitzen zu haben schienen. Sie warfen mit Steinen und Eisbrocken. Aber er war stärker. Jedesmal, wenn er zuschlug, blieben mindestens zwei der anderen tot liegen. Er war dreieinhalb Meter groß, hatte ein blauschwarz glänzendes Fell und eine haarlose Schnauze, und die Katzenformen nannten ihn Bär, weil er auf zwei Beinen stehen konnte. Jarry fuhr die Feuerkanone aus und entsicherte sie. »Fahr langsam an ihm vorbei«, sagte Jarry. »Ich versuche, ihm den Kopf zu verbrennen.« Der erste Schuß ging daneben. Er versengte dem Bären den Rücken und die Schulter. Der zweite versengte ihm den Nacken. Als sie direkt neben der Bestie waren, sprang Jarry plötzlich aus dem Schlitten und feuerte mit der Pistole.
Der Bär bäumte sich auf, und eine riesige Wunde klaffte in seiner Brust. Er taumelte, brach zusammen und blieb bewegungslos liegen. Jarry drehte sich um und betrachtete die kleinen Kreaturen. Sie sahen mit großen Augen zu ihm auf. »Hallo«, sagte er. »Ich heiße Jarry. Euch taufe ich Rotformen und – « Der Schlag kam von hinten und riß ihm die Beine unter dem Körper weg. Er kugelte über den Schnee. Tausend Sterne tanzten ihm vor den Augen, und seine Schulter und sein linker Arm brannten wie Feuer. Ein zweiter Bär war aus dem Wald gekommen. Jarry zog das Jagdmesser und sprang auf. Das Biest wollte sich auf ihn stürzen, aber Jarry sprang mit der Katzenhaftigkeit, die ihm angeboren war, zur Seite und trieb dem Bären das Messer bis zum Heft in die Kehle. Ein Schaudern schüttelte das Tier. Es schlug von neuem zu. Jarry ging wieder in die Knie, und das Messer rutschte ihm aus der Hand. Die Rotformen warfen mit Steinen und Eisbrocken und griffen mit ihren Stöcken und Prügeln an. Und dann plötzlich ein dumpfer Schlag, und der Bär flog hoch in die Luft und fiel auf Jarry herunter.
Jarry wachte auf. Er lag auf dem Rücken. Alles tat ihm weh und alles, was er ansah, schien zu pulsieren und jeden Moment explodieren zu wollen. Wieviel Zeit war verstrichen? Er wußte es nicht. Man hatte entweder ihn oder den Bären weggeschafft. Die kleinen Kreaturen hockten um ihn herum und beobachteten ihn.
Ein paar von ihnen bewachten den zerschmetterten Schlitten… Den zerschmetterten Schlitten… Jarry sprang auf. Die kleinen Rotformen wichen erschreckt zurück. Jarry ging zu dem Schlitten und sah hinein. Er sah sofort, daß sie tot war. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Sie hatte den Bären getötet und damit auch sich selbst. Er lehnte sich gegen das Wrack und betete sein erstes Gebet, bann holte er ihren Leichnam heraus. Die kleinen Rotformen sahen aus großen Augen zu ihm auf. Er nahm sie auf die Arme und ging langsam über das Totenland. Die kleinen Rotformen sahen ihm nach. Nur eine nicht. Sie hatte eine auffallend hohe Stirn und betrachtete das Messer, das noch in der Kehle des zotteligen Tiers steckte.
»Was machen wir jetzt?« fragte Jarry die Vorstandsmitglieder des December Clubs, die extra geweckt worden waren. »Sie ist die erste von uns, die in der neuen Welt sterben mußte«, sagte Yan Twe, der Vizepräsident. »Wir haben noch keine Tradition«, sagte Selda Kein, die Sekretärin. »Sollen wir eine erfinden?« »Fragt mich nicht«, sagte Jarry. »Ich weiß nicht, was man in so einem Fall tut.« »Begraben oder verbrennen. Was ist dir lieber, Jarry?« »Ich weiß es nicht. Nein – nicht in die Erde. Gebt sie mir wieder. Gebt mir einen großen Flugkörper… Ich verbrenne sie.« »Dann müssen wir eine Kapelle bauen.« »Nein, ich möchte allein sein.«
»Wie du willst. Nimm mit, was du brauchst.« »Bitte, schickt jemand, der in meiner Abwesenheit die Totenlandstation bewacht. Wenn ich es getan habe, werde ich schlafen wollen.« »Natürlich. Herzliches Beileid, Jarry.« »Ja – herzliches Beileid.« Jarry nickte und wandte sich ab. Das Schicksal ist nicht immer leicht zu ertragen.
Am südöstlichen Ende des Totenlandes stand ein großer blauer Berg. Er war über dreitausend Meter hoch und sah aus wie eine erstarrte Welle in einem unendlichen Meer. Purpurrote Wolken drängten sich um seinen Gipfel. Auf seinen Abhängen kein lebendes Wesen. Der Berg hatte keinen Namen. Jarry verankerte den Flugkörper. Er trug ihren Leichnam zum höchsten Punkt. Er legte ihn auf den Boden und zog ihm Sanzas schönste Kleider an. Um den gebrochenen Hals wickelte er einen Schal, und ihre leeren Züge bedeckte er mit einem schwarzen Schleier. Er wollte gerade anfangen, sein zweites Gebet zu beten, als der Hagelsturm einsetzte. Wie Felsbrocken schlugen die Eiskörner auf ihn und sie herunter. »Nein!« schrie er und rannte zurück zu seinem Flugkörper. Er stieg in die Luft auf und drehte einen Kreis. Ihre Gewänder flatterten im Wind. Der Hagel war wie ein blauer, perlbestickter Vorhang, der sie von allem trennte, nur nicht von seinen letzten Liebkosungen: Feuer ergoß sich von Eis zu Eis, und ein Tor zur Sonne tat sich in dem namenlosen Berg auf. Sie sank hinein und glitt in das Herz des Berges. Dann stieg Jarry in die Wolken hinauf und beschoß den Sturm, bis seine Feuerwaffen leer waren.
Jarry schlief den Schlaf von Eis und Stein. Den Schlaf, der keinen Traum kennt.
Fünfzehn Jahrhunderte. Fast die Hälfte. Zweihundert Wörter höchstens… Neunzehn mächtige Flüsse und die schwarzen Meere mit violetten Schaumkronen. Keine niedrigen Jodwälder mehr, sondern riesige aufrechte Bäume mit dicker Rinde, orangefarben, gelb und schwarz. Über das ganze Land verstreut. Stolze Berge, gelb, weiß, lavendelfarben. Schwarze Rauchfahnen wie Korkenzieher, die aus schwelenden Kegeln aufsteigen. Inmitten des Frostes und des Gesteins Blumen, die ihre Wurzeln zwanzig Meter tief in die Erde gegraben haben. Blinde Wühltiere, die sich immer tiefer wühlen. Aasfressende Düsterbestien mit scharfen Schneidezähnen und kräftigen Mahlzähnen. Gigantische Raupen mit haarigen Körpern. Die Täler immer noch wie schwebende Frauenleiber. Und immer der Frost. Geräusche am Morgen. Brechend, zitternd, klirrend. Das Paradies war nah.
Er hatte alles gelesen, was er wissen mußte. Trotzdem blätterte er weiter zurück und überflog noch einmal die alten Eintragungen. Dann machte er sich einen Drink und starrte aus dem Fenster im dritten Stock. »… sterben«, sagte er und leerte sein Glas, packte zusammen und verließ die Station. Es dauerte drei Tage, bis er die erste Siedlung entdeckt hatte.
Er landete den Flugkörper in einigem Abstand und ging den Rest zu Fuß. Das Totenland lag weit im Norden. Die Luft hier im Süden war wärmer, und seine Lungen brannten. Sie trugen Häute und Felle, die nach dem Körper geschnitten und mit Stricken zusammengebunden waren. Sechzehn Wohnstätten und drei Lagerfeuer. Beim Anblick des Feuers zuckte Jarry zusammen, ging aber weiter. Als sie ihn sahen, brachen ihre kleinen Geräusche ab, ein kurzer Schrei erhob sich in die Luft – dann Stille. Er betrat die Siedlung. Die kleinen Kreaturen standen unbeweglich um ihn herum. Er sah sich um. An einem Pfahl hing Trockenfleisch. Vor jeder Wohnstätte lehnten Speere mit abgeflachten, blattförmigen Steinen an der Spitze. In der Mitte der Siedlung ein Holzblock, in den die Umrisse einer Katze eingeritzt waren. Jarry hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Eine der kleinen Rotformen kam auf ihn zu. Sie schien älter zu sein als die anderen. Ihre Schultern waren nach vorn gebeugt. Als sie den Mund aufmachte und quakende Laute ausstieß, sah Jarry, daß ein paar Zähne fehlten. Die Haare waren grau und schütter. Sie trug etwas in der Hand, aber Jarrys Aufmerksamkeit war auf die Hand selbst gerichtet. Jede Hand hatte einen abstehenden Finger. Jarry betrachtete sich die Hände der anderen. Sie hatten Daumen. Und Stirnen. Jarry wandte sich wieder der alten Kreatur zu. Sie legte ihm etwas zu Füßen und zog sich wieder zurück. Jarry sah hinunter. Auf einem großen Blatt lagen ein Stück Trockenfleisch und eine Frucht.
Er hob das Fleisch auf, machte die Augen zu und biß ein Stück ab. Er zerkaute es und schluckte es hinunter. Den Rest wickelte er in das Blatt und steckte es in die Seitentasche seines Anzugs. Er streckte die Hand aus, und sofort wichen die Rotformen zurück. Jarry ließ die Hand sinken, rollte die Decke aus, die er mitgebracht hatte, setzte sich und forderte die alte Kreatur mit einer Handbewegung auf, das gleiche zu tun. Sie zögerte einen Moment, dann tat sie es. »Wir werden lernen, miteinander zu sprechen«, sagte Jarry langsam und legte die rechte Hand flach auf die Brust. »Ich heiße Jarry.«
Jarry stand vor den Vorstandsmitgliedern des December Clubs, die schon wieder geweckt worden waren. »Sie sind intelligent«, sagte er. »Na und?« fragte Yan Twe. »Ich glaube nicht, daß sie in der Lage sind, sich noch mehr anzupassen. Sie haben in sehr kurzer Zeit sehr viel geleistet, aber ich fürchte, daß ihre Kräfte erschöpft sind. Bis zum Ende halten sie nicht durch.« »Bist du etwa Biologe, Ökologe oder Chemiker?« »Nein.« »Worauf gründet sich dann deine Meinung?« »Auf meine Beobachtungen. Ich war sechs Wochen bei ihnen.« »Beobachtungen sind keine Beweise.« »Ihr wißt genau, daß es für Dinge, die noch nie passiert sind, keine Experten geben kann.«
»Nehmen wir einmal an, sie sind tatsächlich nicht primitiv. Und nehmen wir weiterhin an, daß sie sich tatsächlich nicht weiter anpassen können – was schlägst du vor?« »Die Weltveränderung zu verlangsamen. Ihnen eine Chance zu geben. Wenn sie es auch dann nicht schaffen, können wir es nicht ändern. Die neue Welt ist für uns bereits erträglich. Vielleicht sollten wir uns bis zum Ende anpassen.« »Verlangsamen? Um wieviel?« »Um sieben- oder achttausend Jahre.« »Unmöglich!« »Ausgeschlossen!« »Heller Wahnsinn!« »Wieso?« »Weil jeder alle einhundertfünfzig Jahre drei Monate Wache halten muß. Das ergibt pro Jahrtausend ein ganzes Jahr persönlicher Zeit. Du verlangst zuviel vom einzelnen.« »Aber das Leben einer ganzen Rasse steht auf dem Spiel.« »Das nimmst du bloß an.« »Richtig, aber findet ihr denn nicht, daß man nicht riskieren darf, sie auszulöschen?« »Sollen wir abstimmen?« »Nein, denn ich weiß, daß ihr gegen mich stimmen werdet. Ich verlange, daß unter allen Mitgliedern des Clubs abgestimmt wird, nicht bloß unter uns.« »Das geht nicht. Sie schlafen.« »Dann weckt sie.« »Das kostet zu viel Mühe.« »Ist das Schicksal einer ganzen Rasse die Mühe nicht wert? Noch dazu, wo wir diejenigen sind, die ihnen die Intelligenz aufgezwungen haben.« »Moment! Sie standen direkt an der Schwelle. Sie wären auch ohne unser Dazutun intelligent geworden.«
»Das steht nicht fest. Das ist auch bloß eine Behauptung. Ganz abgesehen davon spielt es keine Rolle. Sie sind da, und wir sind da, und sie halten uns für Götter – vielleicht, weil wir nichts für sie tun und ihnen lediglich das Leben schwer machen. Einer intelligenten Rasse gegenüber sind wir doch irgendwie verpflichtet. Wir tragen eine Verantwortung. Zumindest dahingehend, daß wir sie nicht umbringen dürfen.« »Wir könnten ja großangelegte Untersuchungen anstellen und – « »Das kostet zuviel Zeit. Sie sterben uns einfach weg. Als Schatzmeister des Clubs verlange ich, daß alle Mitglieder aufgeweckt werden und man abstimmt.« »Nur, wenn die anderen auch dafür sind.« »Also, Selda?« Sie sah weg. »Tarabell? Cloud? Bondici?« Stille in der großen Höhle. »Gut«, sagte Jarry. »Ihr wollt nicht. Wenn wir in unser Paradies einziehen werden, werden wir unsere eigenen Schlangen sein. Ich gehe zurück auf meine Station im Totenland.« »Du kannst ruhig hierbleiben. Vielleicht ist es sogar besser, wenn du erst einmal solange schläfst, bis du die Sache vergessen hast.« »Nein, denn wenn die Dinge so liegen, dann trage auch ich die Schuld.« »Wie du willst«, sagte Yan Twe.
Zwei Wochen später versuchte Station neunzehn, die Totenlandstation zu erreichen und bekam keine Antwort. Ein Flugkörper wurde losgeschickt.
Die Totenlandstation war ein formloser Klumpen geschmolzenen Metalls. Von Jarry Dark fehlte jede Spur. Am späten Nachmittag fiel die Station acht aus. Ein Flugkörper wurde losgeschickt. Die Station acht existierte nicht mehr. Man fand diejenigen, die gerade Wache gehabt hatten, einige Meilen davon entfernt. Sie erzählten, daß Jarry Dark sie mit Waffengewalt gezwungen hatte, die Weltveränderungseinheit zu verlassen. Er hatte die Station mit den Feuerkanonen zerstört, die auf seinen Flugkörper montiert waren. Als sie atemlos von der Wahnsinnstat berichteten, fiel Station sechs aus. Sofort ging der Befehl an alle noch übrigen Stationen: In ständigem Sprechkontakt bleiben. Keinen unbewaffneten Schritt tun. Eventuelle Eindringlinge gefangennehmen.
Jarry wartete in einer Erdspalte. Auf dem Kontrollbrett seines Flugkörpers stand eine offene Flasche. Daneben eine kleine weiße Metallbox. Jarry wartete auf den Funkspruch, der kommen mußte. Als er gekommen war, trank er den letzten Schluck aus der Flasche, streckte sich aus und schlief. Als er wieder aufwachte, erblaßte gerade das Licht des Tages. Sie sendeten immer noch… »… nimm doch Vernunft an, Jarry. Wir werden alle wecken und eine Versammlung einberufen. Komm zurück. Hier spricht Yan Twe. Bitte, zerstöre nicht noch mehr Stationen. Diese Aktion ist nicht nötig. Wir lassen abstimmen. Bitte, melde dich. Wir warten auf deine Antwort, Jarry…«
Er warf die leere Flasche durch das Fenster seines Flugkörpers und startete. Durch die purpurroten Schatten stieg er aus der Erdspalte auf.
Als er auf der Laderampe der großen Höhle aufsetzte, standen sie bereit. Er stieg aus, und ein Dutzend Gewehrläufe richteten sich auf ihn. »Waffen weg, Jarry!« dröhnte ihm Yan Twes Stimme entgegen. »Ich trage keine Waffen«, sagte Jarry ruhig. »Mein Flugkörper auch nicht.« Die Sockel, auf die die Feuerkanonen montiert gewesen waren, waren leer. Yan Twe kam näher und sah zu Jarry auf. »Dann komm zu uns herunter«, sagte er. »Nein«, sagte Jarry. »Du bist unser Gefangener.« »Und was habt ihr mit mir vor?« »Wir werden dich einschläfern, bis alles vorbei und unsere Welt fertig ist. Komm herunter.« »Nein. Und versucht es nicht mit Waffengewalt. In dem Moment, wo mich ein Geschoß trifft, sind wir alle tot.« »Was soll das heißen?« »Daß mein Flugkörper eine Bombe ist. Ich halte die Zündung in meiner rechten Hand.« Er hob die kleine weiße Metallbox hoch und zeigte sie ihnen. »Solange ich die Sperrfeder an der Seite nach unten drücke, bleibt alles am Leben. Wenn mein Griff auch nur für den Bruchteil einer Sekunde schlaff wird, fliegt alles in die Luft.« »Du bluffst.« »Willst du dir Gewißheit verschaffen?« »Dein eigenes Leben steht mit auf dem Spiel, Jarry.«
»Mein eigenes Leben ist mir nichts mehr wert. Auch wenn ihr es schaffen würdet, mich zu liquidieren, ohne euch dabei selbst zu vernichten, dann kostet euch diese Maßnahme mindestens zwei weitere Stationen.« »Wieso?« »Was glaubst du wohl, habe ich mit meinen Feuerkanonen gemacht? Ich habe den Rotformen beigebracht, wie man damit umgeht. Ihre Rohre sind im Moment auf zwei Stationen gerichtet. Wenn ich bis zur Morgendämmerung nicht wieder bei meinen Kanonieren bin, eröffnen sie das Feuer. Wenn sie die beiden Stationen zerstört haben, greifen sie die nächsten an.« »Du hast diesen Tieren Laser Projektoren gegeben?« »Genau. Würdest du jetzt bitte die anderen wecken?« Yan Twe wäre Jarry am liebsten an den Hals gesprungen, besann sich aber eines Besseren. »Warum hast du das getan, Jarry?« fragte er. »Was bedeuten sie dir, daß du ihretwegen dein eigenes Volk quälst?« »Ihr denkt und fühlt nicht so wie ich«, sagte Jarry, »also könnt ihr meine Beweggründe auch nicht verstehen. Sie sind dem Kummer und der Einsamkeit entsprungen. Aber ganz in unklaren will ich euch nicht lassen. Ich bin ihr Gott. Meine Gestalt ist an ihre Wände gemalt und in Holz geschnitten. Ich bin der Bezwinger des Bären aus der Wüste der Toten. Seit zweieinhalb Jahrhunderten erzählen sie sich von meiner Tapferkeit, und das hat mich verändert. Ich bin kraftvoll, weise und gut, und wenn ich ihnen ihre Verehrung und Anbetung nicht danke und ihr Leben erhalte, wer liegt mir dann im Schnee zu Füßen? Wer erzählt meine Sage am Lagerfeuer, und wer zelebriert mir das beste Stück der haarigen Raupe? Niemand, Twe. Und diese Dinge machen mittlerweile mein Leben aus. Weckt die anderen auf. Ihr habt keine andere Wahl.«
»Einverstanden«, sagte Yan Twe. »Und wenn sie gegen dich stimmen?« »Dann ziehe ich mich zurück, und ihr könnt Gott sein.«
Und jetzt, wenn die Sonne am purpurroten Himmel heruntergleitet, verfolgt Jarry ihre Bahn, denn er schläft nicht mehr den Schlaf von Eis und Stein. Den Schlaf, der keinen Traum kennt. Jeder neue Morgen weckt ihn mit dem Gesang berstender Eisschollen, zitternden Zinns, klirrender Stahlstrände. Und dann kommen sie mit ihren Opfergeschenken und singen und hinterlassen Fährten im Schnee. Sie loben ihn, und er lächelt auf sie herunter. Und manchmal hüstelt er.
In Übereinstimmung mit den Bedingungen für Katzenformen, Option Kaltwelt, Klasse 3.2 – E – GMI – modifiziert durch Alyonal – von Mann und Frau gezeugt, konnte Jarry Dark nicht einfach irgendwo im Universum leben, sondern nur dort, wo die Umwelt so beschaffen war, daß sie seine Existenz nicht gefährdete. Ob man diese Tatsache als Segen oder Fluch betrachtet, ist eine Frage des Blickwinkels. Welchen Blickwinkel Sie wählen, ist Ihre Angelegenheit. Das war die Geschichte, und so dankt das Leben denen, die es achten.
Originaltitel: THE KEYS TO DECEMBER
R. A. Lafferty AM ANFANG WAR DIE GROSSMUTTER
Ceram Swicegood war ein vielversprechender junger Mann. Aber, wie fast alle SPs, hatte er eine sehr unangenehme Angewohnheit. Er fragte pausenlos: Wie hat das bloß angefangen? Sie hatten alle Decknamen. Beeindruckende, kraftvolle Namen wie Indianerhäuptlinge. Nur Ceram nicht – zum Ärgernis seines Chefs, der sich John Willensbrecher nannte. »Ceram Swicegood heißen und ein Held sein wollen«, dröhnte er immer wieder. »Swicegood – das klingt wie Schweißgott und ist Scheiße.« »Ich heiße eben so und dabei bleibt es«, sagte Ceram jedesmal darauf, und das war ein Fehler. Ein neuer Name macht manchmal einen völlig neuen Menschen aus jemand. Bei Georg Blut war es wenigstens so gewesen. Er war plötzlich von einem milchigen Knaben zu einem richtig behaarten Mann geworden. Aber das nur nebenbei. Sie befanden sich im Moment auf dem großen Asteroiden Proavitus – einem Kugelkörper, der geradezu nach potentiellem Profit roch. Und die harten Burschen der Expedition kannten ihr Business. Sie unterschrieben Mordsverträge auf samtweichem Baumrindenpapier und spielten den Text auf ihre Bänder. Sie beeindruckten und belächelten die schmächtigen, liebenswürdigen Einwohner des Asteroiden und schüchterten sie ganz schön ein. Ein blühender
Handel bot sich an, und dazu kam, daß allerhand Schrulliges Abwechslung und Spaß zu bringen versprach. »Jeder hat sich seinen Aufgabenbereich schon abgesteckt«, sagte der Chef recht vorwurfsvoll am dritten Tag, »bloß du nicht. Auch das Institut für Spezielle Planung muß sich selbst finanzieren und tragen können. Unser Auftraggeber verlangt von uns, daß wir der Angelegenheit einen kulturellen Anstrich geben, aber das heißt noch lange nicht, daß man die Kultur auf ein Podest stellen muß. Jedesmal, wenn wir auf Expedition gehen, versuchen wir, uns das größte Stück aus dem Kuchen rauszuschneiden. Das weiß jeder, denn wir machen ja keinen Hehl daraus. Wenn das größte Stück aus dem Kuchen obendrein auch noch eine Spur nach Kultur schmeckt, um so besser. Und wenn diese Spur Kultur uns etwas einbringt, dann ist es geradezu ideal. Also? Hast du über diese Gliederpuppen schon etwas in Erfahrung gebracht? Ihr Marktwert könnte ja auch einen kulturellen Beigeschmack haben.« »Beigeschmack?« wiederholte Ceram. »Die Sache ist viel gravierender, denn die Proavitoi behaupten, unsterblich zu sein.« »So ein Quatsch. Meiner Meinung nach sterben sie sogar sehr jung, denn man sieht ja überhaupt keine Alten.« »Wo sind dann ihre Friedhöfe?« »Wahrscheinlich verbrennen sie ihre Leichen.« »Wo sind dann die Krematorien?« »Das weiß doch ich nicht. Die Asche verstreuen sie wahrscheinlich in alle Winde, weil sie keinerlei Verhältnis zu ihren Toten haben.« »Dafür haben sie ein um so größeres Verhältnis zu ihren Vorfahren, denn ihre ganze Kultur ist darauf aufgebaut.« »Dann kümmere dich endlich um diesen Punkt, Ceram. Wofür bist du eigentlich SP?«
Ceram sprach mit Nokoma. Nokoma war sein Gegenstück auf dem Proavitus und fungierte als Dolmetscher. Ceram nahm an, daß sie weiblichen Geschlechts war. Die Proavitoi hatten eine gewisse Weichheit an sich, die die Unterscheidung schwer machte. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Ihnen ein paar sehr direkte Fragen stelle?« »Nein, in Natürlichkeit nicht«, sagte Nokoma. »Wie soll ich lernen, meine Zunge zu bewegen wie Sie, wenn ich nicht übe?« »Die Proavitoi behaupten, unsterblich zu sein. Stimmt das?« »Warum nicht Stimmung? Wenn sie sterben, dann nicht Vorhandensein und Behauptungsmöglichkeit von Unsterblichkeit. Nein, wie Proavitoi ohne Tod. Das Sterben ist seltsamer Brauch. Wir brauchen nicht seltsamen Brauch. Auf dem Proavitus nur Niederkreatur stirbt.« »Und von euch niemand?« »Nein, in Natürlichkeit nicht. Keiner will Ausnahme von Regel.« »Aber, was macht ihr, wenn ihr sehr alt seid?« »Ruhe und mehr Ruhe. Energie knapp. Bei deinesgleichen Anderkeit?« »Nein, da ist es nicht anders. Aber, was macht ihr, wenn ihr wahnsinnig alt seid?« »Kein Machen. Bleiben. Junge Proavitoi viel Machen.« »Und wo sind Ihre Eltern, Nakoma?« »Meine Eltern Machen. Meine Eltern kein Alter.« »Und Ihre Großeltern?« »Manche noch Machen. Die älteren kein Machen. Die älteren bleiben.« »Wieviel Großmütter haben Sie denn, Nokoma?«
»In meiner Bleibe? Schätzung von neunhundert. Keine Vielfalt, aber wir sind Jungzweig der Familie. Andere Zweige große Vielfalt von Ahnen in der Bleibe.« »Und sie leben alle?« »Natürlichkeit! Sterben kein Brauch, sonst keine Ahnen.« Cerams Herz schlug bis zum Hals hinauf. »Könnte ich sie vielleicht einmal sehen?« fragte er vorsichtig. »Keine Klugheit für Fremde, sehr alte Ahnen zu sehen. Nicht so alte Ahnen Sehung kein Problem.« Sollte Ceram am Ziel seiner lebenslänglichen Wünsche angekommen sein? Er zitterte vor Aufregung. »Nokoma!« rief er. »Wenn von euch noch nie jemand gestorben ist, dann muß ja die ganze Rasse noch existieren.« »Natürlichkeit. Wie bei Obstzählung. Keine Wegnehmung, konstanter Besitz und Mehrung.« »Aber, wenn die ersten Lebewesen Ihrer Rasse noch am Leben sind, Nokoma«, sagte Ceram, »dann müssen sie doch wissen, wie sie entstanden sind. Oder? Wissen Sie, Nokoma, wie die ersten Lebewesen entstanden sind?« »Nein, Natürlichkeit nicht. Zu viel Jugend für das Ritual.« »Aber jemand muß es doch wissen.« »Natürlichkeit. Die sehr alten Ahnen.« »Wie alt sind denn die sehr alten Ahnen? Wieviel Generationen liegen sie zurück?« »Generationen? Wenn mein Besitz zehn Kindergenerationen, dann ich auch Beisein zum Ritual.« »Was ist denn das Ritual?« »Ein Tag im Jahr Gehung von alten Ahnen zu sehr alten Ahnen. Weckung und Fragung wie Anfang von Proavitoi. Die sehr alten Ahnen Erzählung von Anfang. Hochfest! Kichern und lachen und am Ende Schlafung von sehr alten Ahnen, bis neues Jahr und neues Ritual.«
Die Proavitoi waren nicht humanoid. Sie waren auch keine »Affengesichter«, wie die Forscher bösartig zu sagen pflegten. Sie gingen aufrecht, trugen Kleidung und Schminke und hatten keinen beißenden, aufdringlichen Eigengeruch. Daß unter ihren langen Gewändern Füße steckten, war nur eine Vermutung. »Vielleicht bewegen sie sich auch auf Rädern fort«, meinte Willensbrecher abfällig. Die Proavitoi hatten bemerkenswert geschickte und geschmeidige Hände, deren Finger nach allen Richtungen beweglich zu sein schienen. Sie konnten damit jede Art von Gerät bedienen, die Hände aber auch wie Geräte benutzen. George Blut war der Meinung, daß die Proavitoi Masken trugen und keiner der Expeditionsteilnehmer je das wahre Gesicht der kleinen Gestalten gesehen hatte. Er wagte sich sogar zu der Behauptung vor, daß wahrscheinlich die Hände der Proavitoi ihr Gesicht waren. Als Ceram den anderen berichtete, was er in Erfahrung gebracht hatte, grölte alles vor Lachen. »Typisch Ceram!« spottete der Chef. »Wie hat das bloß angefangen? Wer war zuerst da? Das Huhn oder das Ei?« »Die Antwort auf diese Frage haben wir bald«, sagte Ceram, der sich nicht so leicht überfahren ließ. »Diese Gelegenheit ist einmalig. Wenn ich herausbringe, wie die Rasse der Proavitoi entstanden ist, dann läßt sich daraus vielleicht das Entstehen alles Seins ableiten.« »Deine Gutgläubigkeit ist rührend, Swicegood«, sagte John Willensbrecher. »Es heißt immer, daß jemand dann erst wirklich erwachsen ist, wenn er Vollidioten wortlos ertragen kann. Hoffentlich erreiche ich den Punkt nie.« Zwei Tage später allerdings kam John Willensbrecher zu Ceram Swicegood und schnitt fast dasselbe Thema an. Er hatte inzwischen nachgedacht und war auf eigene Ideen gekommen.
»Du bist SP, Ceram«, sagte er, »und hast den großen Fehler begangen, hinter falschen Perspektiven herzujagen.« »Wieso?« »Weil es kein Schwein interessiert, wie alles angefangen hat. Es kommt nur darauf an, daß es nicht aufhört.« »Aber mich interessiert es«, sagte Ceram stur. »Ceram, verstehst du denn nie etwas? Was haben uns die Proavitoi voraus? Sei es nun durch ihre Wissenschaft oder durch die Natur oder durch reinen Dusel bedingt.« »Ihre Biochemie.« »Richtig. Sie besitzen jede Art von Nexus, Inhibitor und Stimulanz und sind in der Lage, je nach Lust und Laune wachsen, schrumpfen, teleskopieren und verlängern zu lassen. Auf mich machen diese Kreaturen einen absolut stupiden Eindruck, denn sie scheinen alle diese Fähigkeiten rein instinktiv zu besitzen. Aber sie besitzen sie, und das ist das Ausschlaggebende. Mit ihren Mitteln können wir zu Königen der Medizin und Biochemie werden, denn die Proavitoi verlassen ihren Asteroiden nicht und sind an Kontakten mit dem Universum nicht interessiert. Es würde mich nicht wundern, wenn diese Kreaturen auch Zellen schrumpfen lassen könnten.« »Nein, das können sie ganz bestimmt nicht, Willensbrecher. Jetzt redest du daher wie ein Vollidiot – wenn ich dich zitieren darf.« »Aber bitte! Die Methoden der Proavitoi stellen unsere konventionellen Gesetze der Biochemie ja sowieso schon in Frage. Mit der Pharmakopocia, die man sich hier abschauen kann, braucht der Mensch nicht mehr zu sterben.« »Wie die Proavitoi.« »Das will erst bewiesen sein.« »Richtig.«
»Vielleicht verscheißern sie uns. Kennen diese Kreaturen eine Art von Humor?« »Ich denke schon.« »Ich glaube, du hast immer noch nicht begriffen, Ceram, wie sensationell diese Sache werden kann.« »Doch. Und ich scheine der einzige zu sein, der die Sache voll und ganz begriffen hat. Wenn die Proavitoi tatsächlich unsterblich sind, dann sind die ersten ihrer Rasse noch vorhanden. Und von ihnen werde ich möglicherweise erfahren, wie ihre Rasse – und eventuell jedes Leben schlechthin – entstanden ist.« John Willensbrecher raufte sich die Haare. »Mann!« schrie er. »Du bist so hirnverbrannt, daß einem das Kotzen kommen könnte. Wie es angefangen hat, ist doch völlig egal. Hauptsache, es hört nicht auf.«
Ceram Swicegood ging zu Nokomas Haus, aber ohne von ihr eingeladen zu sein und auch nicht in ihrer Begleitung. Ohne sie würde er mehr über die neunhundert Großmütter in Erfahrung bringen. Er mußte wissen, was die alten Kreaturen taten, wenn sie nicht starben, und wie alles angefangen hatte. Er rechnete mit der beispiellosen und geradezu sprichwörtlichen Höflichkeit der Proavitoi. Das Haus von Nokoma stand ganz oben auf dem flachen Hügel – der Akropolis des Asteroiden. Wie alle anderen, die dicht gedrängt an die Hänge geklebt waren, war es aus Lehm und schien mit dem Berg verwachsen zu sein. Ceram ging die schmalen, gepflasterten Gäßchen hinauf und betrat das Haus. In seinem Benehmen lag eine gewisse Heimlichkeit, die aber bei der ersten Großmutter, auf die er traf, gar nicht angebracht, geschweige denn nötig war.
Die kleine alte Kreatur saß in einem ihren Körperformen angepaßten Sessel und lächelte ihm entgegen. Sie unterhielten sich ohne nennenswerte Schwierigkeiten, obwohl es nicht so einfach ging wie mit Nokoma, die lediglich die dumme Angewohnheit hatte, alles in Substantive zu packen, deren Bedeutung man oft erst erraten mußte. Kurz darauf erschien ein Großvater, der ihn ebenfalls mit einem strahlenden Lächeln begrüßte. Die beiden Alten waren eine Nuance kleiner als die aktiven Proavitois. Sie waren freundlich und heiter. Ein leicht süßlicher Geruch hing in der Luft – nicht unangenehm, sondern irgendwie beruhigend, wenn nicht fast einschläfernd. »Sie sind nicht die ältesten, oder?« fragte Ceram. »Nein. Viele, viele älter. Unzählbar.« Die Großmutter rief noch andere Großmütter und Großväter herein. Die ältesten von ihnen waren nur noch halb so groß wie aktive Proavitois. Sie waren winzig, lächelten und gähnten. Ceram war inzwischen hundertprozentig überzeugt davon, daß die Proavitois keine Masken trugen. Je älter sie waren, desto ausgeprägter und gezeichneter waren ihre schrumpeligen Gesichter. Die Ruhe und Weisheit, die ein altes Gesicht ausstrahlt, ist in keiner Maske nachzubilden. »Wie alt sind die ältesten?« fragte Ceram die erste Großmutter. »Alle sind gleiches Alter«, antwortete sie. »Weil alle sind ewig. Wir fragen nie nach Alter.« »Sie wissen sicherlich nicht, was ein Hummer ist«, sagte Ceram aufgeregt, »deshalb will ich es Ihnen erzählen. Ein Hummer ist ein Tier, das sich mit dem größten Vergnügen abkochen läßt, wenn man das Wasser ganz langsam erhitzt. Er wehrt sich nicht dagegen, weil er nicht weiß, ab welcher Temperatur die Hitze gefährlich für ihn wird. Genauso geht es mir hier mit Ihnen. Ich gleite von einem Stadium zum anderen,
und meine Leichtgläubigkeit wird nicht im mindesten beeindruckt. Das heißt, ich laufe Gefahr, alles zu glauben, wenn es mir in kleinen Dosen verabreicht wird. Ich glaube, daß Sie hier sind und existieren, weil ich Sie mit meinen eigenen Augen sehen kann und mit meinen eigenen Händen berühren könnte, wenn ich nicht jemand wäre, der große Achtung vor dem Alter hat. Mir wird es gehen wie dem Hummer, wenn ich mich nicht rechtzeitig losreißen kann. Gibt es denn noch ältere Ahnen als Sie, die hier vor mir stehen?« Die erste Großmutter bat Ceram, ihr zu folgen. Über eine Art Rampe stiegen sie in den älteren Teil des Hauses hinunter. Er mußte im Innern des Berges liegen.
Lebende Gliederpuppen. Sie standen in langen Reihen in Regalen und saßen auf Miniaturstühlen in Nischen. Einige Hundert lebender Gliederpuppen. Viele waren von selbst aufgewacht. Der Rest wachte erst auf, als Stimmen laut wurden. Sie waren unbeschreiblich alt, lächelten und räkelten sich langsam. Ceram sprach mit ihnen, und die Verständigung war erstaunlicherweise überhaupt kein Problem. »Hummer, Hummer«, murmelte Ceram vor sich hin. »Die Wassertemperatur hat den gefährlichen Punkt bereits überschritten. Wenn du nicht aufpaßt, wirst du mit deiner Gutgläubigkeit bei lebendigem Leib abgekocht.« Er wußte, daß die Gliederpuppen echt und aus Fleisch und Blut waren. Sie waren die Vorfahren der Proavitois. Viele der kleinen Kreaturen schliefen auf der Stelle wieder ein. Ihre wachen Momente waren kurz, schienen sich aber kaum von ihrem Schlaf zu unterscheiden. Einige der lebenden Mumien wachten ein zweites Mal auf und machten trotz des
sehr kurzen Schlafs einen völlig erholten Eindruck. Sie wollten sich mit Ceram unterhalten. »Das ist nicht zu fassen!« rief Ceram, und all die kleinen und noch kleineren und noch kleineren Kreaturen lächelten und lachten. Ceram wurde plötzlich gierig. Ein Raum voll von Wundern war ihm nicht genug. »Es gibt noch viel ältere«, sagte die erste Großmutter. »Aber klug ist, wer nicht sucht, zu klug zu sein. Die alten Proavitois sind müde. Wieder hinaufgehen.« Wieder hinaufgehen? Weg von allem? Nie und nimmer! Er sah die Gänge, die in das Herz des Berges führten. Unter seinen Füßen mußten ganze Welten von anderen Räumen sein. Ceram ging einfach weiter. Wer sollte ihn auch daran hindern? Nicht die Kreaturen, die so winzig klein waren. Er durchstreifte Jahrhunderte und Jahrtausende. Der süßliche Geruch, den er oben schon bemerkt hatte, wurde immer stärker: einschläfernd, voll von zerstückelten Erinnerungen, lächelnd und auch eine Spur traurig. »Gibt es noch ältere?« fragte Ceram eine kleine Großmutter, die auf seiner flachen Hand saß. »So alt und so klein«, sagte die Großmutter und machte eine Hand auf. Ceram hatte begriffen. Es gab also so winzige Kreaturen, daß sie in die Handfläche dieser kleinen Kreatur paßten. Die Großmutter in seiner Hand lachte sich in den Schlaf, und Ceram stellte sie wieder an ihren Platz. Daß er sich nicht mehr in Nokomas Haus befand, war ihm klar. Er war im Herzen des Berges, wo die Vorfahren des Asteroiden ruhten. »Gibt es noch ältere?« fragte er eine Großmutter, die er vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. – »Älter und kleiner«, sagte sie. »Aber bald Ende.«
Sie schlief sofort wieder ein, und er stellte auch sie an ihren Platz zurück. Jetzt war der Boden unter seinen Füßen felsig. Viel tiefer konnte es nicht mehr gehen. Ceram hatte plötzlich Angst, daß die Kreaturen so klein sein würden, daß er sie nicht mehr erkennen konnte und ihm somit das Geheimnis des Anfangs doch noch verschlossen blieb. Aber hatte Nokoma nicht gesagt, daß alle Ahnen das Geheimnis des Anfangs kannten? Natürlich! Er wollte es jedoch von den ältesten hören. Von den ersten. »Wo ist der Älteste?« fragte er. »Ist hier das Ende? Hat es hier angefangen? Wacht auf! Ihr sollt aufwachen!« »Feiern wir das Ritual?« fragten einige verschlafen. Sie waren kleiner als Ameisen. »Wir feiern ein ganz besonderes Ritual«, sagte Ceram. »Erzählt mir, wie es am Anfang war.« Was war das? Kein Laut, sondern – Es war wie das Lachen von Tausenden von Mikroben. Wie die Heiterkeit von Zellen, die aufwachten, um ein Fest zu feiern. »Wo ist der Älteste?« fragte Ceram ungeduldig. Das Lachen ging ihm auf die Nerven. »Wer ist der Erste?« »Ich!« rief ein Stimmchen fröhlich. »Ich bin Ur-Großmutter. Alle sind meine Kinder. Bist du auch mein Kind?« »Natürlich«, sagte Ceram, und die winzigen Kreaturen wollten sich ausschütten vor Lachen. »Wie war es am Anfang?« drängte Ceram. »Du warst die Erste, also weißt du, wie du entstanden bist.« »Ja, ja«, lachte die Ur-Großmutter, und die Heiterkeit der Winzlinge wurde lärmend. »Wie es angefangen hat, will ich wissen!« rief Ceram dazwischen und lief wie angestochen hin und her. »Lustig«, kicherte die Ur-Großmutter. »Ein Heidenspaß!«
»Erzähl doch endlich«, rief Ceram. »Wenn eure Rasse aus einem Heidenspaß entstanden ist, dann erzähl doch, was daran so spaßig war.« »Wenn du mein Kind«, piepste die Ur-Großmutter, »dann du ein Teil von Spaß. Wie lustig! Wie schön: aufwachen und lachen und wieder einschlafen.« Es war zum Verzweifeln! Dem Geheimnis so nahe zu sein und von einem idiotischen Partikelchen verlacht und verspottet zu werden. »Du sollst nicht einschlafen, sondern erzählen, wie es angefangen hat!« schrie Ceram und nahm die Ur-Großmutter zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ritual geht anders«, protestierte sie. »Du mußt raten, und wir lachen über deine Dummheit. Rate doch!« »Ich denke nicht daran. Du sagst mir auf der Stelle, wie es angefangen hat, oder ich zerdrücke dich zwischen den Fingern.« »Das tust du nicht«, sagte die Ur-Großmutter ruhig und sah ihn freundlich an und lächelte. Jeder andere von seinen Kollegen hätte es getan, denn sie waren rauhe Gesellen. Aber Ceram brachte es nicht fertig. Er war eben kein rauher Geselle. »Bitte, sage es mir doch!« flehte er. »Mein ganzes Leben lang frage ich schon nach dem Anfang der Dinge, und du kennst die Antwort.« »Ein Heidenspaß! Du glaubst es nicht!« »Erzähl doch!« »Nein, denn du bist kein Kind von mir. Du bist fremd. Du bist sterblich. Ich will nicht, daß du dich zu Tode lachst.« »Erzähl! Ich will mich zu Tode lachen.«
»Es war ein Heidenspaß!« Und sie lachten und lachten… bis Ceram Swicegood weinte und mit ihnen lachte.
Originaltitel: NINE HUNDRED GRANDMOTHERS
Frederik Pohl ROMANZE ÜBERMORGEN
An dem Tag, von dem ich Ihnen erzählen will, wird es einen jungen Mann und ein Mädchen geben und eine Liebesgeschichte. Obwohl ich bis jetzt noch kaum etwas gesagt habe, ist nichts davon wahr. Der junge Mann ist in dem Sinn kein junger Mann, denn er ist einhundertsiebenundachtzig Jahre alt. Und das Mädchen ist in dem Sinn kein Mädchen, aber aus anderen Gründen. Und die Liebesgeschichte ist in dem Sinn keine Liebesgeschichte, denn sie hat nichts Triebhaftes an sich. Wenn Sie diese Fakten nicht als gegeben hinnehmen, wird Sie meine Geschichte kalt lassen. Tun Sie es aber, dann werden Sie es nicht bereuen. Das Mädchen ist deshalb kein Mädchen, weil es ein junger Mann ist. Und schon schieben Ihnen Ihre Vorurteile wieder einen Riegel vor. Wer zum Teufel, sagen Sie, interessiert sich schon für zwei Schwule. Beruhigen Sie sich, ich will Ihnen keine Perversionen auftischen. Ganz abgesehen davon würden Sie das Mädchen nie für einen jungen Mann halten, wenn Sie es sehen könnten. Primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale – alles vorhanden. Verwirrend sind lediglich das seidige Fell, der kleine Schwanz und die Kiemen hinter den Ohren. Moment – nicht gleich sauer werden. Abwarten! Das Mädchen ist niedlich wie selten eines, und wenn Sie, als normal veranlagter Mann, auch nur eine Stunde mit ihm in
einem Raum verbringen würden, würden Sie alle Tricks anwenden, um es ins Bett zu bekommen. Nennen wir das Mädchen Dora. Ihr wirklicher Name? Omikron – Dibase Seven – groop – totter – oot S Doradus 5314, wobei der letzte Teil eine Farbspezifikation ist, die einer gewissen Grünschattierung entspricht. Dora ist also weiblich, behaupte ich, charmant und ausnehmend hübsch. Sie ist eine Art Tänzerin. Ihre Haupttalente sind übersteigertes Einfühlungsvermögen und Geschick in der Beurteilung der Umwelt. Zu ihrem Beruf gehören körperliche Voraussetzungen und unendlicher Fleiß. Sie übt ihn in Nullgravität aus und ist dabei so sexy, daß es einem die Augen aus dem Kopf treibt. Und nun zu der Tatsache, daß Dora ein junger Mann ist. Das Genetische ist ihrem Publikum egal. Wenn Sie Dora tanzen sehen könnten, wäre es Ihnen auch egal, denn Sie würden gar nicht wissen, daß sie männlich ist. Es sei denn, Sie würden ihr ein Stückchen Gewebe herausschneiden, es unter ein Elektronenmikroskop legen und feststellen, daß XY Chromosome vorhanden sind. Aber auf die Idee würden Sie gar nicht erst kommen. Wie dem auch sei, durch Techniken, die nicht nur komplex, sondern noch gar nicht erfunden sind, sind diese Leute in der Lage, eine Menge über Anlagen und Begabungen eines Embryos auszusagen; wenn es noch kaum gezeugt ist. Daß die Anlagen und Begabungen dann gefördert werden, versteht sich von selbst. Würden wir das nicht auch tun? Was bekommt ein musikalisch talentiertes Kind zu Weihnachten? Eine Geige natürlich. In Doras Fall stellte man einen ausgeprägten Hang zur Weiblichkeit fest, also unterstützte man diesen Zug. Da die Fortpflanzung schon längst nichts mehr mit Sex zu tun hat, ist
das überhaupt kein Problem, und man verliert kaum ein Wort darüber. Was heißt »kaum ein Wort«? Spricht man bei uns vielleicht über eine Zahnfüllung oder ein Hörgerät? Also! So entsetzlich ist das gar nicht. Wenn Sie das nächste Mal hinter einer vollbusigen Blondine herschielen, dann denken Sie vielleicht daran, daß die vollbusige Blondine gut und gern eine Dora sein könnte, denn Erwachsene sind genetisch gesehen maskulin, aber somatisch gesehen können sie feminin sein. Bei uns passiert das nur, wenn die Natur launisch ist und sich einen Witz erlaubt, aber bei den Menschen meiner Geschichte ist es geplante Absicht. Genug geredet über Dora. Wenn ich Ihnen sage, daß sie zwei Meter zehn groß ist und nach Erdnußbutter riecht, verwirrt Sie das bloß. Also zu unserer Geschichte. Am Tage 1000000 schwimmt Dora aus ihrem Haus in einen Transportkanal, wird blitzschnell an die Oberfläche gesogen und über die Fontaine auf die elastische Plattform ihrer – nennen wir es einmal Tanzschule – also, ihrer Tanzschule geschleudert. »Oh!« ruft sie erschreckt, sucht nach Halt und hängt zu ihrem größten Erstaunen am Revers eines völlig fremden Mannes, den wir Don nennen wollen. So lernen sie sich kennen. Don ist gerade auf dem Weg, sich die Beine erneuern zu lassen. Wenn ihm im Moment etwas nicht im Kopf herumgeht, dann Liebe. Aber als er plötzlich das bezauberndste Mädchen, das er je gesehen hat, in den Armen hält, spürt er sofort, daß sie für einander bestimmt sind. »Heiratest du mich?« fragte er. »Gern«, sagt sie, und ihre Stimme ist wie eine Liebkosung. »Am Mittwoch.«
Don ist groß, muskulös, bronzefarben und aufregend. Er heißt genauso wenig Don wie Dora Dora heißt, aber weil er wie Adonis persönlich aussieht, nennen wir ihn Don. Sein in Angström gemessener Farbkode ist 5290, also lediglich einige Nuancen blauer als Doras 5314 – was sie beide instinktiv erfaßt hatten. Mehr Affinität kann man sich nicht wünschen. Ich will versuchen, Ihnen zu erklären, was Don tut – nicht etwa, um sich seinen Unterhalt zu verdienen, sondern um seinem Leben einen Sinn zu geben und nicht vor Langeweile wahnsinnig zu werden. Mein Versuch wird mißlingen, aber ich strenge mich trotzdem an und sage Ihnen vorweg einmal, daß Dons Beschäftigung ihn dazu zwingt, viel unterwegs zu sein. Er reist in interstellaren Raumschiffen. Um ein interstellares Raumschiff auf volle Reisegeschwindigkeit zu bringen, müssen einunddreißig männlich und sieben genetisch weibliche Menschen gewisse Dinge tun, und Don ist einer der einunddreißig. Er ist sogar die Hauptperson und damit fast ständig wechselnder Ausstrahlung ausgesetzt – nicht so sehr durch seine eigene Station bedingt, sondern mehr durch einen Überläufer der Nachbarstation. Bei diesem Überläufer handelt es sich um einen genetisch femininen Menschen mit elitären und selektiven Verhaltensweisen. Die subnuklearen Partikelchen, die die Auswahl treffen, zerstören sich selbst in einem Quantschauer – was Ihnen natürlich so egal ist wie nur etwas – für Don aber bedeutet, daß er rund um die Uhr einen dünnen, aber sehr stark isolierenden bronzefarbenen Metallfilm auf der Haut tragen muß. Diesen Umstand habe ich schon erwähnt, aber Sie haben wahrscheinlich gedacht, daß Don sonnengebräunt ist. Don ist außerdem noch Kybernetiker. Die meisten seiner gröberen Organe sind durch Mechanismen ersetzt, die viel dauerhafter im Gebrauch sind als die Originale. Eine Kadmiumzentrifuge zum Beispiel treibt ihm das Blut durch das
System. Seine Lungen arbeiten nur, wenn er laut spricht, denn eine Kaskade osmotischer Filter zieht Oxygen aus der eigenen Spillage. Für einen Menschen des 20. Jahrhunderts sieht er mit seinen glänzenden Augen und seinen siebenfingrigen Händen vielleicht seltsam aus, aber auf sich selbst und vor allem auf Dora wirkt er unheimlich männlich und beeindruckend. Das Universum kennt er wie seine Westentasche. Er hat tausend Sterne und ihre zehntausend Planeten gesehen und auch schon Abstecher auf die Erde gemacht, aber das interessiert Sie ja alles nicht. In einer Erzählung interessieren die Menschen und nicht die Umstände, unter denen sie leben. Sie wollen von Don und Dora hören. Also: Don und Dora haben es geschafft. Die große Anziehungskraft zwischen ihnen wächst und blüht und reift bis zum Mittwoch. Sie treffen sich in Begleitung gutgesinnter Freunde im Programmierungszentrum und lassen ihre Daten aufnehmen und speichern. Sie lächeln und flüstern sich verliebte Worte zu und ertragen errötend die etwas schlüpfrigen Anspielungen und Bemerkungen der anderen. Dann tauschen sie die mathematischen Analogen aus und trennen sich. Dora geht in ihre Unterwasserbehausung und Don in sein Raumschiff. Ein echtes Idyll. Sie leben glücklich und zufrieden vor sich hin, und ihr Ableben ist nicht abzusehen. Sie treffen sich natürlich nie wieder.
Ich sehe Sie direkt vor mir. Sie kauen auf einem holzkohlengegrillten Steak herum und spielen mit Ihren Kümmelbrötchen. Aus Ihren Stereolautsprechern dringt ein Stück des Modern Jazz Quartett. Von meiner Geschichte glauben Sie kein Wort. Nicht einmal eine Silbe. Das macht
doch niemand mit, denken Sie, und holen sich frisches Eis für Ihren Drink. Und trotzdem eilt Dora durch den Transportkanal in ihre Unterwasserbehausung zurück und steckt Dons Analogen in den Symbolmanipulator, polt sich an und schaltet ein… aber mehr erzähle ich Ihnen nicht, sonst fällt Ihnen der Bissen aus dem Mund. Ich sage Ihnen bloß, daß Doras Glückseligkeit mindestens so überwältigend’ und leidenschaftlich ist wie das, was James Bonds Spionagemiezen erleben oder die »Wirklichkeit« zu bieten hat. Ihr Neid kümmert Dora keinen Deut. Falls sie zufällig an Sie denkt, an diesen Großvater vor siebenunddreißig Generationen, dann lächelt sie mitleidig, denn sie hat weniger mit Ihnen gemein als Sie mit den Australophitezinen vor fünftausend Jahrhunderten. Sie könnten keine Sekunde in ihrem starken Lebensstrom schwimmen. Sie zweifeln an der Geradlinigkeit des Fortschritts, dabei ist er nicht aufzuhalten, und seine Beschleunigung ist atemberaubend. Der Anfang ist beschwerlich und kostet Zeit, aber, wenn es einmal so weit ist, dann geht es los wie eine Rakete. Und Sie, Sie whiskytrinkender Steakesser in Ihrem Fernsehsessel, Sie stehen noch nicht einmal an der Schwelle. Was sind schon 600000 oder 700000 Tage nach Christus? Dora lebt am 1000000 Tag. 10000 Jahre vor Ihnen. Ihre Fettpolster sind poly-umsaturiert. Ihre Absonderungen beziehungsweise Ausscheidungen werden im Schlaf hemodialysiert, sie kann ihren Energiehaushalt je nach Bedarf verlangsamen oder ankurbeln und so weiter und so fort. Sie liebt Don glühend. Jede Geste, jede Eigenheit, jede Laune, jede Berührung seiner Hand, jeden Orgasmus und jede Leidenschaft sind in symbolisch-mathematischer Form gespeichert, und wenn sie sich nach ihm sehnt, braucht sie bloß das Gerät einzuschalten und besitzt ihn.
Und Don besitzt natürlich Dora. Weit weg in einer Ablegersiedlung, ein paar hundert Meter über ihr oder Lichtjahre von ihr entfernt, muß Don lediglich die entsprechende Mikrokassette aus seinem Archiv holen – das er ständig bei sich hat – und da ist sie, und unermüdlich liebt er sie eine ganze Nacht lang. Natürlich nicht fleischlich. Fleischeslust gibt es längst nicht mehr. Die Geschlechtsorgane sind gefühllos. Hände, Brüste, Lippen sind nur Empfänger, die Impulse aufnehmen. Das Gehirn ist das Zentrum. Es interpretiert die Impulse, die Agonien oder Orgasmen auslösen. Orgasmen mit Dora oder Diane oder der niedlichen Rose oder der kichernden Alicia. Ach Quatsch, sagen Sie. Ich lasse mich doch nicht für dumm verkaufen. Aber – – Hand aufs Herz, wie würden Sie mit Ihrem Gesichtswasser, Ihrem roten Sportwagen, Ihrem Mahagonischreibtisch im Büro und Ihren wilden Träumen, was glauben Sie, wie Sie auf Attila oder Messalina wirken würden?
Originaltitel: DAY MILLION
Domnic Plachten DER DILETTANT
Mr. Smith mixte sich gerade einen trockenen Martini, als die Explosion das ganze Haus erschütterte und die offene Vermouthflasche umkippte. Den Gin erwischte er gerade noch und schraubte ihn zu, während die Eiswürfel noch im Glas klickten. Dann rannte Mr. Smith hinaus. Keine hundert Meter von seinem Haus entfernt zerstörte ein weißglühendes Gleißen den purpurroten Sonnenuntergang, den er gerade noch bewundert hatte. »Großer Gott!« stöhnte Mr. Smith und rannte ins Haus zurück, um die Polizei anzurufen. Als Mr. Smith gerade einen tiefen Zug aus der Ginflasche nahm, hörte er ein Zischen vor seiner offenen Haustür. Das Geräusch dauerte eine ganze Minute an, und Mr. Smith schlich sich schließlich vorsichtig auf seine Veranda. Dort, wo er vorhin das Gleißen gesehen hatte, erhob sich jetzt eine Nebelwand. Mr. Smith wartete volle fünf Minuten, wobei ihm die Angst im Nacken saß. Er wollte gerade wieder ins Haus gehen und sich noch einen ordentlichen Schluck gönnen, da tauchte aus dem Nebel ein Mann auf. »Guten Abend«, sagte der Mann. »Guten Abend«, sagte Mr. Smith. »Sind Sie von der Polizei?«
»Du liebe Güte – nein!« sagte der Fremde. »Ich komme von dort.« Er deutete auf die Nebelwand. »Meine Kühlanlage ist im Eimer.« »Sie kommen wohl aus dem All«, sagte Mr. Smith. »Ja, aber bloß aus ein paar hundert Kilometer Entfernung«, sagte der Fremde bescheiden und zuckte mit den Schultern. »Ich bin Reisender in Zeit.« Er zündete sich eine dicke Zigarre an. »Übrigens der einzige, den es gibt«, setzte er nicht ohne Stolz hinzu. »Tatsächlich? Wollen Sie nicht auf einen Drink reinkommen? Es ist allerdings bloß noch Gin da. Der Vermouth ist umgekippt.« »Gin tut’s auch«, sagte der Fremde, und sie gingen zusammen ins Haus. »Handeln Sie mit Vergangenheit oder mit Zukunft?« fragte Mr. Smith und reichte seinem Gast die Flasche. »Handeln ist vielleicht das falsche Wort«, sagte der Fremde. »Ich komme aus der Zukunft.« »Aha«, sagte Mr. Smith und machte es sich bequem. »Tun Sie sich keinen Zwang an und erzählen Sie.« »Gern.« »Also, dann los.« »Tja, das war so«, sagte der Fremde. »Meine letzten Kalkulationen waren recht befriedigend. Die übliche Toleranz aus Plus und Minus, allerdings machte ich mir Gedanken über das Minus.« »Aber Sie haben es riskiert«, meinte Mr. Smith. »Selbstverständlich. Und deshalb ist es passiert. Die Erde ist kaputt.« »Das ist natürlich schlecht«, sagte Mr. Smith und griff nach der Flasche. »Eben. Aber der Aufwand an Energie war so groß, daß die Erde total zerstört wurde. Der Luftdruck hat mich quer durch
das All zu Ihnen geschleudert. Übrigens, wenn ich Sie gestört habe, tut es mir leid.« »Aber, ich bitte Sie!« »Wie dem auch sei, ich bin das Risiko eingegangen, und ich bereue es nicht. Das Risiko war mit einkalkuliert, und ich habe recht behalten. Es war also den Versuch wert. Finden Sie nicht auch?« »Wie Sie schon sagten, Sie sind das Risiko eingegangen und haben recht behalten. Dann muß es wohl den Versuch wert gewesen sein.« Mr. Smith genehmigte sich einen letzten Schluck und hob noch ein paar Tropfen für seinen Gast auf. »Wie weit kommen Sie denn aus der Zukunft?« Der Reisende in Zeit griff nach der Flasche und sah auf die Uhr. »Achtzehn Minuten«, sagte er schließlich. »Dann war es den Versuch nicht wert«, sagte Mr. Smith.
Originaltitel: THE MAN FROM WHEN
A. A. Valde DER REAKTIONÄR
1 Es hat ziemlich harmlos angefangen. Ich wurde gerufen. Normalerweise geht heute keiner mehr zur Arbeit, sondern die Arbeit kommt zu ihm, aber ein Kriminalbeamter hat es eben nicht leicht. Die Alarmanlage in meinem Schlafzimmer ging los. Ich wachte auf, und mein erster Gedanke war: Mord. Zwei Minuten später saß ich bereits in meinem Helicar und wurde von den Kontrollrobotern in Rekordzeit durch den Verkehr geschleust. Es gibt zwei Arten von Mord. Im Affekt oder vorsätzlich. Beim vorsätzlichen Mord hält sich der Täter meistens für besonders clever und legte sich die Schlinge selbst um den Hals. A propos Schlinge – das ist natürlich nur bildlich gemeint. Diese veraltete Hinrichtungsmethode ist längst abgeschafft. Es existieren inzwischen humanere Verfahren, ein für die Gesellschaft gefährliches Element zu liquidieren, wobei in den meisten Fällen Freiheitsentzug für die bessere Lösung gehalten wird. Daß dieser Fall anders lag, wußte ich sofort. Ich spürte es in sämtlichen Knochen. Ein Sexualverbrechen? Wahrscheinlich noch schlimmer. Das Opfer war männlich – zwischen siebzehn und neunzehn. Es war nackt und lag auf der rechten Seite. Die Beine waren an
den Körper gezogen. Ein Arm darunter, der andere aus der Schulter gedreht. Der Schädel war kahlgeschoren. Ich richtete mich wieder auf. Ein paar Meter über mir schossen Helitaxis vorbei. Ich wäre jede Wette eingegangen, daß die Leiche aus einem Taxi gestoßen worden war. Die Sterne am Nachthimmel glitzerten und lachten. Ich wandte mich wieder dem Jungen zu. Er war schon so lange tot, daß die Leichenstarre eingetreten und wieder vergangen war. Der Robopathologe würde im Handumdrehen feststellen, wie lange. Die Identität war auch kein Problem. Anschließend Überprüfung seiner Familie, seiner Freunde, seines Kreditkarten-Kontos. Die Todesursache? Das war Sache des Robopathologen. Er würde wahrscheinlich auch einen Hinweis geben können, wo das Verbrechen begangen worden war. Ob es lang gedauert hatte? Nach dem Gesichtsausdruck zu schließen, schien er gewußt zu haben, daß er dran ist. Und der Mörder? Bildete er sich etwa ein, zu entkommen? Mir zu entwischen? Als ihn die Roboter aufhoben, sah ich die Stichwunde in seinem Bauch. Ungefähr zehn Zentimeter lang und fünf Millimeter breit. Seltsam. So etwas hatte ich gut fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen. Kaum Blut. Auch seltsam. Man hatte ihn entweder gewaschen oder erst nach dem Exitus auf ihn eingestochen. Als man ihn abtransportiert hatte, sah ich mich um. Der große Hof zwischen dem Warenhaus und den Lagerräumen war leer und verlassen. In den letzten zwanzig Jahren hatte kaum ein menschlicher Fuß dieses Gebäude betreten, denn Roboter ersetzten die unzulängliche und unzuverlässige Muskelkraft von früher.
Ein Roboter hatte die Leiche entdeckt und bei seinem Schichtführer Meldung gemacht. Ich mußte ihn mir vorknöpfen. Keine Abfälle auf dem Hof. Roboter sind absolut sauber und hinterlassen keine Zigarettenstummel oder sonstigen Unrat. Nur Scherben unter dem Glasdach, durch das die Leiche gefallen war. Und noch etwas. Es mußte in oder auf der Leiche gewesen sein, denn ich hatte es bei meiner ersten genauen Prüfung des Ortes nicht entdeckt. Ein Schnipsel Papier. Oder eher ein Schnipsel Pappendeckel von ungefähr zwanzig mal vier Millimetern. Die eine Schmalseite war angesengt, die andere zerfranst. Auf Fingerabdrücke war nicht zu hoffen. Zumindest auf keine brauchbaren. Ich ordnete Autopsie- und Identifizierungsmaßnahmen an und bat darum, daß mir die Resultate nicht vor zehn Uhr morgens zugestellt werden sollten. Dann fuhr ich zurück nach Hause und ging wieder ins Bett. Unterwegs gab ich noch durch, daß das Gelände abgesperrt und Säuberungsroboter eingesetzt werden sollten, die alles, was sie fanden, in meinem Büro abgeben sollten. Also bei mir. Ich konnte natürlich nicht schlafen. Der Junge verfolgte mich. Jemand hat einmal behauptet, daß ich Weiberfeind bin. Ich bin siebenundvierzig und professioneller Junggeselle, aber das ist noch lange kein Beweis. Ich bin kein Weiberfeind, sondern hasse die Menschen schlechthin. Nicht Einzelpersonen, aber die Masse. Die lärmende, stinkende Masse. Zugegeben, in jedem steckt etwas Gutes, aber das Gute geht total unter, wenn sich auch bloß zwei zusammentun.
Ich habe nie richtig begriffen, warum die Maschine gerade mich für meinen Job ausgewählt hat. Gut, es gab kaum einen, der mehr Fähigkeiten mitbrachte. Aber es gab eine Menge, die schlauer waren, überzeugender, zungengewandter und vor allem liebenswürdiger. Hatte ich den Job bekommen, weil mich Mord rasend machte? Ich fürchte und hasse jede Art von Tod – bloß meinen eigenen nicht. Ich lag auf meinem Bett, bis der Morgen dämmerte. Mein Appartement war meine einzige Prahlerei. Auf Grund meines Ranges hätte mir noch mehr Raum zugestanden, aber ich hätte sowieso schon weit mehr Platz, als ich brauchte: drei Zimmer. Zwölf Quadratmeter zum Schlafen, zwanzig Quadratmeter Büro und achtzehn Quadratmeter für andere gesellschaftlich notwendige Funktionen – als altmodisches Wohnzimmer eingerichtet. Den übrigen Krimskrams meines Vorgängers hatte ich abgeschafft. M’Pher, dessen Nachfolger ich war, hatte sich zum Beispiel von einem echten Menschen in seinem Helicar spazierenfahren lassen. Mir sind die tadellos funktionierenden Roboter gut genug. Prestige brauche ich nicht. Ganz abgesehen davon, will ich mich nicht zum Gespött der anderen machen. Ich bin fett, über vierzig und habe kaum noch ein Haar auf dem Kopf.
2 Ich saß auf dem Bettrand und konnte mich nicht entschließen, ob ich aufstehen oder mich wieder hinlegen sollte, als das Videofon klingelte. Betty, dachte ich und nahm ab. Den Bildschirm schaltete ich nicht ein, denn erstens hatte ich keine Kamera in meinem
Schlafzimmer und zweitens reichte mir schon die fröhliche, ausgeschlafene Stimme meiner Sekretärin. Ich wollte nicht auch noch ihr Gesicht sehen. »Was gibt es Neues, Boss?« fragte sie, als ob sie es nicht schon längst gewußt hätte. Warte, dachte ich, du und deine antiquierten Manieren. »Einen Kadaver«, antwortete ich, denn das Vokabular des letzten Jahrhunderts war mir nicht unbekannt. Betty hatte sofort begriffen, daß sie mir heute nicht mit ihren altjüngferlichen Touren kommen konnte. »Welcher Art?« fragte sie trocken. Das war das Sympathische an Betty: sie schaltete sofort. Sie war übrigens auch recht attraktiv, wußte aber glücklicherweise nichts aus sich zu machen. Das Morddezernat war nicht gerade der richtige Platz für glücklich verheiratete Menschen. Zumindest hat es bei uns noch nie welche gegeben. »Männlich, siebzehn bis neunzehn, voll entwickelt«, sagte ich. »Gewaltsam getötet. Stichwunde im Bauch. Spuren von Schlägen. Todesursache unbekannt. Von Roboter auf Warenhausgelände gefunden.« »Unfall ausgeschlossen?« »Ja. Wegen totaler Nacktheit. Aus einem Taxi geworfen. Übrigens, kahlgeschoren.« »Nur der Kopf oder ganz?« Ich überlegte kurz. »Nur der Kopf«, antwortete ich. Längere Pause. Freudsche Gedanken? Ich wußte, daß sie zu demselben Schluß kommen würde wie ich, wenn sie die Leiche erst gesehen hatte. »Ich habe angeordnet, daß man mir die Ergebnisse um zehn Uhr durchgibt«, sagte ich, »aber sie liegen bestimmt schon vor. Außerdem habe ich den Knaben einfrieren lassen.«
Damit brach ich das Gespräch einen Moment ab und ging ins Bad. Ich hatte gerade die Dusche aufgedreht, als sie sich wieder meldete. Ich stellte lauter. Auch hier – im Gegensatz zu vielen anderen – keine Kamera. »Irgendwelche Vermutungen?« fragte sie. »Nur die naheliegendste. Es ist durchaus möglich.« Ein eifersüchtiger Ehemann oder Freund. Aber warum die Prügel? In neunzig von hundert Fällen läuft der Mann, der mit der Frau eines anderen erwischt wird, einfach davon. Vielleicht gab es keine Fluchtmöglichkeit. Oder er hatte sich mit halbheruntergelassenen Hosen erwischen lassen. Auf alle Fälle war er nicht zu knapp verprügelt worden, denn die Spuren waren beachtlich. Betty schwieg, während ich mich wusch und rasierte. Als ich in mein Büro kam, sah ich sie auf dem Bildschirm. Sie hatte einen anderen Kanal eingeschaltet und bediente gerade den Manualkontrollknopf, um den Gegenstand ihres Interesses von allen Seiten untersuchen zu können. Schließlich verband sie sich wieder kurz mit mir. »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte sie, wobei sie sich nicht nur auf das bezog, was ich ausgesprochen, sondern auch auf das, was ich gedacht hatte. Die vier Sekretärinnen, die ich vor ihr gehabt hatte, hatten mich in keinster Weise befriedigt, aber Betty war perfekt. Ich spreche natürlich nicht im physischen Sinn. Persönlich sehen wir uns so gut wie nie. Der letzte Chef des Morddezernats, M’Pher, hatte die reinste Mammutorganisation gehabt, aber ich halte nichts von Mammutorganisationen. Als ich übernommen habe, habe ich erst einmal aufgeräumt. Wo früher zwanzig Leute beschäftigt waren, Berichte abzugeben, erledigte jetzt eine Sekretärin den Job. Die Artillerie der alten Tage habe ich allerdings behalten.
Nicht einen habe ich entlassen. Gute Leute sind schwer zu bekommen, und solche, die verläßlich und korrekt sind, schon gar nicht. Auf Grund meiner Stellung hätte ich Gott und die Welt haben können, aber ich dachte gar nicht daran, mir aus reiner Selbstbefriedigung und zum Beweis meiner Macht eine ganze Horde von Idioten an den Hals zu hängen. Dazu kommt, daß ich sie wirklich nicht brauche. Vor ein paar Jahren hätte man es noch nicht für möglich gehalten, aber es wurde kaum mehr gemordet. Mord war nicht in. Aus verschiedenen Gründen, übrigens, aber vor allem, weil man mittlerweile nicht mehr so leicht damit durchkam. In den zwanziger Jahren soll ja auf Teufel komm raus und mit großem Erfolg gemordet worden sein, aber die Zeiten sind vorbei. Inzwischen sind die Ermittlungsverfahren auf dem letzten Stand, und die Roboter funktionieren perfekt. In dem vorliegenden Fall, zum Beispiel, wurde das Opfer seit seiner Ermordung durch keine menschliche Hand mehr berührt, womit eine ganze Menge von Fehlerquellen ausgeschaltet war. Seit seiner Ermordung? Sagen wir, seit es von seinem Mörder aus dem Taxi gestoßen wurde. Oder aus einem privaten Helicar. Die Anzahl privater Transportmittel war verschwindend gering, so daß also dieser Umstand auch kein Problem aufwerfen dürfte – in puncto Identifizierung. Die City ist immens groß. Der nördliche Teil heißt Bangar, das entgegengesetzte Ende Key West. Mein Gebiet schließt das frühere Rhode Island und den Osten vom ehemaligen Massachusetts ein. Die einzelnen Zentren sind mit unüberschaubar großen Kuppeln überzogen, durch deren Stahlnetz alle Adern der Kommunikation, der dazugehörigen Medien, der Transportmittel und der Versorgung laufen.
In meinem Gebiet ereignen sich an die zwölf Morde pro Jahr und sie werden fast alle aufgedeckt, woran nicht zuletzt auch die Ausbildung und das ständige Konditionstraining meiner Leute schuld ist, wie auch die Propaganda. Mörder werden gestellt – dieses Sprichwort kennt jedes Kind. Morgenstund hat Gold im Mund dagegen begreift keiner mehr. Mein Dezernat ist auf Zellenbasis aufgebaut und läuft wie geschmiert. In den meisten Fällen mische ich mich bloß anfangs persönlich ein, dann geht alles von selbst. Ich bin mir ständig bewußt, daß die Maschine mich beobachtet, und wer die Maschine beobachtet, ist mir egal.
3 Ich lehnte mich zurück und betrachtete Betty. Es war nicht zu leugnen: sie war eine alte Jungfer. Ich bin ein nicht mehr allzu knuspriger Junggeselle, aber ein Mann kann es sich eben leisten, nicht verheiratet zu sein. Eine Frau eigentlich nicht. Sie wurde gleich zur alten Jungfer gestempelt. Betty und ich verstehen uns prächtig. Wir mögen uns sogar gern, also sind wir wohl Freunde. Sie hatte nie einen Mann gehabt. Wenigstens nicht rund um die Uhr. Prüde war sie aber auch nicht. Wenn sie nicht so gewesen wäre, hätte sie die Tiefschläge, die ihr Job mit sich brachte, nicht ertragen können. Dieser komplette Unsinn von Bescheidenheit – im öffentlichen Denken als Charakterzug Nummer eins angepriesen – gilt für uns nicht. Betty hatte sich unseren neuesten Kunden angesehen, und ich war gespannt, was sie dazu zu sagen hatte. Falls sie etwas entdeckt haben sollte, was mir entgangen war, würde sie es mir ohne eine Spur von Obrigkeitshörigkeit hinreiben. Betty ist wirklich eine fabelhafte Person. Ich hätte mich durchaus in sie
verlieben können. Ich bin sogar vielleicht verliebt in sie, brauche sie aber zu dringend, um das Risiko eingehen zu wollen, sie zu verlieren. Ich beobachtete sie. Nicht die Leiche. Ich wollte die Leiche nach der Einfrierung gar nicht sehen, um das Bild, das ich mir auf dem Gelände des Warenhauses gemacht hatte, nicht zu beeinträchtigen oder gar zu zerstören. Betty schaltete zu mir durch. »Soll ich meine Beschreibung aufzeichnen?« fragte sie und tat es im selben Moment, weil sie meine Antwort kannte. Die Frage war bloß die Entschuldigung dafür, daß sie nicht gleich mit mir sprach. Ich hatte natürlich nichts dagegen, drückte auf den entsprechenden Knopf und verlangte die Identifizierung des Toten. Das grüne Lämpchen an der Wand leuchtete auf. Der Computer arbeitete also. Kurz darauf schaltete sich der Datenschirm ein. Zehn Sekunden verstrichen. Zwölf, fünfzehn. Nach einundzwanzig Sekunden erschien die Antwort: Nicht registriert. Nicht registriert? Das bedeutete, daß die Person, zu der unsere Leiche gehörte, auf der ganzen Erde nicht gemeldet gewesen war. Weder bei einem Standesamt – also keine Geburtsurkunde – noch bei einem Ausbildungszentrum, noch bei einer Kreditanstalt. Betty hatte sich mit mir parallel geschaltet, um gleichzeitig dieselben Informationen zu bekommen wie ich. Ihr Gesicht war blaß. Meines muß weiß gewesen sein. »Fordere Daten aller vermißten Personen an, die dem Bürger X auch nur annähernd ähnlich sind«, sagte ich. Das würde ein paar Sekunden dauern.
Es dauerte genau sieben Sekunden. Die Liste war beeindruckend. Hinter jedem Namen der Wahrscheinlichkeitsfaktor in Prozenten ausgedrückt. Beim ersten waren es 97,13 Prozent, beim letzten 90,01 Prozent. »Damit dürfte wohl klar sein«, sagte ich zu Betty, »daß unser Freund erst einmal bei uns bleibt.« Normalerweise gebe ich Leichen möglichst schnell frei. Genauer gesagt, sofort nach Identifizierung. Schon allein aus Gründen der Einlagerung. Die Konservierung ist übrigens längst kein Problem mehr. Über Einbalsamierung und dergleichen zeitraubenden und kostspieligen Zinnober lacht man heute bloß noch. Unsere Methode ist schnell und billig. Die Behälter, in der Mitte abgeflachte Glasröhren mit einer Öffnung, sind vorrätig. Die Leiche kommt hinein, der Behälter wird mit Salzwasserlösung aufgefüllt und mit einem Glaspfropfen, der eingeschmolzen wird, versiegelt. Durch eine Starkstromvorrichtung wird die ganze Chose dann sterilisiert. Da nicht einmal Mikroorganismen durch die Glaswand dringen können, muß man sich anschließend um nichts mehr kümmern. »Na?« fragte ich Betty und deutete auf die Namensliste. Sie zuckte mit den Schultern. »Wie wär’s«, fragte sie, »wenn ich die Hälfte übernehme?« »Super!« sagte ich. Selbst über das Videofon war es kein Vergnügen, Leute zu fragen, ob unsere Leiche nicht zufällig ihr Sohn, Bruder, Mann oder Geliebter sein könnte. Zu so einem Job braucht man kein Taktgefühl, sondern einen völlig unempfindlichen Magen. In wenigen Minuten mußte die Leiche präpariert sein und abgegeben werden. Es klingelte.
Ich bewahrte sie natürlich in meinem Appartement auf. Wo denn sonst? Ich stellte sie so auf, daß der Beschauer ein Brustbild von ihr auf seinem Videoschirm hatte. Wenn es sich um ein Mädchen oder eine Frau gehandelt hätte, wäre ich mit der Kamera selbstverständlich höher gegangen. Mein Vorgänger, der alte M’Pher, ist Neo-Victorianer oder zumindest von ihnen stark beeinflußt. Bei ihm ist keine nackte Leiche versiegelt worden. Ich jedoch halte nichts von Klamotten. Nicht, um die unnützen Kosten zu sparen, sondern weil dadurch eventuelle Wunden, Abschürfungen, Druckstellen und dergleichen verdeckt werden. Der Junge in seiner Flasche war kein erfreulicher Anblick. Das Gesicht ein einziger Ausdruck des Terrors. Er muß dem Tod Stunden, wenn nicht Tage ins Auge geblickt haben. Blaue Flecken und Platzwunden am ganzen Körper. An den Handgelenken und Fesseln rohes Fleisch. Geknebelt hatte man ihn auch. Ein Jammer. Zugegeben, er war ganz offensichtlich kein erstklassiges Menschenmaterial gewesen, aber er hätte es ja noch werden können. Der Salzgehalt des Wassers entsprach der Zusammensetzung seines Blutes. Damit entstand keine Trübung, außerdem lief man nicht Gefahr, daß er aufschwemmte oder einschrumpfte. Das Wasser an sich war keine chemische Notwendigkeit, aber es trug ihn. Hätte man ihn in eine leere Flasche gesteckt, hätte sein eigenes Gewicht an seinem Gewebe gezerrt und mit der Zeit sein Äußeres verändert. Bei lebenden Personen besteht diese Gefahr nicht, weil sie sich ja ständig bewegen, wozu der Junge aber nicht in der Lage war. Als Betty das Brustbild des Jungen klar auf ihrem Videoschirm hatte, machten wir uns an die mühselige Arbeit. Wie schon so oft fand ich die Anzahl von Menschen, die bereit
sind, das Schlimmste anzunehmen, erstaunlich, wenn nicht erschreckend. Dazu kam die Neugierde. Einzelpersonen, das sagte ich ja schon, hasse ich nicht, aber die Menschen schlechthin. Ekelhaft. Einfach ekelhaft. Dabei bin ich wirklich nicht zimperlich. Wenn es zur Entlarvung des Mörders geführt hätte, wäre ich jederzeit bereit gewesen, jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind in Großamerika den nackten Hintern und auch die Vorderansicht des Knaben zu zeigen, aber trotzdem finde ich diese Art von Sensationslust zum Kotzen. Und die ganze Mühe umsonst. Es kam nichts dabei heraus. Ich ließ mir die nächsten 10 Prozent geben, fertigte diese aber in Gruppen ab. Ergebnis: Null. Von 70 Prozent abwärts verschickten wir Postkarten mit dreidimensionalen Farbfotos. Als auch das nichts brachte, überprüften wir jede einzelne vermißte Person der letzten hundertfünfzig Jahre und schrieben die dazugehörigen Verwandten an. Ich selbst bekam übrigens auch eine Karte. Anschließend wandten wir uns an die Asteroid Legation. Daß der Junge von einer anderen Welt gekommen sein sollte, ohne bei der Einreise bemerkt und registriert worden zu sein, war unwahrscheinlich, aber wir durften nichts unversucht lassen. Die Identität eines Mörders nicht feststellen zu können, ist eine Blamage. Die Identität seines Opfers nicht feststellen zu können, ist eine Katastrophe. Mein so einflußreicher Posten stand auf dem Spiel. Und natürlich auch der Ruf des Dezernats. Unser Erfolg im Vorbeugen von Verbrechen war auf dem Erfolg im Aufdecken von Verbrechen aufgebaut. Der letzte ungelöste Fall hatte den reinsten Erdrutsch mit genau dreiunddreißig Entlassungen zur Folge gehabt.
Die Hauptfaktoren im Aufdecken von Verbrechen sind die Genauigkeit und die Schnelligkeit der Identifikationsmethoden. Schon bei der Geburt eines Bürgers werden Fingerabdrücke genommen. Sie werden alle sechs Monate, beim Austausch der Kreditkarte, überprüft. Im Alter von fünf, sieben, zehn, vierzehn, achtzehn, zweiundzwanzig, achtundzwanzig, fünfunddreißig und fünfzig werden die Botillonmaße neu festgestellt und aufgezeichnet. Unsere Gesellschaft ist sehr reich, und deshalb ist Geld bei uns unbekannt. Nur ein paar antiquierte Esel können sich unter dem Wort noch etwas vorstellen. Wir haben inzwischen ein besseres System. Man überlege doch bloß einmal. Im Mittelalter oder während der Renaissance waren die Menschen arm. Sogar die Reichen waren arm. Ein Borgia oder ein Medici konnte sich keine Radieschen im Januar leisten. Von Erdbeeren ganz zu schweigen. Die vorhandene Menge von Gold oder Silber war praktisch konstant. Der Kapitalzuwachs pro Jahr war verschwindend klein. Das mittellose Volk ließ es sich gefallen, daß man Metalle einschmolz, Münzen daraus machte und behauptete, sie hätten einen Wert. Der tatsächliche Wohlstand aber wuchs von Jahr zu Jahr, doch das Volk hatte nichts davon. Neue Quellen wurden ausgeschöpft, alte Investitionen warfen Renditen ab, die Muskelkraft und das Denkvermögen des Menschen wurden gewinnbringend eingesetzt. Schiffe, zum Beispiel, überquerten die Meere schneller und transportierten größere Ladungen. Der sich daraus ergebende Profit stachelte zu neuen Investitionen an. Mit zunehmendem Reichtum erhöhte sich der Bedarf an Wertsymbolen, und die Zahlungsmittel waren eines Tages nicht mehr durch Edelmetalle gedeckt. Man griff in der Not zum Papier, das im zwanzigsten Jahrhundert sogar das Gold
aus dem Verkehr verdrängte. Selbst Silber wollte man für so wertlose Zwecke nicht mehr opfern. Es dauerte nicht lange, bis auch das Papier durch eine neue Erfindung ersetzt wurde, die allerdings älter war als der Kaufmann von Venedig: der Kredit. Der Computer war erfunden und machte die Arbeit von Hunderten von Buchhaltern. Und zwar schneller, billiger und fast absolut fehlerfrei. Besonders seit Kreditkarten verwendet wurden. Sie waren inzwischen das Einheitssymbol für Wert und Besitz im gesamten Universum. Irgendein unbekanntes und unbesungenes Genie hatte den Druck dieser Karten mit magnetischer Tinte erfunden, und damit waren die Computer in der Lage, die Karten ohne menschliche Hilfe und die damit verbundenen Irrtümer zu lesen. Mit der Erfindung dieser Kreditkarten hatte jedes Industrieunternehmen, jede Handelsgesellschaft und jede Bank praktisch eine eigene Währung – was natürlich letztlich keine Lösung des Problems war. Also schritt die Regierung ein und machte ein Monopol daraus. Und mit dem Monopol war die Geheimwaffe Nummer eins erfunden. Alles atmete auf – bis auf die Bircher und Stilyegi. Jeder Bürger besaß plötzlich eine Kreditkarte, und Diebstahl war zwecklos, denn die persönliche Unterschrift war immer noch Bedingung und die Gültigkeitsdauer limitiert. Bitte – die Karten sehen nicht alle gleich aus. Meine, zum Beispiel, ist gelb und blau. Stecke ich die gelbe Seite in den Einkaufsschlitz, geht es zu Lasten des Dezernats. Die blaue Seite ist für mein Privatkonto. Beidseitig grüne Karten haben die Normalbürger. Beidseitig rote Karten diejenigen, die in den roten Zahlen stehen. Beidseitig gelbe Staatsangestellte, Pensionäre und Rentner, und beidseitig weiße Minderjährige.
Für uns ist dieses System ideal. Ganz gleich, was jemand unternimmt, ob er sich ein Cola leistet, in ein Helitaxi steigt oder sich auf einem Transportband begibt, es wird registriert, denn er muß seine Karte in den Schlitz stecken. Dazu kommt, daß die Computer jederzeit wissen, wie viele Menschen wo was unternehmen und Verkehrsdichte, Nachschub und was auch immer regeln können. Die violetten Karten übrigens werden nur an Maschinen ausgegeben. Die Kreditkarte ist also die Waffe gegen Verbrecher und Verbrechen. Wobei ich natürlich Mörder und Mord meine.
4 Es klingelte. Ich drückte auf den Türöffner, und Betty kam herein. In den vierzehn Jahren Zusammenarbeit das dritte Mal, daß sie in mein Appartement kam, und das fünfte Mal, daß ich sie persönlich sah. Ich hatte sie erwartet und nahm an, daß sie genauso besorgt war wie ich. Sie ging sofort auf den Jungen zu. Sein Glassarg stand in der Ecke meines Büros, ein Stück von der Wand weggerückt. Ich hatte ihn auf einen drehbaren Hocker gestellt, daß man ihn sich mühelos von allen Seiten betrachten konnte. »Ein Jammer«, sagte Betty bloß. Was sie wohl damit meinte? Bedauerte sie den Verlust eines Mitglieds der Gesellschaft, aus dem möglicherweise etwas hätte werden können? Hatte sie Mitleid mit seinen Eltern, seinen Geschwistern oder der Freundin, die er sicherlich gehabt hatte? Oder spielte sie auf den Sadismus an, mit dem der Junge gequält worden sein mußte?
Ich hütete mich, sie zu fragen. Es hätte ja auch sein können, daß sie lediglich über das Ableben eines potentiellen Liebhabers bekümmert war, weil Sex etwas war, das ihr nicht vergönnt wurde. Ich kritisierte sie nicht im geringsten. Wir vom Morddezernat sind arme Schweine, denen die Welt bis obenhin steht. Sie trat zurück. »Man hat ihn gefesselt und geknebelt«, sagte sie. Nicht nur das. Er hatte mit all seinen Kräften gegen die Fesseln gekämpft. An seinen Handgelenken und den Fesseln sah das rohe Fleisch heraus, und die Mundwinkel waren eingerissen. Man hatte seinen Körper abgewaschen. Während man ihn gequält und gefoltert hatte, mußten seine Lenden bedeckt gewesen sein, denn das vertrocknete Blut an der Wunde zeigte das Webmuster eines Stoffes. Die Wunde lag drei Fingerbreit unter dem Nabel. Meiner Meinung nach hatte man auf ihn eingestochen, um seine Qual zu erhöhen, denn es waren bloß die Bauchmuskeln in Mitleidenschaft gezogen. Er mußte flach auf dem Rücken gelegen haben, denn das Blut war ihm zwischen den Beinen durchgelaufen. Man hatte ihm den Kopf kahlgeschoren. Seltsam. Wirklich seltsam. »Wahrscheinlich eine symbolische Kastration«, sagte Betty, als habe sie meine Gedanken erraten. »Hm-mm.« Ich überlegte. »Aber warum symbolisch? Man hätte ihn doch auch echt…« Ich ließ mit Hilfe der Kreditkarten sämtliche Personen überprüfen, die in den letzten zwei Tagen im Warenhaus selbst und auf den Transportbändern gewesen waren, die zu dem Warenhaus hin und von ihm weg führten. Der Computer würde
Stunden dazu brauchen, aber diese Maßnahme war nicht zu vermeiden. Der Schlüssel zu dem Problem war die Identität des Opfers. Ich strich meine erste Vermutung, daß es sich um ein Sexualverbrechen handeln könnte. Man hatte dem Toten die Kleider abgenommen, um den üblichen Weg, durch sie zu einem Ergebnis zu kommen, unmöglich zu machen. Irgend etwas beschäftigte mich ständig und nagte an mir, aber ich wußte nicht, was es war. Ich kam einfach nicht darauf. Was versteckte ich vor mir, und warum tat ich es? Ich bin einer von den Introspektiven. Ich weiß es und leide darunter, um so mehr, als das ein Charakterzug ist, der nicht in unsere Welt paßt und ich mir einbilde, meine antiquierten Manieren schon vor fünfundzwanzig Jahren abgelegt zu haben. Ich muß müde ausgesehen haben, was nicht verwunderlich war. Ich hatte ja kaum geschlafen. Außerdem hatte ich nicht gefrühstückt, aber das war nichts Besonderes. Ich lasse oft eine Mahlzeit aus und nehme trotzdem kein Gramm ab. Der Faxschreiber fing plötzlich an zu rattern und das rote Lämpchen blinkte auf. Die letzten Nachrichten. Sie interessierten mich nicht. Es war kurz vor vier Uhr nachmittags, und ich hatte noch nichts in der Hand. Ich versuchte, einen Mörder zu stellen, und wußte nicht einmal, wie sein Opfer gestorben war und wann, weil ich den Bericht des Robopathologen noch nicht gelesen hatte. Aber für mich zählte im Moment nur eines in dieser vermaledeiten Welt: meinen Mann zu finden. Plötzlich rotierte der Junge in seiner Flasche. Aha, dachte ich. Deine Leute versuchen etwas zu finden, was dem ›Alten‹ entgangen ist. Betty ging in das andere Zimmer und machte mir einen Drink. Ich verstehe nicht viel von Alkohol und schon gar nicht
vom Mixen. Das Zeug, das sie mir brachte, schmeckte leicht bitter und war verdammt stark. Ich goß es ziemlich schnell hinunter und saß auf einmal im Sessel und schlief wie ein Stein. Ich träumte. Die Leiche stand in ihrer Flasche und lachte mich aus. Ein mittelmäßiger, boshafter und gewalttätiger Typ, der keinen Respekt vor seinen Mitmenschen hatte. Fremden Besitz betrachtet er als Allgemeingut. Die Befriedigung seiner Wünsche und Begierden war das einzige, was ihn interessierte. Ich war fast froh, daß er nicht mehr lebte. Ich haßte ihn mehr als alle anderen, weil er so war, wie ich einmal gewesen bin. Ich kannte ihn, und er kannte mich und schwamm in seiner Brühe und lachte mich aus. Ich wußte mehr über ihn als Betty, obwohl sie dieselben Informationen hatte wie ich. Durch irgendeinen besonderen Umstand verstand ich den Toten. Ich wußte bloß nicht, was es war. Ich kam einfach nicht darauf. Ich träumte und ging in meinem Traum auf das Warenhausgelände zurück. Ich sah in den Himmel hinauf, und auch die Sterne lachten mich aus. Ich wollte zurücklachen, denn ich hatte ihr Geheimnis aufgedeckt. Ich wußte Bescheid. Aber worüber? Das wußte ich nicht. Die Leiche schwieg, und die Sterne schwiegen auch.
5 Als ich aufwachte, war Betty gegangen. Ich stand auf, stellte mich vor die Flasche und starrte dem Jungen mitten ins Gesicht. Mich von dem kleinkriegen lassen? Nie!
»Den Gefallen tue ich dir nicht, Bürschchen«, sagte ich laut. »Ich finde deinen Mörder schon. Nur keine Angst.« Der Kerl war mir kreuzunsympathisch. Ich ließ mir den Bericht des Robopathologen durchgeben und verfolgte ihn ohne Unterbrechung auf meinem Bildschirm. Beim zweiten Durchlauf stoppte ich bei jedem Detail und suchte nach einem Anhaltspunkt. Ich ließ mich doch nicht auslachen. Weder von einer Leiche, noch von ihrem Mörder. Es ging mir nicht um meinen Posten, der mir sowieso schon lange nicht mehr schmeckte. Lüge: das Morddezernat war mein Leben. Die Nachricht, die vorhin über den Faxschreiber gekommen war, gab mir den Rest. Die Presse wetzte sich schon wieder das Maul. MYSTERIÖSE LEICHE STELLT POLIZEI VOR RÄTSEL Das war natürlich das gefundene Fressen für unsere Zeitung, die einem per Faxschreiber ins Haus geliefert wurde. Endlich einmal eine Sensation in Sachen Kriminalität, denn normalerweise war ein Verbrechen Minuten nach der Tat aufgedeckt. Seit langem sehnte ich mich wieder einmal nach den alten Zeiten. Früher hatte es noch mehrere Informationsquellen gegeben und damit mehrere Meinungen. Aber heute wurde man mit einer einzigen Schlagzeile fertiggemacht. Aber, warum regte ich mich eigentlich auf? Ich wußte doch, wer dahintersteckte: der Chefredakteur, M’Pher, mein Vorgänger und erbittertster Feind, der nur ein paar Monate lang Chef des Morddezernats gewesen war. Dann hatte ihn die Maschine rausgeschmissen und mich an seinen Platz gesetzt. Ich nahm mir den Bericht des Robopathologen noch einmal vor. Was war es noch, was ich vorhin – – Ach ja! Grund zu Annahme, daß das Opfer kurz vor seinem Exitus sexuell aktiv gewesen ist.
Klar! Jeder weiß doch, daß ein gesunder Mann, der eines gewaltsamen Todes stirbt, in neunzig von hundert Fällen eine Ejakulation hat. Aber der Knüller kam erst noch: Motilität der Spermien – Null. Ich lachte laut auf. Das war also sein Geheimnis! Die Nachrichtenstöße, die der Faxschreiber ausspuckte, wurden immer dreister. Nach drei Tagen verlangte man meinen freiwilligen Rücktritt. Nach einer Woche jedoch wurde das Wort ›freiwillig‹ nicht mehr erwähnt und nach zehn Tagen sprach man auch nicht mehr von Rücktritt. Hatte M’Pher endlich begriffen, daß er keine Chancen hatte, auch wenn mein Job frei wurde? Die Maschine hatte etwas gegen ihn. Von Rücktritt also wurde nicht mehr getönt, aber die Beschimpfungen nahmen Formen an, die unzumutbar waren. Ich zog meine Konsequenzen daraus und las das Zeug einfach nicht mehr. Die dichtbedruckten Plastikstreifen wanderten so in den Abfall, wie sie der Faxschreiber ausspuckte. Schließlich mußte der Fall dem Staatsanwalt als ungelöst übergeben werden, und ich schien der einzige zu sein, der wußte, wie ungewöhnlich die Situation war, denn der Mord, um den es ging, war gar nicht begangen worden. Der Mörder, den ich angeklagt hätte, hatte nicht getötet. Sein Opfer war noch unter den Lebenden. Daß dem Chef eines Morddezernats ein derartiges Problem vorgesetzt wird, ist wohl noch nie dagewesen, aber ich löste es mannhaft. Außerdem setzte ich die genaue Zeit für den Mord an und stellte das Opfer. Es war so weit. Ich stellte mich vor die Leiche und lachte ihr mitten ins Gesicht. Dann schickte ich die Einladungen los, was durchaus üblich ist. Aber, daß man sich gegenseitig zu Hause besucht, ist nicht üblich. Es ist sogar ungewöhnlich.
Bildschirme tun es genauso. Bei einer persönlichen Gegenüberstellung kann man außerdem ein mieses Gesicht nicht einfach durch einen Druck auf den Knopf auslöschen und muß es sich zwangsläufig anschauen. In diesen besonderen Fall jedoch war der persönliche, ja körperliche Kontakt nötig und versprach, mir die Dinge zu erleichtern. Mein Datenschirm leuchtete auf. Es kam selten vor, daß die Maschine sich ungebeten einschaltete, und mein Herz drohte stehenzubleiben. AKTION MISSBILLIGT Aha. Wird man mich daran hindern? fragte ich. KEIN KOMMENTAR Ich wußte, daß mir der Haß aus sämtlichen Poren sprang, atmete aber erleichtert auf. Vielleicht wollte mich die Maschine als Figur für dieses Spiel benutzen, aber ich gehörte bereits zu den Spielern und konnte mich nicht zerreißen. Außerdem war ich fest entschlossen, das Spiel zu gewinnen. Die Kulissen standen. Mein Raum für gesellschaftlich notwendige Funktionen war dekoriert. Meine drei Gäste kamen mit dem Glockenschlag: Betty, meine Sekretärin, O’Moore, der allgewaltige Oberbürgermeister, und M’Pher, mein Vorgänger, der Chefredakteur der Fax. Sie nahmen Platz und sahen sich um und sahen sich an. Betty brachte den Mund kaum mehr zu, so hatte ich alles verändert, und M’Pher traute seinen Augen nicht. »Ich hätte Ihnen nie so viel Geschmack zugetraut«, sagte er. Idiot, dachte ich. Für mich sind Antiquitäten Objekte, die leider der Zerstörung und dem Zerfall entkommen sind. Nicht, daß ich richtige Antiquitäten in meine Wohnung gestellt hätte. Nicht einmal für
diese einmalige Gelegenheit. Es handelte sich um Kopien aus den Achtziger Jahren. Möbel aus Holzersatz, der auf Ahorn getrimmt war, und Polster aus bedrucktem Textilersatz mit Jagdmotiven. Fotostatische Ölschinken an der Wand. Natürlich auch mit Jagdmotiven. M’Pher saß neben einem wackeligen, lächerlichen Tische, auf dem eine alte Pistole mit Steinschloß lag. Er spielte damit herum. »Vorsicht«, sagte ich. »Sie funktioniert.« »Was? Man kann sie laden und damit schießen?« »Sie ist geladen.« »Oh!« Er zog die Hand zurück und stierte wie hypnotisiert auf die Waffe. Ob er mir glaubte oder nicht, war mir egal. Hauptsache, seine Aufmerksamkeit war auf das Ding gelenkt. Der allmächtige Oberbürgermeister saß mir gegenüber, und Betty rechts von mir. Genau die richtige Plazierung. Nach den Gesetzen unserer Gesellschaft darf man nur dann einen Vorgesetzten zu sich nach Hause einladen, wenn man um seinen Abschied bitten will. M’Pher dabei zu haben, wäre natürlich nicht nötig gewesen, aber ich hatte ihm das Vergnügen, Salz in eine Wunde zu streuen, nicht nehmen wollen. Ich bot Drinks an. Auch das war nicht üblich. Wenn ein Boss von seinem Untergebenen etwas annahm, zeugte das für seinen schlechten Geschmack, aber O’Moore hatte eben keinen guten und nahm das Glas dankend an. Ich war bisher immer blendend mit ihm ausgekommen. Er mochte mich nicht, aber ich hatte – bis jetzt – immer gute Arbeit geleistet und hegte keine Ambitionen, sein Nachfolger zu werden. Schon allein deshalb, weil ich viel zu faul war, Kletterpartien auf der Leiter der Politik zu unternehmen.
Nach dem ersten gemeinsamen Schluck entschuldigte ich mich, verließ den Raum und schob kurz darauf den Glasbehälter mit dem Jungen herein. Es tat mir leid, ihnen die Drinks zu versauern, aber ich hatte ja nicht ahnen können, daß sie so zimperlich waren. »Er ist ja nackt!« rief M’Pher entsetzt und sah Betty an. Sie setzte ihre Unschuldsmiene auf. »Tatsächlich! Wenn Sie nichts gesagt hätten, wäre es mir überhaupt nicht aufgefallen.« M’Pher wurde rot, was ihm nicht stand. Das fahle Grau paßte besser zu ihm. Er war also doch durch und durch Neo-Vic. Das prüde Gehabe und diese Manie, sich mit Antiquitäten umgeben zu müssen, waren schlagende Beweise. O’Moore war leicht grün im Gesicht. »Es tut mir leid«, begann ich, »Ihnen mitteilen zu müssen – aber das wissen Sie ja schon. In kurzen Worten, der Mörder dieses Jungen wird nicht vor Gericht erscheinen.« »Weil Sie nicht in der Lage waren, ihn zu fangen«, bellte M’Pher. »Ich freue mich, daß Sie wenigstens Manns genug sind, Ihre Unfähigkeit zuzugeben.« Ich sah ihn nur an. Die Mischung aus Erstaunen, Fassungslosigkeit und Ungläubigkeit mit einem Schuß Neugierde hatte ich vor dem Spiegel geübt. »Wie bitte?« fragte ich nach einer Weile. Sein Gesichtsausdruck verbarg auch nichts, aber er war nicht trainiert wie meiner. Und schon gar nicht ausgewogen. Haß und Feindseligkeit waren einfach grob untereinander gemischt. »Ich sagte, ich bin froh, daß Sie wenigstens Manns genug sind, Ihre Unfähigkeit zuzugeben. Man wird aufatmen, wenn man hört, daß das Morddezernat endlich einen neuen Chef bekommt.« Wer haßte mich mehr – er oder ich? Der Posten, den ich ihm weggenommen hatte, schien ihm viel mehr zu bedeuten, als er
wert war, und in den ganzen Jahren hatte er keine Chance gehabt, ihn wieder an sich zu bringen. »Verzeihen Sie«, sagte ich vorsichtig, denn noch durfte ich nicht auf den Putz hauen. »Sie müssen mich falsch verstanden haben. Von meiner Unfähigkeit war keinen Moment die Rede. Ich habe lediglich betont, daß der Mörder dieses Jungen nicht vor Gericht gestellt werden wird und nicht vor Gericht gestellt werden kann.« »Was dasselbe sein dürfte.« »Beileibe nicht! Er wird und kann deshalb nicht vor Gericht gestellt werden, weil er tot ist.« Betty hatte sich am schnellsten wieder gefangen. »Sie haben ihn also!« rief sie erleichtert. Sie war eine gute Haut, auf die ich mich hundertprozentig verlassen konnte, vor allem in Krisensituationen. »Leider nein«, sagte ich mit ausdruckslosem Gesicht. »Aber ich weiß, wer den Jungen umgebracht hat. Lassen Sie es mich anders formulieren: einen seiner Mörder kenne ich.« Die vier Gesichter vor mir zeigten vier verschiedene Mienen. Betty war froh und erleichtert, O’Moore war auch froh, aber mißtrauisch, M’Pher war zutiefst enttäuscht und verärgert, und der Junge war schmerzverzerrt – wie von Anfang an. M’Pher wollte plötzlich das Thema wechseln. »Können Sie das Ding da nicht rausschaffen?« Er meinte die Leiche. »Warum denn?« fragte ich und tat genauso unschuldig wie Betty. »Ich glaube nicht, daß ihm seine Nacktheit peinlich ist. Selbst wenn er noch am Leben wäre – aber das ist er schon recht lange Zeit nicht mehr…« »Unmöglich«, unterbrach mich Betty. »Recht lange Zeit? Er ist doch noch in tadellosem Zustand.« Ich nickte. »Eben. Das hat mich auch lange genug irritiert. Wie auch die Tatsache, daß sein Kopf kahlgeschoren ist. Ich nahm an, daß er von einem Ehemann, Bruder oder Geliebten in
flagranti ertappt worden ist. Dagegen sprach allerdings, daß er erst nach seinem Tod ausgezogen wurde – was das Muster in der Blutkruste auf seinem Bauch beweist. Genaue Analysen haben ergeben, daß es von einem sehr seltenen Material stammt.« Man sah mich fragend an. »In der Stichwunde fand man Fasern desselben Materials«, fuhr ich fort. »Es handelt sich um Baumwolle.« »Baumwolle?« fragte O’Moore. Er schien seinen Magen wieder unter Kontrolle zu haben, und die Neugierde gewann die Oberhand. »Ist das nicht ein Pflanzenprodukt, das in der Industrie verwendet wird?« »Heutzutage nur noch in Form von Rohmaterial«, erklärte ich. »Es ist pflanzlichen Ursprungs, gehört aber trotzdem zu den Plastikstoffen. Zu den natürlichen, im Gegensatz zu den synthetischen. Diese spezielle Baumwolle ist doppelt ungewöhnlich und wurde früher Stretchmaterial genannt. Bis vor ungefähr fünfundsiebzig Jahren wurden Wolle und Baumwolle mechanisch zu Materialien verarbeitet, aus denen man Kleidungsstücke herstellte. Als dann die Bekleidungsindustrie mit dem großen Schlager, den Papierund Plastikwaren herauskam, waren diese altmodischen Produkte, die sündhaft teuer waren und obendrein auch noch gewaschen werden mußten, gestorben.« »Aha«, sagte O’Moore. »Obwohl man seine Leiche gewaschen hat – wahrscheinlich, um das Baumwollmaterial von seiner Haut zu lösen – blieben Fasern hängen.« Ich schaltete eine Kunstpause ein, denn ich wollte die Sache nicht zu schnell vorantreiben. Weder Zeit noch Ort waren günstig. Mein Opfer durfte nichts merken. Noch nicht. »Das sind natürlich alles Umstände, die nachdenklich stimmen«, fuhr ich schließlich fort. »Der Junge hatte
Kleidungsstücke aus Baumwolle besessen, einem Material also, das nur noch auf den Asteroiden getragen wird. An seinen Waden und Füßen entdeckte man braunen Lederstaub, aber lederne Schuhe oder Stiefel trägt man nicht einmal mehr auf den Asteroiden. Man hat dem Jungen die Kleidungsstücke abgenommen, um eine Identifizierung unmöglich zu machen – womit sich für mich ein neuer Fragenkomplex ergab.« M’Pher unterbrach an dieser Stelle meinen geschwollenen Redefluß, und warf mir vor, ich würde mich wilden Spekulationen hingeben. Ich ließ ihn reden, ignorierte ihn aber sonst völlig, was übrigens auch die anderen drei taten. »Warum wurde sein Kopf kahlgeschoren?« fuhr ich fort, als M’Pher die Luft ausgegangen war. »Ich dachte an psychologische Kastration. Früher, als es noch Kriege gab, schnitt man Frauen oder Mädchen, die sich mit dem Feind eingelassen hatten, die Haare ab. Sie wurden somit auf symbolische Weise ihres Geschlechtes beraubt. Aber – wozu symbolische Handlungen? In unserem Fall, meine ich. Der Junge wurde nicht als abschreckendes Beispiel in der Öffentlichkeit gezeigt, sondern irgendwo gefangengehalten. Er wurde geknebelt und konnte keinen Laut von sich geben. Er wurde gefesselt und konnte sich nicht rühren noch regen. Von Fluchtmöglichkeit keine Rede. Zwei Tage und zwei Nächte lang bekam er keinen Bissen zu essen und keinen Tropfen zu trinken. Erwiesenermaßen lag er auf dem Rücken und war an Eisenringe gefesselt, die in den Boden eingelassen waren. Habe ich recht, M’Pher?« Er sah mich mit großen Augen an. »Woher soll denn ich das wissen?« fragte er gereizt. »Er war mit echten Stricken gefesselt«, fuhr ich fort, als habe er nichts gesagt. »Nichts von wegen Plastik oder Draht. Er wurde geschlagen, aber damit hatte er rechnen müssen. Er hätte im umgekehrten Fall genauso gehandelt.«
»Das ist doch alles kompletter Unsinn!« rief M’Pher dazwischen. »Diese Art von Mord gibt es doch schon lang nicht mehr.« »Tatsächlich? Dann wissen Sie also, um welche Art von Mord es sich handelt?« Plötzlich war es so still im Raum, als hätten auch wir vier aufgehört zu atmen. »Ich?« fragte M’Pher schließlich. »Nein, natürlich nicht. Woher soll ich denn wissen, um welche Art von Mord es sich handelt? Glauben Sie vielleicht, ich habe ihn umgebracht?« »Kaum.« Ich lächelte. »Mit dem Mord an dem Jungen haben Sie nichts zu tun… Aber zurück zu dem kahlgeschorenen Kopf. Wenn man ihm die Haare abgeschnitten hat, um die Identifizierung zu erschweren, wenn nicht unmöglich zu machen, dann müssen diese Haare doch – « »Mindestens grün gewesen sein«, fiel mir Betty ins Wort. »Oder – « Ihre Augen wurden groß. Ich ging zu dem Glasbehälter mit der Leiche. »Sehen Sie sich den Schädel genau an«, sagte ich. »Fällt Ihnen nicht auf, daß er braungebrannt ist?« Betty und O’Moore kamen näher. M’Pher blieb auf seinem Stuhl sitzen. »Ein Bircher«, sagte Betty bloß. Ich nickte. Ein Bircher.
6 Kein Mitglied der John Birch Society. Der Verein war schon während des Sino-Sowjet-Krieges eingegangen. Aber der Name besteht weiterhin, was nicht ungewöhnlich ist, denn die
Begriffe Cosa Nostra, Mafia oder Ku-Klux-Klan gibt es ja auch noch. Bircher und Stilyegi. Einhundert und mehr Jahre. Der Krieg zwischen den Banden hatte Amerika erschüttert und die Welt fast aus den Fugen gerissen, während wir ihm letztlich unsere Stabilität und unseren Frieden zu verdanken haben. Wer sich prügeln will, muß heutzutage schon auf einen der Asteroiden gehen. Die Stilyegi. Ein russisches Wort für eine Art Jugendbewegung in Amerika. Die Nachkömmlinge der BeatGeneration, die Urenkel der Wandervögel. Ihr Vereinsabzeichen waren kahle Köpfe und Klappmesser. Sie hatten den Rauschgifthandel in der Hand und beherrschten jede Sucht und jedes Laster, das damals Mode war. Die Bircher waren die Gegenspieler. Sie waren nicht besser und nicht schlechter, sie waren genauso. Parasiten und Schädlinge, die die Gesellschaft zu unterhöhlen versuchten. Hijacking und bewaffneter Raubüberfall gehörten zu ihrem täglichen Brot. Auch sie schoren sich die Köpfe kahl, ließen aber als Unterschied zu den Stilyegi einen schmalen Haarstreifen stehen. Dort, wo man im 18. Jahrhundert den Scheitel trug. Sie behaupteten, US-Indianer zu sein und das Land in seinem Folklorecharakter bewahren zu wollen – was eine hahnebüchene Lüge war. Während die Stilyegi in ausgewaschenen, ausgefransten Jeans und T-Shirts herumliefen, es für spießig hielten, wenn jemand gewaschen und gekämmt war und ihre Klappmesser offen im Gürtel stecken hatten, trugen die Bircher hautenge Stretchanzüge und kurze Jacken mit Nieten und Militärabzeichen. Ihre Waffen, kleine Revolver, steckten in
Etuis, die am Gürtel hingen. An den Füßen trugen sie grobe Lederstiefel. Der Junge in der Glasflasche war ein Bircher gewesen. Sein Schädel war braungebrannt, bis auf den schmalen Streifen, wo man ihm die Haare abrasiert hatte. Man hatte ihm eine Stichwunde beigebracht, also war er von einem Stilyegi ermordet oder als Gefangener der Stilyegi hingerichtet worden. Der Robopathologe hatte betont, daß die Stichwunde den Tod nicht herbeigeführt hatte. Die Ursache für sein Ableben war nicht auf den Ausfall eines lebenswichtigen Organs zurückzuführen. »Das Messer«, fuhr ich fort, »diente also lediglich als weiteres Folterinstrument. Der Junge war gefesselt, und man hat es ihm vielleicht in den Leib gerannt, um ihm eine Möglichkeit zu geben, sich die Fesseln zu durchschneiden. Aber – diese Möglichkeit konnte er nicht nutzen, denn er war schließlich gefesselt.« Betty, O’Moore und der Junge sahen mich erwartungsvoll an. Sie waren ganz Ohr. Bloß M’Pher stierte wie ein Ochse vor sich hin. Zugegeben, seine Lage war verzwickt. Jahre, fast Jahrzehnte lang hatte er der Welt nachzuweisen versucht, was für eine trübe Tasse ich bin, und mittlerweile glaubte er es selbst. Warum unterschätzen mich meine Gegner bloß immer? »Und warum ist er schließlich gestorben?« fragte Betty, mit der wieder einmal die Neugierde durchging. Sogar die Leiche schien gespannt zu sein. »Darauf komme ich noch zu sprechen«, antwortete ich geheimnisvoll. »Der Junge hatte eine Freundin. Das Mädchen war schwanger. Er sagte ihr nicht, was er genau vorhatte, er deutete bloß an, daß dabei jemand ins Gras beißen würde.« Ich lächelte. »Es biß tatsächlich jemand ins Gras, aber daß er es selbst sein würde, daran hatte er nicht gedacht. Er kam nie mehr zurück. Das Mädchen brachte sein Kind zur Welt und
weigerte sich, es zur Adoption freizugeben. Es war ein Junge. Er wuchs heran und trug den Namen seines Vaters, eines längst verschollenen und vergessenen Bircher. Die Fortpflanzung nahm ihren Lauf, und schließlich kam ich, sein Urenkel zur Welt. Als ich eine von mir selbst losgeschickte Karte mit der Aufforderung bekam, mich zur Identifizierung zur Verfügung zu stellen, falls ich mit dem Toten in irgendeiner Weise etwas zu tun habe, wurde ich nachdenklich.« Ich goß mir noch einen Drink ein und stellte mich neben meinen Vorfahr. »Seit ich ihn zum erstenmal gesehen hatte, hatte mich etwas beschäftigt; ich wußte bloß nicht, was. Ich wurde das Gefühl nicht los, ihn zu kennen. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich erinnerte mich an mein Spiegelbild vor dreißig Jahren. Ich hatte ganz genauso ausgesehen.« Die anderen sahen zwischen meinem Urgroßvater und mir hin und her und suchten nach der Ähnlichkeit. »Ich weiß nicht«, fuhr ich fort, »ob er sich selbst in die mißliche Lage begeben hat oder in eine Falle gelockt worden ist – das ist letztlich aber auch unwichtig. Auf alle Fälle hat er es geschafft, sich zu einem der damals gebräuchlichen Raumschiffe Zugang zu verschaffen.« »Wollen Sie damit sagen, daß er die ganze Zeit im All gewesen ist?« fragte Betty. »Genau. Durch eine Schicht gefrorener Luft vor dem Austrocknen geschützt. Die Stilyegi hatten Guerillas, die vor nichts zurückschreckten. Sie kidnappten den Roboter, der das Raumschiff steuerte, frisierten ihn um und lenkten den Flugkörper, der eigentlich zum Mars fliegen sollte, am Jupiter vorbei ins All. Irgendwann haben die Stilyegi sich ihn dann geholt. Mit Gewalt, wahrscheinlich, denn der Robopathologe hat einen Bluterguß am Hinterkopf festgestellt, der eine Ohnmacht zur Folge gehabt haben mußte. Als er wieder bei
sich war, fesselte man ihn und stach ihm das Messer in den Leib. Vorher oder hinterher verprügelte man ihn. Schließlich starb er – und das vor einhundertachtzehn Jahren.«
7 Aus Bettys Augen sprach schieres Entsetzen, und der Oberbürgermeister brachte keinen Ton mehr heraus. Ich mußte meinen Bericht schnell zu Ende bringen. »Früher«, sagte ich, »wurde ein Verbrechen nicht zwangsläufig entdeckt, denn es gab ja keine Kreditkarten, die alle sechs Monate erneuert werden mußten. Wenn heute jemand einen Mord begeht, erhebt sich das Problem, wohin mit der Leiche. Tote halten sich schlecht und fangen schon nach kürzester Zeit an, sehr unangenehm zu riechen. Früher, als die Menschen sich noch umständlich ernährten und keine Konzentrate in Tablettenform zu sich nahmen, waren sie auf Tiefkühltruhen angewiesen, in denen sie ihre Naturprodukte speichern konnten. Diese Tiefkühltruhen waren gleichzeitig auch ideal zur Aufbewahrung von Leichen. Aber unsere Leiche hier gab ihren Mördern keinerlei Probleme auf, denn sie war bereits in einem Zustand, der günstiger nicht hätte sein können. Sie lag bei Untertemperatur in einem Flugkörper, der praktisch im All verloren war. Wenn ich mir jetzt überlege, wie naiv ich gewesen bin, kann ich bloß noch lächeln: ich habe mir eingebildet, daß die Stilyegi genauso ausgestorben sind wie die Bircher, aber das ist nicht der Fall. Diese Leiche wurde von einem Stilyegi aus dem AH geholt, um mir das Leben schwer zu machen. Vor hundert Jahren hatten die Bircher die Oberhand gewonnen. Einmal, weil sie in der Überzahl waren und zum anderen, weil
sie bei den Leuten und der Polizei beliebter gewesen sind als die Stilyegi. Die Stilyegi hatten schnell begriffen und richteten sich darauf ein. Sie gründeten einen Braintrust und verschwanden im Untergrund. Innerhalb kürzester Zeit hatten die Bircher keine Gegner mehr, ihr Verein war ad absurdum geführt, sie lösten sich auf und wurden zu ganz normalen Bürgern mit ganz normalen Ambitionen. Die Stilyegi jedoch lebten fort, und die unangefochtene Niederlage nagte an ihnen. Sie vererbten ihr böses Blut von Generation zu Generation und kaufen sich heute in hohe und verantwortungsvolle Posten ein. Einer von ihnen hätte es fast geschafft, auf Grund seiner Stellung ungestört und ungehindert morden zu können, aber die Maschine hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, ihn abgesägt und ihren Mann auf seinen Platz gesetzt.« Ich sah M’Pher mitten ins Gesicht. Leider hatte die Sache einen Haken: er war immun gegen mich, denn er hatte noch nie getötet. »Sie glauben also, daß es immer noch Stilyegi gibt?« fragte der Oberbürgermeister genauso entsetzt, wie ich es gewesen war. »Ja, natürlich«, sagte ich. »Sonst wäre der Flugkörper nicht aus dem All geholt worden. Die Tat von vor über hundert Jahren war aufgezeichnet worden, und das entsprechende Dokument wurde von Sohn zu Sohn weitergegeben. Beim Urenkel angekommen, war der Moment der Rache möglich. Er besaß die nötigen Mittel, den Flugkörper aus dem All zu holen. Daß man es dabei nicht auf die Leiche abgesehen hatte, dürfte wohl klar sein. Man hatte es auf den ›Oldie‹ abgesehen und hoffte, obendrein noch wertvolle Fracht zu erbeuten.« Ich schüttelte den Kopf. »Diese Gier nach Antiquitäten und Objekten längst vergangener Zeiten ist mir unverständlich.
Aber, wie dem auch sei, plötzlich hatten die Stilyegi eine Leiche am Hals und wußten nicht, wohin damit. Da kam einem der Bande eine blendende Idee: warum diese Leiche, die ja nicht zu identifizieren war, nicht dazu benutzen, mich endgültig so sehr in Mißkredit zu bringen, daß mein Posten frei wurde? Gedacht – getan. Die Leiche wurde auf dem Warenhausgelände abgeladen, nachdem man sie vorher ausgezogen und notdürftig abgewaschen hatte.« M’Pher starrte mich bloß an. Daß er keinerlei Anstalten machte, sich zu wehren oder zu verteidigen, ärgerte mich. »Sie haben sich selbst verraten«, fuhr ich fort. »Sie haben mich in Ihrer Fax zu sehr angegriffen und haben keinen Hehl daraus gemacht, daß Sie mich abgrundtief hassen, und ich der einzige bin, der Ihnen im Weg steht. Sie scheinen mich widerlicher zu finden, als ich mich selbst.« Als es klar war, daß er nichts sagen würde, trieb ich ihm noch einen Stachel ins Fleisch. »Sobald ich auf die Idee gekommen war, daß es sich hier um kein frisches Verbrechen handelt«, sagte ich, »habe ich mir überlegt, wer davon profitiert. Nachdem mein Faxschreiber die dritte Folge ausgespuckt hatte, in der meine Unfähigkeit angeprangert wurde, habe ich den Aufzeichner Ihres Privatcars überprüfen lassen. Und was finde ich zu meinen größten Erstaunen heraus? Daß ausgerechnet Sie sechs Stunden, bevor unser Freund gefunden wurde, über das Gelände des Warenhauses gefahren sind. Aber dem nicht genug. Sie haben es auch noch im Tiefflug überquert. Übrigens, wenn Sie schon so vorsichtig gewesen sind, die Leiche zu waschen, dann hätten Sie auch daran denken sollen, das Helicar zu waschen. Und dann noch diese Manie, Ihre altmodischen Zigarren auch noch mit altmodischen Streichhölzern anzuzünden, die man aus Schachteln nimmt.«
Der letzte Schlag schien zu sitzen. Er biß sich auf die Unterlippe und schluckte. Das Herz schlug mir bis zum Hals hinauf. Sollte sich die Maschine einmal getäuscht haben? Er riß plötzlich die alte Pistole an sich, zog den Hahn zurück und schoß. Aber nicht auf mich! Er hatte auf den Jungen gezielt, an dessen Tod sein Urgroßvater mit schuld war. Die Waffe ging los und zerfetzte ihm, wie beabsichtigt, die Hand. Die rostige Metallröhre, die als Lauf gedient hatte, flog quer durch den Raum und traf die Glasflasche. Sie zersprang in tausend Scherben, und die Leiche fiel auf den Teppich. Ich machte einen notdürftigen Verband um M’Phers Armstumpf, und Betty rief einen Robomedico, aber er kam nicht rechtzeitig. M’Pher lebte bloß noch ein paar Minuten. Er wollte sterben. Wahrscheinlich, weil er mit dem Gedanken nicht leben wollte, von jemand, den er so gehaßt hatte, geschlagen worden zu sein. Dabei hatte ich sterben wollen. Ich hatte es wieder einmal versucht, jedoch mich hatte die Maschine geschlagen. Aber wenigstens nicht auf ganzer Linie. Der Sieg war geteilt. Ich spürte, wie etwas in meinem Innern zerfiel und plötzlich nicht mehr zu mir gehörte. Es war zum Lachen! Ich hatte mich umbringen wollen, und was hatte ich erreicht? Lediglich meine Sehnsucht nach dem Tod zu zerstören.
Originaltitel: BIRCHER
Brian W. Aldiss AMEN UND AUS
Strahlender Sonnenschein über der City. Jaybert Darkling kroch aus dem Bett, stieg in seine Hausschuhe und schlurfte zu dem Schrein neben dem Fenster. Die Vorhänge glitten auf, und der Altar begann zu leuchten. Darkling beugte den Kopf. »Allmächtige Götter«, sagte er. »Ich beginne den neuen Tag mit dem Versprechen, euch zu dienen. Helft mir, eure Gesetze einzuhalten und die von euch vorgeschriebenen Wege zu gehen. Amen.« »Du mußt schon auch etwas dazu tun«, antwortete eine dünne hohe Stimme aus dem Altar. »Gestern hast du uns mit demselben Gebet abzuspeisen versucht und dann den Tag damit verbracht, das Gegenteil zu tun.« »Heute wird es anders, allmächtige Götter. Ich werde von früh bis spät an dem Projekt arbeiten, das euch gewidmet ist.« »Brav, mein Sohn. Schließlich wirst du ja auch dafür bezahlt. Und vergiß nicht, über deine Scheinheiligkeit nachzudenken und dein Herz davon zu befreien.« »Euer Wille geschehe.« Das Leuchten verblaßte, die Vorhänge glitten wieder zu. Darkling sah aus dem Fenster. Obwohl der Mensch keine unbedeutende Rolle in der City spielte, war sie in erster Linie eine großangelegte Siedlung von Maschinen. Sie reichte bis zum Horizont und war in ständiger Bewegung. So wollten es die Maschinen. In die meisten dieser gigantischen Strukturen
hatte noch nie ein Mensch den Fuß gesetzt. Sie bewegten sich, weil es praktisch war. Die Wände des Projekts glühten. Dahinter wurden die Unsterblichen gefangen gehalten. Zum Glück bewegte sich dieses Gebäude nicht. Scheinheiligkeit! Dabei kannte er den Terror und den Nimbus seit frühester Jugend. Dafür hatten die Götter gesorgt. Er sah auf die Uhr. In siebzig Minuten konnte er an seinem Arbeitsplatz sein. Heute mußte er versuchen, ein besserer Mensch zu sein und ein besseres Leben zu führen. Zweifelsohne machte es sich bezahlt. Er verfluchte seine zweigleisige Art zu denken, kannte aber keine anderen Gedanken.
Jee Stone war später dran als sonst. Den Schrein in seinem kleinen Zimmer ignorierte er und ging direkt ins Bad. »Ihr könnt ruhig einstweilen anfangen, an mir herumzumeckern«, rief er über die Schulter. Die Stimme aus dem dunklen Schrein war tief, väterlich und reichlich eisig. »Du hast vergangene Nacht wieder herumgehurt und es bis zur Erschöpfung getrieben. Mit dem Erfolg, daß du wieder einmal zu spät kommst. Du brauchst uns gar nicht erst zu beichten, daß du gesündigt hast.« »Aber ihr wißt doch, warum. Ich will einen Roman schreiben. Ich will Schriftsteller werden. Doch kaum habe ich angefangen – selbst wenn ich einen genauen Plan habe – ist alles schon wieder ganz anders. Ihr pfuscht mir dazwischen. Gebt’s doch zu.« »Du suchst immer die Schuld bei den anderen. So wird nie etwas aus dir.« »Ach, laßt mich doch in Ruhe!«
Jee Stone drehte die Dusche an. Er war jung und unabhängig. Er würde sich beim Projekt schon durchsetzen mit seiner Schriftstellerei. Und bei diesem Mädchen mit den kupferroten Haaren und den grünen Augen würde er sich auch durchsetzen. Irgendwo hatten die Götter natürlich doch recht. Die anderen, er selbst – er kannte kaum den Unterschied. Sein verhaßter Boss, dieser Darkling, vielleicht war er gar nicht so. Vielleicht bildete sich Stone alles bloß ein. Seine Gedanken wanderten zu dem Roman, den er im Moment im Kopf hatte. Die Götter schienen mehr Macht über ihn zu haben, als er über die Charaktere, die darin agieren sollten.
Dean Cusak stand relativ früh auf. Was ihn Zeit kostete, war die Streiterei mit seiner Frau. Der Morgen war frisch und sauber. Der Streit abgestanden und mies. »Zu unserer kleinen Farm kommen wir nie«, maulte Edith Cusak, während sie sich anzog. »Du wolltest sparen, und wir wollten aufs Land ziehen. Mit deinem schlecht bezahlten Job beim Projekt schaffst du es nie.« »Als Portier hat’ man viel Verantwortung«, verteidigte sich Dean. »Warum kriegst du dann so wenig Geld?« »Weil ich eben noch nicht auf gebessert worden bin.« Er ging ins Bad und putzte sich die Zähne. Ediths Unzufriedenheit tat ihm weh, denn er liebte sie noch immer. Dazu kam, daß sie recht hatte. Schon vor der Heirat hatten sie von der kleinen Farm gesprochen. Aber er war immer – zugegeben, er war so unterwürfig, daß man ihn einfach links liegen ließ und vergaß. Sie kam auch ins Bad und stichelte weiter.
»Willst du dir vielleicht dein ganzes Leben lang von anderen vorschreiben lassen, was du zu tun hast? Willst du dich dein ganzes Leben lang herumkommandieren lassen? Zeig ihnen doch endlich einmal, daß du jemand bist. Man muß auf sich aufmerksam machen, wenn man es zu etwas bringen will.« »Ich kenne deine Lebensphilosophie«, murmelte er. Als sie in die Küche gegangen war, um das Frühstück aus dem Automaten zu lassen, huschte er ins Schlafzimmer zurück und kniete vor dem Schrein nieder. Das Licht hinter dem Altar ging an, und er faltete die Hände. »Allmächtige Götter, helft mir!« flehte er. »Ich bin ein jämmerlicher Wurm. Meine Frau hat recht. Ihr kennt mich und wißt, wie ich bin. Helft mir. Ich habe mich bemüht, und ihr wißt, daß ich mich bemüht habe, aber alles nützt nichts. Es wird von Tag zu Tag schlimmer. Ich habe euch immer geehrt und geachtet und versucht, nach eurem Willen zu leben. Allmächtige Götter, verwehrt mir nicht eure Gnade.« Eine gütige Stimme erfüllte den Raum. »Verzage nicht. Habe Geduld und versuche einstweilen, etwas mehr Selbstvertrauen aufzubauen.« »Ja, allmächtige Götter, ich tue alles, was ihr sagt. Aber… wie macht man das?« »Indem man sich ständig beobachtet und beurteilt. Du wirst es schon schaffen, Cusak.« Er bat bescheiden um weitere Instruktionen, aber die Götter hatten schon abgeschaltet. Sie waren krankhaft maulfaul. Der Portier stand schließlich wieder auf, schlüpfte in seine braune Uniformjacke, kämmte sich die Haare und ging in die Küche. Nicht einmal die Götter nennen mich Mister, dachte er verzweifelt.
Im Gegensatz zu Dean Cusak, der eine Frau hatte, die ihn auf Trapp hielt, oder Jaybert Darkling und Jee Stone, deren Leben gesichert war und die jeden Morgen duschten und die Segnungen der Zivilisation genossen, war Otto Jack Pommy eine Art Penner. Außer dem Schrein auf seinem Buckel besaß er praktisch nichts. Otto hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Bis zum Morgengrauen war er in der automatisierten City hinunter gewandert. Dann erst hatte er das Abbruchhaus gefunden und war eingedöst. Als die Sonne durch die schmutzigen Scheiben auf die zerschlissene Matratze schien, auf der er lag, dachte er voll Sehnsucht an LSD. Eine ganze Woche lang hatte er nichts genommen. Er wälzte sich auf die andere Seite und machte seinen Kofferschrein auf. Kein Licht hinter dem Altar. »Was ist denn jetzt los?« maulte er. »Euch ist wohl genauso düster zumute wie mir? Soll ich vielleicht beten, wenn ihr nicht einmal Licht macht, wie es sich gehört? Und das wollen Götter sein? Da pfeif ich doch drauf. Ja, ja – ich weiß, ich habe gesündigt. Ihr kennt mich doch. Ich bin nicht besser und nicht schlechter als jeder andere. Laßt mich doch zufrieden! Habe ich vielleicht je in meinem Leben jemand ausgebeutet?« Die Götter brummelten. »Otto Pommy, dein Dünkel ist grenzenlos. Wenn du nicht endlich versuchst, etwas bescheidener zu sein, sind wir geschiedene Leute.« »Okay, okay. Heute kann ich euch die Bescheidenheit versprechen, denn ich habe nichts besonderes vor. Ich will bloß den Alten im Projekt besuchen. Amen.« »Und vergiß nicht, eine neue Batterie für diesen Altar zu kaufen. Hast du eigentlich keinerlei Ehrfurcht im Leib?« »Amen – habe ich gesagt. Amen und Schluß jetzt!«
Das Gelände des Projekts für Unsterblichkeitsforschung lag im Zentrum der City und war immens groß. Daß die Raumstationen am Rand der City lagen, versteht sich von selbst. Daß Jaybert Darkling auf diesem Umstand immer wieder herumritt, war vielleicht auch verständlich, aber für die Leute, die sich seine persönliche Ansicht über die Dinge anhören mußten, mehr als lästig. »Das ist doch irgendwo symbolisch, finden Sie nicht?« pflegte er zu sagen. »Der Mensch drängt nach außen – zumindest unsere Maschinen tun es –, aber die wichtigen Dinge liegen im Innern. Ein Weiser des zwanzigsten Jahrhunderts hat einmal gesagt, man muß das innere All zu ergründen suchen. Sehen Sie, unsere Raumstationen liegen am Rand der City – und das nicht von ungefähr – während dieses große, metaphysische Projekt sozusagen am Nabel alles Geschehens liegt.« Jeder kannte das Geschwätz, und keiner ging mehr darauf ein. Bevor sich Darkling an diesem strahlenden Morgen an seinen Schreibtisch setzte, machte er eine Inspektionstour. Roboter und Maschinen kümmerten sich praktisch um alles, was getan werden mußte, aber für die Unterbringung und Bewachung der Unsterblichen war er verantwortlich. Als Jaybert Darkling den Westflügel betrat, sah er zu seinem Ärger, daß Jee Stone Dienst hatte und mit einer blonden, vollbusigen Sekretärin flirtete. »Stone!« »Sir?« Sie gingen zusammen in den Vorraum und zogen Gummistiefel und Ölzeug an. Im Westflügel waren die Unsterblichen untergebracht. Inzwischen waren es schon weit mehr als tausend. Im ersten
Saal waren an die zwanzig untergebracht, wovon sich die meisten nicht bewegten. Die Temperatur wurde auf genau zwölf Grad Celsius gehalten. Minus, natürlich. Aus der hohen Decke rieselte ein ständiger Sprühregen. Aus den Wänden ergossen sich kleine, fröhlich sprudelnde Bäche, die über die Fliesen in das Becken flossen, das die Hälfte des Saals einnahm. In der Mitte des Beckens ein großer Springbrunnen. Eine Handbreit unter der Decke kamen Düsen aus der Wand, die in einem bestimmten Rhythmus Kaltluft ausstießen. Die kleinen Wolken, die sich dadurch bildeten, lockerten die Atmosphäre auf. Die Unsterblichen standen oder lagen in ständig fließenden Wassern, schienen in weite Fernen zu blicken, und ließen sich die Glieder umspülen. Nicht einer von ihnen war unter einhundertsiebzig Jahre alt. Sie glichen furniertem Holz mit sehr ausgeprägter Maserung. Bei ihrer Einlieferung war das noch nicht der Fall gewesen. Nach den ersten fünf ROA-3-Injektionen bekamen sie erst einmal unbeschreiblich alte, von der Agonie gezeichnete Gesichter. Ihre Haut sah aus wie zerknittertes Pergament, das Haar fiel aus, und ihre Körper schienen zu schrumpfen. Sie boten keinen erfreulichen Anblick. Aber diese Phase ging vorbei. Langsam näherten sie sich der Senilitätsbarriere und überschritten sie nach einigen Anläufen. Ihre Haut wurde dann wieder glatt wie Seidenpapier und bekam die Zeichnung, die an Holzfurnier erinnert. Aber das waren nur die Äußerlichkeiten. Die innere Wandlung war weit gravierender. »Wie fühlen Sie sich heute morgen, Palmer?« fragte Darkling eine der Gestalten, die am Rand des Beckens im Wasser schaukelte.
Er kniete sich nieder und sah in das Gesicht, dessen Haut wie die Struktur eines vergrößerten Fingerabdrucks aussah. Es dauerte eine Weile, bis Palmer antwortete. Man hätte fast denken können, daß Darklings Frage erst zum Mars und zurück gereist war, bevor sie Palmers Ohr erreichte. »Ich hänge einem Gedanken nach, der mich schon vor sechzig Jahren beschäftigt hat.« »Und um was für einen Gedanken handelt es sich?« wollte Darkling wissen. »Er läßt sich nicht in Worten ausdrücken. Es ist nicht so sehr ein Gedanke als vielmehr… eine Nuance. Einige von uns hier diskutieren seit längerem darüber, ob man nicht eine Farbsprache einführen sollte. In Farben ausgedrückt könnte ich Ihnen ganz genau erklären, was ich gedacht habe.« »Aber Palmer«, sagte Darkling leicht gereizt, »die Idee, eine Farbsprache einzuführen, wurde ausführlich besprochen. Noch lange vor meiner Zeit hier. Man kam zu dem Schluß, daß es nicht durchführbar ist. Jeder war der Meinung – auch die Unsterblichen – daß Farben weitaus begrenzter sind als Worte. Sowohl in der Anzahl, als auch was die Abstufung anbelangt.« Palmer hielt das Gesicht in einen dünnen Wasserstrahl und ließ sich die Nase umspülen. »Es existieren weit mehr Farben, als Sie wissen«, sagte er schließlich. »Es ist lediglich eine Frage der Aufzeichnung. Außerdem spreche ich nicht von einer Sprache, die unsere ersetzen soll. Ich spreche von einer zusätzlichen Sprache. Wenn sich diese andere Sache, von der die Gruppe gesprochen hat, tatsächlich verwirklichen lassen sollte, wenn also ein Auge Licht nicht nur absorbieren, sondern auch ausstrahlen kann, dann hat die Farbsprache Zukunft – davon bin ich überzeugt.« »Na gut, Palmer, wenn Ihnen zu dem Thema noch etwas Wichtiges einfällt, dann lassen Sie es mich wissen.« »Okay, Direktor.«
Sie wateten weiter. »Halten Sie die Idee in irgendeiner Weise für durchführbar?« fragte Stone. »Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, mein Freund«, sagte Darkling von oben herab. »Für den ungeschulten Geist kann selbst die fruchtbarste Idee gefährlich sein – wie Unterwasserschocks zum Beispiel. Nur der Experte kann die genaue Wirkung beurteilen.« Er erinnerte sich daran, was ihm die Götter am Morgen gesagt hatten, und riß sich zusammen. »Trotzdem«, sagte er, »ich, für meine Person, halte nicht sonderlich viel von der Idee.« Die beiden Männer gingen zwischen den schwimmenden Körpern hindurch und sprachen hier und dort ein verbindliches Wort. Ein paar von den Unsterblichen kamen mit neuen Gedanken, die Darkling auf einer kleinen Tafel festhielt, die natürlich wasserfest war. Die Notizen wurden täglich an die Interrogatoren weitergeleitet, die sie dann verarbeiteten. Die meisten Ideen, die hier aufkamen, waren für die Gesellschaft nicht praktikabel, geschweige denn gewinnbringend. Einige allerdings hatten ihr schon in phantastischer Weise genützt und sie von Grund auf umfunktioniert. Das Unsterblichkeitsprojekt als solches war ein Mißerfolg: die unnatürliche Verlängerung des Lebens hatte sich als zu exzentrisch erwiesen, und es wollte sich niemand mehr als Versuchsobjekt zur Verfügung stellen. Es waren also keine Unstis mehr zu bekommen. Demzufolge war man gezwungen, diejenigen, die man hatte, zu erhalten, denn es hatte sich herausgestellt, daß das Projekt ein sehr brauchbares Nebenprodukt abwarf: neue Ideen und die Neugestaltung alter Ideen. Die Unstis waren zu einer Art Investition geworden, die nicht zu mißachten war.
Endlich war die Morgenvisite vorbei, und Darkling und Stone betraten weniger feuchte Räumlichkeiten und entledigten sich der Gummistiefel und des Ölzeugs. »In letzter Zeit bringen sie aber nicht viel ein«, sagte Stone. »Wir sollten sie etwas auf Vordermann bringen. Vielleicht sollte man ihnen die Wasserration kürzen oder dergleichen.« »Ich bitte Sie, Stone!« entsetzte sich Darkling. »Das wäre ja geradezu unmoralisch. Ganz abgesehen davon hat man das vor Jahren schon einmal versucht. Ohne jeglichen Erfolg. Nein, Stone, machen wir uns doch nichts vor. Sie sind eben anders als wir. Sogar sehr anders.« Er holte ein frisches Handtuch aus einem Schrank und trocknete sich Gesicht und Hände ab. »Die Unsterblichen«, fuhr er schließlich fort, »haben noch gerade so viel Auftrieb, um sich über Wasser zu halten – im wahrsten Sinn des Wortes. Das einzige, was für uns aus ihrer Verhaltensweise nachahmenswert wäre, ist ihr totales Desinteresse an der Reproduktion der eigenen Person. Sonst – und das wurde schon x-mal diskutiert, besprochen und abschließend festgestellt – können wir ihnen nichts abschauen. Wenn der Mensch die Senilitätsbarriere einmal überschritten hat, ist er nicht mehr aktiv. Und kreativ schon erst recht nicht mehr. Er denkt nur noch. Wir jedoch, die wir noch diesseits der Senilitätsbarriere stehen, handeln statt zu denken – eine Erkenntnis, die unsere Vorfahren hundertprozentig abgelehnt hätten. Sie hätten sich geradezu entsetzt darüber. Aber nennen wir das Kind doch beim Namen: unser Denken ist embryonales Denken. Die Unstis sind unser eigentliches Denkvermögen. Wir leben in einer Zeit der totalen Umwälzung und können ohne sie nicht auskommen.« Stone hatte schon vor mehreren Sätzen abgeschaltet. Immer die alte Leier, dachte er. Dem fällt auch nichts Neues ein.
»Eben«, sagte er, als sein Boss mit seinem Vortrag fertig war. »Man sollte die Typen, wie gesagt, wieder mal auf Vordermann bringen.« Er dachte an seinen Roman. Was er dringend brauchte, waren neue Charaktere – junge, die es überhaupt nicht mehr nötig hatten zu denken. »Was heißt hier auf Vordermann bringen?« bellte Darkling. Stone war aus seinen Gedanken gerissen und konzentrierte sich wieder auf seinen Boss, dessen schmaler Schnurrbart zuckte, als führe er ein Eigenleben. »Das ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, Stone. Wenn Sie mir doch nur einmal zuhören würden! Die Unsterblichen sind in unsere Obhut gegeben. Es ist unsere Aufgabe, sie zu versorgen und uns um sie zu kümmern. Das ist doch kein Gefängnis hier. Es ist ein Zufluchtsort, der vor der komplexen Außenwelt schützt.« Stone hatte Darkling noch nie leiden können. Und seinen Schnurrbart auch nicht. Er setzte ein sehr ruhiges, aber auch sehr impertinentes Gesicht auf. »Daß ich nicht lache, Sir«, sagte er. »Sie wissen doch genauso gut wie ich, daß die Unstis unsere Gefangenen sind. Was soll denn diese Scheinheiligkeit?« Wahrscheinlich war es das Wort ›Scheinheiligkeit‹. Darkling lief rot an wie ein Puter. »An Ihrer Stelle, Stone«, sagte er, und seine Stimme überschlug sich, »würde ich mich ein bißchen mehr in acht nehmen. Bilden Sie sich vielleicht ein, daß ich von Ihrem Techtelmechtel mit Miss Robots nichts weiß? Und das im Dienst! Wenn einer meiner Unsterblichen den Wunsch äußern sollte, uns zu verlassen – was nie der Fall war und nie der Fall sein wird, weil sie bei uns unter idealen Verhältnissen leben – kann er jederzeit gehen. Ich würde diesen Entschluß immer achten und bei den zuständigen Behörden dafür geradestehen.«
Sie sahen sich haßerfüllt an. »Trotzdem wäre es in meinen Augen ein Wunder, wenn einer es schaffen würde, von hier wegzukommen«, sagte Stone gehässig. Als er gegangen war, griff Darkling nach seinem Taschenschrein. Dieser Stone regte ihn jedesmal so auf, daß er göttlichen Trost suchen mußte.
Als Otto Jack Pommy im Projekt ankam, hatte seine Lieblingslaune Besitz von ihm ergriffen: totale Resignation, gepaart mit geradezu wollüstiger Streitsucht. Während er den Fragebogen ausfüllte, ohne den man keinen der Insassen besuchen durfte, während er die medizinische Untersuchung über sich ergehen und während er seine Netzhautanlage überprüfen ließ, konzentrierte er sich auf eine Reihe absorbierender Arrangements in All-Zeit, um seiner Laune eine Spur von substantieller Abgeklärtheit zu verleihen. Genauer gesagt: er holte eine Anzahl von Partikelchen aus der Kappe seines linken Stiefels, beziehungsweise aus der Kappe dessen, was einmal sein linker Stiefel gewesen war. Daß jemand, der kein Neuling mehr war und sich auskannte, daraus die komplette Geschichte aller Reisen lesen konnte, die er je in diesen Stiefeln unternommen hatte, war ihm klar. Witzig übrigens, daß der rechte Stiefel, beziehungsweise das, was einmal der rechte Stiefel gewesen war, viel vager und ausweichender zu sein schien. Wie dem auch sei, Otto Pommy wurde schließlich in den Westflügel zu seinem Verwandten geführt. »Hallo, Vater Palmer«, begrüßte er ihn. »Hier ist wieder einmal der alte Querkopf. Erinnerst du dich noch an mich? Seit ich das letzte Mal hier war, sind allerdings zwei Jahre vergangen.«
Die Generationen waren etwas durcheinandergebracht. Otto war der Ur-Ur-Ur-Urenkel von Palmers längst verstorbenem Bruder, und die Anrede ›Vater‹ war reichlich lächerlich, aber ehrerbietig gemeint. Trotz seiner zweihundert Jahre und des zebragestreiften Senilitätseffekts sah Palmer jünger aus als der verwahrloste und zerzauste Otto. Nur in der Stimme schwang etwas mit, was an Jahre erinnerte, die Otto nie erreichen würde. »Du bist mein einziger lebender Verwandter«, sagte Palmer, »und stammst in sechster Generation von meinem Bruder ab. Du heißt Otto Jack Pommy und hast dich seit dem letzten Mal rasiert.« »So etwas fällt auch bloß dir auf«, sagte Otto und lachte. »Typisch!« Er griff nach Palmers Hand. Sie war kalt und glitschig, aber Otto machte sich nichts daraus. »Ihr verdammten Unstis macht mir Spaß. Ihr seid umwerfend komisch. Ich weiß auch nicht, warum ich dich nicht öfter besuche.« »Weil du dem Prinzip der Zügellosigkeit mehr Treue schenkst als irgendeinem Individuum. Das ist der Grund. Und außerdem magst du das Klima hier nicht.« »Das ist eine Möglichkeit – auf die ich von selbst nicht gekommen wäre.« Otto betrachtete Palmers Gesicht und hing seinen Gedanken nach. Ein kartographisches Gesicht, dachte er nach einer Weile. Die Zeichen der Senilität, die Falten, Vertiefungen und Runzeln sind früher einmal so plastisch gewesen wie die Unregelmäßigkeiten einer hügeligen Landschaft. Jetzt ist alles nur noch abstrakt. Nur noch Konturen. Zweidimensional. »Du hast ein kartographisches Gesicht«, sagte er.
»Mag sein«, sagte Palmer. »Aber trotzdem ist es keine Landkarte meiner Persönlichkeit. Ich trage meine Seele nicht auf dem Gesicht.« »Dann ist es vielleicht eine Landkarte der Zeit«, sagte Otto nachdenklich. »In Isobaren und dergleichen ausgedrückt.« Seine Gedanken wanderten wieder. Er wußte, warum die Unsterblichen so verhaßt waren. Warum niemand ein Unsti werden wollte, obwohl ihr immenser Beitrag zum Leben unumstritten war. Die Unstis waren zu anders. Sie anzusehen war kein Vergnügen, und mit ihnen zu sprechen schon gar nicht. Otto aber empfand alles nicht. Im Gegenteil, er liebte die Unsterblichen. Wahrscheinlich, weil er Palmer liebte. Nur den Westflügel konnte er nicht ausstehen. Das viele Wasser war ihm zuwider. Otto hatte etwas gegen Wasser. Deshalb saßen er und Palmer in einem der Besuchszimmer, wo alles trocken war. Wie immer redeten sie relativ wenig und sahen sich in die Augen und träumten vor sich hin. Palmer war in einen Frotteemantel gewickelt, aus dem seine dünnen, gestreiften Beine und der alte, tätowierte Kopf wie nachträgliche Gedanken herausragten. Er lächelte. Und zwar so strahlend, wie in den letzten hundert Jahren höchstens fünfzehn Mal. Er mochte Otto gern, denn Otto amüsierte ihn. Irgendwie war er stolz darauf, daß sein längst verstorbener Bruder einen so gelungenen Ur-Ur-UrUrenkel hatte. »Ist es nicht zu schmerzhaft für dich«, fragte Otto, »so ganz ohne Wasser zu sein?« »Eine Zeitlang tut es nicht weh. Ich meine, der Schmerz schmerzt eine Zeitlang gär nicht.« »Eure ganze Wasser-Orientierung habe ich noch nie verstanden. Ich frage mich oft, ob ihr Unstis sie selbst versteht.«
Palmer hatte den Kontakt verloren. »… Unterschied zwischen Schmerz und Pein«, sagte er versonnen. »Es sollte noch ein Wort dazwischen geben. Im Sinne von gutgemeinter Schmerzerreger.« »Wasser-Orientierung, Vater Palmer.« »Nein, das trifft es nicht… Ach so, Wasser-Orientierung… Es kommt natürlich darauf an, was du unter Verstehen verstehst, Otto. Das Leben erneuert sich in Nässe und Schleim. Die zentralen Fakten der Existenz waren – zumindest bis es uns, die Unsterblichen, gab – in Feuchtigkeit gebadet. Die Vagina, die Spermien, der Schoß einer Frau – du liebe Güte, ich habe die Realität der Dinge, die ich hier ausspreche, schon fast ganz vergessen… Alles Leben kommt aus dem Meer und wird in salziger Lösung gezeugt und geboren. Es wird nach seinem Zerfall nicht zu Staub und Asche, sondern zu Schleim und Salz. Nur wir nicht, die Unsterblichen. Wir sind über den sogenannten toten Punkt hinaus, und ein unstillbares Verlangen nach Wasser beherrscht uns deshalb. Ein Verlangen nach den unersetzlichen Flüssigstoffen, die früher zu unserem natürlichen Sein gehörten.« »Über den toten Punkt hinaus? Ich persönlich würde nie auf die Idee kommen, eine Sehnsucht oder Begierde oder bloß auch nur einen Wunsch so total befriedigen zu wollen, daß er nie mehr aufkommt, und deshalb…« »Die Langlebigkeit«, fiel ihm Palmer ungeduldig ins Wort, »ist eine mit einem Knoten vergleichbare Phase, in der der Durst alle anderen Begierden verdrängt. Vor allem metaphysisch.« Er machte die alten Augen zu, um die Wüste des Nichtsterbens, durch die er wanderte, besser überschauen zu können. »Wenn man dich hört«, sagte Otto, »könnte man meinen, daß du innerlich völlig ausgetrocknet bist. Ich bin überzeugt davon,
daß dein Blut noch genauso durch deine Adern fließt, wie sämtliche Bäche und Flüsse der Erde von ihren Quellen den Meeren zuströmen. Habe ich recht?« »Natürlich zirkuliert das Blut noch in meinen Adern, Otto… Die Trockenheit beginnt auf einer Ebene, die weit unter dem Blutspiegel liegt. Wir brauchen etwas, was uns nicht vergönnt ist. Es muß nicht zwangsläufig die Auslöschung sein, aber es offenbart sich in ständig fließenden Wassern.« »Wasser! Du hast nichts anderes im Kopf als Wasser. Wenn du mich fragst, dann brauchst du dringend einen Tapetenwechsel.« »Deine Welt, Otto, diese Welt der Menschenmassen, der Veränderungen und der Geschwindigkeit habe ich längst vergessen.« Otto war plötzlich sehr aufgeregt. Er schnalzte mit den Fingern, und an seiner linken Backe zuckte es unaufhörlich. »Palmer, Palmer, du Idiot!« rief er. »Meine Welt ist das genauso wenig wie es deine Welt ist. Ich bin aus dieser angeblichen Kulturmaschine auch schon längst ausgestiegen. Und nicht weniger endgültig als du. Ich bin ein Querkopf und kenne dieses unstillbare Verlangen. Ich liebe und verehre dich, Palmer, und hole dich hier raus – aus diesem verfluchten Gefängnis.« Palmer verdrehte die Augen auf ganz seltsame Weise und sah sich langsam in dem Besuchszimmer um. Sein Körper zitterte plötzlich, als hätte man eine uralte, ausgediente Maschine in seinem Chassis angestellt. »Ich bin hier auf immer und ewig gefangen«, murmelte er. »Nur deshalb, weil du glaubst, daß es keinen Platz auf dieser Erde gibt, wo du hingehen könntest. Aber ich weiß, wohin mit dir, Vater Palmer. Die Bedingungen sind ideal. Keine zwanzig Meilen von hier entfernt haben Freunde von mir ein altes Haus
mit einem alten Swimmingpool. Zugegeben, es sind total ausgeflippte Typen, aber sie sind wahnsinnig nett, und vor allem sind sie menschlich. Das Swimmingpool ist übrigens drinnen – nicht im Freien – – und funktioniert prima. Drum herum sind lauter kleine Nischen, und in denen liegt immer alles und pennt nach Herzenslust. Dich legen wir in den Swimmingpool. Am flachen Ende natürlich. Ich möchte wetten, daß du dich wie zu Hause fühlst. Ehrlich. Mit meinen Freunden kannst du reden. Sie verstehen dich. Und wenn man wieder einmal neue Gesichter sieht, kommen einem auch neue Ideen. Bestimmt, die idealen Bedingungen für dich. Ich nehme dich mit. Komm, wir hauen ab. Und zwar gleich.« »Otto, du hast den Verstand verloren. Sie lassen mich doch hier nicht raus.« »Aber, du willst raus, oder?« Manchmal war Palmers Blick ganz stumpf und ausdruckslos. Wie ein gemusterter Teppich. Jetzt allerdings war er offen und voll Leben. »Wenigstens für ein paar Tage… Einmal weg sein… wo anders…« »Dann nichts wie weg. Du brauchst doch sonst nichts, oder? Ich meine, zum Mitnehmen.« Palmer packte Otto an der Hand und drückte sie. »Ich sage dir doch, sie lassen mich hier nicht raus. Nie im Leben würden sie es zulassen.« »Wer? Die Bosse? Es steht doch in deinem Vertrag. Du kannst gehen wann du willst. Schließlich finanziert die Regierung das Projekt. Du bist niemandem etwas schuldig.« »In eineinhalb Jahrhunderten ist kein Unsterblicher ausgebrochen, Otto. Weder heimlich noch mit Genehmigung. Es wäre das reinste Wunder.« »Dann beten wir eben und bitten um das Wunder.«
Palmer wollte einen weiteren Einwand vorbringen, aber Otto wehrte mit einer Handbewegung ab. Er wollte nichts mehr davon hören, sondern streifte den alten, gebraucht gekauften Schrein von seinen Schultern und stellte ihn vor sich auf den Tisch. Er machte ihn auf und schlug mit der Faust darauf, weil hinter dem Altar das Licht wieder nicht angehen wollte. Als es auch dann nicht aufleuchtete, zuckte er mit den Schultern, was Palmer für eine Ehrenbezeugung den Göttern gegenüber hielt. Otto Jack Pommy begann zu beten. »Liebe Götter, verzeiht, daß ich euch heute schon zum zweiten Male belästige. Hier spricht euer alter Freund und Querkopf Otto Jack Pommy in Bescheidenheit und Ehrfurcht. Ihr erinnert euch bestimmt, daß ihr heute morgen, als ich auch schon mit euch gesprochen habe, daß ihr gesagt habt, ich soll nicht immer so frech und arrogant sein. Stimmt’s?« Es kam keine Antwort. Otto nickte verständnisvoll. »Droben im Himmel halten sie nichts von langen Vorreden«, sagte er zu Palmer. »Sie verlangen von einem, daß man immer gleich zur Sache kommt.« Er wandte sich wieder dem Schrein zu. »Natürlich erinnert ihr euch daran, ich weiß es ganz genau. Also folgendes, ihr Götter: ich verspreche euch, nie wieder frech und arrogant zu sein, und als Gegenleistung bitte ich euch, Allmächtige Götter, um ein ganz kleines Wunder.« Die Stimme, die hinter dem dunklen Altar hervorkam, war tief und schulmeisterlich. »Die Götter lassen nicht mit sich handeln.« Otto räusperte sich und schickte einen Blick zur Decke, der Palmer zeigen sollte, daß man es mit diesen Pedanten nicht immer leicht hatte. »Verständlich«, sagte er. »Vor allem in eurer Position. Deshalb, Allmächtige Götter, bitte ich euch, mir mein kleines
Wunder zu gewähren, ohne eine Gegenleistung vor mir zu verlangen. Halt! Moment, laßt mich doch erst erklären – « »Wunder gibt es keine. Nur glückliches Zusammentreffen von Umständen.« »Sehr gut ausgedrückt. Allmächtige Götter. Dann darf ich euch vielleicht um ein glückliches Zusammentreffen von Umständen bitten, weil ich nämlich meinen lieben alten Vater Palmer aus diesem beschissenen Gefängnis holen will. Ist das vielleicht zuviel verlangt? Doch ganz bestimmt nicht. Und damit ihr auch etwas habt, schwöre ich euch, mein Leben lang bescheiden zu sein. Erhört mein Gebet, Allmächtige Götter, denn euer ist die Kraft und die Herrlichkeit und alles, was ihr wollt. Und das Ganze in Ewigkeit. Amen.« »Wenn du den Unsterblichen wegschaffen willst«, sagte die göttliche Stimme, »dann jetzt. Der Zeitpunkt ist günstig.« »Danke!« Otto packte den Schrein mit beiden Händen und küßte den Altar stürmisch. »Ihr seid dufte Typen, ihr Allmächtigen Götter«, rief er. »Einen alten Querkopf wie mich so gut zu behandeln. Aber eines schwöre ich euch: das Wunder lasse ich als Wunder deklarieren und ziehe bis ans Ende meiner Tage durch die Lande und verkünde eure Botschaft. Und eine neue Batterie für den Altar kaufe ich auch. Amen! Amen und Schluß jetzt.« Otto drehte sich mit strahlenden Augen zu Palmer um und lud sich den Schrein wieder auf den Rücken. »Na, was sagst du jetzt? Wenn die Götter uns helfen, dann kann uns keine Zivilisation des einundzwanzigsten Jahrhunderts einen Stein in den Weg werfen. Machtlos sind sie. Völlig machtlos! Komm, Alterchen, jetzt gehts in die Freiheit. Der Querkopf Otto kümmert sich um dich, wie um sein eigenes Kind – das verspreche ich dir.«
Er zog den Unsterblichen in die Höhe und schob ihn aus dem Besuchszimmer. Palmer war völlig durcheinander und meinte, er könne doch unmöglich weg von hier. »Aber bleiben will ich auch nicht, Otto. Was mache ich bloß? Hattest du doch nicht davon angefangen. Ich wäre von selbst nie auf die Idee gekommen.« »Siehst du, das ist der Beweis!« rief Otto triumphierend. »Du brauchst eben jemand, der dir deine schwierigen Entscheidungen abnimmt.« Und so schlichen sie durch die langen Gänge des Projekts dem Ausgang zu. Niemand versuchte sie aufzuhalten. Sie begegneten zwar einigen Wärtern, aber die starrten ihnen bloß in sprachlosem Erstaunen nach. Erst am Hauptausgang versperrte man ihnen den Weg. Dean Cusak in seiner beeindruckenden braunen Uniform sprang wie ein Zinnsoldat aus seinem Glaskasten und verlangte ihre Passierscheine. Otto zeigte seine Besucherkarte. »Und das«, sagte er und deutete auf Palmer, »ist einer von den Unsterblichen, wie Sie sicher selbst sehen. Es ist Mr. Palmer Pommy. Er hat keinen Passierschein, verläßt aber trotzdem mit mir das Projekt. Er war hundertfünfzig Jahre hier, und das reicht.« Cusaks großer Moment war gekommen, was ihm zu seinem größten Leidwesen sofort klar war. Er hatte noch nie einen Unsterblichen von Angesicht zu Angesicht gesehen, und es ging ihm ganz genau so wie jedem, der zum erstenmal einen der Insassen begegnete. Im ersten Moment war er entsetzt, dann kam eine Welle aus Neid, Angst, Mitleid und einer ganzen Reihe von schlecht zu definierenden Gefühlen. Dieser Mensch war viermal so alt wie er selbst und dazu verurteilt, Generation auf Generation zu überleben.
»Ich darf Sie nicht durchlassen, Sir«, brachte Cusak schließlich mit zitternder Stimme heraus. »Nur wenn Sie einen Passierschein haben. Ich muß mich an die Vorschriften halten.« »Um Gottes willen, Mann, wer sind Sie eigentlich?« fragte Otto und schüttelte mitleidig den Kopf. »Wollen Sie sich ein Leben lang von anderen vorschreiben lassen, was Sie zu tun haben? Wollen Sie sich ein Leben lang herumkommandieren lassen? Schauen Sie sich diesen Unsterblichen an und bilden Sie sich dann Ihr eigenes Urteil. Glauben Sie denn, Sie haben ein Recht, ihm einen Wunsch abzuschlagen? Glauben Sie, Sie haben ein Recht, sich ihm in den Weg zu stellen?« Cusak sah Palmer in die Augen und ließ den Blick sofort wieder sinken. Es ist durchaus möglich, daß er gar nicht an den Moment dachte, den er gerade lebte, noch an die zwei Männer, die vor ihm standen, sondern an das, was ihm die Stimme am Morgen gesagt hatte. Plötzlich stand sein Entschluß fest. »Sie haben recht, Sir«, sagte er, und seine Stimme zitterte nicht mehr. »Ich lasse mich nicht herumkommandieren. Wer hier rein- und rausgeht, bestimme ich. Ich bin doch nicht bloß auf der Welt, um Mr. Darklings Befehle auszuführen. Ich bin mein eigener Herr, und eines Tages besitze ich meine eigene kleine Farm. Bitte, meine Herren! Ich stehe Ihnen nicht im Weg.« Er legte die Hand an die Mütze, als sie an ihm vorbeigingen. Doch kaum waren sie weg, da überfielen Dean Cusak die Gewissensbisse. Nach einigem Hin und Her beschloß er, seinen Vorgesetzten Jee Stone anzurufen. Er berichtete, daß einer der Insassen das Projekt verlassen habe. »Nur keine Angst, Cusak«, schnitt ihm Stone die Flut von Entschuldigungen ab. »Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Ich mache das schon.«
Stone legte auf und starrte eine ganze Weile ins Leere. Was sollte er mit dieser hochinteressanten Nachricht anfangen? Im Moment war er der einzige, der Kenntnis davon hatte. Spätestens am Abend allerdings würde es der ganze Planet wissen. Eine echte Sensation. Noch nie hatte ein Unsterblicher es gewagt, das Projekt zu verlassen. Das kolossale Ereignis würde unter Garantie peinlich genaue Ermittlungen zur Folge haben, und dabei würde eine ganze Anzahl von Geheimnissen aufgedeckt werden. Besonders diesen Jaybert Darkling würde man unter die Lupe nehmen. Wahrscheinlich würde man ihn im hohen Bogen rausschmeißen. Und bei derselben Säuberungsaktion ihn gleich mit. »Als ob mir das etwas ausmachen würde«, murmelte Jee Stone vor sich hin. »Dann kann ich mich endlich ganz meiner Schriftstellerei widmen. Ein Autor, der in fettem Wohlstand lebt…« Die alte Vision überfiel ihn mit neuer Intensität, aber wie immer war das Bild reichlich verschwommen. Sein Roman sollte nicht direkt utopisch werden – die Charaktere waren bei diesen Zukunftsgeschichten noch schwerer zu fassen. Er wollte… es mußte… Das konnte er ja später entscheiden. Erst mußte er seinem geliebten Boss einmal ordentlich eine reinwürgen. Wenn er seine Karten richtig ausspielte, dann…
Als Stone eintrat, zuckte Darklings Schnurrbart. »Verzeihen Sie die Störung, Sir«, sagte Stone lächelnd. »Bloß ein paar Sekunden. Ich bin überzeugt davon, daß Sie den kleinen Zwischenfall, der sich ereignet hat, ins Reine bringen können.«
Sein Ton war so freundlich und verbindlich, daß Darkling sofort das Schlimmste befürchtete. »Ich erwarte einen Anruf vom Extrapolaren Aufsichtsrat. Fassen Sie sich also bitte kurz.« »Natürlich, Sir. Sie haben mir doch erst heute morgen gesagt – und ich fand das sehr interessant –, daß Sie mit der Politik, die hier im Projekt betrieben wird, ganz und gar nicht konform gehen.« »Erstens, Stone, habe ich das nicht gesagt, und zweitens würde ich eine derartige Äußerung ganz bestimmt nicht vor einem Untergebenen machen.« »Sie haben es aber doch getan, Sir. Wir wissen doch alle, daß das Projekt nur deshalb noch weitergeführt wird, weil man die Unsterblichen melken will. Man entlockt ihnen ihre seltsamen Ideen und baut sie solange um, bis sie zum Nutzen der Menschheit gereichen. Sie gereichen aber nicht nur der Menschheit zum Nutzen, sondern auch den Direktoren des Projekts. Mit dem Erfolg, daß die Unsterblichen, die anfangs aus eigenen Stücken und als freie Menschen hier waren, heute Gefangene sind.« »Ich habe lediglich gesagt – « »Und außerdem haben Sie gesagt, daß Sie jederzeit dafür geradestehen, wenn einer das Projekt verläßt.« »Das ist schon möglich. Ich meine, daß ich so etwas Ähnliches gesagt habe.« »Sir, ich wollte Ihnen bloß mitteilen, daß der Fall eingetreten ist. Einer der Unsterblichen ist geflohen.« Darkling fuhr wie von der Tarantel gestochen in die Höhe und drückte auf den nächstbesten Knopf. »Haben Sie den Verstand verloren, Stone?« schrie er. »Wir müssen ihn sofort wieder einfangen. Die Presse wird uns…« Seine Stimme versagte. Er war weiß wie die Wand.
»Aber, Sir«, sagte Stone ruhig, »Sie haben doch eben noch behauptet – « »Es kommt immer auf die Umstände an, Sie Idiot!« »Dann ist das Projekt also doch ein Gefängnis.« Darkling kam wie eine Lokomotive auf Stone zugestürmt. »Sie widerlicher Kerl!« fauchte er. »Verlassen Sie auf der Stelle mein Büro. Sie wollen mich bloß in eine Falle locken. Ich kenne doch Ihre Sorte.« »Fiel heute morgen nicht das Wort Scheinheiligkeit?« fragte Stone grinsend. »Raus!« Darkling knallte hinter Stones Rücken die Tür zu. Dann lehnte er sich dagegen. Er zitterte am ganzen Körper und wischte sich über die feuchte Stirn. Er wußte, daß die Götter auf ihn herabsahen. Er wußte, daß sie ihm Stone geschickt hatten, um ihn zu strafen. Und zu prüfen. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als einmal zu seinem Wort zu stehen. Wenn er den Unsti laufen ließ, kostete es ihn seinen Job. Fing er ihn wieder ein, dann sorgte Stone mit Sicherheit dafür, daß man ihn in der Öffentlichkeit moralisch fertig machte – was ihn ebenfalls seinen Job kosten konnte. Wie er es auch machte, er steckte bis zum Hals in der Misere. Er schien wirklich keine andere Wahl zu haben. Er mußte zu dem stehen, was er gesagt hatte. Peinlicherweise hatte er schon öfter in diesem Tenor Äußerungen von sich gegeben, nicht nur vor Stone. Plötzlich überfiel ihn eine sehr unangenehme Erinnerung. Jemand hatte sich in seinem Beisein einmal den Witz erlaubt, die Scheinheiligkeit zu verteidigen. »Scheinheilige Menschen«, hatte er gesagt, »sind vielleicht manchmal Schurken, aber in den meisten Fällen handelt es sich um Typen, die bloß beweisen wollen, daß die noblen Ansichten, die sie einem vorspielen, aus ihrem tiefsten Innern kommen.«
Darkling hätte diesem Idioten damals am liebsten ordentlich Bescheid gestoßen, hatte es aber natürlich nicht getan. Nur in Gedanken. Kaum einer verstand das Wesentliche, das einen scheinheiligen Menschen ausmachte: zwei Seelen wohnten in seiner Brust. Seine noblen Absichten kamen tatsächlich aus seinem tiefsten Innern, aber sein Wille war schwach. Und jetzt saß Darklings Wille in der Falle der äußeren Umstände. Er mußte den Unsti laufen lassen. »Ihr habt gewonnen, Allmächtige Götter!« schrie er. »Ich bin heute ein besserer Mensch, und das wird mein Ruin sein.« Mit weichen Knien ging er an seinen Schreibtisch. Als er sich setzte, kam ihm plötzlich eine fabelhafte Idee. Ein Lächeln, das Stone als falsch und verschlagen bezeichnet haben würde, schlich sich auf sein Gesicht. Es gab doch eine Möglichkeit, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen und die eigene Haut zu retten. Er mußte bloß die Leute, die ihm gefährlich werden konnten, auf seine Seite ziehen. Er schickte einen dankbaren Blick zur Decke. Er konnte wieder hoffen. Jaybert Darkling drückte auf den Knopf, der ihn mit seiner Sekretärin verband. »Geben Sie mir die World Press«, sagte er. »Ich möchte den Herren mitteilen, warum ich es für richtig hielt, einen Unsterblichen in die Außenwelt zu entlassen.« Während er auf das Gespräch wartete, erledigte er eine angenehme Pflicht. Er ließ den Portier Cusak in sein Büro kommen, dankte ihm für seine fruchtbare Mitarbeit und besserte sein Gehalt auf. Anschließend ließ er Stone ausrichten, er erwarte seine schriftliche Kündigung.
Alles hockte um das Swimmingpool herum. Die Mädchen mit ihren langen Haaren waren genauso ungekämmt wie die Männer. Die Fummel, die sie trugen, waren unbeschreiblich. Manche waren sogar splitternackt. Eine fröhliche, heitere Gesellschaft, offensichtlich frei von allen Aggressionen. Palmer Pommy rührte sich nicht. Er lag auf einer Couch, die man in den flachen Teil des Swimmingpools gestellt hatte, und ließ sich die gestreiften Glieder vom Wasser umspülen. Man hatte aus dem Haus eine Dusche ausgebaut und am Rand des Beckens installiert, um den Gast ständig mit lauwarmem Wasser berieseln zu können. Palmer Pommy lachte und strahlte wie seit Jahrzehnten nicht. »Ihr lustigen Typen seid genau auf meiner Wellenlänge«, sagte er. »Wir Unstis können mit normal denkenden Menschen nichts anfangen – sie sind uns zu banal. Aber ihr denkt genauso verzinkt wie ich.« »Wir machen ab und zu einen Unsterblichkeitstrip«, sagte eines der Mädchen. »Aber du wirkst genauso. In deiner Gesellschaft braucht man nicht zu kiffen oder zu fixen. Palmer, du bist eine echte Schau.« »Dich haben uns die Götter geschickt«, rief ein junger Mann. »Moment«, schaltete sich Otto ein. Er lag in einem alten Liegestuhl am Rand des Swimmingpools und ließ sich von einem Mädchen den Nacken kraulen. »Was heißt hier Götter geschickt? Ich habe ihn euch gebracht. Ganz abgesehen davon glaubt unser Vater Palmer nicht an die Götter. Stimmt’s, Palmer?« »Wie kann ich an die Götter glauben?« fragte Palmer. »Ich habe sie doch erfunden.« Alles lachte. »Und ich habe den Sex erfunden«, sagte ein blondes Mädchen. Die anderen spielten mit.
»Und ich habe die Beine erfunden.« »Und ich habe die Knie erfunden.« »Und ich habe Pommy Palmer erfunden.« »Und ich habe Erfindungen erfunden.« »Und ich habe mich erfunden.« »Und ich habe die Träume erfunden.« »Und ich habe euch alle erfunden.« »Und ich habe die Götter erfunden«, wiederholte Palmer. Sein Lächeln wurde plötzlich ernst. »Ihr wart damals alle noch nicht geboren. Und eure Eltern auch nicht. Dafür sind wir Unstis doch da. Wir denken uns die verrücktesten Sachen aus, weil unsere Köpfe nicht mit langweiligen und ganz gewöhnlichen Gedanken voll sind. Wenn sie uns nicht brauchen würden, hätten sie uns längst schon umgebracht. Das Projekt als solches hat sich nämlich als totaler Mißerfolg erwiesen. Die Götter existieren noch, aber riesige Computer regelten alles. Kommunikationssatelliten sorgten für unverzügliche Kommunikation, die Strahlenenergie war erfunden, die Psychologie eine anerkannte Wissenschaft. Der Mensch hat den Computer schon immer irgendwie ehrerbietig behandelt. Warum dann nicht noch ein Stück weiter gehen, habe ich mir gedacht, und jedem einzelnen seinen privaten Kleinstcomputer, beziehungsweise Schrein geben? Und siehe da, eine neue Macht war erdacht: die Götter. Es hat sofort funktioniert, denn der Mensch braucht die Götter – selbst in unserer automatisierten, technisierten Gesellschaft.« »Aber ich nicht«, rief einer der jungen Männer. »Ich scheiße auf die Roboter. Hör mal, wenn du die Götter erfunden hast, wer hat dann die Theologie erfunden, die dazu gehört? Sag bloß, das warst auch du.« »Nein. Das kam ganz von selbst. Wenn sich der Computer meldet, fallen einem sofort sämtliche Elegien ein, die es je
gegeben hat, und die Sache geht wie geschmiert. Zugegeben, eine irre und ziemlich verlogene Angelegenheit, aber seit es wieder Götter gibt, gibt es keinen Krieg mehr.« »Aber Wunder?« fragte ein Mädchen. »Da müßt ihr Otto fragen«, sagte Palmer. »Er behauptet, daß er mich durch ein Wunder aus dem Projekt geholt hat.« Otto grinste und kratzte sich an der Brust. »Wenn ihr es ein Wunder nennen wollt, daß es noch so idiotische Typen wie diesen Portier gibt, der sich von mir hat beschwatzen lassen, dann war es ein Wunder. Ich, Otto Jack Palmer, bin der Wundermacher!« »Mir hast du aber etwas anderes erzählt, Otto«, sagte Palmer und sah fragend aus dem Swimmingpool. »Du hältst mich jetzt wohl für arrogant, was?« fragte Otto. »Vielleicht hast du recht, aber trotzdem glaube ich nicht an Wunder – nur an das glückliche Zusammentreffen von Umständen.« Eines der zerzausten Mädchen beugte sich über den Rand des Swimmingpools und tippte Palmer auf den gestreiften Arm. »Wenn du uns wirklich in die Hände von Maschinen gespielt hast«, sagte sie, »laufen wir dann nicht Gefahr, daß sie uns total beherrschen?« Palmer ließ den Blick langsam durch die Runde gehen, bevor er antwortete. Die meisten hatten sich bereits wieder von dem ersten Schock erholt, einen Unsterblichen in ihrer Mitte zu haben. Otto, der aus Bequemlichkeitsgründen seinen Schrein abgelegt hatte, nahm das Mädchen, das die Frage gestellt hatte, in den Arm und streichelte es. »Nur keine Angst, mein Engelchen«, sagte er und grinste. »Die Götter sind schon immer betrogen worden. Sie wollen es auch nicht anders.« Originaltitel: AMEN AND OUT